Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit: Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets [1. Aufl.] 978-3-658-26942-5;978-3-658-26943-2

Steffen Rudolph widmet sich in seiner Studie der empirischen Untersuchung digitaler Ungleichheiten mit dem besonderen Fo

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German Pages XVIII, 394 [403] Year 2019

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Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit: Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets [1. Aufl.]
 978-3-658-26942-5;978-3-658-26943-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Einleitung (Steffen Rudolph)....Pages 1-10
Die Zentralität von Wissen und die Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien für den gesellschaftlichen Wandel (Steffen Rudolph)....Pages 11-25
Soziologische Ungleichheitsforschung (Steffen Rudolph)....Pages 27-72
Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen (Steffen Rudolph)....Pages 73-107
Forschungsfeld Digital Divide (Steffen Rudolph)....Pages 109-172
Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten (Steffen Rudolph)....Pages 173-259
Empirische Analyse der partizipativen Internetpraktiken (Steffen Rudolph)....Pages 261-299
Schlussbetrachtung (Steffen Rudolph)....Pages 301-315
Back Matter ....Pages 317-394

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Steffen Rudolph

Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets

Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit

Steffen Rudolph

Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets Mit einem Geleitwort von Franz Schultheis

Steffen Rudolph Hamburg, Deutschland Zgl.: Dissertation, Leuphana Universität Lüneburg, 2018 u. d. T. „Soziale Position und Internetpraktiken. Eine empirische Untersuchung digitaler Ungleichheiten und ihrer Bedeutung für die Partizipation im Internet“

ISBN 978-3-658-26942-5 ISBN 978-3-658-26943-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für meine Mutter Angelika Rudolph (1955  –  2016)

Geleitwort

Die hier von Steffen Rudolph vorgelegte soziologische Untersuchung beschäftigt sich mit der Bedeutung sozioökonomischer und -demografischer Ungleichheiten für die Teilhabechancen am öffentlichen Raum des Internets. Hierbei geht er von der Annahme aus, dass bestehende Ungleichheiten an Lebenschancen materieller, kultureller oder symbolischer Art eine Perpetuierung, wenn nicht gar Verstärkung, durch ungleichen Internetzugang erfahren und jeweils statusgeprägte soziale Formen der Internetverwendung zusätzlich dazu beitragen, die an diese Technologie geknüpften Hoffnungen auf Stärkung sozialer Partizipation, Inklusion und Chancengleichheit als kollektive Illusion erscheinen zu lassen. Um der Frage nach den ungleichen Bedingungen und der Statusabhängigkeit des Zugangs zum Internet und seinen Gebrauchsweisen empirisch am Beispiel der deutschen Bevölkerung nachzugehen, wählte Rudolph den Weg einer Sekundäranalyse von Daten der »Allensbacher Computer- und Technikanalyse« und konzentrierte sich auf quantitative Zugänge zur gestellten Forschungsfrage. Für den deutschsprachigen Raum lag bislang keine aktuelle Untersuchung vor, die den ungleichen Zugang zum Internet und die ungleiche Verwendung digitaler Medien auf empirischer Ebene umfassend thematisiert, neuere Internetpraktiken aus dem Social-Media-Bereich miteinbezieht und vor allem neben Disparitäten hinsichtlich soziodemografischer Merkmale auch jene behandelt, die mit der sozialen Position korrelieren. Dass eine Ausweitung des empirischen und methodologischen Zuganges mittels qualitativer Feldforschung in vielerlei Hinsicht einen zusätzlichen heuristischen Mehrwert hätte erbringen können, war ihm dabei von Anfang an bewusst. Bedenkt man den beachtlichen Zeitaufwand für die umfangreichen Datenauswertungen neben der geleisteten Präsentation und Diskussion des auswuchernden Forschungsstandes zu dieser Problematik, so ist ihm dies keineswegs als Vorwurf umzumünzen. Vielmehr erwies sich das gewählte Vorgehen, wie die hier vorgelegte Monographie überzeugend belegt, als in mehrfacher Hinsicht innovativ und reich an neuen empirischen Erkenntnissen, aber ebenso gewinnbringend in Sachen sozialtheoretischer Perspektiven jenseits des Mainstreams der einschlägigen Forschungen. Der hier bereits relativ umfassend erforschte Bereich unterschiedlicher Internetpraktiken wird von Rudolph mittels einer Faktorenanalyse auf die Erforschung grundlegender Typen solcher Praktiken zugespitzt, wobei die Dimension der gesellschaftlichen Partizipation in den Vordergrund gerückt wird.

VIII

Geleitwort

Die Frage der Ungleichheit digitaler Partizipation wird dabei in einem weiten Sinn als Form je spezifischer Teilhabe am öffentlichen Raum des Internets verstanden, wobei den Chancen für eigenständiges Produzieren von Inhalten und der Nutzung von Vernetzungspraktiken ein besonderes Interesse zukommt. Dies umfasst etwa die Produktion und Veröffentlichung von Texten sowie audiovisuellen Dokumenten und die Möglichkeit der eigenständigen Erstellung von Webseiten und Blogs. Innovativ und ertragreich ist Rudolphs Studie aber ebenso im Hinblick auf die gewählte sozialtheoretische Einbettung und Stoßrichtung. Im Anschluss an Bourdieus Theorie der Sozialwelt und ihrer Schließungen und Ausschließungen, will er zeitgemäße empirische Forschung betreiben und die von Bourdieu schon vor etwa einem halben Jahrhundert entwickelten sozialtheoretischen Perspektiven und methodologischen Zugänge angesichts der weit verbreiteten These von deren historisch obsolet gewordenem Charakter einer kritisch-reflexiven Überprüfung unterziehen. Geschickt wählt Rudolph deshalb das aktuell ausgiebig diskutierte Phänomen digitaler »Spaltung« oder »Kluft« als empirisches Forschungsfeld. In einer Gesellschaftsformation, in der gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe wie auch ein guter Teil des Zuganges zu materiellen Lebenschancen mittels des Zugangs zum Internet strukturiert werden, ist die Frage nach sozialen Ungleichheiten beim Zugang zu diesen Technologien von zentraler gesellschaftsdiagnostischer Bedeutung. Dabei ist die offenkundige Ungleichheit des Zugangs zum Internet weniger eine Frage des praktisch-technischen Accesses bzw. seiner ökonomischen Kosten als solchen, sondern äußert sich vielmehr in sozial hochgradig differenzierten Gebrauchsweisen einer vermeintlich universellen Technologie mit beanspruchten demokratisch-egalitären, sozial integrativen Qualitäten bzw. »Tugenden«. Sein Forschungsbeitrag fragt primär danach, welche gesellschaftlichen Gruppen über welche Zugangsweisen zum Internet verfügen und welche Nutzungsmöglichkeiten ihnen dabei offenstehen? Welche Gruppen vermögen es zu partizipieren und selbst produktiv mit diesen neuen Medien umzugehen, und welche Populationen sind hingegen diesbezüglich strukturell benachteiligt? Auch gilt das soziologische Erkenntnisinteresse der Frage, welche konkreten Internetpraktiken jeweils in Abhängigkeit von der eingenommenen sozialen Position an den Tag gelegt werden und welches soziale Profil hinsichtlich der Dominanz in spezifischen Betätigungsfeldern vorherrscht? Der gewählte sozialtheoretische Anschluss der vorgelegten Studie bietet einen wohltuenden Kontrapunkt zum Mainstream der deutschen Ungleichheitsdebatten im Allgemeinen und in Sachen Zugang zu neuen Kommunikationstechnologien im Besonderen. Seit den fünfziger Jahren herrschte in der deutschen Diskussion um Fragen der gesellschaftlichen Verteilung von Einkommen und Vermögen und der gegebenen sozialen Klassen- oder Schichtbeziehungen über lange Phasen die These von der sog. »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« vor, erstmals formuliert von Helmut Schelsky im Jahre 1953.

Geleitwort

IX

Diese These wurde dann gerade in den 1980 Jahren in modernisierter Form in Gestalt unterschiedlicher Variationen des gleichen Themas fortgeführt. Hier sprach man dann von einer entstrukturierten, individualisierten und pluralistischen Gesellschaft mit nur noch horizontalen Differenzierungen unterschiedlicher soziokultureller Milieus mit unterschiedlichen Lebensstilen. Die vorherrschende Sicht auf die deutsche Gegenwartsgesellschaft ging dabei davon aus, dass sich gesellschaftliche Ungleichheiten der Verteilung von Ressourcen und Disparitäten der Lebenschancen mittels eines »Fahrstuhleffektes nach oben« (Beck) immer weiter einebnen würden. Steffen Rudolph unterstreicht hingegen anhand seiner empirischen Befunde, dass der soziale Gebrauch digitaler Medien weiterhin in erheblichem Maße durch die Position in vertikalen Hierarchien geprägt bleibt. Hiermit zeigt er auf überzeugende und exemplarische Weise, wie die von Bourdieu begründete klassen- und herrschaftssoziologische Theorie der gesellschaftlichen Welt mittels geeigneter empirischer und methodologischer Strategien à jour gebracht werden kann und weiterhin stringente Perspektiven und Instrumente der Sozialstrukturanalyse bereitstellt. Wenn in diesem Jahr 2019 das 40jährige Jubiläum von »Die feinen Unterschiede« mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Tagungen begangen wird, so stünde Bourdieu selbst dieser Art Rezeption seines Werks sehr skeptisch gegenüber. Immer wieder betonte er bis zu seinem Tod, man solle doch lieber selbst forschen, statt einfach nur gebetsmühlenhaft seine Konzepte zu wiederholen und sein Werk zu zitieren. Diesem guten Rat wird leider viel zu selten gefolgt und somit geschieht etwas mit Bourdieus Werk und Person, was beiden in keiner Weise gerecht wird. Das Werk wird kanonisiert, sein Autor zum Klassiker und beide zum Gegenstand akademischer Rituale. Hier hebt sich Steffen Rudolphs Studie auf wohltuende Weise vom gängigen Betrieb im wissenschaftlichen Feld ab. Nie läuft sie aufgrund des stets kritisch-reflexiven Gebrauchs der Bourdieu’schen Perspektiven und Konzepte Gefahr, in eine hagiografische Werkrezeption zu entgleisen, sondern führt vor, dass seine an Bourdieus Position angelehnte Forschungsperspektive keineswegs, wie es gängige stereotype Etikettierungen nahelegen, einen Strukturdeterminismus impliziert, sondern dass mittels des Konzepts »Habitus« gerade eine nicht-deterministische Vermittlung von Struktur und Handlung anhand eines sehr aktuellen Forschungsgegenstandes rekonstruiert werden und gegenüber voluntaristischen Modellen, wie insbesondere in »Rational-Choice-Theorien« angelegt, die strukturierende Macht gesellschaftlicher Strukturen vor Augen geführt werden kann. Franz Schultheis St. Gallen, im Frühjahr 2019

Dank

Bei der Umsetzung meines Dissertationsprojekts haben mich zahlreiche Personen und Institutionen unterstützt und damit maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Ulf Wuggenig, dem Betreuer meiner Dissertation, für seine bereits viele Jahre währende Unterstützung, die inspirierende Zusammenarbeit und seine kritischen sowie konstruktiven Einwände und Hinweise, die mir entscheidend die Realisierung meines Projekts ermöglichten. Zugleich möchte ich auch meinen beiden weiteren Gutachtern Prof. Dr. Timon Beyes und Prof. Dr. Franz Schultheis danken, deren anregende Arbeiten und tiefgehende Expertise mich in verschiedenen Kontexten begeistert und motiviert haben. Ohne die entscheidende finanzielle Förderung durch ein Stipendium der Teilmaßnahme 1.4 – Graduate School des EU-Großprojekts »Innovations-Inkubator« an der Leuphana Universität Lüneburg wäre das Verfassen meiner Dissertation so nicht realisierbar gewesen. Zusätzlich gilt mein herzlicher Dank der Graduate School der Leuphana Universität Lüneburg für die Verlängerung des Stipendiums – und hier vor allem Yvonne Worthmann für ihre große Hilfe. Ein Dankeschön geht auch an Björn Ahrend von Hausmarke.TV und Marco Kühne von 2Spot, die im Vorfeld meiner Analysen mit mir kooperierten und im Rahmen von Experteninterviews meinen Einblick in das Feld partizipativer Internetpraktiken erweiterten. Nicht zuletzt möchte ich meinen Freundinnen und Freunden, Mitpromovend_innen und Kolleg_innen danken, die diese Zeit begleitet haben. Mit hilfreichen Korrekturen, kritischen Anmerkungen und aufmunternden Unterhaltungen haben mich in besonderem Maße Katinka Bock, Hendrik Buhl, Cornelia Kastelan, Yvonne Mattern, Julika Mücke, Caroline Rothauge, Cornelia Siebert, Katharina Trostorff und Kaya de Wolff unterstützt. Erst der emotionale und intellektuelle Rückhalt durch Merle-Marie Kruse hat mir das Schreiben meiner Dissertation ermöglicht. Nach den zahlreichen entbehrten Stunden freue ich mich umso mehr auf die gemeinsame Zeit mit unserer kleinen Tochter Juna. Ein besonderer Dank gilt zudem meinen Eltern Angelika und Jochen Rudolph sowie meiner Großmutter Erika Klein für ihre Unterstützung in allen Lebenslagen. Meiner 2016 verstorbenen Mutter ist diese Arbeit gewidmet. Steffen Rudolph Hamburg, im Frühjahr 2019

Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ................................................................ XVII 1 Einleitung ............................................................................................................ 1 2 Die Zentralität von Wissen und die Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien für den gesellschaftlichen Wandel ................ 2.1 Daniel Bell – Die nachindustrielle Gesellschaft .......................................... 2.2 Manuel Castells’ Konzept der Netzwerkgesellschaft ................................... 2.3 Die Wissensgesellschaft bei Nico Stehr .......................................................

11 12 15 20

3 Soziologische Ungleichheitsforschung ............................................................. 3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze ................................................................................... 3.1.1 Der Klassenbegriff bei Marx ........................................................... 3.1.2 Max Weber – Klasse und Stand als entscheidende Ordnungsprinzipien ....................................................................... 3.1.3 Theodor Geiger und das Schichtmodell ......................................... 3.1.4 Funktionalistische Schichtungstheorie ............................................ 3.2 Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung – Zwischen Strukturierung und Differenzierung ........................................................... 3.2.1 Anschlüsse an die Begriffe von Klasse, Stand und Schicht .............. 3.2.2 Strukturierung und Entstrukturierung ........................................... 3.2.3 Neue Klassenmodelle: Erik Olin Wright und John Goldthorpe ..... 3.2.4 Milieuansätze .................................................................................. 3.2.5 Lebensstilkonzepte und die »Omnivorousness«-Debatte ................

27

41 41 44 45 49 59

4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen ...................... 4.1 Das Habituskonzept ................................................................................... 4.1.1 Hintergrund des Habituskonzepts .................................................. 4.1.2 Erwin Panofsky und Marcel Mauss ................................................ 4.1.3 Habitus bei Pierre Bourdieu ........................................................... 4.2 Der soziale Raum ........................................................................................

73 73 75 77 81 91

27 29 32 37 38

XIV

Inhaltsverzeichnis

4.3 Die verschiedenen Formen des Kapitals ...................................................... 96 4.4 Anknüpfungen an Bourdieu – Kapitalformen in Auseinandersetzung mit Informations- und Kommunikationstechnologien ............................. 104 5 Forschungsfeld Digital Divide ........................................................................ 5.1 Einleitung zum Begriff Digital Divide ...................................................... 5.2 Die Wissenskluftforschung ....................................................................... 5.2.1 Die Wissensklufthypothese in ihrer ursprünglichen Fassung ........ 5.2.2 Anknüpfungspunkte der Forschung – Weiterentwicklungen und Kritik .................................................. 5.3 Forschung zur digitalen Spaltung ............................................................. 5.3.1 Frühe Zugangsforschung .............................................................. 5.3.2 Von der Zugangsperspektive zur Second Digital Divide .............. 5.3.3 Mehrebenenmodelle I: Das »Access Rainbow«-Modell ................. 5.3.4 Mehrebenenmodelle II: Jan van Dijks »Access«-Modell ............... 5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten ............................. 5.4.1 Geschlecht .................................................................................... 5.4.2 Alter/Generation .......................................................................... 5.4.3 »Race«/»Ethnicity« ........................................................................ 5.4.4 Region/Global Digital Divide ...................................................... 5.4.5 Bildung, sozioökonomischer Status und Einkommen .................. 5.4.6 Disability Divide .......................................................................... 5.4.7 Nichtnutzung ...............................................................................

109 109 113 113

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten ................................................ 6.1 Einführung und Darstellung der Stichprobe ............................................. 6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten ........................................ 6.2.1 Aspekte des Zugangs ..................................................................... 6.2.2 First Digital Divide: Ungleiche Zugangsmöglichkeiten ................ 6.2.3 Zusammenfassung ........................................................................ 6.3 Sekundäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten .................................... 6.3.1 Aspekte der Internetnutzung ........................................................ 6.3.2 Second Digital Divide: Dimensionen ungleicher Internetnutzung ............................................................................. 6.3.3 Bandbreite und Umfang der Internetnutzung .............................. 6.3.4 Zusammenfassung ........................................................................

173 173 177 177 186 209 209 210

115 122 123 126 129 135 151 152 153 156 158 162 168 170

229 253 256

Inhaltsverzeichnis

7 Empirische Analyse der partizipativen Internetpraktiken ............................ 7.1 Partizipation im »Web 2.0« ...................................................................... 7.2 Participatory Gap – Bisherige Forschung .................................................. 7.3 Der Raum der partizipativen Internetpraktiken ........................................ 7.3.1 Achsen und Cluster: Partizipation/Nicht-Partizipation und soziales Kapital/kulturelles Kapital als entscheidende Strukturierungsdimensionen ........................................................ 7.3.2 Drei Typen partizipativer Internetpraktiken ................................. 7.3.3 Zusammenfassung ........................................................................

XV

261 262 272 277

280 291 296

8 Schlussbetrachtung .......................................................................................... 301 Literatur ................................................................................................................. 317

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9:

Abb. 10:

Abb. 11:

Abb. 12:

Abb. 13:

Internetzugang im zeitlichen Vergleich 2004 und 2013 nach Bildungskapital (in Prozent) ..................................................................... Internetzugang im zeitlichen Vergleich 2004 und 2013 nach Bildungskapital (Odds) ............................................................................ Internetzugang im zeitlichen Vergleich 2004 und 2013 nach Bildungskapital (Odds Ratio) ................................................................... Histogramm der Anzahl der genutzten Internetaktivitäten ...................... Histogramm der Häufigkeit der genutzten Internetaktivitäten ................. Nutzung der partizipativen Internetaktivitäten nach ACTA 2013 ........... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken ...... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken mit Achseninterpretation und Diagonalen ............................................... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken mit Achseninterpretation und Diagonalen. Supplementary Variables: Bildungskapital, ökonomisches Kapital und soziale Klasse ....................... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken (Detail) mit Achseninterpretation und Diagonalen. Supplementary Variables: Bildungskapital, ökonomisches Kapital und soziale Klasse ....... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken mit Achseninterpretation und Diagonalen. Supplementary Variables: Alter, Berufstätigkeit, Geschlecht und Größe des Wohnorts .................... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken (Detail) mit Achseninterpretation und Diagonalen. Supplementary Variables: Alter, Berufstätigkeit, Geschlecht und Größe des Wohnorts .... Multiple Korrespondenzanalyse der partizipativen Internetpraktiken mit Achseninterpretation, Clustern und Diagonalen. Supplementary Variables: Intensität der Internetnutzung .................................................

195 195 197 220 221 279 281 284

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287

289

290

291

XVIII

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19: Tab. 20: Tab. 21:

Tab. 22:

Zusammensetzung der Stichprobe der Allensbacher Computerund Technikanalyse (ACTA) 2013 .......................................................... Allgemeine Internetnutzung ..................................................................... Ausstattung mit einem häuslichen Internetzugang ................................... Temporale Dimension der Internetnutzung I (Frequenz) ........................ Temporale Dimension der Internetnutzung II (Letzte Nutzung) ............. Temporale Dimension der Internetnutzung III (Dauer) .......................... Temporale Dimension der Internetnutzung IV (Index) ........................... Zugangstechnologien zum Internet .......................................................... Technische Zugangsbedingungen im Haushalt ........................................ Niveau der Technikausstattung ................................................................ Index zur Technikausstattung .................................................................. Allgemeine Internetnutzung nach demografischen und sozioökonomischen Merkmalen ............................................................... Internetzugang – logistisches Regressionsmodell ...................................... Temporale Dimension der Internetnutzung I (Frequenz) nach Bildungskapital, ökonomischem Kapital und sozialer Klasse .................... Temporale Dimension der Internetnutzung II (Dauer) nach Bildungskapital, ökonomischem Kapital und sozialer Klasse .................... Temporale Dimension der Internetnutzung III (Index) nach Bildungskapital, ökonomischem Kapital und sozialer Klasse .................... Device Divide – Verwendung unterschiedlicher Zugangstechnologien zum Internet ............................................................................................. Index der Technikausstattung nach Bildungskapital, ökonomischem Kapital und sozialer Klasse ....................................................................... Nutzung der verschiedenen Internetaktivitäten nach ACTA 2013 ........... Rotierte Faktormatrix mit Faktorenladungen der einzelnen Internetaktivitäten .................................................................................... Zusammenhang der Internetnutzungsdimensionen mit Bildungskapital, ökonomischem Kapital, sozialer Klasse, Status der Berufstätigkeit, Alter, Geschlecht und Urbanität ........................................................................ Zusammenhang von Bandbreite und Umfang der Internetaktivitäten mit Bildungskapital, ökonomischem Kapital, sozialer Klasse, Status der Berufstätigkeit, Alter, Geschlecht und Urbanität ......................................

174 178 178 180 180 181 182 183 184 185 185 187 193 199 200 202 205 207 218 225

230

254

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Einleitung

Umfassende gesellschaftliche Teilhabe erscheint jenseits von Medien – und das heißt heute vor allem ohne Zugriff auf das Internet und internetbasierte Technologien – kaum mehr vorstellbar. Entscheidend sind daher Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit den gesellschaftlich relevanten Medien und Technologien sowie der Zugang zu ihnen. Relevanz lässt sich hierbei über den Gebrauch all jener medialen Angebote bestimmen, ohne die Möglichkeiten der umfänglichen Partizipation an der Gesellschaft nicht erfüllt sind. Die Abwesenheit eines Zugangs zum Internet und entsprechender Fähigkeiten im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien stellen mittlerweile einen entscheidenden Nachteil bei der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen dar und können daher als grundlegende Form von Ungleichheit verstanden werden. Nach Zahlen der letzten ARD/ZDF-Onlinestudie 2017 sind 89,8% der deutschsprachigen Gesamtbevölkerung Internetnutzer_innen1, wobei 72,2% täglich Gebrauch vom Internet machen.2 Nicht nur global existieren hierbei eklatante Unterschiede im Zugang zum Internet zwischen den Ländern, sondern auch innerhalb der jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen zeigen sich deutliche Ungleichheiten.3 So ist bereits die Ebene des Zugangs stark mit soziodemografischen Merkmalen wie Alter und Geschlecht korreliert. Während in der Öffentlichkeit vor allem auf den Zugang zum Internet fokussiert wird und auf der politischen Agenda mit dem Breitbandausbau besonders eine technologische

1

2

3

Diese Untersuchung schließt sich mit dem Begriff der Nutzung der Logik der englischsprachigen Studien an. Entsprechend wird von Nutzer_innen als Übersetzung von user(s) sowie analog von use als Nutzung gesprochen, wie es sich auch in den deutschsprachigen Arbeiten etabliert hat. Vorstellungen einer rationalen Handlungstheorie bzw. des Uses-and-Gratification-Ansatzes, wie er sich im Anschluss an Elihu Katz entwickelt hat, soll dabei jedoch trotz der sprachlichen Nähe eine Absage erteilt werden. Entgegen dieser Perspektive, in deren Zentrum letztlich autonome, ihrer selbst bewusste und instrumentell agierende Akteure stehen, wird vielmehr mit Bourdieu von einer im Habitus verankerten, durch die Sozialisation erworbenen Handlungsdisposition ausgegangen, die den Individuen größtenteils unbewusst bleibt, sich aber in der ›Nutzung‹ äußert. Vgl. Koch/Frees 2017. Aufgrund einer veränderten Operationalisierung lassen sich die Zahlen allerdings nicht mit früheren Erhebungen der ARD/ZDF-Onlinestudie vergleichen. Nach der alten Berechnungsmethode liegt der Anteil der Internetnutzer_innen für 2017 bei 83,1% und ist damit annähernd konstant zum Vorjahr (83,8%) (vgl. Koch/Frees 2016). Zur besseren Vergleichbarkeit werden im Folgenden gegebenenfalls die Daten der Studie aus 2016 herangezogen. Zu den globalen Ungleichheiten vgl. International Telecommunication Union 2016; World Bank 2016. Die größte Differenz besteht zwischen den europäischen und den afrikanischen Staaten, wie unter anderem die International Telecommunication Union und die World Bank, beides Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, seit Jahren feststellen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rudolph, Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2_1

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1 Einleitung

Voraussetzung im Zentrum steht, lassen sich bezüglich der unterschiedlichen Verwendung des Internets weitere Ungleichheiten feststellen, die die soziale Position und Lebenschancen entscheidend beeinflussen können. Mit Begriffen wie »Digital Divide« und »Digital Inequality« arbeitet mittlerweile eine sich permanent aktualisierende Forschungsrichtung daran, die spezifischen Dimensionen dieser neuen Ungleichheiten herauszustellen und an die sich ihrerseits jeweils verändernde Medienlandschaft anzupassen. Die vorliegende Arbeit schließt an diese Tradition an: Sie greift einerseits auf die soziologische Ungleichheitsforschung zurück und knüpft andererseits an die bereits bestehende empirisch orientierte Auseinandersetzung mit digitalen Medien an, welche sich nicht zuletzt aus der Wissenskluftforschung heraus entwickelt hat. Erweiterung erfährt diese Forschung mit dieser Arbeit durch den expliziten Rekurs auf den Ansatz Pierre Bourdieus und durch den Einbezug von Praktiken, die produktiv an der Gestaltung des Internets teilhaben lassen. Für den deutschsprachigen Raum lag bislang keine aktuelle Untersuchung vor, die den ungleichen Zugang zum Internet und die ungleiche Verwendung digitaler Medien auf empirischer Ebene umfassend thematisiert, neuere Internetpraktiken aus dem Social-Media-Bereich miteinbezieht und vor allem neben Disparitäten hinsichtlich demografischer Merkmale auch jene behandelt, die mit der sozialen Position korrespondieren. Grundlegend fragt dieser Forschungsbeitrag: Welche gesellschaftlichen Gruppen verfügen über was für Zugangsweisen zum Internet und welche Nutzungsmöglichkeiten stehen ihnen dabei zur Verfügung? Wer kann partizipieren und produktiv neue Medien verwenden? Welche Gruppen hingegen sind strukturell benachteiligt oder gar ausgeschlossen? Welche Internetpraktiken werden in Abhängigkeit von der sozialen Position verfolgt und lässt sich eine Dominanz bestimmter sozialer Gruppen im Internet konstatieren? Diese Fragen stellen sich in besonderem Maße seit sich Mitte der 2000er-Jahre unter dem Stichwort des sogenannten »Web 2.0«4 und mit dem Aufkommen der Social Media eine Art »Participative Turn«5 vollzogen hat. Im Rahmen dieser Veränderungen können Nutzer_innen in umfangreicher Weise zu aktiven Produzent_innen werden. Statt lediglich passive Konsument_innen bleiben zu müssen, prägen sie nun die Gestaltung des Internetraums mit. Bedeutung gewinnt die Frage nach digitaler Ungleichheit vor dem Hintergrund vielfältiger Transformationen, die sich seit der Durchsetzung des Internets Mitte der 1990er-Jahre vollziehen und unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche betreffen, die von der öffentlichen Sphäre über die politische Partizipation bis zu grundlegenden ökonomischen sowie sozialen Prozessen reichen. So findet in steigendem Umfang eine Verlagerung bzw. Entgrenzung von Öffentlichkeiten ins Internet statt. An die vielfältigen 4 5

Vgl. O’Reilly 2007. Vgl. Bruns 2016.

1 Einleitung

3

Möglichkeiten, die sich diesbezüglich mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien für die Beteiligung an gesellschaftlichen und sozialen Prozessen ergeben, knüpfen sich zahlreiche Hoffnungen.6 Ihren populären Ausdruck finden diese etwa in der »#aufschrei«-Debatte in Deutschland oder den weltweiten, vernetzten Protesten im Anschluss an »Occupy Wall Street«.7 Auch wenn die gewichtige Rolle, die hier Social-Media-Technologien und entsprechenden Internetdiensten wie Facebook, Twitter oder YouTube zugesprochen wird, kritisch zu betrachten ist, so weisen diese Beispiele dennoch auf ein gesellschaftliches Desiderat hin: dem deutlichen Wunsch nach anderen, umfassenderen und wirkungsvolleren Beteiligungsformen. Diese sind vor allem an die neuen digitalen Technologien und Kommunikationsformen geknüpft, denen damit ein inhärent demokratisierendes Potenzial bzw. mindestens eine unterstützende Rolle in gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen zugestanden wird. Im Fokus stehen hierbei jedoch nicht nur die häufig als alternativ apostrophierten (Teil-)Öffentlichkeiten, die sich über Weblogs, Foren oder mittels Social Media wie Twitter formieren, sondern zugleich auch Diskussionen auf den Webpräsenzen von Printmedien, Onlinezeitungen und Rundfunk, die im klassischen Sinne Bereiche der öffentlichen Sphäre darstellen. Zur Voraussetzung für Partizipation an medialen Öffentlichkeiten werden dementsprechend in wachsendem Maße der Zugang zum Internet und die Verwendung digitaler Technologien. Bestehende Formen gesellschaftlicher Segregation und Schließung drohen sich dort fortzusetzen und all jenen zusätzlich begrenzte Chancen auf Teilhabe in Aussicht zu stellen, die keinen oder nur einen eingeschränkten Gebrauch von digitalen Medien machen können. Über die Partizipation an verschiedenen Öffentlichkeiten hinaus verbinden sich mit dem Internet zugleich erweiterte Möglichkeiten der Teilhabe an zivilgesellschaftlichen Prozessen und der politischen Einflussnahme. Typisch für diese erweiterten Teilhabemöglichkeiten sind etwa OnlinePetitionen auf privaten und öffentlichen Plattformen, z. B. beim Deutschen Bundestag oder auf Change.org.8 Auch der rasante, wenngleich kurzfristige Aufstieg der europäischen Piratenparteien, die mit Konzepten wie »Liquid Democracy« eine Form internetbasierter politischer Meinungsbildung und demokratischer Partizipation propagieren, kann als Zeichen dieser Entwicklungen gelesen werden.9 Erhofft wird damit auch, auf

6 7

8 9

Vgl. hierzu grundlegend die frühen Sammelbände Bollmann/Heibach 1996; Münker/Roesler 1997. Zur Sexismus-Debatte, die unter dem Hashtag »aufschrei« geführt wurde, vgl. Maireder/Schlögl 2014; Drüeke/Zobl 2015. Zu Occupy Wall Street vgl. DeLuca/Lawson/Sun 2012; Calhoun 2013. Die Affirmation der Social Media als neue Öffentlichkeiten mit emanzipatorischem Potenzial ist besonders frappant in der teils euphorischen Begrüßung der sogenannten »arabischen Revolution« als »Facebook-« bzw. »Twitter-Revolution« (vgl. Christensen 2011a). Vgl. Baringhorst/Kneip/Niesyto 2009. Vgl. Bieber 2012.

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1 Einleitung

breiter Ebene Trends, wie der abnehmenden Wahlbeteiligung und der vielerorts konstatierten »Politikverdrossenheit« 10, entgegenzuwirken. Zusätzlich sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer wissensbasierten Gesellschaft, wie sie prominent Nico Stehr konstatiert, Kompetenzen im Umgang mit internetbasierten Diensten und digitalen Kommunikationsmitteln zu Anforderungen im beruflichen Alltag geworden.11 Überdies findet der Kontakt zu staatlichen Institutionen in immer größerem Maße online statt: Behörden bieten die Möglichkeit, auf dem Wege elektronischer Kommunikation Informationen abzurufen, Formulare auszufüllen oder Daten einzureichen, was nicht nur gegenüber dem klassischen Antichambrieren eine Erleichterung für Nutzer_innen darstellt, sondern im Zuge von Rationalisierungsprozessen zunehmend zum geforderten Standard im Umgang mit Institutionen wird. Daneben basieren Formen privater Kommunikation und Vernetzung sowie der grundlegende Zugang zu Informationen in wachsendem Umfang auf dem Internet und internetbasierten Technologien. In den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zeigt sich, dass ein ungleicher Zugang zu digitalen Medien und eine ungleiche Verwendung auf der Grundlage gesellschaftlich ungleich verteilter Ressourcen in der Lage sind, Lebenschancen zu beeinflussen und zu sozialer Exklusion zu führen. Während seit den 1990er-Jahren gesellschaftlich wie auch soziologisch weitgehend eine Dethematisierung sozialer Ungleichheit populär war und in großem Maße Ungleichheiten im Anschluss an Niklas Luhmann zu funktionalen Differenzen oder im Sinne Ulrich Becks zu individuellen Lebensstilen verklärt wurden, drängen sich vor dem Hintergrund globaler Wirtschaftskrisen, zunehmender Massenarbeitslosigkeit und abgehängter Bevölkerungsschichten wieder entschieden Fragen nach der Persistenz, Verschärfung und Konsequenz von Ungleichheitsverhältnissen auf.12 So haben in letzter Zeit etwa der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty mit Le capital au XXIe siècle13, der US-amerikanische Nobelpreisträger und Ökonom Joseph E. Stiglitz mit The Price of Inequality14 und The Great Divide15 sowie auch der deutsche Sozialhistoriker 10 11 12 13 14

Vgl. Crouch 2004. Vgl. Stehr 2001. Vgl. Schwinn 1998. Vgl. Piketty 2013. Vgl. Stiglitz 2012. Zusammen mit David Graeber ist Stiglitz einer der wesentlichen Stichwortgeber der kapitalismuskritischen »Occupy«-Bewegung, die sich im Anschluss an »Occupy Wall Street« entwickelt hat (vgl. auch Graeber 2011, 2013). Vor allem die von Stiglitz popularisierte Formel der »1%«, jenem obersten Teil der US-amerikanischen Bevölkerung, der 40% des Reichtums und fast 25% des nationalen Einkommens auf sich konzentriert, hat sich als Chiffre für soziale Ungleichheit und die extreme Vermögens- sowie Chancenkonzentration in den Händen einer kleinen Elite durchgesetzt (vgl. Stiglitz 2011). Diesen »1%« an der Spitze der Gesellschaft versucht die »Occupy«-Bewegung mit ihrem Slogan »We Are the 99 Percent« ein kollektives Moment des Protestes entgegenzustellen, welches Wendy Brown zufolge den »Return of a Repressed Res-Publica« in

1 Einleitung

5

Hans-Ulrich Wehler mit Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland16 vielbeachtete Arbeiten vorgelegt, die Ungleichheiten ins Zentrum stellen und eine deutliche Kritik am gesellschaftlichen status quo äußern.17 Soziale Ungleichheit und die Perspektive auf die Macht gesellschaftlicher Strukturen rücken damit wieder stärker ins Blickfeld wissenschaftlicher Betrachtungen und politischer Tagesordnungen. Dabei artikulieren sich Ungleichheiten heute angesichts veränderter Bedingungen, zu denen in herausgehobenem Maße auch der Umgang mit digitalen Medien gehört. Die Untersuchung beschäftigt sich in diesem Kontext explizit mit dem Einfluss sozioökonomischer und demografischer Ungleichheiten18 auf die Teilhabe am öffentlichen Raum des Internets. Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass bestehende Ungleichheiten eine Perpetuierung durch den ungleichen Internetzugang sowie die statusabhängige Internetverwendung erfahren können, was im Gegensatz zu einem auf soziale Inklusion und Chancengleichheit ausgerichteten Gesellschaftsentwurf steht. Der empirische Bezugsrahmen der Analyse ist die Bevölkerung in Deutschland. In der quantitativen Auswertung wird in Form einer Sekundäranalyse auf Daten der »Allensbacher Computerund Technikanalyse« zurückgegriffen, die durch das Institut für Demoskopie Allensbach erhoben wurden. Über die auch nach 20 Jahren seit Beginn der globalen Durchsetzung des Internets weiterhin wichtigen Fragen nach den ungleichen Bedingungen des Zugangs hinaus adressiert die Arbeit die Statusabhängigkeit der Internetnutzung und der Verwendung internetbasierter Dienste. Der mittlerweile umfassende Bereich unterschiedlicher Internetpraktiken wird hierbei statistisch mit Hilfe faktorenanalytischer Verfahren auf grundlegende Typen dieser Praktiken hin untersucht. Zudem stellt die Studie die Dimension der Partizipation in den Vordergrund und untersucht digitale Ungleichheiten diesbezüglich. Partizipation wird dabei vorrangig in einem weiten Sinne

15 16 17

18

Aussicht stellt (vgl. Brown 2011; vgl. zudem Geiges 2014; Gould-Wartofsky 2015). Für Jodi Dean zeigt sich in dieser Opposition von »We« und den »1%« der Akt einer politischen Subjektivierung im Sinne Jacques Rancières. Dieser Akt bringt angesichts des herrschenden »Communicative Capitalism« eine neue Kollektivität und ein Gemeinsames in Anschlag, die tendenziell Züge einer zukünftigen kommunistischen Bewegung enthalten, selbst allerdings der Konstitution als Partei bedürfen (vgl. Dean 2009, 2012). Die verschiedenen lokalen Occupy-Bewegungen lassen sich letztlich auch als temporäre Interventionen in urbane Räume verstehen, deren Praktiken sich – analog zu künstlerischen Strategien – einschreiben »into ordered places provoking a reconfiguration of experience, possibly producing new forms of perception« (Beyes 2009, S. 101; vgl. auch Beyes 2010). Vgl. Stiglitz 2015. Vgl. Wehler 2013. Vgl. hierzu auch exemplarisch Rehbein 2015; Reckwitz 2017. Berthold Vogel liest Reckwitz‹ Arbeit nicht nur als ein »Remake der Feinen Unterschiede Bourdieus«, sondern spricht ihr auch großes Potenzial für die Wiederbelebung der Sozialstrukturanalyse zu (Vogel 2017). Die Unterteilung soziodemografischer Merkmale in demografische und sozioökonomische orientiert sich an den Arbeiten von Jürgen H.P. Hoffmeyer-Zlotnik und Uwe Warner (vgl. HoffmeyerZlotnik/Warner 2012, 2014).

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verstanden, als Form spezifischer Teilhabe am öffentlichen Raum des Internets mit dem Fokus auf die eigenständige Produktion von Inhalten sowie auf Vernetzungspraktiken. Die hierbei adressierten partizipativen Praktiken stellen das Inventar an Internetpraktiken dar, welches in zahlreichen Studien als grundlegendes Konstituens des Web 2.0 gefasst wird.19 Es umfasst die Produktion und Veröffentlichung von Bildern, audiovisuellen Dokumenten sowie Texten, die eigenständige Erstellung von Webseiten und Blogs sowie die Nutzung von Social Media zur Vernetzung, zu denen Plattformen wie Twitter und Facebook gehören. Im Rekurs auf die Praxistheorie Bourdieus lassen sich Formen der Internetnutzung als distinktive Handlungen verstehen, die von Akteuren innerhalb einer Vielfalt möglicher Handlungsweisen vollzogen werden und somit als Manifestationen ihres Habitus zu interpretieren sind.20 Verknüpft sind mittels des Habitus, der selbst nicht unmittelbar der Beobachtung zugänglich ist, soziale Position und Lebensführung. Einer spezifischen Kapitalausstattung – Bourdieu unterscheidet meist zwischen den beiden entscheidenden Kapitalsorten von ökonomischem und kulturellem Kapital, wobei Volumen und Zusammensetzung dieser Ausstattung maßgeblich sind – entsprechen sozialisationsbedingt Handlungs-, Denk- und Urteilsschemata, die in Analogie zu Kant bei Bourdieu ein soziales Apriori konfigurieren. Diese dauerhaften Dispositionen legen bestimmte Praxisformen, Wahrnehmungsweisen und Bewertungen, kurz einen »Geschmack«, nahe: »Die unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer, Meinungsäußerungen erhalten ihren sozialen Sinn also dadurch, dass sie etwas anzeigen, soziale Unterschiede nämlich, die Zugehörigkeit zu der einen oder zu der anderen sozialen Gruppe oder Klasse.«21 Ausgehend hiervon lassen sich die unterschiedlichen Internetpraktiken im Raum möglicher Handlungen verorten, die gleichzeitig spezifische Beziehungsverhältnisse bzw. Relationen zu anderen Praktiken aufweisen. Vermittelt über den Habitus als Prinzip der Vereinheitlichung lässt sich dementsprechend der Frage nachgehen, inwieweit der Gebrauch digitaler Medien von der Position der Nutzer_innen im sozialen Raum abhängig ist, mithin von deren spezifischer Kapitalausstattung. Analysiert wird damit, inwiefern die Realisierung von Nutzungsmöglichkeiten des Internets in unterschiedlichem Ausmaß durch ökonomisches Kapital, Bildungskapital und die soziale Klasse bedingt ist. Darüber hinaus thematisiert die Arbeit auch das Verhältnis der Internetpraktiken zueinander und untersucht diese auf ihnen zugrundeliegende Strukturen. Insgesamt verfolgt die Untersuchung die Forschungsfrage, in welchem Ausmaß auch angesichts einer weitreichenden

19 20 21

Vgl. z. B. Schradie 2011; Blank 2013. Vgl. Bourdieu 1982, 1998. Krais/Gebauer 2002, S. 37.

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Internetdiffusion weiterhin Internetzugang und Internetverwendung von der sozialen Position der Akteure abhängen.22 Das zweite Kapitel widmet sich vorrangig dem gesellschaftlichen Kontext, vor dessen Hintergrund sich die gegenwärtigen Transformationen vollziehen und die grundsätzliche Frage nach der Relevanz digitaler Ungleichheiten ihre Bedeutung erhält. Darstellung erfahren hier die besonders einflussreichen Großtheorien zur Informations-, Wissensund Netzwerkgesellschaft, welche die Zentralität von Wissen und den Stellenwert von Informations- und Kommunikationstechnologien für den gesellschaftlichen Wandel in den Mittelpunkt rücken. Ihre Skizzierung beginnt mit der frühen wegweisenden Arbeit Daniel Bells zur nachindustriellen Gesellschaft und reicht bis zu Manuel Castells Konzept der Netzwerkgesellschaft sowie der von Nico Stehr favorisierten populären Begrifflichkeit der Wissensgesellschaft. Deutlich zeigt sich hierbei, dass mit der maßgeblichen Rolle, die dem Internet und internetbasierten Diensten in den zeitgenössischen Gesellschaften zukommt, Zugang und Verwendung eine Schlüsselfunktion bei der Verteilung von Machtpositionen und der Frage sozialer Inklusion einnehmen. Im dritten Kapitel wird die theoretische Verortung innerhalb der Tradition der soziologischen Ungleichheitsforschung vorgenommen. Ausgehend von einer allgemeinen Bestimmung sozialer Ungleichheit werden die hierfür maßgeblichen Entwicklungen und Innovationen expliziert. Diese reichen von frühen kritischen Positionen wie dem Marx’schen Klassenbegriff mit seiner stark ökonomischen Prägung über die von Max Weber eingeführte Dimension des Standes als relativ unabhängigem sozialem Ordnungsprinzip, welches parallel zur Klassendifferenzierung Einfluss auf die gesellschaftliche Strukturierung nimmt, bis zu nahezu affirmativen Ansätzen, die in der Nachfolge Talcott Parsons soziale Ungleichheiten für gesellschaftlich funktional erklären und einem bis heute gültigen, als gerecht deklarierten meritokratischen Prinzip Legitimation verleihen. An die klassischen Positionen schließt eine Diskussion an, die sich seit den 1980er-Jahren kontinuierlich mit dem Status der strukturierenden Kraft vertikaler Ungleichheiten auseinandersetzt. Während Vertreter einer Entstrukturierung, wie Ulrich Beck und Gerhard Schulze, mit Thesen von Individualisierung und Pluralisierung in Richtung einer Auflösung von Ungleichheiten hin zu vielfältigen, vorwiegend horizontal differenzierten Lebensstilen und Milieus argumentieren, betonen Pierre Bourdieu und daran anknüpfende Autoren sowie neuere Klassenansätze, zu finden etwa bei Erik Olin Wright und John Goldthorpe, aus unterschiedlicher Perspektive die Persistenz sozialer 22

Da es sich um eine empirische Arbeit handelt, sind die Ergebnisse grundsätzlich auf den ursprünglichen Bezugsrahmen, den bundesrepublikanischen Kontext, begrenzt. Eine Verallgemeinerung auf ›westliche‹ Gesellschaften mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur und ähnlicher Internetverbreitung ist meines Erachtens jedoch zulässig und im Sinne des Anschlusses an die empirische Forschung wünschenswert.

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Ungleichheiten und votieren nachdrücklich für die kritische Beibehaltung klassen- oder schichtförmiger Modelle, wenn auch unter aktualisierten Bedingungen. Den für die Studie in besonderem Maße relevanten theoretischen Bezugsrahmen, den Ansatz Pierre Bourdieus, verhandelt ausführlich das vierte Kapitel. Insbesondere mit dem zentralen Begriff des Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur gelingt Bourdieu eine Vermittlung von Struktur und Handlung, durch welche die tendenzielle Regelmäßigkeit der Praxis von Akteuren über ihre soziale Position und ihre Sozialisation erklärbar ist. Zugleich entwirft Bourdieu damit einen wesentlichen Beitrag zur MikroMakro-Problematik, vor allem gegenüber verkürzten, rationalistisch argumentierenden handlungstheoretischen Annahmen, wie dem von James S. Coleman eingebrachten Modell der sogenannten »Badewanne«.23 Mit Hilfe des Habituskonzepts wird es möglich, trotz der Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten eine gewisse Übereinstimmung im Denken, Wahrnehmen und Handeln von Akteuren anzunehmen und die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen – und somit auch sozialer Ungleichheiten – über alltägliche Praktiken zu denken. Eng verschränkt mit dem Habituskonzept sind zudem der von Bourdieu entwickelte Entwurf des sozialen Raums sowie sein spezifischer Kapitalbegriff. Die Darstellung konzentriert sich dabei auf die grundlegenden Kapitalformen, die die gesellschaftliche Strukturierung prägen und entsprechend große Bedeutung für digitale Ungleichheiten besitzen. Zudem werden hier wichtige Anschlüsse an Bourdieu aus dem Forschungsbereich zu digitalen Medien eingeführt. Das fünfte Kapitel stellt das Forschungsfeld zur »Digital Divide« in den Mittelpunkt. Nach einer umfassenden Erläuterung dieses Begriffes werden wichtige theoretische Bezugnahmen und Eckpunkte für die Auseinandersetzung mit digitalen Medien und sozialer Ungleichheit vorgestellt, an welche diese Arbeit anschließt. Entscheidende Referenz für die Digital-Divide-Forschung ist die medienkritische Perspektive, die über die sogenannte Wissenskluft-Hypothese eingebracht wurde. Darauf aufbauend hat sich ein ganzes Feld an Ansätzen und Modellen entwickelt, um das Phänomen der »Digital Divide« zu erfassen. Diese reichen von der frühen Zugangsforschung mit ihrem Fokus auf eine binär konzipierte Zugänglichkeit bis zu Mehrebenenmodellen, die digitale Ungleichheiten auf verschiedenen Dimensionen verorten. Die zentralen Analysekategorien für den empirischen Teil des Forschungsbeitrags werden hier bereits thematisiert. Zusätzlich zur Aufarbeitung der theoretischen Diskussion findet eine profunde aktuelle Bestandsaufnahme anhand einschlägiger Studien statt. Zentrale empirische Befunde aus der Forschung werden hierbei anhand verschiedener ungleichheitsrelevanter Kategorien, wie z. B. dem sozioökonomischen Status, dem Geschlecht und dem Alter herausgearbeitet. Eine ausführliche empirische Analyse der digitalen Ungleichheiten erfolgt im Rahmen des sechsten Kapitels. Zunächst wird eine Einführung und Übersicht zur Daten23

Vgl. Coleman 1990; vgl. auch Opp 2009.

1 Einleitung

9

grundlage für die Analyse gegeben. Daran schließt eine umfassende Untersuchung der primären Dimensionen digitaler Ungleichheiten an. Auf die deskriptive Darstellung der verschiedenen Zugangsaspekte folgt eine analytische Auseinandersetzung entlang der aus den Forschungen zu digitalen Ungleichheiten gewonnen maßgeblichen Ungleichheitsdimensionen. Im Fokus stehen hierbei nicht nur unterschiedliche demografische Kriterien, sondern im Anschluss an Bourdieu vor allem Aspekte der sozialen Position. Auf der Ebene dieser »First Digital Divide« findet sich eine Vielzahl an Ungleichheiten bestätigt. Zudem zeigt sich auch im zeitlichen Vergleich ein Fortbestehen von Ungleichheitsverhältnissen im Zusammenhang mit dem Bildungskapital. Der zweite, größere Teil der empirischen Analyse widmet sich der Frage nach der Statusabhängigkeit der im Internet verfolgten Praktiken. Nach einem Überblick über bereits bestehende Typologien wird mit Hilfe faktorenanalytischer Verfahren eine eigenständige Klassifikation auf Basis der Daten entwickelt, die sich zugleich an Arbeiten des Oxford Internet Institute orientiert. Die statistische Methode der Faktorenanalyse erlaubt es, die komplexe Vielfalt an Internetpraktiken auf ihr zugrundeliegende Dimensionen zu reduzieren. Anschließend folgt die inhaltliche Beschreibung der einzelnen Dimensionen, die jeweils deren Relevanz im Kontext sozialer Ungleichheit und umfassender Teilhabechancen verortet. Dies geschieht gemeinsam mit der Analyse von Ungleichheiten, deren Fokus hier vorrangig auf dem sozialen Status liegt. Für die »Second Digital Divide« als ungleiche Verwendung des Internets zeigt sich deutlich eine Abhängigkeit von den unterschiedlichen Kapitalien, wobei nicht alle Aktivitäten im Internet gleichermaßen durch die asymmetrisch verteilte Verfügbarkeit von Ressourcen geprägt sind. Das siebte Kapitel rekurriert explizit auf diejenigen Internetpraktiken, die mit dem Web 2.0 assoziiert sind und für die aktive Teilhabe insbesondere an der Sphäre des Öffentlichen stehen. In diesem Rahmen findet nochmals eine zusätzliche, gesonderte Analyse der Partizipationsmöglichkeiten unterschiedlicher sozialer Gruppen statt. Zunächst wird eine Bestimmung des Partizipationsbegriffs vorgenommen und die Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten im Zuge der Entwicklung des Internets und internetbasierter Technologien thematisiert. Im Anschluss steht jene Forschung im Zentrum, die sich bisher mit dieser spezifischen Form von »Participation Gap«24 als »Digital Production Gap«25 beschäftigt. Unter Rückgriff auf die statistische Methode der Korrespondenzanalyse erfolgt im analytischen Teil des Kapitels die räumliche Darstellung der unterschiedlichen partizipativen Internetpraktiken. Zusammengehörige Cluster bzw. Typen können auf diese Weise entdeckt und aufgrund ihrer Lage im Raum interpretiert werden. Anschaulich zeigt sich hierbei eine Differenzierung von Internetpraktiken, die vorwiegend soziales Kapital akkumulieren, und solchen, die auf kulturelles Kapital abzie24 25

Vgl. Hargittai/Walejko 2008; Jenkins 2009. Vgl. Schradie 2011.

10

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len. In einem Zwischenbereich befinden sich zudem partizipative Internetpraktiken, die in besonderem Maße als eine Form des »digitalen Kapitals«26 verstanden werden können. Deutlich sichtbar ist hier, dass sozial privilegierte Positionen in überdurchschnittlich hohem Ausmaß von der Erweiterung ihrer Kapitalien profitieren können und in größerem Umfang die mit dem Internet verschränkten (Teil-)Öffentlichkeiten prägen. In einem abschließenden achten Kapitel werden die Befunde der analytischen Teile resümiert und die gewonnenen Erkenntnisse einer Schlussbetrachtung unterzogen. Zugleich findet eine Rückbindung an die theoretischen Konzepte statt und mögliche Weiterführungen sowie Forschungsdesiderate werden benannt. Nachdrücklich betont zeigt sich erstens die Fortsetzung von Ungleichheitsverhältnissen im Internet und zweitens die hervorgehobene Relevanz der Internetpraktiken für die Reproduktion sozialer Ungleichheiten. Gesellschaftlich notwendig erscheint daher ein deutlich stärkerer Fokus auf digitale Ungleichheiten in Abhängigkeit von der sozialen Position.

26

Vgl. Seale 2013; Seale/Georgeson/Mamas/Swain 2015.

2

Die Zentralität von Wissen und die Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien für den gesellschaftlichen Wandel

Die Frage digitaler Ungleichheit stellt sich so insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Großtheorien wie sie unter den schillernden Begriffen von Informationsgesellschaft, Netzwerkgesellschaft und Wissensgesellschaft zirkulieren und mit Autoren wie Daniel Bell, Manuel Castells und, insbesondere im deutschsprachigen Raum, Nico Stehr assoziiert sind.27 Auch wenn nicht alle diese Entwürfe den Begriff der Ungleichheit dezidiert ins Zentrum rücken, so ist ihnen doch eine spezifische Vision gesellschaftlichen Wandels eigen, die eine Veränderung sozialer Ungleichheiten durch den herausgehobenen Status, der Wissen, Information und mit ihnen verbundenen Technologien zugewiesen wird, impliziert. Insofern lassen sie sich als »modernisierungstheoretische Ansätze«28 kennzeichnen, die besonders dort strukturelle Probleme verorten, wo der Zugang zu neuen Technologien, die Synonym für gesellschaftlichen Fortschritt stehen, vermindert ist. Vor allem Bell vertritt dabei eine nahezu rein technikoptimistische Sichtweise, deren Kehrseite von Castells stärker hervorgehoben wird. Während bei Bell neuen, wissensbasierten Technologien, zu denen in herausgehobener Weise Informations- und Kommunikationstechnologien gehören, die Funktion zukommt, einer Verringerung von Ungleichheiten zuzuarbeiten, thematisiert Castells auch neue Spaltungen, welche sich in der Netzwerkgesellschaft ergeben, und hebt mit dem Begriff der »Digital Divide« auf den ungleichen Zugang zum Internet und zu Informations- und Kommunikationstechnologien ab. Peter A. Berger weist zudem bezüglich dieser Gesellschaftsdiagnosen darauf 27

28

Neben den genannten Autoren haben den Diskurs um die nachindustrielle Gesellschaft sowie die Wissens- und Informationsgesellschaft schon früh die folgenden geprägt: die in der neoliberalen Tradition der jüngeren Österreichischen Schule um Friedrich Hayek und Ludwig von Mises argumentierenden Fritz Machlup und Peter Drucker, die beide vorwiegend auf die gewachsene ökonomische Bedeutung von Wissen abheben, der Ökonom Jean Fourastié, der mit der Drei-SektorenTheorie den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft und die Veränderung der Beschäftigungsstruktur in den Mittelpunkt stellt, und der Soziologe Alain Touraine, der zeitgleich zu Bell sein Konzept der »nachindustriellen Gesellschaft« vorgelegt hat, in welchem er die Verlagerung der grundlegenden gesellschaftlichen Konflikte weg vom ökonomisch betriebenen Klassenkampf hin zu den neuen sozialen Bewegungen als treibende Kraft des gesellschaftlichen Wandels skizziert (vgl. Fourastié 1954; Machlup 1962; Drucker 1969; Touraine 1972). Für einen kritischen Überblick über die Konzepte von Informations- und Wissensgesellschaft vgl. Heidenreich 2003; Webster 2006; Kübler 2009; Steinbicker 2011. Krings/Riehm 2006, S. 3057.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rudolph, Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2_2

12

2 Die Zentralität von Wissen

hin, dass nicht lediglich die Frage nach ungleichem Zugang zu den neuen wissensbasierten Technologien, mithin zu Information und Wissen als Ressource, relevant für die Ungleichheitsforschung ist, sondern auch die Frage nach der Transformation von Beschäftigungsstrukturen bzw. einer »Auflösung von Beruflichkeit« innerhalb der Wissensund Informationsgesellschaften. Mit der zunehmenden Entstandardisierung, Befristung und Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen entstehen mitunter auch Veränderungen in der Sozialstruktur, die eine Anpassung von Klassen- respektive Schichtordnungen notwendig erscheinen lassen.29

2.1

Daniel Bell – Die nachindustrielle Gesellschaft

Daniel Bell entwirft bereits zu Beginn der 1970er-Jahre in seiner Arbeit mit dem epochemachenden Titel The Coming Of Post-industrial Society30 das Bild eines umfassenden Strukturwandels durch die zunehmende Fokussierung auf Wissen als entscheidende Produktivkraft und wird damit zum entscheidenden Vordenker der Konzepte von Wissens- und Informationsgesellschaft.31 Die vormals durch Beschäftigung im agrarischen und vor allem industriellen Sektor geprägten ›westlichen‹ Nationen befänden sich im Übergang zu einer Dienstleistungsgesellschaft.32 Entscheidend ist dabei vor allem das neue »Axialprinzip« der Gesellschaft als »the organizing frame around which the other institutions are draped, or the energizing principle that is a primary logic for all the others.«33 Diese neue Achse, um die sich in wachsendem Maße die Gesellschaft dreht und die den Wandel bestimmt, findet Bell im theoretischen Wissen. Sichtbar werden die Veränderungen, die unter dem Begriff der »nachindustriellen Gesellschaft« gefasst werden, in verschiedenen Bereichen. Hinsichtlich Wirtschaft und Sozialstruktur gewinnt der Dienstleistungsbereich gegenüber der Warenproduktion in wachsendem Maße an Bedeutung. Einher geht damit eine Änderung der Beschäftigungsstruktur und des Charakters der Arbeit; industrielle Arbeit verliert zugunsten von neuen Berufen, die tendenziell mehr Professionalität und tertiäre Ausbildung voraussetzen, an Relevanz. Der Einfluss theoretischen Wissens ist dabei umfassend, die »[p]ost-industrial society is orga29 30 31

32

33

Berger 2006. Vgl. Bell 1973, dt. Die nachindustrielle Gesellschaft (Bell 1976). Bell entwickelt in Fortführung der Marx’schen Begrifflichkeiten eine Abfolge von Produktivkräften, die ausgehend von prä-industriell über industriell zu nachindustriell reicht und parallel zur Trias der Produktionsverhältnisse von Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus verstanden werden soll, ohne an diese zwingend gekoppelt zu sein (vgl. Bell 1973, S. 11f.). Die Verwendung des Begriffs der »Post-industrial Society« an Stelle von »Knowledge Society« oder »Information Society« begründet Bell mit dem Einfluss von Ralf Dahrendorfs Konzept der »Postcapitalist Society« sowie dem nachhaltigen Eindruck von David Riesman Leisure and Work in PostIndustrial Society (vgl. Bell 1973, S. 47). Ebd., S. 10 – Hervorhebung im Original.

2.1 Daniel Bell – Die nachindustrielle Gesellschaft

13

nized around knowledge, for the purpose of social control and the directing of innovation and change; and this in turn gives rise to new social relationships and new structures which have to be managed politically.«34 Der Vorrang der Theorie als systematisches Wissen gegenüber dem reinen Empirismus findet seinen Ausdruck in der gewachsenen Bedeutung von Wissenschaft, technologischer Forschung und Management für die gesellschaftliche Entwicklung, für Wirtschaft und Politik. Die Produktion von Information wird zum Schlüsselproblem. Hinzu kommt eine spezifische Form der Gesellschaftsplanung, die mit dem Rekurs auf Wissen bzw. Technologien möglich scheint und im Ideal steuerbarer Wandlungsprozesse aufgeht. In Vorwegnahme der umfassenden »Digitalisierung« und ausgehend von Erkenntnissen der Statistik, von Spieltheorie und Kybernetik, tritt für Bell an die Stelle der Zentralität von Maschinen die »Intellectual Technology«, welche auf Grundlage von Algorithmen funktioniert.35 Mit der Zentralität von Wissen und Information erlangt vor allem höhere Bildung einen besonderen Stellenwert, da sie Voraussetzung für jene Fähigkeiten und Kompetenzen ist, die im Mittelpunkt der Produktivität stehen. Der Wandel führt einerseits zu einer »democratization of higher education on a scale that the world has never seen before«36, bringt aber andererseits auch eine neue Elite, die »Knowledge Class« hervor – hierzu gehören etwa Wissenschaftler_innen, Ärzt_innen, Ingenieur_innen und Lehrer_innen –, welche die veränderte Statusordnung anführt. Wissen wird zum wesentlichen Stratifikationsmerkmal, dem meritokratischen Prinzip37 kommt Bell zufolge die entscheidende Bedeutung bei der Allokation von Einkommens- und Statusdifferenzen zu. Als neuer Konfliktort rücken die Universitäten ins Bild, weil dem Ideal eines nur nach individueller Leistung belohnenden Systems die gesellschaftliche Realität in Teilen widerspricht, da Bildungsinstitutionen durchaus Klassenpositionen reproduzieren, wie Bell in Anlehnung an The Academic Revolution38 von Christopher Jencks und David Riesman eingesteht. Obwohl er das unter dem Banner der Gleichheit geführte und als »Populist Revolt« gelabelte 34 35 36 37

38

Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 12–33. Ebd., S. 216. Das Konzept der Meritokratie geht auf eine Satire Michael Youngs mit dem Titel The Rise of Meritocracy: 1870–2033 zurück. Kennzeichen der dort skizzierten dystopischen Gesellschaft ist die Verteilung von beruflichen Positionen allein nach der Formel: »Intelligence and effort together make up merit (I + E = M).« (Young 1958, S. 94) In dem Maße, so Youngs Annahme, in welchem die gesellschaftliche Schichtung diesem Kalkül unterliegt, nimmt die Ungleichheit zu, ohne zugleich größeren Protest hervorzurufen, da das der Ungleichheit zugrundeliegende Leistungsprinzip auf allen Ebenen der Gesellschaft toleriert wird. Die positive Umwertung des Begriffs der Meritokratie in der Folge von Youngs Veröffentlichung und die Popularität daran anknüpfender Policies steht im Gegensatz zur kritischen Intention seiner Satire. Typischer Ausdruck dieses Missverhältnisses ist beispielsweise das wiederholte Insistieren der New-Labour-Regierung unter Tony Blair auf die Vorzüge einer Meritokratie (vgl. etwa Tomlinson 2003). Jencks/Riesman 1968.

14

2 Die Zentralität von Wissen

Aufbegehren der Benachteiligten, wie etwa von Frauen oder Minderheiten, um einen gleichwertigen Zugang zu Bildung anerkennt, votiert Bell letztlich dennoch für eine Art gerechte Meritokratie.39 Der entscheidende Aspekt in Bells Konzept der nachindustriellen Gesellschaft bezüglich sozialer Ungleichheiten findet sich entsprechend folgendermaßen zusammengefasst: »If property and inheritance form the basis and mode of access in the capitalist system, then technical skill and education are the base and mode of access to position and power/authority/influence and reward in a postindustrial system.«40 Indem Wissen in den Mittelpunkt rückt, löst das Bildungssystem tendenziell die Vorherrschaft von Herkunft und Besitz bei der Zuteilung gesellschaftlicher Positionen ab, was bei Bells Annahme einer vermeintlich gerechten Belohnung des individuell erworbenen Status in Form von Fähigkeiten und Kompetenzen, deren Ausdruck Bildungsabschlüsse sind, strukturelle soziale Ungleichheiten verringert und eine höhere soziale Mobilität ermöglicht.41 Ergänzt wird dies durch die Rolle, die den Technologien zugesprochen wird. In technokratischer Manier sieht Bell in den wissensbasierten Technologien letztlich den wesentlichen Mechanismus, der innerhalb der sogenannten ›westlichen‹ Gesellschaften für die Erhöhung des Lebensstandards aller und der Verringerung von Ungleichheiten verantwortlich ist. Hinsichtlich der Frage digitaler Ungleichheit stellt Bell schon früh den Computer ins Zentrum der Entwicklungen und schließt, dass »[i]n the coming century, the emergence of a new social framework based on telecommunications may be decisive for the way in which economic and social exchanges are conducted, the way knowledge is created and retrieved, and the character of the occupations and work in which men engage.«42 Aus der letztlich technikoptimistischen bis technokratischen Position Bells heraus erscheint die Durchsetzung und Stimulierung digitaler Technologien bereits als Schritt in eine offenere und von weniger sozialen Ungleichheiten geprägte Gesellschaft.43 Mit Blick auf den Diskurs zu digitalen Medien und zur Digital Divide lässt sich bereits hier jene Position finden, die in der Euphorie über technologische Entwicklungen die ungleichen Bedingungen des Zugangs und der Nutzung von digitalen Medien kaum thematisiert und tendenziell alle bestehenden Ungleichheiten in der gesellschaftlichen Schichtung einer vermeintlichen Wissensgesellschaft lediglich als gerechtfertigte Differenzen auf Basis einer vermeintlich idealen Meritokratie versteht. 39 40 41

42 43

Vgl. hierzu auch Neun 2014, S. 461ff. Bell 1979, S. 20. Zur Problematik des Meritokratie-Diskurses im Anschluss an Bell vgl. auch Themelis 2008. Eine grundlegende Zurückweisung bildungsbasierter Meritokratieannahmen findet sich etwa bei John D. Goldthorpe (2003; vgl. auch Goldthorpe/Jackson 2008). Bell 1981, S. 500. Für eine umfassende Kritik an Bells Konzept der nachindustriellen Gesellschaft vgl. Webster 2006, S. 32–59.

2.2 Manuel Castells’ Konzept der Netzwerkgesellschaft

2.2

15

Manuel Castells’ Konzept der Netzwerkgesellschaft

Insbesondere Manuel Castells hat den Ansatz Bells und Alain Touraines fortgeführt und zudem explizit die Frage sozialer Ungleichheit in der »Netzwerkgesellschaft« thematisiert. In seinem 3-bändigen opus magnum »The Information Age. Economy, Society and Culture«44 fasst er unter dem Begriff der Netzwerkgesellschaft als der charakteristischen Gesellschaftsstruktur des Informationszeitalters bzw. des »Informational Capitalism«45 eine Vielzahl an Prozessen zusammen, deren Resultat eine neue Weltordnung ist. Ausgehend seit den 1960er Jahren haben insbesondere die Revolution der Informationsund Kommunikationstechnologien, die in der globalen Verbreitung des Computers, von Telekommunikation sowie des Internets besteht und für Castells den vergleichbaren Stellenwert einer industriellen Revolution besitzt, die Krise und Reorganisation der kapitalistischen Produktion und die tendenzielle Auflösung des nationalstaatlichen Etatismus sowie der Aufstieg sozialer Bewegungen für Castells zur Herausbildung eines neuen Typus der Sozialstruktur geführt. Fundamental haben sich die kapitalistischen Gesellschaften um Netzwerkstrukturen reorganisiert, in deren Mittelpunkt die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien stehen. Sie ermöglichen die für Netzwerke wesentliche Architektur von Offenheit, Dynamik und Flexibilität bei gleichzeitig tendenziell unbeschränktem Wachstum. Informations- und Kommunikationstechnologien werden so zur Grundlage wirtschaftlicher Produktivität sowie gesellschaftlicher Entwicklungen, entsprechend sind die zeitgenössischen Gesellschaften als informationell zu charakterisieren, da die sozialen und technologischen Formen einer informationellen, netzwerkförmigen Organisation alle gesellschaftlichen Sphären durchdrungen haben. Als neue Form der Organisation ist die Netzwerkstruktur jenseits der herkömmlichen kapitalistischen Institutionen angesiedelt, fern von Fabrik und bürokratischer Hörigkeit. Die Netzwerkgesellschaft stellt jedoch nicht bloß die Fortsetzung der Dienstleistungsgesellschaft dar, da alle wirtschaftlichen Bereiche inklusive der landwirtschaftlichen Produktion und des industriellen Sektors dem Einfluss dieser neuen Logik unterliegen. Im Zentrum der Produktivität stehen Wissensproduktion und Informationsverarbeitung, was in der Folge auch zu einer Veränderung der Arbeit führt. Im Rahmen der Netzwerkgesellschaft sind es vor allem jene schon von Robert Reich als »Symbolanalytiker«46 gekenn44 45 46

Castells 1996, 1997, 1998. Castells 1996, S. 18. Die Begriffe der »Symbolic-analytic Services« und der »Symbol Analysts« hat Robert B. Reich, ehemaliger Arbeitsminister unter Bill Clinton, prominent als Kennzeichen einer der drei zukünftig entscheidenden Berufskategorien, neben »Routine Production Services« und »In-person Services« eingeführt. Symbolanalytiker sind die paradigmatische Berufsgruppe der Wissensgesellschaft, deren vornehmlich Aufgabe in der Bearbeitung und Veränderung von Symbolen und Daten, der Problemidentifikation und -lösung, der Entwicklung neuer Ideen usw. besteht (Reich 1991). Eine nähere Bestimmung dieser neuen Expertenschicht nimmt Cornelia Koppetsch (2011) vor.

16

2 Die Zentralität von Wissen

zeichneten Arbeitskräfte, welche die wesentliche Produktivkraft darstellen. Mit ihr steigen auch die Anforderungen hinsichtlich Bildung und Kompetenzen an die Beschäftigten in diesem Bereich. Zugleich wird ein Großteil der industriellen Produktion aus den ›westlichen‹ Ländern ausgelagert und führt global zu einem weiteren Anstieg schlecht entlohnter Arbeit.47 Als Konsequenz ergibt sich nicht zuletzt politisch unterstützt und von den Unternehmen forciert ein gewichtiger Gegensatz zwischen »Self-programmable Labor« – den Beschäftigten, um die sich alles in der Netzwerkgesellschaft dreht und denen weitreichende Autonomie und Kontrollbefugnisse zugestanden werden – und der »Generic Labor« als der charakteristischen, leicht ersetzbaren Arbeiterschaft im Bereich gering qualifizierter Tätigkeiten mit zumeist schlechten Arbeitsbedingungen.48 Für beide Pole gilt zudem eine wachsende Flexibilisierung, die zur Erosion von Normalarbeitsverhältnissen führt, so dass kurzfristige Beschäftigung, geringe Absicherung und unklare Karrierewege typisch werden. Auf Seiten der Unternehmen etabliert sich das Netzwerkunternehmen als paradigmatische Form wirtschaftlicher Organisation, welches von Dezentralisierung, Vernetzung und flexibler Produktion geprägt ist. Insgesamt verschiebt sich das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit drastisch zugunsten der Unternehmen, die mittels der neuen Strukturen wesentlich dynamischer die Produktion steuern, auslagern, verschieben und automatisieren können und zudem ihre Finanzströme der Tendenz nach global und mit kaum mehr staatlicher Kontrolle dirigieren. Das Netzwerkunternehmen ist insofern Ausdruck der sozioökonomischen Veränderungen, wie sie etwa auch unter Begriffen wie »Postfordismus«, »Flexible Specialization«, »Financialization« und »Toyotismus« verhandelt werden.49 Trotz der globalen Ausmaße der Netzwerkgesellschaft, die alle Regionen, Ökonomien und Gesellschaften betrifft, sind nicht alle in gleichem Maße in die informationelle Ökonomie integriert. So konzentriert sich ein Großteil des ökonomischen Wachstums, des Reichtums und der Ressourcen in den OECD-Ländern, während andere Regionen der Welt ausgeschlossen bleiben. Mit der Durchsetzung der Netzwerkgesellschaft gehen für Castells nicht nur neue Möglichkeiten einher, sondern zugleich neue Spaltungen und gravierende Ungleichheiten, sowohl auf globaler Ebene als auch innerhalb der jeweiligen Gesellschaften. Die Trennlinie verläuft dabei zwischen denjenigen, die für die Wertschöpfung des informationellen Kapitalismus von Interesse sind und daher einen Bestandteil der Netzwerke bilden, und jenen, die ohne Wert für diese Netzwerke ausgeschlossen bleiben – oder 47

48 49

Neben dieser Hauptlinie der Differenzierung schlägt Castells für die neue Arbeitsteilung innerhalb der informationellen Tätigkeiten eine Typologie vor, die Positionen hinsichtlich Wertschöpfung, Netzwerkaktivität und Entscheidungskompetenz weiter unterteilt. Die verschiedenen Machtbefugnisse in Entscheidungsprozessen unterscheiden so etwa die Positionen von »Deciders«, »Participants« und »Executants« (vgl. Castells 1996, S. 255–267). Vgl. ebd, S. XXIIIf. Vgl. für einen Überblick Piore/Sabel 1984; Amin 1994; Lash/Urry 1994; Boyer 2000.

2.2 Manuel Castells’ Konzept der Netzwerkgesellschaft

17

werden, wie Castells etwa für bestimmte asiatische Staaten nach der Asienkrise ausführt.50 Charakteristisch für die neuen Differenzierungen ist auch die dominante Form der Erfahrung von Raum und Zeit, die Castells mit den Begriffen »Timeless Time« und »Space of Flows« kennzeichnet. Ersterer bezieht sich auf die mit den Informations- und Kommunikationstechnologien entstandene Möglichkeit instantaner Prozesse, einer Zeit, die keines sequentiellen Ablaufs bedarf und ihren Idealtypus etwa in den synchronen Transaktionen am Finanzmarkt hat, letzterer auf die Produktion eines globalen Raums, der unterschiedlichste Orte umfassend vernetzt und sich von den spezifischen örtlichen Rahmungen löst. Insbesondere der »Space of Flows« stellt die Grundlage der dominanten sozialen Praktiken in der Netzwerkgesellschaft dar: »The space of flows is the material organization of time-sharing social practices that work through flows. By flows I understand purposeful, repetitive, programmable sequences of exchange and interaction between physically disjointed positions held by social actors in the economic, political, and symbolic structures of society.«51 Die spezifisch neue räumliche Charakteristik der dominanten sozialen Praktiken bedingt eine ungleiche geografische Verteilung, wie sie sich sichtbar an den weltweit operierenden Unternehmen mit unzähligen Standorten, in transnationalen Warenströmen, international verflochtenen Finanzplätzen und Produktionsstätten zeigt.52 Ausdruck dieser Machtverhältnisse sind Knoten in den Netzwerken, die gegenüber dem restlichen Raum eine dominante Position einnehmen.53 Insbesondere die Weltstädte, in denen sich eine globale Elite bewegt, deren Strukturen dort räumlich manifest werden, sind Sinnbild des »Space of Flow« und beherrschen den übrigen Raum, der im Kontrast dazu als »Space of Places« – als der alltägliche Erfahrungsraum der Menschen – konstruiert ist.54 Analog dazu korrespondiert eine Zeiterfahrung, die für den Großteil der Menschheit Gültigkeit besitzt, die nicht aktiv in der Netzwerkstruktur agieren können, und von Castells in Anlehnung an Scott Lash und John Urry55 symptomatisch als »Glacial Time«56 bezeichnet wird. Diese Gegensätze finden sich nicht nur im internationalen Ausmaß, sondern auch innerhalb der Städte und Regionen, wo in vielfältigen Bereichen eine Zentrum-Peripherie-Struktur entsteht, die bestimmte Gebiete tendenziell von den Profiten des »Informational Capitalism« ausschließt, zugleich aber in einem Abhängigkeitsverhältnis behält. In Ergänzung zur Polarisierung zwischen soge50 51 52 53 54

55 56

Castells 2001, S. 132–135. Castells 1996, S. 442 – Hervorhebung im Original. Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Doreen Massey (1993, 1995) und David Harvey (1990). Vgl. auch die netzwerktheoretischen Annahmen von Albert-László Barabási (Barabási/Albert 1999; Barabási 2003). Vgl. zudem die Arbeiten Saskia Sassens zur herausgehobenen Rolle globaler Städte in einer neuen kapitalistischen Weltordnung (Sassen 1991, 1994) sowie für einen Überblick Taylor/Derudder/ Saey/Witlox 2007. Vgl. Lash/Urry 1994, S. 241–251. Castells 1996, S. 498.

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2 Die Zentralität von Wissen

nannter ›Erster‹ und ›Dritter Welt‹ schlägt Castells für die wachsende Ungleichheit die Begrifflichkeit der »Fourth World«57 vor, um die zunehmend größeren Gruppe von Reichtum und Wohlstand Ausgeschlossener sowohl in den ›westlichen‹ Ländern als auch in den ›Schwellenländern‹ und der ›Dritten Welt‹ zu betonen. Die Dominanz der Netzwerke und ihrer Zentren, der international agierenden Unternehmen und der globalen Elite bringt demgemäß vielfältige Konfliktlinien hervor. Gegenkulturelle Bewegungen sind daher Castells zufolge typisch für die Netzwerkgesellschaft und etwa in Form der alternativen Bewegungen der 1968er, der Umweltbewegung und des Feminismus auch Teil ihres Ursprungs.58 Sie kreisen in erster Linie um identitäre Fragen, die eine Art Gegenmacht zur abstrakten Logik der Netzwerke zu etablieren suchen und den grundlegenden Widerspruch zwischen Netz und Ich, der Tendenzen der Globalisierung einerseits und der Identität andererseits aufrechterhalten.59 Zu diesen sozialen Bewegungen, für die Identität im Mittelpunkt steht, gehören neben progressiven Bewegungen wie den mexikanischen Zapatistas zugleich konservative und nationalistische Strömungen sowie Formen des Extremismus, die sich gegen den neuen informationellen Kapitalismus in Stellung bringen.60 Sie alle sind Resultat einer wachsenden sozialen Ungleichheit und Polarisierung, die im Sinne der »Fourth World«Annahme gleichzeitig sowohl in den entlegensten Gebieten wie auch mitten in den Weltmetropolen zur Geltung kommt. Auch auf der Ebene der Kultur finden nach Castells tiefgreifende Veränderungen durch die umfassende Durchsetzung der neuen Medien statt. Unter der Chiffre einer »Culture of Real Virtuality«61 wird die netzwerkartig strukturierte und durch Informations- und Kommunikationstechnologien geprägte Kultur zur dominanten Form der symbolischen Kommunikation in der zeitgenössischen Gesellschaft. Dies beinhaltet sowohl einerseits die Entstehung von Mediennetzwerken globalen Ausmaßes, welche einer gesteigerten Differenzierung unterliegen und zielgenau Publikumssegmente adressieren, und andererseits eine wachsende Interaktivität von Seiten des Publikums, die sich die neuen Technologien selbst zur Vernetzung aneignen. Alles was jedoch jenseits dieser medial geprägten Kultur stattfindet und nicht in die Netzwerke integriert ist, bleibt letztlich außerhalb dessen was gesellschaftlich relevant ist und findet nur mehr sub-

57 58

59 60 61

Castells 1998. Zum Verhältnis von Hippie-Bewegung und Technokultur des Internets vgl. exemplarisch Turner 2006. Janet Abbate zeigt als Kehrseite zur Alternativkultur die bedeutende Rolle des technischmilitärischen Komplexes der USA bei der Entwicklung des Internets und seines Vorläufers, des ARPANET, auf (vgl. Abbate 1999). Vgl. Castells 1997. Vgl. ebd., S. 71–191. Vgl. Castells 1996, S. 355–406.

