Die zerstreute Avantgarde: Strategische Kommunikation im Italien der 70er Jahre 9783205790549, 9783205785996

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Die zerstreute Avantgarde: Strategische Kommunikation im Italien der 70er Jahre
 9783205790549, 9783205785996

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Klemens Gruber · Die zerstreute Avantgarde

maske und kothurn internationale beiträge zur theater-, film und medienwissenschaft Herausgegeben vom Institut für Theater, Film- und Medienwissenschaft

an der Universität Wien beiheft 15

Klemens Gruber

die zerstreute avantgarde Strategische Kommunikation im Italien der 70er Jahre

2., überarbeitete Auflage

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Umschlaggestaltung: Michael Tripes · Wien

Gedruckt mit der Unterstützung durch das

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78599-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ­ ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © Originalausgabe 1989 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar © 2010, 2., überarbeitete Auflage by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Impress, Slowenien

meinem Bruder Bernhard gewidmet

Inhalt

Nach dreiundreißig Jahren Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Maurizio Torrealta Vorrede zur italienischen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

Wolfgang Greisenegger Vorwort der ersten Auflage: Die Wiederentdeckung eines Mediums . . . . . . . .

1

Das Laboratorium .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Auf der Suche nach einer »Poetik der Veränderung« . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Im Wunderland der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

»trasmettere è divertente« – Senden ist ein Vergnügen . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Wer spricht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Eine schmutzige Sprache .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Parodie Fälschung Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Neue Kontinente .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

Nachwort von Franco Berardi ›Bifo‹ Lyrisch, episch, tragisch, ironisch und zynisch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Bibliographie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Vorwort

Nach dreiunddreißig Jahren

In den 1970er Jahren, jener Zeit vor der Epoche des Privatfernsehens, war die italienische Piazza noch zentrales Element der Öffentlichkeit und die Trattoria alltäglicher Treffpunkt. Die Abende verbrachte man noch nicht vor den Fernsehschirmen, sondern die Straßen und Plätze waren bevölkert in einem Jahrhunderte alten Ritual: sich verabreden, Blicke austauschen, Gewohnheiten verbreiten. In diesen 70er Jahren verwandelte sich Italien in ein soziales Laboratorium. Der Ausgangsstoff war eine kapitalfixierte Restrukturierung der Industrie, ihre Ausbreitung von der Fabrik auf den gesamten Gesellschaftskörper. Die Zutaten, Katalysatoren oder Abfallprodukte, waren eine korrupte Politik, desolate Institutionen, Gewalt und eine aufsässige Jugend, die nach Lebensformen jenseits der Lohnarbeit suchte und abseits der beiden Kirchen des Landes, der katholischen und der kommunistischen, samt ihrer illusionären Perspektive eines ›historischen Kompromisses‹. Diese autonome Jugendbewegung zeigte sich denn auch relativ unbeeindruckt von den terroristischen Scharmützeln, die von Anfang an den diversen Geheimdiensten nachgesagt wurden – die spektakulären Aktionen entsprachen zu offenkundig den ›Intrigen des Palastes‹. Angesichts einer solchen Wirklichkeit entstanden neue Formen der politischen Auseinandersetzung, eine reale Poetik der Veränderung, die in der Sprache und den alltäglichen Verhaltensweisen ihr bevorzugtes Terrain erkannte und mit innovativen Ausdrucksund Kommunikationsmitteln experimentierte. Dazu kam, dass Anfang der 70er Jahre die Preise für Kommunikationstechnologien in erheblichem Maße sanken, sodass überall die Experimente mit Medien zu niedrigen Kosten blühten: Video, Radio, Offset-Druck. 1975 erklärte das Urteil eines italienischen Höchstgerichts das staatliche Rundfunkmonopol für verfassungswidrig, ohne es durch eine neue Regelung zu ersetzen. In der so entstandenen Gesetzeslücke bildete sich rasch ein Netzwerk von kleinen, ›lokalen‹, ›freien‹ Radiostationen, die das staatliche Informationsmonopol über die Rundfunkmedien dann tatsächlich zusammenbrechen ließ: Bruch des staatlichen Monopols über den Äther durch die Kommunikationsindustrie. Umgekehrt zeigte der Aufbau dutzender selbstverwalteter Radios zweierlei: neben der quantitativen Ausdehnung des Personenkreises, der sich nicht länger mit dem Programmangebot der staatlichen Rundfunkanstalten zufrieden gab, wurde vor allem deutlich, wie das know-how, das technische Wissen sich mit der Entwicklung der Unterhaltungsindustrie verbreitet hat und nun auf neue Weise genutzt wird. Davon erzählt dieses Buch und von den Hypothesen, mit denen Radio Alice in Bologna, das radikalste und daher berühmteste freie Radio, die Experimente für eine comunicazione sovversiva in Angriff nimmt. Produktion von Öffentlichkeit und Erforschung des Mediums selbst, seiner spezifischen Ausdrucksmittel und seiner Potentiale, sind die beiden, von den staatlichen



vorwort

Anstalten und der traditionellen Politik aus Dummheit und Rückständigkeit ignorierten, komplementären Strategien. Suchte die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts die Beziehung der neuen Medien Fotografie, Film und Radio zu einem Massenpublikum überhaupt erst zu etablieren und an den Medien mit den neuen kulturellen Bedürfnissen der urbanen Massen zu experimentieren, so geht es heute darum, diese etablierte Beziehung zwischen den Massenmedien und der Gesamtbevölkerung zu stören, zu unterbrechen, zu deplatzieren. Dazwischen hat Radio Alice mit großer historischer Intuition und praktischem Geschick einen anderen Weg nach Indien gesucht und einen neuen Kontinent entdeckt, den der »subversiven Kommunikation«: und sei es nur, eines Tages mit damals ultraempfindlichen Spezialmikrofonen aufzutauchen, um in einer überraschenden Sendung aus seinen »ehrwürdigen, erhabenen, himmlischen Studios« das Gras wachsen hören zu lassen. Wenn man hingegen heute italienische Tageszeitungen aufschlägt, glaubt man bisweilen, Fälschungen von Il Male in der Hand zu haben: Am Ende der Ära Berlusconi ist die italienische Wirklichkeit in mancher Hinsicht irrealer als dessen beste Fälschungen. Mein Dank gilt Dieter Federspiel, Maria Herzfeld und Ulrich Steger für vielfältige Übersetzungshilfen, Jana Herwig und Gabriele Ruff für die Durchsicht des Manuskripts, David Krems für die Bildbearbeitung, Michael Tripes für die vortreffliche Einbandgestaltung damals wie heute, Ulrike Dietmayer und Michael Rauscher vom Böhlau Verlag, die in bewährter Manier auch die 2. Auflage mit Rat und Tat beförderten; schließlich Maurizio Torrealta, der mir im Sommer ’75 zum ersten Mal vom Projekt eines Radiosenders erzählte, für seine Gastfreundschaft und die Großzügigkeit seiner Gedanken, Franco Berardi für die Unbezwingbarkeit seiner Ideen und Enrico Palandri für die lange Freundschaft und seine unerschütterliche Vergnügtheit. Wien, im Frühjahr 2010

Klemens Gruber

Maurizio Torrealta

Vorrede zur italienischen Ausgabe L’avanguardia inaudita (1997)

Vor zwanzig Jahren habe ich auf der Piazza Maggiore in Bologna Freundschaft mit einem jungen Österreicher geschlossen – ich kann nicht umhin, bei der Einführung zu diesem Buch auch von Freundschaft zu sprechen –, er fragte mich, ob er bei mir übernachten könne. So haben wir uns kennengelernt. Das war Ende der Siebziger Jahre, damals waren wir es gewohnt, viel zu diskutieren und viel zu denken. Später haben wir uns aus den Augen verloren, ich ging in die USA, er kehrte nach Österreich zurück. Jetzt, nach zwanzig Jahren, halte ich sein Buch in Händen, in dem er die Ideen darlegt und analysiert, von denen wir in jenen Jahren erfüllt waren. Die Idee der »unerhörten Avantgarde« ist nicht nur ein Anlass, noch einmal über jene Zeit der politischen und künstlerischen Manifestationen nachzudenken, die als »77er Bewegung« in die Geschichte eingegangen ist, sondern auch, die Idee der Avantgarde grundsätzlich neu zu überdenken. Jetzt, am Beginn eines neuen Jahrhunderts, lohnt es sich, ein Konzept zu überdenken, das in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Formen immer wieder aufgetaucht ist: einerseits das Konzept der ideologischen Avantgarde, die ich mir als eine Braut vorstelle, die sich mit den diversen Ideologien dieses Jahrhunderts eingelassen hat, den rechten Arm den verschiedenen Regimes und den linken der Revolution gereicht hat (als Beweis dafür möge der italienischen Futurismus gelten); andererseits als Junggeselle, dem es nur um die eigene Sprache und das eigene Verhalten zu tun war. Man müsste ein Kriterium festlegen, mit dessen Hilfe man die Junggesellen-Avantgarde von der verheirateten unterscheiden könnte; die Avantgarde, die sich einen Ring an den Finger steckt und sich auf diese Weise definiert, ist verheiratet; die Avantgarde, die sich nicht festlegen will, sondern singt und tanzt, malt und Musik macht, ist ein Junggeselle. So weit ich mich erinnere, hat sich kein Anhänger der 77er Bewegung jemals als Avantgarde bezeichnet. Die einzigen, die sich als »Avantgarde« bezeichnet haben, waren die Anhänger des bewaffneten Kampfes, sie waren sehr eifrig bei der Erfindung von Abkürzungen, für die die Worte ›Avantgarde‹, ›bewaffnet‹, ›Kommunist‹ und ›Kämpfer‹ herhalten mussten. Obwohl es in diesen Jahren tatsächlich vor Akronymen wimmelte, mit denen sich die bewaffneten Gruppen bezeichneten, war das Wesen der Bewegung im Grunde verspielt und nicht terroristisch: so aß man zum Beispiel in einem Luxusrestaurant zu Abend, mit dem festen Vorsatz, nicht zu bezahlen, Tisch an Tisch mit einer Gruppe von Staatspolizisten, die von dem Vorhaben wusste, was aber dem Vergnügen keinen Abbruch tat, es im Gegenteil noch steigerte. Selten in der Geschichte hat es eine Bewegung gegeben, die die Macht und ihre Kommunikationskanäle so radikal abgelehnt hat.