2.2 Manuel Castells’ Konzept der Netzwerkgesellschaft

19

kulturell statt.62 Entscheidend wird der Status hinsichtlich Teilhabe und Gestaltung: »Who are the interacting and who are the interacted in the new system […] largely frames the system of domination and the processes of liberation in the informational society.«63 Ungleichheiten entstehen somit nicht nur hinsichtlich Arbeit und Beschäftigungsverhältnissen innerhalb der Netzwerkgesellschaft, zwischen gut ausgebildeten »Wissensarbeitern«64 und den allgemeinen, leicht ersetzbaren Arbeitskräften, sondern auch hinsichtlich kultureller Teilhabe. Dabei verläuft die Trennlinie zwischen jenen, die aktiv partizipieren und der Gruppe der Ausgeschlossen bzw. lediglich passiv Rezipierenden entlang der Voraussetzungen, die für einen Umgang mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erforderlich sind. Nur wer die notwendigen Kompetenzen besitzt und sich die Netzwerklogik zu eigen machen kann, besitzt die Möglichkeit der aktiven Inklusion in die Netzwerkstrukturen. Auch wenn Castells nur wenig Anhaltspunkte dafür liefert, welche die entscheidenden Dimensionen sozialer Ungleichheit darstellen, so scheint letztlich, wie auch Jochen Steinbicker feststellt, Bildung die maßgebliche Determinante der gesellschaftlichen Schichtung zu sein.65 Sie trennt den Zugang zu wissensintensiver Arbeit von gering entlohnter Tätigkeit und ist Voraussetzung, um sich aktiv der Netzwerkstrukturen zu bedienen bzw. alternative Möglichkeiten der Vernetzung aufzubauen. Im Titel seiner an The Information Age anschließenden Arbeit The Internet Galaxy unterstreicht Castells nochmals deutlich, welche entscheidende Rolle insbesondere das Internet beim Wandel zur Netzwerkgesellschaft spielt. Ohne die dadurch ermöglichte Vernetzung sind die Veränderungen nicht denkbar, dabei bringt die strukturierende Kraft des Internets einen qualitativen Sprung in der Nutzung hervor, so dass »exclusion from these networks is one of the most damaging forms of exclusion in our economy and in our culture.«66 Die zentrale Problematik zwischen »Interacting« und »Interacted« findet bei Castells seine Fortsetzung im Begriff der Digital Divide, dem ungleichen Zugang zum Internet und der ungleichen Nutzung aufgrund unterschiedlicher Kompetenzen und Fähigkeiten. Problematisch sind diese Ungleichheiten nicht nur unmittelbar hinsichtlich der Teilhabe und des Zugriffs auf Netzwerkressourcen, sondern auch mit Blick auf die Prägung von Inhalten und Technologien im Internet. Gerade jene, die bereits früh Zugang zu und Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien hatten, haben, so vermutet Castells im Sinne der Diffusionstheorie, stärker die Entwicklung und Gestaltung des Mediums beeinflusst als die klassischen »Late Adop62 63 64 65 66

Vgl. ebd., S. 405. Ebd., S. 405f. – Hervorhebung im Original. Den Begriff der »Knowledge Workers« verwendet Castells im Vorwort der Neuausgabe 2010 zu »The Rise of the Network Society« (vgl. Castells 2010, S. XXIII). Vgl. Steinbicker 2001. Castells 2001, S. 3.

20

2 Die Zentralität von Wissen

ter«. Dabei erscheint die globale Elite als diejenige Gruppe, welche nicht nur die Netzwerkstrukturen prägt, sondern auch zukünftig angesichts neuer technologischer Innovationen, wie beispielsweise dem Ausbau von Breitbandnetzen, über einen tendenziell besseren Zugang verfügen kann, was Ungleichheiten weiter verstärkt.67 Insgesamt vertritt Castells eine der Tendenz nach technikdeterministische Perspektive, insofern den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Rolle zugesprochen wird, den gesellschaftlichen Wandel hin zur Netzwerkgesellschaft voranzutreiben und das Vermögen zur Veränderung zu inkorporieren.68 Einerseits entstehen dabei neue Ungleichheiten bezüglich der Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen. Hier wird vor allem über Bildungsressourcen, mithin als Wissen und Kompetenzen konzipiert, ein Zugang zu den gesellschaftlich dominanten wissensintensiven Arbeitsformen skizziert, was Castells mitunter in die Nähe zur Bell’schen Apologetik einer Meritokratie rückt.69 Andererseits stellt der unterschiedliche Zugriff auf Informations- und Kommunikationstechnologien, das Internet und die damit verbundenen informationellen Ressourcen selbst eine grundlegende Ungleichheitsdimension dar, da Zugang und Verwendung digitaler Medien zunehmend Voraussetzung von Bildungsprozessen und überhaupt Teilhabe an der digitalen Welt werden. Dabei rücken die modernisierungstheoretischen Ansätze eindeutig die Relevanz des Internets und internetbasierter Technologien für die Erwerbsarbeit in den Vordergrund und gehen kaum auf neue Möglichkeiten insbesondere politischer Partizipation ein, wie sie im Diskurs um etwaige Demokratisierungspotenziale eine herausragende Rolle spielen.70

2.3

Die Wissensgesellschaft bei Nico Stehr

Nico Stehr hat prominent den Begriff der Wissensgesellschaft von Peter F. Drucker71 aufgegriffen und den Ansatz von Bell entschieden erweitert. Im Gegensatz zu Castells betont er vor allem die positiven Aspekte einer gewachsenen Stratifizierung der Gesellschaften nach Wissen und unterstreicht an Stelle der technologischen Bedingungen, wie sie im Konzept des Netzwerks hervorgehoben werden, den Aspekt des Wissens als Übergang zu einer neuen Moderne.72 Ausgangspunkt von Stehrs Arbeit ist die Frage nach der

67

68 69 70 71 72

Nicht zuletzt die Diskussion über die sogenannte »Netzneutralität« verweist auf die Frage, inwiefern ökonomischen Interessen ein Vorrang in der Versorgung eingeräumt werden sollte oder ob nicht vielmehr die Datenübertragung sowie Netzwerkverwendung allen zu gleichen Bedingungen zur Verfügung stehen müsste (vgl. Gersdorf 2011; Krämer/Wiewiorra/Weinhardt 2013). Vgl. auch die Einschätzung Castells durch Stehr (2000a). Vgl. auch Degele 2015. Vgl. Castells 2001. Vgl. Drucker 1969. Vgl. Stehr 2000c.

2.3 Die Wissensgesellschaft bei Nico Stehr

21

zunehmenden Bedeutung insbesondere wissenschaftlichen Wissens für den gesellschaftlichen Wandel. Wissen tritt dabei mit den Faktoren Arbeit und Eigentum als Basis der Gesellschaften in immer stärkerem Maße in Konkurrenz und wird bestimmendes Element der Produktivität. Gleichzeitig ist die Wissensgesellschaft nach Stehr dadurch charakterisiert, dass Wissen selbstreflexiv wird und seine herausgehobene Rolle durch die Anwendung von Wissen auf Wissen gewinnt; in diesem Sinne erscheinen die Gesellschaften in historisch neuem Ausmaß als Produkte ihrer eigenen Handlungen.73 Relevanz gewinnt dabei nicht nur die Produktion von Wissen, sondern auch seine Distribution und Reproduktion. Der Wissensbegriff bei Stehr ist wissenssoziologisch informiert und dezidiert handlungstheoretisch gefasst: Wissen wird in erster Linie als Handlungsvermögen konzeptualisiert und bildet damit zugleich die Grundlage von Interaktion und sozialer Ordnung. Die Betrachtungsweise dieser Erweiterung von gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ist hierbei vorwiegend auf die kollektive Ebene bezogen, individuelle Handlungsspielräume unterliegen auch in der Wissensgesellschaft weiterhin sehr ungleichen Bedingungen. Über Wissen vollzieht sich die Reproduktion des gesellschaftlichen Gefüges, insofern Machtverhältnisse auf Wissen beruhen, so dass entsprechend »access to knowledge becomes a major societal resource and the occasion for political and social struggles.«74 Ungleichheiten ergeben sich in der Wissensgesellschaft demnach vorwiegend über den Zugriff auf Wissen. Wissen in objektivierter Form als »stock of intellectually appropriated nature and society«75 bildet eine Art kulturelle Ressource der Gesellschaften, wobei die Aneignung dieses Wissens, mithin die Möglichkeiten der Partizipation an diesen Ressourcen, letztlich die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder wesentlich beeinflusst. Im unmittelbaren wirtschaftlichen Rahmen gewinnen in Anlehnung an die Annahmen Bells Forschung und Entwicklung einen besonderen Stellenwert und werden zum Zentrum der Wertschöpfung, so dass sich hier zudem eine neue Klasse von Wissensarbeiter_innen aus vorwiegend Wissenschaftler_innen, Intellektuellen und Ingenieur_innen herauszukristallisieren scheint. Grundsätzlich geht Stehr davon aus, dass sich in der Wissensgesellschaft Ungleichheiten ihrem Charakter nach wandeln. Mit der Annahme eines allgemein gestiegenen Wohlstandsniveaus vollzieht sich trotz aller weiterhin bestehender Ungleichheiten bezüglich des Besitzes innerhalb der ›westlichen‹ Nationen eine Art tendenzielle Loslösung der ökonomischen Abhängigkeit von der beruflichen Position. Zugleich hat eine Erweiterung sozialer Rechte stattgefunden, die gemeinsam mit dem Anstieg des allgemeinen Wohlstands neue Handlungsmöglichkeiten für die Individuen hervorbringen, indem diese tendenziell weniger Arbeit und Reichtum untergeordnet sind. In dieser Hinsicht sind die vormals charakteristi73 74 75

Vgl. Böhme/Stehr 1986, S. 19. Ebd., S. 9. Ebd., S. 21.

22

2 Die Zentralität von Wissen

schen Ungleichheitsdimensionen der Industriegesellschaften Stehr zufolge im Verblassen bzw. einem drastischen Transformationsprozess unterstellt.76 Darüber hinaus findet eine Abschwächung und Dezentrierung der früheren »authoritative centers and therefore exemplary or tightly constraining patterns of conduct«77 statt. Die Dominanz gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen wie etwa etablierter politischer Parteien, der klassischen Kernfamilie, Geschlechterverhältnissen und sozialer Schichtung wird so tendenziell in Frage gestellt. Angesichts dieser strukturellen Veränderungen, dem relativen Bedeutungsverlust der Strukturierungsmacht moderner Institutionen, zeigt sich die zentrale Bedeutung des Wissens als entscheidendes Kriterium der sozialen Ungleichheit. Wissen, etwa im Sinne von Kompetenzen, ermöglicht Vorteile, die sich als Macht und Autorität zeigen: »It yields different social benefits (and costs) for those who command and are able to mobilize its capacities in appropriate situations.«78 Die materiellen Lebensverhältnisse und die entsprechenden Ungleichheitsrelationen werden Stehr zufolge primär durch Wissen bestimmt. Gemäß der Annahme von Wissen als Handlungsvermögen handelt es sich dabei gleichzeitig um eine übergeordnete Instanz, die ebenso Einfluss auf die Gestaltung der Ungleichheiten bezüglich Einkommen oder berufliche Position zu nehmen vermag. In Abgrenzung zu Bourdieu zielt diese Perspektive laut Stehr dabei weniger darauf ab, Wissen als eine Form der kognitiven Repräsentation sozialer Unterschiede zu verstehen, die sich etwa im Kampf um den legitimen Geschmack ausdrückt, sondern vielmehr die Rolle von Wissen als spezifische Form von Kompetenzen zu beleuchten, die diese bei der Aufrechterhaltung und Produktion von Ungleichheitsverhältnissen in verschiedenen Kontexten spielen.79 Soziale Ungleichheiten werden abhängig von Wissen, insofern damit die individuellen respektive gruppenbezogenen Fähigkeiten und Möglichkeiten adressiert sind, auf die eigenen Lebenschancen Einfluss zu nehmen: etwa in Form von erhöhten Chancen der Risikovermeidung, besseren Aussichten innerhalb von Diskursen Gehör zu finden oder die eigenen Lebensbedingungen situativ zum eigenen Vorteil wenden.80 In dem Maße wie Wissen zur wesentlichen Basis von Handlungsmacht geworden ist, sind soziale Ungleichheiten durch den Zugriff auf Wissen geprägt, so dass sich Stehrs Position wie folgt zusammenfassen lässt: »As knowledge replaces property and Iabor as the constitutive mechanisms for social inequality the relation of individuals and groups to knowledge acquires fundamental

76 77 78 79 80

Vgl. Stehr 1999. Stehr 1996, S. 45. Ebd. Vgl. ebd., S. 58. Stehr nennt sechs verschiedene »Social Competencies«, auf die Wissen entscheidenden Einfluss ausübt: »Capacity to Exploit«, »Facility to Organize Protection«, »Authority to Speak«, »Ability to Mobilize Defiance«, »Capacity of Avoidance« und »Master One’s Life« (ebd., S. 47).

2.3 Die Wissensgesellschaft bei Nico Stehr

23

significance for patterns of social inequality in society.«81 Impliziert ist hierbei zugleich eine Ablösung von der letztlich strukturbetonenden Sichtweise auf soziale Ungleichheiten hin zu einer Perspektive, welche den Individuen und Gruppen über »Knowledgeability«82 die Moderation der eigenen Umstände zugesteht. In dieser Hinsicht betreibt Stehr in Fortsetzung der Annahmen des Entstrukturierungsparadigmas und der Individualisierungsthese im Sinne Ulrich Becks eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten Einzelner sowie von Kollektiven vor dem Hintergrund einer Abnahme der strukturierenden Macht klassisch hierarchischer Ordnungen. Eine der Wissensgesellschaft angemessene Betrachtungsweise sozialer Ungleichheiten sollte aus seinem Blickwinkel vielmehr – im Gegensatz zur herkömmlichen Fokussierung auf Klassen respektive Schichten als handlungsbestimmende Instanzen –, »stress agency, malleability, flexibility, multipurpose resources, volatility, heterogeneity etc. of social structures and the extent to which individuals and groups have the capacity to employ and transform these structures, once the generalized vulnerability to the forces of inequality has been reduced to a significant degree.«83 Zusätzlich hebt Stehr in Die Zerbrechlichkeit der Moderne den Aspekt der Demokratisierung durch die Zentralität von Wissen in der wissensbasierten Gesellschaftsordnung hervor. Die Proliferation und ubiquitäre Verbreitung von Wissen haben zu einem Verlust des Herrschaftsanspruchs der traditionellen Institutionen wie etwa Staat oder Kirche geführt. Hierin liegt zwar einerseits ein Moment wachsender Unsicherheit, Kontingenz und Zerbrechlichkeit, da Wissen zunehmend instabil und umkämpft wird, so dass selbst die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Diskussion steht. Zugleich erwächst andererseits daraus die Möglichkeit der Emanzipation von Führungsansprüchen, indem Herrschaftswissen strukturell nicht mehr unhinterfragt bleiben muss.84 In der Wissensgesellschaft erscheinen so die Handlungsmöglichkeiten von Individuen und Gruppen gegenüber vormals stark strukturierenden Institutionen wesentlich erweitert und stellen einen realen Machtzuwachs dar: »Wissensgesellschaften erhöhen potentiell den demokratischen Charakter liberaler Demokratien. Indem aber die Voraussetzungen und die Chancen für eine effektive politische Partizipation vieler wächst, vermindert sich die Fähigkeit des Staates, seinen Willen durchzusetzen.«85 Im Gegensatz zu Bell, der durch den bedeutenden Einfluss des Wissens in der nachindustriellen Gesellschaft gerade die Wissenschaften und damit Politik sowie Wirtschaft gestärkt sieht, geht Stehr von einer grundlegenden Erweiterung der Handlungsspielräume der Individuen in Kontrast zu

81 82 83 84 85

Stehr 1999, S. 59. Vgl. Stehr 2015. Stehr 1994, S. 379. Vgl. Stehr 2000b. Ebd., S. 144.

24

2 Die Zentralität von Wissen

diesen Institutionen aus, so dass das Potenzial zu widerständigem und autonomem Handeln steigt, wenn auch um den Preis neuer Unwägbarkeiten. Soziale Ungleichheiten erfahren in der Konzeption der Wissensgesellschaft bei Stehr eine deutliche Entschärfung vor dem Hintergrund subjektiver wissensbasierter Handlungsmöglichkeiten, müssten jedoch letzten Endes an die grundsätzliche Zugänglichkeit und Aneignungschancen des Wissens gekoppelt werden. Insbesondere angesichts der zunehmend an digitale Medien und das Internet gekoppelten Frage nach »Knowledgeability«, ist deshalb eine Betrachtung digitaler Ungleichheiten unabdingbar, rückt sie doch entschieden die Voraussetzungen für die Möglichkeiten eines erweiterten Handlungsspielraums in den Mittelpunkt.86 Die Großtheorien zum Wandel der Gesellschaften, die unter den Begriffen von Informations- und Wissensgesellschaft, nachindustrieller Gesellschaft und Netzwerkgesellschaft firmieren, sprechen Wissen respektive Information sowie Informations- und Kommunikationstechnologien die zentrale Bedeutung bei der Betrachtung sozialer Ungleichheiten zu. Zum einen, weil sie gemäß der modernisierungstheoretischen Annahmen die Basis für den Wandel darstellen und zum anderen, weil die Verfügung über sie zum entscheidenden Kriterium für den Zugang zu sozialen Positionen in den zeitgenössischen Gesellschaften gerinnt. Gemeinsam ist den Ansätzen die Annahme einer tendenziellen Möglichkeit der Verringerung sozialer Ungleichheiten trotz aller neuen Formen des Ausschlusses. Bell und Stehr fokussieren hierbei auf den zentralen Aspekt einer meritokratisch konzipierten Bildung87, die vermeintlich ältere Formen der gesellschaftlichen Herrschaft qua Besitz oder Eigentum abgelöst hat bzw. über den Aspekt des Wissens eine Art Handlungsmacht angesichts derart gestalteter Ungleichheiten stärkt. Zusätzlich sieht Stehr in der Wissensgesellschaft nicht zuletzt auch die politischen Handlungs- und Gestaltungsräume der Individuen gegenüber den traditionellen Institutionen maßgeblich erweitert. Selbst Castells, der wiederholt auch neue Trennlinien und Formen der sozialen Exklusion im Rahmen der Netzwerkgesellschaft betont, bleibt einem meritokratischen Denken verpflichtet, welches den Zugang zur in der Netzwerkgesellschaft dominanten informationellen Arbeit in erster Linie an individuelle Bildungserfolge koppelt.88 Die genannten Ansätze gehen zwar davon aus, dass auch weiterhin soziale

86 87 88

Vgl. hierzu auch Stehr 2015. Stehr unterscheidet zwar Wissen im Sinne von »Knowledgeability« von Bildung, konstatiert allerdings dennoch einen sehr engen Zusammenhang zwischen beiden (Vgl. ebd.). Problematisch ist hinsichtlich der genannten Ansätze die tendenzielle Vernachlässigung vor allem bildungsbezogener Ungleichheiten (vgl. auch Halcli/Webster 2000). Während Teile der soziologischen Ungleichheitsforschung im Rahmen des Strukturparadigmas und insbesondere in Fortsetzung der Arbeiten Bourdieus an der Macht sozialer Strukturen festhalten, lassen sich dagegen die Ansätze

2.3 Die Wissensgesellschaft bei Nico Stehr

25

Ungleichheiten bestehen, mit dem nachdrücklichen Verweis auf Wissen bzw. wissensbasierte Technologien ändert sich jedoch deren Stellenwert. Angesichts der entscheidenden Rolle, die das Internet und internetbasierte Dienste innerhalb der heutigen Gesellschaften einnehmen, lässt sich mit Castells resümierend konstatieren, dass »[i]nformation technology, and the ability to use it and adapt it, is the critical factor in generating and accessing wealth, power, and knowledge in our time.«89 Eine Untersuchung digitaler Ungleichheiten, d. h. die Frage nach Ungleichheiten im Zugang und in der Verwendung des Internets, ist vor diesem Hintergrund somit eminent wichtig.

89

von Bell, Castells und Stehr trotz aller Unterschiede zwischen ihren Annahmen innerhalb der Tendenz einer zunehmenden Individualisierung von Ungleichheiten verorten. Castells 1998, S. 93.

3

Soziologische Ungleichheitsforschung

3.1

Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

Nachdem im vorherigen Kapitel die gestiegene Bedeutung von Wissen und Information vor dem Hintergrund der Großtheorien zur Informations-, Wissens- und Netzwerkgesellschaft thematisiert wurde, um die grundlegende Relevanz des Zugangs zu und der Verwendung von digitalen Medien in den zeitgenössischen Gesellschaften herauszustellen, soll hier nun auf die soziologische Ungleichheitsforschung eingegangen werden. Der Ansatz der soziologischen Ungleichheitsforschung ist dabei entscheidend geprägt durch die Sozialstrukturanalyse und spricht, wie Heike Solga zusammenfasst, »dann von sozialer Ungleichheit, wenn Menschen (immer verstanden als Zugehörige sozialer Kategorien) einen ungleichen Zugang zu sozialen Positionen haben und diese sozialen Positionen systematisch mit vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen verbunden sind.«90 Der Begriff der sozialen Ungleichheit adressiert somit die ungleichen Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft, mithin die ungleichen Lebenschancen und Handlungsressourcen der Menschen, aufgrund verschiedener, in erster Linie vertikal orientierter sozialer Positionen. Soziale Ungleichheit ist hierbei nicht nur »one of the issues on which the discipline of sociology was founded«91, wie Anthony Giddens stellvertretend für eine Vielzahl an Autor_innen konstatiert, sondern sie ist auch weiterhin »ein theoretisches Schlüsselthema für die Analyse heutiger sozialer Strukturen.«92 Ergänzend betont Stefan Hradil in seiner bekannten Definition sozialer Ungleichheit die Bedeutung der ungleichen Verteilung von in einer Gesellschaft als ›wertvoll‹ anerkannten Gütern, die sich als Resultat der unterschiedlichen sozialen Positionen ergibt und dabei einen regelmäßigen, strukturierten und nicht zufälligen Charakter annimmt.93 Jene ›wertvollen‹ Güter wie beispielsweise Geld oder Bildungszertifikate sind knappe Ressourcen und 90 91 92 93

Solga/Berger/Powell 2009, S. 15 – Hervorhebung im Original. Giddens 2009, S. 526. Kreckel 2004, S. 21. Vgl. Hradil 2005, S. 30. Neben der Definition von Hradil findet sich in der Literatur häufig auch die einschlägige Formulierung Reinhard Kreckels: »Soziale Ungleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zuganges zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt beziehungsweise begünstigt werden.« (Kreckel 2004, S. 17).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rudolph, Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2_3

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3 Soziologische Ungleichheitsforschung

ermöglichen die Umsetzung dessen, was als gesellschaftlich herrschende Vorstellung eines »guten Lebens« zirkuliert und sich etwa als Wunsch nach Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Bildung oder individueller Freiheit zeigt.94 Wer jeweils mehr oder weniger dieser Güter besitzt, hat Vor- bzw. Nachteile bei der Erlangung der entsprechenden Ziele und ist dadurch sozial höher oder niedriger gestellt. Die als wertvoll anerkannten Güter sind historisch sowie gesellschaftlich spezifisch und abhängig von den Vorstellungen eines gelingenden Lebens. So ist etwa der Wunsch nach individueller Autonomie oder auch Kreativität95 zunehmend in den Mittelpunkt von Arbeitsverhältnissen getreten, so dass ein »postromantisches Arbeits- und Berufsmodell«96 in gewissen Bereichen hegemonial geworden ist, welches durch entsprechende Arbeitsbedingungen als Güter ermöglicht wird. Diese Arbeitsvorstellung ist dabei mitnichten universell noch verfügen alle Gesellschaftsmitglieder über soziale Positionen, die ihnen die Güter zur Ausgestaltung dieses Modells bieten. Insbesondere digitale Medien und der Zugriff auf das Internet können heute ebenfalls als ›wertvolle‹ Güter verstanden werden, die in vielfacher Hinsicht die Handlungsressourcen erweitern, um so diverse Ziele wie Wohlstand, Bildung oder Gesundheit zu erlangen. Soziale Ungleichheit ist zu unterscheiden von individuellen Ungleichheiten, die einen zufälligen und nicht systematischen Charakter besitzen, wie der vielzitierte Lottogewinn. Sie bezieht sich auf eine überindividuelle Dimension und kann von den Individuen in der Regel nicht unmittelbar verändert werden. Unterschiede hinsichtlich der physischen Verfassung wie Körpergröße, Geschlecht, Augenfarbe oder Lebensalter sind keine Formen sozialer Ungleichheit, wenn sie auch häufig wie im Fall von Hautfarbe, Geschlecht oder Alter zur Legitimierung auf ihnen basierender sozialer Ungleichheiten dienen. Der entscheidende Punkt ist: Soziale Ungleichheiten sind gesellschaftlich produziert, sorgen für eine ungleiche Verteilung von Lebenschancen und werden von Strukturen aufrechterhalten, die ihrerseits Ideologien respektive Werte zu ihrer Rechtfertigung anführen. Im Unterschied zu sozialer Differenzierung beispielsweise auf Basis der Religionszugehörigkeit oder des Berufs, impliziert soziale Ungleichheit zugleich, dass die jeweiligen Menschen aufgrund ihrer Position und der entsprechenden Ressourcenausstattung nicht lediglich verschieden sind – wie in einer christlich geprägten Gesellschaft Katholiken und Protestanten oder unter Handwerkern Tischler und Bäcker, sondern als höher bzw. niedriger gestellt erscheinen. Damit ist auch der klassische Vorwurf der Gleichmacherei entkräftet, denn mitnichten findet die soziologische Ungleichheitsforschung ihr Ideal in einer gleichförmigen Gesellschaft ohne Unterschiede zwischen den Gesellschaftsmitglie94 95 96

Hradil 2005, S. 28. Vgl. Boltanski/Chiapello 2003; Reckwitz 2011. Reckwitz 2011, S. 142.

3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

29

dern. Vielmehr gilt ihr Augenmerk denjenigen Formen der Differenzierung, die zur Basis von Benachteiligungen führen oder bestimmten Gruppen Vorteile verschaffen. Die Forschung zu sozialer Ungleichheit spricht zwar in der Mehrzahl von problematischen Ungleichheiten, dennoch sind den verschiedenen Ansätzen unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit bzw. Legitimität dieser Ungleichheiten eigen. Während etwa strukturfunktionalistische Modelle häufig die funktionale Notwendigkeit von Ungleichheiten betonen, da nur so bestimmte gesellschaftliche Positionen besetzt werden könnten – typisch für diese Position ist auch die Debatte um hohe Managergehälter und Boni als einzig probates Mittel gegen einen unterstellten brain drain97 –, argumentieren gerade marxistisch geprägte Zugänge sowie kritische Perspektiven im Anschluss an Max Weber, wie z. B. Pierre Bourdieu, vehement gegen die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten. Seit den 1980er Jahren hat sich im Zuge der Beck’schen Individualisierungsthese darüber hinaus eine Forschungsrichtung entwickelt, die den Fokus zunehmend weg von vertikalen Ungleichheiten, die unter die Zuhilfenahme von Klassen- und Schichtkonzepten verhandelt wurden, hin zu horizontalen Differenzen legt und mit Begriffen wie Milieu und Lebensstil der vermeintlichen Auflösung hierarchisch strukturierter Gesellschaften hin zu einem egalitären Nebeneinander Ausdruck verleiht. 3.1.1

Der Klassenbegriff bei Marx

In seiner bekanntesten und bis heute einflussreichen Form findet sich die Problematik sozialer Ungleichheit im Klassenmodell von Karl Marx formuliert. Marx verwendet hat dabei keinen streng soziologischen Klassenbegriff, sondern vielmehr ein politischphilosophisches Konzept. Gelegentlich wird daher bei Marx von einem eher abstrakten, konzeptuellen Begriff von Klasse – dessen Ausdruck jener berühmte dichotome Antagonismus von Kapitalisten und Arbeitern bzw. »Bourgeoisie und Proletariat«98 ist, zu dem sich der Klassenkampf hin entwickelt – und einer empirisch zugeschnittenen Variante der Klassenanalyse angesichts spezifischer Gesellschaften gesprochen.99 Wenngleich Marx nicht der erste war, der einen ökonomisch geprägten Klassenbegriff eingeführt hat100, so

97

Zur empirisch nahezu haltlosen Behauptung des funktionalistischen Arguments einer globalen Wirtschaftselite, um deren Gunst mit extrem hohen Gehältern geworben werden müsse vgl. exemplarisch Hartmann 2009 und aktualisiert Hartmann 2015. 98 Marx/Engels 1959, S. 463. 99 Vgl. die Unterscheidung von Anthony Giddens in ein »Abstract or ›Pure‹ Model of Class Domination« bei Marx und einem konkreten Modell, welches zur spezifischen Beschreibung einer Klassenstruktur bestimmter Gesellschaften dient (Giddens 1973, S. 26). 100 Vgl. z. B. die binäre Unterscheidung zwischen einer unfähigen, ausbeutenden Oberschicht und der industriellen, produktiven Klasse aus Fabrikanten, Arbeitern, Künstlern und Wissenschaftlern im Frühsozialismus bei Saint Simon (vgl. Saage 1999). Auch David Ricardo, Marx’ großer Bezugs-

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3 Soziologische Ungleichheitsforschung

bleibt sein Konzept doch prägend für jede weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff. Marx’ Klassenbegriff dient dabei der grundlegenden Thematisierung ökonomischer Machtasymmetrien im Kapitalismus und der mit dieser ökonomischen Macht als »Basis« verschränkten Herrschaft über alle weiteren gesellschaftlichen Bereiche des sogenannten »Überbaus« wie etwa Politik, Religion oder Kultur. Die Stellung im Produktionsprozess, so die Annahme von Marx, bestimmt dabei die Klassenposition und gemäß der materialistischen Doktrin zugleich das Bewusstsein.101 Seit dem Ende des Feudalismus und dem Beginn der industriellen Revolution stehen im Kapitalismus den Produktionsmittelbesitzern all jene gegenüber, die keinen Besitz an Produktionsmitteln haben und deshalb – doppelt frei, weil ohne Eigentum und ungebunden – gezwungen sind ihre Arbeitskraft zu verkaufen, auf diese Weise letztlich aber den gesellschaftlichen Reichtum produzieren. Entscheidend ist Trennung der eigentlichen Produzenten, der Arbeitenden, von den Produktionsmitteln als der Grundbedingung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Nach der von Marx und Friedrich Engels entwickelten politischen Theorie ist der Klassenkampf Motor der Geschichte und damit alle Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu verstehen.102 Im Fortschreiten dieser Klassenkämpfe kommt es in der Gesamttendenz zur Ausbildung eines fundamentalen Konflikts zwischen den zwei großen Klassen von Arbeitern und Produktionsmittelbesitzern oder genauer: den Produzenten von Mehrwert und denjenigen, die sich diesen Mehrwert aneignen.103 Die Ursache dieses Konflikts und der Ursprung der sozialen Ungleichheit findet sich in der ungleichen Verteilung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln wie Maschinen, aber auch Land, der darauf aufbauenden ökonomischen Ausbeutung der Proletarier durch die Kapitalisten sowie der entsprechenden gesellschaftlich-politischen Macht der dadurch punkt in seiner Kritik der klassischen politischen Ökonomie, verwendet einen Begriff gegensätzlicher Klassen im Kapitalismus (vgl. Dobb 1973, S. 65–95). 101 In der berühmten Formulierung von Marx heißt es: »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« (Marx 1961, S. 8f.). 102 Vgl. Marx/Engels 1959, S. 462. 103 Im strengen Sinne spricht Marx von drei Klassen, die gemäß ihres Verhältnisses zum Produktionsprozess bestimmt sind und eine jeweils spezifische Form des Revenues besitzen: Produktionsmittelbesitzer mit Profit respektive Zins, Grundeigentümer mit Bodenrente sowie Arbeiter mit Lohn. Da aber einzig letztere durch Arbeit Mehrwert produzieren – Rente und Zins sind lediglich Formen des gesellschaftlich geschaffenen Mehrwerts auf Basis der einzigen Quellen des Reichtums als da wären menschliche Arbeit und Natur – stehen sich zwei kategorische Klassen gegenüber, Produzenten von Mehrwert und Aneigner dieses Mehrwerts. Daher auch die ironische Wendung von der trinitarischen Formel aus »Kapital – Zins, Boden – Grundrente, Arbeit – Arbeitslohn« (Marx 1964, S. 822), denn diese sind Marx zufolge gerade keine verschiedenen Quellen des Reichtums, sondern Resultat der gesellschaftlichen Kämpfe um die Verteilung des von den Arbeitenden erzeugten Mehrwerts (vgl. auch Kössler/Wienold 2001, S. 200ff.).

3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

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herrschenden Klasse. Die Ausbeutung im engeren Sinne wiederum gründet bei Marx auf der vielfach kritisierten, sogenannten »Arbeitswertlehre«104, der zufolge – grob umrissen – allein menschliche Arbeit Mehrwert produziert, die Arbeitenden jedoch im Gegenzug für die von ihnen geleistete Arbeit lediglich den Betrag zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft erhalten und vom Produktionsmittelbesitzer eine Art Überschuss einbehalten wird. Diese Aneignung des Mehrprodukts erscheint als Ausbeutung105, erst auf diese Weise wird Profit für die Produktionsmittelbesitzer überhaupt möglich. Auch historisch ist dabei ein Wechsel von der Seite der Arbeiterklasse zu den Produktionsmittelbesitzern kaum möglich, da der Lohn der Arbeitenden in der Wiederherstellung ihrer Arbeitsleistung aufgebraucht wird. Es kommt zur Verfestigung des Gegensatzes von Kapitalisten und Proletariern mit je unterschiedlichen Interessen, wobei ein Bewusstsein über die eigene Lage bzw. Position nicht zwingend eintritt. Unter dem Deckmantel vermeintlichen fairer Tauschprozesse von Waren und insbesondere der Ware Arbeitskraft bleibt den Protagonisten das ausbeuterische Verhältnis verborgen. Mit den Begrifflichkeiten von der Verdinglichung und dem Fetischcharakter der Ware sowie dem Topos der Entfremdung benennt Marx und eine ganze marxistische Tradition nach ihm diesen Umstand, der gesellschaftlich produzierte Verhältnisse als Verhältnisse von Dingen, von Waren mit eigenen Gesetzen erscheinen lässt und dabei die Produzenten von ihrer eigenen Tätigkeit, den Produkten ihrer Arbeit wie auch den anderen Produzenten entfremdet, zugleich dabei die Instrumentalisierung ihrer Arbeitskraft durch die Produktionsmittelbesitzer in ihrem eigenen instrumentellen Zugriff auf ihre Arbeitskraft verdoppelt.106 All diese Effekte erscheinen als Resultat der elementaren sozialen Ungleichheit, die in der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise gründet. Eine Verbesserung der individuellen Lage der Menschen kann dabei nichts am grundlegenden Klassengegensatz ändern, so lange keine Veränderung der Produktionsverhältnisse eintritt. Insofern sind die Klassen wechselseitig voneinander abhängig: »[N]either class can escape from the relationship without thereby losing its identity as a distinct ›class‹.«107 Ein Ende des Klassenkampfes, wie ihn nach Marx etwa die Befreiung der Arbeiterklasse von der 104 Als Hauptkritik an der Arbeitswertlehre wird aus ökonomischer Sicht zumeist das sogenannte Transformationsproblem formuliert. Damit ist die vermeintlich nicht vorhandene Möglichkeit der Umwandlung von (Arbeits-)Werten in Produktionspreise bei Marx gemeint (vgl. als Überblick Heinrich 1988). Eine empirische Überprüfung verschiedener klassischer Preistheorien nimmt Nils Fröhlich vor und bescheinigt dabei den auf der Marx’schen Arbeitswertlehre aufbauenden Ansätzen resümierend die beste Erklärungskraft (vgl. Fröhlich 2009). 105 Einen anders gelagerten Begriff der Ausbeutung mit expliziter Ablehnung der Arbeitswerttheorie verwendet die spieltheoretisch informierte Variante des analytischen Marxismus von John E. Roemer (vgl. Roemer 1981, 1982). 106 Vgl. zum Entfremdungsbegriff bei Marx Jaeggi 2005, S. 29–35. Vgl. exemplarisch für den westlichen Marxismus Lukács 1968. 107 Giddens 1973, S. 29.

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3 Soziologische Ungleichheitsforschung

Unterdrückung bedeuten würde, impliziert so essentiell die Neugestaltung der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Klassenlage der Individuen bestimmt sich aus rein struktureller Perspektive objektiv gemäß ihrer Verfügungsgewalt über Produktionsmittel. Als solche besitzen die Klassenmitglieder lediglich ein Bewusstsein als »Klasse an sich«. Zu historisch handelnden Subjekten werden die Klassen erst über einen Prozess der Bewusstwerdung, dessen Resultat nach Marx »Klassen für sich« sind.108 Mit der Entwicklung eines Klassenbewusstseins entdecken die Klassenangehörigen nach Marx gemeinsame Interessen. Ziel ist die Organisation dieser Klasseninteressen, um kollektives politisches Handeln anzuregen, dessen Telos wiederum für Marx und Friedrich Engels die revolutionäre Umgestaltung des Bestehenden und mit Blick auf die Arbeitsklasse der Kommunismus ist, als »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.«109 Entscheidend ist die Abhängigkeit der Klasseninteressen bzw. des Klassenbewusstseins als Voraussetzung für entsprechendes soziales Handeln von der Klassenposition. Im Gegensatz zur postulierten Einfachheit des Klassengegensatzes findet sich bereits zu Marx’ Zeiten und in seinen konkreten Analysen auch eine Anzahl mittlerer Klassen. So spricht Marx etwa von kleinen Selbständigen wie Bauern, Handwerkern und Händlern als der petty-bourgeoisie.110 Die empirischen gesellschaftlichen Positionen scheinen demnach keinesfalls so homogen zu sein, wie es der Hauptwiderspruch von Kapital und Arbeit mit den korrespondierenden Klassenpositionen nahelegt. Auch innerhalb der Arbeiterklasse differenziert Marx, so erscheint etwa die unterste Gruppe der Arbeiterschaft als Lumpenproletariat und bildet als pauperisierte industrielle »Reservearmee« deren reaktionärsten Teil.111 Dennoch liegt die Betonung bei Marx eindeutig auf der politischen Perspektive zweier sich grundsätzlich gegenüberstehender Klassen, die weder über Einkommen, berufliche Stellung noch ihren Status voneinander geschieden sind, sondern einzig durch die Position im Produktionsprozess. Diese Klassenlage wiederum bedingt als Basis eine mehr oder weniger unmittelbar ableitbare Art der Lebensführung. 3.1.2

Max Weber – Klasse und Stand als entscheidende Ordnungsprinzipien

Als eine entscheidende Erweiterung der Ungleichheitsforschung ist der Beitrag Max Webers zu werten, der insbesondere durch den Einbezug der Dimension des Standes weitreichenden Einfluss ausgeübt hat und eine zentrale Bezugsgröße für die Arbeiten Pierre Bourdieus wie die sich seit den 1980er Jahren herausgebildete Lebensstil- und 108 109 110 111

Vgl. zur Begrifflichkeit auch Vester 2008. Marx/Engels 1958, S. 35. Vgl. etwa Draper 1978. Vgl. Hayes 1993.

3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

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Milieuforschung darstellt.112 In Ergänzung zu Marx führt Weber neben der rein ökonomischen Ordnung von Klassen zusätzlich eine ständische Hierarchie ein, die der sozialen Ordnung Ausdruck verleiht. Im Bereich des Politischen werden von ihm erweiternd »Parteien« mit berücksichtigt.113 Während bei Marx die Klasseneinteilung allein auf Basis des Produktionsmittelbesitzes vorgenommen wird und um den Ausbeutungstopos kreist, bringt Weber in Wirtschaft und Gesellschaft einen wesentlich ausdifferenzierteren, wenn auch lediglich knapp umrissenen Klassenbegriff ein, der im Bereich des Ökonomischen zwischen verschiedenen Kategorien von Erwerbsklassen, Besitzklassen und sozialen Klassen unterscheidet.114 Die Klassenlage gründet nach Weber in der Ressourcenausstattung der Individuen und ergibt sich so »aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder das Fehlens solcher) über Güter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen und Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung.«115 Die Klassenlage ist der bekannten Definition nach letzten Endes Marktlage als den mittels Fähigkeiten oder Besitz darüber realisierbaren Lebenschancen.116 In einer Klassenlage sind dementsprechend Individuen zusammengefasst, die hinsichtlich »Güterversorgung«, »äußere Lebensstellung« und »inneren Lebensschicksals« charakteristische Gemeinsamkeiten besitzen, ohne dass sie jedoch zwingend ein gemeinsames Bewusstsein teilen.117 Weber unterscheidet dabei Besitzklassen von Erwerbsklassen nach dem hauptsächlichen Kriterium der Realisierung von Marktchancen. Erstere gliedern sich nach der Verfügbarkeit von Eigentum und dessen Monopolisierungsmöglichkeiten. Hier stehen all jenen Privateigentümern, die in irgendeiner Form eine »Rente« aus Besitz beziehen, wie etwa Grundeigentümer oder Gläubiger, die Armen, Deklassierten und Verschuldeten gegenüber, mithin also diejenigen, denen jede Form des Besitzes abgeht 112 Für die Ungleichheitsforschung ist zudem die von Weber skizzierte Theorie der sozialen Schließung von entscheidender Bedeutung, auch wenn deren Rezeption erst mit großer Latenz eingesetzt hat (vgl. zum Überblick den Sammelband Mackert 2004 sowie einschlägig die Erweiterung des Ansatzes bei Parkin 1979; vgl. auch Parkins Perspektive auf Weber in Parkin 2002). 113 Strittig ist, inwiefern Parteien von Weber gleichwertig neben die strukturierenden Ordnungen von Klasse und Stand gestellt werden. Da die politische Strukturierung maßgeblich von Weber mit dem Begriff der Macht assoziiert wird, dieser jedoch nicht auf den Bereich von Parteien zu beschränken ist, kritisiert etwa Giddens die Verwendung der politischen Dimension als lediglich gleichrangige Sphäre. Vielmehr handele es sich bei den verschiedenen Ordnungen um Grundphänomene der Machtverteilung (vgl. Giddens 1973, S. 44). 114 Wie bereits oben angemerkt, ist der Kontrast zwischen beiden Klassenmodellen umso größer, je stärker der idealisierende Charakter des Marx’schen Modells zur empirischen Einteilung herangezogen wird. Umgekehrt bildet der Klassenbegriff ein Zentrum des gesamten Œuvres von Marx, während ihm in den Arbeiten Webers indessen nur eine untergeordnete Rolle zukommt. 115 Weber 1990, S. 177. 116 Vgl. ebd., S. 531. 117 Vgl. ebd., S. 177.

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und die mit keinerlei diesbezüglichen Monopolisierungschancen ausgestattet sind. Zwischen beiden Polen sind die »Mittelstandsklassen« verortet.118 Die Einteilung hinsichtlich der Erwerbsklasse ergibt sich aus den Möglichkeiten, die eigenen Qualifikationen und Güter auf dem Markt zu verwerten und zwar insbesondere durch Einflussnahme auf die Produktion und wirtschaftspolitische Rahmungen. In dieser Hinsicht positiv privilegiert sind typischerweise Unternehmer, hingegen sind Arbeiter in der Regel diesbezüglich benachteiligt. Auch innerhalb der Erwerbsklassen finden sich mittlere Klassen, die vornehmlich von Handwerkern und Bauern, aber auch Beamten, Facharbeitern mit spezifischen gesuchten Fähigkeiten sowie Angehörigen der freien Berufe wie Ärzten oder Rechtsanwälten gebildet werden. Beide Klassenkategorien unterteilen sich in vielfacher Weise je nach Besitz und Erwerbsmöglichkeiten und schließen sich gegenseitig nichts aus; so sind Unternehmer häufig Teil der privilegierten Erwerbsklasse, zudem aber auch Rentiers durch Produktionsmittelbesitz.119 Zusammengefasst werden die verschiedenen Besitz- und Erwerbsklassen von Weber zu sozialen Klassen. Diese sind Ausdruck sozialer Mobilität, insofern sie Klassenlagen bündeln, zwischen denen ein Wechsel unmittelbar und über Generationen hinweg als wahrscheinlich angenommen wird, die jedoch entsprechend nach außen relativ stark abgegrenzt sind. Hier differenziert Weber die großen sozialen Klassen von Arbeiterschaft, Kleinbürgertum, »besitzloser Intelligenz« und »Fachgeschultheit« sowie den »Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten«.120 Innerhalb der einzelnen sozialen Klassen findet soziale Mobilität typischerweise statt – die in ihnen versammelten Erwerbs- und Besitzklassen sind dahingehend permeabel –, über deren Grenzen hinaus ist sie allerdings kaum wahrscheinlich. Im Kontrast zu Marx hebt Weber hervor, dass die unterschiedlichen Besitzverhältnisse und Marktchancen keineswegs zu Klassengegensätzen, Kämpfen und Umbrüchen führen müssen. Weder Erwerbs- und Besitzklassen noch soziale Klassen besitzen ein Klassenbewusstsein per se. Die gleiche Klasselage mit tendenziell ähnlichen Klasseninteressen bringt nicht notwendigerweise Formen der Bewusstseinsbildung bei den Klassenangehörigen und eine daran anschließende Interessensvertretung mit sich. Zudem zielt nach Weber ein Großteil der Auseinandersetzung eher auf eine Umverteilung im Rahmen der bestehenden Ordnung als eine grundsätzliche Aufhebung gegenwärtiger Verhältnisse, wie sie von Marx und Engels imaginiert wurde.121 Der wegweisende Beitrag Webers über die Klassendifferenzierung hinaus, in der noch immer das Primat des Ökonomischen gilt, ist die Hervorhebung des Standes als 118 119 120 121

Ebd. Ebd., S. 177f. Ebd., S. 178. Ebd., S. 177ff.

3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

35

einem eigenen sozialen Ordnungsprinzip, welches auf Gemeinschaften beruht. Die ständische Lage, die auf der sozialen Einschätzung des Prestiges bzw. der Ehre beruht, besitzt eine relative Autonomie gegenüber der Bestimmung durch die Klassenlage. Beide können zwar auf vielfältige Weise verbunden sein, bilden jedoch gegenseitig keinen hinreichenden Grund der Bestimmung. So können etwa Arzt und Studentin mitunter hinsichtlich des Besitzes stark verschieden sein, demnach unterschiedliche Klassenlagen besitzen, werden aber aufgrund ihrer Erziehung und der damit verbundenen Lebensführung womöglich einem gemeinsamen Stand zugerechnet. Der Stand als vor- bzw. nachteilige soziale Bewertung fußt dabei auf der Art der Lebensführung, der Erziehung und auf dem Prestige der Herkunft bzw. des Berufs.122 Besonders mit dem Aspekt der Lebensführung, die bei ihm zum kennzeichnenden Merkmal des Standes wird, bringt Weber gegenüber der objektiv bestimmten Klassenlage eine subjektive Dimension ein. Giddens hebt zudem unter Rekurs auf die von Weber vorgeschlagene Vereinfachung die verschiedenen Sphären der Strukturierungsprinzipien hervor: »Whereas class expresses relationships involved in production, status groups express those involved in consumption, in the form of specific ›styles of life‹.«123 Prägnanter Ausdruck ständischer Ordnung ist das Heiratsverhalten (»Konnubium«) sowie der gesellschaftliche Verkehr untereinander (»Kommensalität«).124 Typisches Beispiel hierfür ist die »standesgemäße« Isogamie des Adels. Die Standesordnung findet dabei ihren Niederschlag in vielfältigen Monopolisierungsbestrebungen, die mit der Exklusion jeweils spezifischer anderer Standesgruppen einhergeht. Insofern ist der ständischen Ordnung eine Form sozialer Schließung inhärent. Die ständische Gesellschaftsgliederung stellt dadurch ein Hemmnis für die freie Entfaltung ökonomischer Märkte dar: »Jede ständische Gesellschaft ist konventional, durch Regeln der Lebensführung, geordnet, schafft daher ökonomisch irrationale Konsumbedingungen und hindert auf diese Art durch monopolistische Appropriationen und durch Ausschaltung der freien Verfügung über die eigene Erwerbsfähigkeit die freie Marktentfaltung.«125 Als Ordnungsprinzip ist die ständische Lage nach Weber typisch für die feudale Gesellschaft – wobei das Kastenwesen eine Extremform ethnischer Abschließung repräsentiert –, wohingegen vor allem die Erwerbsklassen der marktförmig organisierten Wirtschaft entsprechen. Dort wo Transformationen der wirtschaftlichgesellschaftlichen Struktur stattfinden, rückt die Bedeutung der marktbasierten Klassen ins Zentrum, während die Stabilität einer wirtschaftlichen Ordnung tendenziell zur Verdichtung ständischer Gliederung führt. Die Distanz zwischen Erwerbsklassen und Ständen ist dabei am größten, während soziale Klasse und Stand eine gewisse Nähe 122 Vgl. ebd., S. 178f. 123 Giddens 1973, S. 43f. 124 Zur Untersuchung von Exogamie und Endogamie zeitgenössischer Gesellschaften in der Tradition von Weber vgl. exemplarisch Teckenberg 2000. 125 Weber 1990, S. 179 – Hervorhebung im Original.

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besitzen. Doch selbst wenn beide Ordnungsprinzipien unabhängig voneinander wirken, gibt es zahlreiche Verbindungen, so dass Standesunterschiede auf verschiedenste Weise mit Klassendifferenzen verflochten sind und in der Regel die ständische Anerkennung, wie Weber betont, insbesondere den Besitzenden nicht verwehrt bleibt.126 Nicht zuletzt die Besitzverhältnisse sind es, die einen spezifischen, ständischen Lebensstil erst ermöglichen. Als ein drittes Ordnungsprinzip neben Klassen und Ständen führt Weber den Begriff der Partei ein, der jedoch nur sehr knappe Ausführung bei ihm erfährt. Parteien zielen unmittelbar auf politisches Handeln bzw. politische Macht ab. Voraussetzung ist daher immer eine Form der Vergesellschaftung, durch die ein organisiertes und absichtsvolles Eintreten für Interessen erst ermöglicht wird. Damit stehen Parteien im Gegensatz zu Klassen, die Ausdruck der ökonomischen Strukturierung sind und keine Gemeinschaften ausbilden, und der auf Tradition basierten, gemeinschaftsorientierten Form von Ständen; sie sind vielmehr »Associative Social Relationships«127 und unterliegen damit auch nicht grundsätzlich Phänomenen sozialer Schließung. Selbst wenn Parteien wiederum mit Klassen oder Ständen assoziiert sein können, ist dies nicht der Regelfall. Ihre Verortung nimmt Weber in der Machtsphäre vor. Das heißt jedoch nicht, dass Macht lediglich ein drittes Strukturprinzip neben dem ökonomischen durch Klassen und dem sozialen in Stände wäre, vielmehr sind alle drei Dimensionen »Phänomene der Machtverteilung« und damit »possible, and competing, modes of group formation in relation to the distribution of power.«128 Letztlich lassen sich mit Weber drei Machtformen unterscheiden: ökonomische, soziale und politische Macht. Im Gegensatz zur Marx’schen Perspektive sind die Machtformen nicht in letzter Instanz auf ökonomische Macht reduzierbar, sondern wirken trotz gegenseitiger Abhängigkeitsverhältnisse relativ autonom. So wie nicht prinzipiell politische Macht aus ökonomischer Macht erwächst, besteht neben den Klassenlagen eine eigenständige Standesordnung, die ihrerseits wirkungsmächtig ist. Für die Ungleichheitsforschung ist vor allem die Betonung der sozialen Dimension des Standes von großer Bedeutung, da mit ihr soziale Ungleichheiten nicht mehr nur auf ökonomische Differenzen zurückgeführt werden und der Weg für eine multidimensionale Analyse von Ungleichheiten geebnet ist. Webers eigene Ausführungen umreißen dabei insgesamt eher einen möglichen Rahmen der Analyse als dass sie diese konkret umsetzen.

126 Ebd., S. 533f. 127 Gane 2005, S. 219. 128 Giddens 1973, S. 44.

3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

3.1.3

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Theodor Geiger und das Schichtmodell

Den Begriff der Schicht stellt Theodor Geiger in den Mittelpunkt seiner Sozialstrukturanalyse und der Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheiten, wobei er – ähnlich wie Marx hinsichtlich des Klassenbegriffs – zwar nicht der erste ist, der dieses Konzept verwendet, jedoch den Grundstein für dessen zentrale Bedeutung in der Forschung legt.129 Ursprünglich der marxistischen Klassentheorie nahestehend, geht Geiger davon aus, dass die Gültigkeit der Annahme zweier sich antagonistisch gegenüberstehender Klassen lediglich für die Zeit des frühen liberalen Kapitalismus in Anspruch genommen werden kann. Die Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland hingegen ist aus seiner Perspektive von einer Mehrzahl an Schichten geprägt, die sich nicht aus den bloßen Eigentumsverhältnissen an Produktionsmitteln ergeben. So kommt Geiger für die 1920er Jahre zu einem Modell mit fünf Schichten, die sich in Kapitalisten, altem Mittelstand – den kleinen und mittleren Unternehmern – und neuem Mittelstand – den höheren Angestellten –, »Proletaroiden«130 und der eigentlichen Arbeiterschaft, dem Proletariat, aufgliedern.131 In der Entwicklung seines Schichtkonzepts bleibt er dabei immer um die konkrete empirische Anwendbarkeit bemüht; für die Untersuchung gesellschaftlicher Schichtung und sozialer Mobilität ist sein Modell entsprechend mehrdimensional angelegt. Geiger verwendet dabei soziale Schichtung als Oberbegriff, d. h. als allgemeine Kennzeichnung verschiedener Ausformungen sozialer Ungleichheit, die dann wiederum jeweils spezifisch als Schichtung in Klassen, Stände, Kasten etc. auftreten können. Damit ist sein Schichtbegriff zugleich mehrdimensional, da die Schichtdeterminanten äußerst divers sein können, wie beispielsweise berufliche Stellung, Bildungsabschluss, Einkommen, Produktionsmittelbesitz, aber auch Alter oder Konfession, und abstrakt, da erst in der konkreten Analyse die historisch bestimmten Ungleichheitsverhältnisse entdeckt werden. In Abhängigkeit vom dominanten Prinzip der Schichtung ergeben sich so unterschiedliche Ausformungen sozialer Ungleichheit. Geiger erweitert damit die Perspektive Webers, indem er, prinzipiell offen, mehrere mögliche Strukturprinzipien einführt. Zugleich bietet der Ansatz die Möglichkeit auch gesellschaftliche Veränderungen etwa hinsichtlich des bestimmenden Strukturprinzips und der Ausformung der Schichten zu untersuchen. Insofern handelt es sich um ein dynamisches Modell, welches auch Wandel 129 Eine wichtige Erneuerung und Erweiterung des Ansatzes von Geiger findet sich etwa bei Ralf Dahrendorf in dessen Haus-Modell der sozialen Schichtung aus den 1960er Jahren, welches sieben Schichten unterscheidet (vgl. Dahrendorf 1965). Für die 1980er Jahre hat Rainer Geißler eine Aktualisierung vorgenommen (vgl. Geißler 1992) und sukzessive fortgesetzt (vgl. Geißler 2014). 130 Der Begriff der Proletaroiden umfasst jene Schicht, deren Lebensverhältnisse denen der Proletarier ähnlich sind, wie etwa Tagelöhner und Kleinstunternehmer. Zu einem bedeutenden Teil handelt es sich dabei um abgestiegene Personen aus dem alten Mittelstand, deren Mentalität entsprechend geprägt ist (vgl. Geiger 1967, S. 90f.). 131 Vgl. Geiger 1967.

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erfassen kann und nicht ausschließlich für den ursprünglichen Entstehungskontext Geltung beansprucht. Vor allem seine Verbindung von objektiver und subjektiver Dimension im Schichtbegriff ist bedeutsam. So fokussiert Geiger nicht nur auf die objektiven Positionen im sozialen Gefüge, den sozialen Lagen bzw. dem Status, sondern zugleich auf die subjektive Seite von Einstellungen, Ansichten, aber auch Lebensstilen, den »Mentalitäten«. Diese umfassen für ihn »Lebenshaltung, Gewohnheiten des Konsums und der sonstigen Lebensgestaltung, Freizeitverwendung, Lesegeschmack, Formen des Familienlebens und der Geselligkeit – tausend Einzelheiten des Alltagslebens bilden im Ensemble den Typ des Lebensduktus und dieser ist Ausdruck der Mentalität.«132 Mentalitäten und Soziallagen sind hierbei nicht im Sinne eines unmittelbaren Widerspiegelungsverhältnisses zu verstehen, sondern vielmehr gibt es für bestimmte soziale Lagen eine typische Mentalität, die aber nicht notwendigerweise bei allen Personen einer Schicht vorhanden sein muss. Erst beide Aspekte gemeinsam bilden eine Schicht, wobei sowohl Mentalitäten sich über mehrere soziale Lagen erstrecken können als gleiche soziale Lagen verschiedene typische Mentalitäten besitzen können – die jeweils spezifische Kombination konstituiert dann nach Geiger eine konkrete Schicht. Eine Schicht besitzt damit charakteristische Lebensbedingungen und -umstände, die die typischen Lebenschancen ihrer Mitglieder bestimmen, und eine korrespondierende »geistig-seelische Disposition«133. Insbesondere Rainer Geißler weist darauf hin, dass Geiger mit seinem mehrdimensionalen Modell der Schichtung bereits die Möglichkeit der Differenzierung nach verschiedenen Schichtdeterminanten vorgezeichnet hat, die heute in der Unterscheidung von vertikalen und horizontalen Ungleichheiten beispielsweise im Zentrum-PeripherieModell bei Kreckel prominent vertreten ist.134 Das Verdienst Geigers ist die Einführung eines Modells zur Sozialstrukturanalyse, welches mit dem Schichtbegriff und der Idee eines jeweils dominanten Strukturprinzips die Analyse verschiedenster Gesellschaften vorzunehmen erlaubt. Dabei ist es Geiger selbst allerdings nicht gelungen, die spezifische Form der Schichtung der modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zu bestimmen und begrifflich die Nachfolge der vermeintlich verblassenden Klassengesellschaften herauszuarbeiten. 3.1.4

Funktionalistische Schichtungstheorie

Einen völlig anders gelagerten Ansatz für die Ungleichheitsforschung bringen die Vertreter einer funktionalistischen Sichtweise auf gesellschaftliche Schichtung ins Spiel. Pro132 Ebd., S. 80 – Hervorhebung im Original. 133 Ebd., S. 77. 134 Vgl. Geißler 1990, S. 86f.

3.1 Einführung in die Ungleichheitsforschung – Grundlegende Begriffe und Ansätze

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minent findet sich dies Mitte des 20. Jahrhunderts bei Talcott Parsons angesprochen sowie bei den Parsons-Schülern Kingsley Davis und Wilbert E. Moore thematisiert. Im Zentrum steht bei ihnen die Frage nach der Funktion sozialer Schichtung bzw. danach, wie die Stabilität einer einmal gewonnenen Ordnung innerhalb der Gesellschaft gewährleistet werden kann. Parsons geht dabei davon aus, dass Individuen, bedingt durch die Sozialisationserfahrung, dem Wunsch nach Anerkennung und der Androhung von Sanktionen, letztlich im eigenen Interesse in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Normen handeln. Die Orientierung an sozialen Normen ermöglicht die Strukturierung der individuellen Handlungen und mit dieser Koordination die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Bewertungen, zu denen die gesellschaftliche Schichtung als soziale Einstufung bzw. »Moral Evaluation«135 von Personen in höhere und niedrigere Stellungen gehört, sind Parsons zufolge entscheidender Bestandteil der normativen Orientierungen der Gesellschaft und damit fundamental für die Integration der individuellen Handlungen zur kollektiven Wahrung der gesamtgesellschaftlichen Stabilität: »That action in a social system should, to a large extent, be oriented to a scale of stratification is inherent in the structure of social systems of action.«136 Wie jeweils die Kriterien der Bewertung ausfallen – Parsons differenziert hier etwa zwischen Verwandtschaft, persönlichen Eigenschaften, Leistungen, Besitz, Autorität und Macht als mögliche Grundlage der Bewertung – und welche Skala letztlich Gültigkeit für die gesellschaftliche Schichtung besitzt, variiert in den unterschiedlichen Gesellschaften. Parsons stellt dabei für die USA Mitte des 20. Jahrhunderts eine Dominanz der beruflichen Stellung im Sinne von beruflicher Leistung und der Verwandtschaftsverhältnisse hinsichtlich der Bewertungsskala fest.137 Insbesondere Davis hat gemeinsam mit Moore in »Some Principles of Stratification«138 einflussreich dafür argumentiert, dass nicht nur alle Gesellschaften spezifische Formen sozialer Ungleichheit bzw. Stratifizierung besitzen, sondern diese auch eine grundlegend funktionelle Notwendigkeit darstellen.139 Ausgangspunkt ist für sie weniger die Frage danach, wie Personen in bestimme Stellungen kommen, sondern welche Funktion das Vorhandensein dieser differenzierten Positionen erfüllt. Aus ihrer Perspektive ist soziale Ungleichheit notwendig, um Menschen zu motivieren, die verschiedenen gesellschaftlich wichtigen Positionen zu besetzen, da diese mit unterschiedlich schwierigen Anforderungen verbunden sind. Welche exakten Positionen wichtig sind, ist dabei abhängig von der jeweiligen Gesellschaft, lässt sich jedoch allgemein formulieren. Die 135 136 137 138

Parsons 1940, S. 842. Ebd., S. 847. Vgl. ebd., S. 848–852. Zur herausragenden Bedeutung dieses knappen Aufsatzes für die amerikanische Soziologie und die sich daran entzündende Debatte vgl. auch Hauhart 2003. 139 Vgl. Davis/Moore 1945.

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3 Soziologische Ungleichheitsforschung

Rangordnung der Positionen und der mit ihnen verbundenen Belohnungen – als Anreiz für das Ergreifen dieser Positionen – sind in der Regel durch zwei Merkmale gekennzeichnet, durch ihre funktionale Wichtigkeit für eine Gesellschaft und ihren Seltenheitswert als der für sie notwendigen Ausbildung und Fähigkeiten. Die Bestimmung der Tätigkeiten, die für eine Gesellschaft am wichtigsten sind, lässt sich wiederum auf Basis zweier Eigenschaften erschließen: der Einzigartigkeit der Position und ihrer Bedeutung für andere Positionen. Je weniger eine Position nicht ohne Weiteres durch andere Positionen ersetzt werden kann und je mehr Positionen von ihr abhängen, desto größer ist ihre Bedeutung und umso schwieriger ihre Besetzung. Zudem benötigen gemäß Davis und Moore Positionen, für die ein größeres Maß an Training und Talent zur Ausübung Voraussetzung ist, besondere Anreize. Letztlich handelt es sich um die Idee der Sicherstellung einer optimalen Verteilung knapper ›Human-Ressourcen‹ unter Zuhilfenahme des in Aussicht gestellten Zugangs zu knappen gesellschaftlichen Ressourcen. Gesellschaftlich funktional wichtige Positionen und solche mit Seltenheitscharakter werden daher tendenziell höher belohnt – in Form von Prestige wie auch materiellen Gütern –, um sie besetzen zu können. Die sich aus dieser Rangordnung ergebende soziale Ungleichheit ist Davis und Moore zufolge daher ein »unconsciously evolved device by which societies insure that the most important positions are conscientiously filled by the most qualified persons.«140 Bekannt ist die Argumentation der funktionalistischen Schichtungstheorie besonders aus Diskussionen um Managergehälter sowie -Boni und vermeintliche Brain-Drain-Effekte. Die Idee einer auf Gleichheit der Positionen beruhenden Gesellschaft erscheint aus dieser Perspektive als das Szenario einer dysfunktionalen Welt, in der keine Anreize geboten werden, um wichtige und zugleich schwierige Positionen zu ergreifen und diese entsprechend ihrer Vorgaben auszufüllen. Mithin wird so entschieden für die Akzeptanz notwendiger sozialer Ungleichheiten votiert, auch deshalb, weil prinzipiell meritokratisch gedacht allen Individuen die vermeintlich gleichen Chancen zum Ergreifen von wichtigen Positionen unterstellt werden und damit letztlich einzig Leistung das Kriterium für Ungleichheit bzw. Stratifizierung ist.141 Im Gegensatz zu den bereits dargestellten Ungleichheitsansätzen, die jeweils Klasse, Stand oder allgemeiner Schicht in den Vordergrund stellen und damit vor allem auch Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen thematisieren, ist das Modell der funktionalistischen Theorie als kontinuierlich zu verstehen. Dem Fokus entsprechend findet sich gerade keine Thematisierung problematischer Aspekte sozialer Ungleichheiten, sondern lediglich die Affirmation des gesellschaftlichen status quo. 140 Ebd., S. 243. 141 Das dahinter stehende Kalkül zeigt sich nicht zuletzt in der Sprachwahl, so Melvin M. Tumin, wenn das Ergreifen einer längeren Ausbildung, etwa zur Ärztin, als Aufopferung (»Sacrifice«) konzeptualisiert wird, so dass den gesellschaftlich Bessergestellten zugleich »the rightness of their occupancy of privileged positions« bescheinigt wird (vgl. Tumin 1953, S. 389f.).

3.2 Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung

3.2

Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung – Zwischen Strukturierung und Differenzierung

3.2.1

Anschlüsse an die Begriffe von Klasse, Stand und Schicht

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Mit den dargestellten Ungleichheitsansätzen sind die grundlegenden Positionen in der Debatte um soziale Ungleichheiten benannt. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts standen sich in der deutschsprachigen Diskussion vor allem Klassen- und Schichtkonzepte gegenüber. Zugleich propagierte Helmut Schelsky 1953 sein bekanntes Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«142, demzufolge die Bedeutung vertikaler sozialer Ungleichheiten und damit von Kategorien wie Klasse, Stand oder Schicht für die Sozialstruktur zurückgeht, da einerseits große Teile der Arbeiterklasse sozial in die Mittelklasse aufgestiegen seien und andererseits frühere Eliten, auch in der Folge der sogenannten ›Heimatvertreibung‹ und der Involvierung in den Nationalsozialismus, die Legitimität ihrer Position verloren hätten und sich im Abstieg befänden. Als Resultat lösen sich die traditionellen Klassengegensätze auf und es kommt zum Prozess der Entschichtung, an dessen Ende ein breiter Mittelstand mit kleinbürgerlich-mittelständischem Lebensstil übrigbleibt.143 Im Gegensatz zu Schelsky haben Autoren wie Karl Martin Bolte, Ralf Dahrendorf und marxistische Vertreter der Klassenanalyse vehement aus verschiedenen Blickrichtungen für die Beibehaltung des Fokus auf vertikale Hierarchien in der gesellschaftlichen Schichtung plädiert. Prägend bis in die 1970er Jahre waren zum einen Weiterentwicklungen der Schichtungsmodelle mit starker Betonung des Prestige-Begriffs, zum anderen Aktualisierungen und empirische Umsetzungen der bereits von Marx skizzierten Klassenanalyse. Im Zentrum beider Ausrichtungen ist dabei die Betonung der ökonomischen Dimension für die Strukturierung der Gesellschaft. Die Forschung zur Schichtung stützt sich insbesondere auf die Untersuchungen zum Prestige, wie sie von Erwin K. Scheuch unter Mitarbeit von Hansjürgen Daheim144 sowie von Gerhard Kleining und Harriet Moore145 mit je spezifischer Schwerpunktsetzung durchgeführt wurden und von Bolte dann populär im sogenannten »Zwiebel-Modell« ihre Zusammenführung fanden. Bei Scheuch wird soziales Prestige zur Schichtbestimmung verwendet und als Index konstruiert, der ursprünglich mit neun Variablen die Aspekte von wirtschaftlicher Lage, Beruf und »kulturellem

142 143 144 145

Vgl. Schelsky 2009. Vgl. ebd. Vgl. Scheuch 1961. Vgl. Kleining/Moore 1960.

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Niveau«146 umfasste.147 Den einzelnen Ausprägungen werden, teilweise auf Basis von Befragungen, Punkte zugeordnet und der Gesamtindex durch Gewichtung der mehrdimensionalen Skalen errechnet. Als charakteristisch für das Sozialprestige und damit die Schichtzugehörigkeit bestimmt Scheuch letztlich einen reduzierten Index aus der mittlerweile klassischen Trias von Beruf, Bildung und Einkommen, wobei der Beruf bzw. das Berufsprestige durch Gewichtung stärker in die Indexbildung eingeht.148 Die Aufteilung der bundesdeutschen Bevölkerung nach dem Scheuch-Index in sechs Schichten aus Oberschicht, oberer, mittlerer und unterer Mittelschicht sowie oberer und unterer Unterschicht mit ihren jeweiligen Anteilen entspricht dabei in etwa der Einteilung zu der auch Kleining und Moore kommen. Ihre Schichtskala beruht dabei auf der subjektiven Schichteinstufung der Befragten selbst gemäß einer vertikal gedachten Ungleichheitsordnung, deren Struktur als allgemeingültig angenommen wird. Mit Hilfe »sozialer Symbole« wie der Berufsbezeichnungen werden die Zuordnungen vorgenommen. Im Vorhinein sind dabei bereits Berufsgruppen auf Basis einer erhobenen Rangordnung des Prestiges von Berufen zusammengefasst und in sieben Schichten unterteilt worden. Die Selbst-Klassifikation findet allerdings nicht direkt zu den Schichten statt, sondern vermittelt über die Ähnlichkeit des eigenen Berufs zu den gebildeten Berufsgruppen, wobei der Beruf des Mannes, als Vorstand der Kernfamilie konzipiert, ausschlaggebend für die Schichtzugehörigkeit der Familie ist. Besonders stark ausgeprägt war die Neigung zur Einordnung in die Mittelschichten, weshalb die Autor_innen hier zu einer Schichtstruktur kommen, die noch als »Doppelpyramide«149 gekennzeichnet, der später weithin bekannten sogenannten ›Bolte-Zwiebel‹ entspricht. Bolte führt dabei unter anderem die Erkenntnisse der genannten Forschungen zusammen und entwirft ein Modell, welches die Stärke der Mittelklassen sichtbar visualisiert. Seine begriffliche Fassung des Modells als »Statusaufbau und Schichtungen« zeigt eine zusätzliche Differenzierung zwischen Status und Schichten an.150 Während der

146 Dass zur Bestimmung des Prestiges und der Schichtzugehörigkeit durchaus versucht wurde, auch auf weitere Dimensionen neben der ökonomischen zurückzugreifen, zeigt sich im Einbezug von Leseniveau sowie der Häufigkeit von Konzert- und Theaterbesuch im anfänglichen Index. 147 Die grundsätzliche Idee folgt der Logik der positiven Bewertung bestimmter Merkmale durch andere Gesellschaftsmitglieder, im Sinne der »sozialen Schätzung« Webers, wobei ein allgemeiner Konsens über das Bewertungssystems unterstellt wird. Den Inhabern dieser Merkmale, wie etwa jenen mit einem hohen Bildungsabschluss oder einem spezifischen Berufsstand, wird aufgrund ihrer sozialen Position typischerweise ein entsprechendes soziales Prestige zuerkannt, unabhängig von je persönlichen Qualitäten. 148 Heute werden die Merkmale Beruf, Bildung und Einkommen zur Bestimmung des sozioökonomischen Status herangezogen, weniger jedoch für das Prestige (vgl. Rössel 2009, S. 129). 149 Kleining/Moore 1960, S. 90. 150 Vgl. Bolte/Kappe/Neidhardt 1975.

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Statusbegriff151 im Allgemeinen auf ein klassisches höher oder niedriger bzw. mehr oder weniger hinsichtlich bestimmter Rangordnungen etwa mit Blick auf Ressourcen wie Einkommen oder Bildungsabschlüsse verweist und Bolte dahingehend sieben Statuszonen unterscheidet – die den Schichten aus den einbezogenen Untersuchungen entsprechen –, rekurriert sein Schichtbegriff auch auf von den Schichtzugehörigen wahrgenommene Statusdifferenzen.152 In einer Schicht versammeln sich so Personen, die nach bestimmten Merkmalen wie Beruf, Einkommen oder Alter gleich oder ähnlich sind und gegenüber anderen als besser oder schlechter abgegrenzt werden, mitsamt entsprechender Unterschiede im Verhalten, was eine Nähe zum Schichtbegriff von Geiger anzeigt. Die von Bolte unterschiedenen Schichten von Oberschicht, altem und neuem Mittelstand, Arbeiterschaft und den »sozial Verachteten« decken sich so nicht mit den Statuszonen, sondern überlappen diese. Für die Schichtzugehörigkeit sind damit nicht nur Statusdifferenzen entscheidend. Allein im obersten und untersten Bereich entsprechen die Schichten direkt Statusunterschieden, die breite Mitte ist jedoch von verschiedenen Differenzierungen geprägt, die nicht einzig in einer Rangordnung zu finden sind. Problematisch am Schichtungsmodell von Bolte wie auch den Vorläufern ist die sowohl in empirischer als auch theoretischer Hinsicht tendenziell willkürliche Einteilung von Schichten und Statuszonen. Das Argument einer breiten Mitte, wenn auch nicht homogen gedacht wie bei Schelsky, wirkte allerdings mit Nachdruck in die Diskussion sozialer Ungleichheiten hinein und lenkte nicht zuletzt bereits in die Richtung einer umfassenderen Auseinandersetzung mit horizontalen Differenzierungen, wie sie paradigmatisch für die 1980er und 1990er Jahre wurde. Auch marxistische Ansätze, wie die des Projekts Klassenanalyse153 und des Instituts für Marxistische Studien154, versuchen in den 1970er Jahren eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse. Zugleich beharren sie gegenüber den Schichtmodellen auf der grundlegenden Bedeutung von Klassen sowie deren diametral entgegengesetzten Interessen. Sie führen so in wesentlichen Zügen den bereits bei Marx postulierten Ansatz weiter. Eine entscheidende Frage ist dabei die Einordnung der Mittelschichten. Diese werden zwar zum Teil nicht als Klassen im engeren Sinne angesehen, da sie in einer Zwischenposition zwischen Kapital und Arbeit verortet sind und ihnen kein eigenes Klassenbewusstsein zugesprochen wird, dennoch bringt deren Anerkennung auch die Klassentheoretiker_innen tendenziell in die Nähe zu Schichtungsansätzen.155 Fraglich ist 151 Der Statusbegriff findet sich vor allem in der amerikanischen Diskussion. Dort ist »Status« bzw. »Status Group« zugleich auch die überaus problematische Übersetzung des Weber’schen Standes (vgl. hierzu Waters/Waters 2010). 152 Vgl. Bolte/Kappe/Neidhardt 1975, S. 13ff. 153 Projekt Klassenanalyse 1973, 1974. 154 Leisewitz 1977. 155 Vgl. Berger/Hradil 1990, S. 6.

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dabei, welche Gruppen noch zur Arbeiterklasse gehören und ob der Produktionsmittelbesitz als einziges Kriterium hinreichend für die Bestimmung der sozialen Ungleichheitsstruktur ist. Die verschiedenen marxistischen Ansätze rechnen hier beispielsweise höher qualifizierte Arbeiter_innen unterschiedlich zu oder differenzieren zusätzlich ob die jeweiligen Arbeitgeber_innen im strengen Sinne zur Bourgeoisie gehören oder staatliche Stellen sind, die nicht profitorientiert wirtschaften. Auf diese Weise wird das Problem der Grenzziehung von Klassen sichtbar, was umso signifikanter ist, da darauf der zugrundeliegende Klassenkonflikt konstruiert wird. Hradil kommt daher zu dem Schluss, dass bei den marxistischen Klassentheorien hinsichtlich der grundsätzlichen theoretischen Herangehensweise größtenteils Einigkeit bestünde, jedoch in der empirischen Umsetzung äußerst diverse Ergebnisse erzielt würden.156 Die sich ergebende Struktur der Gesellschaft ist bei den marxistischen Klassenanalysen insgesamt stark verschieden von den Status- und Schichtmodellen. Zwar ist auch hier nur eine kleine herrschende Elite verzeichnet, das Gros stellen aber nicht die mittleren Lagen, sondern die Arbeiterklasse mit einem Anteil von rund zwei Dritteln der Erwerbstätigen, was zur einer pyramidenförmigen Anlage der gesellschaftlichen Struktur führt. Gerade die Betonung der ökonomisch begründeten Ungleichheitsstruktur und der Hinweis auf bestehende Herrschaftsverhältnisse gegen eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« bzw. eine umfassende mittelständische Lage waren für die Ungleichheitsforschung prägend. 3.2.2

Strukturierung und Entstrukturierung

Seit den 1980er Jahren hat sich vor dem Hintergrund veränderter ›westlicher‹ Gesellschaften und der Ausweitung des Wohlfahrtsstaats, der Bildungsexpansion, der Annahme von Prozessen der Modernisierung und Differenzierung, der These pluralisierter Lebensstile und einer grundlegenden Individualisierung nochmals eine Verschiebung im Fokus der Auseinandersetzung um soziale Ungleichheiten ergeben, die bis heute wirkt.157 Trotz der Vielzahl an Positionen haben sich letztlich zwei größere Fronten herausgebildet, die entweder entgegen allen Veränderungen weiterhin auf der strukturierenden Kraft von vertikalen Ungleichheiten bestehen oder gerade auf deren tendenzielle Auflösung zugunsten einer Vielfalt von horizontal differenzierten Lebensstilen und Milieus hinweisen. Prominent hervorgebracht wurde der »Entstrukturierungsansatz« unter anderem von Ulrich Beck, Stefan Hradil und Gerhard Schulze mit je eigenem Schwerpunkt. Auf deren anderen Seite haben sich in der deutschsprachigen Diskussion immer wieder 156 Vgl. Fußnote 4 in Bolte/Hradil 1988, S. 360. 157 Vgl. exemplarisch Beck 1986; Beck/Giddens/Lash/Rang 1996; Hradil 1987. Beck hat sich zudem auch bis zuletzt gegen eine klassentheoretisch informierte Lesart seines Risikogesellschaft-Konzepts, wie sie etwa Dean Curran vorgelegt hat, verwahrt (vgl. Beck 2013, 2010; vgl. Curran 2013, 2016a, 2016b, 2017).

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Autoren wie Rainer Geißler158, Reiner Kreckel und Hans-Peter Müller für die Beibehaltung klassen- oder schichtförmiger Modelle in der Untersuchung von sozialen Ungleichheiten ausgesprochen, wenn sie auch keineswegs an orthodoxen Positionen festhalten, sondern diese angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen anpassen. Darüber hinaus sind international ab den 1980er Jahren vor allem die Klassenkonzepte von Erik Olin Wright und John Goldthorpe einflussreich. Während Wright auf der Erweiterung der marxistischen Klassentheorie um den Aspekt der Autonomie und Kontrolle im Arbeitsprozess besteht und später für den Einbezug von Organisationsressourcen als entscheidende Ergänzung zur Strukturierung durch Produktionsmittelbesitz und Qualifikationen plädiert, entwickelt Goldthorpe auf Basis des Klassenbegriffs von Weber sein weithin bekanntes Klassenschema. Mit der Wirkung eines neuen Klassikers der Soziologie und weit über enge Disziplingrenzen hinaus einflussreich hat zudem Pierre Bourdieu einen eigenen Ansatz eingebracht, der sowohl Anleihen bei Marx als auch Weber nimmt und zugleich die Bedeutung von Strukturierungsdimensionen jenseits des Ökonomischen betont. 3.2.3

Neue Klassenmodelle: Erik Olin Wright und John Goldthorpe

Zeitlich parallel zu den Diskussionen um Milieus und Lebensstile, die ausgehend von der Rezeption Bourdieus vor allem in Deutschland prägend für die Frage nach der Relevanz von Klassen- und Schichtansätzen waren, hat im englischsprachigen Bereich eine Weiterentwicklung des Klassenmodells in der Mobilitäts- und Ungleichheitsforschung stattgefunden. Von marxistischer Seite hat hierbei insbesondere Erik Olin Wright eine Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Klassenbegriffs von Marx betrieben, während John H. Goldthorpe ein neoweberianisches Klassenmodell ins Spiel gebracht hat, welches mittlerweile Grundlage zahlreicher empirischer Studien und dadurch eine Art Standard in den Sozialwissenschaften geworden ist.159 Der gestiegene Anteil an Mittelklassen hat auch Wright zur Aktualisierung des Marx’schen Klassenmodells geführt, wobei ein frühes Modell bereits in den 1970er Jahren und eine spätere Konzeption Mitte der 1980er Jahre von ihm eingebracht 158 Während Geißler eher in der Tradition Geigers argumentiert, verfolgt Müller mit seinem Lebensstilansatz eine Synthese von Bourdieu, Giddens und Peter M. Blau (vgl. Geißler 1990; Müller 1992b). Kreckel entwirft mit seinem Zentrum-Peripherie-Modell ein Konzept zur Integration von vertikalen und horizontalen Ungleichheiten (vgl. Kreckel 2004). 159 So verwendet etwa die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) und die PISA-Studie eine Klassifikation nach Goldthorpe. Auch die offizielle National Statistics Socioeconomic Classification (NS-SEC) in Großbritannien basiert mittlerweile auf diesem Schema, ebenso wie die Europäische Sozio-ökonomische Klassifikation (ESeC) (vgl. Müller et al. 2008). Für eine Kritik der NS-SEC-Klassifikation und einen auf Bourdieus Kapitalbegriff basierenden Gegenvorschlag der Klasseneinteilung vgl. Savage et al. 2013.

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wurden. Zwar bleibt bei Wright der wesentliche Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit erhalten, ergänzt wird dieser jedoch durch die amivalenten Positionen der Mittelklassen. Die Mittelklassen nehmen in diesem Ansatz eine Zwischenstellung ein, die sowohl Aspekte der Position der Produktionsmittelbesitzer_innen als auch der der klassischen Arbeiterschaft oder des Kleinbürgertums umfassen kann, was den widersprüchlichen Charakter ihrer Klasseninteressen bewirkt. Typisch sind etwa leitende Angestellte oder Manager_innen, die einerseits einem klassischen Ausbeutungsverhältnis unterstellt sind, insofern sie über keinen Besitz an Produktionsmitteln verfügen, zugleich aber Kontrollfunktionen hinsichtlich der Produktion und somit auch gegenüber Arbeiter_innen ausüben. Grundsätzlich konzipiert Wright die Klassenverhältnisse nicht lediglich als Produktionsmittelverhältnisse, sondern versteht sie insgesamt als »social relations of control over investment and accumulation (economic ownership), over the physical means of production, and over Iabor.«160 Für die Klasseneinteilung greift Wright auf eine vierteilige Abstufung der Kontrollfunktion zurück, je nach dem in welchem Maße von einer Klassenposition aus welche Form der Kontrolle ausgeübt wird. Die Mittelklassen finden sich hierbei in verschiedenen widersprüchlichen Klassenlagen: zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, dies umfasst z. B. Manager_innen und leitende Angestellte, zwischen dem Kleinbürgertum und dem Proletariat, wie etwa kleine »semiautonome« Angestellte, die in gewissem Maße den Produktionsprozess kontrollieren, und zwischen Kleinbürgertum und Bourgeoisie, wie kleine Selbständige. Die klassische Dreiteilung von Proletariat, Kleinbürgertum und Bourgeoisie wird so ergänzt um spezifische weitere Positionen, die Ausdruck der Machtverhältnis in der ökonomischen Sphäre sind.161 Während die frühe von Wright vorgeschlagene Klassenkonzeption auf den Kontrollaspekt abstellt, nimmt sein späteres Modell Bezug auf den im analytischen Marxismus eingebrachten Ausbeutungsbegriff. Dieser ist dezidiert von Marx’ Verständnis geschieden, insofern er in Zurückweisung der Arbeitswertlehre auf spieltheoretischen Überlegungen beruht.162 Möglich wird durch die Aufgabe des Kontrollbegriffs zugunsten der Ausbeutungskonzeption die Konstruktion gegensätzlicher Klasseninteressen, denn im Gegensatz zur Kontrolle impliziert Ausbeutung objektiv spezifische, konträre Interessen von Ausbeutenden und Ausgebeuteten.163 Vollzogen wird die Ausbeutung mit Hilfe der Verfügungsgewalt über produktive Ressourcen, zu den Wright explizit auch die Organisation zählt: »The way the process of production is organized is a productive resource distinct from the expenditure of labour power, the use of means of production or the 160 161 162 163

Wright 1979a, S. 37. Vgl. auch Wright 1979b. Vgl. Wright 1985; Roemer 1982. Vgl. Wright 1985, S. 56f.

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skills of the producer.«164 Nicht zuletzt zielt Wright damit auf die Möglichkeit, auch die Klassenstruktur realexistierender sozialistischer Staaten bzw. ›staatskapitalistischer‹ Länder angemessen beschreiben zu können, da dort in erster Linie die beim Staat liegende Organisationsmacht Basis der Ausbeutungsverhältnisse ist. Der erweiterte Ausbeutungsbegriff und die zugrundeliegenden Ressourcen bestimmen die verschiedenen Klassenpositionen, wobei je nach Gesellschaftstyp andere Ressourcen im Vordergrund stehen. Die Klassenunterteilung in kapitalistischen Gesellschaften ordnet sich Wright zufolge nach dem Produktionsmittelbesitz, der Verfügung über Qualifikationen sowie die Organisationsmacht, die für den Feudalismus kennzeichnende ungleiche Verfügungsgewalt über Arbeitskraft als Gegensatz zwischen Herr und Knecht hat ihre Relevanz unter Marktbedingungen tendenziell verloren. Der primäre Gegensatz besteht weiterhin hinsichtlich des Produktionsmittelbesitzes: hier stehen auf der einen Seite der Bourgeoisie, dem Kleinbürgertum und den kleinen Arbeitgeber_innen all jene gegenüber, die keinerlei Besitz an Produktionsmitteln haben.165 Letztere lassen sich allerdings wiederum nach Qualifikationsressourcen und Organisationsmacht unterteilen, so besitzen etwa Proletarier als unqualifizierte Arbeiter_innen von beiden Ressourcen den jeweils geringsten Anteil, während »Expert Managers«166 in beiden Dimensionen über relativ hohe Ressourcen verfügen. Entsprechend der Ressourcenverfügung stehen die einzelnen Klassen in jeweils spezifischen Ausbeutungsrelationen zueinander. In dieser Konzeption werden etwa die einfachen Arbeiter_innen nicht nur von Seiten der Produktionsmittelbesitzer_innen ausgebeutet, sondern zugleich von all jenen, die über größere Ressourcen der Qualifikation und Organisation verfügen und in deren Interesse es ist, ihre Position im Ausbeutungsverhältnis nicht zugunsten der Ausgebeuteten aufzugeben. In einer Zwischenstellung werden etwa mittlere Manager_innen von Seiten der hier als »Bourgeoisie« gekennzeichneten Arbeitgeber_innen mit Produktionsmittelbesitz ausgebeutet, zugleich aber auch von »Expert Managers« mit höheren Qualifikationen. Umgekehrt gehören sie selbst zu den Ausbeutenden gegenüber Gruppen mit geringerer Qualifikation und niedrigeren Organisationsressourcen. In dieser Hinsicht ähnelt der spieltheoretische Ansatz dem Konzept der sozialen Schließung Webers, geht aber darüber hinaus, insofern Schließung nur eine Form der »Class Exploitation« insgesamt darstellt, bei welcher strenggenommen kein auf Gegenseitigkeit beruhendes Ausbeutungsverhältnis vorliegt, und zwar in dem Sinne, dass »the exploiter needs the exploited since the exploiter de-

164 Vgl. ebd., S. 79. 165 Das Kleinbürgertum verfügt über ausreichend Kapital, um für sich selbst und nicht abhängig beschäftigt arbeiten zu müssen, kann aber keine Angestellten einstellen, wohingegen die kleinen Arbeitgeber_innen Angestellte beschäftigen können, zugleich aber auch selbst mitarbeiten müssen (vgl. ebd., S. 67). 166 Vgl. Wright 1985.

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pends upon the effort of the exploited.«167 Als Beispiel für eine solche nicht auf direkter Ausbeutung beruhenden Exklusion führt Wright den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern an. Im Gegensatz dazu hat im klassischen Ausbeutungsverhältnis der Ausbeutende ein permanentes Interesse an der Aufrechterhaltung der Arbeitskraft der Ausgebeuteten, was diesen wiederum in Maßen auch eine gewisse eigenständige Macht gibt, und insbesondere in höheren Positionen zur oben skizzierten tendenziellen Autonomie führt. Mit seinen beiden Modellen ermöglicht Wright eine weitaus stärkere Differenzierung von Klassen als herkömmliche marxistische Ansätze, die lediglich auf den Besitz von Produktionsmitteln abzielen und kaum darüber hinausreichende Differenzierungen des ökonomischen Ungleichheitsgefüges enthalten. Insbesondere in der empirischen Anwendung, die explizit Ziel des Ansatzes von Wright ist, zeigt sich dabei, dass die Modelle durchaus in der Lage sind die grundlegende bestehende Ungleichheitsstruktur der ›westlichen‹ Gesellschaften als Klassengesellschaft zu beschreiben und Prozesse der Klassenbildung zu untersuchen.168 Das von Goldthorpe in verschiedenen Versionen entwickelte Klassenschema, ursprünglich in einer frühen Form gemeinsam mit Robert Erikson und Lucienne Portocarero bereits 1979 vorgestellt169 – daher auch mitunter die Bezeichnung als »EGPSchema« –, stellt eine Art der Verknüpfung der Marx’schen Machtperspektive und der Weber’schen Klasseneinteilung nach Marktchancen dar und unterscheidet insgesamt in seiner bekanntesten Fassung sieben Klassen.170 Im Gegensatz zu Lebensstilmodellen, die vor allem den Bereich der Freizeit in den Fokus nehmen, ist für die Klassenmodelle das Erwerbsleben weiterhin zentral. Bei Goldthorpe bestimmt sich die Klassenposition dabei nicht einfach aus dem Produktionsmittelbesitz, sondern in erster Linie über das Beschäftigungsverhältnis. Grundsätzlich unterschieden sind die Klassenpositionen nach der beruflichen Stellung zwischen Arbeitgeber_innen bzw. Produktionsmittelbesitzer_innen, die die Arbeit anderer kaufen, selbständig Beschäftigten ohne Angestellte, die weder die Arbeit anderer kaufen noch ihre eigene Arbeitskraft verkaufen, und Arbeitnehmer_innen, die prinzipiell ihre Arbeitskraft verkaufen. Da abhängige Beschäftigungsverhältnisse den überwiegenden Anteil darstellen, werden diese von Goldthorpe weiter nach der Art des Arbeitsverhältnisses bzw. der »Regulation of Employment«171 differenziert – dies ist die entscheidende Unterteilung des Klassenschemas. Dem Idealtypus des Arbeitskontrakts, der Beschäftigten eine Entlohnung ihrer Arbeitskraft pro Zeiteinheit bzw. Stückzahl garantiert und vorwiegend im Bereich manueller Arbeit sowie einfacher 167 Wright 1994, S. 11. 168 Vgl. Erbslöh et al. 1990; Wright 1997. 169 Vgl. Erikson/Goldthorpe/Portocarero 1979. Vorversionen entstanden auch bereits in der früheren Mobilitätsforschung Goldthorpes (vgl. etwa Goldthorpe/Payne/Llewellyn 1978). 170 Vgl. Erikson/Goldthorpe 1992. 171 Vgl. Goldthorpe 2000, S. 206–229.

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nicht-manueller Tätigkeiten Anwendung findet, steht das Dienstverhältnis entgegen, welches vor allem im höheren und mittleren Bereich des Managements, der Verwaltung sowie technischer Berufe typisch ist. In dieser Regulierung der Beschäftigung drückt sich das Machtverhältnis gemäß der beiden Kriterien Ersetzbarkeit der spezifischen Qualifikation und Grad der Überwachung der Tätigkeit aus. Während die Tätigkeiten nach dem Arbeitskontrakt direkter Kontrolle unterstehen, relativ einfach ersetzbar sind und einen direkten Austausch von Geld gegen Leistung darstellen, sind die von Goldthorpe skizzierten Dienstverhältnisse tendenziell durch eine relative Autonomie gegenüber den Arbeitgeber_innen geprägt, besitzen eher den Charakter der Kompensation für Loyalität als des Lohns pro messbarer Zeiteinheit oder Stückzahl und bieten eine Vielzahl an Vorteilen von Aufstiegsmöglichkeiten über Arbeitsplatzsicherheiten bis zu Pensionen.172 Tätigkeiten der Dienstklasse sind durch die Ausübung spezialisierten Fachwissens respektive übertragener Autorität charakterisiert, was wiederum Freiräume von Seiten der Arbeitgeber_innen voraussetzt, um Loyalität und Engagement der Angestellten zu sicher: »A service relationship can thus be understood as the means through which an employing organization seeks to create and sustain such commitment.«173 Zwischen den beiden Idealtypen existieren Mischformen, die in den intermediären Industrie- und Dienstleistungsberufen zu finden sind, etwa bei Meistern, Technikern oder Vorarbeitern einerseits und qualifizierten Angestellten im Büro- oder Handelsbereich andererseits. Entscheidend am Modell von Goldthorpe ist die Zentralität des Beschäftigungsverhältnisses, welches ökonomische Machtverhältnisse jenseits des Produktionsmittelbesitzes berücksichtigt und wodurch »Kriterien, wie der Grad an Arbeitsautonomie und der organisationsinternen Autoritäts- und Kontrollbefugnisse, das Ausmaß an Identifikation mit den Zielen des Arbeitgebers, aber auch Aspekte der Arbeitsplatzsicherheit und des Einkommens«174 für die Klassenbildung Berücksichtigung erfahren. Dennoch gilt auch für dieses Modell die Kritik, die insbesondere aus der Lebensstil- und Milieuforschung gegenüber den Klassen- und Schichtansätzen vorgebracht wurde und der zufolge die Erwerbszentrierung nicht alle gesellschaftlich relevanten Ungleichheiten zu fassen vermag. 3.2.4

Milieuansätze

Mit dem umfassenden sozialen Wandel der Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich für die Autor_innen des Entstrukturierungsansatzes die Bedeutung sozialer Ungleichheiten verändert und abgeschwächt. Klassen- und Schichtmodelle 172 Vgl. Erikson/Goldthorpe 1992, S. 41f. 173 Ebd., S. 42. 174 Brauns/Steinmann/Haun 2000, S. 11f.

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erscheinen daher nicht mehr angemessen, um bestehende und neue Ungleichheiten, wie etwa hinsichtlich des Geschlechts oder regionaler Disparitäten zwischen Stadt und Land, zu erfassen. Die vermeintlich einst homogenen Lagen, nach Klasse oder Status eindeutig in ein höher und niedriger geordnet, sind von einer Fragmentierung erfasst, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Lebenslagen hervorgebracht hat, für die Statuskonsistenz175 häufig nicht mehr der Regelfall ist. Stattdessen existiert nicht selten eine gleichzeitige Privilegierung und Deprivilegierung hinsichtlich verschiedener Ungleichheitsdimensionen, die keine klare gesellschaftliche Rangordnung mehr erkennen lässt.176 Vertikale Ungleichheiten und die Zugehörigkeit zu Klassen oder bestimmten Schichten verlieren in dieser Sichtweise zunehmend ihre Prägekraft für die gesellschaftliche Realität und sind folglich auch nicht mehr grundlegendes Element des alltäglichen Handelns der Menschen. Eine teils an Anthony Giddens’ Begriff der Dualität von Struktur anschließende Perspektive stellt die »subjektbezogene Strukturierung sozialer Wirklichkeit«177 in den Vordergrund und verabschiedet tendenziell vermeintlich rein theoretisch hergeleitete Hierarchiekategorien. Kennzeichen des sozialen Wandels sind die umgreifende Durchsetzung des Wohlfahrtsstaats und die damit verbundene Anhebung des Wohlstandsniveaus – jener berühmte »Fahrtstuhleffekt«, der Beck zufolge die Lebensbedingungen aller Menschen verbessert hat, jedoch bei Beibehaltung der »Verteilungsrelationen sozialer Ungleichheit«178 –, sowie die rechtliche und sozialstaatliche Absicherung der Individuen, die Ausweitung von Bildungschancen, die Zunahme sozialer Mobilität, die Expansion des Dienstleistungssektors und der Rückgang der Industriearbeit in den ›westlichen‹ Industriegesellschaften179 sowie das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen180. Aufgrund dieser Veränderungen büßen Klassenlagen oder spezifische Schichtungszugehörigkeiten ihren strukturierenden Charakter ein und scheinen so immer weniger geeignet, die gegenwärtige Sozialstruktur und soziales Handeln angemessen zu erklären.

175 Zur Diskussion der Problematik von Statusinkonsistenz, die sich insbesondere im Anschluss an die Arbeiten von Gerhard Lenski entwickelt hat, vgl. Wuggenig 1983, 1990; Kreckel 1985. Zu Lenski vgl. Lenski 1954, 1956, 1966, 1967. 176 Vgl. hierzu Hradil, der die geringe »Korrelation zwischen Ungleichheiten aus der ökonomischen, der politisch-administrativen und der ›sozialen‹ Sphäre, zwischen Geld, Bildung, Gesundheit, Wohnung, Partizipation, Sozialbeziehungen und Berufsprestige« unterstreicht (Hradil 1985, S. 62). 177 Müller-Schneider 1998, S. 277. 178 Beck 1983, S. 36 – Hervorhebung im Original. 179 Vgl. Kapitel 2 und die von Daniel Bell imaginierte »nachindustrielle Gesellschaft« (Bell 1973) sowie die daran anschließende Diskussion um »Netzwerkgesellschaften«, z. B. bei Manuel Castells (1996), oder »Wissensgesellschaften« bei Nico Stehr (2001), denen allen gemein ist, dass sie einen grundlegenden Wandel von Arbeit und damit auch der bestehenden Ungleichheitsverhältnisse konstatieren. 180 Vgl. hierzu auch die Diagnosen von Alain Touraine und André Gorz (vgl. Touraine 1972; Gorz 1980).

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Insbesondere die Arbeiten von Ulrich Beck haben mit der Popularisierung des Begriffs der Individualisierung dazu beigetragen, dem grundlegenden Wandel der Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Tendenz zur »Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen« zu attestieren, in deren Zuge sowohl »subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend weggeschmolzen« als auch »ständisch eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert«181 worden seien. Individualisierung erscheint als Erosion vormals kollektiver Lebenswelten hin zu stärker privatisierten Formen, die sich als Loslösung von den traditionellen Bindungen etwa der Familie oder des Klassenmilieus äußert und einen wachsenden Bedeutungsverlust der damit verbundenen Werte impliziert. Sichtbar werden die Veränderungen in der Zunahme und Pluralisierung der individuellen Lebensstilisierung, der als »Bastelbiographie«182 apostrophierten Ausweitung von Wahlmöglichkeiten respektive -zwängen in der individuellen Lebensführung, der Einforderung von Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung etwa hinsichtlich des eigenen Körpers, der Freizeit, des Wohnens usf. Der mit der Individualisierung einhergehende Gewinn an Autonomie durch die Loslösung von traditionellen Bindungen bedeutet zugleich eine gestiegene Eigenverantwortung für die Existenzsicherung und die individuelle Übernahme der damit verbundenen Chancen und Risiken. Wo vorher gemeinschaftliche Formen wie das soziale Milieu Sicherheit und Anleitung boten, tragen nun die Individuen selbst die Verantwortung für ihre Entscheidungen. Der als Kern der Diskussion um Individualisierung beispielsweise von Günter Burkart durchaus kritisch konstatierten »Behauptung wachsender individueller Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten«183 müssen nach Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim dabei unbedingt die Aspekte von Zwang und Last dieser Individualisierung zur Seite gestellt werden: »Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer Zwang allerdings, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, auch ihrer Einbindungen und Netzwerke und dies im Wechsel der Präferenzen der Entscheidungen und Lebensphasen.«184 Der in Zügen dem Gouvernementalitätsbegriff185 von Michel Foucault ähnlichen Verlagerung von Verantwortung auf die Individuen, die zur ›Selbstregierung‹ angehalten sind, entspricht ein Zwang zur Subjektivierung und zum individuellen aktiven Handeln, bei dem die Bedeutung soziostruktureller Bedingungen für das Handeln für tendenziell obsolet erklärt wird. Entscheidend für die Ungleichheitsforschung ist entsprechend die Annahme, dass mit der behaupteten Individualisierung von Lebenslagen nicht lediglich ein Oberflächenphänomen benannt ist, sondern auf Basis 181 Beck 1983, S. 36. 182 Das Konzept der »Bastelbiographie« geht auf Ronald Hitzlers Arbeit zum Sinn-Basteln – in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss’ bricolage – zurück (vgl. Hitzler 1988). 183 Burkart 1993, S. 159. 184 Beck/Beck-Gernsheim 1993, S. 179. 185 Vgl. Foucault 2006a, 2006b; Bröckling/Krasmann/Lemke 2000.

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veränderter Formen der Vergesellschaftung – weg von klassischen traditionsbasierten Bindungen wie Klassenmilieus hin zu selbstgewählten Subkulturen oder sozialen Bewegungen – soziale Ungleichheiten im herkömmlichen Sinne ihre Konfliktlinien und ihre Relevanz verlieren. Dies auch gesetzt den Fall weiterhin bestehender alter Ungleichheiten, da diese nicht mehr im bisherigen Rahmen von Klassen oder Schichten interpretiert werden würden, sondern letztlich individualisiert, »quer durch die Gruppen und Personen hindurchgehen und je nach Thema, Dimension und Situation unterschiedliche Teillagen und damit unterschiedliche Denkungsarten, Koalitionszwänge und Formen der Interessenwahrnehmung und Konfliktaustragung begründen können.«186 Die Pluralisierung an sozialen Lagen versucht auch Stefan Hradil mit seinem Begriff der »Lebensziele«187 zu fassen. Ausgangspunkt für Hradil ist die Bestimmung von Ungleichheitskriterien über allgemein anerkannte »Lebensziele«. Inkludiert ist hierbei auch die Kritik an Ansätzen, die lediglich Ressourcen als Handlungs- und Lebenschancen bestimmen, ohne hierbei die Handlungsziele im Blick zu behalten.188 Der Vervielfältigung von Ungleichheitskriterien über die Lebensziele – die klassisch ökonomischen Zielen wie Wohlstand, Erfolg und Macht müssen nach Hradil heute um wohlfahrtsstaatliche Ziele wie Sicherheit, Entlastung, Gesundheit und Partizipation sowie die sozialen Ziele von Integration, Selbstverwirklichung und Emanzipation ergänzt werden – entspricht eine Multiplikation von Dimensionen sozialer Ungleichheit bzw. der Ressourcen und Risiken, die hinsichtlich der Erreichung der Lebensziele Vor- bzw. Nachteile mit sich bringen. Damit korrespondiert zugleich eine Zunahme von sozialen Lagen, da sich in mehrfacher Weise Ungleichheiten ergeben können, die nicht notwendigerweise miteinander korrelieren, sondern eine mehrdimensionale Ungleichheitsstruktur erzeugen. Dabei fallen in den jeweiligen Handlungskontexten die Ungleichheitsbedingungen je spezifisch aus, und zwar abhängig davon, welche Ressourcen vorhanden sind und was für Möglichkeiten der Substitution und Kompensation funktional äquivalenter Ressourcen zur Erlangung der Lebensziele bestehen. So lassen sich z. B. in der Regel durch Geld ungleiche Handlungsbedingungen in vielen anderen Bereichen ausgleichen. Aus der Vielzahl an kombinatorischen Möglichkeiten ergeben sich Hradil zufolge charakteristische, typische Kontexte auf Basis der inhaltlichen Bestimmung der primären

186 Beck 1983, S. 68 – Hervorhebung im Original. 187 Hradil versucht die Lebensziele weder rein subjektiv durch die Vorstellungen der einzelnen Individuen noch objektiv beispielsweise mittels der Bedürfnishierarchie nach Abraham Maslow zu bestimmen, sondern wählt als Kompromiss jene Ziele, die sich im »Prozeß der politischen Willensbildung relativ durchgesetzt haben und in Form von ›offiziellen‹ oder ›quasi-offiziellen‹ Verlautbarungen greifbar sind.« (Hradil 1987, S. 143). 188 Seinen Ansatz begründet Hradil explizit als handlungstheoretisch, insofern Lebensziele von Akteuren über Handlungen erreicht werden müssen und nicht bloßer Effekt sozialer Positionen sind. Zudem sind auch die Handlungsbedingungen selbst Resultat von Handlungen.

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Dimensionen der Lebensbedingungen, kurz der wichtigsten Handlungsressource für die Erlangung der Lebensziele, und der damit im Allgemeinen als sekundär auftretenden Dimensionen, mithin den üblicherweise assoziierten Ressourcen und Risiken. So ist der Handlungskontext der Armen primär durch die Nichtverfügung über Geld bestimmt, zusätzlich tritt aber gehäuft eine Deprivilegierung hinsichtlich Wohn- und Freizeitbedingungen, sozialer Absicherung und Prestige auf. Hradil kommt so zu 13 typischen, theoretisch hergeleiteten sozialen Lagen, die sich jedoch nicht in einer klassischen Hierarchie befinden: »Macht-Elite«, »Reiche«, »Bildungselite«, »Manager«, »Experten«, »Studenten«, »Normalverdiener« differenziert nach geringen, mittleren und hohen Risiken, »Rentner«, »Arbeitslose«, »Arme« und »Randgruppen«.189 Im Gegensatz zu den vermeintlich starren Klassen- und Schichtmodellen nimmt Hradil für sein Konzept der sozialen Lagen in Anspruch, alle wesentlichen Erscheinungsformen sozialer Ungleichheiten der heutigen Gesellschaften miteinzubeziehen und die verschiedenen möglichen Verknüpfungen von Dimensionen sozialer Ungleichheiten greifbar machen zu können. Mit der von ihm vorgenommenen Ausdifferenzierung von Ungleichheitsdimensionen, die über die herkömmliche Bestimmung von sozialer Ungleichheit hinausgeht und diese um ungleichheitsrelevante Aspekte des Wohlfahrtsstaats und der zeitgenössischen Gesellschaften erweitert – immer orientiert an gesellschaftlichen Vorstellungen eines gelingenden Lebens –, treten dabei neue Ungleichheiten in den Fokus, die sich nicht in eine gesamtgesellschaftliche Hierarchie einordnen lassen. Entsprechend führt die Bündelung sozialer Lagen auf Basis der für eine Lage jeweils relevanten Ausprägungen der ungleichen Lebenschancen nicht zwangsläufig zu einer vertikalen Ordnung dieser Lagen, sondern erlaubt nach Hradil die Betonung horizontaler Ungleichheiten, bei denen es sich nicht lediglich um Formen der Differenzierung handele.190 Über die Bestimmung pluraler sozialer Lagen mittels objektiver Handlungsbedingungen hinaus hat sich die Ungleichheitsforschung seit den 1980er Jahren verstärkt auch mit »subjektiven« Aspekten sozialer Ungleichheit beschäftigt, d. h. diese rückgebunden an Wertvorstellungen, Deutungen und Einstellungen der Individuen. Vor allem unter Begriffen wie Lebensstil und Milieu wird dabei, allerdings in unterschiedlicher Konzeption, der Versuch unternommen, dieser »subjektiven« Seite, der Alltagsbedeutung von Ungleichheiten, gerecht zu werden.191 Während der Lebensstilbegriff im Allgemeinen

189 Vgl. ebd., S. 154ff. 190 Ebd., S. 159f. 191 Beide Begrifflichkeiten haben eine lange Tradition in der Soziologie. So findet sich der LebensstilBegriff bereits prominent bei Thorstein Veblen, Georg Simmel und Max Weber verwendet, die Popularität seit den 1980er Jahren geht vor allem auf die Verwendung bei Bourdieu zurück (vgl. Georg 1998). Das Milieu-Konzept wurde früh durch Émile Durkheim geprägt, auf den sich explizit

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auf die expressive Seite der Lebensführung abzielt, fokussiert die Milieu-Begrifflichkeit auf die Umweltbedingungen und deren Interpretation. Für Hradil soll damit »die relative Autonomie von Einstellungen, Mentalitäten und Standards«192 bei der Auseinandersetzung mit objektiven Bedingungen zum Tragen kommen. Die sich aus den sozialen Lagen ergebenden Lebensbedingungen entfalten in dieser Logik erst in der subjektiven, intervenierenden Deutung ihre volle Tragweite, das Milieu agiert hierbei als Mittler. Resultat dieser Vermittlung sind letztlich typische Muster des Handelns, welche von Hradil als Lebensstile193 bezeichnet werden. An die Stelle von unmittelbarer sozioökonomischer Strukturbestimmung einerseits und vollkommener Individualisierung andererseits tritt das Milieu mit seinen jeweils charakteristischen Formen der Lebensführung und des Lebensstils. Ein Milieu fasst so Menschen zu einer Gruppe zusammen, »die solche äußeren Lebensbedingungen und/oder inneren Haltungen aufweisen, aus denen sich gemeinsame Lebensstile herausbilden«194, so dass sich über Lebensstile verschiedene Milieus unterscheiden lassen. Angehörige eines Milieus teilen eine ähnliche Sicht auf ihre Umwelt, d. h. eine gemeinsame Interpretation der Lebensbedingungen, und besitzen korrespondierende Handlungsmuster. Zugleich sind sie dadurch von anderen Milieus relativ abgegrenzt und produzieren selbst wiederum ungleichheitsrelevante Bedingungen, insofern jeweils milieuspezifische Standards auf die anderen Gesellschaftsmitglieder angewendet werden. Objektive Strukturen sozialer Ungleichheit bilden in der Milieuperspektive nur eine Möglichkeit des Einflusses neben den subjektiven Lebensweisen und sind keineswegs alleiniger determinierender Handlungsrahmen. Nicht zuletzt die aus der Marktforschung als Sinus-Milieus195 bekannt gewordenen Darstellungen des bundesdeutschen Milieugefüges, die auch Hradil als exemplarisch anführt und damit populär in die sozialwissenschaftliche Forschung eingeführt hat, haben für eine Verbreitung des Milieubegriffs gesorgt. Hintergrund hierfür ist die phä-

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194 195

auch die Arbeitsgruppe um Vester bezieht, sowie durch die Arbeiten von Max Scheler und daran kritisch anknüpfend Aron Gurwitsch (vgl. Hitzler/Honer 1984; Hradil 1992). Hradil 1987, S. 161. Hradil sieht seinen Lebensstilbegriff entsprechend in Analogie zum Habitus-Begriff von Bourdieu als Vermittlung zwischen Handlungsbedingungen und praktischem Handlungsvollzug, ohne dabei freilich dessen eigentlichen Kern, die Rückbindung von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsformen an die objektiven Strukturbedingungen, in Gänze mitzugehen. Ebd., S. 165. Die sogenannten Sinus-Milieus werden vom Heidelberger SINUS-Institut (SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH) erstellt und gehören zu den verbreitetsten Zielgruppenmodellen in der Marktforschung, so dass von einem Standard gesprochen werden kann. Seinen Ursprung hat es allerdings in der Politikforschung. Mittlerweile sind für zahlreiche, vorwiegend europäische Länder sowie spezifische Gruppen Milieu-Modelle entwickelt wurden. Problematisch ist hinsichtlich der Implementierung in die sozialwissenschaftliche Forschung neben den Kosten für den Einkauf der Modelle vor allem die Intransparenz der Modellzusammensetzung und Milieuzuordnung, die nichtöffentliches Firmenwissen darstellt (vgl. auch Diaz-Bone 2003).

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nomenologisch inspirierte und an Alfred Schütz sowie Peter L. Berger und Thomas Luckmann anknüpfende Lebensweltforschung196, die Alltagshandeln und Alltagswissen der Individuen in den Vordergrund stellt. Zwar werden auch bei den Sinus-Milieus in vertikaler Ausrichtung Schichten unterschieden, also soziale Lagemerkmale miteinbezogen, das eigentliche Augenmerk gilt jedoch der horizontalen Differenzierung der Milieus nach sogenannten Grundorientierungen bzw. Mentalitäten. Die Vermittlung beider Aspekte führt zu entsprechenden Milieus mit spezifischen Einstellungen, Wertorientierungen und Lebensstilen, die sich vielfach über Schichtgrenzen hinweg erstrecken. In ständiger Aktualisierung wird seit den 1980er Jahren auf empirischer Basis eine Gliederung der Gesellschaft nach sozialen Milieus vorgenommen, die in ihrer rezenten Form aus dem Jahr 2015 folgende Sinus-Milieus umfasst: a – »Sozial gehobene Milieus«: »Konservativ-etabliertes Milieu«, »Liberal‐intellektuelles Milieu«, »Milieu der Performer« und »Expeditives Milieu«; b – »Milieus der Mitte«: »Bürgerliche Mitte«, »Adaptivpragmatisches Milieu« und »Sozialökologisches Milieu«; c – Milieus der unteren Mitte/ Unterschicht: »Traditionelles Milieu«, »Prekäres Milieu«, »Hedonistisches Milieu«.197 Die für die Ungleichheitsforschung entscheidende Tendenz findet sich trotz aller gegenteiliger Bekundungen und beibehaltener Einteilungen mit Schichtbezug in der mit dem Milieubegriff forcierten zunehmenden Entkoppelung von sozialer Lage und Lebensführung, die schließlich in der freien Wahl und Autonomie von Lebensstilen gegenüber soziostrukturellen Bedingungen mündet.198 Parallel zu der Milieueinteilung des Sinus-Instituts hat auch Gerhard Schulze ein eigenes einflussreiches Milieumodell entwickelt, welches auf einer breit angelegten Studie aus dem Raum Nürnberg basiert. Unter dem Label der »Erlebnisgesellschaft« bekannt geworden, greift Schulze die Individualisierungsthese von Beck auf und konstatiert mit dem gestiegenen Wohlstandsniveau eine Ästhetisierung des Alltags und die damit verbundene Hinwendung zum »Erlebnis«.199 An die Stelle kollektiver Ziele oder des reinen Überlebens unter Knappheitsbedingungen tritt die zunehmende Innenorientierung des Handelns als Suche nach dem eigenen »schönen Leben« und dem Glück im Erlebnis. Die Vielzahl an individuellen Wahlmöglichkeiten und persönlichen Stilen bündelt sich dabei laut Schulze zu voneinander unterschiedenen, alltagsästhetischen Schemata, denen intersubjektiv Bedeutung zukommt und die als mehr oder weniger einheitlich erfasst 196 Das Konzept der Lebenswelt, wie es vom Sinus-Institut verwendet wird, setzt an der Alltagswirklichkeit der Individuen an und unterstellt, dass die soziale Realität nur angemessen über die subjektive Wahrnehmung und das alltägliche Handeln rekonstruiert werden kann. Im Zentrum stehen daher Einstellungen, Wertorientierungen, Handlungsmuster, Alltagsbewusstsein und Alltagsästhetik (vgl. Flaig/Meyer/Ueltzhöffer 1993, S. 33–74). 197 Vgl. SINUS Markt- und Sozialforschung 2017. 198 Vgl. Flaig/Meyer/Ueltzhöffer 1993. 199 Vgl. Schulze 1992.

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werden. D. h. trotz aller Unterschiedlichkeit werden die verschiedenen alltagsästhetischen Präferenzen und Praktiken zu relativ konstanten Stilmustern gruppiert, deren jeweilige Elemente in ihrer Bedeutung entsprechend ähnlich bewertet werden. Dieser Annahme zufolge fügt sich so in der kollektiven Wahrnehmung der Besuch eines klassischen Konzerts mit dem Museumsbesuch und der Roman-Lektüre zu einem Schema, welches als inkongruent zu Volksmusik oder Action-Filmen verstanden wird. Die Nähe oder Distanz zu einem Schema impliziert die tendenzielle Vorliebe oder Abneigung zu den in diesem Schema zusammengefassten Einstellungen und Praktiken, wobei die Grenzziehung auf Basis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse stattfindet und permanenten Definitionskämpfen unterliegt, an denen vielfältige Akteure von Zeitungsredaktionen über wirtschaftliche Agenturen bis zu politischen Institutionen beteiligt sind. Grundsätzlich unterscheidet Schulze drei alltagsästhetische Schemata als charakteristische Formen des Erlebens: das Hochkulturschema, das Trivialschema und das Spannungsschema. Die Typisierung dieser Schemata erfolgt über spezifische Zeichen wie Mode, Wohnungsstil, Freizeit- und Fernsehgewohnheiten und die Bedeutungsdimensionen von Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie.200 Während das Hochkulturschema die bereits erwähnte Vorliebe für klassische bürgerliche Institutionen wie Museen, Konzert- und Theaterhäuser beinhaltet, zu der auch die Rezeption überregionaler Zeitungen und gehobener Literatur gehört, lässt sich das Trivialschema mittels der Präferenz von Volksmusik, Schlager, Heimatfilmen, ›leichter‹ Literatur, lokaler Presse und Fernsehunterhaltung kennzeichnen. Im Spannungsschema sind wiederum alltagsästhetische Praktiken zusammengefasst, die eine Neigung zu Rockmusik, Sportveranstaltungen, Kneipen- und Cafébesuchen, Reisen sowie Krimiserien zeigen. Zwar sind auf der Zeichenebene die Praktiken austauschbar, ständigem Wandel unterstellt und mögen in ihrer Auflistung trivial erscheinen, die dahinter liegenden Bedeutungsebenen zeigen jedoch die ästhetischen und ethischen Dispositionen der Schemata an. So entspricht dem Hochkulturschema die Kontemplation als vorwiegende Erlebnisorientierung im Genuss, die zentrale Distinktion ist »antibarbarisch« und die Lebensphilosophie als der wesentlichen ethischen Disposition strebt nach Perfektionismus. Analog dazu gilt für das Trivialschema die Trias aus Gemütlichkeit, »antiexzentrisch« und Harmonie und für das Spannungsschema Action, »antikonventionell« und Narzissmus.201 Die Einteilung der alltagsästhetischen Schemata erinnert dabei stark an die von Bourdieu eingeführte Differenzierung von bürgerlichem, kleinbürgerlichem und proletarischem Geschmack, ohne dass Schulze den entscheidenden Nexus von sozialer Position und korrespondierenden Formen der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns, die ihren Ausdruck im Lebensstil finden, mitmacht. 200 Vgl. ebd. 201 Vgl. ebd., S. 125–167.

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Die von Schulze vorgenommene Milieueinteilung, in einer ersten Veröffentlichung noch als »subkulturelle Segmente«202 bezeichnet, basiert nun nicht auf der unmittelbaren Zuordnung zu einem der Schemata, sondern als Nähe und Distanz zu den verschiedenen alltagsästhetischen Mustern. Unter Milieu begriffen werden »Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben.«203 Resultat sind fünf so geschiedene Milieus: (a) Niveaumilieu mit Nähe zu Hochkulturschema und Distanz zu Trivial- sowie Spannungsschema; (b) Integrationsmilieu mit Nähe zu Hochkultur- sowie Trivialschema und Distanz zum Spannungsschema; (c) Harmoniemilieu mit Nähe zu Trivialschema und Distanz zu Hochkultur- sowie Spannungsschema; (d) Selbstverwirklichungsmilieu mit Nähe zu Hochkultur- sowie Spannungsschema und Distanz zum Trivialschema; (e) Unterhaltungsmilieu mit Nähe zu Spannungsschema und Distanz zu Trivial- sowie Spannungsschema.204 Die Milieus werden dabei tendenziell losgelöst von der sozialen Lage und sind nur noch über die beiden Dimensionen von Bildungsgrad und Alter bestimmt, nicht zuletzt weil diese in der Interaktion im Alltag einfach zu identifizierende Indikatoren der kulturellen Verortung darstellen. Für die Entwicklung der Ungleichheitsforschung bedeutsam ist die latente Aufgabe der Vertikalität sozialer Ungleichheit zugunsten einer vornehmlich horizontalen Differenzierung: »Zwischen den Milieus herrscht ein Klima von Indifferenz oder achselzuckender Verächtlichkeit, nicht geregelt und hierarchisiert durch eine umfassende Semantik des Oben und Unten.«205 Das Konzept der Erlebnisgesellschaft mit der Betonung alltagsästhetischer Schemata und der Subjektzentrierung steht daher nachdrücklich für die Annahme einer Entstrukturierung der Gesellschaft und hat in der Nachfolge vielfach Bestätigung und Zustimmung erfahren, so etwa durch Arbeiten von Thomas MüllerSchneider206 und Götz Lechner207, aber genauso jene auf den Plan gerufen, die insbesondere vor dem Hintergrund der Zunahme ökonomischer Ungleichheiten gegen die vermeintliche Auflösung der gesellschaftlichen Schichtung zugunsten erlebnisorientierter Milieus sowie die Irrelevanz eines Kampfes um Distinktion argumentieren. Die Hannoveraner Forscher_innengruppe um Michael Vester und Peter von Oertzen hat den Milieu-Begriff aufgenommen und ihn in Anlehnung an Bourdieu zur weiteren Differenzierung der gesellschaftsstrukturierenden Dimensionen verwendet, ohne dabei die grundlegende vertikale Orientierung im gesellschaftlichen Gefüge aufzuge-

202 203 204 205 206 207

Schulze 1988, S. 82. Vgl. Schulze 1992, S. 174. Vgl. ebd., S. 277–333. Vgl. ebd., S. 405. Müller-Schneider 2000. Lechner 2003.

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ben.208 Dabei wurde auch explizit das Sinus-Milieumodell miteinbezogen und letztlich eine Art Vermittlung zwischen diesen beiden Positionen angestrebt.209 Die von Beck und den Vertreter_innen der Individualisierungsthese vorgebrachten Annahmen werden in diesem Ansatz in ihrer Tragweite relativiert und erlangen erst vor dem Hintergrund der jeweils milieuspezifischen Verarbeitung der veränderten Bedingungen Bedeutung. Milieus sind hierbei »Akteursgruppen, die aufgrund ähnlicher Prinzipien (also ähnlichem Habitus bzw. ähnlicher Mentalität) zu ähnlichen praktischen Mustern der Alltagsbewältigung kommen.«210 Nicht zuletzt über den Habitusbegriff vermittelt stehen Milieus weiterhin in der Tradition der Klassen, Stände und Schichten, aus denen sie entstammen, haben sich aber mit dem Wandel der Gesellschaft im 20. Jahrhundert, insbesondere der Jugendrevolten in den späten 1960er Jahren, verändert, modernisiert und ausdifferenziert.211 Die vertikale Unterscheidung von Milieus wird dabei anhand einer »Herrschaftsachse« vorgenommen, die die drei Milieugruppen »Obere bürgerliche Milieus« – oder auch »Hegemoniale Milieus«212 –, »Respektable Volks- und Arbeitermilieus« und »Unterprivilegierte Volksmilieus« hierarchisch ordnet. Zugleich werden die Milieus horizontal nach Traditionslinien differenziert, analog zur Einteilung in Klassenfraktionen gemäß der Struktur der Kapitalien bei Bourdieu. Ausgerichtet ist diese Achse an den unterschiedlichen Wertorientierungen bzw. Mentalitäten der Milieus im Hinblick auf Autorität mit den Polen »avantgardistisch« und »autoritär«. Die Traditionslinie der oberen Milieus unterteilt so zwischen den klassischen Fraktionen bzw. Milieus von Macht und Besitz einerseits und akademischer Intelligenz andererseits, denen zusätzlich am avantgardistischen Pol die »kulturelle Avantgarde« beigeordnet ist. Diese drei Milieus sind durch eine als »Trennlinie der Distinktion« markierte Grenze von den anderen Milieus geschieden, die auf Prozesse der sozialen Schließung und der Distinktion über Geschmack abhebt, mit denen sich die oberen Milieus in ihrem Lebensstil und Anspruch auf Herrschaft von den Arbeiter- und Volksmilieus distanzieren. Gemeinsam ist den darunter liegenden Milieus aus der Tradition der Facharbeiterschaft und des Kleinbürgertums das Streben nach Achtung und Anerkennung mittels Statussicherung und einer erwerbsarbeitszentrierten Pflichtmoral. Ergänzt werden die beiden Milieus durch die »Avantgarde der Jugendkultur« als »hedonistisches Milieu«, welches sich aus Kindern

208 Die Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (agis) an der Universität Hannover hat in den 1990er Jahren und daran anschließend in einer Vielzahl an Beiträgen versucht, den Ansatz Bourdieus und insbesondere seinen Habitusbegriff für die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen (vgl. etwa Vester et al. 2001; Geiling 2003; Bremer 2004). 209 Zur Bedeutung der Forschung des Sinus-Instituts für die Sozialstrukturforschung der agis vgl. auch von Oertzen 2006. 210 Bremer 2001, S. 39. 211 Vgl. Vester 2000. 212 Vgl. ebd., S. 9.

3.2 Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung

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beider Traditionslinien speist und dabei jene zusammenfasst, die sich der Leistungsorientierung und dem Sicherheitsdenken ihrer Eltern tendenziell verweigern. Die »Trennlinie der Respektabilität« grenzt nach unten die »Unterprivilegierten Milieus« ab, die einem stetigen Kampf um Anerkennung ausgesetzt sind, wobei sozialer Aufstieg aufgrund geringer Ressourcenausstattung in der Regel keine viable Strategie darstellt.213 Insbesondere die starke Betonung der vertikalen Ungleichheitsachse bei gleichzeitigem Einbezug einer horizontalen Differenzierung auf Basis entscheidender Unterschiede im Lebensstil machen das Milieu-Modell der Arbeitsgruppe um Vester und von Oertzen zu einer Alternative gegenüber der Perspektive einer vornehmlich entstrukturierten und individualisierten Gesellschaft und ermöglichen weiterhin die Thematisierung strukturierter sozialer Ungleichheiten, ohne jedoch gesellschaftliche Wandlungsprozesse außen vor zu lassen. 3.2.5

Lebensstilkonzepte und die »Omnivorousness«-Debatte

Parallel zum Milieukonzept und mit diesem häufig verknüpft ist seit den 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften eine enorme Anzahl an Veröffentlichungen mit Bezug auf die Lebensstil-Begrifflichkeit erschienen, die durchaus kontroverse Standpunkte vertreten und keinen einheitlichen Ansatz zugrunde legen.214 Gunnar Otte kommt daher zu dem Schluss: »Innerhalb der Soziologie der Lebensstile gibt es im Vergleich zu anderen Forschungsrichtungen wenig anerkannte Einsichten und gesicherte empirische Erkenntnisse.«215 Dennoch lässt sich hier in Analogie zur Auseinandersetzung mit dem MilieuKonzept grundsätzlich eine Trennung zwischen Strukturierungsposition und Entstrukturierungsperspektive ziehen. Nachhaltig ist die Diskussion um Lebensstile von Bourdieu beeinflusst worden – nicht zuletzt in der Auslösung von Abhebungsbewegungen –, der mit seinem Ansatz den Gegenpol zur Individualisierungsthese von Beck darstellt. Als gemeinsamer Kern aller Lebensstilkonzepte kann der Fokus auf expressive, alltägliche Muster des Verhaltens von Individuen bzw. Gruppen bestimmt werden, die sich etwa in kulturellem Geschmack, Freizeit- und Konsumaktivitäten zeigen.216 Zum einen ist damit der Ähnlichkeitscharakter der einzelnen Lebensstilelemente, die sich zu einem Muster fügen, benannt und zum anderen der Ausdruckszusammenhang, der das sichtbar nach außen getragene Verhalten, mithin die Praxis, mit latenten ästhetischen und ethischen Dispositionen verknüpft. Teilweise werden dabei in den verschiedenen LebensstilKonzepten aber auch nur die subjektiven Aspekte von Wertorientierungen und Einstel213 Vgl. Vester et al. 2001, S. 23–43. 214 Vgl. exemplarisch Lüdtke 1989; Konietzka 1995; Spellerberg 1996; Georg 1998; Hartmann 1999; Rössel/Otte 2012. 215 Otte 2004, S. 17. 216 Vgl. Hradil 1992, S. 28.

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lungen zu den Lebensstilen gezählt, nicht jedoch das sichtbare Verhalten.217 Zugleich finden sich Ansätze, die, wie die Forschergruppe um Wolfgang Zapf, explizit objektive Strukturbedingungen berücksichtigen und Lebensstil »als relativ stabiles Muster der Organisation des Alltags im Rahmen gegebener Lebenslagen, verfügbarer Ressourcen und getroffener Lebensplanung«218 verstehen. Neben den mit der Lebensplanung einbezogenen Wertorientierungen und Erfahrungen sind die verschiedenen Ressourcen als Chancen und Risiken sowie die Lebenslage als objektive Bedingungen des Lebens und deren subjektive Wahrnehmung hier reflektiert. Zudem ist die Voraussetzung zur Identifizierung von Lebensstilen angesprochen: es handelt sich nicht lediglich um flüchte Formen, sondern um als mehr oder weniger dauerhaft konzipierte Muster, wodurch erst die Möglichkeit zur Distinktion geschaffen wird. Je nach Position im Spannungsfeld von Struktur- vs. Akteurszentrierung betonen die Autor_innen unterschiedliche Aspekte von Lebensstilen, gehen von hohen Freiheitsgraden in der Wahl des Lebensstils aus oder verstehen Lebensstile stärker als Ausdruck der sozioökonomischen Struktur, als klassenbzw. schichtspezifisch. Der Entstrukturierungsansatz stellt auf die Gestaltungsmöglichkeiten individueller Akteure ab und löst diese tendenziell aus soziostrukturellen Bedingungen. Der Lebensstilbegriff ist in dieser Perspektive zudem meist holistisch gefasst, insofern er so breit angelegt ist, dass eine Differenzierung zwischen Lebensstilelementen und davon geschiedenen Strukturen, wie etwa sozialen Positionen, nicht mehr möglich ist.219 Bei Hartmut Lüdtke wird unter Rekurs auf den Rational Choice-Ansatz Lebensstil zum individuell im Handeln aktiv hervorgebrachten »Kontext der Lebensorganisation«220, der zwar objektive Ressourcen miteinbezieht, diesen jedoch nahezu keine restriktive Bedeutung beimisst und letztlich in der freien Wahl aus einer Vielzahl an Optionen aufgeht. Im Zentrum stehen handlungsmächtige Akteure, die Lebensstile als bewusste Entscheidung produzieren, was einer Individualisierung sozialer Ungleichheit entspricht. Karl H. Hörning und Matthias Michailow stellen die Bedeutung von Lebensstilen für die gesellschaftliche Integration in den Mittelpunkt: »Lebensstile fassen wir als abgrenzbare, alltagsweltlich identifizierbare, d. h. durch Fremd- und Selbsttypisierung hergestellte soziale Formationen.«221 An die Stelle früherer Modi der Vergesellschaftung, die ihr Zentrum in der Erwerbsarbeit oder Klassenzugehörigkeit fanden, treten mit dem Wandel der Gesellschaften nun stärker eigenverantwortlich organisierte Lebensstile, die den erweiterten subjektiven Gestaltungsräumen entsprechen und als eine emergente, aber verdichtete Form sozialer Praxis erscheinen, die zudem themenspezifisch orientiert ist, wie etwa um 217 218 219 220 221

Vgl. beispielsweise Gluchowski 1988, S. 16f. Zapf et al. 1987, S. 14. Vgl. Konietzka 1995, S. 55ff. Lüdtke 1989, S. 39. Hörning/Michailow 1990, S. 502.

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den Komplex Zeit.222 In den Vordergrund rücken damit Relevanzsetzung und Selbstverortung der Individuen, strukturelle Bedingungen bilden nur mehr das Hintergrundrauschen. Gesellschaftlich dominierend wird statt einer vertikalen Ungleichheitsordnung eine »Lebensstilsemantik«223, wobei die über Zugehörigkeiten und Abgrenzungen gebildeten Lebensstile durchaus im Sinne Bourdieus in einen Kampf um Distinktion verwickelt sein können. Einen ähnlich gelagerten Lebensstilbegriff verwenden auch Helmuth Berking und Sighard Neckel, die ebenfalls den distinktiven Charakter von Lebensstilen bei Bourdieu entlehnen und zugleich die »subjektiven und gruppenbezogenen Konstruktionsleistungen von Akteuren«224 ins Zentrum stellen. Lebensstile sind so Resultat sozialer Aushandlungsprozesse um Identitätsvorstellungen und Wertorientierungen, die sich gegen andere abgrenzen und eine Vergesellschaftung jenseits traditioneller Formen der Gruppenbildung ermöglichen. Mit der Betonung der sozialen Integration über Lebensstile verbinden die Autoren gleichzeitig eine Ausweitung des Politischen auf den Alltag. Zunehmend finden in der Alltagspraxis die Auseinandersetzungen um die Legitimität kultureller Praktiken und Wertvorstellungen statt, die erhebliches Konfliktpotenzial besitzen, mit der aber auch Lernprozesse verbunden sind: »Der alltägliche Kontakt unterschiedlichster Lebensstile in einem Sozialraum entfaltet eine sozialisierende Kraft […].«225 Den Lebensstilen wird so die Möglichkeit der Selbstreflexion zugesprochen, da sie aktiv auf andere Lebensstile und Umweltbedingungen reagieren. Das Konzept von Berking und Neckel geht dabei jeweils von spezifischen Kontexten, d. h. sozialräumlich sowie historisch begrenzten Lebensstilen aus, deren typische Identitätskonstruktionen, Deutungsmuster und Abgrenzungen in der ethnografisch orientierten Herangehensweise erforscht werden müssen. Sie nehmen diesbezüglich eine dezidierte Gegenposition zu ausschließlich an Merkmalen orientierten Ansätzen ein, die Lebensstile lediglich auf Basis bestimmter Einstellungen und/oder Präferenzen zu Mustern aggregieren, wie etwa die Arbeiten des Sinus-Instituts oder das von Peter Gluchowski für die KonradAdenauer-Stiftung entworfene Lebensstil-Modell.226 Gemein ist den verschiedenen Perspektiven des Entstrukturierungsansatzes dennoch die Betonung einer aktiven Rolle der Individuen bei der Produktion von Lebensstilen, seien sie nun in erster Linie als neue Form der Gemeinschaft vor der Folie zunehmender Individualisierungstendenzen oder als freie Wahlmöglichkeiten jenseits struktureller Begrenzungen konzipiert. Dem Strukturparadigma sind hingegen Ansätze zuzuordnen, die von einem Fortbestand des Einflusses struktureller Bedingungen ausgehen, wenn auch unter veränderten

222 223 224 225 226

Vgl. Hörning/Gerhard/Michailow 1990. Hörning/Michailow 1990, S. 515. Berking/Neckel 1990, S. 482 – Hervorhebung im Original. Ebd., S. 494. Vgl. ebd., S. 498.

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Voraussetzungen.227 Aus dieser Perspektive wird soziale Ungleichheit angesichts gesellschaftlichen Wandels weniger individualisiert, sondern vielmehr um weitere Dimensionen der Ungleichheit, vor allem kulturelle Aspekte erweitert. Die Grundannahme bleibt jedoch bestehen: nur in Abhängigkeit von in der Regel schicht- oder klassenförmig verteilten Ressourcen oder Kapitalformen lassen sich Lebensstile verstehen, Lebensstile können nicht unabhängig von der Sozialstruktur begriffen werden. Statt die Sozialstrukturanalyse abzulösen, findet diese ihre Ergänzung in der Lebensstilanalyse, die ihrerseits die Kontinuität von Klassen- bzw. Schichtstrukturen bestätigt.228 Als bekanntester Vertreter des Strukturierungsansatzes gilt weithin Bourdieu, dessen Ansatz vor allem von Hans-Peter Müller in der Ausarbeitung seines Lebensstilkonzepts aufgegriffen wurde. Kaum eine Arbeit im Feld der Lebensstilforschung ist dabei frei von Einflüssen Bourdieus und hat nicht auf die von Klaus Eder konstatierte »kulturtheoretische Wendung«229 der Klassentheorie reagiert. Da seine Arbeit in Kapitel 4 eine ausführliche Darstellung erfährt und in seinem Umfang sowie der konzeptionellen Anlage mit Abstand den elaboriertesten Versuch darstellt, die Verknüpfung von Lebensstilen und Strukturen zu denken, soll hier nur knapp sein Ansatz skizziert werden. Ausgangspunkt für Bourdieu ist die Annahme einer Homologie zwischen sozialen Positionen und Lebensstilen, die jeweils eine Seite des sozialen Raums darstellen. Die sozialen Positionen sind dabei nach objektiven Kriterien, welche in erster Linie über kulturelles und ökonomisches Kapital bestimmt werden, in einem Raum verortet, dem ein korrespondierender Raum der Lebensstile zugeordnet ist. Dieser Raum der Lebensstile bildet eine Art Ausdrucksseite der sozialen Positionen – »die repräsentierte soziale Welt«230 –, wobei die verschiedenen Lebensstilelemente nur in Relation zueinander verständlich sind. Entscheidend ist, dass sich Präferenzen und Geschmacksurteile, die diesen Raum bevölkern, nur vor dem Hintergrund des von den Akteuren – die vielmehr Agenten sind – inkorporierten Kapitals, mithin ihrer sozialen Position verstehen lassen. Die Vermittlung beider Räume bzw. der objektiven und subjektiven Seite des sozialen Raums leistet das Konzept des Habitus, welches als in der Sozialisation vor dem Hintergrund spezifischer Strukturen erworbenes System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen angelegt ist. Die Habitus sind zwar je individuell geformt, gruppieren sich aber zu kollektiven Schemata, die in Differenz zu anderen als Klassenha227 Peter A. Berger spricht hinsichtlich des Festhaltens an der Triade von Bildung, Beruf und Einkommen für die Sozialstrukturanalyse sowie des Fokus auf Prozesse der Standardisierung und Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen auch vom Kohärenzparadigma, welchem er das Differenzierungsparadigma mit seinem Schwerpunkt auf Brüche und Entstandardisierungsprozesse gegenüber stellt (vgl. Berger 2003). 228 Konietzka 1995, S. 21. 229 Eder 1989, S. 15. 230 Bourdieu 1982, S. 278 – Hervorhebung im Original.

3.2 Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung

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bitus verstanden werden können.231 D. h. es bilden sich abhängig von der sozialen Position Handlungsdispositionen heraus, die zu einer ihnen gemäßen Praxis führen, so dass den sozialen Klassen eine klassenförmig strukturierte Praxis entspricht. Bourdieu greift bei der Konzeption des sozialen Raums mit dem Kapitalbegriff auf Marx’ zurück, erweitert dessen ökonomische Bestimmung jedoch entscheidend um den Aspekt des kulturellen (sowie sozialen) Kapitals, was einer Integration des Weber’schen Standeskonzepts entspricht. In seiner bekanntesten Form strukturiert Bourdieu die grundsätzliche gesellschaftliche Hierarchie der sozialen Positionen vertikal nach dem Gesamtvolumen von ökonomischem und kulturellem Kapital und horizontal nach dem relativem Anteil von ökonomischem zu kulturellem Kapital. Analog dazu ist der Raum der Lebensstile geordnet, da die einzelnen Praxisformen, Vorlieben und Geschmacksurteile in Relation zueinander mit den sozialen Positionen korrespondieren. Auf dem Feld der Kultur wird mittels »feiner Unterschiede«, die Ausdruck unterschiedlicher Lebensstile sind, ein Kampf um die legitime Herrschaft bzw. die legitime Kultur geführt – der ehemals rein ökonomisch bestimmte Klassenkampf findet hier seine Fortsetzung. Für das Verhältnis von Struktur und Handlung, klassen- bzw. schichtspezifischer Position und Lebensstil, wesentlich ist die Vermittlung über das Habituskonzept. Möglich wird damit gleichzeitig die maßgebliche Rolle der strukturellen Bedingungen für die Praxis zu betonen und Lebensstile über eine Art Klassenhabitus an Strukturen rückzubinden, ohne dabei aber für einen unmittelbaren Reflex im Sinne einer Basis-Überbau-Schematik zu votieren. Bourdieu identifiziert in den feinen Unterschieden eine Vielfalt an Lebensstilmerkmalen, die durch den Geschmack als Teil des Habitus vermittelt, einen systematischen Zusammenhang mit der Sozialstruktur besitzen. Der Geschmack ist hierbei »die Erzeugungsformel, die dem Lebensstil zugrunde liegt, anders gesagt, dem einheitlichen Gesamtkomplex distinktiver Präferenzen, in dem sich in der jeweiligen Logik eines spezifischen symbolischen Teil-Raums – des Mobiliars und der Kleidung so gut wie der Sprache oder der körperlichen Hexis – ein und dieselbe Ausdrucksintention niederschlägt.«232 Grob unterschieden werden von Bourdieu der »legitime Geschmack« der herrschenden Klasse, der »prätentiöse Geschmack« der mittleren Klasse und der »populäre Geschmack« der Unterklasse.233 Zugleich ist durch die verschiedenen Bedingungen der Klassenfraktionen, dort im Verhältnis höheres ökonomisches Kapital, hier relativ betrachtet höheres kulturelles Kapital, der Geschmack weiter unterteilt. Die verschiedenen Lebensstile, die Resultat voneinander geschiedener Formen des Geschmacks sind, denen wiederum unterschiedliche Ressourcen in Form von Kapitalien zugrunde liegen, bilden dabei ein systematisches Ausdrucksverhältnis sozialer Ungleichheit, deren Konzeption bei Bourdieu, 231 Vgl. Bourdieu 1987a. 232 Bourdieu 1982, S. 283. 233 Vgl. ebd., S. 401–619.

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wie Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König zusammenfassen, so letztlich dreidimensional angelegt ist: »Soziale Klassen sind unterschieden aufgrund von Lebensbedingungen (vor allem Volumen und Struktur des Kapitals), aufgrund von erworbenen Habitusformen und aufgrund von Lebensstilen.«234 Über das Konzept des Habitus gelingt es Bourdieu zugleich, trotz der dezidierten Betonung des Zusammenhangs von Strukturbedingungen und Lebensstilen, der empirischen Vielfalt von Lebensstilelementen gerecht zu werden. Entscheidend ist dabei auch die Erweiterung der Bestimmungsgründe der sozialen Position durch den Einbezug verschiedener Kapitalformen. Lebensstile sind so nicht lediglich latenter Ausdruck ökonomischer Ungleichheitsstrukturen, sondern zugleich Bestandteil einer ständisch gegliederten Ordnung, die sie als Einsatz im über Distinktion geführten Kampf um gesellschaftliche Herrschaft einbringt. Im Gegensatz zu Bourdieu rekurriert Hans-Peter Müller direkt auf die Ansätze des Entstrukturierungsparadigmas und wirft diesen vor, letzten Endes das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft völlig zu entkoppeln und damit jeglicher soziologischer Ungleichheitsforschung zu entsagen. Die vergrößerten Möglichkeiten der individuellen Stilisierung müssten stattdessen vielmehr vor dem Hintergrund ihrer Bedeutsamkeit für soziale Ungleichheiten untersucht werden, denn »[i]n fortgeschrittenen Industriegesellschaften mit einem hohen Bildungs- und Wohlstandsniveau treten Klassen- und Schichtungsunterschiede trotz fortbestehender materieller Ungleichheitsstruktur vor allem in Gestalt unterschiedlicher Lebensstile hervor.«235 Damit ist zudem die Chance für die herkömmliche Sozialstrukturanalyse benannt, die Fixierung auf die Makroebene zu überwinden und auch die Handlungsebene der Individuen mit einzubeziehen. Lebensstile sind für Müller Resultat der Auseinandersetzung mit den Strukturbedingungen, sowohl hinsichtlich Ressourcenausstattung als auch sozialpolitischer und –ökologischer Rahmungen, was die Annahme eines gewissen Gestaltungsspielraums der Individuen jedoch nicht ausschließt.236 Mit seinem Lebensstilkonzept verknüpft ist der Begriff der Lebensführung – in Anlehnung an Weber237 –, der die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Individuum leistet: »Ich verstehe darunter eine individuelle Bewältigungsleistung, die auf die aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen gerichtet ist und zugleich das Bemühen verrät, dem eigenen Tun subjektiven Sinn zu 234 235 236 237

Fuchs-Heinritz/König 2011, S. 190. Müller 1992b, S. 49. Vgl. Müller/Weihrich 1991. Zur Lebensführung bei Weber vgl. auch Hennis 1987. Müller sieht im Anschluss an Wilhelm Hennis im Konzept der Lebensführung eine der primären Fragestellungen Webers (vgl. Müller 1992a) Nicht zuletzt die als Alternative zur Lebensstilforschung entstandenen Arbeiten zur »Alltäglichen Lebensführung« aus dem SFB »Entwicklungsperspektiven von Arbeit« an der LMU München – neben vielen weiteren waren hier Karin Jurczyk, Werner Kudera und G. Günter Voß maßgeblich beteiligt – entwickeln den Ansatz Webers weiter (vgl. für einen Überblick Kudera/Voß 2000).

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verleihen.«238 Die Lebensführungsmuster finden wiederum ihren Ausdruck in Lebensstilen; Lebensstile als expressive Muster der Lebensführung tragen zur Sichtbarmachung von sozialen Unterschieden und mittels Schließungsmechanismen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei. In dieser Hinsicht betreibt Müller die Fortführung des Bourdieu’schen Ansatzes mit der Hervorhebung der kulturellen Dimension sozialer Ungleichheit. Abhängig sind die Lebensstile – und die verbundenen Lebensführungsstrategien – bei Müller von Ressourcen wie sozialer Herkunft, Beruf, Vermögen oder Einkommen, aber auch Alter und Geschlecht. Als subjektive Dimension sind zugleich die Werteinstellungen über die familiäre, berufliche sowie gruppenspezifische Sozialisation wesentlich, denn sie »definieren die vorherrschenden Lebensziele, prägen die Mentalitäten und kommen in einem spezifischen Habitus zum Ausdruck.«239 Lebensstile untergliedern sich in die verschiedenen Aspekte von expressivem Verhalten, welches sich in Konsum- und Freizeitaktivitäten äußert, und interaktivem Verhalten, worunter sowohl der soziale Verkehr, Freundschaften und Partnerwahl als auch Formen der Mediennutzung fallen. Eine dritte Dimension bildet das evaluative Verhalten, worin Einstellungen und Werthaltungen zum Ausdruck kommen – sichtbar am Wahlverhalten oder religiösen Bindungen. Das kognitive Verhalten beinhaltet das grundlegende Verhältnis zur sozialen Welt und kreist um den Kern der Selbstidentifikation und Abgrenzung. Mittels dieser Dimensionen lassen sich, so Müller, Lebensstile analysieren und in Beziehung zu ihren Trägergruppen bringen.240 Obwohl in diese Konzeption von Lebensstilen maßgeblich Strukturbedingungen miteinfließen, setzt sich Müller im Gegensatz zu Bourdieu dezidiert für die Vermittlung zwischen den beiden Positionen von Strukturierung und Entstrukturierung ein. Gerade der Begriff des Lebensstils scheint ihm dabei in besonderem Maße geeignet, die Sozialstrukturanalyse zu erweitern und Formen sozialer Ungleichheit auch in horizontaler Perspektive miteinzubeziehen, ohne zugleich der Individualisierungsannahme das Wort zu reden. Vielmehr lasse sich mit Hilfe von Lebensstilanalysen das Verhältnis von Strukturbestimmung und Handlungsautonomie in den gegenwärtigen Gesellschaften ausloten.241 Die Ausführung dieser Analysen ist jedoch von Müller selbst nicht betrieben wurden. Die verschiedenen Milieu- und Lebensstilansätze eint der Versuch, eine angemessene Beschreibung der zeitgenössischen Gesellschaften zu leisten, wobei in der Gesamttendenz besonders der Begriff des Lebensstils, sieht man von den Arbeiten Bourdieus und Müllers ab, in relativ enger Kopplung mit der Annahme einer Individualisierung sozialer 238 239 240 241

Müller 1992c, S. 60. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. Müller 1992b, S. 355–380.

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Ungleichheit Verwendung findet. Gerade in den letzten Jahren ist im Rückblick auf den Boom der Lebensstil- und Milieuarbeiten seit den 1980er Jahren immer wieder Kritik an den diversen Ansätzen geäußert worden, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der empirischen Resultate sowie theoretischen Defizite der Forschung.242 Bestätigung hat dabei die Strukturierungsperspektive in der empirischen Überprüfung der Lebensstilmodelle bekommen. Arbeiten unter anderem von Werner Georg243, Gunnar Otte244, Anette Spellerberg245, Anke Wahl246 oder Ulf Wuggenig247 unterstreichen in mehrfacher Weise, dass die Annahme der Individualisierung von Lebensstilen, ihrer freien Gestaltbarkeit und eigenständigen Wirkungsmächtigkeit wenig haltbar ist. Ein ähnliches Resümee zieht auch Petra Stein mit Blick auf die Lebensstilforschung: »Insbesondere die Ergebnisse der neueren Lebensstiluntersuchungen belegen, dass trotz horizontaler Differenzierungen weiterhin Unterschiede in Verhaltens- und Geschmacksäußerungen durch Merkmale vertikaler Ungleichheit bestimmt werden.«248 Die ursprünglich aus dem angloamerikanischen Kontext stammende Diskussion um »Cultural Omnivorousness«249, die neben dem Rekurs auf Bourdieu zugleich auch eine Auseinandersetzung mit Herbert J. Gans’ Popular Culture and High Culture250 darstellt, führt die Debatte um eine Entstrukturierung weiter, fokussiert jedoch weniger umfassend Lebensstile, sondern stärker kulturellen Konsum und bringt sich – verortet zwi242 243 244 245 246 247 248 249

Vgl. den Sammelband zur Lebensstilforschung Rössel/Otte 2012. Georg 1998. Otte 2004, 2005. Spellerberg 1996. Wahl 1997. Wuggenig 1988, 1994; Behnke/Wuggenig 1994. Stein 2007, S. 161. Vgl. Karademir Hazir 2015; Karademir Hazir/Warde 2016; Katz-Gerro 2004; Gayo-Cal 2016. Hauptsächlich geführt wird die Debatte in den Zeitschriften Poetics sowie American Sociological Review und European Sociological Review. 250 Gans 1974. Entgegen einer abwertenden Perspektive auf »Mass Culture«, wie sie in den USA besonders deutlich von Dwight Macdonald (1960a, 1960b; Lewandowski 2013) vertreten wurde, geht Gans von pluralen »Taste Cultures« mit verschiedenen »Taste Publics« aus. An die Stelle einer starken normativen Hierarchisierung von Hochkultur und Populärkultur tritt bei ihm daher die Annahme der grundsätzlichen Gleichwertigkeit unterschiedlicher Geschmackskulturen. Das entscheidende Kriterium zur Differenzierung der Geschmackskulturen – Gans geht von fünf verschiedenen aus – ist der sozioökonomische Status bzw. die soziale Klasse, so dass sich eine umfassende »Taste Structure« ergibt, die soziale Position und Geschmack verknüpft. Politisches Ziel ist für Gans jedoch weniger die Förderung kultureller Mobilität hin zur Hochkultur, sondern eine als »Subcultural Programming« bezeichnete Versorgung der nachfragenden Gruppen der jeweiligen Geschmackskulturen mit relevanten Inhalten. Unter dem Begriff des »Cultural Straddling« wird von ihm zugleich das Phänomen eines kulturübergreifenden Konsums gefasst – etwa das gelegentliche Lesen leichter Literatur durch Rezipient_innen der Hochkultur oder der Museumsbesuch von Personen, die ansonsten »Low Culture« konsumieren –, welches im Mittelpunkt der Diskussion um Omnivorousness steht.

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schen den individualistischen Positionen von Beck und Schulze und der Homologieannahme Bourdieus251 – kritisch gegenüber der Zurechnung von Geschmackskulturen zu spezifischen sozialen Klassen in Stellung. Vertreter_innen der Kultursoziologie, die das Entstehen einer sogenannten »Omnivoren«-Position konstatieren, verknüpfen damit das tendenzielle Schwinden elitärer Abgrenzungen höherer Statusgruppen, eine größere Toleranz252 gegenüber Formen der Populärkultur und einen eklektizistischen Kulturkonsum.253 Insbesondere Richard A. Peterson hat den Begriff des Omnivoren mit Nachdruck in die Kontroverse um Status und Geschmack eingeführt, um Veränderungen der Statushierarchie – in erster Linie in den USA und am Beispiel von Musikpräferenzen – zu beschreiben. Im Kontrast zur Annahme einer primären Differenzierung zwischen snobistischem, elitärem Hochkulturgeschmack und dem populären Geschmack der niedrigeren Klassen, wie dies etwa Bourdieu für Frankreich feststellt, lässt sich Peterson zufolge die zeitgenössische kulturelle Hierarchisierung in wachsendem Maße mittels der Unterscheidung zwischen Omnivoren und Univoren fassen.254 Statushohe Personen sind demnach immer weniger einzig durch eine Form hochkultureller Distinktion gekennzeichnet; vielmehr partizipieren sie zunehmend auch an einer Vielzahl an populären Kulturformen. Diesen statushohen kulturellen ›Allesfressern‹, die vielfältigen kulturellen Aktivitäten nachgehen, stehen statusniedrige Personen gegenüber, die mehrheitlich nur an wenigen kulturellen Formen teilhaben, welche selbst wiederum vornehmlich populärer Art sind. Effekt dieser Transformation ist laut Peterson eine größere Offenheit und Toleranz gegenüber der Populärkultur aus Sicht der Hochkultur und die schwindende Relevanz der Partizipation an Hochkultur als Statusmarker und Mittel der Exklusion.255 Allerdings wurde zugleich von verschiedenen Autor_innen darauf hingewiesen, dass es sich beim omnivoren Kulturkonsum nicht um eine allgemeine Entwicklung aller status251 Vgl. Chan/Goldthorpe 2006. 252 Vgl. hierzu auch Lizardo/Skiles 2016. 253 Vgl. exemplarisch hierzu Peterson 1992; Peterson/Kern 1996; Warde/Martens/Olsen 1999; LópezSintas/García Álvarez 2002; López-Sintas/Katz-Gerro 2005; Chan/Goldthorpe 2006; GariaAlvarez/Katz-Gerro/López-Sintas 2007; van Eijck/Lievens 2008; Jaeger/Katz-Gerro 2010; Warde 2011; Roose/van Eijck/Lievens 2012; Katz-Gerro/Jaeger 2013. Eine netzwerkanalytische Interpretation, die »Omnivorousness« mit dem von Ronald S. Burt eingeführten Konzept der strukturellen Löcher verknüpft, findet sich bei Omar Lizardo (2014a). 254 Douglas B. Holt hebt allerdings in seiner Kritik der US-amerikanischen Bourdieu-Rezeption hervor, dass für Bourdieu durchaus nicht nur die Konsumobjekte, sondern zugleich auch die Aneignungsweisen relevant sind (vgl. Holt 1997, 1998). Zentral sei hierfür die von Bourdieu angesprochene Möglichkeit der Aneignung selbst alltäglichster Gegenstände im Modus des rein ästhetischen Blicks (vgl. Bourdieu 1982, S. 25, 80). Als besonders distinktiv erscheint somit die Fähigkeit selbst populäre Kultur unter Aspekten der Form gegenüber der Funktion zu konsumieren, was Annahmen zur Omnivorousness vorwegnimmt (vgl. hierzu auch Lizardo/Skiles 2012; Daenekindt 2017). 255 Vgl. Peterson 1992; Peterson/Simkus 1992; Peterson/Kern 1996; van Eijck 2000; Peterson 2005.

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hohen Gruppen handelt, sondern eher um spezifische Segmente, die sich vor allem aus jüngeren Kohorten zusammensetzen.256 Dennoch sprechen einige Autor_innen im Gegensatz zu der von Bourdieu angenommenen Homologie-These zum Teil von einer feststellbaren Heterologie zwischen objektiven Positionen und Geschmackskulturen in den zeitgenössischen Gesellschaften.257 Die »Omnivorousness«-Debatte hat zu einer deutlichen Belebung der Auseinandersetzung mit Geschmackskulturen geführt und eine Vielzahl an empirischen Studien inspiriert, die sich der Frage nach einer möglichen Auflösung kultureller Hierarchien widmen. Gegen den Befund eines vermeintlichen Verschwindens von Grenzziehungen haben vor allem Arbeiten im Anschluss an Bourdieu Einspruch erhoben und auf dem Fortdauern des »Cultural Legitimacy Model«258 – wenn auch unter veränderten Bedingungen – insistiert.259 So interpretiert etwa Philippe Coulangeon die Betonung des Eklektizismus statushoher Gruppen als Zeichen einer neuen Form der Distinktion, die weniger eine Widerlegung der Bourdieu’schen Annahmen als eine Ergänzung bzw. Verschiebung darstellt.260 Zahlreiche Arbeiten, insbesondere aus dem skandinavischen und britischen Raum, kommen schließlich zu dem Ergebnis, dass auch heute noch deutliche Zusammenhänge zwischen sozialer Position und verschiedenen Ausdrucksfor256 Vgl. z. B. van Eijck 2001; López-Sintas/García Álvarez 2002; van Eijck/Knulst 2005; Kraaykamp/ van Eijck/Ultee 2010. 257 Vgl. Peterson 1992, 1997; Katz-Gerro 2002; López-Sintas/Katz-Gerro 2005; Sullivan/Katz-Gerro 2006; Garia-Alvarez/Katz-Gerro/López-Sintas 2007; Lizardo/Skiles 2012; Katz-Gerro/Jaeger 2013. 258 Vgl. Coulangeon 2003. 259 Dabei wurde nicht nur aus der Perspektive Bourdieus Kritik an der von Peterson eingebrachten Begrifflichkeit des Omnivoren geübt. Auch Bernard Lahire, der einen am Individuum ausgerichteten soziologischen Ansatz vertritt und grundsätzlich entgegen homologer sozialer Praktiken und habitueller Dispositionen auf der Variabilität und Kontextualität individueller sozialer Praxis beharrt, weist die zoologische Metapher des »Omnivoren« als essentialistisch zurück, da sie aus seiner Sicht die unterschiedlichen Handlungssituationen vernachlässigt, die intra-individuellen Abweichungen der »pluralen Akteure« ausblendet und fälschlicherweise nur einer sozialen Klasse ein »Dissonant Cultural Profile« zugesteht. Letztlich kann keine Statusgruppe deutlich als »univor« bezeichnet werden, da für alle Gruppen eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit besteht, zur »omnivoren« Form des Kulturkonsums zu gehören statt einem lediglich konsonanten, nur legitimen oder nur illegitimen Geschmack zu frönen (vgl. Lahire 2008; zu Lahire vgl. Lahire 2003, 2011; Trizzulla/GarciaBardidia/Rémy 2016). 260 Vgl. Coulangeon 2003; Coulangeon/Lemel 2007; Warde/Wright/Gayo-Cal 2008. Vgl. hierzu auch Arbeiten, die verschiedene Formen der Offenheit sowie Aneignungsweisen des Konsums differenzieren, wie etwa Ollivier 2008; Roose/van Eijck/Lievens 2012; Jarness 2015. Sam Friedman weist zudem darauf hin, dass »Omnivorousness« nicht nur positive Aspekte und »Social Rewards« mit sich bringt, sondern bei sozial Aufsteigenden – der typischen Gruppe mit vermeintlich omnivorem Geschmack – zumeist ein Effekt der Laufbahn, jener Bourdieu’schen »Trajectoire«, ist, der dazu führt, dass aus Mangel an inkorporiertem kulturellem Kapital eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der legitimen Kultur bestehen bleibt und sich bei vielen Personen das Gefühl einstellt, »culturally homeless« zu sein (vgl. Friedman 2012).