XII

vorrede zur italienischen ausgabe

Wirkungsvolle Avantgarden bezeichnen sich selbst nicht als solche, doch unter welchen Bedingungen sind die Avantgarden im 20. Jahrhundert überhaupt entstanden? Picabia, Warhol und Artaud sind zwar grundverschieden, haben aber dennoch eine Gemeinsamkeit. Sie alle agierten vor dem Hintergrund des Krieges, dem Versagen jeglichen symbolischen Tausches. Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen den Junggesellen-Avantgarden und dem Krieg. In jeder Gesellschaft gibt es ein gleichbleibendes endemisches Maß an Wahnsinn, aber solange der Gesellschaftsvertrag es zulässt, dass die soziale Ruhe im Austausch gegen ein erträgliches Maß an Repression zunimmt, verlässt auch der künstlerische Ausdruck nicht die eingefahrenen Bahnen. Wenn aber ein katastrophales Ereignis wie der Krieg jede Form des gesellschaftlichen Tausches zunichte macht, nehmen auch extreme Ausdrucksformen dieses Recht in Anspruch. Sowohl im Zürich zur Zeit der Dada-Bewegung, als auch im Paris der Surrealisten oder in New York zur Zeit der Factory warfen die Einberufungen und die Schlachtfelder ihre dunklen Schatten auf die spielerischen Äußerungen der Avantgardekünstler. Wenn man also zu Recht von einem – wenn auch nicht automatisch sich ergebenden – Zusammenhang zwischen Avantgarde und Krieg sprechen kann, so liegt es auch auf der Hand, dass ganz Italien und Bologna im Besonderen jahrelang der Schauplatz eines ungewöhnlichen Krieges gewesen sind. Eines Krieges, der nie erklärt und auf unterschiedliche Weise geführt wurde, mithilfe von Bomben und in Form von Massakern – eines Krieges, der zwar die ganze Nation gezeichnet hat, dessen bevorzugtes Ziel jedoch Bologna war. Abgesehen von allen anderen Gründen, die zur plötzlichen Entstehung einer »Zerstreuten Avantgarde« führen, müssen wir im Fall von Bologna auch folgende These in Betracht ziehen: eine gewisse Anzahl von Menschen hat angesichts dieses nie öffentlich erklärten Krieges beschlossen, sich zu bewaffnen und in den Untergrund zu gehen; andere, die Mehrheit, haben – wie bei einem uralten Ritual – beschlossen, sich nackt auszuziehen, wie Wilde bei einem Initiationsritus Gesicht und Körper zu bemalen, Grammatik und Syntax zu vergessen, die bekannten Wörter in Anagramme zu verwandeln, in Versen zu sprechen, auf eine weit in der Vergangenheit zurückliegende Stufe zu regredieren und sich die fernste Zukunft auszudenken, alle Sprachen der Welt zu verwerfen, um sie neu zu erfinden, weil alle bisherigen Sprachen der Welt längst schon versagt hatten.

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Vorwort der ersten Auflage

Die Wiederentdeckung eines Mediums

Die nationalsozialistischen und faschistischen, bis heute noch unerreichten Meister der Massenmanipulation, die die Choreographie der Macht in Perfektion beherrschten, wußten durch das neue Instrument des Radios zu jedem Einzelnen zu gelangen, ihn als Einzelnen anzusprechen und ihn, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, einer nie kompakt in Erscheinung tretenden Masse einzugliedern. Das Radio, das jede Privatheit infiltrierte, weil eine einfache Verweigerung der Erreichbarkeit durch Informationslücken sich entdeckte, wurde in diesen Tagen aber auch zu einem Zeitzünder von bedeutender Wirkung – indem vor allem durch die BBC Lügen bloßgestellt, Informationslücken gefüllt, Gegenargumente geliefert wurden. Ein vorzügliches Beispiel für diese aufklärerische Qualität ist etwa jener Sendungstyp des BBC-Auslandsdienstes, der es sich zur Aufgabe machte, Hitlerreden sogleich nach deren Ausstrahlung durch andere Hitlerreden zu widerlegen. Das beste Instrument der Gleichschaltung erwies sich als das wirkungsvollste Mittel der Subversion. Diese Doppelpoligkeit des Mediums Radio, sein Doppelgesicht, mußte erst wieder entdeckt werden, nachdem die Stimme von innen und die Stimme von außen nicht mehr zu unterscheiden waren. Die Rundfunkmonopole mit der ihnen auferlegten Bürde der Ausgewogenheit und Objektivität waren Fundamente der jungen Demokratie und alterten mit ihr. Ihre selbst-, aber dennoch nicht freigewählte Aufgabe war es, mit größerer technischer Perfektion immer überzeugender affirmativ zu wirken. Didaktik und Unterhaltung mit ihren unscharfen Grenzen waren Mittel dazu. Die eifersüchtige Kontrolle der schließlich systemverstärkenden Institution durch die Exponenten des Systems begann seit den 60er Jahren das Monopolradio immer deutlicher zu paralysieren. Dieser Gefahr wurde nun in Österreich und in der BRD durch Gesetze, die die Unabhängigkeit der Rundfunkanstalten sichern sollten, zu begegnen gesucht – vor allem das sich stürmisch entwickelnde Fernsehen mit seiner audio-visuellen Überwältigung brachte den Gesetzgeber in Zugzwang. Im Italien der Regierungskrisen und Gesetzeslücken jedoch erinnerte man sich der subversiven Möglichkeiten des Mediums und nützte den technischen Fortschritt der Kommunikationsindustrie, um sie dem staatlichen Monopol entgegenzusetzen. Das Monopol der audiovisuellen Meinungsbildung war – auch wenn unter den Gesetzen des freien Marktes bald neue Medienkonzentrationen entstehen sollten – auf diesen vehementen Angriff der ›freien‹ Radios weder vorbereitet, noch konnte es ihn in gemäßer Weise parieren. Denn die unbeschwerten Neuentdecker des Mediums Radio fühlten sich nicht als politische Propheten, die durch ihre Ideologie einordenbar und dingfest zu machen gewesen wären, sondern als Experimentatoren, die mit der Lust am Spiel, an der Überraschung, an der Provokation die Grenzen des Mediums zu erkunden versuchten, im-



die wiederentdeckung eines mediums

mer unterwegs zu neuen Horizonten – auch wenn diese in der Vergangenheit lagen – und immer bereit, alles auch wieder in Frage zu stellen. Sie waren nicht zuletzt Künstler, ohne sich allerdings in den Zoo fiktiver Unverbindlichkeit sperren zu lassen. Dadurch waren die Radiomacher der 70er Jahre in Italien für die Institutionen so schwer faßbar und erst durch Verbot und Gewalt an-greifbar, also durch untaugliche Mittel systemkonformer Bewältigung neugestellter Aufgaben. Schule gemacht haben schließlich nicht die Institutionen, sondern die, die sie in Frage stellten. Wien, August 1989

Wolfgang Greisenegger

La vicenda di chi cerca un’altra via per le Indie e proprio per questo scopre nuovi continenti è molto vicino al nostro modo di procedere. Das Geschick desjenigen, der einen anderen Weg nach Indien sucht und gerade deswegen neue Kontinente entdeckt, ist unserer Vorgangsweise sehr nahe.

A/traverso

Daß die Dialektik Arbeit und der Empirismus Genuß ist, charakterisiert beide ausreichend. Gilles Deleuze

DAS LABORATORIUM

1977 nannte der Fiat-Präsident Gianni Agnelli Italien »das interessanteste wirtschaftliche, politische und soziale Laboratorium des Westens«.1 Wenige Monate zuvor hatte ein anderer einflußreicher Politiker der westlichen Welt, der amerikanische Sicherheitsberater Brzezinski, dasselbe Bild gebraucht: »In brief, contemporary America is the world’s social laboratory.«2 Wer diese Metapher nun wirklich als erster benützte, läßt sich nicht feststellen. Vor allem aber: Machte da bloß eine Banalität die Runde, oder sagt dieser Vergleich tatsächlich etwas über die soziale Wirklichkeit aus und nicht nur über jene, die ihn anstellen? In Versuchslabors kann es stets zu unkontrollierten Entwicklungen kommen, zu Explo­ sionen, die durch unvorhergesehenes Verhalten der verschiedenen Elemente ausgelöst werden, aber auch zu überraschenden Entdeckungen – und insofern scheint der Vergleich für Italien zumindest zutreffend. Ein Laboratorium also. Will man den Zustand der italienischen Gesellschaft in den 70er Jahren verstehen, muß man auf eine Welle von sozialen Auseinandersetzungen zurückgehen, die 1968 an den Universitäten ihren ersten Höhepunkt fanden und im ›heißen Herbst‹ des Jahres 1969 kulminierten.3 Zuvor galt das Land als Bilderbuchbeispiel eines Wirtschaftswunders. Doch die grundlegenden Probleme wie das traditionelle Nord-Süd-Gefälle wurden durch den Boom der Nachkriegszeit nur scheinbar gelöst: Die rasche Industrialisierung verschärfte die alten Konflikte und erzeugte neue, die sich dann in den heftigen Arbeitskämpfen Ende der 60er Jahre entluden. Die folgende Dekade stand ganz im Zeichen einer ökonomischen und sozialen Krise: Wirtschafts- und Währungskrise, massenhafte Arbeitslosigkeit vor allem unter den Jugendlichen, eine extrem hohe Inflationsrate, Korruption und ein Prozeß der sozialen Desintegration, die enorme Ausmaße annahm. Dazu kommt – was vielleicht noch schwerer wiegt – ein allgemeiner Verfall des Ansehens der demokratischen, institutionellen Strukturen des Landes. Aus der Perspektive eines Laboratoriums betrachtet freilich, in dem nichts so naturwüchsig vor sich geht, wie es bei gesellschaftlichen Prozessen manchmal den Anschein hat, stellt sich die Krise als Möglichkeit der Veränderung dar. Allerdings in verschiedene Richtungen. 1 »Italy could be seen as the most interesting economic, political and social laboratory in the West.« Giovanni Agnelli, »Italy, International Business, and International Politics«, in: The Atlantic Community Quarterly, Vol. 15, Nr. 3, Frühjahr 1977, S. 291. 2 In: Foreign Policy, Nr. 23, 1976, S. 92. Was der Sicherheitsberater allerdings von Italien dachte, kann man einem Brief entnehmen, den er im März 1977 an seinen Präsidenten Jimmy Carter schrieb: »that drift to the left in Italy was ›potentially the greatest political problem we now have in Europe‹«, zit n. Zbigniew Brzezinski, Power and Principle. Memoirs of the National Security Adviser 1977–1981, New York 1983, S. 312. 3 Darüber berichtet der berühmte Roman von Nanni Balestrini, Vogliamo tutto, Mailand 1971; dt: Wir wollen alles, München 21974.



das laboratorium

Auf der einen Seite wird eine Restrukturierung des industriellen Systems in Gang gesetzt, um zu einem ökonomischen Gleichgewicht zurückzufinden, das einst auf niedrigen Löhnen und einer intensiven Produktivitätssteigerung basierte, aber durch die Lohnkämpfe der 60er Jahre empfindlich gestört wurde. Technologische Erneuerung, Einführung halbund vollautomatischer Produktionsstraßen, Dezentralisierung der Industrie und Computerisierung des Dienstleistungssektors sind die Hauptmerkmale dieser Restrukturierung. Sie gehen Hand in Hand mit einem Abbau des Beschäftigungsniveaus, einem Angriff auf die Gewerkschaftsbewegung und einem Niedergang der Sozialpolitik. So entstehen Anfang der 70er Jahre vor allem in den Großstädten riesige Bereiche von ›Marginalisierung‹. Die aus der großen Industrie verwiesenen Schichten, die sich auf einem ›balkanisierten‹ Arbeitsmarkt verkaufen müssen und Schwarzarbeit, Heimarbeit oder andere nicht-garantierte4 Arbeiten verrichten, spielen zwar eine entscheidende Rolle im gesamtgesellschaftlichen Produktionszyklus, sind aber ohne Interessenvertretung und von jeder politischen Einflußnahme ausgeschlossen. Doch bilden sie das Ferment mikro-sozia­ ler Konflikte, die von nun an die ganze Gesellschaft durchziehen. Enttäuscht von der großen Kommunistischen Partei, die am Höhepunkt ihrer parlamentarischen Macht Zuflucht zum Modell des ›Historischen Kompromisses‹ nimmt und zur heftigsten Verfechterin der Austeritätspolitik der konservativen Regierung wird, suchen diese Schichten einen anderen Weg aus der Krise. An die Stelle der institutionellen Beteiligung und des traditionellen politischen Kampfes um die Eroberung staatlicher Macht treten zunehmend Strategien, die darauf gerichtet sind, die unmittelbaren Lebensbedingungen zu verändern. Gegenüber einer Situation, die vor allem den Jugendlichen keine realistische Perspektive bietet, jemals als produktive Mitglieder in das bestehende System aufgenommen zu werden, entwickeln sich neue, informelle und nicht-bürokratische Formen der Politik, ungewöhnliche Kampfformen, die den sogenannten Entscheidungsträgern bisweilen die Initiative entreißen. Wie weit das geht, zeigten die Hausfrauen, die zuerst – 1974 – in einem Referendum entschieden, daß sie es nicht nötig haben, sich von der Unauflöslichkeit der Ehe beschützt zu fühlen, und dann in Stadtteilkämpfen die Höhe der Mieten, der Gas- und Stromrechnungen selbst herabsetzten. In der Tat stellt sich das herkömmliche Politikverständnis in dem Maße als überholt heraus, wie direkte Konfliktaustragungs- und Selbstorganisationsformen an Bedeutung gewinnen. Die neuen sozialen Bewegungen,5 die sich ›autonom‹ nennen und ohne Parteiapparate, ohne Programme und politische Führer agieren, versuchen die Machtverhältnisse auf minimaler Ebene in Frage zu stellen. Dem institutionellen Zugriff auf alle Lebensbereiche soll durch neue Formen kommunitärer Organisationen und persönlicher Beziehungen, durch ein Universum neuer Werte und Verhaltensweisen begegnet werden. ›Autonom sein wollen‹ heißt denn vor allem auch, sich von den politischen und kulturellen Konformismen abzusetzen und in erster Person gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. 4 Der Erfolg dieses Ausdrucks rührt nicht nur von seiner ökonomischen, sondern gerade auch von seiner politischen Prägnanz: So garantierte etwa die Mitgliedschaft bei der Kommunistischen Partei zumindest in den Industriestädten des Nordens lange Zeit einen fixen Arbeitsplatz. 5 Vgl. dazu Sergio Bologna, »La tribù delle talpe«, in: Collettivo di ›Primo Maggio‹, La tribù delle talpe, Mailand 1979, S. 7–40.

das laboratorium



Angesichts einer immer absurder werdenden gesellschaftlichen Realität aber, die nicht nur durch Arbeitslosigkeit, verschärfte soziale Spannungen und eine zunehmende Zerrüttung der Institutionen gekennzeichnet ist, sondern in der täglich neue Skandale enthüllt werden, die das Wunder der zum Staat gewordenen Geheimgesellschaft bereits erahnen lassen;6 in der durch eine Übereinkunft zwischen den Gewerkschaften und der Industriellenvereinigung festgelegt wird, sieben Feiertage abzuschaffen,7 während Paul VI. vor der UNO eine ›marxistische‹ Rede hält und der neofaschistische Abgeordnete Covelli dem Fernsehpublikum mit äußerstem Pathos und ausgebreiteten Händen zuruft: »Italiener, Ihr habt vor Euch ein Schauspiel der Trostlosigkeit« – angesichts einer solchen Wirklichkeit entsteht neben unkonventionellen Formen der politischen Auseinandersetzung auch das Bedürfnis nach einer Poesie der Veränderung: die Veränderung der Wirklichkeit verlangt nach ihrer eigenen Poesie. Daß die Poetik der neuen Kampfformen gerade in Bologna, dem Disneyland kommunistischer Regionalverwaltung, geschrieben wurde, gehört zur Ironie der Geschichte. Seit Jahrzehnten verfügen die Kommunistische Partei hier über eine solide Mehrheit und die Bologneser über einen gewissen Wohlstand, der genauso entschieden verteidigt wird, wie die sozialen Konflikte wegverwaltet und alle Initiativen, die sich außerhalb der großen politischen Lager entfalteten, eingeschläfert werden. Mitte der 70er Jahre aber entsteht in Bologna ein Laboratorium besonderer Art. Eine kleine Gruppe junger Intellektueller, Künstler und Studenten sucht Modelle kultureller Veränderungen zu entwickeln, in denen sich die kulturrevolutionären Vorstellungen der ›Neuen Linken‹ mit der spätkalifornischen Vision einer sanften technologischen Revolution überkreuzen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht das Verhältnis von künstlerischer Avantgarde und Massenmedien – zweier sich gegenseitig auffressender Schlangen;8 die Bedeutung der Medien für eine kulturelle Transformation und die Aktualität der historischen Avantgarde unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft werden zum entscheidenden Terrain ihrer Erkundungen. Nach dem Gesetz, das ›seines Wissens‹ zuerst Viktor Šklovskij formuliert hat, »wird in der Geschichte der Kunst das Vermächtnis nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Onkel auf den Neffen übertragen«.9 So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß die bologneser Gruppe bei ihrem Unternehmen weniger vom italienischen Futurismus und den neo-avantgardistischen Strömungen Italiens in den 60er Jahren, wie ›Gruppo 63‹, beeinflußt ist als von den Erfahrungen der historischen Avantgarde.10 Gerade weil die 16 Unvergeßlich etwa sollten die Mysterien der Loge P2 bleiben. 17 Anfang 1977 wurden mit Zustimmung des Vatikans die kirchlichen Feste Hl. Josef, Christi Himmelfahrt, Fronleichnam, Hll. Peter und Paul, das Dreikönigsfest und die weltlichen Festtage des 2. Juni und 4. November ›zur Arbeit freigegeben‹. Unter Berufung auf die durch derartige Unterbrechungen des industriellen Rhythmus verminderte internationale Konkurrenzfähigkeit wurde so die wöchentliche Arbeitszeit um mehr als eine Stunde erhöht. Die religiösen Traditionen mußten der Produktivitätssteigerung weichen. 18 Dieses Bild stammt von Omar Calabrese, »Fabbriche del linguaggio ed espropriazione semiologica delle classe subalterne«, in: Pio Baldelli (Hrsg.), Comunicazione di massa, Mailand 1974, S. 139 f. 19 Viktor Šklovskij, »Literatura i Kinematograf«, Berlin 1923, S. 23; zit. n. Victor Erlich, Russischer Formalismus, München 1964, S. 291. Die Transkription der russischen Eigennamen wurde in den bibliographischen Angaben nicht vereinheitlicht. Sie folgt der jeweils zitierten Ausgabe. 10 Zur Bezeichnung ›historische Avantgarde‹ vgl. Hans Magnus Enzensberger, »Die Aporien der Avantgarde«, in: ders., Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt a. M. 1963, S. 80.



das laboratorium

künstlerischen Experimente des frühen 20. Jahrhunderts die ihnen vorbehaltenen oder zugewiesenen Versuchsfelder verlassen haben und durch die Massenmedien einer zwar fragmentarischen, aber gleichzeitig globalen Verbreitung ausgesetzt werden, erhält die Auseinandersetzung mit ihnen eine eigentümliche Virulenz. Denn anders als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts findet sich Avantgardistisches jetzt überall: mit der Popmusik, den psychedelischen Bildern von Yellow Submarine und tausend Dosen Campbell’s Tomato Soup infiltrieren sich die Schöpfungen der Avantgarde in die Alltagskultur der Massen. Doch die Massenmedien setzen nicht nur eine ›mechanische‹ Verbreitung der Avantgarden ins Werk; sondern, wichtiger noch, sie funktionieren schon als Modell für jene frühe, radikale Veränderung der Sprache und der Wahrnehmung, mit der die historische Avantgarde experimentierte, um die Kunst in Aktion, in Kommunikation aufzulösen. Nach ihrer großen Zeit aber verkam die Avantgardekunst immer mehr zum Materialdepot für eine Kommunikationsindustrie, die ihre Verfahren und Resultate zu eigenen Zwecken verwendete. Erst in der weltweiten Jugendbewegung der 60er Jahre tauchte die Thematik der Beziehung von Kunst und Leben in zugespitzter Weise wieder auf, und sie scheint ihre Authentizität nicht zuletzt aus den von den Massenmedien in Umlauf gebrachten utopischen Entwürfen der künstlerischen Avantgarden zu beziehen. Von Anfang an verschreibt sich das bologneser Kollektiv diesem alten Gegensatz zwischen Kunst und Leben. Rund um die Zeitschrift A/traverso, die seit 1975 in zwangloser Folge erscheint,11 entwickelt sich eine lebhafte Diskussion über die Bedeutung der avantgardistischen Konzepte für die Gegenwart und zugleich eine Reihe von praktischen Initiativen, in denen diese Konzepte weiterentwickelt werden. »Wir wollen ein theoretisches Instrument aufbauen, einen Ort der sprachlichen (Trans)Formation, der Textproduktion, eine Sprache der Befreiung, die sich auch durch die Befreiung der Sprache ergibt.«12

Das Kollektiv A/traverso spricht nicht mehr von der Sprache als Literatur, vom Kunstwerk, sondern von der Textproduktion als Ort möglicher Veränderung. Es ist eine im Handeln befindliche Sprache, mit der A/traverso die Wirklichkeit auffaßt, kein bloß begleitender Kommentar. Und es wäre verfehlt, durch Reduktion auf rein ästhetische Debatten ihr eigentliches Vorhaben zu verharmlosen. Die Zeitschrift bewegt sich in jenem unwegsamen Gelände, wo die Distanz zur Realität zu verschwinden droht und die theoretische Analyse ins Getümmel politischer Praxis gerät.

11 Auf den ersten Blick scheint dieser Titel wie ein redundanter Rebus zu funktionieren: attraverso bedeutet ›quer‹, ›durch‹, ›schräg‹, ›schief‹, aber auch ›schlecht‹, ›falsch‹; attraversare: ›durchqueren‹, ›durchkreuzen‹, ›durchreisen‹; traversa: ›Querbalken‹ und eben ›Schrägstrich‹, ›Querstrich‹. Neben all diesen Bedeutungen aber spielt der Name der Zeitschrift auf den von Gilles Deleuze und Félix Guattari gebrauchten Begriff der ›Transversalität‹ an: »Sie ist es, die etwa im Zug es ermöglicht, die verschiedenen Perspektiven einer Landschaft nicht zu vereinheitlichen, sondern sie gemäß einer eigenen Dimension kommunizieren zu lassen, während sie gemäß den ihren nichtkommunizierend bleiben.« Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 134. 12 »Vogliamo costruire uno strumento teorico, un luogo di (tras)formazione linguistica, di produzione testuale, un linguaggio della liberazione che si dia anche a/traverso la liber/AZIONE del linguaggio.«, »Proposta«, in: A/traverso, Jan. 1976, S. 4.

das laboratorium



Und es wäre verfehlt, durch Reduktion auf rein ästhetische Debatten ihr eigentliches Vorhaben zu verharmlosen

10

das laboratorium

Gleichwohl laufen die Texte aus A/traverso Gefahr, monoton zu erscheinen.13 Indessen funktionieren sie alle im Modus der Disparatheit. Disparatheit zwischen der theoretischen Anstrengung und dem aggressiven Enthusiasmus einer praktischen Intelligenz; Disparatheit zwischen der verbalen Sprache und jener dem Verhalten impliziten; Disparatheit schließlich zwischen Intention und Wirkung, zwischen kleinen, minimalistischen Versuchen und übermächtigen Reaktionen. Was die Stärke und Originalität der Erfahrungen des Kollektivs A/traverso ausmacht, ist die Bestimmtheit, mit der die Stereotypien einer der Gesellschaft entgegengesetzten Strategie aufgegeben werden. An ihre Stelle treten eine radikale Analyse und der Voluntarismus praktischer Versuche, die avantgardistischen Experimente unter den Bedingungen der elektronischen Revolution weiterzuführen: in einer Praxis der subversiven Kommunikation. Als unter diesem Titel die ersten Texte publiziert wurden,14 sprach Umberto Eco davon, daß man der Versuchung nicht widerstehen könne, in den Unternehmungen dieser Gruppe das bislang letzte Kapitel der Geschichte der Avantgarde zu sehen.15

13 Alle Texte des Kollektivs A/traverso werden in den Fußnoten im italienischen Original wiedergegeben, und manchmal vielleicht werden sie zu extensiv zitiert; doch sie geben zumindest einen Eindruck von der Lust an der Sprache – aber auch an Schlagworten –, die charakteristisch für diese Gruppe ist. Mein Dank gilt an dieser Stelle ganz besonders Dieter Federspiel, der alle Übersetzungen durchgesehen und durch viele Verbesserungsvorschläge oft überhaupt erst lesbar gemacht hat. 14 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo. Sulla strada di Majakovskij: testi per una pratica di comunicazione sovversiva, Mailand 1976. Es gibt eine dt. Übersetzung, der hier jedoch nicht immer gefolgt wird: Kollektiv A/traverso, Alice ist der Teufel. Praxis einer subversiven Kommunikation. Radio Alice (Bologna), Berlin 1977; aus dem Ital. v. Karl Friedrich Kassel und Francesco Carotta. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe. 15 Umberto Eco, »La comunicazione ›sovversiva‹ nove anni dopo il sessantotto«, in: Corriere della Sera, 25. 2. 1977, S. 3.