3.2 Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung

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men des Lebensstils zu finden sind, wenig für eine Auflösung elitärer Positionen spricht und omnivorer Kulturkonsum kaum als Zeichen einer grundlegenden Demokratisierung zu betrachten ist.261 Neben dem Bereich des musikalischen Geschmacks – von Bourdieu selbst als am stärksten klassifizierend und die Statusposition markierend bezeichnet262 – haben speziell auch Ernährungspräferenzen, Essgewohnheiten und Kulinarik – auch hier sei an die eindringlichen Schilderungen in den »feinen Unterschieden«263 erinnert – Aufmerksamkeit erfahren. So stellen etwa Josée Johnston und Shyon Baumann in einer Untersuchung der Legitimität von Speisen vor diesem Hintergrund fest, dass zwar die klassische Opposition von Hochkultur und Populärkultur – von Gourmetküche im Stile der Haute Cuisine und einfachen populären Gerichten wie Hamburgern – brüchig geworden ist, der eigentlich grundlegende Gegensatz jedoch weiterhin Bestand hat und legitime von illegitimer Kultur scheidet.264 Die Grenze zwischen beiden Sphären wird dabei im Rahmen eines inklusiven Ethos, der mit Begriffen wie Authentizität und Exotismus operiert, neu ausgehandelt und gezogen, um Distinktion mit demokratischen Vorstellungen zu vermitteln. Trotz der Öffnung der gehobenen Küche erhalten demnach nur gewisse Aspekte der einfachen Kochkunst die entsprechende Konsekration, während ein Großteil der vor allem leicht zugänglichen Formen, wie etwa Fast Food, als illegitim verworfen wird oder lediglich im Modus der Aneignung von Kitsch legitim konsumiert werden darf.265 »Omnivorousness« erscheint aus diesem Blickwinkel nicht als wesentliche Aufweichung der Hierarchisierung kultureller Formen und größere Toleranz, sondern lediglich als Verschiebung der Relationen im Feld der kulinarischen Praktiken, wo der Rekurs auf offen elitäre Abgrenzungen subtileren Formen der Distinktion gewichen ist, die Trennung zum Illegitimen jedoch aufrechterhalten bleibt. An diese Position schließt auch die Diskussion um neue Distinktionsmöglichkeiten an, die als »Emerging Forms of Cultural Capital«266 Ausdruck einer wachsenden hierarchischen Strukturierung der populären Kultur sind und dort Bereiche legitimen und illegitimen 261 Vgl. z. B. Prieur/Rosenlund/Skjott-Larsen 2008; Purhonen/Gronow/Rahkonen 2011; Atkinson 2011, 2017; Hjellbrekke/Jarness/Korsnes 2014; Lebaron/Bonnet 2014; Rosenlund 2009, 2017; Flemmen/Jarness/Rosenlund 2017. Teilweise verbindet die Kritik dabei Bourdieus Ansatz mit der von Michèle Lamont zusätzlich eingebrachten Betonung symbolischer Grenzziehungen auf Basis moralischer Urteile (vgl. Jarness 2017b; vgl. zu Lamont Lamont 1992; Lamont/Molnár 2002; Pachucki/Pendergrass/Lamont 2007; Sachweh 2013). Offenheit und Toleranz, so zeigt sich aus diesem Blickwinkel, gelten zwar insbesondere für die höheren Klassen als moralischer Imperativ, dessen Kehrseite – deutlich vorhandene Abgrenzungsbemühungen von oben und Klassismus – offenbart sich jedoch häufig erst in ethnografischer Forschung und qualitativen Interviews (vgl. Jarness/ Friedman 2017). 262 Vgl. Bourdieu 1982, S. 41f. 263 Vgl. ebd., S. 311–322. 264 Vgl. Johnston/Baumann 2007, 2009; vgl. hierzu auch Flemmen/Hjellbrekke/Jarness 2017. 265 Vgl. Johnston/Baumann 2007, S. 197, Fußnote 36. 266 Vgl. Prieur/Savage 2013; Roose 2014.

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3 Soziologische Ungleichheitsforschung

Geschmacks markieren sowie homologe Aneignungsweisen differenzieren.267 In einer Untersuchung des Nahrungsmittelkonsums zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommen zudem Will Atkinson und Christopher Deeming zu dem Schluss, »that the food space in contemporary Britain and its homology with the social space of classes are remarkably similar to those documented by Bourdieu for France fifty years ago.«268 Die ästhetischen Dispositionen der verschiedenen Klassen lassen sich demnach noch immer in der Gegenüberstellung von leicht und exklusiv vs. schwer, günstig und sättigend zusammenfassen, ergänzt lediglich um die Bedeutung des ethischen Konsums, der in besonderem Maße diejenigen auszeichnet, die überproportional viel kulturelles Kapital besitzen.269 Raum für eine Infragestellung der Legitimität dominanter Praktiken und der damit einhergehenden Hierarchisierung, wie es die ursprünglichen Vertreter der These omnivorer Konsumtion erhofften, lässt sich den Autoren zufolge hingegen kaum ausmachen.270 Darüber hinaus wurde auch grundsätzlich Kritik am methodischen Vorgehen und einer verkürzten Lesart der Bourdieu’schen Annahmen in Arbeiten zur »Omnivorousness« geäußert.271 Insgesamt zeigen die Debatte um die Veränderung von Publika sowie Geschmackshierarchien und die zahlreichen diesbezüglichen Arbeiten, dass von einer tiefgreifenden Entstrukturierung der Lebensstilräume keineswegs die Rede sein kann, sondern vielmehr eine Reartikulation von Abgrenzungsbemühungen unter veränderten Konsumbedingungen stattzufinden scheint. Zudem lässt sich auch außerhalb der unmittelbar auf Lebensstile bezogenen Forschung in vielfältigen Zusammenhängen das Wiedererstarken vertikal orientierter sozialer Ungleichheiten feststellen. Bekanntheit haben dabei vor allem aus der Bildungsforschung die Befunde der PISA-Studien über den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungslaufbahn272, das Schlagwort der Prekarität in der Soziologie273 267 Vgl. Rössel/Bromberger 2009; Prieur/Savage 2011; Savage/Gayo 2011; Meuleman/Savage 2013; Friedman/Savage/Hanquinet/Miles 2015; Rössel/Schroedter 2015; Varriale 2016. 268 Atkinson/Deeming 2015, S. 893. 269 Atkinson und Deeming unterscheiden zusätzlich, wie auch Bourdieu, zwischen den Dispositionen der Klassenfraktionen auf Basis des relativen Anteils von ökonomischem Kapital zu kulturellem: »the rich and expensive are still opposed to the lean and the healthy« (ebd.). Eine kritische Analyse ihrer diesbezüglichen Interpretation findet sich bei Flemmen/Hjellbrekke 2016, eine daran anschließende Verteidigung in Atkinson 2016. 270 Vgl. hierzu auch Vandebroeck 2017. 271 Vgl. Wuggenig 2007. Nicht nur Ulf Wuggenig, sondern auch Richard A. Peterson selbst hebt die problematische Anwendung der Omnivorousness-These auf das Feld der bildenden Kunst bei Tak Wing Chan and John H. Goldthorpe hervor (vgl. Peterson 2007). Für eine Replik von Chan und Goldthorpe vgl. Chan/Goldthorpe 2007a. Zum grundsätzlich kritischen Status der Vergleichbarkeit verschiedener Arbeiten zum kulturellen Konsum vgl. die Metaanalyse bei Kirchberg/Kuchar 2014; zur Frage der Übertragbarkeit auf den deutschsprachigen Kontext vgl. Neuhoff 2001; Rössel 2006. 272 Vgl. exemplarisch Baumert et al. 2001; Klieme et al. 2010; Prenzel/Sälzer/Klieme/Köller 2013. Neben dem »Programme of International Student Assessment« (PISA) der OECD, welches Kompe-

3.2 Neuere Ansätze der Ungleichheitsforschung

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sowie zuletzt in Bezug auf Einkommens- und Vermögensungleichheiten die Arbeiten des französischen Ökonomen Thomas Piketty274 erlangt. Auch aus der klassischen Schichtungsforschung bekräftigen etwa die Arbeiten von Hermann Strasser275, Hans-Peter Blossfeld276 und Rainer Geißler277 die Stabilität vertikaler Ungleichheiten und die weiterhin zentrale Bedeutung der klassischen Trias von Bildung, Beruf und Einkommen. Die Elitenforschung kommt zudem wiederholt zu dem Schluss, dass eine Reproduktion der klassischen Ungleichheitsstruktur im Zugang zu Spitzenpositionen in Wirtschaft und Wissenschaft besteht.278 An diese Befunde der neueren soziologischen Ungleichheitsforschung schließt auch diese Arbeit zu digitalen Ungleichheiten mit der Frage an, inwiefern Handlungsmöglichkeiten im Internet – als Zugang und Verwendung – in Abhängigkeit von der sozialen Position stehen und in welchem Maße sich gesellschaftliche Strukturierungen entlang ungleich verteilter Ressourcen entgegen den Individualisierungsannahmen als weiterhin einflussreich auf Lebenschancen – und vor allem jenen, die sich mit dem Internet eröffnen – zeigen. Damit fragt die vorliegende Untersuchung zugleich nach der Reproduktion der bestehenden Ungleichheitsstrukturen, wie auch Möglichkeiten der Transformation beleuchtet werden. Adressiert wird zudem die ungleichheitssoziologische Debatte um das Fortwirken der strukturierenden Kraft zentraler vertikaler Ungleichheitsdimensionen bzw. deren tendenzieller Auflösung zugunsten horizontaler Differenzierungen. Vor dem Hintergrund der Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Teilhabe an Gesellschaft mit der Einführung des Internets und der besonderen Relevanz digitaler Medien, wie sie die in Kapitel 2 dargestellten Großtheorien thematisieren, steht im Zentrum die

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278

tenzen von 15-jährigen Schüler_innen vergleicht, kommen auch die auf die Primarstufe ausgerichteten, international vergleichend angelegten Studien IGLU/PIRLS (Internationale GrundschulLese-Untersuchung/Progress in International Reading Literacy Study) sowie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) zu ähnlichen Schlüssen. Sowohl Leseniveau als auch mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschüler_innen hängen eng mit dem Sozialstatus zusammen (vgl. Bos/Tarelli/Bremerich-Vos/Schwippert 2012; Bos/Wendt/Köller/ Selter 2012. Vgl. exemplarisch Schultheis/Schulz 2005; Castel/Dörre 2009; Bude 2008 sowie die Sammelbände Bude/Willisch 2006; Bude/Willisch/Vogel/Callies 2008. Vgl. Piketty 2013; vgl. auch Atkinson/Piketty 2007, 2010. Vgl. Engel/Strasser 1998; Strasser/Dederichs 2000. Vgl. Mayer/Blossfeld 1990; Blossfeld/Mayer 1997 sowie exemplarisch für eine Vielzahl von Sammelbänden, die von Blossfeld mitherausgegeben wurden, Blossfeld/Buchholz/Hofäcker/Kolb 2011; Blossfeld/Kilpi-Jakonen/Vono de Vilhena/Buchholz 2014; Blossfeld/Skopek/Triventi/Buchholz 2015; Blossfeld/Buchholz/Skopek/Triventi 2016; Blossfeld/Kulic/Skopek/Triventi 2017. Geißler macht zudem explizit die Milieu- und Lebensstilforschung als »neue Theorie der Klassenlosigkeit« mitverantwortlich für die Expansion der Illusion einer Chancengleichheit im Bildungssystem (vgl. Geißler 1996, 2004). Vgl. z. B. Krais 2001; Hartmann 2002, 2003; Hradil/Imbusch 2003; Khan 2011.

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3 Soziologische Ungleichheitsforschung

Analyse, welche sozialen Gruppen vom Zugang zum Internet und den verschiedenen Internetaktivitäten profitieren können und in welchen Bereichen Formen der Benachteiligung sichtbar werden. Als besonders hilfreich für die Untersuchung zeigen sich dabei die von Bourdieu eingeführten Konzepte des Habitus und der verschiedenen Kapitalformen, die im folgenden Kapitel dargestellt werden. Sie ermöglichen zum einen mit dem Habitusbegriff den Nexus zwischen sozialer Struktur bzw. sozialen Positionen und Handlungen zu denken, ohne hierbei weder einer objektivistischen noch einer subjektivistischen Perspektive zu verfallen. Zum anderen lassen sich mit dem Kapitalbegriff und insbesondere dem kulturellen Kapital auf nicht-reduktionistische Weise gesellschaftlich relevante Ressourcen thematisieren, die über das Primat des Ökonomischen hinausgehen. Gekoppelt sind beide Konzepte zudem an die Vorstellung eines sozialen Raumes, der einerseits nach der objektiven Verteilung von Kapitalien strukturiert ist und in dem sich andererseits vermittelt über den Habitus Lebensstilpraktiken homolog verorten lassen.

4

Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Die im vorherigen Kapitel knapp skizzierte Position Bourdieus im Rahmen der Ungleichheitssoziologie erfährt im Folgenden anhand des Habituskonzepts, der Vorstellung des sozialen Raumes sowie der Unterscheidung verschiedener Kapitalarten eine erweiterte Darstellung. Insbesondere der Ansatz Bourdieus bietet sich für die Untersuchung von Ungleichheiten und damit auch der digitalen Ungleichheiten an, da es sich nicht lediglich um einen innovativen Beitrag zur Strukturierungs- vs. Entstrukturierungsdebatte handelt, sondern um den dezidierten Versuch, den Gegensatz von Handlung und Struktur zu überwinden und beide Perspektiven in eine Theorie der Praxis zu integrieren. Zentral sind hierfür das Konzept des Habitus und die damit gekoppelte Vermittlung von sozialen Positionen und Praktiken. Zudem bietet sein Fokus auf unterschiedliche Kapitalformen die Möglichkeit, kontextabhängig die Relevanz von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital für die Praktiken im Internet zu bestimmen und ausgehend davon die unterschiedliche Akkumulation dieser Kapitalien zu thematisieren. Mit dem sozialen Raum lässt sich zudem die Korrespondenz von sozialen Positionen und Praxisformen relational denken sowie eine Verortung ihrer Beziehungen zueinander vornehmen.

4.1

Das Habituskonzept

Bourdieus ungleichheitssoziologischem Ansatz liegt die Trias der Begriffe Habitus, Kapital und Feld279 zugrunde. Nahezu alle seine Arbeiten rekurrieren in unterschiedlicher 279 Auf den Feldbegriff wird im Folgenden nicht näher eingegangen. Zwar verwendet Bourdieu bereits in Die feinen Unterschiede seine prominente Formel »[(Habitus) (Kapital)] + Feld = Praxis«, um darauf hinzuweisen, dass Praxisformen jeweils feldspezifisch zu verstehen sind (Bourdieu 1982, S. 175). Letztlich steht in der ungleichheitssoziologischen Betrachtung der Sozialstruktur jedoch der soziale Raum im Vordergrund (vgl. hierzu auch Rehbein/Saalmann 2008). Die Analyse gesellschaftlicher Teilbereiche – einzelner Felder – rückt vor allem in den späteren Arbeiten Bourdieus ins Zentrum. Dabei dient der Feldbegriff dazu, die relativ autonomen Logiken etwa der kulturellen Produktion, des Journalismus oder der Wissenschaft thematisieren zu können. Erst im Zusammentreffen je konkreter Strukturbedingungen eines Feldes und der Handlungsmöglichkeiten auf Basis von Kapitalverfügung und Dispositionen lässt sich die realisierte Praxis verstehen. Da hier der gesamtgesellschaftliche Bereich im Fokus steht, wird auf die Feldbegrifflichkeit weitestgehend verzichtet bzw. diese im umfassenden Sinne des sozialem Raumes als eines »Kräftefeldes« verwendet, welches sich als ein »Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegen-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rudolph, Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2_4

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Weise auf diese Konzepte, die jedoch keineswegs als völlig starr zu verstehen sind, sondern von Bourdieu immer wieder neu justiert und an gegebene Umstände angepasst werden. So finden sich vielfältige Formulierungen dessen, was der Habitus sei oder in welcher Weise sich etwa symbolisches Kapital darstellt. Im Folgenden soll kurz in das Habitus-Konzept Bourdieus eingeführt werden, erweitert um eine anschließende Darstellung des von Bourdieu vorgeschlagenen Verständnisses des sozialen Raums sowie der verschiedenen Kapitalformen. Der Begriff des Habitus bildet in Bourdieus Arbeiten das zentrale Konzept mittels dessen die spezifische Regelmäßigkeit der Praxis von Akteuren über ihre soziale Position und ihre Sozialisation erklärbar wird. Damit wird die Tatsache, dass trotz aller Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten eine gewisse Übereinstimmung im Denken, Wahrnehmen und Handeln von Akteuren in ähnlichen sozialen Positionen feststellbar ist, aufgegriffen und zur grundlegenden Erklärungsdimension für die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen und somit auch sozialer Ungleichheiten. Für Bourdieu ist die soziale Praxis demnach weder völlig unabhängig von Strukturen einzig dem subjektiven Willen unterstellt noch vollkommen durch Strukturen bestimmt. Vielmehr ist sie geprägt durch verinnerlichte viable Dispositionen, die im gesamten Prozess der Sozialisation über Institutionen, wie vornehmlich Elternhaus und Schule, mal mehr mal weniger bewusst eingeübt worden sind und eine Art sedimentierte Geschichte des Individuums bilden. Die soziale Position der Herkunft mit den jeweils spezifischen Möglichkeiten des Handelns – worunter auch Denk- und Wahrnehmungsformen fallen – sowie die Laufbahn innerhalb von Institutionen beeinflussen in großem Maße den Spielraum zukünftiger Handlungen, der Individuen zur Verfügung steht. Bourdieu greift mit dem Habitus ein Konzept auf, welches schon in der Antike Verwendung fand und auf das so verschiedene Autoren wie etwa Norbert Elias, Edmund Husserl, Max Weber, Marcel Mauss oder Erwin Panofsky rekurrieren.280 Besonders Mauss und Panofsky sind dabei von entscheidendem Einfluss auf die Bourdieu’sche Fassung des Begriffs gewesen. über sich als Zwang auferlegen« ausnimmt (Bourdieu 1985, S. 10). Grundlegende Darstellungen und Einführungen zu den verschiedenen Begriffen Bourdieus finden sich bei Jenkins 1992b; Swartz 1997; Lane 2000; Schwingel 2005; Fröhlich/Rehbein 2008; Grenfell 2008; Barlösius 2011; FuchsHeinritz/König 2011; Rehbein 2011; Müller 2014. Die sich an Bourdieus Feldbegriff anschließenden Studien sind kaum mehr überschaubar, hat sich doch dieser Ansatz insbesondere für die Analyse verschiedener Bereiche kultureller Produktion als äußerst fruchtbar erwiesen (vgl. exemplarisch zum Feldbegriff sowie Erweiterungen Martin 2003; Bernhard/Schmidt-Wellenburg 2012a, 2012b; Hilgers/Mangez 2015; Sapiro 2015; Buchholz 2016; Albright/Hartman/Widin 2017). 280 Bei Elias ist der Habitus-Begriff bereits in seinem Frühwerk Der Prozeß der Zivilisation präsent, taucht dann aber erst in späten Schriften wieder auf (vgl. Elias 1976, 1989). Typisch für die grundsätzliche Begriffskonjunktur des Habitus-Konzepts in den Sozialwissenschaften ist dabei der Umstand, dass in ersten englischen Übersetzungen des Frühwerks von Elias »Habitus« noch in umschreibende Begrifflichkeiten wie »Personality Makeup« übertragen wurde, heute jedoch wieder in

4.1 Das Habituskonzept

4.1.1

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Hintergrund des Habituskonzepts

Bereits Aristoteles verwendet in der Nikomachischen Ethik, einem seiner einflussreichsten Texte, der auch heute noch Relevanz als Modell ethischer Handlungen besitzt281, den Begriff der hexis282 – das griechischen Pendant zum lateinischen »Habitus«283. Gebrauch findet die hexis in der Bestimmung dessen, was allgemein unter Tugend respektive Tüchtigkeit gefasst wird. Diese von Aristoteles so bezeichnete ethische arete wird – mittels des Ausschlusses von einerseits Leidenschaften und andererseits Fähigkeiten im Sinne von Anlagen – als dauerndes Verhalten gefasst. Hexis ist damit jene innere Einstellung und anhaltende Beschaffenheit des Menschen oder der »Seele«, die die Permanenz ethischer Handlungen garantiert. Zugleich wird diese Haltung auf der Grundlage von Erfahrung und Übung erworben.284 Schon bei Aristoteles findet sich dabei ein Topos, den auch Bourdieu immer wieder aufgreift: der durch Übung zur Gewohnheit geronnenen »zweiten Natur«: »[I]st doch auch der Grund, weshalb die Gewöhnung schwer zu ändern ist, eben der, daß sie zur zweiten Natur geworden ist.«285 Aufgegriffen wird der Begriff des Habitus anschließend insbesondere in der sich stark auf Aristoteles stützenden scholastischen Philosophie, allen voran bei Thomas von Aquin in den Summa theologiae. In seinen Schriften wird der Habitus dabei zum »Zu-

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der originalen Schreibweise verwendet wird. Trotz vielfältiger Bezugnahmen auf Elias gibt Bourdieu für sein Habitus-Konzept keinen Verweis auf die Arbeiten von Elias an. Unterschieden sind die Ansätze durch den wesentlich globaler konzipierten Charakter des Habitus bei Elias, der eine viel stärkere Gemeinwesenorientierung aufweist und beispielsweise als nationaler Habitus gefasst ist. Dem gegenüber betont Bourdieu vor allem Habitus als Ausdruck sozialer Position, mithin explizit als Klassenhabitus. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Konzepte auch Schumacher 2013. Weber, zentraler Einfluss für Bourdieu, verwendet den Begriff etwa in seinen religionssoziologischen Arbeiten, jedoch ohne ihn systematisch auszuarbeiten (vgl. Weber 1990). In der Phänomenologie Husserls wiederum, die Bourdieu ausführlich studiert hat und einer offensiven Kritik aussetzt, finden sich Überschneidungen mit Bourdieus Fassung des Habitus, ohne dass dieser darauf direkt rekurriert hätte. Mitunter wird dabei Husserls begriffliche Bestimmung im Zuge des inzwischen klassisch gewordenen Determinismusvorwurfs gegenüber Bourdieu, unter anderem angesichts der offen gehaltenen Möglichkeit einer Wahl des Habitus, als überlegen angesehen (vgl. Throop/Murphy 2002). Eine ähnlich gelagerte Favorisierung der Phänomenologie Merleau-Pontys und seines »Habit«-Konzepts findet sich bei Nick Crossley (2001). Vgl. etwa den grundlegend auf der Nikomachischen Ethik aufbauenden Ansatz Martha C. Nussbaums (1998). Bourdieu ist zwar allgemein für die Verwendung des Habitus-Begriffs bekannt und hat eine Renaissance des Konzepts unter diesem Namen eingeleitet, dennoch findet sich auch in seinen Arbeiten mitunter die Wendung »hexis« für die körperliche Dimension des Habitus. Etymologisch ist hexis vom griechischen Verb echein für »haben« abgeleitet, synonym stammt habitus vom lateinischen habere für »haben« ab. Vgl. auch die ausführliche Darstellung zum Begriff der hexis bei Thornton C. Lockwood (2013). Vgl. Aristoteles 1909, II. Buch, insb. 1. Kapitel, 2. Kapitel und 6. Kapitel, S. 26–29, 33–36. Ebd., VII. Buch, 7. Kapitel, S. 160.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

stand« – so die übliche Übersetzung von Habitus bei Thomas –, der gegenüber der als kurzfristig gefassten »Disposition« die Eigenschaft besitzt, nur schwer veränderbar zu sein, da die ihm zugrundeliegenden Ursachen kaum wandelbar sind. Aus der Disposition wird hierbei der Habitus wie »aus dem Knaben ein Mann.«286 D. h. auch bei Thomas erscheint bereits das Element der Entwicklung von eher schnelllebigen Zuständen, Dispositionen, die mit der Zeit zum dauerhaften Zustand werden. Zugleich ist der thomistische Habitus auch keine einfach aufzugebende Gewohnheit, wie sie in der Verwendung von »Bad Habits« ihren Ausdruck findet, deren Ablegen sich zumindest im Rahmen des Möglichen bewegt. Der Habitus ist dabei jener Zustand, der die vielfältigen Handlungsmöglichkeiten der Subjekte in eine bestimmte tätige Richtung zu lenken vermag und damit zwischen Potenz und Tätigkeit vermittelt.287 Diese Scharnierfunktion steht etwa im Gegensatz zu den Kräften der Natur, die keiner Form des Zustands als der Vermittlung zur tatsächlichen Handlung bedürfen, da ihr Vermögen bereits gerichtet ist. Weil der Habitus eine Art Vermittlungsinstanz bildet, ist er zudem nicht unmittelbar erkennbar, sondern erst über die ins Werk gesetzten Tätigkeiten.288 Aus den vollzogenen Handlungen, die durch die richtende Kraft des Habitus möglich wurden, lässt sich dieser wiederum rekonstruieren, wobei Thomas zufolge gerade jene Tätigkeiten, die plötzlich und ohne bewusste Berechnung vollzogen werden, für das Vorhandensein eines Habitus sprechen.289 Der Habitus ist so weniger überlegte Wahl aus den Vermögen mit Blick auf Tätigkeiten, sondern verinnerlichte Entscheidung hinsichtlich einer Vielzahl an prinzipiellen Möglichkeiten. Im Gegensatz zu Bourdieus Entwurf, der später den Habitus durch unterschiedliche soziale Bedingungen geprägt konzipiert und dadurch Unterschiede zwischen verschiedenen Habitus einführt, differenziert Thomas unsystematisch in seinen Werken diverse Arten des Habitus. So gibt es, unter anderem nach den zugrundeliegenden Vermögen bzw. Eigenschaften des Zustandes aufgeteilt, neben weiteren etwa den Habitus des Körpers, des Glaubens, den »habitus intellectivus« als dem Habitus der Vernunft und den »habitus operativus« als dem tätigen Zustand,290 wobei gerade letzterem das Interesse Bourdieus gilt. Mithin ließe sich Bourdieus Vorhaben als Kritik der gesellschaftlichen, sozialen Bedingungen dieses »habitus operativus« verstehen.

286 Thomas von Aquin 1886–1892, Prima Pars Secundae Partis, Quaestio 49, Articulus 2. 287 So heißt es bei Thomas in den Summa theologiae: »Handelt es sich aber um Vermögen, von welchen verschiedenartige Thätigkeiten ausgehen können, so bedürfen sie, um in einer bestimmten Richtung thätig zu sein, mancherlei Zustände, die sie für das Thätigsein vollenden.« (Thomas von Aquin 1887, Prima Pars Secundae Partis, Quaestio 49, Articulus 4). 288 Vgl. Thomas von Aquin 1886–1892, Prima Pars, Quaestio 87, Articulus 2. 289 Vgl. Schütz 1958, S. 354. 290 Für eine Darstellung der verschiedenen Arten von Habitus bei Thomas, deren Bedeutung durchaus changiert, vgl. ebd., S. 349–355.

4.1 Das Habituskonzept

4.1.2

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Erwin Panofsky und Marcel Mauss

Bourdieu entwickelt sein Konzept des Habitus in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Erwin Panofsky und Marcel Mauss.291 Insbesondere Panofskys 1951 erschienene, kurze, aber umso einflussreichere Studie Gothic Architecture and Scholasticism292 hat großen Anteil an der Entwicklung des Habitusbegriffs. So ist es letztlich Bourdieu selbst, der die Übersetzung in seiner eigenen Reihe »Le sens commun« im Verlag Éditions de Minuit besorgt und damit Panofsky 1967 in Frankreich einführt. Zudem erscheint in der französischen Ausgabe bereits als Nachwort der Text Bourdieus, der später unter dem Titel »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis« in dem schmalen Sammelband Zur Soziologie der symbolischen Formen auf Deutsch veröffentlicht wird.293 In Gothic Architecture and Scholasticism geht Panofsky dem inneren Zusammenhang zwischen gotischer Architektur und der Philosophie der Scholastik nach.294 Beide führt er auf eine gemeinsame Denkweise respektive »Denkgewohnheit« zurück, die er im englischen Original als »Mental Habits« bezeichnet. Dabei parallelisiert Panofsky die verschiedenen Phasen der Gotik mit den Entwicklungsstufen der scholastischen Philosophie. Neben der zeitlichen Nähe macht er zudem auch eine räumliche Nachbarschaft aus. Sowohl Philosophie als auch Architektur haben ihr schöpferisches Zentrum um 1200 im Gebiet der Île de France, dem kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Zentrum Frankreichs.295 Diese Gleichzeitigkeit des Denkens sowie seines Ausdrucks in verschiedenen Bereichen und Künsten gründet Panofsky zufolge wiederum in einer gemeinsamen Form des Denkens, die das Resultat der Ausbildung in ›Schulen‹ ist. Es handelt sich also weniger um die Konstatierung einzelner mitunter direkter Einflüsse von beispielsweise Philosophie auf Architektur als vielmehr um die Feststellung einer kollektiven Disposition im Denken. Einen Einfluss üben die »Denkgewohnheiten« oder »Mental Habits« über ihre verallgemeinerte Dimension aus. Panofsky möchte dabei im Anschluss an Thomas von Aquin »Denkgewohnheit … [im] exakten scholastischen

291 Omar Lizardo führt neben diesen beiden hauptsächlichen und von Bourdieu wiederholt ins Spiel gebrachten Einflüssen vor allem auch die Arbeiten des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget als maßgeblich für die Ausarbeitung des Konzepts bei Bourdieu an (vgl. Lizardo 2004). 292 Panofsky 1951. 293 Vgl. Bourdieu 2000c. 294 Die 1989 im DuMont-Verlag erschienene deutsche Ausgabe hat im Gegensatz zur englischen Originalausgabe als Untertitel den sprechenden Zusatz »Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter« (vgl. Panofsky 1989). 295 Die Kritik an Panofskys Werk ist zahlreich. Ein Angriffspunk ist die zeitliche Gleichsetzung von Gotik und Philosophie, gegen die etwa Dieter Kimpel und Robert Suckale eher die Sukzession von architektonischer Innovation auf die Hochphase von Philosophie und Theologie in Anschlag bringen (vgl. Kimpel/Suckale 1985).

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Sinne als ›Prinzip, das Handeln regelt‹, principium importans ordinem ad actum, verstehen.«296 Die Homologie in den verschiedenen Bereichen von Kunst und Philosophie lässt sich somit als Ausdruck kollektiver geistiger Einstellungen verstehen, die Handlungen anleiten bzw. prägen und die, weil gemeinsam erworben, spezifisch für eine Epoche sind. Aufgrund der Konkurrenz und Parallelität verschiedener Schulen, letztlich also Institutionen, die Denkweisen und damit Handlungen beeinflussen können, geht Panofsky selbst davon aus, dass eine Bestimmung der jeweils entscheidenden prägenden Instanz durchaus problematisch sein könnte.297 Für den von ihm beobachteten Zeitraum zwischen 1130 und 1270 hatte jedoch die Scholastik de facto das alleinige Vorrecht auf Bildung, was die These einer analogen Form des Denkens – charakterisiert durch Systematisierungen, Ein- und Unterteilungen, wie sie paradigmatisch in den thomistischen Summa theologiae zu finden sind – in den philosophischen Werken der Scholastiker überhaupt, in Arbeiten über die Medizin, die Mythologie, die Geschichte, in der Literatur und in der Architektur des Sakralbaus der Hochgotik umso deutlicher unterstreicht. Zusammenfassend und verallgemeinernd lassen sich also kulturelle Objekte in ihrer Ausformung immer auch als Ausdruck spezifischer modi operandi verstehen. Komplementär lässt sich dazu der ebenfalls von Panofsky entwickelte methodische Zugang der Ikonologie begreifen. Diesem zufolge werden Kunstwerke auf der Ebene des »Dokumentsinns«298 als »wesensmäßiger« Ausdruck einer Epoche oder Gesellschaft analysierbar. Hier offenbart sich als »intrinsic meaning or content […] the basic attitude of a nation, a period, a class, a religious or philosophical persuasion […].«299 Aus dieser Perspektive verraten Kunstwerke immer auch etwas über den Raum und die Zeit, in welchen sie produziert wurden, und zwar auf einer symbolischen Ebene. Sie offenbaren – den Produzent_innen vielmals unbewusst – jene überindividuellen kulturellen Bedingungen, die die Möglichkeit ihrer Produktion waren. Bereits bei Panofsky sind demnach entscheidende Züge des Habitus-Konzepts von Bourdieu vorgezeichnet. Zum einen ist dies die kollektive Dimension des Habitus, zum anderen ein Praxisbezug, der bei Bourdieu in der Betonung des Habitus als generatives Prinzip explizit herausgestellt wird. Zusätzlich rückt die Frage nach denjenigen Kräften, denen ein prägender Einfluss auf den Habitus zugesprochen werden kann, in den Blick. Im Nachwort zu Panofskys Studie betont Bourdieu darüber hinaus bereits die Notwen296 Panofsky 1989, S. 18. 297 Vgl. ebd., S. 18f. 298 Den Begriff des »Dokumentsinns« greift Panofsky bereits 1932 in »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« von Karl Mannheim auf und knüpft dabei zugleich an seine Auseinandersetzung mit Alois Riegls Konzept des »Kunstwollens« an (vgl. Panofsky 1920, 1932). Zum Verhältnis von Panofsky zur Wissenssoziologie Mannheims vgl. Hart 1993. 299 Vgl. Panofsky 1955, S. 30.

4.1 Das Habituskonzept

79

digkeit eines methodischen Vorgehens bei der Rekonstruktion des jeweiligen »modus operandi«, um nicht einem oberflächlichen Positivismus zu verfallen, der vermeint, allein anhand empirischer Daten die zugrundeliegenden Strukturen erkennen zu können und letztlich intuitiv ein organisierendes Prinzip zu bestimmen sucht. Nicht die Inhalte selbst sind entscheidend für den Vergleich der verschiedenen Bereiche von Kunst, Architektur und Philosophie, sondern der »modus operandi«, der verborgen oder offen in ihnen seinen Ausdruck findet.300 Damit geht auch die Ablehnung jeglicher »charismatischer Ideologie«301 einher, die den individuellen Schöpfungsakt in den Mittelpunkt stellt und im Geniekult ihre Apotheose findet. Stattdessen beharrt Bourdieu auf der kollektiven Dimension von Kultur: »Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht, bloß um den Rechtsanspruch des schöpferischen Individuums und das Mysterium des Einzelwerks wahren zu können, begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken; Kollektives in Form von Kultur – im subjektiven Sinne des Wortes ›cultivation‹ oder ›Bildung‹ oder, nach Erwin Panofskys Sprachgebrauch, im Sinn des ›Habitus‹, der den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und, ohne daß dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist.«302 Die Konzentration auf einzelne Personen und Werke verdeckt vielmehr all jenes, was Bourdieu an anderer Stelle als das »kulturell Unbewusste« bezeichnet hat, wobei unbewusst hier weniger als Begriff der Psychoanalyse zu verstehen ist, sondern vornehmlich auf das Nicht-Bewusste zielt.303 Gemeint sind die gemeinsamen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Praxis, des Denkens, der Wahrnehmung, der Klassifikation und des Handelns, die ihren Ausdruck ohne bewusstes Wollen in der Kultur finden und somit auch jede Künstlerin und jeden Künstler prägen ohne jemals in ihrer Tragweite oder gar absichtsvoll ins Bewusstsein treten zu müssen. Was für den Fall der Kunstschaffenden gilt – die hinsichtlich der Ideologie der individuellen Schöpfung einen Extremfall darstellen –, besitzt umso mehr Gültigkeit für die allgemeine Form der alltäglichen Praxis, die ebenso von den sozialen Bedingungen geprägt ist, denen die Akteure unterliegen.

300 Vgl. Bourdieu 2000a, S. 126f. 301 Den Begriff der »charismatischen Ideologie« führt Bourdieu immer dann ins Feld, wenn es ihm um die Ablehnung jeglicher Form von individualisierter Begabung geht – sei es der Bildungserfolg, der gänzlich unabhängig vom sozialen Milieu einzig der Intelligenz der jeweiligen Individuen zugerechnet wird, der »reine Blick« für das Kunstwerk oder das »schöpferische Subjekt« der Kunstschaffenden (vgl. Bourdieu 1982, S. 606f.; Bourdieu 2000b). 302 Bourdieu 2000a, S. 132 – Hervorhebung im Original. 303 Bourdieu lehnt, nicht zuletzt seinem eigenen Standpunkt als Soziologe geschuldet, psychologische und entsprechend auch psychoanalytische Deutungsmuster ab, spricht aber dennoch mitunter von seiner Arbeit als einer »Psychoanalyse des Sozialen« bzw. »Sozioanalyse«. Zum Verhältnis Bourdieus zur Psychologie respektive Psychoanalyse vgl. Zander 2012, S. 145–160.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Erweitert wird das Verständnis des Habitus für Bourdieu durch den Einbezug der Arbeiten des französischen Ethnologen Marcel Mauss. Nicht nur dessen wegweisende Arbeit Die Gabe war von großem Einfluss auf Bourdieu – etwa für die gesamte Konzeption der symbolischen Ökonomie –, sondern auch der kurze Vortragsaufsatz »Les techniques du corps«304 aus dem Jahr 1934. Darin unterzieht Mauss verschiedene körperbezogene Praktiken wie etwa Schwimmen, Laufen oder Marschieren sowie allgemein Körperhaltungen einer anekdotischen Betrachtung, um dem unterschiedlichen Gebrauch des Körpers in verschiedenen Gesellschaften und zu ungleichen Zeiten zu untersuchen bzw. dessen Untersuchung als Forschungsgegenstand zu etablieren. Entscheidend für Bourdieu ist hierbei die von Mauss vorgebrachte Betonung einer Prägekraft sozialer Bedingungen auf den Körper selbst. Mauss, wie später und mit anderem Schwerpunkt auch Panofsky, greift auf das Konzept des Habitus zurück, um den kollektiven, sozialen Charakter der Körpertechniken zu betonen. Körpertechniken erscheinen als Teil einer erlernten Praxis und eingebettet in soziale Kontexte. Die Habitus bilden »the techniques and work of collective and individual practical reason rather than, in the ordinary way, merely the soul and its repetitive faculties.«305 Von Interesse sind zugleich weniger die je individuell verschiedenen Formen der Körpertechnik, als deren Unterschiedlichkeit zwischen Gesellschaften oder Erziehungsformen. Mit Habitus ist dabei nicht die rein repetitive körperliche Wiederholung von Handlungen gemeint, wofür bei Mauss vielmehr »Habits« stehen, sondern ein praktisches Wissen und Verstehen, welches als solches in der Regel unartikuliert bleibt. In den Techniken des Körpers drücken sich über die Form der Erziehung und Einübung, mithin die Sozialisation, gesellschaftliche Bedingungen und darauf basierendes kollektives Wissen aus. Der Habitusbegriff bei Mauss lässt sich daher Nick Crossley zufolge als Ergänzung zum durkheimianischen Konzept »kollektiver Repräsentationen« auf der Ebene »of collective pre- or non-representational forms of knowledge and understanding« begreifen.306 Habitus sind somit verkörperte Wissensbestände, die zudem gruppenspezifisch sind und zugleich als faits sociaux gelten können. Auch wenn die Körpertechniken jeweils von diversen Bedingungen abhängig sind, wie anatomischer Beschaffenheit, psychologischer Verfassung oder Eigenschaften der Umgebung, so sind es für Mauss vor allem jene sozialen Unterschiede, wie sie sich etwa in der Art des Essens bei Tisch zwischen verschiedenen Gesellschaften zeigen, denen sein besonderes Augenmerk gilt.307 304 305 306 307

Vgl. Mauss 1973. Ebd., S. 73. Vgl. Crossley 2013. Bereits bei Mauss fällt die Vernachlässigung der materiellen Kultur auf, wie sie von Maurice Merleau-Ponty und später in anderer Hinsicht und auf allgemeinerer Ebene beispielsweise von Bruno Latour kritisiert wurde. Verwiesen sei hier nur auf das berühmte Beispiel des Blindenstocks bei Merleau-Ponty, der zum »Leib« wird und damit eine Möglichkeit der Weltaneignung darstellt. Ma-

4.1 Das Habituskonzept

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Bei Bourdieu finden die beiden unterschiedlich gewichteten Konzepte von Panofsky und Mauss zusammen. Während er von Ersterem die Idee der »Mental Habits« als der kollektiv geteilten und sozial bedingten Formen des Denkens und Wahrnehmens übernimmt, die ihren Niederschlag im Handeln finden, integriert er von Letzterem die Idee der Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen als in den Körper eingeschriebener Techniken in seinen Ansatz. 4.1.3

Habitus bei Pierre Bourdieu

Innerhalb der Arbeiten Bourdieus finden sich zahlreiche und unterschiedliche Bestimmungen dessen, was der Habitus ist. Dies ist nicht zuletzt Bourdieus Ansatz geschuldet, Konzepte vor einer theoretizistischen Verdinglichung zu bewahren und immer wieder im Rahmen der empirischen Forschung neu zu entfalten und weiterzuentwickeln. Das Habitus-Konzept hat sich so zu einem komplexen und vielschichtigen Begriff bei Bourdieu herausgebildet, dessen Grundidee in der kontinuierlichen Prägekraft sozialer Bedingungen auf die Individuen besteht, die zu beständigen Dispositionen im Denken, Handeln, Wahrnehmen und Urteilen führen. Als maßgeblich prägend für die spätere Ausarbeitung seiner Theorie ist Bourdieus Zeit in Algerien und die dortige Erfahrung einer von außen durch die Kolonialmacht Frankreich aufoktroyierten Modernisierung der bäuerlichen Gesellschaften, insbesondere in der Kabylei, anzusehen.308 Zugleich hat auch Bourdieus Forschung im Béarn309, seiner ursprünglichen Heimatregion, ab den 1960er-Jahren entscheidenden Einfluss auf die Einführung des Habitus-Konzepts gehabt.310 Der Begriff ist dabei nicht lediglich in terielle Kultur wird hier zum integralen Bestandteil der Körpertechniken, die auf technische Bedingungen nicht nur lediglich reagieren, sondern sie gleichsam in sich aufnehmen. Gerade mit der kollektiven Verbreitung von Technologien müssten diese verstärkt als soziale Bedingungen selbst mit in den Habitus mit einbezogen werden, da auch ihnen eine durchaus kollektiv strukturierende Rolle hinsichtlich des Handelns zukommt (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 173; Latour 2007). 308 Vgl. Lane 2000; Schultheis 2003, 2007; Behnke/Wuggenig 2008. Neben seinen direkten Veröffentlichungen zu Algerien und zur Kabylei legen auch die zahlreichen Fotos aus dieser Zeit, die Bourdieu selbst gemacht hat – gemeinsam mit Aufnahmen aus dem Béarn umfasst das private, nur teilweise und größtenteils erst posthum veröffentlichte Archiv über dreitausend Fotografien –, eindrucksvoll Zeugnis ab von der Auseinandersetzung mit den Umbrüchen und Veränderungen in dem nordafrikanischen Land (vgl. Bourdieu 2003; von Bismarck/Kaufmann/Wuggenig 2008). 309 Bourdieus Arbeiten zur bäuerlichen Gesellschaft des Béarn sind erst relativ spät unter dem Titel Le bal des célibataires zusammengefasst und schließlich übersetzt worden, erschienen jedoch bereits ab 1962 in verschiedenen französischsprachigen Zeitschriften (vgl. Bourdieu 2008). 310 Ulf Wuggenig weist zudem darauf hin, dass auch in der frühen Gemeinschaftsarbeit zur Fotografie als »art moyen«, die unter Bourdieus Federführung entstand und an der neben weiteren Luc Boltanski sowie Robert Castel beteiligt waren, bereits der Habitusbegriff sowie zentrale Konzepte Bourdieus zu finden sind (vgl. Bourdieu 1965; Wuggenig 2017).

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Auseinandersetzung mit der empirischen Forschung sowie der Lektüre von Mauss und Panofsky entstanden, sondern bildet außerdem einen essenziellen Beitrag Bourdieus zur Theoriebildung in der Soziologie, als er den Versuch einer Überwindung der klassischen Dichotomie von Struktur und Akteur, von Gesellschaft und Individuum und damit der Mikro-Makro-Problematik unternimmt. Ziel des Habitus-Konzepts ist für Bourdieu nichts weniger als die Gründung einer Handlungstheorie jenseits des klassischen Gegensatzes von Objektivismus und Subjektivismus für die Erklärung der bemerkenswerten Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen. Weder möchte Bourdieu Akteure dabei als lediglich ›gesprochene‹ Effekte von Strukturen verstehen, die diese nur mehr realisieren, noch einem individualistischen Subjektivismus verfallen, der den Einzelnen im Sinne des homo oeconomicus der Rational-Choice-Theorien die abgewogene Wahl oder im existenzialistischen Sinne die absolute Freiheit zugesteht. Während Bourdieus Distanz zu den Gegnern auf der voluntaristischen Seite einer solchen binären Opposition zeitlebens sehr groß war311, nimmt der Bruch mit dem Strukturalismus und insbesondere mit der in den 1960er-Jahren unter der Ägide von Claude Lévi-Strauss dominierenden strukturalistischen Ethnologie312 einen besonderen Stellenwert ein. Bourdieu vollzieht ihn rückblickend mit den Arbeiten zum Béarn in den frühen 1970er-Jahren als »Übergang von der Regel zur Strategie, von der Struktur zum Habitus, vom System zu einem sozialisierten, selbst durch die Struktur der sozialen Beziehungen beherrschten Akteur, deren Produkt er ist.« 313 Nicht zu Unrecht ist sein Ansatz unter der Bezeichnung eines »genetischen Strukturalismus«314 bzw. »konstruktivistischen Strukturalismus«315 kategorisiert worden, denn trotz aller Ablehnung einer Sozialphysik, die objektive Regeln zu finden meint, deren Ausführung passiv bleibenden Akteuren überlassen wird, betont Bourdieu dennoch die Bedeutung von Strukturen, die immer wieder neu in einer Vielzahl von Prakti311 Als Vertreter der subjektivistischen Perspektive führt Bourdieu so unterschiedliche Positionen wie den Existentialismus Jean-Paul Sartres, die Ethnomethodologie Harold Garfinkels, den symbolischen Interaktionismus von Howard S. Becker und Erving Goffman sowie die HumankapitalTheorie von Gary S. Becker an. Lars Schmitt hat die Systematik von »theoretischem oder objektivistischem« (Sartre etc.) und »methodologischem oder empirischem Subjektivismus« (Garfinkel, Goffman etc.) sowie »methodologischem Individualismus« (Rational-Choice-Theorien) vorgeschlagen (vgl. Schmitt 2006). 312 Vgl. hierzu Dosse 1999. 313 Bourdieu 2002, S. 72. 314 Trotz des bereits von Jean Piaget besetzten Begriffs des »genetischen Strukturalismus« hat diese Bezeichnung für den Ansatz Bourdieus mittlerweile allgemeine Verbreitung gefunden. So kennzeichnet etwa Franz Schultheis im Nachwort zu Das Elend der Welt gleich ein ganzes soziologisches Paradigma im Anschluss an Bourdieu als »genetischen Strukturalismus« (vgl. Schultheis 1997, S. 835). 315 Für eine knappe Charakterisierung seiner Arbeit merkt Bourdieu selbst an, dass er »would speak of constructivist structuralism or of structuralist constructivism« (Bourdieu 1989, S. 14 – Hervorhebung im Original).

4.1 Das Habituskonzept

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ken durch Akteure – vermittelt über deren Habitus – aktualisiert werden. Gerade weil die einzelnen Akteure im Rahmen bestimmter Strukturen sozialisiert werden, besitzen sie ein, wenngleich unbewusst bleibendes, inkorporiertes Interesse an der Reproduktion eben jener Strukturen. Grundsätzlich lässt sich der Habitus bei Bourdieu als erworbene Handlungsdispositionen verstehen, und zwar gemäß der in der Sozialisation vor allem über das Elternhaus erlernten Gewohnheiten, wie man sich angesichts unterschiedlicher sozialer Situationen in einer bestimmten Weise zu verhalten habe. Dabei führen ähnliche soziale Lebensbedingungen über Erziehung und Bildung zu einem ähnlich gelagerten Habitus, der damit eine explizit kollektive Dimension besitzt. Daran schließt entsprechend eine ähnlich gelagerte kohärente Praxis an. Der Habitus ermöglicht über die verinnerlichten Handlungsmuster eine flexible und zumeist unbewusste Anpassung an verschiedene gesellschaftliche, langfristige und situative Anforderungen, so dass sich Akteure ganz ›natürlich‹ und wie »ein Fisch im Wasser«316 fühlen, sofern sie sich im Rahmen der ihren Habitus konditionierenden sozialen Verhältnisse bewegen. So besitzen etwa in einem Akademiker_innenhaushalt aufgewachsene Kinder zumeist weniger Berührungsängste mit dem universitären Umfeld und erwägen eher ein Studium als Kinder, deren Eltern lediglich über einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss verfügen und denen schon früh das Erlernen eines ›ordentlichen‹ Berufs nahegelegt wird. Bourdieu geht es allerdings nicht um eine deterministische Perspektive auf soziale Laufbahnen, sondern vielmehr um die auf statistischen Wahrscheinlichkeiten beruhende Offenlegung der Macht inkorporierter gesellschaftlicher Strukturen, die bis in die kleinsten Distinktionen hinein wirkungsmächtig bleiben. Der Habitus bildet dabei die vermittelnde Instanz zwischen gesellschaftlichen Strukturen einerseits und schöpferischen Möglichkeiten der Akteure andererseits; er bewirkt eine Abstimmung der Praktiken sowie Denk- und Wahrnehmungsformen aufeinander. Einer zentralen Charakterisierung Bourdieus zufolge ist der Habitus sowohl strukturierte als auch strukturierende Struktur.317 Insofern er selbst das Produkt einer bestimmten sozialen Position innerhalb einer Struktur bzw. eines Feldes – wie im größten Maßstab des Sozialraums – darstellt, ist der Habitus strukturiert. Daher auch die Bezeichnung des Habitus als »opus operatum«, d. h. als von den ihrerseits in Bezug auf ihn immer schon vorhandenen strukturellen Bedingungen erzeugtes Werk, welches eine spezifisch gestaltete soziale Praxis bedingt, deren Hervorbringungen wiederum als »opus operatum« der Analyse empirisch zugänglich sind, etwa dann, wenn die verschiedenen Praxisformen von Akteuren untersucht und ins Verhältnis gesetzt werden.318 Als Gegenwart der Ver316 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161. 317 Vgl. Bourdieu 1982, S. 279, Bourdieu 1987a, S. 97–121. 318 Vgl. z. B. Bourdieu 1982, S. 281f.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

gangenheit wirken im Habitus die gemachten sozialen Erfahrungen fort und bilden ein dauerhaftes System von Dispositionen.319 Diese auf Dauer und Erhalt der ihr zugrundeliegenden Ordnung ausgerichtete Struktur des Habitus »gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.«320 Jene strukturierten Schemata sind es, die strukturierend auf Handlungen einwirken und dadurch für eine Kontinuität der Praxis sorgen, die zur Reproduktion der Gesellschaftsordnung führt, ohne dass diese explizit und bewusst als Ziel gesetzt wäre. Der Habitus bestimmt dabei nicht die einzelnen Handlungen direkt, sondern die Form der Praktiken. In seiner Fähigkeit zur unerschöpflichen Erzeugung von Praxisformen, die in Übereinstimmung mit den ihm zugrundeliegenden sozialen Bedingungen stehen, ist der Habitus als ein »modus operandi« gekennzeichnet, der in Analogie zu Noam Chomsky321 von Bourdieu als »generative Grammatik der Handlungsmuster«322 verstanden wird. Hinsichtlich des »modus operandi« ist der Habitus »Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen.«323 D. h. der Habitus ist zugleich ein generatives Prinzip zur Hervorbringung von Praxis, und zwar in Form von durch die Lebensbedingungen geprägten Handlungsdispositionen und deren Werken, und jenes Prinzip, welches diese verschiedenen Praktiken im Verhältnis zu anderen möglichen Praktiken einordnet, auswählt und beurteilt – kurz des Geschmacks. Beide Prinzipien zusammen bilden die Grundlage für den von Bourdieu aufgespannten Raum der Lebensstile als einer Repräsentation der sozialen Welt. Nur als Ausdruck eines spezifischen Habitus und damit einer bestimmten sozialen Position können die verschiedenen Formen von Praxis sinnvoll als »distinktive Zeichen« eines Lebensstils interpretiert und von anderen Lebensstilen abgegrenzt werden. Auf der Basis unterschiedlicher Lebensbedingungen kommt es zur Ausbildung abweichender Habitus, deren Differenz über die entsprechenden Denk- und Wahrnehmungsformen erkannt werden kann. Akteure innerhalb einer Gruppe – hier gilt Bourdieus Augenmerk zumeist der sozialen Lagekategorie Klasse – haben kohärente aufeinander bezogene Praxisformen: »Die objektive Homogenisierung der Habitusformen der Gruppe oder 319 Vgl. hierzu auch Vaisey/Lizardo 2016. Die Autoren weisen empirisch entgegen der Annahme einer Prägung durch unmittelbare zeitgenössische Umstände – einer »Cultural Fragmentation« – eine deutliche »Cultural Durability« von Dispositionen im Sinne des Fortwirkens eines in der Sozialisation erworbenen habituellen Systems nach. 320 Bourdieu 1987a, S. 101. 321 Vgl. Chomsky 1965, 1957. 322 Bourdieu 2000a, S. 150. 323 Bourdieu 1982, S. 277 – Hervorhebung im Original.

4.1 Das Habituskonzept

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Klasse, die sich aus der Homogenität der Existenzbedingungen ergibt, sorgt nämlich dafür, daß die Praktiken ohne jede strategische Berechnung und bewußte Bezugnahme auf eine Norm objektiv aufeinander abgestimmt und ohne jede direkte Interaktion und damit erst recht ohne ausdrückliche Abstimmung einander angepaßt werden können […].«324 Umso entscheidender ist für Bourdieu daher die Differenz zu anderen Praktiken, denn gerade in der Abgrenzung zu Werken und Praktiken anderer Gruppen konstituiert sich die soziale Identität – nicht zuletzt deshalb der sprechende französische Originaltitel La distinction für Bourdieus Die feinen Unterschiede. Als strukturierender Gegensatz, so Bourdieu, wirke dabei sowohl hinsichtlich der Lebensbedingungen als auch bei der Bewertung der entsprechenden Praxisformen die Dichotomie von »oben/unten« bzw. »arm/reich«.325 Da es sich beim Habitus um Schemata der Erzeugung von Praxisformen handelt, geht es weniger um die Rückbindung einzelner Praktiken an bestimmte Existenzbedingungen, was einer substantiell orientierten Sichtweise entspräche – selbst wenn mitunter Praxisformen wie etwa das Golfspiel als exemplarischer Ausdruck einer sozialen Lage wahrgenommen werden –, sondern vielmehr um den relationalen Zusammenhang der verschiedenen Praktiken untereinander und in Abgrenzung zu anderen, gerade nicht praktizierten Tätigkeiten. Damit trägt das Habituskonzept auch der Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeit Rechnung, in der beständig neue Praxisformen auftauchen, die sich zur Klassifikation und entsprechend Distinktion eignen oder mit ihrer Popularisierung gerade diesen Charakter wieder verlieren: »Zu jedem Zeitpunkt jeder Gesellschaft hat man es also mit einem Ensemble von sozialen Positionen zu tun, das über eine Relation, eine Homologie, mit einem selber wiederum relational bestimmten Ensemble von Tätigkeiten (Golf oder Klavierspielen) oder Gütern (Zweitwohnsitz oder Werk eines berühmten Malers) verbunden ist.«326 Beim Habituskonzept handelt es sich jedoch nicht um die deterministische, unmittelbare Bestimmung der Praktiken aus den sozialen Lagen bzw. Klassen. Stattdessen prägen die Lebensbedingungen ethische und ästhetische Dispositionen, die diesen Bedingungen angepasste Formen der Praxis hervorbringen, welche den Individuen als natürlich erscheinende Wahl aus einem unbewusst bleibenden Raum der begrenzten Möglichkeiten entgegentreten. Zugleich schränkt Bourdieus Konzeption Freiheit und Wahlmöglichkeiten des Einzelnen über die im Rahmen einer Klasse bzw. Gruppe bestehenden Optionen hinaus durchaus ein: Soziale Laufbahnen sind in der Regel relativ deutlich über die Herkunft bestimmt, wobei »eine fortlaufende Umwandlung der Notwendigkeit in Strategien, der Zwänge in Präferenzen«327 stattfindet, so dass es zu einer 324 325 326 327

Bourdieu 1987b, S. 109 – Hervorhebung im Original. Vgl. Bourdieu 1982, S. 279. Bourdieu 1998, S. 17. Bourdieu 1982, S. 285.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Art »amor fati«328, einer Liebe zum Schicksal als stilles Einverständnis in die Unausweichlichkeit der Verhältnisse kommt. Je nach sozialer Herkunft drängen die ungleichen Bedingungen in differenzierten Gesellschaften dem Handeln und Denken unterschiedliche Grenzen auf, die wiederum von den Akteuren als vollkommen natürlich wahrgenommen werden und sich beispielsweise in Haltungen wie »Das ist nichts für uns!« äußern. Die Not wird damit nahezu wörtlich für die unteren Klassen zur Tugend erhoben, führt in letzter Konsequenz aber auch zu dem Umstand, dass die kulturelle Herrschaft der höheren Klassen – wenn auch indirekt oder negativ – als legitim anerkannt wird. Je nach der Perspektive der betrachteten Existenzbedingungen lassen sich verschiedene Habitus unterschieden. Bei Bourdieu ist der auf der Einteilung in soziale Klassen329 basierende »Klassenhabitus« vorherrschend, da für ihn zeitgenössische Gesellschaften grundlegend sozial ungleich strukturiert sind. Darüber hinaus spricht Bourdieu jedoch auch von einem vergeschlechtlichten Habitus aufgrund der gesellschaftlich zugeschriebenen geschlechtlichen Ordnung.330 Akteure bzw. »agents«331 sind zudem Träger eines individuellen Habitus, der einen einheitlichen Stil der verschiedenen Praxisformen garantiert und zugleich den jeweils individuellen graduellen Varianzen im Stil einer Gruppe Rechnung trägt. Der individuelle Habitus bewegt sich im Rahmen des Habitus der Referenzgruppe und ist so nur spezifische Modifikation des Klassenhabitus.332 Bourdieu zufolge stellt der Habitus die Inkorporierung sozialer Strukturen dar und ist insofern »das Körper gewordene Soziale […]. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.«333 Immer dann, wenn Bourdieu explizit auf diese körperliche Dimension des Habitus abhebt, wie hinsichtlich einer bestimmten Färbung der Aussprache oder bezüglich Gesten und Bewegungen, kommt dabei der Ausdruck der

328 Vgl. ebd., S. 378. Bourdieu benennt zudem das umgekehrte Moment des »odium fati« als Resultat einer Aufdeckung der wirklichen Verhältnisse und des Bruchs mit der Bejahung des Schicksals. Hier scheint mit der Selbstreflexion auch die Möglichkeit der Ablehnung des eigenen Habitus auf. 329 Obwohl Bourdieu den Begriff der Klasse verwendet, grenzt er sich explizit von der Marx’schen Klassentheorie ab. Zu seinem dreifachen Bruch mit der Klassentheorie vgl. Eder 1989. 330 Vgl. Bourdieu 2005a. 331 Bourdieu verwendet im französischen Original zumeist den Begriff des »agents« an Stelle von »acteur«. Hintergrund ist nicht nur die Vermeidung der naheliegenden Assoziation mit »Schauspieler_in«, sondern auch die Zurückweisung subjektivistischer Theorien, die allzu stark auf individuelle Handlungsmacht abstellen. Dem gegenüber betont Bourdieu mit »agents« auch das Moment eines in der Regel unbewussten Handelns gemäß ›fremder‹ Mächte, mithin genau jene Reproduktion der strukturellen Verhältnisse, die sich über Handlungen gewissermaßen hinter dem Rücken der Handelnden vollzieht und im Habituskonzept integriert ist (vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 84). 332 Vgl. Bourdieu 1987a. 333 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161.

4.1 Das Habituskonzept

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hexis bzw. »körperlichen Hexis«334 zur Anwendung: »Bodily hexis is political mythology realized, em-bodied, turned into a permanent disposition, a durable manner of standing, speaking, and thereby of feeling and thinking.«335 Die körperliche Seite des Habitus zeigt hierbei die Verortung in der sozialen Welt an, und zwar gemäß den in einer bestimmten sozialen Gruppe vorherrschenden somatischen Verhaltensweisen, so dass es etwa auf Basis der nahezu global gültigen binären Opposition von männlich und weiblich zu einer Ausprägung eines geschlechtlichen Habitus kommt, der sich in Haltung, Bewegung, Mimik, Gestik, Sprache usw. ausdrückt und damit zugleich eine spezifische Form des Verhältnisses zum Raum, zu Anderen und zum eigenen Körper beinhaltet.336 Auch die körperliche Einprägung der sozialen Position findet bereits im Kindesalter statt, wie Jason C. Throop und Keith M. Murphy resümieren: »Children ›learn‹ how to perform body movements, gestures, and postures according to prescribed dispositions appropriate for the particular classes of which they are members, by patterning their behavior after the necessary techniques used by others in that class to navigate through culturally constructed and informed spatial configurations (e.g. a house).«337 Für die Heranbildung des Habitus ist die Sozialisation im Elternhaus und in den schulischen Institutionen über Verbote, Gebote und entsprechende Handlungsroutinen maßgeblich, jegliche biologische Disposition schließt Bourdieu aus. Praktiken, Wahrnehmungs- und Denkformen werden jeweils individuell im Aufwachsen von der sozialen Gruppen, der die jeweiligen Personen angehören, übernommen: »Der Erwerb der Kompetenzen geschieht nach Bourdieu in der und durch die Teilnahme an der Praxis selbst. Das Kind ist gleichzeitig Objekt von Praxisformen, in denen sich die Habitusformen der sozialisierenden Personen äußern, und Subjekt von Praxisformen, in denen es seine eigenen, bereits erworbenen Kompetenzen aktualisiert und erweitert.«338 Von Geburt an wird das Kind innerhalb spezifischer sozialer Bedingungen sozialisiert, so dass es in zunehmenden Maße die ererbten Praxisformen verinnerlicht und dadurch reproduziert. Dabei entwirft Bourdieu keinen eigenen sozialisationstheoretischen Ansatz und setzt an Stelle von vermeintlich individueller Sozialisation vielmehr den kollektiven Prozess der Habitualisierung.339 Entscheidend sind die Primärerfahrungen in der Einübung sozialer

334 Vgl. beispielsweise Bourdieu 1982, S. 283, 739. 335 Bourdieu 1977, S. 93f. – Hervorhebungen im Original. 336 Vgl. zum vergeschlechtlichten Habitus Bourdieu 2005a. Auch der berühmte Aufsatz von Iris Marion Young »Throwing Like a Girl« (Young 1980) hebt aus einer phänomenologisch orientierten Perspektive auf diesen Umstand ab. 337 Throop/Murphy 2002. 338 Liebau 1987, S. 83. 339 Gerhard Fröhlich fasst die wesentlichen Prozesse in der Genese des Habitus wie folgt zusammen: »In jeder Gesellschaft gibt es Bourdieu zufolge drei Formen der Einprägung: Erstens Lernen als einfaches, unmerkliches Vertrautwerden, zweitens ausdrückliche Überlieferung kraft Anordnung und Vor-

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Anforderungen, da vor dem Hintergrund bereits gemachter Erfahrungen neue klassifiziert und beurteilt werden. Sie sind deshalb prägend, weil alle weiteren Erfahrungen, so Bourdieu, gemäß einer dem Habitus immanenten Homogamie letztlich der Absicherung der Konstanz des Habitus dienen und jede Infragestellung auszublenden trachten. Einmal als viabel erlebte Handlungsweisen werden so habitualisiert: »Durch die systematische ›Auswahl‹, die er zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft, schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepaßt ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen, die geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, daß sie seinen Erzeugnissen den aufnahmebereitesten Markt bieten.«340 Die Einübung geschieht hierbei durch Praxis in Form von Nachahmung – jedenfalls überall dort, wo keine unmittelbar erzieherischen Praktiken zum Tragen kommen341 – sowie durch pädagogische Instruktionen, deren Ziel gemeinhin die Reproduktion der sie begründenden sozialen Existenzbedingungen ist. Eine Ergänzung zu dieser ersten Habitualisierung stellt die Betrachtung bestimmter Felder innerhalb des Sozialraums dar. So kann dort eine nachträgliche Sozialisation stattfinden, die zur Ausbildung eines spezifisch an feldimmanente Positionen angepassten Habitus führen kann.342 Dass Bourdieu der Ersterfahrung eine große Bedeutung zugesteht, zeigt sich nicht zuletzt in seiner Betrachtung der Bildungschancen und die hohe Korrelation von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Trotz formal gleicher Zugänglichkeit für alle sozialen Gruppen, bleibt die Chancengleichheit nach Bourdieu nur Illusion, insofern die entscheidende Prägung bereits in der Familie stattfindet und mit dem Schulsystem letztlich die Herkunft Bewertung erfährt.343 So haben jene Kinder, die bereits im Elternhaus im Rahmen der von Bourdieu als legitim bezeichneten Kultur erzogen wurden, mehr Chancen schulische Angebote zu nutzen und innerhalb pädagogischer Institutionen gefördert zu werden, da sie habituell bereits über die vom Schulsystem geforderten Dispositionen verfügen.344 Gleichzeitig wird aufgrund der relativen Autonomie der Bildungsinstitutionen und dem vermeintlich neutralen Kriterium der Leistung der Bildungserfolg einzelnen Individuen zugeschrieben. Die über die Schule erfolgte Selektion ist dabei doppelt funktional: »Die Differenzierung der Schüler anhand der innerschulischen Leistungsmaßstäbe sorgt für die statistische Reproduktion der

340 341 342

343 344

schrift, drittens strukturale Übungen in Spielform.« (Fröhlich 1994, S. 39 – Hervorhebung im Original). Bourdieu 1987b, S. 114 – Hervorhebung im Original. Vgl. Bourdieu 1977, S. 87ff. Vgl. etwa Bourdieus Arbeiten zum literarischen Feld in Bourdieu 1997. Vgl. hierzu exemplarisch ebenfalls Müller-Jentsch 2007. Letztlich sind auch für den feldspezifischen Habitus die frühen Einflüsse und Erfahrungen in einem Feld am stärksten prägend. Vgl. Bourdieu/Passeron 1971. Vgl. hierzu auch Rössel/Beckert-Zieglschmid 2002; Lareau 2015. Vgl. z. B. Weininger/Lareau 2003.

4.1 Das Habituskonzept

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gesellschaftlichen Hierarchie; und sie sorgt gleichzeitig für die subjektive Anerkennung und Legitimierung der gesellschaftlichen Hierarchie durch die Gewinner und die Verlierer im schulischen Leistungswettbewerb, weil Erfolg und Misserfolg scheinbar in den Differenzen des individuellen Leistungsvermögens begründet sind.«345 Mithin werden so Privilegien und Herrschaftsansprüche mit Hilfe des Rekurs auf die legitime Kultur sanktioniert, und zwar im Rahmen von Institutionen, die selbst geprägt sind durch Praxisformen der oberen und mittleren Schichten und so je nach klassenspezifischem Habitus der Schüler_innen entsprechend Chancen auf soziale Positionen verteilen. Die Sozialisation in der Schule sowie in weiterführenden Bildungsinstitutionen führt damit weniger zu einer Begrenzung des Effekts des bereits im familiären Umfeld inkorporierten Habitus, sondern verlängert vielmehr die damit vorgezeichnete Laufbahn innerhalb des sozialen Raums. Der Konzeption des Habitus bei Bourdieu ist immer wieder eine deterministische Perspektive vorgeworfen worden.346 Die totale Übereinstimmung von Habitusformen und Existenzbedingungen, welche zu einem »Modell der quasi-zirkulären Verhältnisse quasi-vollkommener Reproduktion«347 führen würde, stellt für Bourdieu jedoch nur eine spezielle Möglichkeit dar – schon allein deshalb, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen wandeln können. Die Abstimmung und Anpassung von Habitus und Feld ist allerdings die Regel, da im Normalfall – also gemäß statistischer Wahrscheinlichkeit – den Akteuren »bestimmt ist, auf Umstände zu treffen, die in Einklang mit denjenigen Umständen stehen, die ihren Habitus ursprünglich geformt haben, also Erfahrungen zu machen, die dann wieder ihre Dispositionen verstärken.«348 Dennoch besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der postulierten Dauerhaftigkeit des Habitus und der Annahme seiner Unveränderlichkeit sowie der völligen Übereinstimmung mit den Anforderungen des Feldes bzw. sozialen Raumes. Insbesondere angesichts von Krisenmomenten und Umbrüchen wird von Bourdieu die Möglichkeit eines Auseinanderdriftens von Habitusformen und Strukturbedingungen thematisiert. Grundsätzlich ist dem Habitus durch die dauerhafte Anlage der Dispositionen und die vorweggenommene Adaption an zukünftige Situationen ein »Hysteresis-Effekt«349 eigen als eine Art Latenz respektive Trägheit in der Anpassung an veränderte Gegebenheiten. Seine Stabilität gewinnt der Habitus nicht zuletzt durch die unbewusste und inkorporierte Anwendung vorab eingeprägter Denk,- Wahrnehmungsund Handlungsformen. Wie es die von Cervantes literarisch gefasste Figur des Don 345 Liebau 2008, S. 367. 346 Vgl. exemplarisch Jenkins 1982, 1992b sowie zur Verteidigung Bourdieus etwa Rieger-Ladich 2005. 347 Bourdieu 1987a, S. 117. 348 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 168. 349 Vgl. hierzu auch Mesny 2002; Strand/Lizardo 2017.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Quichotte bildlich demonstriert, kann diese Stabilität jedoch durch einen mehr oder weniger raschen Wandel der äußeren Bedingungen zu einer nur mehr ungenügenden Abstimmung des vorhandenen Repertoires an Praktiken an die veränderten objektiven Anforderungen führen.350 Dies zeigt sich beispielsweise durch das Festhalten an überkommenden Vorstellungen, wie Bourdieu etwa hinsichtlich einer veränderten Bildungslandschaft ausführt.351 So ist die Mittelklasse in bestimmter Weise eine ›geprellte‹ Schicht, da die Aufstiegsversprechen durch Bildung aufgrund der Entwertung von Bildungszertifikaten, welche die Bildungsexpansion ab den 1960er-Jahren als paradoxen Effekt mit sich bringt, in gewissem Maße Lügen gestraft werden.352 Besonders deutlich war der »Hysteresis-Effekt« für Bourdieu in seiner Algerienzeit sichtbar, als der bäuerliche, vor-kapitalistisch geformte Habitus der Kabylen im Zuge der aufoktroyierten Modernisierung Algeriens durch die französische Kolonialmacht in scharfen Gegensatz zu den nun kapitalistischen, zumeist städtischen Existenzbedingungen trat. Resultat bei den kabylischen Landbauern war vielfach ein »gespaltener Habitus« – ein »habitus clivé«353 –, wie Barlösius folgendermaßen zusammenfasst: »They learned that their practiced mode of social and economic reproduction was no longer in step with the times. But their class situation made it impossible for them to appropriate a fitting mode of action, which necessitates investment in formal schooling, occupational training and, hence, time.«354 Die Zerrissenheit des Habitus kann bei den Akteuren zu großer Verunsicherung und zu Leid führen, wie es Bourdieu auch mit Blick auf seine eigene Biografie beschreibt.355 Habitus und Feld bzw. sozialer Raum sind in diesen Situationen nicht mehr aufeinander abgestimmt, weil sich entweder ein zu radikaler Wandel vollzieht oder sich der Habitus innerhalb von Lebensbedingungen bewähren muss, in denen er nicht sozialisiert wurde.356 Eine unmittelbare Anpassung an sich abrupt verändernde Umstände ist im Konzept des Habitus nicht ohne weiteres – jedenfalls nicht ohne leidvolle Passagen und drohendes Scheitern – angelegt.357 350 351 352 353

354 355 356

357

Vgl. Bourdieu 1987a, S. 116f. Vgl. Bourdieu 1982, S. 238f. Vgl. hierzu auch Collins 1979. Bourdieu 2004b, S. 127, vgl. auch Bourdieu 2001b. Bourdieu verwendet den Begriff des »habitus clivé« in erster Linie retrospektiv bezogen auf seine eigenen biografischen Erfahrungen, die zugrundeliegenden Überlegungen finden sich jedoch bereits in seinen frühen Arbeiten zu Algerien (vgl. Sonderegger 2010). Eine Fruchtbarmachung des Konzepts für die empirische Forschung findet sich bei Sam Friedman (Friedman 2016, 2014). Barlösius 2014. Vgl. Bourdieu 2002. Vgl. hierzu auch die von Lars Schmitt (2010) um den Begriff »Habitus-Struktur-Konflikt« entwickelte Heuristik, die das Spektrum der unterschiedlichen Missverhältnisse von Habitus und Feld abzustecken versucht. Dass angesichts von Umbrüchen der »Hysteresis-Effekt« mitunter die Möglichkeit beinhaltet, eine kreative Anpassung an neue Bedingungen vorzunehmen, zeigen Ron Kerr und Sarah Robinson mit

4.2 Der soziale Raum

91

In den späten Arbeiten Bourdieus wie etwa den Meditationen358 oder Rede und Antwort359 finden sich zusätzlich immer wieder Überlegungen, die, wenn auch nur skizzenhaft, die Perspektive einer Veränderung des Habitus aufzeigen. So ermöglicht die reflexive Analyse der eigenen Dispositionen, die Sozioanalyse, in gewissem Rahmen die Aufklärung über die inkorporierten Praxisformen und damit deren teilweise Beherrschung, wobei auch hier grundlegend mitbedacht werden muss, dass bereits das Vermögen dieser Selbstreflexion und deren Erfolg wiederum zumindest in Maßen im Habitus begründet sind.360 Trotzdem zeichnet Bourdieu damit den steinigen Weg einer Selbstaufklärung vor, deren Telos darin besteht, sich nicht dermaßen von den eigenen Dispositionen regieren zu lassen und damit der Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen nolens volens Vorschub zu leisten. Ergänzend verweist Bourdieu knapp auf weitere Prinzipien, die neben dem Ausagieren des Habitus für die Logik der Praxis Gültigkeit beanspruchen könnten: »By way of aside, habitus is one principle of production of practices among others and although it is undoubtedly more frequently in play than any other […] one cannot rule out that it may be superseded under certain circumstances – certainly in situations of crisis which disrupt the immediate adjustment of habitus to field – by other principles, such as rational and conscious computation.«361 Wie angesichts von Krisenmomenten solche Praxisformen jenseits habituell inkorporierter aussehen könnten, lässt Bourdieu allerdings weitgehend offen. Dies ist nicht zuletzt seinem vornehmlichen Fokus auf die kritische Frage nach der Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen trotz der herrschenden ungleichen Machtverhältnisse geschuldet, in deren Zentrum das Habitus-Konzept steht. So resümiert Paul DiMaggio mit Blick auf Bourdieus Ansatz: »Despite the political tensions that pervade his work, Bourdieu’s is a world not of revolutions or even of social change, but of endless transformations.«362

4.2

Der soziale Raum

Der Habitus-Begriff ist eng verbunden mit Bourdieus Konzept des sozialen Raumes. Der soziale Raum stellt hierbei eine topologische Repräsentation der sozialen Positionen einerseits sowie der Lebensstile andererseits dar und bildet in seiner Gesamtheit eine

358 359 360 361 362

Blick auf homologe Formen der Herrschaft am Beispiel von ukrainischen Dissidenten, deren zu Sowjetzeiten geprägter Habitus auch unter kapitalistischen Bedingungen praktikable Strategien hervorzubringen vermag (vgl. Kerr/Robinson 2009). Bourdieu 2001b. Bourdieu 1992b. Vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 167f. Bourdieu 1994a, S. 108. DiMaggio 1979, S. 1470.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Konstruktion der gesellschaftlichen Totalität. Bourdieu projiziert dabei den Raum der sozialen Positionen, der nach objektiven Kriterien der Existenzbedingungen bestimmt ist, auf den Raum der Lebensstile, in welchem die verschiedenen symbolischen Ausdrucksformen homolog verortet sind. Sichtbar werden mittels dieser Konstruktion einerseits die verschiedenen gesellschaftlichen Positionen in ihren Relationen und damit vor allem Differenzen zueinander.363 Dies gilt andererseits analog für den korrespondierenden Raum der Praxisformen und Objekte. Der Raum der sozialen Positionen ist strukturiert durch die Verfügungsgewalt über bestimmte Ressourcen, die von Bourdieu in Erweiterung des ökonomischen Kapitalbegriffs als Kapitalformen bezeichnet werden. Der Habitus fungiert als konzeptionelles Bindeglied zwischen dem Raum der sozialen Positionen als einem durch jene Kapitalformen strukturierten Raum der Existenzbedingungen, kurz der Strukturen, und dem Raum der Lebensstile, als dem Raum der durch den Habitus hervorgebrachten Praxisformen sowie klassifizierten und klassifizierenden Objekte. Bourdieu formuliert dies wie folgt: »Insofern unterschiedliche Existenzbedingungen unterschiedliche Formen des Habitus hervorbringen, d. h. Systeme von Erzeugungsmustern, die kraft einfacher Übertragungen auf die unterschiedlichsten Bereiche der Praxis anwendbar sind, erweisen sich die von den jeweiligen Habitus erzeugten Praxisformen als systematische Konfigurationen von Eigenschaften und Merkmalen und darin als Ausdruck der Unterschiede, die, den Existenzbedingungen in Form von Systemen differenzieller Abstände eingegraben und von den Akteuren mit den erforderlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata zum Erkennen, Interpretieren und Bewerten der relevanten Merkmale wahrgenommen, als Lebensstile fungieren.«364 Differenzen in der sozialen Positionierung drücken sich vermittelt über das generative Prinzip des Habitus entsprechend in einem differenten Lebensstil aus: Angehörige höherer sozialer Positionen entwickeln in Fortsetzung der sie prägenden Sozialisationsbedingungen und auf Basis einer spezifischen Kapitalausstattung andere Vorlieben hinsichtlich Kleidung, Speisen, Freizeitgestaltung, Musik, Sport etc., kurz einen anderen Geschmack, als ihnen im sozialen Raum fern stehende Gruppen wie etwa Personen der Arbeiterklasse.365 Seinen Sinn erhält der Geschmack gerade dadurch, dass er eine symbolische Ordnung der

363 Vgl. Bourdieu 1982, S. 277–354, Bourdieu 1985. Vgl. hierzu auch Schultheis 2004. 364 Bourdieu 1982, S. 278f. – Hervorhebung im Original. 365 Vgl. hierzu auch Omar Lizardo, der mit Nachdruck darauf hinweist, dass es sich bei Bourdieus Geschmackskonzept nicht lediglich um eine funktionalistische Theorie handelt – wie etwa von Goldthorpe missverstanden –, der zufolge Kultur bewusst als Mittel der Klassenherrschaft eingesetzt und zur symbolischen Abgrenzung instrumentalisiert wird, sondern vielmehr um eine »Genetic Theory of Taste«, bei der Geschmack gerade Ausdruck einer unbewussten Wahl ist, deren Verankerung im Habitus für eine bereits im Voraus getroffene Anpassung sorgt. Diese Perspektive betont entsprechend »taste as an implicit grasp of the objective necessities afforded by fields of cultural consumption« (Lizardo 2014b, S. 355).

4.2 Der soziale Raum

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Differenzen erzeugt, deren Grundlage soziale Unterschiede sind.366 Diese Differenzen als den verschiedenen Klassen bzw. sozialen Gruppen eigene Praxisformen werden in ihrer symbolischen Form als Entsprechung zu unterschiedlichen sozialen Lagen wahrgenommen. Erst die kollektive Anerkennung der klassifizierenden und klassifizierten Qualität der Praxis produziert dann aus den Praxisformen den Geschmack als »Körper gewordene Klasse.«367 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ähnliche soziale Lagen einen entsprechend ähnlichen Habitus mit ähnlichen Praxisformen hervorbringen. Mitglieder einer Gruppe mit vergleichbaren Existenzbedingungen besitzen mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit übereinstimmende oder korrespondierende Präferenzen und Einstellungen. Grundsätzlich unterscheidet Bourdieu hierbei für die französische Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre auf Basis der in einer Gesellschaft selbst als Klassifikation in der Praxis wahrgenommenen Einteilung in Klassen368 drei verschieden große Klassen mit jeweils spezifischem Geschmack. Der sowohl kulturell als auch ökonomisch herrschenden Klasse ist ein »Luxusgeschmack« eigen, der sich im Lebensstil entschieden vom Geschmack der mittleren Klasse und insbesondere dem der untersten abhebt. Der Luxusgeschmack trachtet letztlich nach der Stilisierung aller Lebensausdrücke und findet Bourdieu zufolge sein zentrales Geschmackskriterium in der Betonung der Form gegenüber der Funktion, was zugleich von einer Distanz zu den allzu drängenden Zwängen und Nöten des Alltags zeugt.369 Als Negativfolie dienen vor allem die einem »Notwendigkeitsgeschmack« unterstellten Vorlieben der untersten Klasse, welche, unmittelbar 366 Die Orientierung an strukturierten Lebensstiläußerungen als sichtbarem Distinktionsmerkmal hierarchisch geordneter sozialer Gruppen und nicht zuletzt das methodische Programm der von Bourdieu favorisierten multiplen Korrespondenzanalyse haben zahlreiche Studien im Anschluss an Bourdieus Arbeiten beflügelt, die Geschmackskulturen und soziale Positionen im gesamten sozialen Raum sowie in spezifischen Feldern untersuchen (vgl. exemplarisch Coulangeon/Lemel 2007; Gerhards 2008; Prieur/Rosenlund/Skjott-Larsen 2008; Bennett et al. 2009; Gripsrud/Hovden/Moe 2011; Coulangeon/Duval 2014; Hovden/Knapskog 2014; Atkinson/Deeming 2015; Börjesson et al. 2016; Rosenlund 2017). 367 Bourdieu 1982, S. 307. 368 Im Gegensatz zu Marx existieren bei Bourdieu Klassen weder aufgrund objektiv bestimmter Merkmale – im Sinne der Marx’schen »Klasse an sich« – noch aufgrund eines gemeinsamen Bewusstwerdungsprozesses als »Klasse für sich«, sondern sie sind immer nur insofern als »soziale Klassen« zu bezeichnen, als ihre Existenz in der Praxis erzeugt und bestätigt wird, sie mithin also Geltung für die soziale Realität besitzen und demgemäß wissenschaftlich konstruiert werden können, aber nicht lediglich eine Unterstellung scholastischer Art darstellen. Das schließt jedoch Theorie-Effekte nicht aus, wie sie die Aufnahme theoretischer Annahmen – etwa über die Arbeiterklasse – in die alltägliche Praxis darstellt, wo sie zur Grundlage der praktischen Einteilung in Gruppen werden kann (vgl. Bourdieu 1985). Zum Klassenbegriff bei Bourdieu vgl. auch Weininger 2002, 2003, 2005; Petzke 2009. Zur symbolischen Grenzziehung zwischen Klassen und Klassenfraktionen vgl. auch Jarness 2017b. 369 Vgl. Bourdieu 1982, S. 405–499.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Produkt der Existenzbedingungen, keinerlei Zeichen der Verfeinerung tragen und als Reaktion auf die »Not« der sozialen Lage verstanden werden müssen.370 Gemäß einer »anti-kantianischen Ästhetik«371 rückt der Geschmack der untersten Klasse den funktionalen Charakter in den Vordergrund, weil Distanz zur Notwendigkeit aufgrund knapper Ressourcen keine Möglichkeit darstellt, und bildet damit die Kehrseite zum herrschenden Geschmack. Zwischen diesen beiden vertikalen Polen des sozialen Raumes verortet Bourdieu die Mittelklasse, deren in erster Linie als »prätentiös« charakterisierter Geschmack Ausdruck des Strebens nach Anerkennung von oben und Abgrenzung von unten ist.372 Der soziale Raum besitzt im Modell Bourdieus drei Dimensionen, wobei die Betonung zumeist auf den ersten beiden Dimensionen liegt. Auf der ersten, vertikalen Achse sind die Positionen differenziert nach dem verfügbaren Kapitalvolumen, auf der zweiten, horizontalen Achse hinsichtlich der Struktur ihres Kapitals. Die dritte Dimension, die häufig aufgrund der zweidimensionalen grafischen Darstellung nur angedeutet bleibt, gibt den Blick auf die soziale Laufbahn der entsprechenden Gruppen wieder.373 Mit dem Kapitalvolumen ist der verfügbare Umfang an Kapital gemeint, der Akteuren einer Gruppe durchschnittlich, d. h. mit hoher Wahrscheinlichkeit, zukommt. Darunter werden die verschiedenen Kapitalformen, allen voran ökonomisches und kulturelles Kapital, subsumiert. Die im sozialen Raum unten, also niedrig positionierten Gruppen besitzen insgesamt wenig ökonomisches und wenig kulturelles Kapital, diejenigen in hohen Positionen entsprechend von beiden Kapitalformen in Summe viel. Das relative Verhältnis von ökonomischem zu kulturellem Kapital wird als Kapitalstruktur bezeichnet. In dieser Dimension befinden sich im Modell des sozialen Raums bei Bourdieu auf der linken Seite jene, bei denen das kulturelle Kapital gegenüber dem Anteil des ökonomischen überwiegt, wie etwa Professor_innen, und auf der rechten Seite die Gruppen, bei denen die Kapitalstruktur zugunsten eines Übergewichts des ökonomischen Kapitals ausfällt, wie beispielsweise Unternehmer_innen. Innerhalb der größeren Klassen, die vornehmlich vertikal entlang des Kapitalvolumens unterschieden sind, lassen sich mit Hilfe der Kapitalstruktur also Klassenfraktionen differenzieren.374 Die Ebene der dritten Dimension, der sozialen Laufbahn, beschreibt den zeitlichen Verlauf der Position einer Gruppe bzw. Klassenfraktion im sozialen Raum, die ihren Ausdruck im unterschiedlichen Verhältnis zu den verschiedenen Kapitalformen findet. So können etwa je nach Erwerbsmodus des Kapitals Akteure mit gleichem Kapitalvolumen und gleicher Kapital370 371 372 373 374

Vgl. ebd., S. 585–619. Vgl. hierzu auch Blasius/Friedrichs 2001. Bourdieu 1982, S. 81. Vgl. hierzu auch Kastelan 2015. Vgl. Bourdieu 1982, S. 500–584. Vgl. ebd., S. 187–190. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der einzelnen Klassenfraktionen neben den drei Großklassen in Bourdieu 1982.

4.2 Der soziale Raum

95

struktur dennoch voneinander abgegrenzt werden, denn die Dauer der Zugehörigkeit zu einer sozialen Lage nimmt entscheidend Einfluss auf die jeweiligen Praxisformen und die ästhetischen sowie ethischen Einstellungen. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise aufgestiegene arrivierte Gruppen, die von der Bildungsexpansion profitiert haben, von Gruppen trennen, die bereits über Generationen eine soziale Position besetzen und demgemäß über ein anderes Verhältnis zu bestimmten Praxisformen oder Objekten verfügen.375 Bourdieu verweist hier häufig auf das zumeist strengere, von größerem Eifer geprägte Verhältnis zur Kultur, welches die Aufsteiger kennzeichnet.376 Wie hinsichtlich des Geschmacks bereits ausgeführt, unterscheidet Bourdieu grundsätzlich im Raum der sozialen Positionen auf Basis des objektiven Merkmals der Kapitalverfügbarkeit drei Klassen sowie zusätzlich Klassenfraktionen, denen korrespondierende Praxisformen und Objekte im Raum der Lebensstile entsprechen. Im oberen sozialen Raum befindet sich die herrschende Klasse, welche in die zwei Fraktionen von dominantem Großbürgertum (›rechts‹) und Intellektuellen respektive »beherrschten Herrschenden«377 (›links‹) unterteilt ist, und zwar gemäß der Kapitalstruktur, wobei das ökonomische Kapital das ausschlaggebende Kriterium für die Vorherrschaft der erstgenannten Fraktion ist. Die Intellektuellen, welche für die dominierten Fraktionen der herrschenden Klasse stehen, zeichnen sich durch ein relativ betrachtet höheren Anteil an kulturellem Kapital aus und stehen damit besonders dem Unternehmertum als den ökonomisch Herrschenden gegenüber.378 Im Zentrum des sozialem Raums ist die Mittelklasse verortet, in welcher Bourdieu, geordnet nach dem abnehmenden Verhältnis von kulturellem zu ökonomischem Kapital, die Fraktionen von »neuem Kleinbürgertum«, »exekutivem Kleinbürgertum« und »absteigendem Kleinbürgertum« voneinander abhebt.379 Die unterste Klasse wird von den Arbeiter_innen sowie Bäuerinnen und Bauern als Volksbzw. Arbeiterklasse gebildet, bleibt bei Bourdieu jedoch wenig ausdifferenziert.380

375 Vgl. ebd., S. 411f. 376 Typisch ist laut Bourdieu etwa der Bildungseifer des aufsteigenden Kleinbürgertums (vgl. ebd., S. 503). 377 Bourdieu 1991a, S. 63. Vgl. zudem die grundsätzlich chiastische Struktur in relativ autonomen Feldern wie dem der künstlerischen Produktion, wo die kulturell Herrschenden zugleich die ökonomisch Dominierten sind und umgekehrt (Bourdieu 1999). 378 Vgl. Bourdieu 1982, S. 405-499. Für eine Untersuchung der horizontalen Mobilität der einzelnen Fraktionen und »Capital-specific Mobility Barriers« vgl. Flemmen et al. 2017. 379 Vgl. Bourdieu 1982, S. 500–584. Vgl. zu den Grenzziehungen zwischen den Fraktionen der Mittelklasse auch Jarness 2017a. 380 Vgl. Bourdieu 1982, S. 585–619.

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4.3

4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Die verschiedenen Formen des Kapitals

Entscheidend für das Modell des sozialen Raums ist Bourdieus Erweiterung des ökonomischen Kapitalbegriffs um weitere Dimensionen, die eine eigene Strukturierungsqualität aufweisen. Die soziale Positionierung erfolgt auf Basis der Verfügbarkeit von Ressourcen, die Bourdieu als Kapitalformen bezeichnet; die Klassenstruktur entsteht demnach aus der Verteilung der verschiedenen Kapitalien in der Gesellschaft. Im Rahmen des Sozialraummodells werden dabei in erster Linie ökonomisches und kulturelles Kapital unterschieden. Das soziale Kapital bleibt ausgeblendet, was nicht zuletzt der Darstellbarkeit und Erhebung geschuldet sein mag.381 Systematisch hat Bourdieu sein Verständnis des Kapitalbegriffs in dem vor allem für den deutschsprachigen Raum besonders prägenden Aufsatz »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«382 differenziert, in welchem er grundlegend zwischen den drei titelgebenden Formen unterscheidet. Als besonders fruchtbar für die an Bourdieu anschließende Forschung und im Mittelpunkt seines Ansatzes steht dabei die Einführung der Begrifflichkeit des kulturellen Kapitals, die zum Standardvokabular sozialwissenschaftlicher Arbeiten geworden ist.383 Unter ökonomischem Kapital fasst Bourdieu alle Formen materiellen Reichtums, die in Geld umgewandelt werden können, wobei es »besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts«384 geeignet sei. Einkommen sowie Erbschaften, Immobilien, Besitz an Produktionsmitteln, kurz alle möglichen Arten von Vermögen, zählen damit zum ökonomischen Kapital, welches als dominantes Kapital unter den verschiedenen Kapitalformen bestimmt ist. Da Bourdieu in der Tradition Max Webers für die gesellschaftliche Hierarchisierung nicht lediglich die ökonomische Bestimmung als 381 Vgl. Fuchs-Heinritz/König 2011, S. 179. 382 Vgl. Bourdieu 1983. Der Text ist im Gegensatz zu den meisten anderen Texten Bourdieus keine Übersetzung einer vorher bereits auf Französisch publizierten Arbeit. 383 Vgl. zum Begriff des kulturellen Kapitals auch den profunden Überblicksartikel von Michèle Lamont und Annette Lareau (1988). In Reflexive Anthropologie schlägt Bourdieu zudem anstelle von kulturellem Kapital den allgemeineren Begriff des »Informationskapitals« vor, ohne ihn jedoch weiter auszuführen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 151). Die Operationalisierung des kulturellen Kapitals fällt in der Forschung äußerst unterschiedlich aus, was der Offenheit des von Bourdieu eingebrachten Konzepts geschuldet ist und daher eine Anpassung an den jeweiligen Forschungskontext und insbesondere die zur Verfügung stehenden Daten ermöglicht. Letztlich wird häufig auf das Bildungskapital in Form von schulischen Abschlüssen als Ausweis kulturellen Kapitals zurückgegriffen. Auch Lamont und Lareau favorisieren diese institutionalisierte Form, da erst mit ihr eine breite Akzeptanz und Anerkennung von Statussignalen erreicht wird, wie sie für Formen sozialer und kultureller Schließung notwendig sind (vgl. Lamont/Lareau 1988). Vor allem DiMaggio greift als kulturelles Kapital Formen der Teilhabe an Hochkultur – bzw. allgemeiner an Statuskulturen – auf, etwa als Besuch von Konzerten klassischer Musik, von Ausstellungen und Museen oder als Lektüre von Literatur (vgl. DiMaggio 1982; DiMaggio/Mukhtar 2004). 384 Bourdieu 1983, S. 185.

4.3 Die verschiedenen Formen des Kapitals

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hinreichend für die soziale Positionierung annimmt, führt er zusätzlich den Begriff des kulturellen Kapitals ein. Kulturelles Kapital folgt hierbei einer eigenen Logik und ist relativ autonom gegenüber der ökonomischen Bestimmung. Unterschieden werden von Bourdieu drei Formen des kulturellen Kapitals: erstens »inkorporiertes kulturelles Kapital«, zweitens »objektiviertes kulturelles Kapital« und drittens »institutionalisiertes kulturelles Kapital«.385 Der erste »Aggregatzustand« des kulturellen Kapitals umfasst Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Form von dauerhaften Dispositionen, die insbesondere durch die familiäre und schulische Sozialisation verinnerlicht werden und unmittelbar an die Individuen und ihre Körper gebunden sind. Eine einfache Weitergabe dieser Form kulturellen Kapitals ist demnach nicht möglich, durch die Inkorporierung wird es zum Habitus der jeweiligen Person.386 Charakteristisch für das inkorporierte kulturelle Kapital ist der damit verbundene zeitliche Aufwand, der zum einen persönlich aufgebracht werden muss und nicht delegiert werden kann, und zum anderen durch die familiären Bedingungen geprägt ist. Für Bourdieu erscheint dabei die Dauer des Bildungserwerbs als einigermaßen sinnvoller Maßstab für den Umfang des kulturellen Kapitals, wobei hierzu Primärerziehung und Schulbildung zählen.387 Die für den Habitus so entscheidende primäre Sozialisation wirkt sich entsprechend stark auf das inkorporierte kulturelle Kapital aus, so dass die soziale Herkunft gerade deshalb ihre Spuren hinterlässt. Das kulturelle Kapital der Familie bestimmt den Beginn des familiären Prozesses der Vererbung kulturellen Kapitals und dadurch unmittelbar auch dessen Akkumulation. Zudem besteht ein direkter Zusammenhang über die zeitliche Aufwendung mit dem ökonomischen Kapital der Familie, da eine lange Bildungsdauer der Kinder zumeist nur dort möglich ist, wo die Mittel vorhanden sind, diese zu finanzieren. Gerade die Übertragung kulturellen Kapitals stellt Bourdieu zufolge eine besonders verschleierte Form der Vererbung dar, die vor allem dann zum Tragen kommt, wenn Formen der direkten Weitergabe sanktioniert sind und auf andere Strategien der Reproduktion ausgewichen werden muss. Ergänzend hat das Bildungssystem mit Hilfe der vermeintlichen Neutralität und unabhängigen Bewertung schulischer Leistungen an der Sicherung der Vererbung kulturellen Kapitals einen großen Anteil und führt so zu einer Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse.388 Dazu trägt bei, dass inkorporiertes kulturelles Kapital häufig, weil 385 386 387 388

Vgl. ebd., S. 185–190. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. ebd. Vgl. Bourdieu/Passeron 1990. Zusammenfassend stellt Bourdieu gemeinsam mit Passeron fest: »It is precisely its relative autonomy that enables the traditional educational system to make a specific contribution towards reproducing the structure of class relations, since it need only obey its own rules in order to obey, additionally, the external imperatives defining its function of legitimating the established order, that is, to fulfil simultaneously its social function of reproducing the class rela-

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

es personengebunden ist, in seiner Form als Kapital verkannt bleibt und lediglich in seiner symbolischen Form wahrgenommen wird, etwa als individuell zuerkannte Befähigung. Kulturelles Kapital ermöglicht so den Kapitaleinsatz auf Märkten, auf denen das unmittelbar ökonomische Kapital nicht voll zur Geltung kommen kann, wie z. B. dem universitären Markt oder dem Kunstmarkt.389 Darüber hinaus bietet das kulturelle Kapital überall dort, wo bestimmtes Wissen und spezifische Fähigkeiten rar sind, die Gelegenheit über diese Exklusivität Extraprofite zu generieren. Da grundsätzlich nicht allen Akteuren die gleichen Mittel zur Verfügung stehen, um kulturelles Kapital zu vererben und zu akkumulieren, trägt das kulturelle Kapital maßgeblich zur Reproduktion sozialer Ungleichheit in den zeitgenössischen Gesellschaften bei.390 Mit dem objektivierten kulturellen Kapital sind die verschiedenen Formen entäußerten kulturellen Kapitals gemeint, die beispielsweise als Gemälde, Bücher, Antiquitäten etc. materiell existieren. Bestimmend ist hierbei aber nicht der materielle Charakter der Träger, denn auch Sprachen sind Bourdieu zufolge Formen objektivierten kulturellen Kapitals, sondern vielmehr die Abgeschlossenheit und Unabhängigkeit gegenüber den Individuen und deren inkorporiertem kulturellem Kapital. Objektiviertes kulturelles Kapital kann zwar direkt über ökonomisches Kapital angeeignet werden, wie etwa beim Ankauf von Gemälden, die eigentliche Aneignungsweise vollzieht sich jedoch in symbolischer Form und setzt inkorporiertes kulturelles Kapital voraus. Erst wer vor dem Hintergrund der eigenen Kenntnisse über die Kompetenz zum Genuss der kulturellen Werke verfügt, nimmt diese wirklich ganz in Besitz.391 Unter dem Begriff des institutionalisierten kulturellen Kapitals versammelt Bourdieu die verschiedenen Titel, Zeugnisse und Diplome, die eine durch das Bildungssystem oder offizielle Stellen beglaubigte Bescheinigung der Kenntnisse und Fähigkeiten der Individuen, mithin den Nachweis ihres inkorporierten kulturellen Kapitals, darstellen. Ergänzend verwendet Bourdieu hierfür auch den Begriff des Bildungskapitals.392 In der Form von Zertifikaten findet eine Objektivierung des inkorporierten kulturellen Kapitals statt, das dadurch relativ unabhängig von den jeweiligen Inhaber_innen besteht,

389

390 391 392

tions, by ensuring the hereditary transmission of cultural capital, and its ideological function of concealing that social function by accrediting the illusion of its absolute autonomy.« (ebd., S. 199). Vgl. hierzu auch Bourdieu 2011. Diese invertierte Logik, die Verneinung des Ökonomischen, zeichnet alle Felder aus, die eine relative Autonomie gegenüber der ökonomischen Sphäre aufrechtzuerhalten suchen. Letztlich handelt es sich dabei, wie Gregor Bongaerts konstatiert, um Verdrängungen des Ökonomischen in mehrfacher Weise, etwa als Ausschluss der Ökonomie aus spezifischen symbolischen Feldern und zugleich als deren Verdrängung im Freud’schen Sinne, die als untergründige Präsenz weiterhin konstitutiv für die jeweiligen Felder bleibt (vgl. Bongaerts 2008). Vgl. auch zur Aktualisierung kulturellen Kapitals in Alltagsprozessen, wie etwa Unterhaltungen, Lizardo 2016. Vgl. Bourdieu 1983, S. 189f. Vgl. etwa Bourdieu 1982, S. 31–167.

4.3 Die verschiedenen Formen des Kapitals

99

insofern ihnen ein rechtlicher Status zugesichert wird, der ohne Ansehen der Person tendenziell permanent gültig und dauerhaft anerkannt ist, während er vom aktuellen Stand des kulturellen Kapitals der Individuen losgelöst existiert. Geschieden wird damit auch legitimes kulturelles Kapital von illegitimen Formen, wie etwa dem autodidaktisch Angeeigneten.393 Besondere Bedeutung gewinnt dies vor dem Hintergrund der möglichen Transformation kulturellen Kapitals in ökonomisches: »Die Zulassung zu Berufen und somit die Möglichkeit, das erworbene kulturelle Kapital in ein finanzielles Einkommen, d. h. in ökonomisches Kapital umzuwandeln, ist zuallererst von der Verfügung über entsprechende Legitimitätsnachweise in Form von Schul-, Berufs- und Bildungsabschlüssen abhängig.«394 Das institutionalisierte kulturelle Kapital ist zudem Ausweis investierter Zeit und daher auch Resultat der Transformation ökonomischen Kapitals in kulturelles, mit dem Ziel dieses kulturelle Kapital wieder in ökonomische oder symbolische Werte umwandeln zu können. Dass die Bildungsinvestition zugleich eine Wette auf die Zukunft ist, zeigt sich nicht zuletzt an sich verändernden Arbeitsmärkten, die durch Bildungsexpansion und »Credentialism«395 sehr variable Umrechnungskurse für die spezifischen institutionalisierten Formen kulturellen Kapitals besitzen. Bourdieu verweist angesichts des Institutionalisierungsprozesses nachdrücklich auf die sich darin vollziehende »kollektive Magie«396, mit der etwa über festgelegte Quoten oder Punktzahlen innerhalb einer stetigen Menge diskrete Trennlinien gezogen werden, die den einen den institutionalisierten Ausweis ihres kulturellen Kapitals zugestehen und damit offiziell deren Fähigkeiten und Kenntnisse anerkennen, den anderen die Legitimität ihres kulturellen Kapitals jedoch verweigern: »In diesem Fall sieht man deutlich, welche schöpferische Magie sich mit dieser institutionalisierten Macht verbindet, der Macht, Menschen zu veranlassen, etwas zu sehen und zu glauben oder, mit einem Wort, etwas anzuerkennen.«397 Die Macht, mittels dieser Anerkennung zugleich einer sozialen Schließung Vorschub leisten zu können, zeigt sich nicht zuletzt angesichts der Probleme, die die Anerkennung der Abschlüsse von Migrant_innen aufwirft.398 Wie Joseph Jurt betont, führt Bourdieu den Begriff des kulturellen Kapitals anfangs ein, um im schulischen Kontext die unterschiedlichen Leistungen von Schüler_innen aus verschiedenen sozialen Klassen vor dem Hintergrund ihrer Existenzbedingungen – den ihnen zur Verfügung stehenden Kapitalformen – zu untersuchen.399 Damit ist der Begriff des kulturellen Kapitals dezidiert von Ansätzen zu trennen, die im Sinne merito393 394 395 396 397 398 399

Vgl. ebd., S. 513–519. Schwingel 2005, S. 90f. Vgl. hierzu Collins 1979. Bourdieu 1983, S. 190. Ebd. – Hervorhebungen im Original. Vgl. hierzu Bauder 2003; Erel 2010; Nohl/Schittenhelm/Schmidtke/Weiß 2010. Vgl. Jurt 2012, S. 28f.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

kratischer Ideale auf natürliche Begabung oder individuell zugeschriebene Leistungsbereitschaft abheben, oder die, wie etwa die Humankapital-Theorie von Gary S. Becker, Bildungsinvestitionen auf den schulischen Bezugsrahmen beschränken und rein am ökonomisch messbaren Output orientieren.400 Die Reproduktion sozialer Ungleichheit als Effekt des Bildungssystems über institutionalisiertes kulturelles Kapitals wie auch die verdeckte Vererbung und weichenstellende Weitergabe kulturellen Kapitals im familiären Kontext bleiben in diesen Ansätzen vollkommen ausgeblendet. Das kulturelle Kapital spielt für die Reproduktion der sozialen Positionen deshalb eine so große Rolle, weil zum einen Klassenfraktionen, die nicht über hohes ökonomisches Kapital verfügen, auf die Vererbung des kulturellen Kapitals angewiesen sind, und zum anderen auch die ökonomisch herrschenden Gruppen auf Strategien der legitimen Kapitalvererbung zurückgreifen, und zwar umso mehr, je stärker die Transmission ökonomischem Kapitals reglementiert ist. Bourdieu spricht daher mit Blick auf die herrschenden Gruppen von deren strategischer Diversifikation der Investitionen, die zur zunehmenden Anlage in Bildungstitel führt.401 Der mögliche Rückgriff auf andere Kapitalformen vermag dann auch auf dem schulisch-akademischen Markt zweckmäßige Vorteile zu verschaffen. Für die Ungleichheitsforschung hat sich vor allem der Aspekt des institutionalisierten kulturellen Kapitals als produktiv erwiesen, zumeist als Bildungskapital gefasst, denn er erlaubt die Bezugnahme auf »cultural capital performing the functions of power resource and indicator to class position: because it is certified, widely diffused across classes and quantifiable, it can be used as an indicator of class position. It can also refer to cultural capital used as a power resource, because credentials facilitate access to organizational positions.«402 Die verschiedenen Dimensionen kulturellen Kapitals werden von Bourdieu um den Begriff des sozialen Kapitals ergänzt, welches er folgendermaßen bestimmt: »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.«403 Damit greift Bourdieu schon früh die Bedeutung von Netzwerken auf, mittels derer Akteure Zugriff auf die Kapitalformen anderer besitzen bzw. ihren eigenen Kapitalien nachdrücklich Geltung verleihen können. Grundlage sind die sozialen Beziehungen der Akteure untereinander, die zur Wahrung des sozialen Kapitals in einer Art permanenten 400 401 402 403

Vgl. hierzu auch Becker/Hadjar 2009. Vgl. Bourdieu 1983, Fußnote 25. Lamont/Lareau 1988, Fußnote 4. Bourdieu 1983, S. 190f. – Hervorhebungen im Original.

4.3 Die verschiedenen Formen des Kapitals

101

»Beziehungsarbeit«404 über Tauschakte aufrechterhalten werden müssen. Es sind dabei nicht lediglich die Beziehungen innerhalb der Familie, in Freundeskreisen oder unter Bekannten, die ökonomisches oder kulturelles Kapital zur Verfügung stellen, sondern insbesondere Formen der Zuordnung zu so verschiedenen Gruppen wie Clubs, Parteien, Organisationen, Klassen, (Hoch-)Schulen etc. Hierüber lassen sich entsprechende Profite generieren, sei es unmittelbar materiell durch die Unterstützung der Gruppe oder symbolisch durch die reine Zugehörigkeit etwa zu einer elitären Vereinigung, beispielsweise als Alumni eines Ivy League Colleges oder einer der Grandes Écoles.405 Als soziales Kapital üben diese Beziehungen und Mitgliedschaften eine Art Multiplikatoreffekt auf die Kapitalformen der Individuen aus, so dass Personen mit gleicher Kapitalienausstattung je nach sozialem Kapital unterschiedliche Profite erlangen können, wobei die mobilisierbaren Kapitalien selbst abhängig von der Größe des Netzwerkes und der Kapitalien der Mitglieder sind. Die mehr oder weniger stabile Existenz von Netzwerken ist zugleich Resultat einer beständigen »Institutionalisierungsarbeit«406, die Bourdieu zufolge als individuelle sowie kollektive Investition verstanden werden kann, deren Ziel, den Individuen nicht zwangsläufig bewusst, letztlich der aus den Beziehungen erzielbare Nutzen ist. Aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe erwachsen auf Basis der gegenseitigen Anerkennung wechselseitige Verpflichtungen, die den Fortbestand der Gruppe garantieren und diese auch nach außen gegen Fremde abschließen. Gerade mit dieser Grenzziehung findet eine Form sozialer Schließung statt, die soziale Ungleichheiten perpetuiert, indem sich etwa etablierte Gruppen und Eliten in tendenziell exklusiven Netzwerken reproduzieren.407 Soziales Kapital kann somit als eine Form von Kapital neben ökonomischem und kulturellem verstanden werden, welches diese zu potenzieren vermag und dabei zur Aufrechterhaltung bestehender Machtbeziehung und Ungleichheitslagen beiträgt oder sie mit verstärkt.408 Der Begriff des sozialen Kapitals wird von Bourdieu – wie auch der des kulturellen Kapitals – keineswegs einheitlich noch systematisch verwendet, zudem bleibt er zumeist lediglich auf konzeptioneller Ebene integriert. Dennoch ist der Begriff

404 405 406 407

Vgl. ebd., S. 193. Vgl. auch Tholen/Brown/Power/Allouch 2013; Brown/Power/Tholen/Allouch 2014. Vgl. Bourdieu 1983, S. 192. Beispielhaft seien nur die sogenannten »Legacy Preferences« an US-amerikanischen Universitäten genannt (vgl. Soares 2007; Martin 2010). 408 Alexandra König und Werner Fuchs-Heinritz weisen darauf hin, dass soziales Kapital unter bestimmten Bedingungen als politisches Kapital verstanden werden kann – etwa dort, wo das entscheidende Kriterium zur Nutzung von Ressourcen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei ist, wie beispielsweise innerhalb totalitärer Regime, wo dementsprechend eine Reproduktion der Nomenklatura stattfindet (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2011, S. 170). Zur Frage der Elitenreproduktion und des Status »politischen Kapitals« nach dem Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa vgl. auch Szelényi/Szelényi 1995.

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

mit der zunehmenden Vernetzung, Mediatisierung409 und Globalisierung sozialer Beziehungen in den beiden letzten Dekaden zum zentralen Bezugspunkt für die vor allem angloamerikanische sozial- und politikwissenschaftliche Forschung geworden. Im Zentrum dieser Arbeiten steht jedoch weniger ein an Bourdieu und der Ungleichheitsperspektive orientierter Zugang, sondern vielmehr eine an James S. Coleman, Robert D. Putnam, Nan Lin, Ronald S. Burt und die Netzwerkforschung angelehnte Sichtweise, deren inhaltliche Ausrichtung teils erheblich zum Bourdieu’schen Ansatz differiert und vor allem positive gegenüber kritischen Aspekten der Akkumulation sozialen Kapitals hervorhebt.410 In der Konzeption Bourdieus kommt den verschiedenen Kapitalformen neben dem ökonomischem vor allem die Rolle einer spezifischen Macht bzw. Potenz zu, die sich in Bereichen äußert, in denen eine offen ökonomisch orientierte Praxis illegitim erscheint und daher eine verdeckte Reproduktion der Verhältnisse als opportun gilt – was mitnichten einer bewussten Strategie geschuldet sein muss. Zwar können sowohl kulturelles als auch soziales Kapital durch die Investition ökonomischen Kapitals erlangt werden, was diesem letztlich die dominante Rolle innerhalb des Gefüges an Kapitalformen verschafft. Die Transformation ökonomischen Kapitals bedarf dennoch immer einer gewissen Verausgabung von Arbeit, da etwa Netzwerke zeitintensiv und häufig auf lange Sicht gepflegt werden müssen, um im gegebenen Fall in Anspruch genommen werden zu können. Diesen Kosten der Umwandlung entsprechen auf der anderen Seite Gewinne, die nur deshalb erlangt werden können, weil das ökonomische Kapital nicht in Reinform auftritt. Insgesamt gilt Bourdieu zufolge bei allen Transformationen eine Art Energieerhaltungssatz: Was auf der einen Seite als Verschwendung erscheinen mag, ermöglicht in einem ganz anderen Bereich Profite, die sich ohne diese Verausgabung nicht hätten realisieren lassen.411 Einen besonderen Status nimmt der von Bourdieu zusätzlich eingeführte Begriff des symbolischen Kapitals insofern ein, als er nicht auf einer Ebene mit den anderen Kapitalformen angesiedelt ist, sondern vielmehr als »Meta-Kapital«412 verstanden werden muss: »Jede Art Kapital (ökonomisches, kulturelles, soziales) tendiert (in unterschiedlichem Grade) dazu, als symbolisches Kapital zu funktionieren (so daß man vielleicht 409 Vgl. hierzu exemplarisch Krotz/Despotović/Kruse 2017. 410 Vgl. Coleman 1988, 1990; Burt 1992; Putnam 1993, 2000; Lin 1999, 2001; Tzanakis 2013 sowie exemplarisch die Sammelbände Lin/Cook/Burt 2001; Franzen/Freitag 2007; Lüdicke/Diewald 2007. 411 Vgl. Bourdieu 1983, S. 196. 412 Vgl. Barlösius 2011, S. 111. Loïc Wacquant weist darauf hin, dass Bourdieu mit dem Konzept des symbolischen Kapitals einen äußerst komplexen Begriff vorgelegt hat – nicht zuletzt die mitunter sehr unterschiedlichen Lesarten sprechen für diese Sichtweise –, der im Zentrum seines gesamten Werkes steht (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 151). Vgl. hierzu auch Fuchs-Heinritz/König 2011, S. 171ff.

4.3 Die verschiedenen Formen des Kapitals

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genauer von symbolischen Effekten des Kapitals sprechen sollte), wenn es explizite oder praktische Anerkennung erlangt […].«413 Als symbolisches Kapital wird somit die Form der Anerkennung, des Renommees, des Prestiges und der Ehre bezeichnet, die Personen aufgrund des Besitzes einer der anderen Kapitalien zugesprochen wird. Letztlich handelt es sich um die erkannte – als den feldspezifischen Wahrnehmungsformen angepasste – und anerkannte – als die in diesem Feld für legitim befundene – Form der verschiedenen Kapitalien.414 Erst als symbolisches Kapital werden die unterschiedlichen Formen von Kapital zur Quelle materieller wie symbolischer Profite und legitimer Machtansprüche. Fehlt diese Anerkennung, wie etwa dem rein ökonomischen Kapital im Feld der Kunst oder der Wissenschaft, so erscheinen Deutungsansprüche und Handlungen in diesem ihm ›fremden‹ Feld als tendenziell illegitim. Impliziert ist hier zugleich, dass dem symbolischen Kapital die Verkennung der ihm zugrundeliegenden Prozesse der Akkumulation und Aneignung inhärent ist, so dass es sich als natürlicher und selbstverständlicher Maßstab der Bewertung durchzusetzen vermag. Eskamotiert werden somit die sozialen Ungleichheiten, welche die Basis der ungleichen Verfügung über die unterschiedlichen Kapitalien bilden und zu den herrschenden Machtverhältnissen führen. Vor dem Hintergrund des symbolischen Kapitals und der damit verbundenen symbolischen Macht werden in den spezifischen Feldern Hierarchien aufrechterhalten – wie z. B. der legitimen Geschmacksurteile – und Kämpfe um Deutungshoheit ausgefochten. Als typisches Beispiel symbolischen Kapitals kann etwa das institutionalisierte kulturelle Kapital in Form von Diplomen und Zertifikaten gelten, welches weitreichende gesellschaftliche Anerkennung erfährt und ihre Inhaber_innen in einer bestimmten sozialen Position verortet, oder auch die Zuerkennung von Preisen und Ehrungen, die ihren Besitzer_innen feldrelevantes Prestige zukommen lässt. Neben den drei grundlegenden Kapitalformen und dem symbolischen Kapital unterscheidet Bourdieu zudem vielfach in Abhängigkeit der jeweils untersuchten sozialen Räume bzw. Felder spezifische Kapitalarten.415 Religiöses, politisches, staatliches und 413 Bourdieu 2001b, S. 311 – Hervorhebung im Original. 414 Im Modus der wechselseitigen Bestimmung von Feld und Habitus fasst Bourdieu die Anerkennung respektive Passung von Habitus und symbolischem Kapital wie folgt zusammen: »Genauer gesagt: Das Kapital existiert und agiert als symbolisches Kapital […] in der Beziehung zu einem Habitus, der darauf eingestellt ist, es als Zeichen, und zwar als Zeichen von Wichtigkeit, wahrzunehmen, das heißt, es in Abhängigkeit zu kognitiven Strukturen zu kennen und anzuerkennen, die geeignet und entsprechend ausgerichtet sind, ihm Anerkennung zu schenken, weil sie selbst übereinstimmen mit dem, was es ist.« (ebd.). 415 Entsprechend allgemein ist die Bestimmung des Kapitalbegriffs jenseits der besagten Grundformen bei Bourdieu gehalten: »Ein Kapital oder eine Kapitalsorte ist das, was in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam ist, das, was es seinem Besitzer erlaubt, Macht und Einfluß auszuüben, also in einem bestimmten Feld zu existieren und nicht bloß eine ›quantité négligeable‹ zu sein.« (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 128 – Hervorhebung im Original).

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4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

universitäres Kapital sind nur einige der Formen, die ihre Spezifität aus den konkreten Feldern erlangen, deren Analyse sich Bourdieu zuwendet, wobei sie jedoch zumeist selbst nicht näher in ihrer Begrifflichkeit konkretisiert werden.416 Es handelt sich hierbei um das den jeweiligen Feldern angepasste Kapital, welches im Zentrum der dortigen Auseinandersetzungen steht und abhängig von der internen Struktur des Feldes und seiner Lage im Feld der Macht in einem je eigenen Tauschverhältnis zu den drei maßgeblichen Kapitalformen steht.417

4.4

Anknüpfungen an Bourdieu – Kapitalformen in Auseinandersetzung mit Informations- und Kommunikationstechnologien

In der weiteren Forschung zu digitalen Medien und im Kontext digitaler Ungleichheiten wurde wiederholt der Versuch unternommen, an das Kapitalkonzept Bourdieus anzuknüpfen und entsprechende Begriffe zu entwickeln. Hier hat sich vielfach das im Zusammenhang mit dem Besitz und Bau von Eigenheimen von Bourdieu knapp als spezifische Spielform des kulturellen Kapitals eingeführte »technische Kapital«418 als fruchtbar erwiesen. Der Aspekt der Fertigkeiten und Kenntnisse erfährt dabei Erweiterung in Bezug auf Technologien. Technisches Kapital als Zugang zu und Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien wird zur entscheidenden Ressource in der Wissensgesellschaft, so dass »[a] familiarity with, and a positive disposition towards the use of, the burgeoning technologies of the information age can be seen as an additional form of cultural capital bestowing advantage on those families which possess them and the means of appropriating their full potential.«419 Auch die Aussicht, mittels internetbasierter Technologien, wie z. B. Blogs, auf Öffentlichkeiten Einfluss nehmen zu können, etwa hinsichtlich der medialen Repräsentation von Minderheiten, zeigt, in welchem Umfang technisches Kapital im Internet – sowie letztlich darüber hinaus – Relevanz

416 Vgl. hierzu exemplarisch Bourdieu 2001a, 1994b, 1992a, 1991b. 417 Vgl. etwa die unterschiedlichen Strategien und Positionen im universitären Feld, die abhängig von der sozialen Herkunft und der Kapitalausstattung zur Spekulation auf eher institutionelle Macht oder intellektuelles respektive wissenschaftliches Prestige führen und sich nicht zuletzt auch in der Gegenüberstellung von Fakultäten zeigen, wie z. B. der Künste und Sozialwissenschaften gegenüber den juristischen und medizinischen Fakultäten (Bourdieu 1992a). 418 Vgl. Bourdieu 2005b, S. 78–81. Bestimmend für Hauskauf und Eigenheimbesitz ist Bourdieu zufolge auf Seiten der Nachfragenden neben ökonomischem und kulturellem Kapital auch das technische Kapital, welches als Unterform des kulturellen Kapitals für technische Kompetenzen und korrespondierendes Wissen steht, welche im (Aus-)Bau des Hauses selbst eingebracht werden können und sich deshalb auch als »capital of the DIYer« (ebd., S. 29) verstehen lassen. 419 Emmison/Frow 1998, S. 44.

4.4 Anknüpfungen an Bourdieu

105

gewinnt und dort als eine Art kulturelles Kapital die Teilhabechancen prägt.420 Ausgehend von Bourdieu und mit Rekurs auf die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour und John Law konzipiert zudem Weiyu Zhang die Möglichkeit, strukturelle Verknüpfungen mit Technologien einzugehen, als technisches Kapital, welches gemeinsam mit anderen Ressourcen wie ökonomischem Kapital oder Bildungstiteln Handlungsbedingungen mitbestimmt und mit diesen als Aktanten in einem netzwerkartigen Zusammenhang steht.421 In Abhängigkeit der jeweils in spezifischen Kontexten verwendeten Technologien ergeben sich digitale Ungleichheiten, die als Ausdruck unterschiedlichen technischen Kapitals oder dessen ungleicher Akkumulation interpretiert werden können: So ist die Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen, wenn sie beispielweise im Internet stattfinden, an zahlreiche Voraussetzungen gebunden, die nicht nur durch die ungleiche Verteilung von ökonomischem und kulturellem Kapital strukturiert sind, sondern auch durch spezifisch technische Bedingungen respektive »structural relations with technologies.«422 Das technische Kapital entscheidet in diesen Settings über die erfolgreiche Hervorbringung und den Erhalt der strukturellen Beziehungen mit Hilfe der konkreten Technologien, abhängig von der verwendeten Hardware wie Laptops oder Smartphones, von Softwares, Interfaces etc., wobei die ungleiche Verteilung technischen Kapitals sowie die divergierenden Möglichkeiten der Konvertierung anderer Kapitalien jeweils ermöglichendes oder begrenzendes Moment sind. Vor allem statusniedrige Personen erfahren diesbezüglich »difficulties in establishing and maintaining a relationship with the technologies available in the field. They are also found to be less successful in converting other capitals into the technical capital in need.«423 Auch Melissa Gilbert schließt mit ihrer Konzeption des »Technological Capital« an Bourdieu an und sieht darin die »actual or potential collective resources related to access to, use of, and knowledge related to ICTs.«424 Ihr Fokus liegt auf der Entwicklung eines umfassenden heuristischen Ansatzes, der »Urban Inequalities« mit digitalen Ungleichheiten zusammendenkt. Der ungleiche Zugriff auf besagtes technologisches Kapital ist eingebettet in Strukturen räumlicher Ungleichheit, die von der globalen und nationalen Makroebene – etwa dem Arbeitsmarkt und dem Sozialstaat – über regionale Dimensionen wie dem 420 Vgl. Brock/Kvasny/Hales 2010. Nick Selwyn (2004) versammelt unter dem Begriff des »Technological Capital« die ungleichen Ressourcen an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, auf die Individuen, aber auch Gemeinden, zurückgreifen können, wenn sie Technologien verwenden und im Rahmen der Absicherung ihrer sozialen Position einsetzen. Für eine andere Perspektive auf »Technical Capital« im Zusammenhang mit Computerspielen vgl. Kirkpatrick 2010. Mia Consalvo (2007) führt wiederum das Konzept des »Gaming Capital« ein, um spezifisches Wissen und entsprechende Praktiken im Kontext von »Game Cultures« zu charakterisieren. 421 Vgl. Zhang 2010. 422 Ebd., S. 1022. 423 Ebd., S. 1034. 424 Gilbert 2010, S. 1005.

106

4 Habitus, Kapital und sozialer Raum – Theoretischer Rahmen

Wohnungsmarkt bis zur individuellen Ebene alltäglicher Handlungsroutinen reichen. Diese Strukturen werden zugleich selbst zunehmend durch technologisches Kapital geprägt. Als kollektive Ressource steht Gilbert zufolge technologisches Kapital in räumlichen Kontexten unterschiedlich zur Verfügung, was zu einem ungleichen Ausmaß an Zugang zu und Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf individueller Seite führt. Die diesbezüglichen Handlungsmöglichkeiten für Akteure, die sich auf der individuellen Ebene in Abhängigkeit von z. B. Familienstrukturen, Nachbarschaftsbeziehungen, Wohnort, Arbeitsplatz usw. ergeben, sind als »Technological Capacity« bestimmt. Das Verhältnis dieser technologischen Kompetenzen im Sinne von Agency zur kollektiven Ressource des technologischen Kapitals bildet den Kern der Frage nach »empowerment or disempowerment of people related to ICTs.«425 Während technisches Kapital zumeist als individuelles, letztlich spezifisches kulturelles Kapital behandelt wird, weist Gilberts Konzept mit einer explizit kollektiven Dimension eine Nähe zum Netzwerkcharakter des sozialen Kapitals auf.426 Unter dem Begriff »Digital Capital«427 fasst zudem Jane Seale die beiden maßgeblichen Kapitalformen des sozialen und kulturellen Kapitals in ihrer Relevanz für die Internetverwendung zusammen. Damit erfahren die beiden von Bourdieu eingeführten Begriffe eine Anpassung an die Handlungsmöglichkeiten im Internet. »Digital Cultural Capital« beinhaltet entsprechend Kompetenzen, Fähigkeiten und Wissen im Umgang mit Technologien und insbesondere dem Internet, »Digital Social Capital« referenziert hingegen das Netzwerk an Kontakten, welches unterstützend bei der Verwendung zur Verfügung steht und damit Zugriff auf das entsprechende kulturelle Kapital anderer gewährt. Letztlich handelt es sich um diejenigen Formen des Kapitals, welche Seale zufolge entscheidend für die Nutzung von Technologien und die Frage sozialer In- und Exklusion sind. Bourdieus Ansatz hat sich bereits vielfach als produktiv für die Untersuchung von Ungleichheiten gezeigt und bietet in der jeweiligen Anpassung seiner Konzepte Werkzeuge für die Forschung, um die je neuen, spezifischen Formen der Praxis mit sozialen Strukturen zu verknüpfen. Auch in dieser Arbeit bilden die Konzepte des Habitus, des sozialen Raums und der verschiedenen Kapitalformen die zentrale theoretische Referenz, um digitale Ungleichheiten zu untersuchen und die diversen Internetpraktiken an Positio425 Ebd., S. 1012. 426 In Anlehnung an das Sozialkapitalkonzept von Putnam hat Paul Resnick mit dem Begriff des »Sociotechnical Capital« auf die herausgehobene Bedeutung von Technologien und besonders des Internets für die Produktion von sozialem Kapital hingewiesen. Soziale Beziehungen verändern sich unter den Bedingungen technologievermittelter Kommunikation, wobei sich die entscheidenden Transformationen der Interaktion von Technologien und sozialen Praktiken weniger im Bereich der »Strong Ties«, sondern vor allem für das »Bridging Capital« ergeben (vgl. Resnick 2002, 2005). 427 Vgl. Seale 2013; Seale/Georgeson/Mamas/Swain 2015.

4.4 Anknüpfungen an Bourdieu

107

nen im sozialen Raum rückzubinden. Dabei bietet der Habitusbegriff die Möglichkeit, die Vermittlung von sozialen Positionen und Praxisformen auf eine Weise zu denken, die weder voluntaristisch Praxis aus der Verankerung in sozialen Strukturen löst noch ein absolut deterministisches Verhältnis zwischen beiden nahelegt. Vielmehr lässt sich so über den Vollzug unzähliger Praktiken, zu denen auch die Internetaktivitäten gehören, die tendenzielle Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen begreifen. Als bestimmend für die Position im sozialen Raum wird die Verfügung über grundlegende Kapitalien konzipiert, welche wiederum in der Praxis akkumuliert werden können. Über diese Akkumulation von Kapital lassen sich die sozialen Positionen stabilisieren und mitunter verändern, Lebenschancen aufrechterhalten und Mobilitätspotenziale gewinnen. Bevor die Analyse des Zugangs zum Internet und der verschiedenen Internetpraktiken in Kapitel 6 vor dem Hintergrund dieser Annahmen vorgenommen wird, soll im folgenden Kapitel zunächst auf die bisherige Forschung zur Digital Divide eingegangen werden.

5

Forschungsfeld Digital Divide

5.1

Einleitung zum Begriff Digital Divide

Der Begriff der Digital Divide, dt. digitale Spaltung, lässt sich prominent mit Manuel Castells folgendermaßen bestimmen: »The usual meaning of ›the digital divide‹ refers to inequality of access to the Internet. […] [A]ccess alone does not solve the problem, but it is a prerequisite for overcoming inequality in a society whose dominant functions and social groups are increasingly organized around the Internet.«428 Der Ursprung der Begrifflichkeit ist nicht vollständig geklärt429, zeitlich fällt seine Urheberschaft in die Mitte der 1990er Jahre. Prominenz erlangte er vor allem durch die von der amerikanischen National Telecommunications and Information Administration (NTIA)430 herausgegebenen Veröffentlichungen zum Stand der digitalen Durchdringung der Gesellschaft, die nachhaltig sowohl die politische Debatte als auch die mediale Auseinandersetzung mit dem Thema digitaler Ungleichheiten geprägt haben. In der ersten Publikation aus dem Jahre 1995 unter dem sprechenden Titel »Falling Through the Net« wurde allerdings noch nicht mit dem Begriff der »Divide« argumentiert.431 In dem Report »Connecting the Nation: Classrooms, Libraries, and Health Care Organizations in the Information Age« aus dem gleichen Jahr findet sich jedoch bereits die Rede vom Risiko einer »Divide« und eines »Widening Gap« zwischen den sogenannten »Information Haves« und »Information Have-Nots«.432 Ziel müsse daher der NTIA zufolge die Schaffung von 428 Castells 2001, S. 248. 429 Zu den verschiedenen Ursprungsmythen vgl. Marr 2005, S. 22, Fußnote 5. 430 Die National Telecommunications and Information Administration (NTIA) ist als Behörde des Handelsministeriums (»Department of Commerce«) der USA für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien und Reformvorschlägen für den Kommunikations- und Informationsbereich zuständig. Dazu gehören auch die Sicherstellung eines grundlegenden Zugangs zu Informations- und Kommunikationsmitteln für alle US-Bürger, etwa via Radio, Fernsehen und Internet, die Entwicklung von Strategien zur Durchsetzung der Interessen amerikanischer Unternehmen der Kommunikationsbranche im globalen Handel sowie die Analyse gegenwärtiger IKT-Verbreitung und die Erforschung zukünftiger Nutzungs- und Durchsetzungspotenziale (»About NTIA«, https://www.ntia. doc.gov/about (01.09.2017)). Bezüglich des Internets formuliert die NTIA ihre Aufgabe wie folgt: »NTIA is the Executive Branch agency that is principally responsible for advising the President on telecommunications and information policy issues. NTIA’s programs and policymaking focus largely on expanding broadband Internet access and adoption in America, expanding the use of spectrum by all users, and ensuring that the Internet remains an engine for continued innovation and economic growth« (»Our Mission«, https://www.ntia.doc.gov (01.09.2017)). 431 Vgl. NTIA 1995b. 432 NTIA 1995a, S. 2.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rudolph, Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2_5

110

5 Forschungsfeld Digital Divide

Zugangsmöglichkeiten für alle US-Amerikaner sein, so dass keine Nachteile aufgrund von Einkommen, Gesundheitszustand oder Region entstünden.433 Hintergrund dafür bildete die von der Clinton-Regierung und insbesondere Vizepräsident Al Gore betraute Initiative einer »National Information Infrastructure« (NII), der allgemeinen Vernetzung der Gesellschaft und eines umfassenden Zugangs zu Informationen, nicht zuletzt um wirtschaftliche Prosperität zu fördern. Fokus dieser frühen Sichtweise ist dabei die Zugänglichkeit, sowohl im Sinne von Kosten (»Affordability«) als auch der Erreichbarkeit (»Accessibility«). Gerade öffentlichen Einrichtungen wurde eine Schlüsselrolle zuerkannt, damit »traditionally unserved and underserved groups, including the poor, ethnic and racial minorities, rural Americans, and disabled individuals, will have greater opportunities to access and benefit from the NII.«434 Dass demnach klassische Kategorien der Ungleichheit wie Klasse oder Ethnie eine entscheidende Rolle für den Zugang zu digitalen Medien und insbesondere das Internet spielen, wurde bereits früh festgestellt. Eingebunden wurden diese Ergebnisse vor allem in einen politischen Steuerungskurs, dessen Ziel die Sicherung der Vormachtstellung der USA in einer entstehenden digitalen Ökonomie war. Im Titel der 1998 und 1999 erschienenen Nachfolgepublikationen zu »Falling Through the Net« der NTIA findet der Begriff der Digital Divide erstmals direkt Verwendung.435 Insbesondere letzterem Bericht geht es, wie im Untertitel »Defining the Digital Divide« erklärt, um eine genauere Bestimmung der »disparities in access to telephones, personal computers (PCs), and the Internet across certain demographic groups«, nicht zuletzt vor dem bereits damals Besorgnis erregenden Befund, dass »the gap for computers and Internet access has generally grown larger by categories of education, income, and race.«436 Fokus wurde dabei explizit auf den Zugang gelegt, wobei dieser als Besitz von Telefonen und Computern sowie Zugang zu privaten Internetanschlüssen operationalisiert wurde. In den folgenden Berichten der NTIA verändert sich dabei diese Operationalisierung. So treten der Besitz von Telefonen und Computern in den Hintergrund, in den Mittelpunkt rücken stattdessen der Internetzugang, etwa hinsichtlich der Möglichkeit der Breitbandnutzung, und zunehmend die Nutzung des Internets selbst in Form verschiedener Anwendungen wie beispielsweise E-Mail. Bei den Arbeiten der NTIA handelt es sich vornehmlich um deskriptive Feststellungen unterschiedlicher Zugangsraten, nicht jedoch um eine Erklärung der Ursachen digitaler Ungleichheit. Die Digital Divide erscheint als Differenz zwischen Nutzer_innengruppen, aufgeteilt nach den verschiedenen soziodemografischen Merkmalen. Dass dies dennoch früh als umfas433 434 435 436

Vgl. ebd. Ebd. NTIA 1999. Ebd., S. 2.

5.1 Einleitung zum Begriff Digital Divide

111

sende Ungleichheitsproblematik wahrgenommen wurde, zeigt sich am Einbezug vielfältiger Dimensionen wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Bildung, Herkunft/Ethnie, Region, Familienstand, Stadt-Land-Gefälle und körperliche Behinderung. Mirko Marr verweist darauf, dass in dieser Konzeptualisierung die Digital Divide einerseits als bestehender Zustand betrachtet wird, wobei die digitale Spaltung umso größer ist, je größer die Differenz zwischen den unterschiedlichen Nutzungsgruppen ist, zugleich aber die NTIA durch den Einbezug von Vergleichsdaten zu verschiedenen Zeitpunkten auch eine temporale Dimension mitberücksichtigt.437 Aus diesem Blickwinkel stellt sich die Digital Divide als Zunahme der Unterschiede zwischen den verschiedenen soziodemografisch aufgesplitteten Gruppen dar. Dies kann wiederum ergänzt werden durch die Betrachtung der spezifischen zumeist jährlichen Zuwachsraten der unterschiedlichen Gruppen. Diese verweisen auf eine Vergrößerung der digitalen Spaltung, wenn jener Zuwachs bei den Gruppen größer ist, die bereits über einen höheren Anteil an Zugang besitzen, d. h. der Zuwachs bei den benachteiligten Gruppen im Vergleich geringer ausfällt.438 Allen diesen frühen Betrachtungen der Digital Divide gemein ist die strikte Trennung zwischen jenen mit Zugang und jenen, die davon ausgeschlossen sind. Auch wenn mittlerweile eine Vielzahl an Erweiterungen und Revisionen dieses Konzepts vorgelegt wurden, kann »[d]ie von der NTIA vorgenommene Definition […] in ihrem Kern mit gutem Recht als jenes Problemverständnis bezeichnet werden, das die öffentliche Auseinandersetzung um die digitale Spaltung weit über die USA hinaus bis heute prägt.«439 Jenseits der medialen Debatten und politischen Diskussion, die stark auf eine technologische Diffusion konzentriert sind, hat in der wissenschaftlichen Diskussion der Digital Divide eine Erweiterung des Fokus stattgefunden, der in zunehmendem Maße auch die Nutzung des Internets mit in den Blick nimmt. Einher geht damit auch der Einbezug von Fragen nach den Konsequenzen ungleicher Verwendung des Internets. So hat etwa Jan van Dijk die ungleiche Internetnutzung hinsichtlich des Einflusses auf Ressourcendifferenzen theoretisiert und Paul DiMaggio mit Eszter Hargittai für eine begriffliche Verschiebung in der Auseinandersetzung weg von der Digital Divide hin zur »Digital Inequality« votiert.440 Der vornehmlich technikdeterministischen Annahme, dass eine ubiquitäre Verbreitung des Internets bereits als Lösung der Divide-Problematik

437 Marr 2005, S. 23. 438 Vgl. exemplarisch NTIA 1998. 439 Marr 2005, S. 24. Selbst der 2013 geschlossene Koalitionsvertrag »Deutschlands Zukunft gestalten« zwischen CDU, CSU und SPD rekurriert noch auf diese Begrifflichkeit, wenn bezüglich des Breitbandausbaus von einer »digitalen Spaltung« zwischen Stadt und Land die Rede ist, deren Abbau notwendige Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität sei (vgl. CDU/CSU/SPD 2013, S. 34f.). 440 Vgl. DiMaggio/Hargittai 2001; van Dijk 2005a.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

anzusehen sei, wird damit die tiefere Beschäftigung mit Ungleichheiten bezüglich der Internetnutzung entgegengesetzt.441 Zur Unterscheidung verschiedener Dimensionen der Digital Divide und ihrer Konsequenzen hat Pippa Norris bereits 2001 die Typologie von »Global Divide«, »Social Divide« und »Democratic Divide« eingeführt. Die »Global Divide« bezeichnet jene digitale Spaltung, die sich zwischen Nationalstaaten in globalem Maße ergibt, wobei zumeist die Zahl der Internetnutzer_innen und somit also die Internetverbreitung gemessen wird. Daten hierzu werden insbesondere von der International Telecommunication Union (ITU), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, erhoben und zur Verfügung gestellt.442 Innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens spricht Norris von einer »Social Divide«, welche im besonderen Maße dort relevant wird, wo grundsätzlich der Zugang möglich ist. Gerade in den sogenannten industrialisierten Ländern »it becomes even more important if certain groups are excluded from this resource, whether poorer neighborhoods and peripheral rural areas, of the older generation, girls and women, ethnic minorities, and those lacking college education.«443 Mit der »Democratic Divide« lässt sich auf eine dritte Form der Spaltung verweisen, die direkt die Frage nach den Möglichkeiten einer erweiterten Partizipation und eines neuen Interesses an Öffentlichkeiten anspricht, welche von vielen optimistischen bis euphorischen Stimmen angesichts der schier unendlich scheinenden Potenziale der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und allem voran des Internets in Aussicht gestellt werden. Gerade zwischen denjenigen, die bereits politisch engagiert sind und jenen NichtEngagierten besteht laut Norris die Tendenz einer zunehmenden Spaltung, weil erstere in erweitertem Maße von den veränderten politischen Bedingungen profitieren würden: »In this regard, the Internet will largely serve to reinforce the activism of the activists, facilitating participation for those who are already interested in politics by reducing some of the opportunity costs of communicating, mobilizing, and organizing.«444 Wie Norris unterstreicht, lassen sich demnach auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich gelagerte Klüfte konstatieren, auf die nach einem Rekurs auf die Wissenskluftforschung vertiefend eingegangen werden soll.

441 Vgl. exemplarisch DiMaggio/Hargittai/Celeste/Shafer 2004. 442 Vgl. International Telecommunication Union 2017. In der International Telecommunication Union der Vereinten Nationen sind 193 Länder sowie über 700 private und akademische Institutionen vertreten. Die Aufgaben der ITU umfassen neben der Entwicklung von Standards und der Verwaltung von Funkfrequenzen insbesondere die Beratung sogenannter Entwicklungsländer beim Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien unter dem Motto »Connecting all the world’s people« (vgl. »About ITU«, http://www.itu.int/en/about (01.09.2017)). 443 Norris 2001, S. 234. 444 Ebd., S. 238.

5.2 Die Wissenskluftforschung

5.2

113

Die Wissenskluftforschung

Bevor im Folgenden die wissenschaftliche Debatte, die im Anschluss an die Popularisierung des Konzepts der Digital Divide geführt wird, eine explizite Darstellung erfährt, soll als zentrale Referenz dieser Auseinandersetzung die Forschung zum sogenannten »Knowledge Gap« thematisiert werden. Diese gewinnt im Angesicht der massenhaften Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien wieder enorm an Relevanz, weshalb etwa Nicole Zillien von einem »Comeback der Wissensklufthypothese«445 nach einer Phase längerer Dethematisierung spricht. 5.2.1

Die Wissensklufthypothese in ihrer ursprünglichen Fassung

Ausgangspunkt der Wissensklufthypothese ist der nahezu paradox anmutende bzw. zumindest erstaunliche Umstand, dass entgegen der Erwartung die Einführung neuer Massenmedien und deren breite Diffusion nicht notwendigerweise zu einer Angleichung der politischen Informiertheit und einer Zunahme des Wissens aller Bevölkerungsgruppen geführt haben. Stattdessen wurde schon 1970 an der University of Minnesota von Phillip J. Tichenor, George A. Donohue und Clarice N. Olien die These aufgestellt, dass gerade die Durchsetzung neuer Massenmedien zu einer Vergrößerung der Wissensunterschiede, dem sogenannten »Knowledge Gap«, zwischen verschiedenen Gruppen in der Bevölkerung führe.446 Bekanntheit erlangte die Wissensklufthypothese vor allem im Bereich der Medien- und Kommunikationswissenschaft und dort prominent im Rahmen der Medienwirkungsforschung.447 Ausgehend von der Analyse unterschiedlicher Daten zur Nachrichtenverbreitung kommen die Autoren zu folgender Annahme: »As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population with higher socioeconomic status tend to acquire this information at a faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease.«448 Entscheidend für das Verständnis der These ist hierbei die Betrachtung des relativen Verhältnisses der Gruppen zueinander, d. h. selbst wenn die Einführung und Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien für alle Bereiche der Bevölkerung eine Vergrößerung von Wissen und Information bedeuten, so profitieren statushöhere Gruppen in stärkerem Maße davon. Mithin ließe sich von einer erweiterten Reproduktion der Unterschiede auf einer höheren Ebene

445 446 447 448

Vgl. Zillien 2006, S. 70. Vgl. Tichenor/Donohue/Olien 1970. Für einen diesbezüglichen Überblick vgl. Jäckel 2011 und Schweiger/Fahr 2013. Tichenor/Donohue/Olien 1970, S. 159f.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

sprechen. Fraglich ist demnach, weshalb es zu dieser unterschiedlichen Aneignung449 von Wissen und Informationen kommt. Tichenor, Donohue und Olien zufolge lassen sich die unterschiedlichen Gründe für das Entstehen einer Wissenskluft und deren Verstärkung infolge zunehmender Medienverbreitung auf die fünf Faktoren von (1) »Communication Skills«, (2) »Existing Knowledge«, (3) »Relevant Social Contact«, (4) »Selective Exposure, Acceptance and Retention of Information« und (5) »Mass Media System« zusammenfassen.450 Unter (1) »Communication Skills« werden vor allem die bildungsabhängigen Fähigkeiten zum Lesen und Verstehen von Texten gefasst, die entsprechend große Relevanz für die Aneignung von Inhalten besitzen. Je höher die formale Bildung ist, desto weitreichender sind im Allgemeinen die Kommunikationskompetenzen, die für den Erwerb politischen oder wissenschaftlichen Wissens entscheidend sind. Darüber hinaus spielt auch (2) das Vorwissen, bei den Autor_innen relativ technisch als »amount of stored information, or existing knowledge«451 bezeichnet, eine wichtige Rolle. Je umfassender das bereits über Massenmedien oder im Zuge der Bildungslaufbahn erworbene Wissen bezüglich eines Themas ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, auf dieses Thema in den Medien aufmerksam zu werden und ein entsprechendes Verständnis zu entwickeln. Ebenso von Bedeutung sind (3) die sozialen Beziehungen als »Relevant Social Contact«, wobei hier im Zusammenhang mit steigendem Bildungsgrad einerseits von einem größeren Kreis an Alltagsaktivitäten ausgegangen wird und andererseits damit nicht nur die Anzahl an Bezugsgruppen wächst, sondern auch die der interpersonalen Kontakte. All dies führt letztlich dazu, dass die von den Autor_innen untersuchte Aneignung von klassischem Wissen über Politik in dem Maße wahrscheinlicher wird, in welchem relevante Gesprächspartner_innen vorhanden sind. Als maßgeblicher weiterer Faktor wird (4) die Selektivität der Informationsgewinnung im Sinne von »Selective Exposure, Acceptance and Retention of Information« angesehen. Auch hier sind die Bereitschaft zur Aneignung von Informationen sowie Auswahl und Verwendung eng an das Bildungsniveau geknüpft. Dabei muss jedoch auch die Rolle von Einstellungen (»Attitudes«) berücksichtigt werden, da ganz allgemein eine »apparent tendency to interpret and recall information in ways congruent with existing beliefs and values«452 zu konstatieren ist.

449 In der Wissenskluftforschung wird der Erwerb von Wissen (»Acquisition of Knowledge«) in unterschiedlicher Weise operationalisiert. Tichenor, Donohue und Olien beziehen sich unter anderem auf die Zustimmung zu Überzeugungen über Themen, die aktuell in den Nachrichten diskutiert werden, damals etwa, ob in näherer Zukunft ein Mensch den Mond erreichen würde, und auf experimentelle Überprüfung des Leseverständnisses. Andere berufen sich beispielsweise auf das Wiedererkennen wichtiger nationaler Politiker (vgl. Torsvik 1972). 450 Vgl. Tichenor/Donohue/Olien 1970, S. 161f. 451 Ebd., S. 162. 452 Ebd.

5.2 Die Wissenskluftforschung

115

Ein struktureller Faktor ist zudem (5) die jeweilige Spezifik der Massenmedien. Insbesondere die untersuchten Printmedien haben traditionell, so die Autor_innen, eine Leserschaft mit tendenziell höherem sozioökonomischen Status, wobei hier eindeutig eine Orientierung an den sogenannten »Qualitätsmedien«453 vorgenommen wurde. Offensichtlich wird anhand der fünf verschiedenen Faktoren der zentrale Bezug der Wissensklufthypothese auf die formale Bildung. Alle Faktoren konstatieren statusbedingte als im engeren Sinne bildungsbedingte Unterschiede in der Wissensaneignung. Operationalisiert wurde die Wissensklufthypothese über zwei Annahmen: Erstens wurde davon ausgegangen, dass über eine Zeitperiode die Aufnahme von Wissen über ein viel publiziertes Thema bei Personen mit höherem Bildungsgrad schneller vonstattengeht. Zweitens sei zu einem spezifischen Zeitpunkt der Zusammenhang zwischen Wissenserwerb und Bildung für häufig publizierte Themen größer als für eher selten besprochene.454 Mit Blick auf eine Vielzahl an empirischen Studien fanden Tichenor, Donohue und Olien im Großen und Ganzen ihre Hypothesen bestätigt, auch wenn die Zusammenhänge oftmals nur schwach waren. Resümierend stellen sie dennoch fest: »At least for the subjects investigated here, the mass media seem to have a function similar to that of other social institutions: that of reinforcing or increasing existing inequities.«455 Ergänzend wird von den Autor_innen auf die Spezifik des Printsystems hingewiesen, insbesondere gegenüber anderen massenmedialen Institutionen wie etwa dem Fernsehen, welchem wiederum die mögliche Rolle eines »Knowledge Levelers«456 zugesprochen wird. Daran angelehnt stellt sich auch für das multimediale Setting des Internets, mit Webseiten, Blogs, Foren, Audio- sowie Videoformaten usf. die Frage nach Wissensklüften völlig neu. Entscheidend ist dabei, dass mögliche Differenzen in der Aneignung und Nutzung tiefgreifende soziale Effekte haben und entsprechend nicht nur bestimmten gesellschaftlichen Gruppen eine größere Vorreiterrolle hinsichtlich sozialen und technologischen Wandels zukommt, sondern mitunter auch grundlegend die gesellschaftliche Spaltung perpetuiert und vertieft wird. 5.2.2

Anknüpfungspunkte der Forschung – Weiterentwicklungen und Kritik

Im Zuge der Verbreitung der ursprünglichen Studie kamen sowohl deren Autor_innen als auch eine Vielzahl an Folgestudien zu Überarbeitungen, Revisionen, kritischen Ein-

453 454 455 456

Vgl. hierzu auch Lünenborg 2012. Vgl. Tichenor/Donohue/Olien 1970, S. 163. Vgl. ebd., S. 170. Ebd. Vgl. hierzu auch Miyo 1983; Jenssen 2013.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

schätzungen und Widerlegungen der ursprünglichen These von der Wissenskluft.457 Kritisiert wurde nicht nur die unklare Ausarbeitung des eigentlichen Kommunikationsmodells, welches ursprünglich aus der Mikroperspektive argumentierend letztlich zu einem strukturellen Makromodell wurde, sondern auch die unscharfe und zu offene Formulierung der Wissensklufthypothese selbst sowie das methodische Programm, angefangen vom Untersuchungsdesign bis zur problematischen Interpretation der statistischen Ergebnisse. Besonders kritisch ist vor dem Hintergrund der Frage nach sozialer Ungleichheit die Engführung sozioökonomischer Merkmale auf lediglich den formellen Bildungsgrad: »Level of education is used in these studies as an indicator of socioeconomic status.«458 Zudem werden zwar die oben aufgeführten Faktoren als einflussreiche Bedingungen genannt, jedoch in die Analyse nicht in Form zu überprüfender Hypothesen eingebunden. Ihre Erklärungskraft bleibt demnach vollkommen opak. In der Folge der Veröffentlichung von Tichenor, Donohue und Olien hat in den 1970er Jahren die Wissenskluftforschung einen wahren Boom erlebt, so dass Cecilie Gaziano bereits 1983459 58 Studien mit Bezug zur Wissenskluftforschung aufführen konnte, die von ihr bis 1995460 um nochmals 34 diesbezügliche Arbeiten erweitert wurden. Diese mittlerweile über hundert verschiedenen Forschungsarbeiten sind hierbei nicht zuletzt aufgrund der notwendigen Revisionen und Erweiterungen sowie der unterschiedlichen Forscher_innengruppen äußerst divers und disparat.461 Als besonders einflussreich hat sich die von James S. Ettema und F. Gerald Kline vorgebrachte »Differenzhypothese« gezeigt. Im Gegensatz zur ursprünglichen Formulierung der Wissensklufthypothese ist sie an den individuellen Bedürfnissen der Individuen orientiert und nimmt Motivation sowie individuelle bis schichtspezifische Funktionalität des Wissens als entscheidende Einflussfaktoren mit auf.462 Hinsichtlich eines bestehenden »Knowledge Gap« wird dieser Perspektive zufolge weniger ein problematisches Defizit in der Wissensaneignung unterschiedlicher sozioökonomischer Gruppen festgestellt als ein den kontextuellen Bedingungen angemessener und der individuellen Relevanz geschuldeter Erwerb von Wissen. Letztlich erscheint die Motivation zum Wissenserwerb nur mehr abhängig von den Notwendigkeiten der sozialen Position. Dem sozioökonomischen Status entsprechend sei jeweils differentes Wissen funktional, weshalb 457 Vgl. Donohue/Tichenor/Olien 1975. Einen informierten Überblick über die Wissensklufthypothese, deren entscheidende Veränderungen und Modifikationen inklusive ihrer inhärenten Problematik sowie eine ausführliche Darstellung der Kritik gibt Reinhold Horstmann (1991). 458 Vgl. Donohue/Tichenor/Olien 1975, S. 10. 459 Vgl. Gaziano 1983. 460 Vgl. Gaziano 1995. 461 Horstmann (1991) hat in Ergänzung Gazianos angesichts der Fülle an Arbeiten ein Differenzierungsraster vorgeschlagen und strukturiert die Studien bezüglich der (1) behandelten Themen, (2) der Operationalisierung des Wissens sowie (3) der untersuchten Medien. 462 Vgl. Ettema/Kline 1977.

5.2 Die Wissenskluftforschung

117

sich die Motivation zur Aneignung den Umständen entsprechend spezifisch ausnimmt. Ettema und Kline kommen daher in Abwandlung der Wissensklufthypothese zu folgendem Schluss: »As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population motivated to acquire that information and/or for which that information is functional tend to acquire the information at a faster rate than those not motivated or for which it is not functional, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease.«463 Anstelle eines – sicher auch zu reflektierenden – Kanons politischen Wissens setzen die Autor_innen die nur mehr individuelle Nützlichkeit des Wissens in den Mittelpunkt. Dem normativen und demokratietheoretischen Ideal einer umfassenden Informiertheit aller Bürger_innen zur politischen Partizipation, wie es sich in der Ursprungsthese artikuliert, wird damit die Spitze genommen. Jeglicher makrostruktureller Bezug, der nicht zuletzt Wissensklüfte als Formen sozialer Ungleichheit problematisiert und damit auch politischen Handlungsbedarf formuliert, wird damit abgeschafft. Dem elitären Standpunkt dieser Sichtweise zufolge erscheint es, wie Werner Wirth zusammenfasst, »für das Funktionieren einer Demokratie ausreichend, wenn nur eine besonders gebildete und kompetente Elite informiert ist und am gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozeß partizipiert.«464 Dieser Perspektive entsprechend sollten sich Wissensklüfte weniger bei Themen mit direktem Bezug zum Alltag der jeweiligen Gruppen finden lassen – typisch hierfür sind etwa Lokalpolitik, Sport oder Unterhaltungsthemen –, hingegen stärker in vermeintlich dem Alltag enthobenen Bereichen von beispielsweise internationaler Politik, Wirtschaft oder klassischem Feuilleton. Dennoch hat sich, wie Horstmann darstellt, die Unterscheidung von »naheliegenden« und »entfernten« Themen bezüglich der Produktion von Wissensklüften als wenig hilfreich gezeigt, da die auf empirischer Ebene gefundenen widersprüchlichen Ergebnisse verschiedener Studien keine eindeutigen Schlüsse von Themen auf Wissensklüfte zulassen und zudem die Bedeutung weiterer Faktoren neben der formalen Bildung bisher nicht ausreichend geklärt ist.465 Ein für die Konstatierung von Wissensklüften besonders relevanter Aspekt ist der von Ettema und Klime in die theoretische Diskussion eingeführte sogenannte »CeilingEffekt«. Wie bereits begrifflich anklingend, handelt es sich hierbei um eine Art obere Grenze, über die hinaus keine weitere Mehrung an Wissen stattfinden kann. Zwar lässt sich allgemein keine Grenze für Wissen im Sinne von Bildung angeben, wohl aber für ein spezifisches Thema hinsichtlich der Verbreitung. Werden nun Wissensklüfte bezüglich bestimmter Fragestellungen festgestellt und über eine temporale Dimension betrachtet, so kann es aufgrund des »Ceiling-Effekts« zu einer messbaren Verringerung der 463 Ebd., S. 188 – meine Hervorhebung. 464 Wirth 1997, S. 35. 465 Vgl. Horstmann 1991, S. 33–38.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

Unterschiede kommen, da mitunter eine gewisse gesamtgesellschaftliche Sättigung eines Themas erreicht werden kann. Jene Gruppen etwa, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt einen großen Wissensvorsprung gegenüber anderen Gruppen hatten, können diesen nicht beliebig weit vergrößern. Ettema und Kline unterscheiden dabei zwischen »Ceilings« auf Basis der Nachrichteninhalte, dem betrachteten Wissensbereich und dem Publikum selbst und fordern bei der Betrachtung von Wissensklüften die Reflexion auf solche Deckeneffekte ein.466 Hinsichtlich der Nachrichteninhalte lässt sich mit Kasisomayajula Viswanath und John R. Finnegan, Jr. ergänzen, dass hier Deckeneffekte schon deshalb weniger wahrscheinlich werden, da permanent neue Themen aktuell werden, sich also ständig neue Wissensklüfte bezüglich neuer Wissensbereiche ergeben können.467 Problematisch erscheint in dieser Forschungsrichtung auch die theoretische Modellbildung. So wird entschieden zwischen dem Interesse an Themen – auch im Sinne von Motivation zur Aneignung – und formaler Bildung als je erklärendem Faktor differenziert, nicht jedoch über einen größeren Vermittlungszusammenhang reflektiert. Das Interesse an bestimmten Themen und die Motivation zur Rezeption einerseits und sozioökonomische respektive bildungsbezogene Variablen andererseits werden zu konkurrierenden Faktoren bei der Erklärung von Wissensklüften, weshalb hinsichtlich dieser Konzeptualisierung Nojin Kwak auch vom »Rival Explanation Model«468 spricht. Spätere Modelle, die hingegen den Zusammenhang von formaler Bildung und Motivation betonen und damit die ursprüngliche Knowledge-Gap-Hypothese, also den Einfluss bildungsbezogener sozioökonomischer Variablen auf den Wissenserwerb, um den vermittelnden Charakter motivationaler Faktoren ergänzen, können in Abgrenzung dazu mit dem Label »Causal Association Model«469 bezeichnet werden. Dieser Perspektive zufolge wirken sich die sozioökonomischen Faktoren – in erster Linie die Bildung – kausal auf die Motivation aus, welche wiederum den Wissenserwerb beeinflusst. Der Motivation, etwa in Form von Interesse oder Involvement, kommt hierbei die Rolle der Vermittlung zu. Modelltheoretisch stellt dies gegenüber der ersten Formulierung der Knowledge-Gap-Hypothese vor allem eine Konkretisierung der Wissensaneignung dar. Kwak votiert dabei für einen dritten Ansatz, das »Motivation Contingency Model«, bei dem bildungsbezogene Faktoren ihren Einfluss in Zusammenhang oder exakter: Interaktion mit jeweils unterschiedlicher Motivation ausüben. Konkret geschieht dies in der Form, dass »the gap in knowledge between high and low SES groups will decrease among those who are motivated or for whom the information is functional; the gap between SES groups will increase among those who are not motivated or for whom the 466 467 468 469

Vgl. Ettema/Kline 1977, S. 197–200. Vgl. Finnegan et al. 1989; Viswanath/Finnegan 1996. Kwak 1999, S. 386f. Ebd.

5.2 Die Wissenskluftforschung

119

information is not functional.«470 Wissensklüfte sind daher mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zwischen Gruppen unterschiedlicher Bildungsniveaus mit niedriger Motivation zu finden als zwischen Gruppen mit höherer, so die These. Der Einfluss der Motivation ist also abhängig von der Bildung und wirkt sich bei Gruppen mit geringerem Bildungsniveau umso stärker aus, so dass bildungsbedingte Wissensklüfte abnehmen, wenn Gruppen mit geringerem Bildungsniveau eine höhere Motivation bezüglich der Aneignung von Wissen besitzen. Grundsätzlich kann zur Wissenskluftforschung mit Werner Wirth konstatiert werden, dass die erfolgversprechendste Perspektive jene ist, die, wie auch Kwak feststellt, nicht zwischen Entweder-Oder von Defizithypothese und Differenzannahme – oder »Rival Explanation Model« und »Causal Association Model« – endgültig zu entscheiden sucht, sondern sowohl sozioökonomische Variablen als auch motivationale Einflüsse als einander beeinflussende und interagierende Faktoren aufnimmt.471 Desiderat der Forschung ist in dieser Hinsicht zum einen die Einbindung weiterer statusrelevanter Faktoren jenseits des engen Blicks auf das formale Bildungsniveau. Zum anderen wird die Reflexion auf den Status von Motivation und Interessen angestrebt, die oftmals situationsspezifisch verortet werden, jedoch vor allem Resultat langfristiger Prozesse sozialer ›Vererbung‹ und Sozialisation sind. In der Wissenskluftforschung besteht weiterhin Uneinigkeit über die befragten Wissensarten, für die Wissensklüfte konstatiert werden; eine exakte Definition, um welche Formen des Wissens es sich handelt, fehlt sowohl in der ursprünglichen Studie als auch bei einer Vielzahl der Folgearbeiten. Den Hintergrund für die notwendige Einführung einer Differenzierung bildet dabei nicht zuletzt das von Peter Clarke und F. Gerald Kline eingeführte Konzept der Aussagendiskriminierung (»Message Discrimination«)472 und die daran anknüpfende Erweiterung des Blickwinkels über das klassischerweise von den Forschenden als ›objektiv‹ wichtiges und relevantes Wissen deklarierte Faktenwissen hinaus, dessen empirische Abfrage vor allem direkt Bildungsunterschiede adressiert und zumeist dem normativen Ideal der Forschenden entspricht. Mit der Hinwendung zu den Rezipient_innen und der Frage nach den für sie entscheidenden salienten Informationen soll diese rein normative Wissensdefinition in Frage gestellt und der jeweiligen Funktionalität des Wissens in Anlehnung an die bereits oben dargestellte »Differenzhypothese« mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

470 Ebd., S. 389. 471 Vgl. Wirth 1997, S. 40. 472 Zum »Message Discrimination«-Ansatz von Clarke und Kline vgl. Clarke/Kline 1974; Finnegan et al. 1989.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

Bereits Donohue, Tichenor und Olien unterscheiden dabei zwischen zwei Wissensformen: einerseits »Knowledge of« als der typischen Form der Verbreitung technologischer und wissenschaftlicher Informationen im massenmedialen System, die aufgrund der Begrenzungen des Mediensystems eher einer oberflächlichen Darstellung von Fakten gleichkommt und bei Rezipient_innen bereits Vertrautheit mit einem Thema voraussetzt; andererseits »Knowledge about« als tiefergehendes analytisches Wissen.473 Inwiefern diese beiden Präsentationsmodi von Wissen in den Medien auf Seiten der Aneignung zu unterschiedlichen Wissensklüften führen könnten, wird jedoch von den Autor_innen nicht ausgeführt. Eine daran anknüpfende, ähnlich gelagerte Unterscheidung ist die von Bistrakapka L. Genova und Bradley Greenberg vorgeschlagene Differenzierung von Faktenwissen und Strukturwissen, die folgendermaßen in die Forschung integriert wurde: »Factual knowledge tapped the respondent’s knowledge of specific items, names, dates, places, facts, and figures, related to specific news occurrences. […] Structural knowledge indexed the respondent’s understanding of the relationships manifested in an event, how or why it took place, and the event’s place in the broader framework of related phenomena.«474 Beim Faktenwissen handelt es sich also dieser Unterscheidung nach um eher einfaches, objektiv auf seine Richtigkeit überprüfbares Wissen über Tatsachen und Ereignisse – typisch hierfür sind Fragen nach dem Wer, Was, Wo, Wann. Beim Strukturwissen hingegen geht es um Wissen über Hintergründe, weitere Zusammenhänge und zugrundeliegende Strukturen, deren Überprüfbarkeit nicht ohne Weiteres gegeben ist. Hier liegt die Betonung auf Fragen nach dem Wie? und Weshalb? Studien, die an diese Differenzierung von Fakten- und Strukturwissen anknüpfen, versuchen in der Regel die jeweils spezifischen Einflüsse von Bildung, Interesse bzw. Motivation und weiterer Faktoren auf Faktenwissen und/oder Strukturwissen zu ergründen. Grundsätzlicher Tenor ist dabei die Annahme, dass Faktenwissen einem geringeren Einfluss durch Bildung unterläge und somit Wissensklüfte einfacher zu verringern seien und umgekehrt gerade Wissen über weitere Kontexte, Bedingungen und Folgen – Strukturwissen – stärker durch die formale Bildung geprägt sei.475 Horstmann kommt jedoch in Anbetracht einer Vielzahl an Studien unter Verwendung dieser Unterscheidung in Fakten- und Strukturwissen für die Einteilung des Forschungsfeldes zu dem

473 Vgl. Donohue/Tichenor/Olien 1973, S. 655. 474 Genova/Greenberg 1979, S. 84. 475 Vgl. auch Bonfadelli, der zwischen einer horizontalen Wissensdimension, die auf der Ebene von Faktenwissen angesiedelt ist, und einer vertikalen Dimension, dem strukturellen Wissen, unterscheidet. Gerade für die vertikale Wissensdimension geht er von prägnanten Wissensklüften aus, da diese Wissensform vor allem durch die schulische Bildung geprägt sei (vgl. Bonfadelli 1994, S. 82– 85).