Heute steht es ganz eindeutig fest, daß einer Dichter sein kann, ohne je einen einzigen Vers geschrieben zu haben, und Dichterisches sich auf alltäglichsten Straßen, in vulgären Theaterstücken findet und überhaupt überall, wo buntes Treiben herrscht. Tristan Tzara1 Es gibt aber eine Literatur in der Tiefe, die ein harter Kampf um eine neue Sehweise ist, mit fruchtlosen Erfolgen, mit nötigen bewußten ›Fehlern‹, mit entschlossenen Rebellionen, Verhandlungen, Gefechten und Toden. Solche Tode sind dabei in der Regel wirklich, nicht metaphorisch. Tode von Menschen und Generationen. Jurij Tynjanov2

AUF DER SUCHE NACH EINER »POETIK DER VERÄNDERUNG«

I. »Mao più dada« (Mao plus Dada).3 So seltsam die Kombination dieser beiden Namen trotz ihres Wohlklangs auch anmutet, sie kommt nicht von ungefähr. »Mao ist ein alter Dada« sagen die Bologneser, und in der Tat haben viele seiner Aussprüche, wenn sie nur mit entsprechender Distanz aufgenommen werden, etwas ganz und gar Dadaistisches an sich. Wird dem großen Vorsitzenden schließlich die Frage in den Mund gelegt, »ob man nicht eines Tages den Dadaismus einführen müsse«,4 dann richtet die Ironie sich gegen jene, die nichts von Maos avantgardistischen Neigungen bemerkt haben; und natürlich 1 Tristan Tzara, »Essai sur la situation de la poésie« (1933), zit. n. Maurice Nadeau, Die Geschichte des Surrea­ lismus, Reinbek 1965, S. 40. 2 Jurij Tynjanov, »Velemir Chlebnikov«, in: ders., Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur, Frankfurt a. M. 1967, S. 62 f. 3 »mao-dadaismo: scrittura/pratica antiistituzionale«, in: A/traverso, quaderno 1, Okt. 1975, S. 25. 4 »Vengo al fatto che il marxismo ha anch’esso una nascita, una crescita e una morte. Questo può sembrare assurdo ma dacché Marx ha detto che tutto ciò che sopraggiunge deve morire, perché non applicarlo al marxismo stesso? Dire che non deve morire è metafisico. Naturalmente, la morte del marxismo significa che qualcosa di superiore l’ha sostituito.« Mao tse-tung, »Dovremo un giorno adottare il Dadaismo?«, Conferenza inedita di cui esiste solo questo estratto (vero), Schram 1975; zit. n. Maria A. Macciocchi, Dopo Marx Aprile, (mit einer Einleitung v. Leonardo Sciascia), Mailand 1978, S. 36 f. (»Ich komme nun zur Tatsache, daß der Marxismus geboren wurde, aufgewachsen ist und sterben wird. Das mag absurd scheinen, aber da Marx gesagt hat, daß all das Kommende auch sterben muß, warum sollte man dies nicht auf den Marxismus selbst anwenden? Zu behaupten, daß er nicht sterben muß, ist metaphysisch. Natürlich bedeutet der Tod des Marxismus, daß er von etwas Höherem ersetzt wurde.«)

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poetik der veränderung

gegen die Ende der 60er Jahre in der westlichen Hemisphäre weitverbreitete maoistische Lehre, derzufolge die chinesische Kulturrevolution das Modell für jede gesellschaftliche Veränderung abzugeben habe. Was aber hat umgekehrt der Dadaismus mit Mao zu schaffen? Auf dem Schriftstellerkongreß von Orvieto im April 1976 erklärt das Kollektiv A/traverso: »Heute erscheinen wir – hier – im Gehege der literarischen Institution, um zu verschwinden. Wir sagen DADA und meinen unsere Aufstellung anderswo. Heute verkünden wir – außerhalb von hier – [. . .] die Geburt des MAO-DADAISMUS.«5

Ein weiterer Aufguß6 des Dadaismus? Das ›Gehege‹ des etablierten Literatur- und Kunstbetriebs zu verlassen ist jedenfalls eine alte dadaistische Intention. Die Dadaisten hatten der Kunst – als einer vom Alltagsleben getrennten Sphäre – den Kampf angesagt und diese Trennung einer radikalen, ja bisweilen handgreiflichen Kritik unterworfen. Wie de Sade bestanden sie auf dem Recht, ›alles zu sagen‹, sie denunzierten die ›Unschuld der Wörter‹ und sahen im herrschenden Sprachgebrauch die schlimmste aller Konventionen. Ihre Abneigung gegen die gängige Sprache und ihre systematischen Attacken gegen den bestehenden Sinn und seine Hüter führten sie zu einer nicht mehr mit Vernunft bewaffneten Sprache. Die Ersetzung des Sinns durch den Nicht-Sinn war die eigentliche dadaistische Errungenschaft: Der Glaube, das Wort sei für immer an eine Idee gekettet und das Zeichen an das bezeichnende Objekt, war durch Dada7 erschüttert. Im Skandal8, ihrer zweiten großen Innovation,9 eskalierte die Absicht der Dadaisten, der Kunst den Garaus zu machen, und fand zugleich ihren angemessensten Ausdruck:10 Das Publikum wurde einzig zusammengerufen, um ihm jedes Werk zu entziehen und ihm derart die Abschaffung der Kunst unmittelbar vor Augen zu führen. 15 »Oggi – qui – nel recinto dell’istituzione letteraria noi compariamo per scomparire. / Diciamo DADA ed intendiamo la nostra collocazione altrove. Oggi – fuori di qui – (. . .) dichiariamo la nascita del MAO-DADAISMO.«, »Scrittura trasversale e fine dell’istituzione letteraria«, in: A/traverso, quaderno 3, Juni 1976, S. 4. 16 Vgl. etwa Sprache im technischen Zeitalter, Heft 55: Dada – Neodada – Kryptodada – ?, 1975. 17 »das kindlich wiederholte Demonstrativpronomen, das der Dadaismus als Parole sich erkor.« Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 521. 18 Zur Verwundbarkeit des Theaters durch den Skandal vgl. Dietrich Schwanitz, Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit. Untersuchungen zur Dramaturgie der Lebenswelt und zur Tiefenstruktur des Dramas, Meisenheim am Glan 1977, S. 10 ff. 19 Walter Benjamin hat auf die Verwandtschaft der dadaistischen Techniken mit dem Film hingewiesen: Beide rufen vermöge ihrer »taktilen Qualität« eine »Chokwirkung« hervor, erstere eine »moralische«, letzterer eine »physische«; vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 42 ff. 10 Der Skandal wurde nicht nur inszeniert, manchmal wurde er auch erfunden. Walter Serner gelang es 1919/20, eine ganze Reihe von fingierten Berichten über gewisse dadaistische Vorfälle in der Tagespresse unterzubringen. Einige anschauliche Beispiele finden sich in: Walter Serner, Hirngeschwuer. Texte und Materialien. Walter Serner und Dada, Erlangen 1977, S. 57 ff.

»Neues von Dada Der erste Weltkongreß der Dadaisten, der seit Wochen in der Grand Salle des Eaux Vives zu Genf tagt, fand kürzlich ein jähes Ende: er wurde polizeilich aufgelöst und wird zweifellos mehreren Teilnehmern ein gerichtliches Nachspiel eintragen. Es kam nämlich zwischen Tristan Tzara, dem Gründer des Dadaismus, und dem bekannten dadaistischen Philosophen Serner, dem Vorsitzenden des Kongresses, zu einem heftigen Wort-

mao und dada

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Dennoch wählte Dadas zersetzender Geist, dessen Nihilismus durch einen Sieg der Spartakisten wohl begünstigt worden wäre,11 erneut den Boden der Kunst: Die Vertauschung des Kunstwerks mit der Aktion seiner Zerstörung schloß eine gegenläufige Bewegung mit ein – und manifestierte sich selbst als Kunstwerk. Daß Dada zur Kunst zurückzukehren gezwungen war, wird nun von A/traverso als historisch begründbare Unmöglichkeit interpretiert, künstlerische Tätigkeit in eine »Praxis wirklicher Veränderung« zu transformieren. Auch wenn im Dadaismus die eruptive gesellschaftliche Situation des damaligen Europa, die »Zügellosigkeit der Massen«12 zum Ausdruck gekommen sei, konnte das Experiment des absoluten und folglich abstrakten Bruchs mit der Kunst nur einen künstlichen Ort finden und mußte zwangsläufig ins Ghetto der Utopie abdriften. Heute jedoch gewinnen die dadaistischen Intentionen neues Leben. »Ripartiamo della lezione del dadaismo« (Gehen wir wieder von der Lektion des Dadaismus aus)13 heißt es



wechsel, in dessen Verlauf Serner einen Browning zog und vier blinde Schüsse auf Tzara abgab, der so viel Geistesgegenwart besaß, sofort vom Stuhl zu sinken. Die Folge war jedoch, daß die zahlreich besetzte Galerie, die nicht daran zweifelte, daß scharf geschossen worden war, eine Panik ergriff, die nur durch das rasche und umsichtige Eingreifen einiger kluger Köpfe noch rechtzeitig eingedämmt werden konnte. Polizeiorgane, die unmittelbar darauf erschienen, räumten den Saal und brachten Serner und Tzara auf das in der Nähe befindliche Kommissariat, von wo sie, nach kurzem Verhör wieder freigelassen, von den auf der Straße wartenden Dadaisten im Triumphe auf den Schultern bis zu ihrem Hotel getragen wurden. Tags darauf erschien zur allgemeinen Heiterkeit des Publikums in der ›Tribune de Genève‹ ein geharnischter Artikel (freilich als bezahltes Inserat), in dem der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, daß der Kongreß in geheimer Sitzung die Resolution gefaßt habe, die Verwendung von blinden Schüssen in dadaistischen Diskussionen sei nicht nur erlaubt, sondern sogar, weil erfrischend, erwünscht, allerdings nur unter der Bedingung, daß der Schießende sofort eine völlig neue dritte Meinung annehme. Man darf immerhin gespannt sein, welcher Meinung die Genfer Gerichte sein werden.«