5.2 Die Wissenskluftforschung

121

eher ernüchternden Resümee, dass keine eindeutige Tendenz hinsichtlich des Einflusses der Bildung feststellbar sei.476 Von besonderer Relevanz für die spätere Digital-Divide-Forschung ist die Medienspezifik der Wissensklufthypothese. Diese wurde in erster Linie bezogen auf Printmedien formuliert, so dass deren Befunde nicht ohne weiteres auf andere Medien übertragen werden können. Angesichts differenzieller Mediennutzung bleibt also fraglich, ob und in welcher Form sich Wissensklüfte ergeben. Dem vielfach bestätigten engen positiven Zusammenhang zwischen Zeitungsnutzung und formaler Bildung477 stand die Beobachtung gegenüber, dass vor allem statusniedrigere Personen das Medium Fernsehen nutzen würden und somit weitaus größere Bevölkerungsteile etwa mit Fernsehnachrichten erreicht werden könnten.478 Schon die ursprünglichen Autor_innen der Wissensklufthypothese sahen, wie bereits erwähnt, im Fernsehen die Möglichkeit eines »Knowledge Levelers« gegeben. Dem schließen sich weitere Positionen an, die aufgrund der Unterhaltungsorientierung des Fernsehens und der vermeintlich relativ oberflächlichen Behandlung von Themen wenig Grundlage für die Entstehung von Wissensklüften sehen.479 Untersuchungen zur US-amerikanischen Kindersendung »Sesame Street« haben allerdings gezeigt, dass das als »Bildungsfernsehen« für Vorschulkinder gestartete Programm, welches explizit auch auf die Bedürfnisse bildungsferner respektive benachteiligter Schichten Rücksicht neben will, hinter seinem Anspruch zurückbleibt. Und zwar insofern, dass wie Thomas D. Cook et al.480 ausführlich darstellen, Kinder aus statushöheren Schichten in erweitertem Maße von möglichen Lerneffekten profitierten als Kinder mit Eltern aus statusniedrigeren Schichten.481 Es kann also auch bezüglich des Fernsehens von der grundlegenden Möglichkeit diverser Wissensklüfte ausgegangen werden. Gleiches gilt für den gesamten Bereich audiovisueller Medien und nicht zuletzt für das Spektrum multimedialer Inhalte im Internet. Die hierzu relevante Forschung soll im Folgenden unter dem Begriff der Digital Divide ausführlich dargestellt werden. Direkte Vergleiche zwischen Onlinenachrichten und Zeitungsnachrichten bezüglich der Entstehung von Wissensklüften haben in experimentellen Settings starke Unterschiede in der Wissensaneignung gefunden, die darauf hindeuten, dass gerade die Nutzung neuer Medien einen »Information Gap«482 erzeugt. Insbesondere Personen mit höherer Bil-

476 477 478 479 480 481

Vgl. Horstmann 1991, S. 33. Vgl. Gustafsson/Weibull 1997; Schoenbach/Lauf/McLeod/Scheufele 1999. Vgl. exemplarisch Eveland/Scheufele 2000. Vgl. etwa Newman 1976. Cook et al. 1975. Insbesondere Einkommen und Bildung waren hierbei positiv mit der Rezeption der Sendung korreliert, hingegen nur in geringerem Maß die für US-amerikanische Studien besonders relevante Kategorie »Race« (vgl. ebd., S. 20). 482 Vgl. Yang/Grabe 2011.

122

5 Forschungsfeld Digital Divide

dung profitieren dabei sowohl von der Rezeption von Nachrichten durch Zeitungen als auch über Onlineplattformen, wohingegen gerade bildungsfernere Gruppen sich eher durch die Rezeption von Zeitungsnachrichten Wissen aneignen, bezüglich Onlinenachrichten jedoch signifikant schlechter beim Verständnis abschneiden.483 Die Perspektive der Wissenskluftforschung fokussiert letztlich explizit die Frage, wie sich unterschiedliche sozioökonomische Gruppe Wissen aneignen und zwar in Abhängigkeit der verschiedenen verwendeten Medien. Mit den digitalen Medien gewinnt sie daher besondere Relevanz. Der Anschluss der Digital-Divide-Forschung an diese Tradition der klassischen Medien- und Kommunikationsforschung erscheint daher naheliegend, geht dabei allerdings über die Perspektive des reinen Wissenserwerbs durch Medien hinaus.484

5.3

Forschung zur digitalen Spaltung

Mit der Begrifflichkeit der digitalen Spaltung ist der begründete Verdacht einer Zunahme sozialer Ungleichheit mit der Einführung des Internets angesprochen. Den zumeist euphorischen Beschwörungen eines »Global Village«485, wie es schon Marshall McLuhan angesichts der Verbreitung des Fernsehens 1962 prognostiziert hatte, in welchem auf Basis der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien möglichst alle Bevölkerungsteile vernetzt sein sollten,486 steht nicht zuletzt die kritische Perspektive der Wissenskluftforschung gegenüber. Insbesondere angesichts der Entwicklung des Internets und internetbasierter Dienste stellt sich – vielleicht drängender als je zuvor – die grundlegende Frage der Wissenskluftforschung nach einer möglichen Fortsetzung und Zunahme von Ungleichheiten bei der Durchsetzung neuer Medien und der Erweiterung des Informationsangebots. In den Mittelpunkt gerät damit die Auseinandersetzung, ob ungleicher Zugang zum Internet, ungleiche Verbreitung sowie Nutzung eine Form strukturierter Ungleichheit darstellen und es auf Basis sozioökonomischer und demografischer Unterschiede daher zu einer Verstärkung bzw. Persistenz bestehender Ungleichheiten kommt. Werden also ohnehin privilegierte Gruppen in erweitertem Maße von den Vorteilen des Internets profitieren und weniger privilegierte Gruppen zunehmend den Anschluss verlieren oder können hingegen alle gesellschaftlichen Gruppen von den Möglichkeiten des Internets in gleichem Maße Gebrauch machen? Wo hinsichtlich des Internets Ungleichheiten auftreten können und inwiefern sich verschiedene Dimensionen der Ungleichheit differenzieren lassen, soll im Folgenden 483 Vgl. ebd. 484 Einen Überblick über die herausgehobene Bedeutung der Wissenskluft-Hypothese für die theoriegeleitete kommunikationswissenschaftliche Forschung zum Internet gibt Patrick Rössler (2007). 485 Vgl. McLuhan 1962. 486 Vgl. exemplarisch Rheingold 1993; Barlow 1996; Barbrook/Cameron 1996.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

123

diskutiert werden. Die Entwicklung der Modelle zu digitalen Ungleichheiten wandelt sich dabei mit der Verbreitung und Weiterentwicklung des Internets selbst. Vor allem die frühen Konzeptionen sind folglich stark von Fragen der unmittelbaren Zugänglichkeit geprägt – von der technischen Ausstattung bis zur zeitlichen Verwendung ohne nähere Differenzierung von Internetpraktiken –, während mit der zunehmenden Durchsetzung des Internets der Fokus in stärkerem Maße auf die unterschiedliche Verwendung gelegt wird. Dennoch bleiben grundsätzliche Fragen insbesondere nach den technischen Dimensionen des Zugangs weiterhin von großer Relevanz, vor allem in globaler Perspektive, etwa hinsichtlich vorhandener Bandbreiten der Internetanschlüsse oder der Qualität der verwendeten Hard- und Software.487 5.3.1

Frühe Zugangsforschung

Zu Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit möglichen Ungleichheitsverhältnissen hinsichtlich des Internets stand vor allem die Frage nach der Zugänglichkeit (»Access«) im Mittelpunkt, der Fokus lag dabei auf der Verbreitung des Internets innerhalb nationaler, zumeist ›westlicher‹ Bevölkerungen sowie im globalen Maßstab. Operationalisiert wurde der Zugang in einigen sehr frühen Studien der NTIA in der Weise, dass allein das Vorhandensein der technischen Grundvoraussetzungen (Computer, Modem, Internetanschluss) schon hinreichendes Kriterium war.488 Erst in weiteren anschließenden Arbeiten wurden direkt jene Personen erfasst, die auch tatsächlich von diesen Möglichkeiten Gebrauch machten. Der Zugang umfasst in diesem Sinne auch die Angabe der generalisierten Verwendung als »Use«. So konnten zusätzlich Gruppen identifiziert werden, die zwar Zugangsmöglichkeiten haben, aber diese nicht nutzen – vorzugsweise etwa ältere Menschen.489 Gemäß des politischen Diskurses wurde hierbei nach der binären Logik von online und offline unterschieden, was in der einfachen Differenzierung von »Information Haves« und »Information Have-Nots«490 – zuweilen auch in Anlehnung an die Wissenskluftforschung in den eher ökonomisch anklingenden Termini als »Information Rich« und »Information Poor« apostrophiert491 – mündete.492 Eine 487 Vgl. zur Aktualität der Zugangsforschung Gonzales 2015; World Bank 2016; van Deursen/van Dijk 2018. 488 Vgl. NTIA 1998. 489 Vgl. NTIA 1999. 490 Anthony G. Wilhelm merkt bezüglich der Dichotomie von »Haves« und »Have-nots« an: »What is clear from these policy analyses and academic works is that the signifier have-not is appropriated to represent a monolithic and static information and telecommunications underclass, often without an attempt at distinguishing conceptually or theoretically varying degrees of marginality.« (Wilhelm 2000, S. 69 – Hervorhebung im Original). 491 Vgl. hierzu auch Holderness 1998. 492 Vgl. Wresch 1996.

124

5 Forschungsfeld Digital Divide

Digital Divide ergibt sich in dieser Perspektive zwischen den jeweils betrachteten Gruppen aufgrund unterschiedlicher Diffusionsraten des Internets. Bereits die ersten Berichte der NTIA konnten dabei vielfach Disparitäten im Zugang inklusive einfacher Nutzung hinsichtlich verschiedener demografischer und sozioökonomischer Variablen wie etwa Einkommen, Bildung und Alter sowie geografischer Dimensionen entdecken.493 Auch in der zeitlichen Abfolge der Studien der NTIA zeigte sich Ende der 1990er mit Blick auf die USA das Fortbestehen einer »digital divide between the information rich (such as Whites, Asians/Pacific Islanders, those with higher incomes, those more educated, and dual-parent households) and the information poor (such as those who are younger, those with lower incomes and education levels, certain minorities, and those in rural areas or central cities).«494 Diese Perspektive des Zugangs wurde erweitert, indem zusätzliche Bedingungen miteinbezogen wurden, die Einfluss auf die Nutzung des Internets haben, wie etwa räumliche Gegebenheiten oder die Geschwindigkeit des Zugangs. So ist entscheidend, ob die Internetnutzung etwa an Öffnungszeiten von Bibliotheken, Büros oder Internetcafés gebunden ist und zudem in unterschiedlichem Maße öffentlich und kontrolliert stattfindet oder zu jeder beliebigen Zeit und frei zur Verfügung steht.495 Ebenso ist die Nutzung von Streaminginhalten wie Video- und Audiodateien, von Downloads diverser Dateiformate und grafisch anspruchsvollen Webinhalten stark von der jeweiligen Bandbreite der Internetverbindung abhängig.496 Im Hintergrund der vor allem deskriptiven Zugangsperspektive, wie sie typisch für den Beginn der Forschungen zur Digital Divide und die Arbeiten der NTIA ist, steht vielfach die auf Everett M. Rogers zurückgehende Diffusionstheorie.497 Mit den Begriffen von »Early Adopters« und »Late Adopters« hat sie mittlerweile vielfach den Weg ins Feuilleton geschafft. Rogers’ Ansatz fragt nach der als kommunikativen Prozess konzipierten Diffusion von vorwiegend technologischen Innovationen innerhalb eines sozialen Systems über verschiedene ›Kanäle‹ und fokussiert dabei Übernahmeraten einer neuen Technologie in Abhängigkeit einer zeitlichen Dimension sowie spezifischer Charakteristika der Innovation selbst.498 Die sich aus der zeitlichen Perspektive laut Rogers ergebende sogenannte S-Kurve der »Adoption Rates« unterscheidet Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihrer Innovationsoffenheit (»Innovativeness«) und differenziert in »In-

493 494 495 496 497 498

Vgl. exemplarisch NTIA 1995b, 1998. NTIA 1999, S. XV. Vgl. hierzu auch Viseu/Clement/Aspinall/Kennedy 2006; Dixon et al. 2014. Vgl. hierzu auch Horrigan 2003; Fox 2005; Whitacre 2010; Pejovic et al. 2012. Vgl. Rogers 2003. Die Charakteristika, welche die Übernahme einer Innovation bestimmen, sind Rogers zufolge: »Relative Advantage«, »Compatibility«, »Complexity«, »Trialability« und »Observability« (vgl. ebd., S. 210–240).

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

125

novators«, »Early Adopters«, »Early Majority«, »Late Majority« und »Laggards«.499 Den Anfang der S-Kurve bilden die »Innovators«, jene Nutzer_innen, die bereits in den frühen 1990er Jahren Zugang zum Internet hatten, gefolgt von »Early Majority« und »Late Majority«, die den größten Teil der Fläche unter der Kurve einnehmen bis zu den »Laggards«, die den Abschluss der Kurve und die völlige Übernahme einer Innovation kennzeichnen.500 Diesem Blickwinkel ist zum einen die Idee einer völligen Durchdringung inhärent, die insbesondere als eine Frage der Zeit aufgeworfen wird. Zum anderen beinhaltet er die durchaus problematische Tendenz, die Übernahme einer Innovation in erster Linie an individuelle Eigenschaften bzw. Hindernisse zu binden statt strukturelle Bedingungen zu adressieren.501 Die vor allem verschiedene Diffusionsraten des Internets betrachtende Forschung ist nicht zuletzt eng an den politischen Steuerungskurs gekoppelt, der mit Hilfe öffentlicher und privater Initiativen versucht, die beobachteten Klüfte zu schließen, etwa durch den Ausbau von Breitbandverbindungen oder die Förderung der Anbindung von Schulen und der Kompetenzen von Lehrenden.502 Allein der umfassende Zugang zum Internet wird damit zum hinreichenden Kriterium für das Schließen von Klüften. Die klassische Dichotomie zwischen online und offline war in der Folge nicht nur für den politischen Diskurs und die statistische Erfassung prägend. Sie taucht in einer Vielzahl von Studien wieder auf, die sich der spezifischen Verbreitung des Internets hinsichtlich verschiedener Kategorien widmen, und dies auf globaler Ebene sowie innerhalb von Nationalstaaten. So wurden über die Jahre immer wieder von unterschiedlicher Seite die sozial ungleiche Verbreitung des Internets nicht nur im weltweiten Maßstab, sondern auch innerhalb der sogenannten ›westlichen‹ Länder bestätigt und der Einfluss von Geschlecht, Alter, Einkommen, Bildung, Ethnizität, Region, Gesundheit auf die 499 Vgl. ebd., S. 241–270. 500 Vgl. hierzu auch Norris 2001, S. 26–35; Agarwal/Ahuja/Carter/Gans 1998; Reisenwitz/Cutler 1998. Mitunter wird der Begriff der »Late Adopters« für all jene verwendet, die nicht zu den Gruppen der »Innovators« und der »Early Adopters« im Sinne Rogers gehören und damit als Mehrheit von der frühen Avantgarde in der Übernahme einer Technologie geschieden sind (vgl. etwa Agarwal/Ahuja/Carter/Gans 1998). 501 Vgl. van Dijk 2005a, S. 62–69; Kim 2011. Für die Auseinandersetzung um die Frage der Nichtnutzung, also jenem empirischen Befund, dass sich über Jahre bereits ein solider Bereich an Nichtnutzer_innen feststellen lässt, vgl. Selwyn 2003, 2006; Riehm/Krings 2006; Zillien 2008; Perlot 2012. 502 Beispielhaft sei für Deutschland die 1996 als Verein gegründete Initiative »Schulen ans Netz« genannt, mit der das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Telekom eine kostenfreie Versorgung aller Schulen mit Internetanschlüssen anstrebten. Ende 2012 wurde die Initiative beendet, da man den Gründungsauftrag als erfüllt ansah (vgl. Üing 2012; Herzig/Grafe 2006). Dass die Hoffnung auf eine umfassend erfolgte technologische Ausstattung und Anbindung aller Schulen verfrüht war, konstatiert der »Monitor Digitale Bildung« (Schmid/Goertz/Behrens/ Bertelsmann Stiftung 2017).

126

5 Forschungsfeld Digital Divide

Wahrscheinlichkeit des Zugangs und der einfachen Nutzung untersucht.503 Ergebnis dieser Studien ist eine sichtbare Strukturierung des Internets entlang dieser Kategorien: Die Potenziale des Internets stehen allein auf dieser Ebene des unmittelbaren Zugangs nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Im Hinblick etwa auf Geschlecht haben Männer prozentual häufiger Zugang zum Internet als Frauen,504 bezüglich der Kategorie Alter sinkt mit zunehmenden Alter die Häufigkeit des Zugangs.505 Allgemein lässt sich bezüglich des gesellschaftlichen Status unter Einbezug von Einkommen und Bildung feststellen, dass jene, die unterprivilegiert sind, grundsätzlich eine geringere Zugangswahrscheinlichkeit zum Internet besitzen.506 Diesen Befunden entsprechend wird daher auch von einem »Gender Gap«, einem »Age Gap«, einem »Education Gap« oder auch einem »Income Gap« gesprochen.507 Ungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zum Internet scheinen damit zum wesentlichen Charakteristikum der zeitgenössischen Gesellschaften geworden zu sein. 5.3.2

Von der Zugangsperspektive zur Second Digital Divide

Mit zunehmender Verbreitung des Internets insbesondere in den sogenannten ›westlichen‹ Ländern verlagert sich der Schwerpunkt der Forschung weg von der binären Unterscheidung im Zugang zwischen online und offline hin zur eigentlichen Verwendung des Internets.508 So wurde zusätzlich das zeitliche Ausmaß der Nutzung miteinbezogen – etwa als Frequenz der Nutzung sowie Nutzungsdauer. Darüber hinaus kam vor allem die 503 Einen empirischen Überblick geben etwa die Veröffentlichungen der ITU, der amerikanischen NTIA und für Deutschland die Allensbacher Computer- und Technikanalyse, der (N)ONLINER Atlas und die Onlinestudien von ARD/ZDF. Vgl. hierzu auch exemplarisch Kubicek/Welling 2000; Bonfadelli 2002; Chen/Boase/Wellman 2002; Servon 2002; Chinn/Fairlie 2004; Robinson/ Alvarez 2005. 504 Beispielhaft sei zu den erwähnten Forschungen für Deutschland auf die ARD/ZDF-Onlinestudie von 2016 verwiesen, der zufolge seit einigen Jahren ein stabiler Abstand im Bereich von 8 bis 10 Prozentpunkten zwischen Männern und Frauen bezüglich der Internetnutzung besteht (Koch/Frees 2016, S. 421). 505 Während der ARD/ZDF-Onlinestudie zufolge in der Gruppe der 14–19-Jährigen seit über fünf Jahren konstant nahezu 100% mindestens gelegentlich das Internet nutzen, ist der Anteil der Nutzer_innen bei den über 60-Jährigen nur von 28,2% im Jahr 2010 auf 56,6% im Jahr 2016 angewachsen (vgl. ebd.). 506 Vgl. hierzu auch Mossberger/Tolbert/Stansbury 2003; Chen/Wellman 2005. 507 Vgl. z. B. Bonfadelli 2002. 508 Vgl. beispielsweise Katz/Rice 2002; Cho/Zuniga/Rojas/Shah 2003; Warschauer 2003; DiMaggio/ Hargittai/Celeste/Shafer 2004; Hargittai 2007a. Wie unter anderem Selwyn feststellt, mehren sich mit der ubiquitären Verbreitung des Internets diejenigen, die ein Ende der Digital Divide nahen sehen. Zugleich werden erste Stimmen laut, die ein Zuviel an Zugang kritisieren und eine Art »Techno-Sabbath« vorschlagen (vgl. Selwyn 2006, S. 274, sowie populärwissenschaftlich prominent Carr 2010; Pariser 2011).

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

127

Frage der Nutzung selbst in den Blick, etwa welche Dienste wie E-Mail, Chat usw. in welchem Maße von wem verwendet werden, was Vorbedingungen für eine erfolgreiche Nutzung sind und in welchem Maße verschiedene Nutzungsformen qualitativ differenziert werden können.509 Eszter Hargittai hat hierfür den Begriff der »Second-level Digital Divide« geprägt, um auf Differenzen hinsichtlich der Verwendung hinzuweisen und die unterschiedlichen Fähigkeiten (»Skills«) der Nutzer_innen zu adressieren.510 Dabei greift sie auf die von Peter Attewell knapp eingeführte Unterscheidung von »First Digital Divide« als Ungleichheit im Zugang und »Second Digital Divide« als Ungleichheit bei der Nutzung zurück, entwickelt diese allerdings weiter hin zur Frage nach den spezifischen Kompetenzen, die zur effektiven Nutzung des Internets und internetbasierter Dienste notwendig sind.511 Auch Nick Selwyn schlägt eine Erweiterung des Zugangsmodells vor, indem er verschiedene hierarchische Stufen der Digital Divide unterteilt.512 Zugleich weist er auf die grundlegende Problematik unklarer Definitionen hin. So müsse etwa bezüglich des Begriffs der Digital Divide unterschieden werden zwischen einerseits einer damit erfolgten Bezugnahme auf verschiedene technische Anwendungen, die nochmals selbst voneinander abzugrenzen sind, da unter Informations- und Kommunikationstechnologien sowohl Hardware und Software als auch das Internet versammelt würden, und andererseits einer Betrachtung der zugänglich gemachten Ressourcen, Dienstleistungen und Informationen, da zumeist gar nicht die unmittelbaren Technologien im Vordergrund stünden.513 Auch Zugang müsse stärker ausdifferenziert werden, denn: »Issues of time, cost, quality of the technology and the environment in which it is used, as well as more ›qualitative‹ concerns of privacy and ›ease of use‹ are all crucial mediating factors in people’s access to ICT.«514 Demnach reicht die alleinige Betrachtung der Verfügbarkeit von Technologien und des Zugangs zum Internet, wie in der Perspektive der Diffusionsforschung adressiert, nicht aus, um Ungleichheiten im praktischen Zugang, d. h. auch in der unmittelbaren Nutzung, zu untersuchen. Vielmehr lässt sich jenseits des reinen Unterschieds zwischen online und offline eine Hierarchie des Zugangs und der Verwendung bei denjenigen feststellen, die bereits über die grundlegenden Zugangsvoraussetzungen verfügen. Die Perspektive der »Second Digital Divide« ergänzt somit jenen Fokus auf Ungleichheiten im unmittelbaren Zugang.515 509 Vgl. angesichts der Fülle an Arbeiten exemplarisch Wellman/Haythornthwaite 2002; Mossberger/ Tolbert/Stansbury 2003; van Dijk 2005a. 510 Vgl. Hargittai 2002. 511 Vgl. Attewell 2001. 512 Vgl. Selwyn 2004, 2010. 513 Vgl. Selwyn 2004, S. 347. 514 Ebd. 515 Der Versuch einer Operationalisierung mit Hilfe eines Index wurde z. B. aus der Perspektive der sogenannten »Media System Dependency Theory« um Sandra Ball-Rokeach unternommen. JooYoung Jung, Jack Linchuan Qiu und Yong-Chan Kim haben dafür einen »Internet Connectedness

128

5 Forschungsfeld Digital Divide

Zwei entscheidende Modelle, die diese Hierarchisierung im Zugang inklusive der Verwendung konzeptualisieren, sind in der Entwicklung der Digital-Divide-Forschung der sogenannte »Access Rainbow« von Andrew Clement und Leslie Regan Shade516 und das von Jan van Dijk stark propagierte erweiterte »Access«-Modell.517 Daneben existiert eine Vielzahl an Arbeiten wie etwa diejenigen von Eszter Hargittai und Paul DiMaggio, die Differenzierungen hinsichtlich möglicher Ungleichheitsursachen thematisieren und die Ersetzung des letztlich mit der Annahme binärer Trennungen assoziierten Digital Divide-Konzepts durch eine umfassendere Auseinandersetzung mit »Digital Inequality« favorisieren.518 Auch das von Anthony G. Wilhelm in Anlehnung an Castells entworfene »Periphery-Center Model of Teletechnology Access« versucht auf Basis der Unterscheidung von Peripherie und Zentrum die Nähe respektive den Zugang unterschiedlicher sozioökonomischer Statusgruppen zu einer im Kern als »Power Elite« bezeichneten Gruppe darzustellen, die das Zentrum der Informationsgesellschaft bildet.519 Die Distanz wird dabei durch Formen des »Access« – als Zugriff auf das Zentrum – bestimmt und reicht von »Immune to Progress« als Abwesenheit von Zugang über »Peripheral Access« und »Peripheral Users« bis zum eigentlichen Zentrum.520 Zugang erscheint in diesem Modell zugleich als Frage nach der ungleichen Verteilung von Gestaltungsfähigkeit und Macht innerhalb der Informationsgesellschaft und reduziert sich dabei nicht auf den unmittelbaren Zugriff auf Informations- und Kommunikationstechnologien: »As the periphery-center model illustrates, those who are most completely dispossessed are farthest from the center, underprivileged in terms of socioeconomic status, technological capacity, and the possession of certain antecedent skills and talents, as well as their attitudes toward and perceptions about the information society.«521

516 517 518 519 520 521

Index« erstellt, der umfassend anhand verschiedener Kriterien die Beziehung – verstanden als »Connectedness« – der Individuen mit dem Internet zu fassen versucht und eine Verbesserung gegenüber den klassischen Fragen nach technischer Ausstattung oder zeitlicher Nutzung darstellen soll. Der Index der »Connectedness« wurde dabei über den Einbezug der technischen Umgebung, der Nutzungsziele sowie -aktivitäten und der Integration des Internets in den Alltag mit Hilfe von insgesamt neun Merkmalen erstellt und ermöglicht so eine multidimensionale Sichtweise auf den Zusammenhang der Internetnutzung mit sozialen Ungleichheiten (vgl. Jung/Qiu/Kim 2001). Eine Revision des Index findet sich in Jung 2008. Vgl. Clement/Shade 2000. Vgl. van Dijk/Hacker 2000; van Dijk 2005a. Vgl. exemplarisch Hargittai 2002; DiMaggio/Hargittai/Celeste/Shafer 2004. Vgl. Wilhelm 2000. Vgl. ebd., S. 73–76. Ebd., S. 74.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

5.3.3

129

Mehrebenenmodelle I: Das »Access Rainbow«-Modell

Das Modell des »Access Rainbow« von Andrew Clement und Leslie Regan Shade versucht, alle Bedingungen zu integrieren, die für einen universellen Zugang zum Internet als Informations- und Kommunikationsstruktur notwendig sind.522 Hierfür werden von den Autor_innen unterschiedliche soziale und technologische Dimensionen des Zugangs differenziert und in Form von Schichten dargestellt: »Inspired by the layered models used for network protocols, the lower layers emphasize the conventional technical aspects. These have been complemented with additional upper layers emphasizing the more explicitly social dimensions. The main constitutive element is the service/content layer in the middle, since this is where the actual utility is most direct. However, all the other layers are related to each other and are necessary in order to accomplish proper content/service access.«523 Die verschiedenen Dimensionen umfassen (1) »Carriage«, (2) »Devices«, (3) »Software Tools«, (4) »Content/Services«, (5) »Service/Access Provision«, (6) »Literacy/Social Facilitation« und (7) »Governance«.524 Nicht auf allen diesen Dimensionen sind dabei Ungleichheiten im selben Maße für verschiedene Bevölkerungsgruppen zu finden. Mit (1) »Carriage« ist die Infrastruktur für die Datenübermittlung gemeint, was etwa die Bandbreite der Verbindung und Fehlerraten in der Übertragung betrifft. Relevanz gewinnt dieser Aspekt besonders mit der steigenden Datendichte durch Audio- und Videoformate sowie große Datenpakete, die zwingend eine bestimmte Datenübertragungsrate verlangen, um genutzt werden zu können.525 Unter (2) »Devices« werden Geräte wie Computer, Modem oder Maus gefasst, die jeweils nötig sind, um Zugang zum Internet zu bekommen und bestimmte Aktivitäten ausüben zu können. Alter, Preis oder Erweiterbarkeit sind dabei entscheidende Faktoren.526 Software wie Browser-, EMail- oder auch Viren- und Verschlüsselungsprogramme, die für die Internetnutzung wichtig sind, fallen unter (3) »Software Tools«. Hier stellen sich etwa Fragen nach Bedienbarkeit, Offenheit oder Sicherheit dieser »Software Tools«.527 (4) »Content/Services« bildet im Rahmen des Modells die zentrale Referenz, werden doch darunter die entscheidenden Informationen und Dienstleistungen summiert, die im Internet verfügbar sind, wie beispielsweise das WWW, E-Mail oder Social Media. Wichtig ist den Autor_innen hierbei auch die Zugänglichkeit von Datenbanken wie Gesundheitsinformati-

522 Eine frühe Version des Modells hatten Clement und Shade bereits 1996 als »Access Sandwich« vorgestellt (vgl. Clement/Shade 1996). 523 Clement/Shade 2000, S. 35. 524 Vgl. ebd. 525 Vgl. ebd., S. 38f. 526 Vgl. ebd., S. 39. 527 Vgl. ebd., S. 39f.

130

5 Forschungsfeld Digital Divide

onen, Jobbörsen, Umweltbedingungen, politischen Informationen oder Bibliotheken.528 Mit (5) »Service/Access Provision« sind einerseits die Internetdienstanbieter angesprochen, andererseits auch die Möglichkeiten des Zugangs, z. B. in öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken oder Gemeindezentren.529 (6) »Literary/Social Facilitation« verweist auf Bildungsvoraussetzungen und Fähigkeiten, die für eine umfassende Verwendung und Aneignung des Internets notwendig sind. Sowohl Allgemeinbildung als auch spezifische Fähigkeiten im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien sowie dem Internet sind entscheidend für die Internetnutzung.530 Zur »Digital Literacy« bzw. »Network Literacy« gehört Clement und Shade zufolge eine ganze Bandbreite an Wissen und Fähigkeiten: »Knowledge includes an understanding of the various types, sources and uses of global networked information; the role of networked information in research and problem solving; and systems whereby information is stored, managed, and transmitted. Skills include the ability to retrieve specific sorts of information using a range of tools such as search browsers and online databases; the ability to manipulate, enhance, or increase the value of information; the ability to purchase and configure local systems and then troubleshoot them when they (inevitably) don’t work as expected; the ability to analyze and resolve both professional and personal services that increase the quality of one’s life through actively creating as well as passively consuming information.«531 Zudem spielen Ermöglichungsbedingungen, wie sie durch Einführungsund Fortbildungsprogramme realisiert werden, eine große Rolle. Die Dimension der (7) »Governance« bezieht sich direkt auf politische und regulatorische Aspekte, wie etwa Entscheidungen über Ausbau und Entwicklung von Infrastrukturen, rechtliche Bedingungen im Internet, Fragen zur Zugänglichkeit von Öffentlichkeiten oder auch Mitsprache bei der Verwaltung der Informations- und Kommunikationsstrukturen.532 Mit ihrem »Access Rainbow«-Modell stellen Clement und Shade letztlich zwar ein normativ orientiertes Modell idealen Zugangs auf, welches vor allem in der Entwicklung von Policies seine Stärken zeigt – so wurde mit Hilfe dieses Ansatzes die Diskussion um die kanadische Infrastruktur für Gesundheitsinformationen begleitet und auch die Analyse spezifischer Bedürfnisse von Frauengruppen hinsichtlich digitaler Medien analysiert.533 Sie weisen aber zusätzlich über die Differenzierung der verschiedenen Dimensionen dieses Zugangs auf die unterschiedlichen Ebenen möglicher Ungleichheiten im Zugang hin: z. B. hinsichtlich der Frage nach der Verfügbarkeit von Technologien, der notwendigen Bildungs- und Nutzungskompetenzen oder des Einflusses auf die Mitgestaltung 528 529 530 531 532 533

Vgl. ebd., S. 40f. Vgl. ebd., S. 41f. Vgl. ebd., S. 42f. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 43ff. Vgl. Balka 1997.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

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der grundlegenden Infrastruktur, rechtlich, politisch und technisch. Dadurch erweitern sie mit ihrem Modell entschieden die Diskussion über mögliche Ungleichheiten im Zugang zum Internet und der Verwendung und ergänzen die tendenziell einseitige Fokussierung der Digital-Divide-Forschung auf die Dichotomie von online und offline. In der deutschsprachigen Forschung hat Herbert Kubicek in Auseinandersetzung mit Clement und Shade einen eigenen Ansatz unter dem Stichwort des »Zugangsregenbogens«534 entwickelt, der ähnlich umfassend Zugang und Nutzung des Internets als mehrdimensional konzipiert und damit verschieden gelagerte Barrieren hervorhebt. Auch hier werden mehrere technische und soziale Ebenen unterschieden, die jeweils notwendig für eine erfolgreiche Nutzung des Internets sind. Entscheidend ist die Untersuchung jeder einzelnen Schicht hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit bzw. Überwindbarkeit für die unterschiedlichen nach soziodemografischen Merkmalen unterteilten Bevölkerungsgruppen, denn wo sich Klüfte bzw. Ungleichheiten ergeben, etwa hinsichtlich Alter oder Geschlecht, muss jeweils spezifisch für die einzelnen Dimensionen analysiert werden. Das Modell steigt dabei von den vorwiegend technischen Bedingungen ausgehend auf, hierzu gehören (1) das »Telekommunikationsnetz«, (2) das »Internet« im Sinne von Dienstanbietern und (3) Hardware sowie Software inkl. speziellen Interfaces. Jede der Schichten bildet eine Vorbedingung des Zugangs und muss im Sinne einer Barriere überwunden werden. Dass beispielsweise in Deutschland längst nicht überall eine Breitbandanbindung vorhanden ist oder etwa Anpassungen sowohl von Seiten der Gerätehersteller als auch der Websitebetreiber für beeinträchtigte Personen längst nicht standardmäßig verfügbar sind, zeigt, dass auch auf diesen eher technischen Ebenen durchaus noch Barrieren vorhanden sind.535 Sind diese technischen Bedingungen erfüllt, so stellt die von Kubicek als (4) »Orientierungsinformationen« bezeichnete Schicht die nächste Hürde dar. Hierunter fällt vor allem die Verfügbarkeit von relevanten und gut strukturierten Inhalten, sei es für einkommensschwache Gruppen, für Frauen, für ältere Menschen, für Minderheiten oder ganz allgemein Subalterne. Zudem besteht grundsätzlich das Desiderat, Informationsangebote zu schaffen, die nicht lediglich nach rein kommerziellen Prinzipien funktionieren und Suchmaschinen dahingehend zu optimieren. Mit der zunehmenden Verlagerung von Daten, z. B. persönlicher Kommunikation oder wirtschaftlicher Aktivität, ins Internet spielt der Aspekt von (5) »Schutzmaßnahmen« eine immer größere Rolle. Diese Maßnahmen sind dabei in der Regel individuell zu treffen: in Form von Selbstschutz – etwa hinsichtlich der Bedrohung durch sogenannte Cyberkriminalität – und Selbstregulierung – z. B. hinsichtlich der Frage des Datenschut-

534 Vgl. Kubicek 1999. 535 Vgl. hierzu auch Vicente/López 2010; Jaeger 2011.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

zes und der Sichtbarmachung persönlicher Daten in sozialen Netzwerken.536 Gerade hier können sich beträchtliche Ungleichheiten ergeben, da Wissen um notwendige Maßnahmen und Fähigkeiten in der Umsetzung noch immer vorwiegend im Bereich von Expert_innen und Nutzer_innen mit großem Erfahrungsspektrum liegen. Im Anschluss an die »Orientierungsinformation« kann nochmals (6) das »Informations-, Kommunikations- und Transaktionsangebot« differenziert werden. Kubicek sieht hier das Bedürfnis, dass von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite, Angebote und Zugänge geschaffen werden, wie etwa die Bereitstellung von Informationen von öffentlichem Interesse und ein besserer Zugang zur öffentlichen Verwaltung. Dazu gehören z. B. auch Nachrichtenseiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder Informationsportale im Stile von Indymedia537. Zugleich besteht von kommerzieller Seite die Gefahr, dass aufgrund von Marktmechanismen Angebote etwa für einkommensschwächere Gruppen nur in geringem Maße ausgebaut werden. Im Gegensatz zum Modell von Clement und Shade verzichtet Kubicek auf die eigenständige Dimension der »Governance«, die oberste Ebene seines Mehrebenenmodells ist als (7) »Medienkompetenz« bestimmt. Diese ist als umfassende Nutzung konzipiert, sowohl hinsichtlich technischer Bedienkompetenzen als auch mit Blick auf Formen des »Wissensmanagements«, worunter Fähigkeiten zur Recherche und zur Bewertung fallen. Insbesondere der Aspekt der Medienkompetenz verweist weiter auf Fragen der (Aus-)Bildung, der Nutzungspraxis und des sozialen Netzwerks im Sinne der Unterstützung. Angesichts der verschiedenen Anwendungsformen, die durch das Internet ermöglicht werden, sind unterschiedliche Kompetenzen für eine erfolgreiche Nutzung notwendig. In Anlehnung an Dieter Baacke, Joshua Meyrowitz und andere hat Kubicek zusätzlich gemeinsam mit Stefan Welling daher vier verschiedene Bereiche für Medienkompetenz bzw. Mediennutzungskompetenz mit Blick auf das Internet unterteilt, und zwar (a) »Differenzierungs- und Selektionskompetenz«, (b) »Orientierungskompetenz«, (c) »Evaluationskompetenz« und (d) »Produktions- und Gestaltungskompetenz«.538 Die ersten drei beziehen sich insbesondere auf die Nutzung und Aneignung von Informationen im Internet, etwa als Auswahl von Informationsquellen bei der Recherche, der Einschätzung des Aufwands und Differenzierung verschiedener Gattungen, als angemessene Verwendung der verschiedenen Dienste im Internet und letztlich

536 Vgl. hierzu beispielhaft boyd/Hargittai 2010. Die Autorinnen untersuchen in ihrer Arbeit unter anderem den Einfluss des Geschlechts, von Internetkompetenzen (»Internet Skills«) sowie der Nutzungshäufigkeit von Facebook auf von Nutzer_innen vorgenommene Modifikationen der Datenschutz- bzw. Privatsphäreneinstellungen bei Facebook. Zur Frage der Relevanz von Datenschutzeinstellungen bei sozialen Netzwerken vgl. exemplarisch Acquisti/Gross 2006; boyd 2008; Debatin/ Lovejoy/Horn/Hughes 2009. 537 Zum Status ›alternativer‹ Öffentlichkeiten am Beispiel von Indymedia vgl. Mauruschat/Wimmer 2007. 538 Vgl. Kubicek/Welling 2000.

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als kritische Urteilsfähigkeit bei der Bewertung von Inhalten.539 Zusätzlich wird mit »Produktions- und Gestaltungskompetenz« noch ein viel weiter greifender Bereich miteinbezogen, der direkt die Beteiligung an der Schaffung von Inhalten thematisiert und vor allem im Zuge der Weiterentwicklungen des Internets zum sogenannten Web 2.0 enorm an Bedeutung gewinnt. An dieser Stelle kann ergänzend das Modell des »Effective Use« angeführt werden, welches im Rahmen der »Community Informatics« von Michael Gurstein mitgeprägt wurde.540 Mit »Community Informatics« lässt sich ein weitreichendes, interdisziplinär angelegtes Forschungsgebiet kennzeichnen, welches den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien für Gemeinschaften auszuloten versucht.541 Der Blickwinkel auf digitale Medien erfolgt dabei aus einer emanzipatorisch orientierten Bottomup-Perspektive, die auf die Verwendung von Technologien für die Produktion und Entwicklung von Gemeinschaft bzw. zum Einsatz innerhalb dieser für soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Zwecke abstellt. Erklärtes Ziel ist, »to use ICT to enable the achievement of community objectives including overcoming ›digital divides‹ both within and between communities.«542 Entsprechend hat Gurstein in Anlehnung an den »Access Rainbow« von Clement und Shade Kriterien für einen »Effective Use« entwickelt. Dabei korrespondieren die einzelnen Dimensionen zwischen den Modellen von Clement und Shade mit demjenigen von Gurstein, die Betonung liegt jedoch nicht auf der Frage des Zugangs, sondern auf der Verwendung.543 An Stelle einer Perspektive, die mit dem Zugang tendenziell die eher passive Rezeption respektive Konsumtion von Wissen und Informationen fokussiert, tritt in Gursteins Ansatz vielmehr der Blick auf die Produktion von Inhalten, von Wissen und Information. Zudem sollen mit der Betonung auf »Use« die Bedingungen adressiert werden, unter denen der Zugang zum Internet und zu Informations- und Kommunikationstechnologien erst sinnvoll genutzt werden kann.544 Damit gerät auch der Begriff der Partizipation ins Zentrum. In der herkömmlichen Diskussion um die Digital Divide werden die Individuen als Konsumenten adressiert: »Participation in the ›Information Society‹ as presented from an ›access‹ perspective is concerned with the capacity to purchase, to download and to interact passive-

539 Für die Problematik angemessener Recherche und Bewertung der Inhalte vor dem Hintergrund unreflektiert bleibender Suchalgorithmen sei auf den von Eli Pariser geprägten Begriff der »Filter Bubble« verwiesen (vgl. Pariser 2011). 540 Vgl. Gurstein 2000, 2007; Clement et al. 2011. 541 Vgl. auch Keeble/Loader 2001. 542 Gurstein 2007, S. 11. 543 Gurstein (2003) differenziert die Dimensionen in Anlehnung an Clement und Shade in: (1) »Carriage Facilities«, (2) »Input/Output Devices«, (3) »Tools and Supports«, (4) »Content Services«, (5) »Service Access/Provision«, (6) »Social Facilitation« und (7) »Governance«. 544 Ebd.

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ly with one or another externally created Web site.«545 Die Anbindung aller an eine globale Konsumkultur steht hier im Vordergrund, wichtig scheint lediglich die Sicherstellung des Zugangs, während Formen der Gestaltung und Veränderung ausgeblendet bleiben. Gurstein legt demgegenüber den Schwerpunkt auf die produktive Verwendung des Internets. Zugang erscheint nur als Vorbedingung für einen weitergehenden »Effective Use«. Die von Gurstein unter »Effective Use« begriffene produktive Partizipation, welche durch die neuen digitalen Medien und allem voran das Internet ermöglicht wird, ist dabei mannigfaltig: »ICTs when used effectively provide significant resources/tools for transforming one’s condition – economic, social, political, cultural – whether through obtaining the means for effective use of information and communications capabilities and tools; reaching new markets for small and micro-enterprises; providing the means to bring together dispersed linguistic communities; giving amplification and global voice to unheard minorities (or majorities); for facilitating informed participation in remotely managed political and other decisions; and, for obtaining the interactive services (if remotely) of skilled practitioners.«546 Die Möglichkeiten der Mitgestaltung sind dabei im Sinne einer Digital Divide nicht für alle gleich. Entscheidend sind die Fähigkeiten, Kompetenzen sowie die sozialen und organisationellen Strukturen, um den Zugang im Sinne des »Effective Use« zur Geltung zu bringen und für soziale und gemeinschaftliche Zwecke einzusetzen.547 Mit Nachdruck zeigt Gurstein auf, dass der Begriff der Digital Divide letztlich auch Ungleichheiten bezüglich der Aneignung von Informations- und Kommunikationstechnologien und des Einsatzes zur aktiven Gestaltung, etwa im Rahmen der Gemeinschaftsbildung, berücksichtigen muss. Auch angesichts der Frage der »Open Data«-Thematik erscheint der Ansatz des »Effective Use« als gewinnbringendes Konzept, da in der Bereitstellung eines Zugangs zu diesen Daten – wie dies beispielsweise von einer Vielzahl an Regierungen mittlerweile propagiert wird548 – noch keine sinnvolle Verwendung und Aneignung beinhaltet. Dadurch können Ungleichheiten noch verstärkt werden, so dass »not only can open data not be used by the poor but in fact ›open data‹ can be used ›against the poor‹!«549 Erst mit der Möglichkeit, die etwa von staatlichen Institutionen im Rahmen von Transparenzinitiativen zur Verfügung gestellten Daten tatsächlich im Sinne des »Effective Use« zu nutzen, realisiert sich deren Potenzial. Open Data-Policies, die ohne Rücksichtnahme auf die verschiede545 546 547 548

Gurstein 2007, S. 47. Gurstein 2003. Vgl. ebd. Vgl. hierzu exemplarisch Lathrop/Ruma 2010; Janssen/Charalabidis/Zuiderwijk 2012; Gascó Hernández 2014. Zur Problematik und Qualität der Daten vgl. auch die Einschätzung der USamerikanischen Open Data-Initiative durch Alon Peled als »Obama’s blitzkrieg transparency campaign« (Peled 2011, S. 2085; vgl. zudem Peled 2014). 549 Gurstein 2011.

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nen ungleichheitsrelevanten Dimensionen der Digital Divide entwickelt werden, wie sie etwa im Modell von Gurstein in Anlehnung an die Arbeiten von Clement und Shade dargestellt sind, bringen sich so um die Verwirklichung des Anspruchs von »citizen empowerment, collaboration and information sharing.«550 Auch wenn die von Clement und Shade, Gurstein sowie Kubicek skizzierten Mehrebenenmodelle des Zugangs bzw. »Effective Use« nicht zuletzt für die Entwicklung politischer Maßnahmen entworfen wurden, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass damit die Diskussion um Ungleichheiten im Zugang und der Verwendung des Internets entschieden eine konzeptionelle Erweiterung erfahren hat. Die Differenzierung in verschiedene Dimensionen mit jeweils unterschiedlichen Barrieren hat den Fokus verstärkt auf Aspekte gelegt, die über die Betrachtung der rein technischen Notwendigkeiten des Zugangs hinausgehen. Die Betonung von »Medienkompetenz« bzw. »Digital Literacy« verweist zudem auf weitere notwendige Vorbedingungen für eine optimale und uneingeschränkte Verwendung des Internets jenseits der bloßen Zugänglichkeit.551 Entscheidend werden damit auch Ungleichheiten in der Verwendung, nicht nur im Zugang adressiert. Die Heuristik der Modelle zeigt sich dabei bereits in ihrer Anlage. So steigen zwar die Ebenen ausgehend von technischen Dimensionen auf zu stärker gesellschaftlich, politisch und sozial verorteten Aspekten, eine unmittelbar hierarchische Ordnung ist damit jedoch nicht impliziert und auch nicht theoretisch entwickelt. Wesentlich elaborierter und auf die unmittelbare Forschung zugeschnitten ist das von Jan van Dijk entworfene Modell sequenziell aufeinander fußender Formen des Zugangs, die nicht nur als Barrieren des Zugangs und der Verwendung konzipiert sind, sondern zugleich im größeren Rahmen der Reproduktion von Ungleichheiten verortet werden. 5.3.4

Mehrebenenmodelle II: Jan van Dijks »Access«-Modell

Neben Jan van Dijk, dessen »Access«-Modell hier ausführlich dargestellt werden soll, haben vor allem Mark Warschauer, Nick Selwyn sowie die Forscher_innengruppe um Paul DiMaggio und Eszter Hargittai nicht nur die Digital Divide hinsichtlich ihrer verschiedenen Dimensionen untersucht und modelliert, sondern diese zugleich in den größeren Zusammenhang sozialer Ungleichheit gestellt. Daher sollen diese Positionen und die jeweiligen Modelle kurz umrissen werden, bevor vertiefend auf den von van Dijk erarbeiteten Ansatz eingegangen wird.

550 Ferriero et al. 2012, S. 30. 551 Zur Diskussion um »Digital Literacy« vgl. Warschauer 2003; Lankshear/Knobel 2008; Bachmair 2010 sowie unter dem Begriff »Medienkompetenz« mit Blick auf digitale Medien Treumann et al. 2002.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

Warschauer verfolgt einen ressourcenbasierten Ansatz, dessen Telos die soziale Inklusion ist und der in Anlehnung an Mark Posters »Cyberdemokratie«-Konzept552 im Internet »not so much a tool as a new social space that restructures social relations«553 sieht. Der Zugriff auf Informations- und Kommunikationstechnologien ist dabei nicht allein von den technischen Bedingungen, den Geräten und Anschlüssen, abhängig, sondern diese bilden lediglich die materiellen, physischen Ressourcen, welche um weitere Ressourcen – Warschauer nennt zusätzlich digitale, menschliche und soziale – ergänzt werden müssen, um eine nachhaltige Nutzung zu gewährleisten. Während »Digital Resources« vor allem die Angebotsseite adressieren, etwa hinsichtlich der Bereitstellung relevanter Inhalte und sprachlicher Vielfalt im Internet, umfassen »Human Resources« den entscheidenden Punkt der Medienkompetenz als »Literacy« sowie allgemeiner der Bildung und »Social Resources« das Netz an Unterstützung von institutioneller und gemeinschaftlicher Seite, mithin all das, was unter dem Begriff des Sozialkapitals zusammengefasst werden kann.554 Warschauer verwendet dabei einen ausdifferenzierten »Literacy«-Begriff: Medienkompetenz im Digitalen konzipiert er übergreifend als »Electronic Literacy« und unterteilt diese in »Computer Literacy«,« Information Literacy«,« »Multimedia Literacy« und »Computer-mediated Communication Literacy«.555 Diese »Literacies« sind die entscheidende Vorbedingung einer auf dem Internet und internetbasierten Diensten beruhenden sozialen Praxis. Sie binden damit die Frage nach der Digital Divide explizit an die Frage ungleicher Verwendung. Zusammengenommen tragen die einzelnen Ressourcen dabei einerseits zur effektiven Nutzung der digitalen Medien bei. Andererseits gilt zugleich, dass »access to each of these resources is a result of effective use of ICTs.«556 D. h. mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnologien lässt sich eine Form der Akkumulation dieser Ressourcen erreichen, die selbst wiederum die soziale Inklusion fördert. Umgekehrt kann eine geringe Ressourcenausstattung über die entsprechend geringer ausfallende Nutzung des Internets auch zu Formen der Deprivilegierung führen und damit eine Art »vicious cycle of underdevelopment and exclusion«557 in Gang setzen: Gesellschaft und digitale Medien sind miteinander verschränkt, und zwar in der Form, dass Informations- und Kommunikationstechnologien Einfluss auf Lebenschancen nehmen, diese zugleich aber auf Zugang und Verwendung dieser Technologien zurückschlagen, insofern etwa marginalisierte Gruppen stärker von digitaler Ungleichheit betroffen sind.558 552 553 554 555 556 557 558

Vgl. Poster 1997. Warschauer 2003, S. 215. Vgl. ebd., S. 49–197. Vgl. ebd., vgl. hierzu auch Kellner 2006; Warschauer 2011. Warschauer 2002 – Hervorhebung im Original. Warschauer 2003, S. 48. Vgl. ebd., S. 7.

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Auch Selwyn entwirft ein Modell der Digital Divide, welches auf einem weiten Begriff von Partizipation an respektive Inklusion in die Gesellschaft zurückgreift, die mit Hilfe der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erlangt bzw. verstärkt werden kann. Partizipation umfasst dabei eine ganze Bandbreite an Aspekten: sowohl politische Aktivitäten, wie etwa das Engagement in Initiativen, und soziale Aktivitäten, wie z. B. familiäre Interaktionen oder Prozesse der Gemeinschafts- und Identitätsbildung, als auch wirtschaftliche, konsumbezogene und allgemein als produktiv gekennzeichnete Tätigkeiten, angefangen von der Möglichkeit Wohlstand zu vergrößern und zu sichern über erweiterte Möglichkeiten der Konsumtion bis hin zu Aktivitäten in unmittelbarer Verknüpfung mit Arbeit, Ausbildung und Familie.559 Die Auswirkungen ungleichen Zugangs und ungleicher Verwendung digitaler Medien sind demnach zahlreich und haben einen profunden Einfluss auf Lebenschancen in den verschiedensten Bereichen. Sie bilden im Konzept der Digital Divide von Selwyn den Endpunkt einer Hierarchie, die vom Zugang bis zu den Konsequenzen reicht. Das Modell der Digital Divide steigt dabei auf vom (1) formalen Zugang als rein theoretischer Nutzungsmöglichkeit zum (2) »effektiven« Zugang als der realen Verfügung über Nutzungsmöglichkeiten, die auch umgesetzt werden können. Erst dann findet überhaupt (3) eine Nutzung statt, die auf dieser Ebene jedoch nicht weiter spezifiziert wird. Das eigentliche (4) »Engagement with ICTs and content« umfasst den zielgerichteten und wirkungsvollen Einsatz. Abschließend stellt sich die Frage nach den eher (5) kurzfristigen Auswirkungen und (6) langfristigen Konsequenzen der Nutzung.560 Die letzten beiden Aspekte sind im Rahmen der Ungleichheitsforschung besonders von Interesse, handelt es sich doch um die Momente, welche die Partizipation an der Gesellschaft maßgeblich mitgestalten. Umfassend sollen mit diesem Modell die verschiedenen Dimensionen erfasst werden, die die Digital Divide ausmachen. Die Gruppe von Forscher_innen um Paul DiMaggio und Eszter Hargittai setzt an die Stelle des als binär verstandenen Konzepts der Digital Divide die Frage nach »Digital Inequality« und differenziert hierbei fünf Ungleichheitsdimensionen.561 Die erste Dimension bezieht sich auf Unterschiede hinsichtlich der technischen Mittel, die für einen Zugang zum Internet notwendig sind. Dies beinhaltet Hardware, Software und die Internetanbindung – die klassische »First Digital Divide«. Die zweite Dimension legt das Augenmerk auf die Autonomie hinsichtlich des Zugangs und der Nutzung. Hier stehen Zugangsorte, Kontrollmechanismen und Überwachung sowie freie Zeiteinteilung in Frage, wie es sich markant etwa am Gegensatz von Internetnutzung in öffentlichen vs.

559 Vgl. Selwyn 2004, S. 350f. 560 Vgl. ebd., S. 351f., vgl. außerdem Selwyn 2010, S. 36f. 561 Vgl. DiMaggio/Hargittai 2001; DiMaggio/Hargittai/Celeste/Shafer 2004.

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privaten Räumen zeigt.562 Eine dritte Dimension bilden Ungleichheiten bezüglich der Fähigkeiten, das Internet und internetbasierte Dienste sinnvoll zu verwenden. Diese »Skill«-Dimension entspricht der Ebene der »Literacy« und lässt sich mit Rekurs auf Dell Hymes Konzept der »Communicative Competence«563 als »Digital Competence« bzw. »Internet Competence« begreifen.564 Hierunter fallen die verschiedenen Bereiche notwendigen Wissens, um effektiv Gebrauch vom Internet zu machen, wie bspw. das praktische Wissen, dessen es bedarf, um Recherchen zu betreiben, im Internet zu navigieren oder Websites im vollen Umfang zu nutzen, Software zu aktualisieren und die Hardware angemessen zu gebrauchen. Als vierte Dimension werden Ungleichheiten hinsichtlich des spezifischen Sozialkapitals betrachtet, welches zur Unterstützung und Erweiterung eigener Fähigkeiten aufgerufen werden kann. Hierzu gehören Formen der technischen Unterstützung durch Familie und Freunde sowie die Möglichkeiten, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Zugleich ist jenseits dieser Inanspruchnahme von Kompetenzen Anderer auch die emotionale Unterstützung wichtig, wie sie etwa häufig für ältere Nutzer_innen entscheidend ist, um zu Zugang und Verwendung zu motivieren.565 Maßgeblich hinsichtlich digitaler Ungleichheit ist als fünfte Dimension letztlich auch die unterschiedliche Verwendung des Internets für verschiedene Zwecke. Hier sind als Heuristik jene Nutzungsformen, die vornehmlich auf eine Akkumulation etwa ökonomischer, kultureller oder sozialer Ressourcen abzielen, zu unterscheiden von Verwendungsweisen, deren Ziele überwiegend in der reinen Entspannung und Erholung zu finden sind. DiMaggio et al. vermuten dabei einen Zusammenhang mit der zeitlichen Nutzung, dergestalt, dass die Bandbreite der Nutzungsweisen mit der Häufigkeit der Nutzung sowie der Zeit, die im Internet verbracht wird, und der Dauer der Vertrautheit mit dem Medium korrespondiert. Die Unterscheidung zwischen »›capital-enhancing‹ uses of the Internet«566 und jenen Formen, die vermeintlich anderen Zielen gelten, ist zugleich umkämpft und lediglich der Annahme geschuldet, dass im Rahmen der Ungleichheitsforschung der Fokus auf ökonomischen Vorteilen, Lebenschancen und erweiterten Möglichkeiten des gesellschaftlichen Engagements liegt und weniger auf Formen der Geselligkeit und des persönlichen Glücks.567 Die fünf differenzierten Dimensionen digitaler Ungleichheit sind eingebunden in ein Gesamtmodell, welches davon ausgeht, dass demografische und sozioökonomische Unterschiede direkt und indirekt über die verschiedenen Dimensionen Einfluss auf das ökonomische und soziale Kapital sowie das »Humankapital« der Akteure nimmt: »Ultimately, in this model, increases in human 562 563 564 565 566 567

Vgl. hierzu auch Hassani 2006; Viseu/Clement/Aspinall/Kennedy 2006. Vgl. Hymes 1972. Vgl. DiMaggio/Hargittai/Celeste/Shafer 2004, S. 377f. Vgl. hierzu auch Hakkarainen 2012. DiMaggio/Hargittai/Celeste/Shafer 2004, S. 379. Vgl. ebd., S. 379f.

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capital (including educational attainment), social capital (including political agency) and earnings are direct functions of the efficacy, intensity, and purposes of use, and indirect consequences (through these mediating variables) of apparatus quality, autonomy, skill, and support.«568 In einer Vielzahl an Arbeiten hat der niederländische Soziologie und Kommunikationswissenschaftlicher Jan van Dijk ein umfassendes Modell von Zugangsformen entworfen, das einerseits über einen sehr weiten und differenzierten Begriff von Zugang verfügt und andererseits zugleich in einen größeren kausallogischen Rahmen von Ursachen und Wirkungen dieser Zugangsformen gestellt ist.569 Van Dijk zufolge hat in den letzten Jahren eine Verschiebung in der Forschung über soziale Ungleichheiten in Bezug auf Informations- und Kommunikationstechnologien sowie das Internet stattgefunden, die als Anpassung an eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Nutzung und der Durchdringung der ›westlichen‹ Gesellschaften mit digitalen Medien zu verstehen ist. Zugang zu und Umgang mit digitalen Medien sind in den heutigen Gesellschaften zu grundlegenden Bestandteilen des Alltags geworden und lassen sich in den verschiedensten Lebensbereichen finden.570 Der Übergang lässt sich mit der bereits erwähnten Verschiebung vom Fokus auf den Zugang als rein technisch-physikalische Zugänglichkeit hin zur stärkeren Betrachtung der diversen Voraussetzungen der eigentlichen Nutzung des Mediums verstehen. Van Dijk spricht dabei allerdings weiterhin von »Access«, will aber im Sinne des umfassenderen Konzepts des »Media Access«571 damit die erweiterte Form der Nutzung verstanden wissen: Sie umfasst auch motivationale Faktoren, Fähigkeiten im Umgang und letztlich Dauer und Breite realer Verwendung, da erst mit diesen verschiedenen Aspekten der eigentliche Zugang als Prozess der Aneignung einer Technologie möglich wird.572 Auch in diesem Modell ist die Annahme einer absoluten Trennung zwischen Teilhabenden und Ausgeschlossenen, online und offline, einer Sichtweise auf die graduellen Unterschiede gewichen. Van Dijk betont jedoch, dass weiterhin ein Anteil komplett Ausgeschlossener vorhanden ist.573 Zudem ist entscheidend, in welchem Maße die Erfüllung der Voraussetzungen im Anschluss wiederum einer tatsächlichen Nutzung entspricht. Van Dijk schlägt daher ein kausales Modell vor, welches Formen sozialer Ungleichheit mit der Nutzung von digitalen Medien und Technologien verknüpft und daran verschiedene gesellschaftliche Partizipationsformen bindet, die wiederum auf Positionierungen im gesellschaftlichen Gefüge zurückwirken, 568 569 570 571 572 573

Vgl. ebd., S. 381. Die hauptsächliche Ausarbeitung des Modells findet sich in van Dijk 2005a. Vgl. hierzu auch die Annahmen aus der Mediatisierungsforschung (Krotz 2001). Vgl. Bucy/Newhagen 2004. Vgl. auch van Dijk 2004. Vgl. van Dijk 2012b, S. 59.

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somit also zur Reproduktion und Aktualisierung des Ungleichheitsgefüges beitragen können. Damit rekurriert sein Modell direkt auf soziale Ungleichheiten und bringt diese in Verbindung mit digitalen Ungleichheiten. Grundlegend für das Rahmenmodell ist die Annahme, dass in jeder Gesellschaft spezifische Ungleichheiten existieren, die sich in Anlehnung an Charles Tilly in »Personal Categorical Inequalities« und »Positional Categorical Inequalities« unterscheiden lassen.574 Auf Basis dieser Ungleichheiten ergibt sich eine bestimmte Verteilung der Güter und Ressourcen innerhalb der Gesellschaft.575 Diese kategorialen Ungleichheiten und die sich daraus ergebende Ressourcenverteilung beeinflussen die Formen des »Access« zu Informations- und Kommunikationstechnologien sowie insbesondere zum Internet; sie sind damit ursächlich für die Zugangs- und Nutzungsdifferenzen. Daraus ergeben sich wiederum unterschiedliche Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft, die van Dijk unter dem ebenso weiten Begriff der »Participation« fasst. Rückgekoppelt werden die Partizipationsformen an die verschiedenen kategorialen Ungleichheiten sowie die Distribution von Gütern und Ressourcen, da in Abhängigkeit von den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe Ungleichheiten reproduziert, verstärkt oder transformiert werden können bzw. ein entsprechender Einfluss auf die Ressourcenallokation genommen wird. Ein entscheidender weiterer Einflussfaktor innerhalb dieses Rahmens sind die spezifischen Charakteristika der digitalen Medien, welche unmittelbar den »Access« mitbeeinflussen. (1) Kategoriale Ungleichheiten Ausgangspunkt sind in van Dijks »Access«-Modell, welches er auch als »Resources and Appropriation«-Theorie576 bezeichnet, soziale Ungleichheiten, die er mit Bezugnahme auf Charles Tilly als kategoriale Ungleichheiten verstanden wissen möchte. Angesprochen ist damit auch die Ablehnung individualistischer Deutungen von Ungleichheit, denn es sind im Gegenteil vielmehr die Positionierungen und Beziehungen der Individuen untereinander, die die Zugehörigkeit zu spezifischen Gruppen bestimmen. Grundannahme ist hierbei ein permanenter Kampf um gesellschaftliche Ressourcen; ihre Verteilung erscheint als Ergebnis der Macht- und Dominanzpositionen innerhalb der Gesellschaft. Soziale Ungleichheit wirkt dabei über die Gruppenzughörigkeit, differenziert nach binären kategorialen Unterscheidungen wie männlich/weiblich, weiß/schwarz oder jung/alt. Tilly nennt die dominante Gruppe innerhalb der jeweiligen Machtverhältnisse 574 Vgl. van Dijk 2005a, S. 9–26. Vgl. hierzu auch Tilly 1998, S. 1–40. 575 Van Dijk sieht in seinem Ressourcenbegriff Parallelen zum Kapitalbegriff bei Bourdieu wie auch zu James S. Coleman, bevorzugt jedoch die seines Erachtens deskriptivere und neutralere RessourcenBegrifflichkeit (vgl. van Dijk 2005a, S. 19). 576 Vgl. van Dijk 2012b, S. 59f.

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zuerst, wobei je nach untersuchtem Gegenstand unterschiedliche Kategorienpaare Relevanz erhalten können. Gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ressourcendistribution unterliegen zwar einem beständigen Wandel, soziale Schließung und Kontrolle sorgen jedoch für eine Reproduktion der kategorialen Paare. Tilly spricht daher in seinem gleichnamigen Werk von »Durable Inequality«, um den systemischen Charakter der Ungleichheit zu betonen.577 Ungleichheiten erfahren über diese kategorialen Paare eine Institutionalisierung in den verschiedenen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Bereichen. Ein Vorteil dieser Sichtweise liegt van Dijk zufolge darin, eine Erklärung für unterschiedliche Aneignungsweisen zu liefern. Die jeweils dominante Gruppe kann sich Technologien zuerst aneignen und diese damit auch prägen, um letztlich Macht über die subdominante Gruppe auszuüben. Verständlich wird so etwa die unterschiedliche Aneignung von Technologien bei Männern und Frauen – während Männer bereits im jüngsten Alter mit Technologien in Kontakt gebracht werden und eine Förderung im Umgang mit diesen erfahren, bekommen Frauen häufig erst später Zugang zu Technologien, wobei dieser Vorsprung in der Aneignung bei Männern als Basis von Macht und Kontrolle wirken kann.578 Zudem bietet diese Perspektive eine Konzentration auf spezifische Ungleichheiten, die gesellschaftliche Wirkungsmacht entfalten, und verliert sich nicht in unzähligen individuellen Differenzen. Offen bleibt bei diesem Ansatz, welcher Teil des kategorialen Paares Dominanz ausübt, da die Dominanzverhältnisse abhängig vom betrachteten Gegenstand sehr unterschiedlich ausfallen können. Außerdem überschneiden sich häufig Dominanz- und Unterordnungsverhältnisse je nach Kontext. So kann beispielsweise bei einer in Westeuropa lebenden Ärztin mit Migrationsbiografie die Arbeitsmarktposition ein Dominanzverhältnis ausdrücken, zugleich aber die Zugehörigkeit zur subalternen Gruppe der Migrant_innen gegenüber den »Bürger_innen« bestehen. Im kategorialen Paar entwickelte Länder/Entwicklungsländer wiederum ist ihre Position auf der dominanten Seite. Wichtig ist van Dijk zudem, dass es hierbei weniger um absolute Positionen und Unterschiede geht, sondern vielmehr um relative Verhältnisse und die sich daraus ergebenden Beziehungen. Im Rahmen der Forschung zur Digital Divide liegt der Fokus entsprechend auch nicht lediglich auf der Annahme einer absoluten Divide – selbst wenn es weiterhin noch einen tatsächlichen und nicht unbeträchtlichen Teil vollkommen ausgeschlossener Personen gibt. Vielmehr gelangt zunehmend auch die Untersuchung eines Kontinuums an Nutzungsungleichheiten in den Mittelpunkt.579 Gerade diese relativen Differenzen des »Access« gewinnen in der Wis-

577 Vgl. Tilly 1998. 578 Vgl. van Dijk 2005a, S. 11f. 579 Vgl. ebd., S. 12f.

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sens- bzw. Netzwerkgesellschaft580 in wachsendem Maße an Relevanz, denn Ungleichheiten sind heute immer stärker von den unterschiedlichen Aneignungsmöglichkeiten neuer Technologien, den Zugängen zu sozialen Netzwerken und Informationen abhängig. Die verschiedenen Ungleichheiten differenziert van Dijk in die beiden großen Gruppen von »Personal Categorical Inequalities« und »Positional Categorical Inequalities«. Erstere referenzieren körperliche und mentale Eigenschaften von Individuen wie Geschlecht, Alter und »Ethnie«, aber auch Gesundheit, Intelligenz und Persönlichkeit.581 Ihre spezifische Relevanz für die Ungleichheitsproblematik gewinnen sie dadurch, dass sie zugleich soziale und kulturelle Kategorien darstellen, auf deren Basis gesellschaftliche Unterschiede produziert werden, beispielsweise jene zwischen Generationen oder Geschlechtern. Die Gruppe der »Positional Categorical Inequalities« entsteht jeweils durch die spezifische Stellung in Machtverhältnissen, etwa durch die Position im Haushalt, innerhalb der Arbeitsteilung, hinsichtlich des Bildungsstatus oder auch innerhalb von und zwischen Nationen. Während die erste Gruppe auf individuellen Eigenschaften fußt, ist die zweite Gruppe an Ungleichheiten vollkommen sozial produziert.582 Dabei sind dennoch nicht alle möglichen Ungleichheitsformen für die Digital Divide von gleicher Bedeutung. Van Dijk konstatiert als Erkenntnis früherer Studien für die Ungleichheit in der Nutzung des Internets einen besonderen Stellenwert der folgenden Paare: »On the issues of the digital divide and digital skills the most important categorical distinctions are employers and (un)employed, management and executives, people with high and low levels of education, males and females, the old and the young, parents and children, whites and blacks, citizens and migrants.«583 Zudem spielt auf der Makroebene die Unterscheidung zwischen ›westlichen‹ respektive entwickelten Ländern und Entwicklungsländern eine große Rolle, was sich an der »Global Digital Divide« und dem diesbezüglich erheblichen Ausmaß an digitalen Ungleichheiten zeigt.

580 Vgl. hierzu auch das Buch »The Network Society« von van Dijk, in welchem er den Begriff von Castells aufgreifend nochmals den grundlegenden Wandel nahezu aller gesellschaftlichen Strukturen und Organisationsformen durch das Konzept des Netzwerks darstellt (van Dijk 2005b). 581 Im Gegensatz zum Großteil der Forschung zur Digital Divide bezieht van Dijk physische und psychologische Dimensionen mit ein. Auch Intelligenz und das klassische »Big Five Inventory« der Persönlichkeitspsychologie verdienen seiner Perspektive nach Beachtung im Zusammenhang mit der Aneignung und Verwendung digitaler Medien, insbesondere hinsichtlich motivationaler Aspekte (vgl. van Dijk 2005a, S. 40ff.). 582 Vgl. ebd., S. 17f. 583 van Dijk 2012b, S. 58.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

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(2) Ressourcen Im Gegensatz zum Großteil der empirischen Forschung zur Digital Divide, die auf den methodologischen Individualismus rekurriert und Zugangs- sowie Nutzungsdifferenzen unmittelbar an Ungleichheitskategorien rückbindet – so werden beispielsweise direkt individuelle Eigenschaften wie Geschlecht mit Zugangsdifferenzen verknüpft –, geht van Dijk den Weg über die spezifische Ressourcenverteilung. Diese ist über die drei entscheidenden Mechanismen von »Social Exclusion«, »Exploitation« und »Control« mit den Ungleichheitskategorien verbunden.584 Grundsätzlich schließt dies einerseits an die von Max Weber skizzierte Theorie der sozialen Schließung sowie deren Weiterentwicklung durch Frank Parkin an.585 Unter sozialer Schließung lässt sich van Dijk zufolge der erweiterte Zugriff auf das Internet verstehen, den die jeweils dominanten Positionen der kategorialen Ungleichheitspaare besitzen und der den Ausschluss des anderen Teils von Partizipationsmöglichkeiten in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bedeutet. Andererseits ist mit der Begrifflichkeit von Ausbeutung klassischerweise der marxistische Diskurs adressiert. Hierunter fällt der mögliche Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie des Internets zur Verschärfung der Ungleichheitsrelation zwischen Kapital und Arbeit, Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen – oder im Gegenteil zur Emanzipation im Rahmen dieses Gegensatzes.586 Kontrolle fasst van Dijk 584 Obwohl van Dijk an Tillys »Durable Inequality« anknüpft, findet sich dort eine Differenzierung von vier Mechanismen, die dauerhaft für Ungleichheiten sorgen. Es handelt sich bei diesen vier Mechanismen um »Exploitation« und »Opportunity Hoarding« sowie »Emulation« und »Adaptation«. Die beiden Formen von »Exploitation« und »Opportunity Hoarding« bauen direkt auf kategoriale Ungleichheiten auf, indem sie bestimmte Gruppen von Profiten ausschließen und sich etwa in der Marx’schen Perspektive den Mehrwert der Arbeit aneignen oder über Netzwerke und Beziehungen Privilegien und Zugang zu umkämpften und knappen Ressourcen sichern. »Emulation« und »Adaptation« verstärken den Einfluss kategorialer Ungleichheiten, indem sie im Falle von »Emulation« bestehende Ungleichheitskategorien in anderen Formen weiterschreiben, beispielsweise wenn Hierarchien und Ungleichheiten in der Bezahlung an neue Organisationen im Sinne einer Reproduktion von Ungleichheitskategorien vererbt werden. Die Integration von Ungleichheitskategorien in alltägliche Interaktionen wird als »Adaptation« verstanden, etwa wenn in Alltagspraktiken die zugrundeliegenden Strukturen reproduziert werden und selbst die »Unterdrückten« an deren Aktualisierung teilhaben. Klassisch hierfür ist die Erosion des Interessengegensatzes von Kapital und Arbeit durch Einbindung der Arbeiter_innen in die Ziele des Managements, was aus der Perspektive Tillys – und prominent bei Michael Burawoy dargestellt – einer zumindest teilweisen Zustimmung zur Ausbeutung gleichkommt (vgl. Tilly 1998; Burawoy 1979). 585 Vgl. Weber 1990; Parkin 1979. Vgl. hierzu auch Murphy 1984. 586 Vgl. hierzu auch die umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Internet aus (neo-)marxistischer Perspektive, etwa bei Christian Fuchs oder Nick Dyer-Witheford, und die Debatte um »Free Labour« als Chiffre für die »Audience Commodity« der Internetnutzer_innen im Anschluss an Tiziana Terranova und die postoperaistischen Positionen zur immateriellen Arbeit (vgl. exemplarisch DyerWitheford 1999, 2015; Terranova 2000, 2004; Fuchs/Dyer-Witheford 2013; Fuchs 2014a sowie die Sammelbände Fuchs/Mosco 2016a, 2016b; zum Postoperaismus vgl. Rudolph 2012).

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5 Forschungsfeld Digital Divide

hingegen allgemeiner als Ausübung von Autorität, wie sie sich z. B. im Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern, Ärzt_innen und Patient_innen oder Lehrer_innen und Schüler_innen zeigt. Zugang im erweiterten Sinne zum Internet bietet dabei mitunter die Möglichkeit, diese Machtverhältnisse zu verändern, wie beispielsweise Studien zum Verhältnis von Ärzt_innen und Patient_innen zeigen.587 Die Ressourcen, zu deren unterschiedlicher Verteilung es auf Basis der kategorialen Ungleichheiten mittels der verschiedenen Mechanismen kommt, unterscheidet van Dijk in fünf Gruppen. Diese umfassen (1) temporale Ressourcen als Zeit, die für bestimmte Aktivitäten zur Verfügung steht, (2) materielle Ressourcen, zu denen Besitz und Einkommen zählen, wobei jedoch Computerausstattung und Internetzugang aus modelltheoretischen Gründen ausgeschlossen sind und (3) mentale Ressourcen wie Wissen und soziale sowie technische Fähigkeiten und Kompetenzen, jedoch ohne die im Modell zu erklärenden »Digital Skills«.588 Die (4) sozialen Ressourcen beinhalten Beziehungen und Positionen in Netzwerken, die (5) kulturellen Ressourcen verweisen auf Status und die verschiedenen Formen von »Credentials«589. Diese Ressourcen werden im Modell von van Dijk dezidiert unterschieden von den verschiedenen kategorialen Ungleichheiten auf der einen Seite und den unterschiedlichen Formen des Zugangs auf der anderen. Im Idealfall sind die Ressourcen quantitativ erfassbar, so dass Schlüsse auf den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien sowie zum Internet möglich sind. Die Verfügung über Ressourcen selbst ist Resultat der verschiedenen sozialen Mechanismen von sozialer Schließung, Ausbeutung und Kontrolle, die wiederum an kategorialen Ungleichheiten ansetzen. (3) »Access« – Formen des Zugangs Die zentrale Unterscheidung für die Digital-Divide-Forschung macht van Dijk hinsichtlich seines Konzepts des »Access«. »Access« wird hierbei differenziert in vier aufeinander aufbauende Formen des Zugangs, wobei die jeweils vorausgehende Vorbedingung für die nachfolgende ist.590 Basis und Ausgangspunkt bildet der (a) »Motivational Access«, da ohne Motivation zur Verwendung des Internets kein Zugang zustande kommen kann. An diesen schließt wiederum der (b) »Material/Physical Access« an. Darunter fällt der Besitz von Computern und Internetanbindungen respektive die Möglichkeit diese, 587 Vgl. exemplarisch Christmann 2013. 588 Würden Computerausstattung, Internetanbindung, aber auch die »Digital Skills« als Ressourcen aufgefasst, käme es zur einer tautologischen Beziehung zwischen Ressourcen und den zu erklärenden Zugangsformen, die gerade durch den Besitz dieser Fähigkeiten oder Ausstattungsmerkmale definiert sind. 589 Vgl. zur Bedeutung von »Credentials« auch Collins 1979. 590 Vgl. van Dijk 2005a, S. 9–130.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

145

etwa im Büro, nutzen zu können. Ist die Bedingung der materiellen Zugänglichkeit erfüllt, so stellt der (c) »Skills Access« die nächste Stufe dar. Während von van Dijk in früheren Arbeiten die verschiedenen digitalen Fähigkeiten und Kompetenzen in operationale, informationale und strategische unterschieden wurden, kommen Alexander van Deursen und van Dijk in Erweiterung des ursprünglichen Modells gemeinsam zu den beiden Bereichen der »Medium-related Internet Skills« und der »Content-related Internet Skills«. Als »Medium-related« gelten operationale und formale Fähigkeiten, wie etwa die Bedienung eines Internet Browsers oder einer Suchmaschine und die Navigation auf einer Website oder insgesamt im WWW, mit »Content-related« sind informationelle und strategische Kompetenzen gemeint, die bei der Suche nach und Bewertung von Informationen sowie überhaupt beim Einsatz des Internets zum Erreichen spezifischer Ziele zum Tragen kommen.591 Ergänzt wird letztere Kategorie der Kompetenzen in den rezenten Arbeiten der Autoren durch kommunikative Fähigkeiten, die beispielsweise nötig sind, um Nachrichten auszutauschen, via digitaler Medien Kontakte aufrechtzuerhalten, Identitäten online zu gestalten oder auch Aufmerksamkeit im Internet zu produzieren, und »Content-creation skills«, die dort zum Tragen kommen, wo es um die Produktion von Inhalten geht.592 Insbesondere die strategischen Fähigkeiten sind dabei eng mit der Möglichkeit verbunden, die eigene gesellschaftliche Position zu verändern. Am Ende dieses »Access«-Modells steht letztlich die eigentliche Verwendung, der (d) »Usage Access«. Dazu gehören die Bandbreite der verschiedenen Internetanwendungen hinsichtlich Anzahl und Unterschiedlichkeit sowie die Nutzungszeit. Außerdem wird hier unterschieden zwischen einfacheren und komplexeren Anwendungen sowie den Zwecken, denen die Nutzung dient, etwa zur Weiterbildung, zur Arbeit oder zur Unterhaltung.593 Um das Internet und allgemein Informations- und Kommunikationstechnologien voll umfänglich nutzen zu können, bedarf es der verschiedenen Stufen des Zugangs. Jede neue Technologie oder Innovation des Internets kann dazu führen, dass bestimmte Formen des Zugangs die vormals vorhanden waren, wieder neue Probleme aufwerfen. So verschieben sich beispielweise mit der zunehmend mobilen Nutzung des Internets die Voraussetzungen hinsichtlich des materiellen Zugangs. Zudem werden auch hier wieder bei der Nutzung mobiler Dienste wie etwa Twitter neue Fähigkeiten und Kompetenzen notwendig.594

591 Vgl. van Deursen/van Dijk/Peters 2011, S. 127f.; van Deursen/van Dijk 2009; van Deursen 2010; van Deursen/van Dijk 2011a. 592 Vgl. van Dijk 2012a, 2012b. 593 Vgl. van Dijk 2005a, S. 95–130. 594 Vgl. ebd., S. 21f.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

(4) Participation Da van Dijk über sein Modell der Zugangsformen hinaus auch die Folgen ungleicher Zugänge miteinbeziehen möchte, spielt für ihn die Frage danach, was dabei auf dem Spiel steht, eine große Rolle. Gemäß seiner auch in »The Network Society« vertretenen Sichtweise sind Teilhabe und Inklusion heutzutage in den diversen Gemeinschaften eng mit dem Zugang und der Verwendung neuer Medien verknüpft: »[I]ncreasingly, the old media and other old means of information and communication will not be sufficient for full participation in a developed modern society. More and more, the new media will be used to develop a head start in all kinds of benefits and competitions. The result could be that we end up with first-, second-, and third-class citizens, consumers, workers, students, and other kinds of social actors.«595 Der unterschiedliche Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien und zum Internet sowie die ungleichen Möglichkeiten des »Access« beeinflussen entscheidend die Partizipation in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Hierbei unterscheidet van Dijk gesellschaftliche Partizipation in (1) »Economic Participation«, (2) »Educational Participation«, (3) »Social Participation«, (4) »Spatial Participation«, (5) »Cultural Participation«, (6) »Political Participation« und (7) »Institutional Participation«.596 (1) Für den beruflichen und wirtschaftlichen Bereich zeigt sich die besondere Relevanz ungleicher Zugänge sowohl hinsichtlich der zunehmenden Voraussetzung digitaler Fähigkeiten und Kompetenzen bei der Einstellung als auch beim Erlangen spezifischer Positionen. Zudem ist Zugang zum Internet für die Jobsuche und die Gründung sowie Führung von Unternehmen entscheidend. Darüber hinaus besteht nach van Dijk auch die Möglichkeit, dass es zu einer Verschärfung des Gegensatzes von »manueller« und »intellektueller« Arbeit kommen könne, wenn »intellektuelle Arbeit« vermehrt »Digital Skills« voraussetze und diese in bestimmten Gesellschaftsgruppen in größerem Maße vorhanden seien.597 (2) Der gesamte höhere Bildungsbereich kommt heute kaum noch ohne Zugang zum Internet aus, der Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien sowie dem Internet ist nicht nur in den ›westlichen‹ Staaten nahezu Voraussetzung für die Hochschulreife und einen universitären Bildungsabschluss. Ob für Recherche, Anmeldungen, Prüfungen oder das Versenden von Dokumenten, ungleicher Zugang bedeutet hier entschieden geringere Chancen im Bildungssystem. Zudem werden mit der 595 Ebd., S. 167. 596 Vgl. ebd., S. 163–180. Van Dijk fasst den Begriff der Partizipation allgemein und nicht auf den Bereich der politischen oder zivilgesellschaftlichen Teilhabe und Mitwirkung beschränkt. Vielmehr erscheint Partizipation als grundlegende Dimension der Handlungsmöglichkeit und Antonym zu Exklusion. 597 Vgl. ebd., S. 167ff.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

147

Verlagerung von Bildungsangeboten ins Internet, wie etwa in Form von Massive Open Online Courses (MOOC) und E-Learning-Plattformen sowie Weiterbildungsprogrammen, diejenigen ausgeschlossen, für die Zugang gar nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Auswirkungen, so van Dijk, hat dies nicht nur auf die Bildungschancen, sondern auch auf kulturelle, soziale und mentale Ressourcen.598 (3) Mit dem Bereich der »Social Participation« werden von van Dijk die Auswirkungen ungleicher Zugänge auf das Sozialkapital adressiert. Sozialkapital wird dabei einerseits verstanden im Sinne der Begrifflichkeit, wie sie durch Robert D. Putnam prominent vorgebracht wurde, als Möglichkeiten des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Gemeinschaftsbildung.599 Andererseits dient Sozialkapital aber auch zur erweiterten Netzwerkbildung und Stärkung sowie Stabilisierung sozialer Kontakte mit Effekten, wie sie Pierre Bourdieu unter sozialem Kapital fasst, mithin als Zugriffsmöglichkeit auf die Ressourcen des Beziehungsnetzes.600 Diejenigen, die auf das Internet und internetbasierte Dienste wie E-Mail oder Social Media zurückgreifen können, haben hierbei entscheidende Vorteile hinsichtlich der Akkumulation von Sozialkapital. Zwar werden, so van Dijk, bisherige Interaktionsformen nicht zwingend verdrängt, jedoch durch das Internet entscheidend ergänzt. Analog zum häufig bemühten »Matthew Effect«601 profitieren dabei jene am meisten von den Möglichkeiten des Internets, die bereits auf ein größeres Netzwerk zurückgreifen können. »Access« zum Internet erscheint in dieser Perspektive als einflussreich auf materielle und soziale Ressourcen und wirkt zudem auf die verschiedenen Positionen, die etwa im Arbeitsmarkt oder hinsichtlich Beziehungsnetzwerken eingenommen werden können.602 (4) Unter »Spatial Participation« lassen sich die verschiedenen Chancen auf Mobilität verstehen, die mit Hilfe des Internets ermöglicht werden. Zum einen als räumliche Mobilität, etwa wenn über das Internet orts- und zeitunabhängig an Netzwerken partizipiert wird, zum anderen als soziale Mobilität, wenn gerade mit den von Mark Granovetter beschriebenen, häufig entscheidenden »Weak Ties«603 mittels des Internets einfacher Kontakt gehalten werden kann und diese ausgebaut werden, insbesondere über räumliche Grenzen hinweg. Dies betrifft auch den Gegensatz zwischen vorwiegend lokal agierenden Gruppen und jener auch von Castells beschriebenen »Informationselite«604, die global vernetzt ist. Grundsätzlich erscheint ein beschränkter Zugang im Sinne der 598 599 600 601 602

Vgl. ebd., S. 170f. Vgl. hierzu auch Selwyn/Gorard/Williams 2001. Vgl. Putnam 2000. Vgl. Bourdieu 1983. Vgl. hierzu Merton 1968; Zuckerman 2010. Vgl. van Dijk 2005a, S. 171f. Vgl. hierzu auch Wellman/Quan-Haase/Witte/Hampton 2001; Quan-Haase/Wellman/Witte/Hampton 2002; Ellison/Steinfield/Lampe 2007. 603 Vgl. Granovetter 1973. 604 Castells 1996, S. 447.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

»Spatial Participation« als Ausschluss von ökonomischen, kulturellen und sozialen Chancen, die sich vor allem für Positionen im Zentrum von Netzwerken ergeben, die kaum mehr an lokale Bedingungen gebunden sind.605 (5) In zunehmenden Maße findet mit dem Internet zudem eine Erweiterung kultureller Aktivität statt, so dass van Dijk von einer »Digital Culture« bzw. »E-Culture«606 spricht. Zur »Cultural Participation« gehören die vielfältigen Ausdrucksformen, wie sie das Internet und internetbasierte Dienste beispielsweise über Webseiten, Blogs oder Social Media bieten, die kommunikativen Möglichkeiten von E-Mail bis InstantMessaging, kultureller Konsum von A/V-Inhalten in Mediatheken oder auf anderen Plattformen wie YouTube, Rezeption von Online-Nachrichten und Texten aller Art, Zugriff auf Enzyklopädien wie Wikipedia oder im umfassenderen Sinne auch veränderte Transaktionen beim Konsum, wie sie Online-Handel oder -Auktionen im Stile von eBay ermöglichen. Zudem steigt die Anzahl an kulturellen Angeboten, die nur noch online verfügbar sind, wie z. B. ergänzende Informationen, Inhalte und Kommunikationsmöglichkeiten beim öffentlichen Rundfunk. Begrenzter Zugang auf einer der verschiedenen Ebenen des »Access« erscheint damit als entscheidender Nachteil und relativer Ausschluss von den kulturellen Möglichkeiten der heutigen Gesellschaften, die vielfach im Internet stattfinden.607 (6) Mit dem Internet haben sich auch im Bereich der »Political Participation« neue Potenziale, vor allem für zivilgesellschaftliche Gruppen, ergeben. Zwar lässt sich laut van Dijk nicht unbedingt von einer Belebung des klassischen politischen Prozesses in den ›westlichen‹ Staaten sprechen, jedoch findet insbesondere politische Kommunikation heute in großem Maße im Internet statt, so dass dort entsprechende Informationen angeboten werden und Austausch stattfinden kann.608 Typisches Beispiel sind Angebote im Bereich politischer Bildung wie die Wahlinformationen der sogenannten »Voting Advice Applications«609 oder die Internetaktivitäten der politischen Parteien.610 Zudem 605 Vgl. van Dijk 2005a, S. 172f. 606 Der Begriff »E-Culture« wird vorwiegend im politischen Bereich verwendet und knüpft an ähnlich gelagerte Begrifflichkeiten wie etwa »E-Commerce« an. Fokus der darunter diskutierten Aspekte ist zumeist die Frage nach zu entwickelnden politischen und ökonomischen Strategien angesichts der sich durch Informations- und Kommunikationstechnologien und dem Internet verändernden Produktion und Konsumtion von Kultur im weiteren Sinne. Mithin geht es um die zunehmenden Verknüpfungen von kulturellen Bereichen und Neuen Medien, angefangen vom Einfluss der Digitalisierung auf kulturelle Institutionen wie etwa Theater, Museen oder auch öffentlichen Rundfunk bis zu Veränderungen im Bildungsbereich und in den sogenannten »Creative Industries« (vgl. auch Ronchi 2009). 607 Vgl. van Dijk 2005a, S. 173f. 608 Vgl. ebd., S. 174f. Vgl. hierzu auch allgemein die Sammelbände Siedschlag/Rogg/Welzel 2002; Rogg 2003; Siedschlag/Bilgeri 2003. 609 Vgl. zum Einfluss und zu Mobilisierungspotenzialen von Wähler_innen durch »Voting Advice Applications« Ladner/Pianzola 2010 und Garzia/Marschall 2012.

5.3 Forschung zur digitalen Spaltung

149

sind Online-Petitionen heute schon von staatlicher Seite implementiert und werden auch vielfach durch zahlreiche NGOs für Kampagnen genutzt.611 Gerade im zivilgesellschaftlichen Bereich haben Möglichkeiten der Vernetzung, Koordination, Planung und Dokumentation über das Internet, etwa für Proteste und Demonstrationen, zu einer Belebung von »Civic Engagement« geführt.612 Dabei profitieren auch hier diejenigen am stärksten, die bereits politisch engagiert sind. Entschieden im Nachteil sind dabei all die Gruppen, die durch mangelnden »Access« zum Internet von diesen Formen politischer Willensbildung ausgeschlossen bleiben und somit nicht diese neuen Potenziale nutzen können.613 (7) Ergänzend geht van Dijk auf die »Institutional Participation« ein, die besonders den Aspekt der Interaktion und Kommunikation zwischen staatlichen Stellen und Bürger_innen umfasst. Dabei werden bereits unter Begriffen wie »E-Participation« bzw. »Electronic Participation« und »E-Government« Möglichkeiten verhandelt, wie politische Entscheidungsprozesse mit Hilfe des Internets und digitaler Medien verändert und vereinfacht werden können.614 Hierzu gehören Überlegungen zum Wählen über das Internet und zur grundlegenden Transformation des Wahlsystems unter dem Stichwort »Liquid Democracy«615, die sich tendenziell auch mit den unter »Political Participation« gefassten Phänomenen überschneiden. Auch der Kontakt mit staatlichen Institutionen, mit Versicherungen und Agenturen des Gesundheitssystems findet immer häufiger mit Hilfe des Internets statt, von der grundlegenden Information über Online-Anträge, Terminvereinbarungen und Beratungsangebote.616 Nicht nur der Verwaltungsbereich, wie Arbeitsagenturen, sondern in wachsendem Maße auch Institutionen der Gesund610 Vgl. hierzu beispielsweise Bieber 1999; von Alemann/Marschall 2002; Jandura 2007. 611 Exemplarisch dafür stehen etwa die Organisationen Avaaz, Campact und Change.org. Vgl. hierzu auch den Sammelband Baringhorst/Kneip/März/Niesyto 2010. 612 Vgl. für einen Überblick Voss 2014. Beispielhaft ist die Rolle der zu einem bedeutenden Teil als »tech-savvy« zu bezeichnenden Akteure bei den Occupy-Wall-Street-Protesten und die Bandbreite der von ihnen genutzten Internetaktivitäten (vgl. hierzu Costanza-Chock 2012; Thorson et al. 2013). 613 Vgl. van Dijk 2005a, S. 174f. 614 Vgl. exemplarisch für einen Überblick Heeks 1999; Sanford/Rose 2007; Sæbø/Rose/Skiftenes Flak 2008; Tambouris/Macintosh/Glassey 2010. 615 Vgl. Adler 2013; Friedrichsen/Kohn 2013. Bereits 2007 konnte in Estland bei den Parlamentswahlen online gewählt werden, die Abstimmungsquote per Internet betrug allerdings lediglich 5,4% aller Wähler_innen (vgl. Alvarez/Hall/Trechsel 2009). 616 Vgl. hierzu auch die »Digital by Default«-Agenda, wie sie unter anderem von Großbritannien mit dem Vorhaben der Umsetzung öffentlicher Dienstleistungen vornehmlich über das Internet und digitale Medien verfolgt wird (Wessels 2015). Zur Voraussetzung werden dabei nicht nur der technologische Zugang sowie Fähigkeiten im Umgang mit internetbasierten Diensten, sondern auch das bewusste Management von Online-Identitäten, welches als Kennzeichen für den Status der jeweiligen Personen »shapes the amount of power an individual has to participate in the social and economic aspects of society« (ebd., S. 2814).

150

5 Forschungsfeld Digital Divide

heitsversorgung nutzen das Internet. Zusätzlich lassen sich online vielfältige, wenn auch mitunter problematische Informationen zum gesamten Themenbereich Gesundheit abrufen, die die Position von Patient_innen durchaus zu stärken vermögen.617 Ein Ausschluss von dieser Art der Partizipation nimmt damit entschieden Einfluss auf Lebenschancen. Insgesamt konzipiert van Dijk in seinem Modell Partizipation im Sinne einer umfassenden Teilhabe an allen entscheidenden gesellschaftlichen Bereichen, sowohl politisch und ökonomisch als auch sozial und kulturell. In dem Maße, in dem die verschiedenen Formen der Partizipation zunehmend an den »Access« zu Informations- und Kommunikationstechnologien gekoppelt sind und herkömmliche Formen der Teilhabe defizitär werden, bleiben jene, die nur über beschränkte Zugangsformen verfügen, tendenziell von bestimmten Bereichen der Gesellschaft ausgeschlossen. Auch hier kann unterschieden werden zwischen einem absoluten Ausschluss von den Teilhabemöglichkeiten, die die digitalen Medien bieten, und einer relativen Form, die entsprechend konkret anhand der verschiedenen gesellschaftlichen Felder untersucht werden muss und ein Kontinuum ungleicher Partizipation bildet.618 Die ungleiche Partizipation in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft nimmt im Modell von van Dijk wiederum Einfluss auf die beschriebenen positionalen und persönlichen kategorialen Ungleichheiten sowie die Ressourcenverteilung: Sie ist somit rückgekoppelt an die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse und kann diese verstärken wie auch verringern. Perspektivisch sieht van Dijk auf Basis des »Access«-Modells und der daraus resultierenden ungleichen Partizipation in Fortsetzung seines bereits in »The Network Society« vorgebrachten Ansatzes die Entstehung einer dreigeteilten Struktur der Gesellschaft, die sich aus einer »Informationselite«, der »teilnehmenden Mehrheit« sowie den »Unverbundenen und Ausgeschlossenen« zusammensetzt. Die Informationselite schätzt van Dijk auf etwa 15% der Bevölkerung innerhalb der ›westlichen‹ Nationen. Sie setzt sich aus Personen mit überdurchschnittlich hohem Einkommen und Bildungsgrad sowie zudem mit hohen gesellschaftlichen Positionen zusammen, die umfänglich Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien besitzen und demgemäß über entscheidende Macht innerhalb der Netzwerke verfügen. Im Gegensatz dazu partizipiert die Mehrheit der Bevölkerung entschieden weniger an den Möglichkeiten der Netzwerkgesellschaft. Die aus Teilen der Mittelklasse und der Arbeiterklasse gebildete Gruppe der teilnehmenden Mehrheit umfasst laut van Dijk näherungsweise 50 bis 65% der Gesamtbevölkerung. Zwar weist sie auf den unteren Ebenen Zugangsformen auf, bringt aber überwiegend geringere Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien ein als die 617 Vgl. exemplarisch Jacobson 2007; Stevenson/Kerr/Murray/Nazareth 2007; Lo/Parham 2010; Christmann 2013. 618 Vgl. van Dijk 2005a, S. 177f.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

151

Informationselite und kann daher nicht im gleichen Maße von den Netzwerkverbindungen profitieren. Nahezu ein Viertel der Bevölkerung machen nach van Dijk die »Unverbundenen und Ausgeschlossenen« aus, die größtenteils aus der Netzwerkgesellschaft exkludiert sind. Zu dieser Gruppe gehören hauptsächlich sozial schwache Personen sowie auch ältere Menschen, die sich – in der Logik des Modells – aufgrund der mangelnden Partizipation an der Gesellschaft den niedrigen sozialen Schichten anzunähern drohen.619 Hier finden sich somit jene, die auf allen Ebenen über wenig bis kaum Zugang zu digitalen Medien verfügen und die größten Defizite hinsichtlich der Teilhabemöglichkeiten aufweisen. Van Dijk entwirft dabei diese dreiteilige Struktur als ein realistisches Szenario digitaler Ungleichheiten, um insbesondere auf den politischen Steuerungskurs einzuwirken und Gegenmaßnahmen zu initiieren.620

5.4

Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

Eine Vielzahl an Studien hat auf der empirischen Ebene die Digital Divide vor allem innerhalb der ›westlichen‹ Industrienationen untersucht und Ungleichheiten in verschiedenen Dimensionen herausgearbeitet. Trotz einer insgesamt zunehmenden Verbreitung des Internets und internetbasierter Dienste finden sich in unterschiedlichen Bereichen grundlegende Ungleichheitszusammenhänge vor dem Hintergrund diverser sozioökonomischer und demografischer Kategorien. Sowohl hinsichtlich des unmittelbar technologischen Zugangs als auch bezüglich der Nutzung und der vielfältigen Internetaktivitäten lassen sich hierbei Formen digitaler Ungleichheit feststellen, etwa in Abhängigkeit von Geschlecht621, Alter622, Bildung und sozioökonomischem Status623 oder ›ethnischer‹ Zugehörigkeit624, die im Folgenden dargestellt werden. Vielfach gilt dabei, dass sich insbesondere Ungleichheiten bezüglich der »First Digital Divide« im zeitlichen Verlauf mit der Durchsetzung der digitalen Medien verringert haben, jedoch mit Blick auf die »Second Digital Divide« weiterhin Ungleichheiten in der Internetnutzung vorhanden sind.

619 620 621 622

Vgl. van Dijk 2005a, S. 178f.; van Dijk 2012a, S. 130f. Vgl. van Dijk 2005a, S. 181–217. Vgl. z. B. Bimber 2000; Clark/Gorski 2002; Kennedy/Wellman/Klement 2003; Cooper 2006. Vgl. exemplarisch Loges/Jung 2001; Kim 2008b; Sourbati 2009; Cresci/Yarandi/Morrell 2010; Wagner/Hassanein/Head 2010; Richardson/Zorn/Weaver 2011. 623 Vgl. z. B. Robinson/DiMaggio/Hargittai 2003; Korupp/Szydlik 2005; Hargittai/Hinnant 2008; van Deursen/van Dijk 2009; Zillien/Hargittai 2009. 624 Vgl. exemplarisch Hoffman/Novak/Schlosser 2000; Fairlie 2004, 2007; Ono/Zavodny 2008; Smith 2014.

152

5.4.1

5 Forschungsfeld Digital Divide

Geschlecht

Hinsichtlich des unmittelbar technologischen Zugangs hat sich bezüglich der Kategorie Geschlecht in den ›westlichen‹ Gesellschaften ein ursprünglich in den 1990er Jahren profunder »Gender Gap« zunehmend verringert625, dennoch sind weiterhin Differenzen im Zugang auszumachen.626 In einer Untersuchung der US-Bevölkerung findet Bruce Bimber einen »Gender Gap« über Alterskohorten hinweg auf der Ebene der Internetnutzung, orientiert an der Häufigkeit der Verwendung, nicht jedoch hinsichtlich des prinzipiellen Zugangs. Im Gegensatz zur Nutzungsebene verschwinden bei Betrachtung des technologischen Zugangs hier Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bei Kontrolle von Einkommen und Bildung.627 Erweiterung erfährt die Annahme eines »Gender Gap« bezüglich der Internetnutzung durch die Arbeiten von Tracy Kennedy, Barry Wellman und Kristine Klement.628 Vor dem Hintergrund gesellschaftlich verankerter Geschlechterrollen stellen sie nicht nur eine ungleiche zeitliche Nutzung fest, sondern vor allem unterschiedliche Nutzungsaktivitäten gemäß dem Befund, dass »gendered activities in the physical world are manifested in the virtual world via the Internet«.629 Die hauptsächlichen Differenzen finden sich hierbei hinsichtlich der Nutzung für kommunikative Zwecke, bei der Informationssuche und der Verwendung zur Erholung. Die Erklärung für jene Unterschiede liegt den Autor_innen zufolge im jeweiligen »Doing Gender« und insbesondere bezüglich der Zeit, die online verbracht wird, in der ungleichen Haushaltsposition.630 Auch Jan van Dijk und Alexander van Deursen bestätigen den Befund, dass nicht nur die Internetnutzung, sondern auch die jeweils spezifischen Internetaktivitäten signifikante Differenzen hinsichtlich der Geschlechter aufweisen.631 Insgesamt deuten mehrere Studien in die Richtung einer tendenziell stärker zu Information, Unterhaltung und kommerziellen Zwecken neigenden Nutzung bei Männern, wohingegen bei Frauen höhere Nutzungsraten hinsichtlich einer kommunikativen Verwendung zu finden sind.632 Aus psychologischer Sicht hat zudem Joel Cooper mit Nachdruck auf die Problematik sozialisationsbedingter »Computer Anxiety« hingewiesen, die Resultat jener Geschlechterstereotypen ist, die schon im Kindesalter den Umgang mit Technologien und Computern Jungen zuordnet, und so zur Verstetigung einer Digital Divide zwischen den Geschlechtern führt, die ihren Ausdruck in ungleichen Einstellungen gegen625 626 627 628 629

Vgl. van Dijk/Hacker 2003, S. 325. Vgl. etwa Koch/Frees 2016. Bimber 2000. Vgl. hierzu auch Ono/Zavodny 2003. Vgl. Kennedy/Wellman/Klement 2003. Ebd., S. 84. Zur geschlechterstereotypen Wahrnehmung von Informations- und Kommunikationstechnologien bei jungen Menschen vgl. auch Selwyn 2007. 630 Vgl. Kennedy/Wellman/Klement 2003, S. 79–91. 631 Vgl. van Deursen/van Dijk 2014. Vgl. hierzu auch Zillien/Hargittai 2009. 632 Vgl. Jackson et al. 2008.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

153

über Computern und einer demgemäßen Nutzung findet.633 Ellen Helsper untersucht Geschlechterdifferenzen in der Internetnutzung anhand eines Modells der Lebenssituation, orientiert am Status der Berufstätigkeit, dem Familienstand und der Frage nach minderjährigen Kindern im Haushalt, sowie mit Hilfe von Altersgenerationen.634 Auch sie bestätigt die stärkere Integration des Internets in das Alltagsleben bei Männern und die tendenziell größere Anzahl an männlichen Nutzern für die meisten Internetaktivitäten, mit Ausnahme des weiblich dominierten Gesundheitsbereichs.635 Zwar finden sich in Abhängigkeit vom Alter Nutzungsunterschiede, dergestalt, dass der Umfang der Nutzung bis zum Alter von 35 Jahren allgemein steigt und anschließend wieder absinkt, wobei sich ab diesem Alter eine stabile Diskrepanz im Umfang zwischen den Geschlechtern zeigt. Dennoch ergeben sich bezüglich der Internetaktivitäten keine signifikanten Differenzen, die abhängig vom Alter eine spezifisch geschlechtliche Dimension besitzen. Auch die Lebenssituation ist nur von geringem Einfluss auf die Internetnutzung hinsichtlich Geschlechterdifferenzen, stellt aber für die überwiegende Anzahl an Internetaktivitäten einen unabhängigen Effekt dar.636 Helsper kommt daher zu der Schlussfolgerung, dass hinsichtlich digitaler Ungleichheiten in geschlechtlicher Perspektive Alterseffekte keine ausreichende Erklärung geben, sondern immer auch die Lebenssituation berücksichtig werden muss, da »[t]he Internet […] reflects the practical reality of offline life circumstances.«637 5.4.2

Alter/Generation

In Bezug auf Alter lässt sich sowohl auf der Ebene des Zugangs als auch der Nutzung ein »Age Gap« konstatieren, der mitunter auch als »Grey Gap«638 oder »Grey Digital Divide«639 apostrophiert wird.640 Ungleichheiten sind dabei hinsichtlich der ältesten Nutzer_innen am größten, wobei insbesondere auf der Zugangsebene vielfach von einem Generationeneffekt ausgegangen wird, da die älteren Kohorten zu den Gruppen mit den höchsten Zuwachsraten zählen.641 Der Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien im Arbeitsumfeld sowie der gestiegene Einsatz im Bildungsbereich lassen eine Vertrautheit mit der Nutzung für zukünftige Generationen vermuten, so dass 633 Vgl. Cooper 2006. Vgl. auch Durndell/Haag 2002; Imhof/Vollmeyer/Beierlein 2007 sowie im Gegensatz dazu die Befunde in Ritzhaupt/Liu/Dawson/Barron 2013. 634 Vgl. Helsper 2010. 635 Vgl. hierzu auch Joiner et al. 2012. 636 Vgl. Helsper 2010, S. 370. 637 Ebd. 638 Vgl. Lenhart et al. 2003. 639 Vgl. Morris 2007. 640 Vgl. Friemel 2016. 641 Vgl. Richardson/Zorn/Weaver 2011, S. 133; Zickuhr/Madden 2012.

154

5 Forschungsfeld Digital Divide

sich der Tendenz nach Ungleichheiten hier verringern könnten.642 Vor dem Hintergrund ihres »Internet Connected Index« stellen William E. Loges und Joo-Young Jung fest, dass ältere Internetnutzer_innen vor allem bezüglich der Intensität und Bandbreite der Internetaktivitäten hinter jüngeren Nutzer_innengruppen zurückliegen. D. h. sie nutzen das Internet und internetbasierte Dienste durchschnittlich für wesentlich weniger Zwecke, verwenden weniger Internetdienste und dies an weniger Orten.643 Zugleich lässt sich jedoch keine altersbezogene Differenz hinsichtlich der Bedeutung des Internets für die Kommunikation im alltäglichen Leben feststellen: »There is nothing about the relatively narrow range of goals older respondents pursue that would suggest that the Internet or computing in general must be less important to them than to younger people.«644 Auch bei den älteren Nutzer_innengruppen ist somit das Internet fester Bestandteil des Alltags, unabhängig von der Anzahl der genutzten Anwendungen. Die Autor_innen kommen dabei zu dem Schluss, dass die Digital Divide bezüglich des Alters nicht nur einen Generationeneffekt darstellt, sondern mitunter auch die spezifischen Lebensumstände älterer Menschen ausschlaggebender Grund für die differente Verwendung sein können.645 Im Mittelpunkt steht bei den älteren Nutzer_innen einer Reihe von Studien zufolge vor allem die Verwendung zur Kommunikation und Aufrechterhaltung sozialer Kontakte sowie zur Informationsrecherche mit besonderem Fokus auf Gesundheit und Bildung.646 Wichtig ist zudem, nicht vom Bild einer quasi-homogenen Nutzer_innengruppe älterer Menschen als »Silver Surfers« auszugehen.647 Zum einen existieren signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen, etwa von »Middle Aged«, »Young Seniors« und »Old Seniors«.648 Zum anderen interagieren Geschlecht und Bildung mit dem Alter. So kommt eine Mehrzahl an Arbeiten zu der Annahme, dass vor allem ältere Frauen gegenüber älteren Männern im Zugang zum Internet benachteiligt sind und sich Geschlechterstereotype in nahezu paradox anmutenden Aussagen wie »We can, but I can’t«649 von Frauen kondensieren, die damit eine effektive Nutzung verhindern.650 Zugleich sind ältere Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen hinsichtlich ihrer Einstellungen im Durchschnitt offener gegenüber neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und neigen im Sinne der Diffusionstheorie Rogers eher 642 643 644 645

646 647 648 649 650

Vgl. auch Carpenter/Buday 2007. Vgl. Loges/Jung 2001. Ebd., S. 557. Vgl. ebd., S. 559. Vgl. auch Lee/Chen/Hewitt 2011. Hier schließt zudem die Frage nach den möglicherweise erhöhten »Disabilities« älterer Menschen an, die zusätzlich ein Hindernis für die Internetnutzung darstellen können (vgl. exemplarisch Mann/Belchior/Tomita/Kemp 2005). Vgl. Wagner/Hassanein/Head 2010, S. 873. Vgl. Cody/Dunn/Hoppin/Wendt 1999. Vgl. Peacock/Künemund 2007; Lee/Chen/Hewitt 2011. Karavidas/Lim/Katsikas 2005, S. 709. Vgl. Richardson/Zorn/Weaver 2011, S. 134f.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

155

zur Übernahme und Aneignung dieser Technologien.651 Entsprechend verfügen die als »No-Nets« bezeichneten älteren Menschen, die keine Nutzung des Internets anstreben, tendenziell über eine niedrigere Bildung und ein geringeres Einkommen.652 Dass die umgekehrte Schlussfolgerung zum »Age Gap«, einer in jeder Hinsicht internetaffinen jungen Kohorte, wie sie mit dem verklärenden Stichwort der »Digital Natives«653 oder der »Net Generation«654 unterstellt wird, nicht unproblematisch ist, betont Selwyn.655 Denn wiederholt zeigt sich etwa in der Forschung der Befund, dass der Umfang der Nutzung bei Kindern und Jugendlichen zumeist eher begrenzt ausfällt, häufig sogar von einer relativ oberflächlichen, zumindest aber unspektakulären Verwendung gesprochen werden kann.656 Dieses Bild wird mitunter noch weiter getrübt durch mangelnde kritische und analytische Fähigkeiten bei der Informationsrecherche und Evaluation.657 Auch innerhalb der von Sonia Livingstone und Ellen Helsper untersuchten Gruppe der 9- bis 19-Jährigen gibt es hinsichtlich des technologischen Zugangs und der Internetnutzung entschiedene Ungleichheiten: »Boys, older children and middleclass children all benefit from more and better quality access to the internet than girls, younger and working-class children.«658 Dies setzt sich auf der Ebene der Internetaktivitäten – den Autorinnen zufolge »Online Opportunities« – fort, wobei hier die statusbezogenen Unterschiede verschwinden. Dennoch: Geschlecht und Alter sind auch hier von Einfluss auf die Nutzung, so dass Jungen und ältere Kinder tendenziell häufiger das Internet nutzen.659 Bemerkenswert ist hierbei auch, dass im Verhältnis junge Mädchen gegenüber gleichaltrigen Jungen eine größere Anzahl an Internetaktivitäten nutzen, diese Relation sich aber mit zunehmendem Alter umkehrt, so dass gerade Mädchen im späteren Teenageralter relativ betrachtet weniger Möglichkeiten des Internets nutzen, was die Annahme einer Sozialisation im Rahmen einer geschlechterstereotypen Kultur nahelegt.660 651 652 653 654 655 656

657 658 659 660

Vgl. Cutler/Hendricks/Guyer 2003; Ahn/Beamish/Goss 2008. Cresci/Yarandi/Morrell 2010. Vgl. Prensky 2001a, 2001b. Vgl. Tapscott 1998. Vgl. Selwyn 2009. Vgl. Selwyn/Potter/Cranmer 2009. Eine Untersuchung zweier Generationen der »Digital Natives« kommt zum Resultat einer wesentlich häufigeren und in der Vielfalt breiteren Nutzung des Internets bei der jüngeren Kohorte sowie geringeren Berührungsängsten und einer höheren Identifikation mit dem Internet. Zugleich ist insgesamt der Umfang an Aktivitäten beider Kohorten der »Digital Natives« auch hier relativ klein und gerade hinsichtlich der mit ihnen assoziierten Web 2.0Aktivitäten wie etwa »Microblogging« äußerst gering (vgl. Joiner et al. 2013). Vgl. Rowlands et al. 2008 und Gui/Argentin 2011. Livingstone/Helsper 2007, S. 690. Zur Komplexität der Medienaneignung bei Kindern vor dem Hintergrund des Domestizierungsansatzes vgl. auch Livingstone 2002. Vgl. Livingstone/Helsper 2007, S. 686–689.

156

5.4.3

5 Forschungsfeld Digital Divide

»Race«/»Ethnicity«

Insbesondere im US-amerikanischen Kontext spielt die Kategorie »Race« bzw. »Ethnicity« eine wichtige Rolle in der Forschung zur Digital Divide.661 Tom Spooner stellt für die USA im Vergleich der vier Gruppen von »Asian-Americans«, »Whites«, »AfricanAmericans« und »English-speaking Hispanics« Differenzen sowohl bezüglich des Zugangs als auch der Verwendung fest. Herausgehoben werden von ihm »AsianAmericans«, die weit vor den drei anderen Gruppen über eine prozentual höhere Anzahl an Nutzer_innen verfügen, größere Erfahrung in der Verwendung des Internets besitzen und mehr Zeit mit dem Internet verbringen, so dass hier von einer stärkeren Integration des Internets in das Alltagsleben ausgegangen werden kann. In der Rangfolge schließen daran »Whites«, »English-speaking Hispanics« und »African-Americans« an.662 Auch Robert W. Fairlie findet auf der Ebene des Zugangs für den US-amerikanischen Kontext zwischen den verschiedenen Gruppen von »African-Americans«, »Latinos« und »Whites« Ungleichheiten, wobei sowohl »African-Americans« als auch »Latinos« im Vergleich zur ›weißen‹ Bevölkerung über einen wesentlich geringeren Zugang zu Computern und zum Internet verfügen.663 Besonders markant ist die große Differenz zwischen »MexicanAmericans« als einer Untergruppe der »Latinos« und den ›Weißen‹.664 Mit Blick auf die nur in geringem Maße bei Fairlie erfassten unterschiedlichen Nutzungsformen lassen sich jedoch keine substanziellen Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen erkennen. In einer anschließenden Analyse des ungleichen Internetzugangs auf Basis der Oaxaca-Blinder-Zerlegung665, die von Fairlie zur Schätzung des Anteils der verschiede661 662 663 664

Vgl. Hoffman/Novak/Schlosser 2000; Fairlie 2004. Vgl. hierzu auch für Südafrika Bornman 2015. Vgl. Spooner 2001. Fairlie 2004. Vgl. hierzu auch Smith 2014. Fairlie kommt mit seinen Daten hinsichtlich der häuslichen Internetnutzung zu folgenden Ergebnissen: Der Anteil der »Mexican-Americans« beträgt nur etwas mehr als ein Drittel des Anteils der ›Weißen‹. Für die Gruppe der »African-Americans« erhöht sich dieser Anteil auf 51% im Verhältnis zur ›weißen‹ Bevölkerung mit Internetzugang zu Hause (vgl. Fairlie 2004, S. 4–7). 665 Die grundlegende Idee des zeitgleich und unabhängig voneinander durch Ronald Oaxaca (1973) und Alan S. Blinder (1973) entwickelten Verfahrens zielt auf die Identifikation der verschiedenen Anteile jeweils spezifischer Merkmale an Gruppendifferenzen, in dem eine Dekomposition nach relevanten Merkmalen wie etwa Bildung, Haushaltsgröße etc. vorgenommen wird. Letztlich werden so die Einflussfaktoren in ihrer Stärke auf gruppenabhängige Differenzen sichtbar. Größtes Anwendungsfeld und ursprünglicher Entstehungskontext der Oaxaca-Blinder-Zerlegung ist die Untersuchung von Einkommensungleichheiten mit dem Ziel, Differenzen in Löhnen, die beispielsweise auf gruppenbezogenen Bildungsunterschieden beruhen, von jenen zu unterscheiden, die tatsächlich einer diskriminierenden Logik unterstehen. Dafür wird ein erklärter Anteil der Differenzen etwa auf Basis von Unterschieden zwischen den Gruppen hinsichtlich Beruf oder Familienstand von einer unerklärten Komponente, die als Diskriminierung angesehen werden kann und die es weiter zu erklären gilt, geschieden. Maßgeblich ist dabei, welche Merkmale in die Analyse miteinbezogen werden, denn »the magnitude of the estimated effects of discrimination crucially depends upon the

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

157

nen sozioökonomischen Kategorien von Einkommen, Beruf und Bildung, aber auch demografischer Merkmale wie Geschlecht, Alter und Region an der Ungleichheit zwischen den verschiedenen Gruppen eingesetzt wird, ergibt sich als Resultat zwar für die einzelnen Gruppen eine deutliche Erklärungskraft von Bildung, Beruf und Einkommen. Dennoch verbleibt ein erheblicher Anteil nicht-erklärter Varianz, der einen dezidierten »Racial Gap« darstellt und den es weiter zu ergründen gilt. Eine entscheidende Ursache für die geringen Zugangsraten der »Mexican-Americans« liegt dabei Fairlie zufolge in den Sprachbarrieren der vornehmlich spanisch-sprachigen Haushalte: »Clearly, language makes a large difference.«666 Diese Perspektive auf Ungleichheiten im Internet hinsichtlich der sprachlichen Dominanz des Englischen hat nicht nur in Bezug auf einen »Immigrant-Native Gap«667 innerhalb des US-amerikanischen Kontexts Relevanz, sondern die von Fairlie gefundene Digital Divide zwischen der ›weißen‹, englischsprachigen Bevölkerung und den spanisch-sprachigen »Latinos« ist »on par with the Digital Divide between the United States and many developing countries.«668 Mit Blick auf die globale Ebene kann hier mit Paul Gorski und Christine Clark von einer »Linguistic Digital Divide« gesprochen werden, die tendenziell all jene benachteiligt, die über keine ausreichenden Kenntnisse der englischen Sprache verfügen.669 Zwar hat sich mit der Verbreitung des Internets auch die Anzahl an Inhalten in weiteren Sprachen enorm vergrößert,670 dennoch sprechen auch Katy E. Pearce und Ronald E. Rice weiterhin von einer »Language Divide«, die vor allem im globalen Verhältnis betrachtet Minderheitensprachen – »Global Linguistic Minorities« – betrifft, da ihre Mitglieder auf Fremdsprachenkenntnisse angewiesen sind, um das Internet angemessen nutzen zu können.671 In ihrer Untersuchung der Internetnutzung in den kaukasischen Ländern Armenien, Aserbaidschan und Georgien kommen sie zu dem Ergebnis, dass auf der Ebene des Zugangs Englischkenntnisse nach Alter der entscheidende Einflussfaktor sind und hinsichtlich der Häufigkeit der Nutzung die größte Erklärungskraft aufweisen. Besonders vor dem Hintergrund verstärkter Social-Media-Aktivitäten, die den unmittelbaren Austausch innerhalb von Sprachgemeinschaften ermöglichen, ist die dennoch weiterhin anhaltende Dominanz der englischen Sprache im Kontext des Internets und internetbasierter Dienste bemerkenswert.672

666 667 668 669 670 671 672

choice of control variables for the wage regressions. A researcher’s choice of control variables implicitly reveals his or her attitude toward what constitutes discrimination in the labor market.« (Oaxaca 1973, S. 699) Vgl. hierzu auch spezifisch Fairlie 2006. Fairlie 2004, S. 30. Vgl. hierzu auch Jesus/Xiao 2012. Vgl. Ono/Zavodny 2008. Fairlie 2007, S. 287. Vgl. Gorski/Clark 2002b. Vgl. hierzu die Übersicht in Warschauer 2012, S. 4. Vgl. Pearce/Rice 2014. Vgl. auch Grazzi/Vergara 2012. Vgl. Pearce/Rice 2014, S. 2848.

158

5 Forschungsfeld Digital Divide

5.4.4

Region/Global Digital Divide

Regionale Disparitäten stellen einen weiteren Aspekt der Digital Divide dar, und zwar einerseits in globaler Perspektive und andererseits auch innerhalb der Nationalstaaten. Schon früh wurde mit Fokus auf die meist einer nationalen Logik unterstellten Versorgung mit Internetanbindungen und Breitbandanschlüssen eine »Rural-Urban Divide« festgestellt.673 Auch Wenhong Chen und Barry Wellman finden in ihrer vergleichenden Analyse der Digital Divide in den USA, Deutschland, Japan, Südkorea und China nahezu überall das gleiche Muster, demzufolge die Bevölkerung in ländlichen Gebieten signifikant weniger Zugang zum Internet besitzt als jene, die in Städten und suburbanen Gegenden leben. Nicht zuletzt abhängig von der teils extrem unterschiedlichen räumlichen Entwicklung fallen diese Differenzen in ihrem Maß äußerst verschieden aus. So sind die Unterschiede in China zwischen den ökonomisch starken Küstenregionen im Osten mit ihren Megacities und dem ärmeren Hinterland wesentlich prägnanter als im föderalistischen Deutschland.674 Jayajit Chakraborty und Martin M. Bosman schlagen zudem auf Basis des Gini-Koeffizienten einen Ansatz vor, der auf globaler, nationaler oder regionaler Ebene Ungleichheiten bezüglich der Digital Divide zu differenzieren erlaubt und eine »Spatial Divide« adressiert.675 Ihre Forschung untersucht die Digital Divide in technologischer Perspektive anhand des Besitzes von Computern und kommt zum Ergebnis einer geografisch innerhalb der USA äußerst ungleichen Verteilung, insbesondere zwischen den südlichen Staaten und den Pazifikstaaten. Diese räumliche Ungleichheit besitzt zugleich stark unterschiedliche Ausmaße hinsichtlich der Vergleichsgruppen von »African-American« und ›weißen‹ Haushalten.676 Auf der Ebene zwischen Nationalstaaten wird allgemein von einer »Global Digital Divide« gesprochen, um Ungleichheiten im Zugang und der Verwendung digitaler Medien zu charakterisieren. Dabei liegt der Schwerpunkt aufgrund der teils stark Policybeeinflussten Perspektive vorwiegend auf der Diffusion der Technologien. Die Analysen der Differenzen sind stark abhängig von den für Nationalstaaten und Regionen vergleichend verfügbaren Daten.677 Eine Bestandsaufnahme dieser globalen Ebene der Digital 673 674 675 676 677

Vgl. NTIA 1995b. Vgl. Chen/Wellman 2005. Vgl. zu China auch exemplarisch Song 2008. Vgl. Chakraborty/Bosman 2005. Vgl. ebd. Vgl. exemplarisch Norris 2001. Einen anderen Fokus auf den Begriff der »Global Digital Divide« legt Ralph Schroeder, der mit Rekurs auf Weber untersucht, wie sich in verschiedenen Ländern das Verhältnis zwischen Eliten und der breiten Bevölkerung hinsichtlich der Kontrolle von Medien mit Hilfe der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien unterschiedlich verändert. Als Divide ist hier weniger eine Form der ungleichen Nutzung digitaler Medien konzipiert, vielmehr werden damit die ungleichen Machtverhältnisse in Mediensystemen adressiert (vgl. Schroeder 2015).

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

159

Divide nimmt jährlich die International Telecommunication Union (ITU) vor.678 Dabei zeigt sich, dass die unterschiedlichen Durchdringungsraten im Vergleich äußerst markant sind und die entsprechenden Klüfte in erster Linie entlang des klassischen NordSüd-Konfliktes zwischen den sogenannten entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern verlaufen. Am stärksten sichtbar sind die Diskrepanzen hinsichtlich der afrikanischen Länder. So haben laut der Daten der ITU von 2016 in den europäischen Ländern im Durchschnitt 82,5% aller Haushalte einen Internetzugang, während in den afrikanischen Staaten durchschnittlich nur 16,3% über einen entsprechenden Zugang verfügen.679 Auch hinsichtlich der Internetnutzer_innen ergibt sich ein ähnliches Bild, hier stehen 79,6% an Nutzer_innen in den entwickelten Ländern nur 39% in den Entwicklungsländern gegenüber, wobei der Anteil in Afrika mit 19,9% nochmals geringer ausfällt.680 Die ITU hat für den internationalen Vergleich der »Global Digital Divide« auf Basis der verfügbaren Daten einen eigenen Index entwickelt, den ICT Development Index (IDI). Dieser umfasst unterschiedlich gewichtet den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien (40%), die Internetnutzung (40%) sowie die Fähigkeiten zur Nutzung als »ICT Skills« (20%) und wird auf einer Skala von 0 bis 10 erfasst.681 Dabei sind die »ICT Skills« allerdings nur näherungsweise über die Bildung berücksichtigt, und zwar als Alphabetisierungsrate der Erwachsenen sowie jeweils die »Gross Enrollment Ratio«682 für sekundäre und tertiäre Bildung. Auch hier ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Weltregionen. Während der durchschnittliche Wert des IDI für Europa im Jahr 2015 bei 7,35 liegt, mit Dänemark (8,88) an der Spitze, beträgt er für die Länder des afrikanischen Kontinents im Durchschnitt nur 2,53, mit dem Tschad (1,17) als Schlusslicht.683 Die größten Differenzen im Zugang liegen demnach in der globalen Dimension zwischen den ›westlichen‹ Staaten und den Entwicklungsländern entlang des Nord-Süd678 Vgl. International Telecommunication Union 2017. 679 Vgl. ebd. (Excel Sheet). Die Daten beziehen sich auf 2016, da in den Veröffentlichungen der ITU für 2017 bisher nur Schätzungen vorliegen. Die ITU vergleicht zudem auch die Zugangsarten unterschieden nach stationärer Breitbandanbindung und mobilem Internet via Smartphone oder USB-Modem. In den sogenannten entwickelten Ländern besitzen 2016 94,4% eine mobile Anbindung und immerhin 30,3% einen stationären Breitbandanschluss, in den sogenannten Entwicklungsländern haben hingegen nur 43,6% mobiles Internet und lediglich 8,7% einen festen Breitbandanschluss. 680 Vgl. ebd. 681 Vgl. International Telecommunication Union 2013, S. 17–75. 682 Die »Gross Enrollment Ratio« ist eine spezifische Einschulungsrate und gibt das Verhältnis der eingeschulten Kinder und Jugendlichen einer Bildungsstufe zur Gesamtheit aller Kinder und Jugendlichen einer Bevölkerung an, die für diese Bildungsstufe das vorgesehene Alter besitzen. Zur Problematik korrespondierender Altersstufen besonders für die tertiäre Bildung vgl. United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization. Institute for Statistics 2009. 683 Vgl. International Telecommunication Union 2015, S. 63f.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

Gefälles und gemäß einer Zentrum-Peripherie-Logik, wie sie in Anlehnung an Immanuel Wallerstein skizziert werden kann: »The digital divide reflects the broader context of international social and economic relations: a center-periphery order marked by American dominance. There are large disparities of Internet access between the affluent nations at the core of the Internet-based global network on the one hand, and the poor countries at the periphery which lack the skills, resources, and infrastructure to log on in the information era on the other.«684 Hoffnungen auf eine zukünftige Schließung der »Global Digital Divide« knüpfen sich dabei häufig an eine zunehmende Diffusion von Informations- und Kommunikationstechnologien vor dem Hintergrund neuer technologischer Weiterentwicklungen, die insbesondere die mobile Kommunikation ins Zentrum stellen, der Öffnung von Märkten und der Forcierung von Wettbewerb vor allem in Entwicklungsländern sowie staatlicher, gemeinnütziger und privatwirtschaftlicher Initiativen.685 Menzie D. Chinn und Robert W. Fairlie identifizieren auf Grundlage von Daten der International Telecommunications Union als hauptsächlichen erklärenden Faktor für die globalen Unterschiede im Internetzugang das Pro-Kopf-Einkommen in den verschiedenen Ländern, gefolgt vom Zugang zu Elektrizität, den jeweiligen institutionellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als »Regulatory Quality« und der Telekommunikationsinfrastruktur.686 Mauro F. Guillen und Sandra L. Suarez bringen ergänzend zur Einkommens- und Kostenperspektive als Erklärung ungleicher Internetnutzung die Frage nach globalen Abhängigkeitsverhältnissen im Sinne der Weltsystemtheorie, dem Demokratiestatus der betrachteten Länder, den spezifischen Marktregulierungen im Bereich der Telekommunikation und den sozialen Beziehungen als Einflussfaktoren ein.687 Signifikant und in abnehmender Folge von Bedeutung sind hierbei der »WorldSystem-Status« als der Zugehörigkeit zur Gruppe der Länder des Zentrums, der SemiPeripherie oder der Peripherie,688 die Privatisierung der Telekommunikation gegenüber 684 Chen/Wellman 2004, S. 41. 685 Vgl. Norris 2001. Linda D. Garcia betont zudem im Gegensatz zur üblichen Perspektive auf die Anbindung ländlicher Gebiete der »Global Digital Divide«, die ihren Schwerpunkt auf Bestrebungen der Marktliberalisierung und Förderung ausländischer Investitionen legt, die Notwendigkeit eines neuen epistemologischen Ansatzes, der in der Entwicklung kooperativer, sozialer Innovationen vor Ort innerhalb der ländlichen Gemeinden besteht, um das ›Marktversagen‹ zu kompensieren (vgl. Garcia 2005, S. 117–145). 686 Vgl. Chinn/Fairlie 2006. Vgl. zur Problematik der Verallgemeinerungen auf Basis des Pro-KopfEinkommens bei der Betrachtung der Digital Divide auch James 2008. Im Gegensatz zur einfachen Unterscheidung zwischen Ländern verweist Jeffrey James auf die Notwendigkeit, die jeweiligen ungleichen Einkommensverhältnisse in den Ländern mit zu berücksichtigen und ins globale Verhältnis zu setzen. 687 Vgl. Guillen/Suarez 2005. 688 Der Einfluss des Status im Weltsystem ist abhängig von der vorgenommenen Zurechnung der Länder. Während im Durchschnitt die Länder des Zentrums einen prozentual höheren Anteil an Internetnutzer_innen gegenüber Peripherie-Ländern besitzen, sinkt ihr Anteil gegenüber den Län-

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

161

staatlichen Monopolen und die Förderung des Wettbewerbs in den lokalen Märkten. Von geringem Einfluss sind zudem je nach gewähltem statistischem Modell der Grad der Demokratisierung und der Kosmopolitismus der Bevölkerung.689 Die große Bedeutung des Status innerhalb des Weltsystems zeigt dabei an, dass »[c]ountries with an initial advantage in the creation, organization, and dissemination of knowledge and information seem poised to benefit disproportionately from the Internet, in yet another manifestation of the ›rich-get-richer,‹ Matthew-type effect […].«690 Einen umfassenden Versuch, die »Global Digital Divide« zu erheben und räumliche Disparitäten zu ergründen, unternehmen James B. Pick und Avijit Sarkar in ihrer gleichnamigen Arbeit, die einerseits auf die globale Dimension zwischen Nationalstaaten abzielt, zugleich aber andererseits auch die subnationale Stufe miteinbezieht und dies anhand von Fallstudien zu China, Indien, Japan und den USA ausführt.691 Hierfür entwickeln sie ein theoretisches Modell, welches auf Basis eines bereits früher eingebrachten Strukturgleichungsmodells der Digital Divide versucht, die unterschiedliche Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf nationaler sowie subnationaler Ebene zu erklären.692 Die Internetnutzung sowie die Verfügung von Computern, Breitbandanschlüssen, sicheren Internetservern und Mobiltelefonen werden dabei als »Technology Utilization Factors« konzipiert, die auf ihren Zusammenhang mit einer Vielzahl an unabhängigen Faktoren untersucht werden, die sowohl soziale und ökonomische als auch gesellschaftliche und staatlich-regulatorische Aspekte einschließen.693 Hinsichtlich der Ungleichheiten in der Internetnutzung zeigt sich bezogen auf die Gesamtheit aller Länder der größte Einfluss durch den jeweiligen Anteil an tertiärer Bildung und der Unabhängigkeit des Rechtssystems in den Ländern. Negativ wirkt sich zudem der Anteil von Frauen an der arbeitenden Bevölkerung aus, wobei sich dieser Effekt bei getrennter Betrachtung von Entwicklungsländern und »Developed Countries« erklärt, da nur in ersteren dieser Einfluss bestehen bleibt. Der Vermutung, dass Frauen

689

690 691 692 693

dern der Semi-Peripherie. Der Grund liegt dabei in der Zurechnung von Ländern wie Brasilien, China und Saudi-Arabien zum Zentrum, die beim damaligen Stand der Internetnutzung nur über relativ gesehen wenig Internetnutzung verfügten und so einen entsprechend vermindernden Effekt auf das Zentrum ausübten (vgl. ebd., Fußnote 14). Vgl. Guillen/Suarez 2005. Der Kosmopolitismus wird hierbei mittels der Pro-Kopf-Ausgaben für Reisen angenähert und im Sinne von Robert K. Mertons Idealtypus des »Cosmopolitan« gefasst, der in weitere Netzwerke eingebunden und nicht lediglich in den lokalen Beziehungen verortet ist (vgl. ebd., S. 691). Zu den Ergebnissen vgl. auch die Befunde in Robison/Crenshaw 2010. Vgl. Guillen/Suarez 2005, S. 697. Vgl. Pick/Sarkar 2015. Vgl. hierzu auch Pick/Azari 2011. Vgl. für das generische Modell Pick/Sarkar 2015, S. 72–79. In den Fallstudien verwenden die Autoren spezifische Ausformulierungen dieses Modells, die unter anderem auf die verfügbaren Daten zugeschnitten sind.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

dort, wo sie einer stärkeren Integration in den Arbeitsmarkt unterliegen, einen höheren Gebrauch von Informations- und Kommunikationstechnologien machen und damit einen positiven Effekt auf die Anzahl der Internetnutzer_innen ausüben, widersprechen in den Entwicklungsländern zumeist die Arbeitsbedingungen und der entsprechend hohe Anteil von informeller Arbeit bei den Frauen. Ein positiver Effekt diesbezüglich kann hingegen für die sogenannten entwickelten Länder mit Blick auf den Breitbandzugang konstatiert werden. Bei getrennter Betrachtung der beiden Ländergruppen zeigt sich außerdem ein jeweils entscheidender Einfluss der Innovationsfähigkeit der Staaten, gemessen etwa anhand der wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Journals, auf den Anteil an Internetnutzung und für die Entwicklungsländer eine zusätzliche Erklärungskraft durch den Anteil ausländischer Direktinvestitionen. Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass bei Betrachtung von Weltregionen für die europäischen Länder in erster Linie die Unabhängigkeit des Rechtssystems von großer Bedeutung für Ungleichheiten in der Internetnutzung ist, während für die Nationen in Afrika und Lateinamerika insbesondere auch die Pressefreiheit einen signifikanten Effekt darstellt.694 Insgesamt zeigen die Autoren auf, dass es sich bei der »Global Digital Divide« um ein überaus komplexes Phänomen handelt, welches mit Blick auf die Vielfalt an relevanten Faktoren nicht lediglich auf der globalen Ebene betrachtet werden kann, um die großen Differenzen hinsichtlich des Zugangs und der Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien zu erklären, sondern zusätzlich um eine Analyse auf jeweils nationaler Ebene erweitert werden muss, da aufgrund unterschiedlicher geschichtlicher, kultureller, politisch-ökonomischer und institutioneller Entwicklungen »[n]ations are distinctive in their internal digital divides.«695 5.4.5

Bildung, sozioökonomischer Status und Einkommen

Eine Vielzahl an Studien hat den Zusammenhang der Digital Divide mit dem sozioökonomischen Status, zumeist gemessen am Bildungsgrad, untersucht und hier durchgehend Ungleichheiten festgestellt, und zwar sowohl auf der Ebene des Zugangs als auch der Nutzung. So bestätigen bereits die frühen Forschungsarbeiten der NTIA sowie des amerikanischen Pew Research Center auf beschreibender Basis den engen Zusammenhang von Internetzugang und Bildung.696 Eszter Hargittai und Amanda Hinnant haben darüber hinaus für die Verwendung des Internets nachgewiesen, dass Personen mit niedrigerer Bildung im Verhältnis zu Personen mit höherer Bildung statistisch signifikant geringere Internetkenntnisse besitzen und zudem Bildung mit verschiedenen For694 Vgl. ebd., S. 83–111. 695 Vgl. ebd., S. 358. 696 Vgl. exemplarisch NTIA 1995b, 2002; Lenhart et al. 2003; Fox 2005.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

163

men der Internetnutzung korreliert ist. So besuchen ihrer Studie nach Nutzer_innen mit höherer Bildung tendenziell häufiger Websites, die den Autorinnen zufolge als »capitalenhancing« gelabelt sind und damit insgesamt Einfluss auf Lebenschancen haben, und zwar dergestalt, dass sie im Sinne einer möglichen Aufwärtsmobilität verstanden werden können.697 Insofern sind digitale Ungleichheiten nicht bloß ein Phänomen der ungleichen Nutzung insgesamt, sondern auch abhängig davon, welche Formen der Verwendung vorherrschend sind. In der Forschung hat sich hierfür in Fortsetzung der Knowledge-Gap-Hypothese vielfach der Begriff des »Usage Gap« durchgesetzt.698 Jan van Dijk und Alexander van Deursen stellen in ihrer Untersuchung der verschiedenen Fähigkeiten und Kenntnisse im Umgang mit dem Internet und internetbasierter Dienste, die sie als »operational, formal, information and strategic skills«699 unterscheiden, fest, dass in experimentellen Tests diesbezügliche Probleme in der Nutzung des Internets größtenteils mit dem Bildungsgrad korrelieren.700 So zeigt sich ein Zusammenhang mit niedrigeren Bildungsgraden auf allen Ebenen, sowohl hinsichtlich erhöhter Probleme bezüglich operationaler und formaler Internetfähigkeiten, etwa bei der Nutzung von Suchmaschinen oder der Bedienung eines Browsers, als auch beim unzureichenden Umgang mit Informationen, z. B. Suchergebnissen, und mangelnden strategischen Fähigkeiten im Umgang mit dem Internet.701 Van Dijk und van Deursen schlussfolgern entsprechend, dass »the original digital divide of physical internet access has evolved into a divide that includes differences in skills to use the internet.«702 Aufgrund der stark unterschiedlichen Fähigkeiten im Umgang mit dem Internet besteht dabei die Gefahr, dass große Teile der Bevölkerung und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit jene mit niedrigeren Bildungsgraden von einer effektiven Nutzung ausgeschlossen bleiben, was wiederum Lebenschancen verringert und zu einer Perpetuierung sozialer Ungleichheit führt. Auch auf der Ebene unterschiedlicher Nutzung des Internets haben van Deursen und van Dijk Differenzen zwischen den verschiedenen Bildungsgruppen festgestellt.703 697 Die als »capital-enhancing« charakterisierte Nutzung umfasst »activities that may lead to more informed political participation (seeking political or government information online), help with one’s career advancement (exploring career or job opportunities on the Web), or consulting information about financial and health services« (Hargittai/Hinnant 2008, S. 606f.). Unterschieden werden diese Nutzungsformen zugleich von einer eher unterhaltenden Verwendung, der in weitaus geringerem Maße Einflussnahme auf soziale Mobilität unterstellt wird (vgl. hierzu auch DiMaggio/ Hargittai/Celeste/Shafer 2004). 698 Vgl. van Dijk 2012a, S. 126. 699 van Deursen/van Dijk 2009, S. 393. 700 Vgl. van Deursen/van Dijk 2009. Vgl. hierzu auch van Deursen/van Dijk/Peters 2011. 701 Vgl. van Deursen/van Dijk 2009. 702 van Deursen/van Dijk 2011a, S. 893. 703 van Deursen/van Dijk 2014.

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5 Forschungsfeld Digital Divide

Bemerkenswert ist dabei der grundsätzliche Befund, dass entgegen früherer Studien die zeitliche Nutzung nicht mehr positiv mit dem Bildungsgrad korreliert, sondern gerade Personen mit niedrigem Bildungsstatus diejenige Gruppe darstellen, die die meiste Zeit im Internet verbringt.704 Auf der Basis einer faktorenanalytischen Differenzierung von verschiedenen Nutzungsformen finden die Autoren zudem, dass Personen mit einem hohen Bildungsgrad einen stärkeren Gebrauch von Internetaktivitäten machen, die mit Informationsrecherche und persönlicher Entwicklung assoziiert sind – hierunter fallen etwa Jobsuche oder die Teilnahme an Onlinekursen – als Personen mit niedriger Bildung. Diese wiederum nutzen das Internet in größerem Maße für soziale Interaktionen – wie Chats oder soziale Medien – und für Onlinespiele als Personen mit hohem Bildungsgrad, was zugleich die hohe Nutzungsdauer verständlich macht, da beide Aktivitätsbereiche sehr zeitintensiv sind.705 Insgesamt kann dabei konstatiert werden, dass »[a]lthough […] low educated Internet users spent more time online in their spare time, the findings reveal that those with higher social status use the Internet in more beneficial ways.«706 Die Befunde der Autoren unterstützen dabei die Parallelisierung zur ursprünglichen Wissensklufthypothese und deuten in die Richtung, dass Personen mit höherer Bildung bzw. einer bereits privilegierteren Position in größerem Maße von der Nutzung des Internets profitieren und somit bestehende Ungleichheiten nicht lediglich reproduziert werden, sondern mitunter eine zusätzliche Verstärkung erfahren. Dies betrifft dabei nicht nur die vor allem in der Wissenskluftforschung im Zentrum stehende Frage nach dem politischen Wissen unterschiedlicher Bildungsgruppen, wie es etwa von Sei-Hill Kim707 sowie von Lu Wei und Douglas Blanks Hindman708 bezüglich des Internets untersucht und in der genannten Tendenz bestätigt wird, sondern verweist auf die grundlegende Problematik der Marginalisierung und Exklusion hinsichtlich einer umfassenden Partizipation an Gesellschaft. Nicole Zillien bekräftigt in ihrer umfassenden Untersuchung der digitalen Ungleichheiten in Deutschland den engen Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und den verschiedenen Aspekten der Internetnutzung, wobei sie unter anderem auf den Uses-and-Gratification-Ansatz zurückgreift und auf dieser Basis die Gratifikationen hinsichtlich der diversen Nutzungsaktivitäten unterscheidet.709 Die relevanten Gratifikationsdimensionen bzw. Motive für die Internetnutzung umfassen dabei (1) Information, (2) Kommunikation, (3) Transaktion sowie (4) Unterhaltung und kommen bei den verschiedenen Nutzungsformen jeweils unterschiedlich zum Tra704 705 706 707 708 709

Vgl. ebd., S. 508. Vgl. ebd., S. 519f. Ebd., S. 521. Vgl. auch Kim 2008a. Vgl. hierzu auch Wei/Hindman 2011. Vgl. Zillien 2006.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

165

gen. So werden beispielsweise Online-Zeitungen sowohl zur Information als auch zur Unterhaltung verwendet. Abhängig von der spezifischen Gratifikation können sich dabei entsprechend Differenzen bei den Statusgruppen ergeben.710 Als Resultat ihrer Forschung zeigen sich nicht nur Ungleichheiten zwischen den unterschiedlichen Statusgruppen auf der Ebene des Zugangs, etwa mit Blick auf die technische Ausstattung, die zeitliche Verwendung des Internets sowie die Kompetenzen und Fähigkeiten bei der Nutzung, sondern auch bezüglich der verschiedenen Gratifikationen der Internetnutzung. Statushöhere Personen verwenden im Gegensatz zu statusniedrigeren Personen das Internet tendenziell stärker für Aktivitäten, die in die Gratifikationsbereiche von Information und Transaktion fallen. Hierzu zählen einerseits etwa die Informationsrecherche zu Börse und Finanzen, zu Reise- oder Computerthemen und in Online-Zeitungen, und andererseits die Durchführung von Transaktionen beispielsweise auf Buchungsportalen für Reisen oder beim Onlinebanking. Während bei der vorwiegend zur Kommunikation dienenden Nutzung keine statusbezogenen Unterschiede feststellbar sind, besitzt die Unterhaltungsaspekten dienende Verwendung des Internets einen negativen Statuszusammenhang – vor allem in Bezug auf Aktivitäten, die unter der Kategorie der sozialen Kontakte gefasst sind, wie Online-Spielen, Single-Börsen und Chatten.711 Diese Ergebnisse werden untermauert durch eine gemeinsame Arbeit von Zillien und Hargittai, welche ähnlich gerichtete Zusammenhänge auffindet und zugleich die verschiedenen Gratifikationen und Internetaktivitäten qualifiziert.712 Die Studie kommt daher zu dem Schluss, dass »user’s social status is significantly related to various types of capitalenhancing uses of the Internet, suggesting that those already in more privileged positions are reaping the benefits of their time spent online more than users from lower socioeconomic backgrounds.«713 Den Status der Berufstätigkeit hat unter anderem van Dijk miteinbezogen und hier verschiedene Ungleichheiten zwischen den Kategorien von Studierenden, Beschäftigten und Selbständigen, Arbeitslosen sowie Rentnern/Pensionären festgestellt: auf der Ebene des physischen Zugangs sowie mit Blick auf die Internetkompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit Computern insbesondere zwischen der allgemeinen Bevölkerung und der Gruppe der Arbeitslosen sowie der Rentner. Vor allem Arbeitslose und mehr noch Rentner und Pensionäre nutzen dabei in entschieden geringerem Maße das Internet und verfügen über signifikant weniger Kenntnisse bezüglich digitaler Medien.714 Zudem findet van Dijk auch zwischen Berufsgruppen, die ebenfalls als Annäherung an den sozioökonomischen Status herangezogen werden können, Differenzen hinsichtlich der 710 711 712 713 714

Vgl. ebd., S. 184–234. Vgl. ebd., S. 219–222. Vgl. Zillien/Hargittai 2009. Ebd., S. 287. Vgl. van Dijk 2008.

166

5 Forschungsfeld Digital Divide

Vorteile der Internetnutzung, die im Rahmen seines kausal angelegten Modells letztlich eine ungleiche gesellschaftliche Teilhabe aufgrund digitaler Ungleichheiten darstellen. Aus dieser Perspektive profitieren Personen in statusniedrigen Berufen wesentlich weniger von der Teilhabe via digitaler Medien als Personen in statushöheren Berufen.715 Diese Annahme wird unterstützt von Gustavo S. Mesch und Ilan Talmud, deren Studie bezüglich des beruflichen Einflusses auf den Internetzugang zu dem Schluss kommt, dass »[i]ndividuals reporting working in the technical, managerial, clerical and sales occupations have a higher likelihood of Internet access than those working in the skilled and unskilled occupations in the industrial and agricultural sectors.«716 Gleiches gilt im Hinblick auf die Einstellungen gegenüber Informations- und Kommunikationstechnologien, die von den Autoren im Sinne des Digital Divide-Konzepts von van Dijk als »Motivational Access« verstanden werden.717 Auch hier zeigen diejenigen, welche in Angestelltenverhältnissen arbeiten, tendenziell stärker positive Einstellungen als die Gruppe der Arbeiter_innen, was eine entsprechend ungleiche Verwendung nach sich zieht.718 Karen Mossberger, Caroline J. Tolbert und Ramona S. McNeal finden für ihr Konstrukt der »Digital Citizenship« als der »ability to participate in society online«719 einen ähnlichen Zusammenhang: So ist die »Digital Citizenship« positiv mit allen Tätigkeiten im nicht-manuellen Bereich assoziiert und fällt in der Tendenz negativ in denjenigen Berufsfeldern aus, die manuelle Arbeit beinhalten. Dies gilt auch für die darunter liegende Ebene des bloßen Zugangs zum Internet.720 Grant Blank und Darja Groselj haben für das Oxford Internet Institute umfassend verschiedene Internetaktivitäten auf ihren Zusammenhang mit einer Vielzahl an demografischen und sozioökonomischen Merkmalen untersucht. Die Bandbreite der Nutzung und der Gesamtumfang der Nutzung hängen dabei stark vom Bildungsgrad ab und steigen mit zunehmender Bildung signifikant an. Zudem weisen Personen in einem Beschäftigungsverhältnis gegenüber Studierenden kontraintuitiv sowohl eine höhere Bandbreite als auch insgesamt eine zeitlich umfangreichere Nutzung der verschiedenen Internetaktivitäten auf. Dies gilt auch für das Verhältnis von Männern zu Frauen und jüngeren gegenüber älteren Personen.721 Zusätzlich zur Betrachtung des sozioökonomischen Status anhand des Bildungsabschlusses hat eine Reihe von Arbeiten auch die Frage nach dem Einfluss des Einkommens als unabhängigem Faktor untersucht. Dabei finden James E. Katz und Ronald E. 715 716 717 718 719 720 721

Vgl. van Dijk 2012a und van Deursen/van Dijk 2011b. Mesch/Talmud 2011, S. 460. Vgl. hierzu Kapital 4.3.3. Vgl. Mesch/Talmud 2011, S. 465. Mossberger/Tolbert/McNeal 2008, S. 1. Vgl. Mossberger/Tolbert/McNeal 2008. Vgl. Blank/Groselj 2014.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

167

Rice auf der Ebene des Zugangs, dass Nutzer_innen signifikant eher ein höheres Einkommen besitzen als jene, die über keinen Zugang zum Internet verfügen oder die Nutzung wieder aufgegeben haben.722 Auch Steven P. Martin und John P. Robinson bestätigen anhand vergleichender Daten für die USA und Europa den Einfluss des Einkommens unabhängig von Alter oder Bildung auf den Zugang zum Internet.723 Neben den bestehenden Ungleichheiten im Zugang für unterschiedliche Einkommensgruppen, und zwar gemäß der Tendenz je höher das Einkommen, desto wahrscheinlicher die Verfügung über einen Zugang zum Internet, stellen sie eine zunehmende Schere für die USA fest, da dort die Wahrscheinlichkeit auf einen Zugang im zeitlichen Verlauf für die höchsten Einkommensschichten am stärksten zugenommen hat, während umgekehrt diejenigen mit dem geringsten Einkommen auch über den geringsten Zuwachs hinsichtlich der Zugangswahrscheinlichkeit verfügen. Aufgrund des Potenzials zur gegenseitigen Verstärkung von Nichtnutzung und geringem Einkommen hin zu einer Art Teufelskreis ökonomischer Isolation ist den Autoren zufolge Einkommen »relatively distinctive as a source of increasing inequality in the odds of Internet use.«724 Die Zunahme digitaler Ungleichheiten in Abhängigkeit vom Einkommen in den USA stellt im Vergleich der Länder jedoch nicht lediglich eine Funktion der jeweiligen Einkommensungleichheit dar. Denn sowohl Länder mit einem hohen Gini-Koeffizienten wie Italien weisen eine geringere Ungleichheit bezüglich des Internets auf und umgekehrt bestehen in Staaten wie Luxemburg mit tendenziell niedrigerer Einkommensungleichheit ähnlich hohe Differenzen bezüglich des Internetzugangs. Der Trend einer wachsenden einkommensabhängigen Ungleichheit hinsichtlich des Internetzugangs ist den Autoren nach insbesondere spezifisch für die USA feststellbar.725 Christian Fuchs findet hingegen in seiner vergleichenden Untersuchung von 126 Ländern insgesamt eine signifikante Erklärungskraft der Einkommensungleichheit auf Basis des Gini-Koeffizienten. Zusammen mit der Wirtschaftsleistung als Pro-Kopf-Einkommen in den jeweiligen Ländern, dem Grad der Urbanisierung, gemessen als Anteil der städtischen Bevölkerung, sowie dem Ausmaß an Demokratisierung gehört die Höhe der ökonomischen Ungleichheit zu den entscheidenden Faktoren, die die Digital Divide im weltweiten Kontext beeinflussen.726 Hinsichtlich der Bedeutung von Kenntnissen im Umgang mit Kommunikationsund Informationstechnologien für den Arbeitsbereich kommt mit Blick auf die erlangten Einkommen eine Gruppe von Forscher_innen um Karen Mossberger zu dem Resultat, dass die Verwendung des Internets im Arbeitsumfeld sich durchschnittlich in 17% mehr Einkommen niederschlägt. Dies gilt gerade auch für Jobs im Bereich geringer 722 723 724 725 726

Vgl. Katz/Rice 2002, S. 62. Vgl. Martin/Robinson 2007. Ebd., S. 16f. – Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 13–18. Vgl. Fuchs 2008.

168

5 Forschungsfeld Digital Divide

qualifizierter Tätigkeiten. Entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten auf Seiten der Arbeitenden »promote economic opportunity for all workers, and for less-educated workers as well.«727 Die Internetnutzung ist entsprechend nicht nur abhängig vom Einkommen, sondern eine erhöhte Vertrautheit und Fähigkeit im Umgang mit dem Internet ermöglicht tendenziell auch die Erlangung besser bezahlter Arbeit.728 Ergänzend bestätigen Paul DiMaggio und Bart Bonikowski nicht nur den Einfluss der Internetnutzung am Arbeitsplatz auf Einkommen, sondern auch den Effekt der häuslichen Verwendung des Internets. Auch bei Kontrolle der diversen ungleichheitsrelevanten Dimensionen wie etwa Alter, Beruf, Bildung, Ethnizität und Geschlecht verdienen Internetnutzer_innen signifikant mehr als jene, die das Internet nicht verwenden. Dabei profitieren in erhöhtem Maße diejenigen, die über mehr zeitliche Erfahrung mit dem Internet verfügen. Zudem wirkt sich die Internetnutzung zu Hause zusätzlich zur Verwendung am Arbeitsplatz aus, so dass die Gruppe, welche das Internet an beiden Orten nutzt, signifikant höhere Einkommen erzielt als alle, die nur an einem der Orte davon Gebrauch machen.729 Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass auch die Personen, die nur im häuslichen Bereich das Internet nutzen, dennoch einen Einkommenseffekt erzielen, d. h. die Einkommensdifferenz resultiert nicht lediglich aus einer höheren Produktivität im Arbeitsbereich, auch wenn diese vermutlich den entscheidenden Faktor darstellt.730 5.4.6

Disability Divide

Mit Blick auf den Einfluss von Behinderungen auf den Zugang zum Internet und die Internetnutzung bestätigen Kerry Dobransky und Eszter Hargittai die Existenz einer »Disability Divide«.731 Sowohl hinsichtlich der Computernutzung, des Internetzugangs als auch der Verwendung liegen Personen mit Behinderungen gegenüber der restlichen Bevölkerung zurück. Insgesamt scheint die »Disability Divide« einerseits durch den allgemein geringeren sozioökonomischen Status von Personen mit Behinderungen bestimmt zu sein, andererseits ist sie jedoch auf der Ebene der bloßen Internetnutzung auch ein Resultat der Beschränkung durch die assistiven Technologien, welche die Verwendung des Internets und internetbasierter Dienste sicherstellen sollen. Oftmals sind diese allerdings technisch nicht auf der Höhe der digitalen Medien und stellen eigene Voraussetzungen an Fähigkeiten sowie Erfahrungen im Umgang.732 Prägend ist darüber hinaus die spezifische Form der Behinderung, da abhängig davon jeweils zusätzliche 727 728 729 730 731 732

Mossberger/Tolbert/Johns/King 2006. Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Navarro 2010. Vgl. DiMaggio/Bonikowski 2008. Vgl. ebd., S. 243. Vgl. Dobransky/Hargittai 2006. Vgl. auch Gorski/Clark 2002a; Hollier 2007. Vgl. Dobransky/Hargittai 2006, S. 329. Vgl. hierzu auch Kaye/Yeager/Reed 2008.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

169

Zugangsbarrieren sowie Kosten für die Anpassung von Technologien entstehen können und zudem der Status der Behinderung auch Einfluss auf Einkommen, Bildung und Beruf nimmt. Auf der Ebene der Internetnutzung stellen die Autor_innen außerdem signifikante Differenzen hinsichtlich verschiedener Internetaktivitäten fest, die in der Mehrzahl eine geringere Nutzung bei Personen mit Behinderungen bedeuten und darauf hindeuten, »that even among those who are online such ›capital-enhancing‹ uses of the Web are less likely and so the payoffs of Internet use will be weaker.«733 Eine Ausnahme hierzu bildet aus naheliegenden Gründen insbesondere die Suche nach Gesundheitsinformationen. Für die zukünftige Entwicklung des Internets und internetbasierter Dienste bleibt vor allem fraglich, inwiefern die zunehmende Einbindung von audio-visuellen und interaktiven Inhalten neue Barrieren im Zugang und bei der Verwendung für Personen mit Behinderungen schafft, da hier beispielsweise für Blinde oder Gehörlose neue Hürden entstehen könnten.734 In ihrer multidimensionalen Untersuchung der »Disability Digital Divide« finden auch María Rosalía Vicente und Ana Jesús López entscheidende Diskrepanzen im Zugang zwischen Personen mit Behinderung und der restlichen Bevölkerung, die nur teilweise durch den unterschiedlichen sozioökonomischen Status erklärt werden.735 Sie stellen vor allem auf die differierenden Einstellungen zu Informations- und Kommunikationstechnologien ab, die angesichts insbesondere technischer Zugangsschwierigkeiten für Menschen mit Behinderung in tendenziell stärker negativen Gefühlen gegenüber Computern und dem Internet zum Ausdruck kommen und eine entsprechend geringere Motivation zur Verwendung nach sich ziehen. Dies ist nicht zuletzt auch ein Problem auf Seiten der Anbieter von Inhalten, da die technischen Voraussetzungen für eine barrierefreie Nutzung häufig nicht erfüllt sind.736 Hinsichtlich der Internetaktivitäten kommen die Autorinnen bei Annahme eines vorhandenen gleichen Zugangs zum Resultat einer kaum unterschiedlichen Nutzung zwischen den beiden untersuchten Gruppen, was darauf schließen lässt, »that people with disabilities are just as able as anyone else to use the Internet when technical barriers are overcome.«737 Die auch hier gefundene besondere Bedeutung der Recherche von Informationen bezüglich Krankheiten und Medikation für Personen mit Behinderung verweist zudem nochmals nachdrücklich auf die entscheidenden Nachteile, die all jene erfahren, die über keinen Zugang zum Internet verfügen und keine Verwendung davon machen können.