»Dada-Ball in Genf Am 10. März fand der mit riesiger Reklame angekündigte Dada-Ball statt, der das Viele und Nochnichtdagewesene, das er versprach, sonderbarerweise auch wirklich hielt. (. . .) Kurz vor Mitternacht wurden zu Hunderten kleine Dadapfeifen und Dadaflöten verkauft, die durchaus neue Quargeltöne von sich gaben, so daß im Nu Musik und Gespräche in einem ohrenbetäubenden Lärm untergingen. In diesem Augenblicke jedoch erschien der Manager des Balls, der Dadaistenführer Dr. Serner, im Frack, mit einer roten Weste auf dem Podium, auf dem er einen überlebensgroßen Papier-maché-Mops postierte, ihm eigenhändig das Maul öffnete und einen Klaps auf den Kopf versetzte, worauf aus dem Hals des lieblichen Tiers eine alles übertönende Detonation erfolgte. Sofort erschienen drei als Polizisten verkleidete Dadaisten und verhafteten Dr. Serner, schleiften ihn in den Saal und verurteilten ihn zur Arrangierung einer Dada-Polonaise, welcher Aufgabe er sich in einer Weise entledigte, die solche Bedenken erregte, daß die echte Saalpolizei einschreiten mußte und fast den Ball sistiert hätte. Nun, der Konflikt wurde beigelegt, der Ball ging weiter und endete um fünf Uhr morgens mit einer gewaltigen Dada-Apotheose: zwanzig Dadaisten schossen aus Kinder-Revolvern minutenlang auf Dr. Serner, der ununterbrochen stöhnte: Ah, c’est bon! Encore! Encore! Das war wirklich noch nicht da.« 11 Den Zusammenhang zwischen Scheitern des Dadaismus und Mißlingen der Deutschen Revolution beschreibt J.-F. Dupuis (d. i. Raoul Vaneigem), Der radioaktive Kadaver. Eine Geschichte des Surrealismus, Hamburg 1979, S. 5–10. 12 »Negli anni venti la sfrenatezza è nelle piazze. [. . .] Il dadaismo, il futurismo, sono espressione di questa sfrenatezza collettiva«, »informazione e appropriazione«, in: A/traverso, quaderno 2, März 1976, S. 14. Wie der deutsche Tumult im »überlangen Jahrzehnt von Weimar« den »erleuchteten« Formeln vom Totalen Staat weichen mußte, analysiert Jean Pierre Faye, Theorie der Erzählung: Einführung in die ›totalitären Sprachen‹, Frankfurt a. M. 1977, (hier S. 156). 13 »scrittura trasversale e fine dell’istituzione letteraria«, in: A/traverso, quaderno 3, Juni 1976, S. 4.

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in A/traverso: »jene Trennung von Kunst und Leben, die der Dadaismus im (illusorischen) Reich der Kunst überwinden will«14, zu kritisieren aber kann nicht länger Sache einer kleinen Künstlergruppe sein. Denn an deren Stelle treten unter den Bedingungen durchgesetzter Kultur- und Bewußtseinsindustrie immer größer werdende gesellschaftliche Kollektive. Auch geht es nicht mehr darum, so A/traverso weiter, Bruchstücke des Alltagslebens zu Kunstwerken zu erklären, um derart die Kunst als gesellschaftliche Institution zu negieren. Vielmehr gilt es die Verfahren und Kunstgriffe des Dadaismus im alltäglichen Leben selbst anzuwenden. Erst eine solche Praxis, die nicht mehr in der Kunst nach Veränderungen sucht, sondern mit künstlerischen Mitteln direkt in den Alltag eingreift, »lascia segni nella organizzazione della vita« (hinterläßt Zeichen in der Lebensweise)15. Zeichenproduktion und Veränderung des Lebens also sollen sich überschneiden. Das erinnert an die Benjaminsche Forderung nach einer »Literarisierung der Lebensverhältnisse«16. Während Benjamin aber damit die Möglichkeit einer kollektiven Kunstproduktion anvisierte, handelt es sich hier um die Suche nach einer Zeichenproduktion, die Poesie im weitesten Sinne, d. h. neue Lebensformen hervorbringt: »So durch/quert die Schreibweise, wobei sie zur mao-dadaistischen Aktion wird, die getrennten Ordnungen des Diskurses und des Verhaltens.«17

Die organisierende Funktion dieser ›Schreibweise‹, bei Benjamin noch im Sinne einer Schule, die andere Schreibende zur Produktion anleiten soll,18 erweitert sich jetzt, im Zeitalter der elektronischen Medien und unter den Voraussetzungen einer umgewälzten Konstellation von Intelligenz und Massen. Sie richtet sich auch auf andere Sprachen als die der Wörter, auf Sprachen, die genauso wie jene Teil der sozialen Interaktion sind, eben aufs alltägliche Verhalten.19 Dort liegt für A/traverso der Ort möglicher Veränderung: nicht auf der Ebene der Politik, der Parteidisziplin und der Wahrheit, sondern auf dem Boden des Alltags. Und Mao, der große Organisator mit avantgardistischem Faible, gibt gute Ratschläge: »Heute suchen wir nach einer neuen Form. Mao-Dadaismus ist der Gesichtspunkt, den der alt-junge Vorsitzende im Gespräch mit der Enkelin ausdrückt, wenn er ihr rät, nicht zu den Versammlungen zu gehen, und eine Lobrede hält auf die Revolte gegen die gutbürgerliche Erziehung, gegen die politischen Verpflichtungen und gegen die institutionelle Beteiligung.«20 14 »quella separazione fra arte e vita, che il dadaismo vuole abolire nel regno (illusorio) dell’arte«, ebd. 15 Ebd. 16 Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent« (1934), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/2, Frankfurt a. M. 1977, S. 688. 17 »La scrittura a/traversa così, facendosi azione mao-dadaista, gli ordini separati del discorso e del comportamento.«, »Sulla strada di Majakovskij«, in: A/traverso, quaderno 3, Juni 1976, S. 3. 18 Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent«, a. a. O., S. 696. 19 »Natürlich hat hier ›Schreibweise‹ eine sehr weite Bedeutung, man schreibt mit dem Radio oder mit dem Körper, man schreibt, indem man auf alle möglichen Weisen dem ›revolutionären Verlangen‹ (. . .) Ausdruck verleiht«, kommentiert Umberto Eco, »La comunicazione ›sovversiva‹ nove anni dopo il sessantotto«, in: Corriere della Sera, 25. Feb. 1977, S. 3. 20 »Oggi cerchiamo una nuova forma. Mao-dadaismo è il punto di vista che il presidente vecchio-bambino esprime nel dialogo con la nipote quando le consiglia di non andare alle assemblee, e fa l’elogio della rivolta contro la buona educazione civile, contro la politica-dovere, contro la partecipazione istituzionale.«, »maodadaismo: scrittura/pratica antiistituzionale«, a. a. O., S. 24 f.

Im Mao-Dadaismus nimmt das poetische Programm von A/traverso erste vage Gestalt an

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Im Mao-Dadaismus nimmt das poetische Programm von A/traverso erste vage Gestalt an. Neben dem Nicht-Sinn werden die ebenfalls den Dadaisten entlehnten Techniken des Skandals und der Provokation seine wichtigsten Instrumente. Allerdings soll sich deren Wirkung nicht mehr darin erschöpfen, ein Kunstpublikum mit Werken oder gerade durch ihre Abwesenheit zu verhöhnen. ›Kulturelle Veränderung‹ ist das Ziel, und freies Spiel mit den Codes und Bedeutungen wird zum strategischen Terrain, das weit über den Rahmen der institutionellen Kunst hinausweist. Genaueres über einige mao-dadaistische Aktionen später. Zunächst aber mit den jungen Bolognesern zurück zu den Erfahrungen der 20er Jahre: »Schreiben als Zerstörung, Schreiben als Vorrang der Autonomie vor dem Institutionellen, als Vorrang der kreativen Intelligenz vor der akkumulierten und kodifizierten. Dies der ursprüngliche Hinweis der historischen Avantgarde. Bruch der Beziehung zwischen Aktivität und Spektakel, Kritik am spektakulären Werkcharakter. Das ist Dada. Rekonstruktion der Beziehung zwischen Schreibweise und Praxis, Schreiben als politische Praxis. Das ist Majakovskij, seine Zurückweisung der Trennung von sozialer Bewegung und Partei, von Alltag und Politik, von Veränderung des Lebens und Veränderung der Welt.«21

II.

Im großen kulturellen Aufbruch, der die russische Revolution begleitet hat, ja ihr vorausgegangen war, nimmt ›der Dichter mit der gelben Jacke‹ eine besondere Position ein: nicht nur, »weil Majakovskijs Wort qualitativ verschieden ist von allem, was im russischen Verse vor ihm dagewesen«22, sondern weil er mit seiner Dichtung »die Zeit vorantreiben« wollte. Es sind die gesellschaftlichen Veränderungen rund um die Oktoberrevolution, an denen Majakovskijs politische Kraft sich auflädt, und ihre Erstarrung, an der er schließlich 1930 zugrunde geht. Das ist vielleicht der Grund, warum Majakovskij bei der jungen Generation im ›roten Bologna‹ so populär ist – ein Star der Massen, wie er es sich immer gewünscht hatte. Obwohl er als Held des Sozialismus mumifiziert und sein Vermächtnis schon längst in allen Ehren begraben war, soll während der bologneser Ereignisse des Jahres ’77, als De21 »Scrivere come distruzione, scrivere come primato dell’autonomia sull’istituito, come primato della intelligenza creativa sull’intelligenza accumulata e codificata. Questa l’indicazione prefigurativa dell’avanguardia storica. Rottura del rapporto fra attività e spettacolo, critica della spettacolarizzazione dell’opera. È dada. Ricostruzione del rapporto fra scrittura e pratica, scrittura come pratica politica. È Majakovskij, il suo rifiuto della scissione fra movimento e partito, fra forma quotidiana dell’esistenza e politica, fra trasformazione della vita e cambiamento del mondo.« Ebd. 22 Roman Jakobson, »Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«, in: Slavische Rundschau, 2, 1930, S. 481.

aufstand der dinge

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monstranten sich einer Phalanx der Polizei gegenübersahen, folgender mao-dadaistische Slogan zu hören gewesen sein: »Cara-bi-nieri / non lo-scor-dare / abbiamo Majakovskij / da ven-di-care!«23. Verwirrung auf beiden Seiten. Aufstand der Dinge hatte der Titel seines ersten Theaterstückes ursprünglich24 gelautet. Damit wurde insgeheim ein ästhetisches Programm bezeichnet, das bereits in den frühen kubo-futuristischen Versuchen zutage trat und Majakovskijs Arbeit an einer poetischen Sprache künftig bestimmen sollte. »Indes krümmt sich sprachlos die Straße / sie hat keine Zunge zum Reden, zum Schreien«25 hieß es 1914, und wenige Jahre später, über die Revolution: »Der Jargon der Vorstädte ergoß sich über die Boulevards der Innenstadt. (. . .) Das ist die elementare Gewalt der neuen Sprache.«26 Zwischen diesen beiden Zeilen lagen die Jahre, in denen eine veränderte Welt zur Sprache drängte, ohne noch über eine eigene zu verfügen; in denen eine neue Wirklichkeit, die industrialisierte Stadt mit ihrem gewaltigen Reichtum und ihrer extremen Geschwindigkeit27 in den Raum der Poesie einbrach, die Organisation der Wörter zerstörte und ihre Wahrheit veränderte. Auf den Straßen begann man eine neue Sprache zu sprechen. Und auch aus dem poetischen Text wie aus Malevičs Rotem Quadrat auf weißem Grund sprach mit einem Mal jene Sprache, nach der die »nervöse Belebtheit der Städte verlangte«28. Dazwischen lagen die Jahre des Futurismus.29 Er verlieh dieser unbekannten Realität, die von der Straße aus sich überallhin, also auch auf die Sprache ausdehnte, ihre authentische Schreibweise. Die Dichtung des Futurismus war die Poesie der modernen Großstadt, der neuartigen urbanen Strukturen.30 Die frenetische Existenz der Stadt, die Bewegung der 23 »Carabinieri / vergeßt nicht / wir haben Majakovskij / zu rächen!« 24 Es war Majakovskijs erstes großes Werk. Da der Zensor den Namen des Autors zum Titel machte, kam es zur Bezeichnung Vladimir Majakovskij, Eine Tragödie (1913). Diese Legende aber ist zumindest zweifelhaft. »Wenn dem so ist, dann paßte die Verwechslung gut zu der Absicht des Autors: denn Majakovskij selbst spielt die Hauptrolle im Stück.« Marjorie L. Hoover, »Dada und das russische Theater«, in: Wolfgang Paulsen / Helmut G. Hermann (Hrsg.), Sinn aus Unsinn. Dada International, Bern/München 1982, S. 217. 25 Wladimir Majakowski, »Wolke in Hosen« (1914/15), in: ders., Werke (dt. Nachdichtung von Hugo Huppert), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1974, S. 16. 26 Wladimir Majakowski, »Wie macht man Verse« (1926), in: ders., Vers und Hammer (übertr. v. Siegfried Behrsing), Zürich 1959, S. 47 ff. (Huppert übersetzt: »begann der Vorstadtjargon zu pulsieren«). 27 »Am stärksten verändert den Menschen die Maschine (. . .) ein Motor von mehr als vierzig Pferdestärken zerstört die alte Moral (. . .) Vergessen wir nicht den Beitrag des Automobils zur Revolution (. . .) Ihr habt die Revolution als Schaum in die Stadt ausgegossen, o ihr Automobile. Die Revolution schaltete den Gang ein und fuhr los.« Viktor Schklowskij, Zoo oder Briefe nicht über die Liebe (1922/23), Frankfurt a. M. 1965, S. 18 ff. 28 Wladimir Majakowski, »Ohne weiße Fahnen« (1914), in: ders., Werke, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1973, S. 35. 29 Vgl. Vladimir Markov, Russian Futurism. A History, Berkeley 1968; sowie Vahan D. Barooshian, Russian Cubo-Futurism 1910–1930. A Study in Avant-Gardism, Den Haag 1974. 30 So schrieben David Burljuk, Alexander Kručonych, Vadimir Majakovskij und Velemir Chlebnikov in dem Manifest Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack über »all jene Maxim Gorkis, Bloks, Bunins« und andere: »Wir blicken auf ihre Nichtigkeit von Wolkenkratzerhöhen herab!« In: Wladimir Majakowski, Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 556 f. Zum Thema des Urbanismus, das die Futuristen zu ihrem literarischen Credo machten, vgl. Assya Humesky, Majakovskij and His Neologisms, New York 1964, S. 13 f.; auch Victor Erlich, Russischer Formalismus, a. a. O., S. 215; und Roman Jakobson, »›Die neueste russische Poesie‹, Erster Entwurf. Viktor Chlebnikov«, in: Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Texte der russischen Formalisten, Bd. 2, München 1972, S. 41.

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großen städtischen Massen, der enorme industrielle Produktionsapparat, die Arbeit von Millionen in den eisernen Gesetzen der Fabrik disziplinierten Menschen. Dann die politischen Auseinandersetzungen, die Partei und der Kampf für den Kommunismus. Das war ein neuer Rhythmus des Lebens, den die Poesie in sich aufnehmen wollte, eine pulsierende Realität: »die elementare Gewalt der neuen Sprache. Wie kann man diese Sprache für die Dichtung nutzbar machen?«31 Die Realität war neu,32 und neu war die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Hat die herkömmliche Sprache eine Beziehung zwischen dem Wort und der Vorstellung errichtet, die es erlaubt, die Wörter auf ganz automatische Weise zu benützen, so bedeutet, was jetzt an Neuem in der Sprache vor sich ging, für den Futurismus vor allem dies: nicht die Wörter erneut den Dingen anzugleichen, nicht Wörter zu finden, die den Dingen angemessener sind, sondern die Produktionsweise der Dichtung verändern, um die veränderte Realität erfassen zu können. Darin besteht die große Anziehungskraft des russischen Futurismus auf das Kollektiv A/traverso, und es wäre nicht schwer, dies zu erklären: neue Sprachen auch hier, die der ›intelligenten‹ Maschinen, der Automatisierung des Wissens und dann das ›weiße Rauschen‹ der Information und ein neuer telematischer Analphabetismus. »Dichtung / – insgesamt! – / ist eine Fahrt ins Unbekannte. / Dichten / ist dasselbe wie Radium gewinnen. / Arbeit: ein Jahr. / Ausbeute: ein Gramm. / Man verbraucht, / um ein einziges Wort zu ersinnen, / Tausende Tonnen / Schutt oder Schlamm.«33 Immer wieder sprach Majakovskij von dieser Arbeit in Worten, von der Dichtung als Produktion;34 und in seinem berühmten Aufsatz »Wie macht man Verse?« ganz explizit von »der richtigen Methode, den Produktionsprozeß an sich zu erlernen«35. Das ist der erste Hinweis, den die Bologneser bei Majakovskij finden. Mehr als das Resultat des dichterischen Schaffens interessiert auch sie zunächst der Vorgang, die dichterische Arbeit. Denn so können sie die wesentliche Bedingung einer möglichen Veränderung dieses Produktionsprozesses benennen: das Subjekt. Im verbalen »Schutt oder Schlamm« interveniert ein Subjekt – jenes, das schreibt: »Wir haben jenen alten Sprachstaub in den Wind gestreut und von dem ganzen Plunder nur die Eisenteile behalten.«36 Mit der Arbeit an einer neuen Sprache wird hinter der futuristischen Formel von der Kunst als Machen37 auch ein Subjekt, jenes »Wir« eben, sichtbar. 31 Wladimir Majakowski, »Wie macht man Verse?«, a. a. O., S. 47. 32 1920 wollte Majakovskij demjenigen Physiker, der ihm Einsteins Relativitätstheorie erklären könnte, »eine akademische Verpflegungsration zahlen«, zit. n. Roman Jakobson / Krystyna Pomorska, Poesie und Grammatik. Dialoge, Frankfurt a. M. 1982, S. 147. 33 Wladimir Majakowski, »Gespräch mit dem Steuerinspektor über die Dichtkunst« (1926), in: ders., Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1973, S. 234. 34 »Dichten ist eine Produktion. Ungemein schwer, ungemein kompliziert, aber eine Produktion.« Wladimir Majakowski, »Wie macht man Verse?«, a. a. O., S. 82. 35 »Ich übertreibe, um deutlich zu machen, daß das Wesentliche der gegenwärtigen Arbeit an der Literatur nicht in der Beurteilung dieses oder jenes fertigen Produkts vom Standpunkt des Geschmacks aus besteht, sondern in der richtigen Methode (. . .)«, ebd., S. 52. 36 Wladimir Majakowski, »Wir arbeiten in Worten« (1923), in: ders., Vers und Hammer (übertr. v. Willi Reich), a. a. O., S. 140. 37 Vgl. dazu Victor Erlich, Russischer Formalismus, a. a. O., S. 54, 90 und 107.

wir arbeiten in worten

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»Die vom Futurismus geschaffene Innovation war übrigens nicht nur thematischer Art; die Bedeutung der futuristischen Lektion liegt nicht nur darin, den neuen Rhythmus als Objekt der Dichtung verstanden zu haben, als Thema, mit dem sich die dichterische Arbeit auseinandersetzt, sondern vor allem als neues Subjekt der Sprache, als neues Auge, die Wirklichkeit zu ›betrachten‹.«38

Die Schreibweise erscheint jetzt als Praxis eines Subjekts, die in sich die Möglichkeit der Veränderung birgt und das Resultat der dichterischen Arbeit nicht als nochmalige Geschichte der Realität, als weitere Erzählung, sondern als neue Realität, als veränderte Wirklichkeit. Derart tritt die Sprache als ein von Subjekten geschaffener Konflikt in Erscheinung. Der Text wird ein Ort von Widersprüchen zwischen den Kräften, die ihn formen. Die Schreibweise wird zur Aktion. »Die Stadt kommt im Plakat zum Ausdruck, aber dann erschafft das Plakat auch die Stadt, betritt sie, um sie zu verändern, um ihr Gesicht zu verwandeln und die wirklichen Beziehungen. Eine von Gesten, von Aktionen geschriebene Wirklichkeit. Die Schreibweise ist unmittelbare Praxis, eine Form von wirklicher Veränderung.«39

Die Arbeit an einer neuen Sprache bedeutet auch eine neue Art der künstlerischen Tätigkeit. Und vor allem läßt sich eine Verschiebung des Ortes ausmachen, an dem diese Praxis stattfindet. Dies der zweite, und vielleicht bedeutsamere Hinweis, den die Bologneser der Dichtung Majakovskijs entnehmen. »All das ist für uns nicht ästhetischer Selbstzweck. (. . .) Wir wollen keinen Unterschied zwischen der Poesie, der Prosa und der Sprache des wirklichen Lebens zulassen.«40 Voraussetzung für eine Sprache als verändernde Praxis ist ihre entschiedene Nähe zum ›wirklichen Leben‹, zum Alltag41: dieses Motiv durchzieht Majakovskijs gesamtes Werk. »Setzt auf die Tagesordnung die Frage des Alltags«42 wurde er nicht müde zu fordern. Hatten ähnliche Appelle der Dadaisten noch erheblich voluntaristischen Charakter, so stand diese Forderung jetzt ganz im Zeichen der Revolution. Tatsächlich schienen gesellschaftliche 38 »L’innovazione compiuta dal futurismo non è soltanto di ordine tematico, del resto; l’importanza della lezione futurista sta non soltanto nell’aver inteso che il ritmo nuovo era oggetto della poesia, il tema di cui occuparsi nel lavoro poetico, ma soprattutto il nuovo soggetto del linguaggio, il nuovo occhio con cui ›guardare‹ la realtà.« Franco Berardi ›Bifo‹, La barca dell’amore s’ è spezzata, Mailand 1978, S. 130. 39 »La città si riflette nel manifesto, ma poi il manifesto fa la città, entra a cambiarla, ed a mutarne la faccia, a mutare i rapporti reali. Una realtà scritta dai gesti, dalle azioni; la scrittura è direttamente una pratica, una forma di mutamento reale.« Franco Berardi ›Bifo‹, Chi ha ucciso Majakovskij?, Mailand 1977, S. 47. Bifo, Mitbegründer des Kollektivs A/traverso, läßt in diesem Roman Majakovskij nach seinem – vorgetäuschten – Selbstmord im Italien der 70er Jahre weiterleben. 40 Wladimir Majakowski, »Wir arbeiten in Worten«, a. a. O., 5.140 f. 41 Oder auch der heftige Gegensatz zum Alltag, da, wie Jakobson es nahelegt, das Wort byt, das gewöhnlich mit ›Alltag‹ wiedergegeben wird, eher die trägen Grundlagen des russischen Gemeinwesens bezeichnet, die dem schöpferischen Drang entgegenstehen; aber auch das verhaßte Klischee und die Banalität des Alltäglichen, die im »Erdrutsch der Normen« ihre Antithese haben; vgl. Roman Jakobson, »Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«, a. a. O., S. 484 f. Auch Victor Erlich versucht, dieses unübersetzbare Wort zu erklären: Es bezeichnet »nicht eine bestimmte soziale Ordnung, sondern gerade das Prinzip der Ordnung oder Statik, alles, was nach Tradition, Gewohnheit, Routine riecht; mit einem Wort das, wozu der junge Engländer ›Establishment‹ sagen würde«; vgl. Victor Erlich, »The dead hand of the future: The predicament of Vladimir Mayakovsky«, in: Slavic Review, 21, 3, 1962, S. 434. 42 Zit. n. Roman Jakobson, »Eine Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«, a. a. O., S. 484.