733 734 735 736 737

Dobransky/Hargittai 2006, S. 328. Vgl. ebd., S. 330. Vgl. Vicente/López 2010. Vgl. hierzu auch Jaeger/Bo Xie 2009. Vicente/López 2010, S. 60.

170

5.4.7

5 Forschungsfeld Digital Divide

Nichtnutzung

Vor dem Hintergrund der erweiterten Möglichkeiten der Partizipation und der sozialen Inklusion in die Gesellschaft, die mit Informations- und Kommunikationstechnologien assoziiert werden und die die grundlegende Annahme der Digital-Divide-Forschung bilden, stellt sich als deren Kehrseite prinzipiell die Frage nach der Nichtnutzung und der Zusammensetzung der Nichtnutzer_innen. Entgegen der klassischen Ungleichheitsperspektive auf digitale Medien weist Selwyn vor der Annahme individueller Agency darauf hin, dass nicht zwingend alle Gruppen, die keinen Zugang zum Internet besitzen und entsprechend auch keine Verwendung davon machen, sozial benachteiligt sein müssen.738 Die Nichtnutzer_innen bilden dabei weder eine homogene Gruppe noch lassen sie sich in jeder Hinsicht als deprivilegiert beschreiben, wenn, wie Selwyn vorschlägt, von der vermeintlich akademischen und reifizierenden Sichtweise auf die Netzwerkgesellschaft abgesehen wird.739 Selwyn votiert dagegen für ein Verständnis der Nichtnutzung als individuelle Form der Interaktion mit Informations- und Kommunikationstechnologien, welche nicht in der binären Logik von online vs. offline verhaftet bleibt. Vielmehr ergibt sie sich als Auseinandersetzung und Passung der Technologien, die zugleich durch die mit den digitalen Medien verknüpften Möglichkeitsstrukturen bestimmt ist, mithin sich im dialektischen Verhältnis von Struktur und Handlung konstituiert.740 In der Nichtnutzung drückt sich so eine Vielzahl von möglichen Weisen des Umgangs und der Integration von Technologien auf Basis individueller Relevanzsetzungen sowie Handlungen und struktureller Bedingungen aus, die etwa auch im Sinne Michel de Certeaus als widerständige Alltagspraktik gelesen werden kann, welche Individuen eine Form der Kontrolle über ihr eigenes Leben zusichert.741 Dabei sind es insbesondere ältere Menschen, für die digitale Medien wenig oder keine Relevanz im Alltagsleben besitzen und die bereits ausreichend innerhalb ihrer Gemeinschaften integriert sind, so dass eine zusätzliche Nutzung des Internets keinen weiteren Gewinn verspricht und daher nicht grundsätzlich als Marginalisierung interpretiert werden muss.742 Marika Lüders und Petter Bae Brandtzæg finden diese Position in ihrer Forschung zu älteren Menschen und sozialen Medien bestätigt, wenn sie zu dem Ergebnis kommen, dass viele ältere Nichtnutzer_innen bewusst auf die Verwendung von »Social Network Sites« 738 Vgl. Selwyn 2006. 739 Vgl. ebd., S. 289. 740 Vgl. Selwyn 2003, S. 110–113. Selwyn greift dabei auf Wanda J. Orlikowskis Modell der Dualität von Technologie zurück, welches diese in Auseinandersetzung mit Anthony Giddens »Structuration«-Ansatz entwickelt hat (vgl. Orlikowski 1992). 741 Vgl. Selwyn 2003, S. 111. Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung um »Conspicuous Nonconsumption« von Medien als widerständige Praktik am Beispiel von Facebook bei Portwood-Stacer 2013. 742 Vgl. Selwyn 2006, S. 289f.

5.4 Aktuelle Bestandsaufnahmen digitaler Ungleichheiten

171

verzichten. Während der primäre Fokus älterer Menschen auf den engen Verbindungen – den »Strong Ties« im Sinne Granovetters – liegt, empfindet ein Großteil die sozialen Medien vor allem für die loseren Kontakte – »Weak Ties« – angemessen und daher ungeeignet »to support their preferred culture of communication.«743 Eine Integration in die Alltagspraxis ist für viele Ältere aus diesem Blickwinkel schlicht unnötig. Dennoch lassen sich auch innerhalb der Gruppe der Nichtnutzer_innen Personen ausmachen, die gerade eine Nutzung sozialer Medien im Rahmen familiärer und freundschaftlicher Verbindungen anstreben und aufgrund mangelnder Fähigkeiten sowie Einschränkungen keine Verwendung machen können. Diese Art der Nichtnutzung, empfunden etwa als Ausschluss aus der Kommunikation von Kindern und Enkelkindern untereinander, erscheint dann wiederum als ein Aspekt digitaler Ungleichheiten.744 Nicole Zillien hat in einer umfassenden Systematisierung der bisherigen Forschung zur Nichtnutzung vier zentrale Bereiche herausgearbeitet, die als Ursache in Frage kommen. Zum einen finden sich auf der unmittelbaren Zugangsebene materielle Barrieren, die eine Nutzung verhindern, und zum anderen sind fehlende Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang ein Hinderungsgrund für eine effektive Nutzung. Wird der Verwendung des Internets keine Relevanz zugesprochen, so resultiert dies häufig in einer mangelnden Motivation zur Nutzung. Es sind somit auch motivationale Faktoren, die die Nichtnutzung bedingen. Darüber hinaus bildet die dezidierte Ablehnung der Internetnutzung, etwa aufgrund von Sicherheitsbedenken, einen weiteren Grund.745 Diese vier Bereiche können sich dabei überschneiden: So führen etwa geringe Kompetenzen im Umgang häufig zu geringer Motivation der Nutzung und können in einer allgemein ablehnenden Haltung gegenüber dem Internet und internetbasierten Diensten münden. In einer empirischen Analyse kommt Zillien mit Hilfe einer Faktorenanalyse der Gründe für die Nichtnutzung zu dem Schluss, dass die genannten vier Bereiche weiter ergänzt werden müssen, und zwar um den Faktor der persönlichen Zweckmäßigkeit. Fehlende Motivation bezieht sich demnach stärker auf den Gesamteindruck, dass das Internet generell keine vorhandenen Bedürfnisse bedienen kann und somit keinen Anreiz darstellt, während sich die Zweifel an der Zweckmäßigkeit vorwiegend auf die jeweils individuelle Relevanz beziehen, aber nicht allgemein der Internetnutzung Sinnhaftigkeit absprechen.746 Grundsätzlich unterstreicht Zillien mit ihrer Forschung, dass auch die Gründe für die Nichtnutzung vielschichtig sind, wobei sie zugleich feststellt, dass zwar die Differenzierung von Nutzung und Nichtnutzung abhängig von sozioökonomischen und demografischen Merkmalen ist, dagegen aber die fünf untersuchten zentralen Faktoren der Nichtnutzung jeweils 743 744 745 746

Luders/Brandtzæg 2017, S. 15. Vgl. ebd., S. 14f. Vgl. Zillien 2008. Vgl. ebd., S. 213–223.

172

5 Forschungsfeld Digital Divide

kaum von diesen erklärt werden: »Eine Unterscheidung der Offliner in mittellose havenots und bessergestellte want-nots greift demnach zu kurz.«747 Nach der umfassenden Darstellung der Modelle zur Digital Divide und einer Bestandsaufnahme der rezenten Untersuchungen zu den verschiedenen Dimensionen bleibt dennoch das grundsätzliche Desiderat einer an aktuellen Entwicklungen im Internet sich orientierenden Forschung. Hier ist eine permanente Kartografierung digitaler Ungleichheiten notwendig, um die sich verändernden Möglichkeitsräume im Internet integrieren und entsprechend Vorteile sowie Benachteiligungen in Abhängigkeit von der sozialen Position sowie demografischen Merkmalen analysieren zu können. Zudem wandeln sich Ungleichheitsverhältnisse auch mit der weiteren Diffusion des Internets und internetbasierter Technologien, wobei vom Schließen diesbezüglicher Klüfte kaum die Rede sein kann. Eine besondere Rolle kommt heute zusätzlich den als »partizipativ« bezeichneten Internetaktivitäten zu, die vornehmlich mit dem Web 2.0 assoziiert werden und im Diskurs um Gestaltungsmöglichkeiten und Partizipation an (Teil-)Öffentlichkeiten eine herausgehobene Stellung einnehmen. Der im Folgenden anschließende analytische Teil der Arbeit baut auf den hier eingeführten Modellen auf und fokussiert vor allem die maßgeblichen Dimensionen des Zugangs und der Verwendung. Im nächsten Kapitel wird dabei nach der entsprechenden Operationalisierung die Untersuchung der verschiedenen Ebenen digitaler Ungleichheiten vorgenommen.

747 Ebd., S. 225.

6

Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

6.1

Einführung und Darstellung der Stichprobe

Im Folgenden wird eine umfassende Sekundärdatenanalyse der Allensbacher Computerund Technikanalyse (ACTA) aus dem Jahr 2013 vorgenommen, um die verschiedenen Dimensionen digitaler Ungleichheiten herauszuarbeiten. Nach der deskriptiven Darstellung der verschiedenen Zugangsdimensionen erfolgt eine Untersuchung der entsprechenden Dimensionen mit Hilfe statistischer Korrelations- und Regressionsverfahren. Daran schließt nach der Darstellung einschlägiger Typologien zur Internetnutzung unter Rückgriff auf die Faktorenanalyse eine eigene Klassifikation der Nutzungsdimensionen an. Diese Dimensionen werden auf ihren Zusammenhang mit der sozialen Position sowie demografischen Merkmalen analysiert und hinsichtlich ihrer Relevanz für digitale Ungleichheiten interpretiert. Die Erhebung der ACTA wurde vom Institut für Demoskopie Allensbach nach dem vor allem in der Markt- und Meinungsforschung verbreiteten Quotenverfahren durchgeführt. Es handelt sich um eine Personenstichprobe nach dem Quoten-Auswahlverfahren mit n=8702 Befragten, die einen disproportionalen Stichprobenansatz verfolgt, um die Fallzahlen der 14- bis 49-Jährigen zu vergrößern.748 Die Grundgesamtheit umfasst die deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung und entspricht 70,326 Millionen Personen. Basis der Daten sind mündlichpersönlich geführte Interviews, die im Zeitraum vom 19. April bis zum 31. Juli 2013 erhoben wurden.

748 Trotz der vielfältigen Kritik an Erhebungen, die nicht auf zufallsbasierten Stichproben beruhen, hat sich vor allem in der Praxis die Anwendung von Quotenverfahren bewährt, so dass Johannes Schneller zufolge bei Berücksichtigung der Quotenvorgaben bezüglich der Qualität der Ergebnisse mit Zufallsstichproben vergleichbare Resultate erlangt werden (vgl. Schneller 1997 und allgemein ADM/AG.MA 1999). Zur Problematik des Begriffs der »Repräsentativität« vgl. auch von der Lippe/Kladroba 2002.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rudolph, Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26943-2_6

174

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

Tabelle 1: Zusammensetzung der Stichprobe der Allensbacher Computer- und Technikanalyse (ACTA) 2013 (Anzahl der gewichteten Fälle und relative Häufigkeiten, n=8702, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Gewichtete Fälle Geschlecht

Alter

Schulbildung

Männer

4265

49,0

Frauen

4437

51,0

14–19-Jährige

605

6,9

20–29-Jährige

1214

14,0

30–39-Jährige

1183

13,6

40–49-Jährige

1635

18,8

50–59-Jährige

1462

16,8

60–69-Jährige

1089

12,5

70–79-Jährige

1226

14,1

80-Jährige und älter

289

3,3

ohne Hauptschulabschluss

338

3,9

Hauptschulabschluss

3056

35,1

Realschulabschluss

2652

30,5

Fachhochschulreife

630

7,2

2025

23,3

433

5,0

750 bis unter 1250

1878

21,6

1250 bis unter 1750

2660

30,6

1750 bis unter 2500

2237

25,7

2500 bis unter 3500

1125

12,9

369

4,2

Abitur Nettoäquivalenzeinkommen (€)

Unter 750

3500 und mehr Status Berufstätigkeit

%

Keine Berufstätigkeit

3778

43,4

Berufstätig insgesamt

4924

56,6

6.1 Einführung und Darstellung der Stichprobe

175

Tabelle 1: Fortsetzung Gewichtete Fälle Berufskreis des Hauptverdieners

Inhaber, Geschäftsführer, Direktor, Freier Beruf

395

4,5

Mittlerer/kleiner selbständiger Geschäftsmann oder selbständiger Handwerker, Landwirte

625

7,2

Leitende Angestellte, Beamte höherer/ gehobener Dienst

1725

19,8

Nichtleitender Angestellter, Beamte mittlerer/einfacher Dienst

3211

36,9

Facharbeiter

1689

19,4

Sonstiger Arbeiter

Stadt-Land-Unterscheidung

%

824

9,5

Mithelfender Familienangehöriger im eigenen Betrieb

69

0,8

War noch nie berufstätig

164

1,9

Land

1141

13,1

Übergangsbereich

4455

51,2

Großstadt

3106

35,7

Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die soziodemografische Zusammensetzung der Daten, geschichtet nach Geschlecht, Alter, Schulbildung, monatlichem Nettoäquivalenzeinkommen, Status der Tätigkeit, Berufskreis des Hauptverdieners und Urbanität. Diese demografischen und -ökonomischen Variablen sind dabei, wie bereits in Kapitel 5 dargestellt, einschlägig in der Forschung zur Digital Divide eingeführt und erlauben damit auch den Vergleich zu anderen Studien. Im Sinne des Ansatzes von Bourdieu können die verschiedenen Kapitalien als strukturierend für den Habitus als opus operatum begriffen werden, d. h. je nach Kapitalausstattung bzw. entsprechender sozialer Position, mithin abhängig von bestimmten Existenzbedingungen, wird der Habitus unterschiedlich geprägt. Die Internetpraktiken als Handlungen können wiederum als korrespondierender Ausdruck des Habitus, als Resultate des modus operandi begriffen werden. Die verschiedenen Bildungsniveaus werden hier als unterschiedliche schulische Bildungszertifikate operationalisiert, die Ausdruck des jeweiligen kulturellen Kapitals sind. Ein hoher Bildungsgrad steht somit für hohes kulturelles Kapital, ein niedriger Bildungsgrad für

176

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

geringes kulturelles Kapital. Das ökonomische Kapital lässt sich näherungsweise über das Haushaltsnettoeinkommen bestimmen, da eine größere Verfügung über ökonomische Ressourcen die soziale Position der einzelnen Individuen positiv beeinflusst. Um der unterschiedlichen Haushaltsgrößen gerecht zu werden, wurde dabei das ökonomische Kapital auf Basis des Nettoäquivalenzeinkommens in die Analysen integriert.749 Im Modell des Sozialraums sind bei Bourdieu entsprechend im oberen Bereich jene Gruppen verortet, die über viel ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, unten befinden sich hingegen diejenigen, denen es an beiden Kapitalformen mangelt. Darüber hinaus ist auch der Beruf inkludiert. Zwar ist mit Hilfe der ACTA-Daten keine vollständige Anpassung an das EGP-Schema möglich, da keine umfassenden Angaben zur beruflichen Stellung erhoben wurden, dennoch findet sich auch hier eine ordinale Hierarchie der Berufsgruppen, die Statusunterschiede reflektiert. Zusätzlich können die auch von Bourdieu auf Grundlage der beruflichen Merkmale differenzierten drei sozialen Klassenlagen von unterer, mittlerer und oberer respektive herrschender Klasse750 – bzw. in der häufig verwendeten Pluralform von Klassen751 – unterschieden werden.752 749 Zur Vergleichbarkeit des Nettohaushaltseinkommens bei unterschiedlichen Haushaltsgrößen wurde das Nettoäquivalenzeinkommen berechnet. Da im Rahmen der ACTA keine exakten Angaben über die Anzahl der Kinder mit den Altersstufen über und unter 14 Jahren übermittelt sind, die für die herkömmliche Bestimmung des Äquivalenzeinkommens notwendig wäre, wurde auf die unter anderem auch von der OECD verwendete »Square Root Scale« zurückgegriffen, die eine einfache und ausgezeichnete Näherung an eine Vielzahl von Äquivalenzskalen darstellt (vgl. Aaberge/Melby 1998; Buhmann/Rainwater/Schmaus/Smeeding 1988). Hierbei wird das Nettohaushaltseinkommen durch die Quadratwurzel der Anzahl aller Haushaltsmitglieder geteilt und so das Pro-KopfEinkommen näherungsweise bestimmt, um die klassischen Spareffekte bei Mehrpersonenhaushalten zu berücksichtigen (vgl. auch OECD 2013, S. 174f.). 750 Die Verwendung des Begriffs der »herrschenden Klasse« ist, wenn auch vielfach von Bourdieu gebraucht, tendenziell irreführend, da nicht immer deutlich wird, ob es sich um Eliten im engeren Sinne handelt – jenes von Stiglitz adressierte eine Prozent der Bevölkerung – oder einen größeren Teil der höheren Klassen, der wie Magne Flemmen feststellt »roughly corresponds to the service class« (Flemmen 2014, S. 546). Da hier auf letztere Gruppe Bezug genommen wird, ist im weiteren Verlauf nicht von herrschenden Klassen, sondern oberen Klassen die Rede. Für eine an Bourdieu orientierte Untersuchung von Eliten vgl. Hjellbrekke et al. 2007; Lebaron 2008; Denord et al. 2011; Flemmen 2012; Maclean/Harvey/Kling 2014. Zur Eliten-Forschung sowie der Zusammensetzung und Veränderung von Eliten vgl. auch Savage/Williams 2008 sowie den Sammelband Morgan/Hirsch/Quack 2015. 751 Vgl. z. B. Bourdieu 1982. 752 Die Einteilung der Klassen auf Basis des beruflichen Status orientiert sich an Bourdieu. Für Bourdieu sind Berufe zentral für die Bestimmung der sozialen Position, insofern mit ihnen eine spezifische Verfügbarkeit über die verschiedenen Kapitalformen und ihre relative Zusammensetzung verbunden ist. Im Allgemeinen sind für die unterschiedlichen Berufe jeweils bestimmte Formen des Bildungskapitals Voraussetzung und zugleich ist damit ein gewisser Einkommensbereich assoziiert. Die auf Basis der Berufe gebildeten Klassen verweisen dabei weniger auf exakte Positionen als sie Teilräume im Gesamt des sozialen Raums darstellen.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

6.2

Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

6.2.1

Aspekte des Zugangs

177

Auf einer ersten grundlegenden Ebene lässt sich der Zugang zum Internet als Differenzierung zwischen jenen, die über einen Zugang verfügen, den »Onlinern«, und jenen ohne Zugang, den »Offlinern«, bestimmen. Wie bereits in der Darstellung der diversen Modelle zu digitalen Ungleichheiten erwähnt, wurde von verschiedenen Seiten dabei Kritik an dieser Unterscheidung geübt: Mit der zunehmenden Durchsetzung des Internets habe sich die dichotome Kategorisierung des Internetzugangs in online und offline als einzige Form digitaler Ungleichheiten als unzureichend erwiesen und müsse zugunsten der Bestimmung eines Kontinuums an Nutzungsdifferenzen erweitert werden.753 Dennoch besteht nicht nur im globalen Maßstab, sondern auch innerhalb der sogenannten ›westlichen‹ Gesellschaften diese absolute Trennung im Sinne des rein technischen Zugangs weiterhin und erweist sich damit als noch immer relevante Unterscheidung.754 Die Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen auf dieser primären Ebene muss zudem ergänzt werden um die Betrachtung der technologischen Bedingungen des Zugangs – operationalisiert anhand der technischen Ausstattung der Nutzer_innen – und die Frage nach dem Ausmaß der Nutzung anhand von Häufigkeit und Dauer der Verwendung. Binäre Differenzierung: online vs. offline Unabhängig von Ort und verwendeten Zugangstechnologien lässt sich nach der prinzipiellen Nutzung des Internets fragen und so die grundlegende Unterscheidung von Onlinern und Offlinern vornehmen.755 Hier ergibt sich ein Anteil von 76,7% an Internetnutzer_innen über die Kategorie (»Nutze es«), denen 23,4% an Nichtnutzer_innen gegenüberstehen (Tabelle 2). Innerhalb der Gruppe der Offliner kann dabei weiterhin 753 Vgl. exemplarisch van Dijk 2005a. 754 Einen eindrucksvollen Blick auf die globale Digital Divide geben die jeweils aktuellen Daten der International Telecommunication Union (vgl. http://www.itu.int (01.09.2017)). Aufgabe dieser Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist neben der Entwicklung von Standards in der Telekommunikation und dem Monitoring der globalen Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien auch die durchaus mit wirtschaftlichen Interessen verknüpfte Forcierung einer global vernetzten Weltgesellschaft. Für Deutschland lässt sich nicht nur anhand der ACTA-Daten, sondern auch mit Hilfe der ARD/ZDF-Onlinestudien aus den letzten Jahren zeigen, dass weiterhin eine signifikante Diskrepanz auf der Ebene des primären Onlinezugangs hinsichtlich mehrerer demografischer Aspekte besteht (vgl. Koch/Frees 2016). 755 Die entsprechende Frage in der ACTA 2013 lautet: »Nutzen Sie das Internet oder haben Sie vor, das Internet zu nutzen, oder haben Sie das nicht vor? Ich meine jetzt egal, ob zu Hause, am Arbeitsplatz oder anderswo und egal, ob mit Desktop-PC, einem Notebook, einem Smartphone oder einem anderen Gerät.«.

178

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

differenziert werden zwischen einer Gruppe mit potenziellem Interesse an der Nutzung (»Habe es vor«), die lediglich 4,1% ausmacht, und einer Gruppe von 19,3%, die keine Nutzung plant (»Habe es nicht vor«). Tabelle 2: Allgemeine Internetnutzung (relative Häufigkeiten Stichprobe ACTA 2013, n=8702, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Internetnutzung

%

Nutze es Habe es vor Habe es nicht vor Gesamt (nur gültige) Keine Angabe Gesamt

75,3 4,0 18,9 98,2 1,8 100,0

Gültige % 76,7 4,1 19,3 100,0

Während in früheren Erhebungen der ACTA auch die Zugangsorte für das Internet erfragt wurden, unterschieden etwa zwischen Zuhause, Arbeitsplatz, Internet-Café, Schule sowie weiteren, hat diese Frage in neueren Erhebungen eine Reduzierung auf die Kategorie des häuslichen Zugangs erfahren, da mit der gestiegenen Verbreitung andere Orte des Zugangs in ihrer Bedeutung stark abgenommen haben. 80,6 % der Stichprobe (Grundgesamtheit: deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) haben dabei zu Hause die Möglichkeit, das Internet zu nutzen. Innerhalb der Gruppe der Internetnutzer_innen entspricht dies einem Anteil von 97,9%, was den Wegfall der anderen Zugangsorte hinsichtlich ihrer Relevanz erklärt (Tabelle 3). Tabelle 3: Ausstattung mit einem häuslichen Internetzugang nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen (relative Häufigkeiten Stichprobe ACTA 2013, n=8702, Internetnutzer_innen n=6548, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Häuslicher Internetzugang (in %)

Gesamt

Zugang Zuhause Kein Zugang Zuhause N

80,6 19,4 8702

Internetnutzer_innen 97,9 2,1 6548

Mit Blick auf die Frage nach dem Zugang kann eine weiterhin bestehende große Gruppe von Offlinern konstatiert werden, während jedoch die räumlichen Bedingungen bei den Internetnutzer_innen hinsichtlich des Orts der Nutzung keine relevante Differenzierung

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

179

außerhalb des häuslichen Rahmens mehr erlauben. Das heißt auch, die spezifischen Beschränkungen, die sich aus der Notwendigkeit außerhäuslicher Nutzung ergeben, wie beispielsweise zusätzliche Kosten für Internetcafés, begrenzte Öffnungszeiten öffentlicher Einrichtungen, limitierte Nutzungszeiten oder geringe Privatsphäre, stellen nahezu keine Form des ungleichen Zugangs zum Internet mehr dar, wenn all jene, die das Internet nutzen, fast ausnahmslos dies auch zu Hause können.756 Temporale Dimension der Nutzung Im weiteren Verlauf sind die Analysen gemäß der Daten auf die Gruppe der Internetnutzer_innen bezogen757, da über die Frage des unmittelbaren Zugangs hinaus zusätzliche Dimensionen einer ungleichen temporalen und technologischen Zugänglichkeit sowie der unterschiedlichen Nutzung thematisiert werden sollen. Als ein weiteres entscheidendes Kriterium zur Bestimmung ungleichen Zugangs bzw. ungleicher Nutzung hat sich in der Forschungsliteratur zu digitalen Ungleichheiten die zeitliche Dimension erwiesen, da hierüber innerhalb der Gruppe der Onliner weiter differenziert werden kann.758 Das Vorhandensein eines häuslichen Zugangs zum Internet stellt lediglich eine Vorbedingung für die Nutzung dar, gibt jedoch keine Auskunft über das Ausmaß der realisierten Internetnutzung. Für die Erfassung der temporalen Dimension wurden im Rahmen der ACTA hierbei die Nutzungshäufigkeit, der Zeitpunkt der letzten Nutzung sowie die Nutzungsdauer erhoben (Tabelle 4, 5 und 6).759

756 Vgl. Gomez/Ambikar/Coward 2009; Bertot/Jaeger/McClure 2011; Gomez 2012 für eine Übersicht über die Bedeutung von öffentlichen Zugangsorten wie Bibliotheken und Cybercafés in anderen Ländern. 757 Die tabellarische Darstellung gibt die Anteile in der Stichprobe (Grundgesamtheit = deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) und der hier im Fokus stehenden Gruppe der Internetnutzer_innen wieder. Nur die Werte der Internetnutzer_innen werden jedoch berichtet. 758 Vgl. hierzu exemplarisch van Dijk 2005a. 759 Die diesbezüglichen Fragen in den ACTA-Daten sind: »Wie oft nutzen Sie das Internet?« (Nutzungshäufigkeit), »Wenn Sie einmal an die Tage denken, an denen Sie das Internet nutzen, wie lange nutzen Sie es da ungefähr?« (Nutzungsdauer) und »Und wann haben Sie das Internet zuletzt genutzt, einmal abgesehen von heute?« (Letzte Nutzung).

180

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

Tabelle 4: Temporale Dimension der Internetnutzung I (Frequenz) nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013, n=8702, Internetnutzer_innen n=6548, Grund-gesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Nutzungshäufigkeit (in %)

Gesamt

Mehrmals täglich Einmal am Tag Mehrmals in der Woche Einmal in der Woche Seltener Gesamt Nutzung a N

37,0 15,4 16,8 3,4 2,6 75,2 8702

Internetnutzer_innen 49,2 20,5 22,3 4,5 3,4 100,0 6548

Anmerkung a: Differenz zu 100% = keine Internetnutzung

Nahezu die Hälfte aller Internetnutzer_innen (49,2%) gehen mehrmals täglich ins Internet, insgesamt 69,7% mindestens täglich. Weitere 22,3% nutzen das Internet mehrmals die Woche und nur ein geringer Teil einmal in der Woche (4,5%) oder noch seltener (3,4%). Das Internet ist somit bei der überwiegenden Mehrzahl der Nutzer_innen grundlegender Bestandteil des alltäglichen Lebens. Dies zeigt sich verstärkt, wenn nach dem Zeitraum der letzten Nutzung gefragt wird, und nochmals umso deutlicher im Vergleich der durchschnittlichen Nutzungsdauer für jene Tage, an denen das Internet verwendet wird.760 Tabelle 5: Temporale Dimension der Internetnutzung II (Letzte Nutzung) nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013, n=8702, Internetnutzer_innen n=6548, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Letzte Internetnutzung (in %)

Gesamt

Gestern 56,5 Innerhalb der letzten 7 Tage 16,0 8-14 Tage her 1,6 3-4 Wochen her 0,7 Länger her 0,4 75,2 Gesamt Nutzung a 8702 N Anmerkung a: Differenz zu 100% = keine Internetnutzung

Internetnutzer_innen 75,0 21,3 2,2 1,0 0,5 100,0 6548

760 Nutzungshäufigkeit und letzte Nutzung korrelieren dabei hoch (Kendall-Tau-b=.643 für die Gruppe der Internetnutzer_innen), Nutzungshäufigkeit und Nutzungsdauer im mittleren Bereich (Kendall-Tau-b=.415 für die Gruppe der Internetnutzer_innen).

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

181

Tabelle 6: Temporale Dimension der Internetnutzung III (Dauer) nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013, n=8702, Internetnutzer_innen n=6548, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Internetnutzungsdauer (in %)

Gesamt

Mehr als 6 Stunden 5 bis 6 Stunden 3 bis 4 Stunden 1 bis 2 Stunden Eine halbe bis 1 Stunde pro Tag Weniger als halbe Stunde pro Tag Gesamt Nutzung a N

2,6 2,2 10,0 27,5 24,4 8,5 75,2 8702

Internetnutzer_innen 3,5 2,9 13,3 36,5 32,5 11,2 100,0 6548

Anmerkung a: Differenz zu 100% = keine Internetnutzung

Drei Viertel aller Internetnutzer_innen gibt an, am vorherigen Tag das Internet verwendet zu haben, 21,3% grenzen den Zeitraum der letzten Nutzung immerhin auf die vergangene Woche ein. Nur ein äußert geringer residualer Anteil verweist auf eine Internetnutzung, die länger als eine Woche her ist. Hinsichtlich der Nutzungsdauer bilden mittlerweile die größte Gruppe Internetnutzer_innen, die am Tag der Nutzung »1 bis 2 Stunden« im Internet verbringen (36,5%), gefolgt von einem Anteil von 32,5%, die eine »halbe bis 1 Stunde« als Dauer angeben. Immerhin fast 20% verbringen mehr als »3 bis 4 Stunden« im Internet. Etwas mehr als ein Zehntel nutzt das Internet nur »weniger als eine halbe Stunde«. Bezüglich der zeitlichen Dimension bietet sich die Bildung eines Indexes an, um die verschiedenen temporalen Aspekte zu integrieren. Aufgrund der extrem schiefen Verteilung der Angaben zur letzten Nutzung eignet sich diese allerdings im Gegensatz zu Nutzungsdauer und -häufigkeit nicht zur Klassifikation.761 Der Index der temporalen Nutzung auf Basis der Nutzungsfrequenz sowie Dauer der Nutzung lässt eine Unterteilung in geringe Nutzung, normale Nutzung und hohe Nutzung zu (Tabelle 7). In die Gruppe mit geringer Nutzung entfallen lediglich 12,2% der Nutzer_innen, die deutliche Mehrheit bildet den mittleren Bereich der normalen Nutzung ab. 69% gehören mit Blick auf die zeitliche Dimension der Nutzung zu dieser Kategorie der Normalnut761 Sinnvoll erscheint die Einteilung hinsichtlich der Dauer in die drei Gruppen »mehr als 3 Stunden« (3), »eine halbe Stunde bis 2 Stunden« (2) und »weniger als eine halbe Stunde« (1). Die Häufigkeit lässt sich analog in »täglich« (3), »mehrmals in der Woche« (2) und »einmal pro Woche bzw. seltener« (1) klassifizieren. Aus diesen beiden Variablen ergibt sich ein additiver Index der temporalen Internetnutzung mit der Spannweite 2 bis 6, wobei der Bereich 2-3 eine geringe zeitliche Nutzung darstellt, die normale Nutzung in den Wertebereich von 4-5 des Indexes fällt und die hohe Nutzung die Obergrenze von 6 darstellt.

182

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

zer_innen und 18,7% stellen in dieser Hinsicht Vielnutzer_innen dar. Grundsätzlich zeigt sich, dass eine Normalisierung der Internetnutzung auf einem täglichen Niveau bei einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von einer halben Stunde bis zu zwei Stunden stattgefunden hat.762 Eine hohe Nutzung liegt ab einer täglichen Onlinezeit von mehr als 3 Stunden vor, geringe Nutzung vor allem bei einer nicht täglichen Nutzung, die dann in der Mehrzahl weniger als eine halbe Stunde umfasst. Tabelle 7: Temporale Dimension der Internetnutzung IV (Index) nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Internetnutzer_innen n=6548, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Index Internetnutzung (in %)

Gesamt

Hohe Nutzung Normale Nutzung Geringe Nutzung Gesamt Nutzung a N

12,1 52,0 9,2 75,3 8702

Internetnutzer_innen 18,7 69,0 12,2 100,0 6548

Anmerkung a: Differenz zu 100% = keine Internetnutzung

Mobile Internetnutzung Über den häuslichen Zugang zum Internet hinaus lässt sich die Nutzung des Internets auf mobilen Geräten von der stationären Verwendung unterscheiden. Die Verteilung auf die verschiedenen Technologien (Tabelle 8) zeigt, dass nahezu zwei Drittel aller Internetnutzer_innen auf einen Desktop-PC bzw. auf einen Laptop für den Zugang zum Internet zurückgreifen. Zugleich nutzt mit 46,8% fast die Hälfte das Internet auf einem mobilen Gerät wie Smartphone bzw. internetfähigem Handy. Dass die mobile Internetnutzung hierbei lediglich komplementär zum stationären Zugang ist und keine Substitution darstellt, zeigt die Aufschlüsselung nach den verschiedenen Zugangstechnologien. Dabei nutzen lediglich 1,8% einzig das Smartphone, um sich Zugang zum Internet zu verschaffen. Die vor allem im Hinblick auf die Entwicklungsländer vorgebrachte Annahme, dass die mobile Internetnutzung die Möglichkeit eines »Leapfrogging«-Effekts bei Verringerung digitaler Klüfte bietet würde, da sie jenseits der Verwendung von PCs und Laptops einen Zugang zum Internet erlaubt, der zudem niedrigschwelliger hinsichtlich der Kosten und Kenntnisse im Umgang ist, scheint vor dem Hintergrund der gerin-

762 27,7% aller Internetnutzer_innen sind täglich für »1 bis 2 Stunden« online, 19,2% für immerhin »eine halbe bis 1 Stunde pro Tag«.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

183

gen ausschließlichen Nutzung jedoch zumindest in Deutschland keine Relevanz zu besitzen.763 Tabelle 8: Zugangstechnologien zum Internet nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Internetnutzer_innen n=6548, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Internetnutzung Endgeräte (in %)

Gesamt

Desktop-PC Notebook/Laptop Handy/Smartphone Tablet Desktop/Laptop und Smartphone Nur Smartphone Nur Tablet N

48,9 47,0 35,2 10,7 30,7 1,3 0,4 8702

Internetnutzer_innen 65,0 62,5 46,8 14,2 40,8 1,8 0,6 6548

Technische Zugangsbedingungen Über die Frage nach dem Internetzugang und die zeitliche Dimension der Nutzung hinaus ist neben der Verwendung verschiedener Endgeräte auch die technische Ausstattung der Nutzer_innen von Relevanz, da hiervon entschieden die Qualität der Nutzung, im Sinne Rob Klings der »Technological Access«764, abhängt. In der ACTA 2013 werden entsprechende Daten über die technische Ausstattung der Nutzer_innen erhoben, so wird unter anderem nach dem Alter des in einem Haushalt verfügbaren Computers mit der »besten Ausstattung« als qualitatives Merkmal sowie nach dem Besitz zusätzlicher Geräte wie Flachbildschirme, Drucker, Laufwerke etc. gefragt. Angaben zur Art der Verbindung, getrennt etwa nach den vormalig besonders relevanten Unterscheidungen von Modem-, ISDN- und Breitbandzugang, sowie zur Kostenabrechnung bezüglich der Internetnutzung – beispielsweise über Volumenpreise oder Zeittarife – finden sich jedoch im Gegensatz zu früheren Ausgaben der Studie nicht mehr, was auf die sehr hohe Verbreitungsrate von DSL-Anschlüssen zu Festpreisen in Deutschland zurückzuführen ist, die sich entsprechend nicht mehr zur Differenzierung eignen.765 Bezüglich der zusätz-

763 Vgl. hierzu etwa Mascheroni/Olafsson 2016; Puspitasari/Ishii 2016. Petter Nielsen und Annita Fjuk heben hervor, dass die mobile Internetnutzung vor allem eine Ergänzung zur Desktop-PCbasierten Verwendung des Internets sei (vgl. Nielsen/Fjuk 2010). 764 Vgl. Kling 2000. 765 Das Statistische Bundesamt gibt für das Jahr 2013 den Anteil an Haushalten mit Internetzugang mit 82% an, wobei 78% aller Haushalte über einen Breitbandanschluss verfügt. Damit sind 95%

184

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

lichen Technikausstattung sind die verschiedenen Ausstattungsmerkmale klassiert in drei »Ausstattungsniveaus« zusammengefasst.766 Hinsichtlich der Frage nach ungleichen Bedingungen des Zugangs kommen hierbei nur die Differenzen innerhalb der Gruppe der Internetnutzer_innen mit häuslichem Zugang in Betracht. Das Alter des Computers mit der »besten Ausstattung« im Haushalt verteilt sich für die beiden Gruppen mit neuestem und etwas älterem (3–5 Jahre) Computer nahezu gleich, 40,4% zu 41,9%, hingegen besitzen immerhin 14,6% der Internetnutzer_innen nur einen mehr als 5 Jahre alten Computer zu Hause (Tabelle 9). Die Ausstattungsniveaus verteilen sich wie folgt: 24,4% der Internetnutzer_innen verfügen über ein hohes Ausstattungsniveau, 34,9% über ein mittleres und 40,7% nur über ein niedriges (Tabelle 10). Tabelle 9: Technische Zugangsbedingungen im Haushalt gemessen am Alter des Computers mit der besten Ausstattung nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen mit häuslichem Zugang (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Internetnutzer_innen mit Zugang im Haushalt n=6413, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Ausstattung (Alter) Computer (in %)

Gesamt

Höchstens 1 bis 2 Jahre Etwa 3 bis 5 Jahre Älter als 5 Jahre Weiß nicht, keine Angabe Gesamt Computerbesitz b N

12,7 34,1 31,6 2,8 81,2 8702

Internetnutzer_innen a 40,4 41,9 14,6 3,2 100,0 6413

Anmerkung a: nur Internetnutzer_innen mit Zugang im Haushalt; : Differenz zu 100% = kein Computerbesitz

b

aller Internetanschlüsse bereits mit einem Breitbandanschluss versorgt (vgl. Statistisches Bundesamt 2014). 766 Die Ausstattungsniveaus sind entsprechend der Anzahl der Ausstattungsmerkmale als additiver Index gebildet und ergeben bei einer Klassifikation in drei Gruppen die folgende Abstufung: »niedrig« mit 0 bis 3 Ausstattungsmerkmalen, »mittel« für 4 bis 6 und »hoch« für 7 bis 15. Die Ausstattungsmerkmale sind: Kombigerät zum Faxen, Drucken, Scannen und Kopieren; Tintenstrahldrucker (farbig oder schwarzweiß); Fotodrucker (Drucker, der sich speziell für Fotos eignet); Laserdrucker (farbig oder schwarzweiß); WebCam, Web-Kamera; Besonders leistungsfähige Soundkarte (z. B. für Surround-Sound); Flachbildschirm; Blu-Ray-Laufwerk; Bluetooth zur drahtlosen Vernetzung verschiedener Geräte (z. B. Computer und Drucker); Wireless-LAN für einen drahtlosen Internetzugang und zur drahtlosen Vernetzung verschiedener Geräte; UMTS-Karte, UMTS-USBStick; Karte, Stick oder USB-Box zum Empfang digitaler Fernsehprogramme (DVB-T/DVB-S/ DVB-C); tragbare, externe Festplatte; besonders schnelle, leistungsfähige Grafikkarte; Headset (Kopfhörer mit Mikrofon) (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2013).

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

185

Tabelle 10: Niveau der Technikausstattung des Computers im Haushalt nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen mit häuslichem Zugang (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Internetnutzer_innen mit Zugang im Haushalt n=6413, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Niveau Ausstattung Computer (in %)

Gesamt

Hoch Mittel Niedrig Gesamt Computerbesitz b N

18,1 26,0 37,0 81,2 8702

Internetnutzer_innen a 24,4 34,9 40,7 100,0 6413

Anmerkung a: nur Internetnutzer_innen mit Zugang im Haushalt; b : Differenz zu 100% = kein Computerbesitz Tabelle 11: Index zur Technikausstattung im Haushalt nach Stichprobe ACTA gesamt und Internetnutzer_innen mit häuslichem Zugang (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Internetnutzer_innen mit Zugang im Haushalt n=6413, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Index Technikausstattung Computer (in %)

Gesamt

Hoch Mittel Niedrig Gesamt Computerbesitz b N

28,1 41,8 11,3 81,2 8702

Internetnutzer_innen a 37,8 50,1 12,1 100,0 6413

Anmerkung a: nur Internetnutzer_innen mit Zugang im Haushalt; b : Differenz zu 100% = kein Computerbesitz

Wie Zillien vorschlägt, erscheint es sinnvoll, die verschiedenen einzelnen Merkmale zur technischen Ausstattung in einem einfachen additiven Index zusammenzufassen, welcher als technische Internetausstattung verstanden werden kann (Tabelle 11).767 Unter Be-

767 Zillien bildet allerdings aus vier verschiedenen Merkmalen den Gesamtindex – neben der Ausstattungsniveaus und des Alters werden auch die Art der Internetverbindung und der Abrechnungsmodus inkludiert (Vgl. Zillien 2006, S. 150f.). Gemäß der erwähnten Durchsetzung von Breitbandanschlüssen sind diese anschlussbezogenen Kriterien hinsichtlich bereits vorhandener Internetzugänge mittlerweile zu vernachlässigen und tauchen daher auch nicht mehr in den ACTA-Daten auf. Fraglich bleibt, wie bei jedem Index, die Gleichwertigkeit der verschiedenen Merkmale – zumal keine Gewichtung vorgenommen wird –, sowie überhaupt die Klassenbildung. Dennoch kann mit Zillien von einer gewissen Kompensation etwa des Alters des Computers durch Ausstattungsmerkmale ausgegangen werden, wie sie die Logik des Index nahelegt.

186

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

rücksichtigung der Aspekte »Alter des Computers« und »Ausstattungsniveau« kann dieser Index Werte von minimal zwei bis maximal sechs annehmen.768 Hinsichtlich dieses Index fällt die Hälfte der Internetnutzer_innen in die Gruppe mit mittlerer Technikausstattung (50,1%). 37,8% verfügen dabei über hohe und damit sehr gute Ausstattungsbedingungen für die Internetnutzung und lediglich 12,1% besitzen im Gegenteil nur niedrige technische Voraussetzungen. 6.2.2

First Digital Divide: Ungleiche Zugangsmöglichkeiten

Primäre Internetnutzung Hinsichtlich der ersten Ebene des Zugangs zum Internet, der First Digital Divide, lassen sich die verschiedenen gebildeten Indizes sowie die Frage nach Off- und Onlinern vor dem Hintergrund der unterschiedlichen demografischen und sozioökonomischen Kriterien analysieren. Von Interesse sind hierbei die aus der einschlägigen Forschung bekannten und bereits in Kapitel 5 im Rahmen der Digital-Divide-Ansätze dargestellten Merkmale. Dabei sollen in besonderem Maße mit Blick auf die Frage nach der Abhängigkeit der Internetnutzung von der sozialen Position jene Dimensionen untersucht werden, die Statusdifferenzen markieren und diesbezüglich Relevanz besitzen. Innerhalb der ACTA-Daten stehen als in Frage kommende Einflussfaktoren insbesondere Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, Status der aktuellen Tätigkeit, Berufskreis und Wohnortgröße zur Verfügung.769 Einen Überblick über die prozentuale Verteilung der Onliner und Offliner gibt Tabelle 12. Sichtbar sind die stark unterschiedlichen Chancen auf einen Internetzugang in Abhängigkeit von den verschiedenen demografischen und sozioökonomischen Merkmalen, wobei Bildungsgrad, Status der Tätigkeit und Alter770 in besonderem Maße differenzieren.

768 Die Verteilung der Indexpunkte ist positiv korreliert und verläuft von 1 bis 3 Punkte je Merkmal – Alter des Computers: »höchstens 1 bis 2 Jahre« (3), »Etwa 3 bis 5 Jahre« (2), »Älter als 5 Jahre« (1); Ausstattungsniveau hoch (3), mittel (2), niedrig (1). Die technische Internetausstattung ist für die Index-Werte 1–2 niedrig, 3–4 mittel und 5–6 hoch. 769 Fragen nach ungleichem Zugang und den diversen Nutzungsformen in Abhängigkeit von ethnischer Zugehörigkeit sowie Gesundheit lassen sich mit Hilfe der vom Institut für Demoskopie Allensbach erhobenen Daten nicht beantworten. Lediglich die grobe Kategorie »Personen mit Migrationshintergrund« lässt sich miteinbeziehen, bietet jedoch auf Bevölkerungsebene kein hinreichendes Differenzierungskriterium. 770 Das Alter wird hinsichtlich der Untersuchung der ersten Ebene digitaler Ungleichheit auf Basis von acht Klassen verwendet, um auch die älteren Gruppen differenzieren zu können. Für die Verwendung unterschiedlicher Internetaktivitäten wird jedoch eine auf sieben Klassen reduzierte Gruppierung verwendet, da die Gruppe der über 80-Jährigen nur extrem geringe Häufigkeiten bzw. Zellenbesetzungen für eine Vielzahl an Formen der Internetnutzung aufweisen.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

187

Tabelle 12: Allgemeine Internetnutzung nach demografischen und sozioökonomischen Merkmalen (relative Häufigkeiten, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Onliner (%) Schulbildung

Nettoäquivalenzeinkommen

Berufskreis des Hauptverdieners

Soziale Klasse

Status Berufstätigkeit

Offliner (%)

ohne Hauptschulabschluss

30,8

69,2

Hauptschulabschluss

56,2

43,8

Realschulabschluss

84,7

15,3

Fachhochschulreife

90,2

9,8

Abitur

94,3

5,7

Unter 750

73,7

26,3

750 bis unter 1250

62,3

37,7

1250 bis unter 1750

72,0

28,0

1750 bis unter 2500

81,8

18,2

2500 bis unter 3500

87,9

12,1

3500 und mehr

88,0

12,0

Inhaber, Geschäftsführer, Direktor, Freier Beruf Mittlerer/kleiner selbständiger Geschäftsmann oder selbständiger Handwerker, Landwirte Leitende Angestellte, Beamte höherer/gehobener Dienst Nichtleitender Angestellter, Beamte mittlerer/einfacher Dienst

87,1

12,9

81,9

18,1

81,9

18,1

80,2

19,8

Facharbeiter

66,3

33,7

Sonstiger Arbeiter

54,5

45,5

Mithelfender Familienangehöriger im eigenen Betrieb

37,2

62,8

War noch nie berufstätig

67,5

32,5

Untere Klasse

62,0

38,0

Mittlere Klasse

81,2

18,8

Obere Klasse

82,9

17,1

Keine Berufstätigkeit

56,2

43,8

Berufstätig insgesamt

89,9

10,1

188

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

Tabelle 12: Fortsetzung Onliner (%) Alter

14–19-Jährige

96,1

3,9

20–29-Jährige

94,7

5,3

30–39-Jährige

92,0

8,0

40–49-Jährige

90,0

10,0

50–59-Jährige

79,7

20,3

60–69-Jährige

62,6

37,4

70–79-Jährige

31,7

68,3

8,5

91,5

80-Jährige und älter Geschlecht Stadt-Land-Unterscheidung

Offliner (%)

Männer

79,3

20,7

Frauen

71,4

28,6

Land

69,3

30,7

Übergangsbereich

74,9

25,1

Großstadt

78,0

22,0

Mit Hilfe der logistischen Regressionsanalyse771 lassen sich die verschiedenen sozioökonomischen und demografischen Merkmale hinsichtlich ihres Einflusses auf die Wahrscheinlichkeit der Internetnutzung untersuchen. Integriert werden hierfür Schulbildung, monatliches Nettoäquivalenzeinkommen, soziale Klasse – anhand des Berufskreises772, Status der Berufstätigkeit, Alter, Geschlecht und Wohnortgröße schrittweise als unabhängige Variablen. Interaktionsterme sind nach Abwägung diverser Gütekriterien und in

771 Im Gegensatz zur linearen Regressionsanalyse, die ein metrisches Skalenniveau der abhängigen Variablen zur Voraussetzung hat und bei der diese Variable auf Basis der Prädiktoren direkt geschätzt wird, lässt sich die logistische Regression auch für nominale und kategoriale abhängige Variablen verwenden. Geschätzt wird hierbei nicht die Variable selbst, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als Eintrittswahrscheinlichkeit eines Variablenwertes in Abhängigkeit von unabhängigen Variablen. Bei der binären logistischen Regression ist der Wertebereich für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses entsprechend zwischen 0 und 1 (vgl. DiazBone/Künemund 2003; Fromm 2012). 772 Zusammengefasst wurden unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Bildungskapitals und der Einkommen die Kategorien von Bauern, sonstigen Arbeitern sowie Facharbeitern zur »unteren Klasse«, Beamte des einfachen und mittleren Dienstes, die nichtleitenden Angestellten und die mittleren und kleinen selbständigen Geschäftsleute sowie selbständigen Handwerker zur »mittleren Klasse« und die freien Berufe, die Beamten des gehobenen und höheren Dienstes, die leitenden Angestellten und die Inhaber, Geschäftsführer und Direktoren zur »oberen Klasse«. Für eine ähnliche Einteilung vgl. auch Stein 2006, S. 177ff.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

189

Anbetracht der Besonderheiten logistischer Regressionsanalysen ausgeschlossen worden.773 Für die verschiedenen Schritte bzw. Modelle ergeben sich im Rahmen der binär logistischen Regression die in Tabelle 13 dargestellten Effektkoeffizienten774 und Pseudo-R²-Werte. Im ersten Schritt wird lediglich die Schulbildung in das Modell aufgenommen. Hier zeigen sich bei Betrachtung des unterschiedlichen schulischen Bildungskapitals höchst signifikante Effekte der einzelnen Schulabschlüsse, die sich bereits anhand der Häufigkeitsverteilung des Zugangs zum Internet für die verschiedenen Bildungsniveaus erahnen lassen. So steigt mit dem Bildungskapital die Chance auf einen Internetzugang erheblich, wobei bei alleiniger Betrachtung der Bildung Personen mit Hochschulreife im Vergleich zur Referenzgruppe der Personen ohne Schulabschluss ein circa 34-fach (eβ=34,304) erhöhtes Chancenverhältnis aufweisen. Nagelkerkes Pseudo-R² beträgt für die Hinzunahme der Bildung zur Konstanten im Modell .234. Dies lässt sich analog zur Varianzaufklärung der linearen Regressionsanalyse interpretieren, d. h. 23% der Varianz bezüglich der Zugehörigkeit zur Gruppe der Onliner lässt sich bereits durch ein Modell mit dem schulischen Bildungskapital aufklären.775 In den folgenden Schritten werden sukzessive weitere Merkmale in das Regressionsmodell aufgenommen, die eine Erhöhung des Pseudo-R²-Wertes nach Nagelkerke auf insgesamt .522 bewirken. Werte ab .50 gelten dabei generell als sehr gut.776 Unter Kontrolle von Alter, Geschlecht, monatlichem Nettoäquivalenzeinkommen, Status der Be773 Der Effekt von Interaktionstermen fällt in der logistischen Regression generell geringer aus, da bereits modellbedingt interne Interaktionseffekte berücksichtigt werden. Damit unterscheidet sich die logistische Regression bedeutend von der linearen Regressionsanalyse (vgl. Jagodzinski/Klein 1997; Best/Wolf 2010). Hier wurde dennoch das Modell auf explizit formulierte Interaktionen geprüft. Aufgrund nur äußerst geringer Modellverbesserungen hinsichtlich der Pseudo-R²-Werte und einer gegenteilig zu bewertenden Zunahme der Gütekriterien AIC (Akaike’s Information Criterion) und BIC (Schwarz’s Bayesian Criterion), die beide gegen den Einbezug der Interaktionsterme und für die Wahl eines einfacheren Modells sprechen, sind gemäß des Sparsamkeitsprinzips lediglich die Haupteffekte integriert und explizite Interaktionsterme exkludiert worden. 774 Prinzipiell ist Vorsicht bei der Interpretation von Regressionskoeffizienten und der entsprechenden entlogarithmierten »Effektkoeffizienten« geboten, wie Henning Best und Christof Wolf betonen. Bei »Odds« handelt es sich um das Verhältnis von Wahrscheinlichkeit zu Gegenwahrscheinlichkeit, bei der »Odds Ratio« demgemäß um das Verhältnis zweier Chancen zu einander, also um Verhältnisse von Wahrscheinlichkeitsverhältnissen. Ein Effektkoeffizient von 2 bedeutet, dass das Chancenverhältnis um Faktor 2 erhöht ist gegenüber der Referenzgruppe. Welche exakte Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Zustandes diesem Wert entspricht, ist ohne Kenntnis der Basiswahrscheinlichkeit nicht aus den Effektkoeffizienten eindeutig zu bestimmen (vgl. Best/Wolf 2010). 775 Vgl. Fromm 2012, S. 130. Genau genommen geben die verschiedenen Pseudo-R²-Werte auf Basis der Likelihood-Funktion die Verbesserung an, welche das Regressionsmodell mit den Prädikatoren gegenüber einem Nullmodell erreicht (vgl. Krafft 1997). 776 Vgl. Rohrlack 2009, S. 272. Im Allgemeinen fallen die Pseudo-R²-Werte kleiner aus als vergleichbare Werte für R² der linearen Regression.

190

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

rufstätigkeit, sozialer Klasse und Wohnortgröße ist das Chancenverhältnis für die Personengruppe mit Hochschulreife auf einen Internetzugang noch immer ungefähr 16 mal größer als für die Gruppe derjenigen ohne Hauptschulabschluss. Auch für die anderen Abstufungen der Bildungsabschlüsse ergeben sich erhöhte Odds Ratios im Vergleich zur Referenzgruppe derjenigen ohne Schulabschluss: Bei Personen mit Hauptschulabschluss ist das Chancenverhältnis circa um Faktor 2,5 erhöht, mit mittlerer Reife nahezu um Faktor 5,8 und mit Fachhochschulabschluss ungefähr um den Faktor 10,8. Bezieht man als Merkmal für ökonomisches Kapital das monatliche Nettoäquivalenzeinkommen mit ein, so zeigt sich, dass das Chancenverhältnis hinsichtlich der Referenzgruppe derjenigen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von unter 750 Euro im Monat für die höheren Einkommen größer ist. Für das Gesamtmodell ist dieses Verhältnis für alle Einkommensgruppen ab 1.750 Euro im Bereich von circa 80% bis knapp 140% erhöht. Für vier Gruppen erreichen die Werte letztlich Signifikanzniveau, die Richtung des Einflusses geht dabei deutlich hin zur Zunahme der Wahrscheinlichkeit eines Zugangs zum Internet mit dem steigenden Nettoäquivalenzeinkommen. Die erklärte Varianz erhöht sich durch Einbezug des ökonomischen Kapitals allerdings nur geringfügig, d. h. der Einfluss des ökonomischen Kapitals im Gesamtmodell ist als relativ niedrig einzustufen. Der Einschluss des Einkommens verringert dabei entschieden den Effekt des Bildungskapitals, insbesondere hinsichtlich der höheren schulischen Abschlüsse von Fachhochschulreife und Abitur. Auch die soziale Klasse, bestimmt über den Berufskreis des Hauptverdieners777 als Näherung für die soziale Position, hat einen höchst signifikanten Einfluss auf die Wahr-

777 Neben der sozialen Klasse, als Zusammenfassung der sozialen Position über den Beruf, wurde zusätzlich parallel auch der Einfluss des Berufskreises analysiert. Das Chancenverhältnis für Angehörige derjenigen Gruppen, die grob die Dienstklassen des EGP-Schemas nach Goldthorpe umfassen und die höhere gesellschaftliche Schicht darstellen, ist im Gesamtmodell mehr als dreimal so hoch wie das der einfachen Arbeiter_innen. Die eine Zwischenstellung einnehmenden und daher den mittleren Klassen zuzurechnenden Gruppen der nichtleitenden Angestellten sowie der Beamt_innen des mittleren und einfachen Dienstes haben ein noch immer um den Faktor 2,5 erhöhtes Chancenverhältnis auf einen Internetzugang im Vergleich zur Referenzgruppe der einfachen Arbeiter_innen. Für die mittleren und kleinen Selbständigen beträgt diese Odds Ratio ungefähr das 3Fache. Selbst Facharbeiter_innen haben gegenüber den einfachen Arbeiter_innen ein um den Faktor 1,5 erhöhtes Wahrscheinlichkeitsverhältnis hinsichtlich des Internetzugangs. Die mit den einfachen Arbeiter_innen ebenfalls zur untersten gesellschaftlichen Schicht zählende Kategorie der »mithelfenden Familienangehörigen« besitzt eine ungefähr gleich große Odds Ratio wie diese. Die Residualgruppe derjenigen, die in einem Haushalt leben, in welchem der Hauptverdiener noch nie berufstätig war, stellt lediglich 1,9% der Population dar und besitzt ein um Faktor 1,5 erhöhtes Chancenverhältnis. Die Regressionskoeffizienten für die beiden letztgenannten Gruppen sind allerdings nicht signifikant. Grundsätzlich ist auch mit Hilfe der einzelnen Berufskreise sichtbar, dass die Wahrscheinlichkeit auf einen Internetzugang mit der Höhe der Position im sozialen Raum zunimmt.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

191

scheinlichkeit des Zugangs zum Internet. So steigt für Angehörige der mittleren Klasse gegenüber der Referenzgruppe – der unteren Klasse – das Chancenverhältnis auf das Doppelte. Die Odds Ratio für die obere Klasse ist wiederum nochmals etwas erhöht und beträgt ungefähr das 2,2-Fache. Bezüglich des Status der Berufstätigkeit haben Personen, die aktuell berufstätig sind, eine signifikant höhere Chance auf einen Internetzugang. Gegenüber der Gruppe ohne momentane Berufstätigkeit steigt das Chancenverhältnis um den Faktor 1,74 an. Der Einbezug von Berufstätigkeit und sozialer Klasse verringert dabei deutlich den Effekt des Bildungskapitals. Die Erklärung des Gesamtmodells steigt zugleich erheblich mit dem Status der Berufstätigkeit an. Einen großen Anteil an der erklärten Varianz hat im Modell zudem die unabhängige Variable Alter, so dass der Wert von Nagelkerkes Pseudo-R² unter Hinzunahme der Altersvariablen deutlich ansteigt. An den Effektkoeffizienten ist ersichtlich, dass mit zunehmendem Alter das Chancenverhältnis auf einen Internetzugang im Vergleich zur Referenzgruppe der 14- bis 19-Jährigen erheblich abnimmt.778 Bereits für die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen verringert sich das Chancenverhältnis um mehr als die Hälfe (auf eβ=0,413), für Personen im Alter von 60- bis 69 Jahren auf weniger als ein Zwölftel (eβ=0,080). Im Vergleich zur jüngsten Gruppe haben insbesondere die beiden ältesten Gruppen ein sehr stark reduziertes Chancenverhältnis (eβ=0,024 für die 70- bis 79Jährigen und eβ=0,004 für die Gruppe 80 Jahre und älter). Die Regressionskoeffizienten sind dabei für alle Altersgruppen mit Ausnahme der 20- bis 29-Jährigen höchst signifikant. Im Vergleich zu Frauen besitzen Männer eine um den Faktor 1,29 signifikant erhöhte Chance auf einen Internetnutzung (eβ für Frauen=0,774). Der Pseudo-R²-Wert des Modells verändert sich dabei durch die Variable Geschlecht nur äußerst gering. Auch die räumliche Differenzierung in Großstadt, Übergangsbereich und Land auf Basis der BIK-Regionsgrößenklassen779 zeigt signifikante Unterschiede hinsichtlich des Internetzugangs an.780 So haben Personen, die in ländlichen Regionen wohnen, eine 778 Effektkoeffizienten mit einem Wert kleiner 1 sind als Verringerung des Chancenverhältnisses auf den entsprechenden Wert zu verstehen. 779 Der Begriff der BIK-Region und die entsprechenden Typologien gehen auf das Hamburger Unternehmen »BIK Aschpurwis + Behrens GmbH« zurück. Der Vorteil der BIK-Regionsklassen besteht darin, dass hierbei nicht bloß politische Gemeinden nach Einwohnerzahlen klassifiziert werden, sondern die räumliche Verflechtung etwa über Daten von Pendlern miteinbezogen wird. Dies führt zu einer besseren Darstellung und Differenzierung von Stadtregionen und Umland. Zur genauen Klassifikationssemantik vgl. BIK Aschpurwis + Behrens 2001. 780 Basis der Klassifizierung in Großstadt, Übergangsbereich und Land ist die Wohnortgröße mittels der innerhalb der ACTA 2013 enthaltenen BIK-Systematik der Regionsgrößenklassen. Sofern eine Gemeinde zu einer Form der Stadtregion gehört – »Kernbereich«, »Verdichtungsbereich« oder »Übergangsbereich« – wird die kumulierte Einwohnerzahl der jeweiligen Stadtregion zugrunde ge-

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6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

geringere Chance auf einen Zugang zum Internet im Vergleich zu Einwohner_innen städtischer Gebiete des Übergangsbereichs und großstädtischer Verflechtungsräume. Gegenüber Landbewohner_innen steigt das Chancenverhältnis der Bewohner_innen von Übergangsregionen und großstädtischen Verdichtungsräumen ungefähr um den Faktor 1,4. Mit wachsender Urbanität erhöht sich somit die Wahrscheinlichkeit auf einen Internetzugang. Anhand verschiedener Goodness-of-Fit-Kriterien, die auf dem Log-Likelihood-Wert basieren, wie dem Informationskriterium von Akaike und dem Bayesschen Informationskriterium, kann nicht nur die Modellgüte insgesamt, sondern auch die der einzelnen unabhängigen Variablen für das logistische Regressionsmodell bestimmt werden. Hier zeigt sich, dass alle im Rahmen des Modells integrierten unabhängigen Variablen signifikant zur Erklärung der Varianz hinsichtlich des Internetzugangs beitragen und die Modellgüte verbessern. Geschlecht und Urbanität kommt dabei der geringste Anteil an der Aufklärung der Varianz zu, während vor allem schulische Bildung und Alter am stärksten zur erklärten Varianz beitragen. Zusammengefasst ermöglichen die sieben unabhängigen Variablen von Alter, Geschlecht, monatlichem Nettoäquivalenzeinkommen, Schulbildung, sozialer Klasse, Status der Berufstätigkeit und räumlicher Differenzierung eine Varianzaufklärung von über 50% mit einem Nagelkerke Pseudo-R² von .522 bezüglich der Frage nach Internetnutzung. Neben den demografischen Merkmalen nimmt der sozioökonomische Status deutlichen Einfluss auf die Internetnutzung, wobei sich die Dimensionen des kulturellen Kapitals bzw. Bildungskapitals, des ökonomischen Kapitals und der sozialen Klasse jeweils spezifisch und unabhängig voneinander auf die First Digital Divide auswirken.

legt, ansonsten gilt die Einwohnerzahl für die Zugehörigkeit zu einer Regionsgrößenklasse (vgl. Hoffmeyer-Zlotnik 2000). Personen, die in einer BIK-Regionsgrößenklasse mit bis zu maximal 20.000 Einwohnern leben (Klasse 1 bis 3), wurden zum ländlichen Bereich gezählt. Ab einer Einwohnerzahl von 500.000 (Klasse 7) wurde der Wohnort als urbaner Verdichtungsraum gewertet, der hier das Label Großstadt erhalten hat (vgl. für eine ähnliche Kategorisierung Lenz 2006; Schleife 2006; Lanzke 2010).

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

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Tabelle 13: Internetzugang in Abhängigkeit von Bildungskapital (Ref.: ohne Hauptschulabschluss), ökonomischem Kapital (Ref.: unter 750 Euro), sozialer Klasse (Ref.: untere Klasse), Status der Berufstätigkeit (Ref.: ohne Berufstätigkeit), Alter (Ref.: 14–19-Jährige), Geschlecht (Ref.: Männer) und Urbanität (Ref.: Land) (Effektkoeffizienten der logistischen Regression, Stichprobe ACTA 2013 n=8702, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren, *p < 0.05, **p < 0.01, ***p < 0.001)

(Konstante) Bildung Hauptschulabschluss Realschulabschluss Fachhochschulreife Abitur Netäq-Einkommen (€) 750 bis unter 1250 1250 bis unter 1750 1750 bis unter 2500 2500 bis unter 3500 3500 und mehr Soziale Klasse Mittlere Klasse Obere Klasse Status Berufstätigkeit Berufstätigkeit Alter 20–29-Jährige 30–39-Jährige 40–49-Jährige 50–59-Jährige 60–69-Jährige 70–79-Jährige 80-Jährige und älter Geschlecht Frauen Urbanität Übergangsbereich Großstadt Nagelkerkes R²

Block 1

Block 2

Block 3

Block 4

Block 5

Block 6

Block 7

0,478***

0,541***

0,508***

0,325***

1,815*

2,046*

1,576

2,796*** 11,694*** 19,708*** 34,304***

2,541*** 10,002*** 15,814*** 26,527***

2,454*** 9,312*** 14,850*** 24,785***

2,160*** 6,778*** 11,571*** 21,732***

2,509*** 5,698*** 11,145*** 16,587***

2,524*** 5,785*** 10,878*** 16,129***

2,528*** 5,815*** 10,759*** 16,003***

0,720* 0,933 1,289 1,548* 1,483

0,721* 0,909 1,269 1,546** 1,535

0,604*** 0,626*** 0,752 0,871 0,722

1,173 1,413* 2,001*** 2,433*** 1,824*

1,170 1,403* 1,968*** 2,399*** 1,797*

1,165 1,403* 1,959*** 2,359*** 1,776*

1,369*** 0,979

1,558*** 1,460***

1,925*** 2,176***

1,996*** 2,240***

1,966*** 2,225***

6,583***

1,799***

1,734***

1,735***

0,713 0,404*** 0,294*** 0,126*** 0,080*** 0,024*** 0,004***

0,731 0,412*** 0,300*** 0,129*** 0,081*** 0,024*** 0,004***

0,730 0,413*** 0,300*** 0,129*** 0,080*** 0,024*** 0,004***

0,776***

0,774*** 1,367** 1,400**

.234

.246

.251

.385

.519

.521

.522

194

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

Auf dieser ersten Ebene des Zugangs zum Internet findet demnach vor allem über kulturelles, aber auch ökonomisches Kapital eine Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen statt, insofern von der Verfügbarkeit dieser Kapitalformen die prinzipielle Chance auf eine Internetnutzung abhängt. Je größer die Ausstattung mit den entsprechenden Kapitalien, desto höher die Wahrscheinlichkeit, an den Möglichkeiten des Internets zu partizipieren. Exkurs: Zeitlicher Vergleich 2004–2013 Mit Rekurs auf die von Nicole Zillien analysierten Daten der ACTA 2004 besteht die Möglichkeit, bei Beachtung der Grundgesamtheit einen zeitlichen Vergleich bezüglich der First Digital Divide miteinzubeziehen.781 Da in der besagten Veröffentlichung lediglich die Daten der Häufigkeiten bzw. Odds hinsichtlich der verschiedenen schulischen Bildungsniveaus berichtet werden, kann nur der Einfluss des Bildungskapitals zu den beiden Zeitpunkten 2004 und 2013 betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der Daten aus dem Jahr 2004 lässt sich erkennen, dass im Jahr 2013 alle Gruppen auf Basis des Schulabschlusses einen höheren Anteil an Personen mit Internetzugang besitzen und sich dieser Anteil für die Gruppen mit einem Hauptschulabschluss bzw. ohne Abschluss in etwa verdoppelt hat (Abbildung 1). Die Darstellung der Odds als der Chance auf einen Internetzugang zeigt zugleich, dass die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Gruppen dabei zugenommen hat (Abbildung 2). Zwar kann die Gruppe mit Hauptschulabschluss den größten prozentualen Zuwachs verzeichnen, allein schon deshalb, weil die Gruppen mit höherem Bildungsabschluss bereits 2004 über einen größeren Anteil an Onlinern verfügten. Die Chance auf einen Internetzugang liegt aber für Personen mit Hauptschulabschluss im Jahr 2013 dennoch nur bei 3,4 (77,1% zu 22,9%), während sie für Personen mit Hochschulabschluss 51,6 beträgt (98,1% zu 1,9%). Insgesamt sind im zeitlichen Verlauf die Chancen auf einen Internetzugang absolut für alle Gruppen angewachsen, jedoch mit steigendem Bildungsgrad in stark erhöhtem Maße.

781 Grundsätzlich problematisch für den zeitlichen Vergleich sind die verschiedenen Grundgesamtheiten von ACTA 2004 und ACTA 2013. Während in der ACTA 2004 die deutsche Bevölkerung zwischen 14 und 64 Jahren in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung in Deutschland repräsentiert ist – dies entspricht 50,42 Millionen Personen –, umfasst die Grundgesamtheit der ACTA 2013 die gesamte deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung in Deutschland – insgesamt 70,33 Millionen Personen. Es gibt jedoch die Möglichkeit, innerhalb der ACTA eine Reduktion auf bestimmte Bevölkerungssegmente vorzunehmen und darüber eine Anpassung an die Grundgesamtheit aus dem Jahr 2004 zu erreichen.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

195

Abbildung 1: Internetzugang im zeitlichen Vergleich 2004 und 2013 nach Bildungskapital (in Prozent) (Grundgesamtheit=deutschspr. Bevölkerung zwischen 14 Jahren und 64 Jahren, Daten 2013: Stichprobe ACTA 2013 n=6918, Daten 2004: ACTA 2004 n=9978, Quelle: Zillien 2006, S. 154)

Abbildung 2: Internetzugang im zeitlichen Vergleich 2004 und 2013 nach Bildungskapital (Odds) (Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung zwischen 14 Jahren und 64 Jahren, Daten 2013: Stichprobe ACTA 2013 n=6918, Daten 2004: ACTA 2004 n=9978, Quelle: Zillien 2006, S. 154)

196

6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

Im Vergleich der Odds Ratios zwischen den Gruppen zu den beiden Zeitpunkten wird zudem das Ungleichheitsverhältnis deutlich.782 Bei fast allen Gruppen nach Bildungsabschlüssen haben sich die Odds Ratios entschieden vergrößert, und zwar dergestalt, dass das Chancenverhältnis des jeweils höheren zum niedrigerem Bildungsabschluss im zeitlichen Verlauf angewachsen ist. So ist im extremsten Fall das Chancenverhältnis hinsichtlich eines Internetzugangs von Personen mit Hochschulreife zu Personen ohne Abschluss von nahezu 20:1 im Jahr 2004 auf ein Verhältnis von ungefähr 54:1 im Jahr 2013 angestiegen.783 D. h. die Chance, über einen Internetzugang zu verfügen, ist für Personen mit Hochschulreife circa 54-mal so hoch wie für Personen, die über keinen Abschluss verfügen. Gegenüber Personen mit Hauptschulabschluss ist das Verhältnis vom 8,7- zum 15,3-Fachen angestiegen. Selbst das Chancenverhältnis zur Gruppe mit mittlerer Reife hat sich für Abiturienten vom 3,2- auf den 5,2-fachen Wert erhöht. Lediglich das Chancenverhältnis von Personen mit Realschulabschluss zur Gruppe derjenigen mit Hauptschulabschluss ist nahezu konstant geblieben (Odds Ratio 2004: 2,7; Odds Ratio 2013: 2,9). Gleiches gilt für das Verhältnis von Personen mit Abitur zu Personen mit Fachhochschulreife (Odds Ratio 2004: 1,8; Odds Ratio 2013: 1,8). Abbildung 3 stellt den grundsätzlichen Trend einer zunehmenden Ungleichheit im Zugang zwischen den verschiedenen Formen an Bildungskapital dar, und zwar anhand der Chancenverhältnisse der einzelnen Bildungsabschlüsse zur durchschnittlichen Odds Ratio zu den beiden Zeitpunkten 2004 und 2013. Der Wert 1 bezeichnet dabei das Chancenverhältnis, welches genau dem Durchschnitt entspricht. Sichtbar ist, dass Personen, die über einen Hauptschulabschluss oder keinen Schulabschluss verfügen, ein unterdurchschnittliches Chancenverhältnis besitzen und die Gruppe mit mittlerer Reife einen Wert relativ nah am Durchschnitt aufweist. Dagegen ist für die Gruppen, welche über Fachhochschulreife oder Abitur verfügen, das Chancenverhältnis auf einen Zugang zum Internet stark erhöht und fällt im Vergleich zum früheren Zeitpunkt nochmals stärker aus, wie an der Steigung der Geraden erkenntlich wird.

782 Die Odds Ratios entsprechen den Effektkoeffizienten einer binär logistischen Regression auf den Internetzugang mit den verschiedenen Formen des schulischen Kapitals als Prädikatoren. 783 Die Odds Ratio ergibt sich für 2004 aus dem Chancenverhältnis für Abiturienten (6,1) zu demjenigen für Personen ohne Abschluss (0,3). Dem entspricht 2013 ein Verhältnis von 51,6 (Abiturienten) zu 0,96 (Personen ohne Abschluss).

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

197

Abbildung 3: Internetzugang im zeitlichen Vergleich 2004 und 2013 nach Bildungskapital (Odds Ratio) mit Referenz Gesamtdurchschnitt (Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung zwischen 14 Jahren und 64 Jahren, Daten 2013: Stichprobe ACTA 2013 n=6918, Daten 2004: ACTA 2004 n=9978, Quelle: Zillien 2006, S. 154)

Insgesamt lässt sich für den zeitlichen Verlauf konstatieren, dass hinsichtlich der First Digital Divide als dem Zugang zum Internet die Ungleichheit seit 2004 größer geworden ist, da nicht alle Personen in gleichem Maße von einer Erhöhung des Zugangs profitieren konnten. Prinzipiell zeigt sich, dass je höher das schulische Bildungskapital ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit über einen Internetzugang zu verfügen. Zwar haben sich absolut betrachtet seit 2004 die Chancen auf einen Internetzugang für die verschiedenen Gruppen erhöht, jedoch in unterschiedlichem Maße. Während sich das Chancenverhältnis gegenüber dem Durchschnitt für Personen mit mittlerer Reife oder einem höheren Schulabschluss verbessert hat, ist dieses Verhältnis für die Gruppen »kein Abschluss« und »Hauptschulabschluss« sogar minimal schlechter geworden. Bezüglich der Betrachtung von Statusdifferenzen anhand des Bildungskapitals hat zudem die Ungleichheit zwischen den Gruppen zugenommen, so dass im Vergleich von 2004 zu 2013 jeweils das Chancenverhältnis der Gruppe mit höherem Bildungsabschluss gegenüber derjenigen mit niedrigerem Bildungsabschluss größer geworden ist. Die Situation hinsichtlich des ungleichen Zugangs zum Internet hat sich für die Schulabschlüsse ab mittlerer Reife verbessert, ist hingegen aber für die beiden Gruppen mit niedrigerem Bildungsniveau gleich schlecht geblieben. Letztere konnten demnach nicht in gleichem Maße von einer zunehmenden Verbreitung des Internets Gebrauch machen.

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6 Empirische Analyse digitaler Ungleichheiten

Nach der Betrachtung der ersten Ebene der First Digital Divide mit der Darstellung der verschiedenen unabhängigen Einflussfaktoren auf die Internetnutzung auf Basis der prinzipiellen Unterscheidung von Onlinern und Offlinern werden nun anschließend die verschiedenen Aspekte des Zugangs hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von der sozialen Position untersucht, da im Zentrum die Frage nach der strukturierenden Macht sozialer Ungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zum Internet sowie daran anschließender Praktiken steht. Zur Bestimmung der sozialen Position sind die verschiedenen Formen des Bildungskapitals, die ökonomischen Ressourcen anhand des Nettoäquivalenzeinkommens und der Berufskreis als Näherung an die soziale Klasse bzw. den Status im Rahmen der ACTA verfügbar. Da von besonderem Interesse ist, welche Formen von Kapital im Bourdieu’schen Sinne Relevanz bezüglich digitaler Ungleichheiten besitzen und in welcher Weise sich diese auf die verschiedenen Internetpraktiken auswirken, wird nicht auf den vom Institut für Demoskopie Allensbach bereitgestellten Status-Index zurückgegriffen.784 Im Folgenden sind daher weiterhin einzeln Bildungskapital, ökonomisches Kapital und der Status bzw. die soziale Klasse anhand des beruflichen Umfeldes ausgewiesen. Unterteilt werden die sozialen Klassen in die drei Großgruppen von untere Klasse, mittlere Klasse und höhere Klasse.785

784 Das Institut für Demoskopie Allensbach stellt im Rahmen der Daten einen eigenen siebenstufigen Status-Index zur Verfügung (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2013). Dieser Index, der als »Gesellschaftlich-wirtschaftlicher Status« gelabelt ist, stellt eine Möglichkeit zur Klassifikation von Statusdifferenzen dar und basiert dabei auf der Schul- und Berufsausbildung, dem Berufskreis und dem Nettoeinkommen des Hauptverdieners als objektiven Kriterien sowie der subjektiven Schichteinschätzung der interviewten Person durch die Interviewenden. Für die unterschiedlichen Kategorienausprägungen werden Punkte vergeben. Die geringste Ausprägung in einer Kategorie erhält jeweils 10 Punkte, der höchste Punktwert beträgt bei Schul- und Berufsausbildung 36 Punkte, beim Berufskreis des Hauptverdieners 26 Punkte, für das Nettoeinkommen des Hauptverdieners 34 Punkte und für die soziale Schicht 44 Punkte. Der gesamte Index umfasst daher die Spannbreite von 40 bis 140 Punkten. Die Gruppe mit den geringsten Punktwerten im Bereich von 40 bis 58 wird in der ACTA-Klassifikation als »Stufe 7 – Personen im einfachsten Lebenszuschnitt« bezeichnet, die Gruppe am oberen Ende als »Stufe 1 – Wirtschaftlich leistungsfähigste und gebildetste Schicht«. Die verschiedenen Stufen sind wiederum drei Statusgruppen zugeordnet: Stufe 1 und 2 gehören zur Kategorie »hoher Status«, Stufe 3 bis 5 zum »mittleren Status« und Stufe 6 und 7 zum »niedrigen Status«. Problematisch an diesem Index ist vor allem, dass keine Einsicht in die exakte Zusammensetzung der Punktzahlen mehr möglich ist, denn jenseits der untersten Gruppe – mit geringen formalen Bildungsabschlüssen, geringem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen des Hauptverdieners, geringem Prestige des Berufskreises und entsprechend niedrigem subjektivem Statuseindruck bei der interviewenden Person – sowie deren extremem Gegenteil der »wirtschaftlich leistungsfähigsten und gebildetsten Schicht«, die von allem viel besitzt, bleibt die eigentliche Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalsorten opak. Daher wird dieser Index hier nicht zur Bestimmung der sozialen Position verwendet. 785 Siehe hierzu Fußnote 772.

6.2 Primäre Dimensionen digitaler Ungleichheiten

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Ungleichheiten in temporaler Dimension Über den ungleichen Zugang zum Internet hinaus lässt sich anhand der unterschiedlichen zeitlichen Nutzung des Internets eine weitere Differenzierung der First Digital Divide vornehmen. Tabelle 14 und 15 zeigen hierbei die Abhängigkeit der verschiedenen temporalen Dimensionen des Zugangs von Bildungskapital, ökonomischem Kapital und sozialer Klasse.786 Sowohl Nutzungshäufigkeit als auch Nutzungsdauer unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich des betrachteten Bildungskapitals. Der Einfluss des ökonomischen Kapitals ist durchweg sehr gering, jedoch signifikant. Gleiches gilt für die statusbezogene Einteilung der Berufskreise anhand des Bourdieu’schen Klassenschemas. Tabelle 14: Temporale Dimension der Internetnutzung I (Frequenz) nach Bildungskapital, ökonomischem Kapital und sozialer Klasse (relative Häufigkeiten, Zusammenhangsmaß Kendall-Tau-b, Internetnutzer_innen n=6548, Grundgesamtheit=deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahren) Nutzungshäufigkeit (in %) einmal mehrmals seltener als einmal pro Woche pro Woche pro Woche

einmal am Tag

mehrmals täglich

Schulbildung (Kendall-Tau-b=.216, p