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Umwälzung, Veränderung des Alltagslebens und kulturrevolutionäre Bewegung in einzigartiger Weise zusammenzufallen. »Künstler und Schriftsteller sind dazu angehalten, unverzüglich Farbtöpfe in die Hand zu nehmen und mit dem Pinsel der eigenen Geschicklichkeit die Hüften, die Stirn und die Brust der Städte, der Bahnhöfe und der dauernd auf der Flucht befindlichen Herde von Eisenbahnwaggons zu bemalen und folglich zu verschönern« hieß es in dem von Majakovskij mitunterzeichneten Dekret Nr. 1 an die demokratischen Künstler (1918).43 Allen voran verschrieb sich Majakovskij der Revolution.44 Er entwarf Manifeste, malte Plakate,45 las überall seine Gedichte vor. Darin die sozialen Kämpfe, die Sprache der Straße, die moderne Stadt in Bewegung: »Sprache des wirklichen Lebens, des Alltags«46. An Majakovskij fasziniert die jungen Bologneser weniger seine Parteinahme für die Revolution, als die Art und Weise, wie die Suche einer ganzen Generation nach neuen Ausdrucks- und Lebensformen sich in seinem Schaffen mit der Dynamik der Oktoberrevolution kreuzt. Und natürlich, daß Majakovskij im selben Atemzug von der Liebe spricht: Hundertfünfzig Millionen und die Briefe an Lilja. »Es ist der Hinweis Majakovskijs, zuerst Bolschweijk und dann Poet: weder hat er lange die Trennung der Kunst vom Leben beklagt, noch das Spektakuläre des Textes kritisiert, indem er die Kritik selbst zum Spektakel machte. Majakovskij hat am revolutionären Prozeß teilgenommen und hat dort den Ort gefunden, wo die Trennung tatsächlich überwunden wurde.«47

Das Kollektiv A/traverso nennt noch einen weiteren entscheidenden Unterschied zum Dadaismus: Im Gegensatz zu dessen Isolierung in den Cafés und Galerien bestanden die mit der Revolution sympathisierenden sowjetischen Künstler darauf, daß die Kunst eine öffentliche Angelegenheit sei.48 Nach ihren Vorstellungen zumindest sollten die Massen, nachdem ihre soziale Lage durch die politischen Veränderungen in Bewegung geraten war, auch an der ›Kunstproduktion‹ teilnehmen. Und einen historischen Moment lang schien die Allianz von Kunst und Revolution möglich geworden, die Distanz zwischen avantgardistischen Künstlern und Massen aufgehoben. Doch schon bald erwies sich das Projekt einer kulturellen Erneuerung als undurchführ43 Zit. n. Angelo Maria Ripellino, Majakowskij und das russische Theater der Avantgarde, Köln/Berlin 1964, S. 84. 44 Zwei Telegrammzeilen sollen genügen: »Zustimmen oder nicht zustimmen? Diese Frage gab es für mich (und die anderen Moskauer-Futuristen) nicht. Es war meine Revolution. Ich ging ins Smolny. Arbeitete. Alles was anfiel.« Wladimir Majakovskij, »Ich selbst. Autobiographie 1922–1928«, in: ders., ICH. Ein Selbstbildnis, Frankfurt a. M. 1973, S. 66. Der Majakovskij-Biograph Edward J. Brown nennt seine Studie denn auch Mayakovsky. A Poet in the Revolution, Princeton 1973. 45 »Es ist charakteristisch, daß gleichzeitig damals bei den Pariser Dadas wie bei den russischen Futuristen die Idee entstand, das Gedicht solle nicht in Buchform erscheinen, sondern als Plakat angeschlagen werden.« Elisabeth Lenk, Der springende Narziß. André Bretons poetischer Materialismus, München 1971, S. 33. 46 Wladimir Majakowski, »Wir arbeiten in Worten«, a. a. O., S. 140. 47 »È l’indicazione di Majakovskij, prima bolscevico e poi poeta: lui non è stato tanto a lamentare la separatezza dell’arte dalla vita, nè a criticare la spettacolarità del testo spettacolarizzando la critica stessa. Majakovskij ha preso parte al processo rivoluzionario e là ha trovato il punto in cui la separazione veniva praticamente superata.«, »Sulla strada di Majakovskij«, in: A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 2. 48 »Ich, Fäkalienfahrer, / Sanierungsexperte, / gerufen und erfaßt / von der Revolution, / floh an die Front / aus den herrschaftlichen Gärten / der Dichtung, / der launischen Weibsperson.« Wladimir Majakovskij, »Aus vollem Halse«, in: ders., Aus vollem Halse (dt. v. Karl Dedecius), Ebenhausen 1983, S. 119.

wer hat majakovskij erschossen?

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bar. Auf die Zeit des revolutionären Enthusiasmus und der turbulenten Augenblicke völliger künstlerischer Freiheit folgte die Periode der NEP49, des Aufbaus, der unermüdlichen Arbeit an der ›kulturellen Front‹ der Revolution, Majakovskijs Tätigkeit bei ROSTA50, Wir arbeiten in Worten, aber auch die ersten Querelen mit der Kommunistischen Partei. 1918 schrieb Majakowskij bereits: »In der Kunst und Bildung lauter Jasager. Mich hätten sie wohl zum Fischfang nach Astrachan geschickt.«51 Die Isolation der jungen Sowjetrepubliken, der Bürgerkrieg und dann die verschärfte Industrialisierung riefen eine Serie von unlösbaren Konflikten hervor. Die gesellschaftlichen Veränderungen wurden in das enge Korsett des Plans gezwängt – mit den bekannten Prozessen politischer Repression. Der Übergang vom Kollektivismus der Revolution zur stalinistischen Zwangskollektivierung war nur mit Terror durchzusetzen. Und parallel zur Dekretierung einer Identität von Sozialismus und Produktivitätssteigerung entwickelte sich in der sowjetischen Avantgarde – geduldet, eingespannt oder verhindert, und zuletzt liquidiert – eine lang anhaltende Krise, die in einem Zerreißprozeß mündete. Als nämlich die zum Kommunismus erhobene Realität für unveränderbar erklärt wurde und damit, daß die Kunst sich allein damit zu beschäftigen habe, diese einzig mögliche Realität zu glorifizieren, war die Kultur schließlich den Produktivitätsnormen untergeordnet. »Nieder mit der Poesie, es lebe die Erfüllung des Plans!« verfügten die Nachfolgeorganisationen52 der einstmals futuristischen Avantgarde. Das Experiment nahm einen unheilvoll produktivistischen Ausgang. »Ich attackiere die Welt ohne Furcht. Doch seltsam: die Worte gehn quer hindurch.«53 Von diesem Verlauf her definiert A/traverso jene zerrissene Konstellation, in der die historische Avantgarde sich bewegte: »Auf der einen Seite die historische Avantgarde, auf der anderen Versuche der kollektiven Transkription: der Proletkult, die Arbeiterkorrespondenten, der Verband proletarischer Schriftsteller. Zwei Bruchstücke, die sich nicht zu vereinen wußten, die aber die Kontinuität der revolutionären Welle verkörperten. (. . .) Sie wußten sich nicht zu vereinen. Sie hatten diese historische Möglichkeit nicht. Jenen, die den Versuch unternahmen, die Kreativität der Massen auf der Ebene der Schreibweise zu befreien, gelang es nicht, die Produktionsweise des Textes zu verändern (. . .). Und die historische Avantgarde hatte nicht die Möglichkeit, sich mit den Massen zu verbinden, außer für kurze Augenblicke oder vermittelt durch die kommunistischen Parteien der III. Internationale (man denke nur an die Erfahrungen der surrealistischen Bewegung). 49 Neue Ökonomische Politik. 50 ROSTA war die Abkürzung für ›Russische Telegraphen-Agentur‹, die heutige TASS. 51 Wladimir Majakovskij, »Ich selbst«, a. a. O., S. 66. 52 Majakovskij – so sagten 1929 hartnäckige Gerüchte – würde es nicht erlaubt sein, Lyrik in der RAPP (Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller) zu schreiben; überdies solle er ›spezielle Vorlesungen‹ über die poetischen Prinzipien der RAPP besuchen. Vgl. Vahan D. Barooshian, Brik and Mayakovsky, Den Haag/Paris/ New York 1978, S. 100 f. 53 Wladimir Majakowski, »Das bewußte Thema« (1923), in: ders., Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 220.

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Majakowskij verkörpert das Bewußtsein dieses Bruches und den Versuch, oder zumindest das Bedürfnis, ihn zu überwinden. Arbeiterkorrespondenten, aber auch Veränderung der Produktionsweise des Textes; neuer Rhythmus der Poesie.«54

Die Unmöglichkeit, diese beiden Momente zu vereinen und die Isolation der Avantgarde von den Massen zu überwinden, wurde in dem Augenblick manifest, als der revolutionäre Prozeß sich institutionalisierte, sich zum Staat machte, den Fluß der Veränderung unterbrach – sich ihm entgegenstellte. »Das wundervolle Chaos der russischen Revolution«55 wurde von einer rotbeflaggten Ordnung abgelöst. »Zu Ende ist das Gemetzel (. . .) Bloß am Kreml als rote Fahne strahlen die Fetzen des Dichters im Winde.«56 Majakovskij erkannte in der doppelten Niederlage der revolutionären Bewegung wie der künstlerischen Avantgarde auch seine eigene: »Die Liebe schwindet, / auch Mut und Bildung, / die Zeit / verstopft uns / die Hirnkanäle«57. Und er erschoß sich. »Das Boot der Liebe / ist am Sein zerschellt.«58 Oder: »Sie rächten sich an Majakovskij«59, wie Brecht ohne Umschweife die Frage nach Majakovskijs Ende beantwortet hat. Anfangs in offizielle Vergessenheit geraten, dann aber im »Stalinist Biedermeier«60 staatlich verordnet,61 gelang es trotz der Kanonisierung seines Werkes zum Inbegriff real existierender sozialistischer Dichtung nicht, Majakovskijs poetisches Vermögen verschwinden zu lassen. Bestand seine Absicht doch gerade darin, jenen Punkt zu erreichen, wo die Dichtung einen Prozeß der Veränderung erzeugt; wo sie durch ihre inneren Transformationen einen Effekt auf einem anderen Gebiet erzielt: dem der Aktion. Diesem Majakovskij begegnet man im Bologna der 70er Jahre. Nicht nur, weil er die Spannung zwischen persönlichem Glück, Veränderung des Lebens und revolutionärem 54 »Da un lato l’avanguardia storica, dall’altro tentativi di trascrizione collettiva: il proletkult, i corrispondenti operai, la lega degli scrittori proletari. Due spezzoni che non hanno saputo unificarsi, ma che rappresentavano la continuazione dell’ondata rivoluzionaria (. . .) / Non hanno saputo unificarsi. Non hanno avuto questa possibilità storica. Il settore che faceva uno sforzo per liberare la creatività delle masse sul terreno della scrittura non ha saputo trasformare il modo di produzione del testo (. . .). E l’avanguardia storica non ha avuto la possibilità di legarsi alle masse, se non per momenti limitati, o per la mediazione dei partiti comunisti terzinternazionalisti (si pensi all’esperienza del movimento surrrealista). / Majakovskij è la consapevolezza di questa frattura, e il tentativo, o almeno il bisogno di superarla / Corrispondenti operai, ma anche trasformazione del modo di produzione del testo; ritmo nuovo della poesia.«, »mao-dadaismo: scrittura/pratica antiistituzionale«, in: A/traverso, quaderno 1, a. a. O., S. 28. 55 Jean Pierre Faye, Theorie der Erzählung, a. a. O., S. 156. 56 Wladimir Majakowskij, Darüber, zit. n. Roman Jakobson, »Eine Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«, a. a. O., S. 486. (In der dt. Werkausgabe heißt dieses Poem »Das bewußte Thema«.) 57 Wladimir Majakowski, »Das bewußte Thema«, a. a. O., S. 220. 58 Wladimir Majakowski, »An alle« (Abschiedsbrief 1930), in: ders., ICH, a. a. O., S. 215. (Jakobson übersetzt präziser »am Alltag«, eben byt; in: Roman Jakobson, »Eine Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«, a. a. O., S. 490.) 59 Zit. n. Joachim Seyppel, Die Unperson oder Schwitzbad und Tod Majakovskijs, Frankfurt a. M. 1979, S. 68. 60 Michael Holquist, »Prologue« zu: Michail Bakhtin, Rabelais and His World, Bloomington 1984, S. xix. 61 Stalin sorgte auf dem XII. Kongreß der Sowjets sozusagen für eine zweite Ermordung Majakovskijs, indem er verkündete: »Majakovskij war und bleibt der beste und begabteste Dichter unseres sowjetischen Zeitalters« (Pravda, 17. 12. 1935).

Hundertfünfzig Millionen und die Briefe an Lilja

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Prozeß verkörpert, wird er gerade hier zu einer populären Figur. Es sind die massiven Investitionen seiner Sprache in die Aktion, die sich jetzt mit der Suche nach neuen Ausdrucksformen außerhalb des institutionellen Rahmens der Kunst verbinden: »Majakovskijs Textpraxis wird heute Massenaktivität: Die jungen Arbeiter (. . .) haben zu schreiben begonnen: in den Großstädten, mit den Massen-Jam-Sessions, mit den Wandschriften, mit der Zerstörung der Mechanismen des Spektakels, mit der Aneignung der Waren. Eine noch rein negative, symptomatische Schrift; eine noch vorwiegend aus Schweigen bestehende Sprache.«62

Um von jenem Schweigen zur »ganzen Stimmkraft«63 des selbstgemordeten Dichters zu gelangen, begibt sich A/traverso »auf Majakovskijs Weg«. Veränderung der Produktionsweise des Textes, unmittelbare Beziehung der Schreibweise zum Alltag und Verbindung mit der Kreativität der Massen: Das sind die elementaren Schritte sulla strada di Majakovskij. »Fare poesia e non straordinario« (Poesie und nicht Überstunden machen)64 lautet die erste Anweisung auf diesem Weg.

III. Noch ein Toter im Labyrinth der Avantgarde. Doch auch Artaud hat sich nicht selbst umgebracht. Er wurde aufrecht sitzend gefunden, wird behauptet. Wie Majakovskij hat auch Artaud eine Niederlage erlebt. Und ähnlich wie das bologneser Kollektiv den Selbstmord Majakovskijs dechiffriert,65 versucht es Artauds langes Sterben als Inkarnation jener Ausschließung und Isolation zu entziffern, der Artaud unterworfen wurde, weil er das Projekt der Avantgarde in einer maßlosen Weise aufnahm, weil er es mit Kohärenz, mit Entschiedenheit, mit existentieller Radikalität weitertrieb. Aus einer Zeit, als die Ablehnung des Kulturbetriebs durch die Surrealisten riskierte, eine aristokratische Entscheidung zu sein, wird von Artaud folgende Geschichte erzählt: »Bühnenarbeiter finden ihn im Theater in der Nähe der Heizung ausgestreckt. Als Pitoëff66 erfährt, daß Artaud im Theater übernachtet, besorgt er ihm ein preiswertes Hotelzimmer in der Avenue Montaigne. Um die Vermieter nicht mißtrauisch zu machen – Artauds gesamte Habe besteht aus einem Koffer, den er ständig mit sich schleppt – leihen ihm Kollegen für den ›Umzug‹ einen zweiten, leeren Koffer.«67 Und während seine surrealistischen Freunde 62 »L’operatività testuale di Majakovskij diviene oggi attività di massa: i giovani proletari (. . .) hanno cominciato a scrivere: scrivere nella metropoli, con le jam-session di massa, con le scritte sui muri, con la distruzione dei meccanismi spettacolari, con l’appropriazione delle merci. Una scrittura ancora soltanto negativa, sintomatica; un linguaggio fatto ancora prevalentemente di silenzio.«, »Sulla strada di Majakovskij«, in: A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 2. 63 Wladimir Majakowski, »Mit aller Stimmkraft«, in: ders., Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 423 ff. 64 »Sulla strada di Majakovskij«, a. a. O., S. 2. 65 Am prägnantesten mit dem Titel von Franco Berardis Roman Chi ha ucciso Majakovskij? (Wer hat Majakov­ skij erschossen?), a. a. O. 66 sein damaliger Theaterdirektor 67 Elena Kapralik, Antonin Artaud – Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs, München 1977, S. 41.

IM LABYRINTH DER AVANTGARDE

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mit einer Annäherung an die Kommunistische Partei liebäugelten, beargwöhnt Artaud nicht nur deren Vorstellung von Revolution. Die Intellektuellen insgesamt sind ihm suspekt. Auch deswegen bezieht sich das Kollektiv A/traverso auf Artaud: »Der wie ein Wachhund gehaltene Mensch ist ein Wachhund. Der Intellektuelle ist Petition, Kommuniqué, ohnmächtige Forderung, Schema, Delegierter, nicht Körper, nicht Subjekt, wie der arme Anton gesagt hat: Funktionär des Konsenses.«68

Vor allem aber, weil die Kluft, die zwischen Artaud und den Intellektuellen besteht, seiner kriegerischen Distanz zur abendländischen Kultur entspricht: Die Auflehnung gegen das Schriftzeichen, das sich vom Atem und vom Fleisch, vom wirklichen Leben also entfernt habe, markiert die Konfrontationslinie, die Artaud errichtet. An der Schwelle der Schrift, welche zugleich sakralisierendes Kennzeichen der Intellektuellen und Eckpfeiler der europäischen Zivilisation, sucht er nach einer ursprünglichen, aus ihr verbannten Identität. Hierin deutet sich die Originalität Artauds gegenüber der gesamten Erfahrung der historischen Avantgarde und im besonderen gegenüber dem französischen Surrealismus69 an. Oszillieren dessen Intentionen um zwei beherrschende Motive, die Kunst und das Leben, ihre gegenseitige Entfremdung und die Revolution als letzte Aufhebung der Widersprüche, so zeigt sich bei Artaud eine globale Verschiebung der Auseinandersetzung.70 Derlei Konzeptionen erschienen ihm zu eng und jene, die sich darauf stützen, zu vertrauensselig. Wie nämlich solchermaßen die stabile Rolle der Ideologie in der kulturellen Organisation einer Gesellschaft unterschätzt und andere wichtige Elemente des Bruchs vernachlässigt wurden, ließ ihn fürchten, daß doch wieder nur alles beim alten bliebe. Artaud hielt es für unabdingbar, die Infragestellung des Bestehenden auf alle Bereiche der Existenz auszudehnen: Überall, wo Schriftsprachliches sich eingedrängt, sei eine menschenfeindliche Ordnung längst in Gang gesetzt.71 Er wollte zu einer Ursprünglichkeit72 zurückfinden, und das heißt zu der seit der Renaissance immer mehr verschütteten Sprache des Körpers. Für das Kollektiv A/traverso ist diese Wiedereinsetzung des Körpers in den Raum der Sprache von zentraler Bedeutung. Der Körper erscheint, gerade in seiner Abwesenheit, als verborgene Materialität der Sprache. »Die Sprache errichtet ihre konventionelle Ordnung auf der Grundlage der Entsexualisierung, auf der Verschleierung der Lust am Text, der Materialität und Sinnlichkeit des Vorgangs, der darin besteht, Zeichen anzuordnen.«73 68 »L’uomo trattato come un cane da guardia è un cane da guardia. L’intellettuale è petizione, comunicato, impotente richiesta, schema, delegato, non corpo, non soggetto, come diceva il povero Antonio: funzionario del consenso.«, »il Rantolo dei Rantoli«, in: A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 7. (Zweifellos ist diese Passage auch eine Anspielung auf Paul Nizans Pamphlet Les Chiens de Garde, Paris 1932.) 69 dem »letzten Schrei des Dadaismus«, Antonin Artaud, zit. n. Elena Kapralik, Antonin Artaud – Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs, a. a. O., S. 49. 70 Vgl. dazu Jacques Derrida, »Die soufflierte Rede«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972, S. 291 f. Fußnote 82. 71 Der berühmteste, immer wieder zitierte Satz in diesem Zusammenhang lautet: »Alles Geschriebene ist Schweinerei.« Antonin Artaud, Die Nervenwaage, Berlin 1961, S. 34. 72 »oder einfacher sogar, zu den Lebensgewohnheiten des Mittelalters«; Antonin Artaud, zit. n. Jacques Derrida, »Die soufflierte Rede«, a. a. O., S. 292. 73 »Il linguaggio costruisce il suo ordine convenzionale sulla base della de-sessualizzazione, dell’occultamento della libido testuale, della materialità e sensualità dell’operazione consistente nell’organizzare segni.«, »Leggere nella merda», in: A/traverso, quaderno 2, März 1976, S. 15.

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Ähnlich dem Denken, das seine – schließlich von Marx offengelegte – Geschichtlichkeit verbirgt, übergeht die Sprache ihre lebendige Dimension mit Stillschweigen, indem sie den Körper versteckt und, mehr noch, verdrängt. Artaud unterläuft diese Beruhigung der Sprache, er liefert sie den zum Schweigen gebrachten Wünschen, den verstummten Fasern der menschlichen Existenz aus. Damit hat er, so A/traverso, eine dem historischen Materialismus analoge Entmystifizierung geleistet: In seiner Sprache kommt eine Realität zum Vorschein, die sich bislang jeder Schreibweise und daher Geschichtsschreibung entzog. »Wenn man also das Pulsieren, die Widersprüche, die Lust und den Ekel wiederentdeckt, die hinter der Sprachproduktion stehen (in dem Maße, in dem sie von der herkömmlichen Formalisierung befreit wird), wird es möglich, die geschichtliche (nicht ontologische) Bewegung zu entdecken, die die Sprache erzeugt, den leeren Raum der zwischenmenschlichen Beziehungen mit Zeichen füllt, und die weiße Fläche der Seite.«74

Davon sprechen – auf ebenso individualistische wie universelle Weise – die Texte Artauds. Seine Glossolalien verkünden »qu’il y a / quelque chose / à quoi faire place: / mon corps«75. Dem Körper Platz machen. Dem eigenen Körper. Bekanntlich wählte Artaud als dafür bevorzugten Ort das Theater – gerade »weil der Tanz / und folglich das Theater / zu existieren noch nicht begonnen haben«76. Um dem Körper Platz zu machen, muß nach Artaud mit dem herkömmlichen Theater gebrochen werden, jenem Theater der Interpretation und Wiederholung, auf dem das Nichtdarstellbare verborgen bleibt und der Mensch in sich selbst zurückgeschreckt.77 Die Destruktion jedes Begriffs von Nachahmung ist verbunden mit einem Angriff auf den Text. »Im Theater, so wie wir es hier (in Paris, im Abendland) auffassen, ist der Text alles.«78 Artaud hat sein ganzes Leben gegen das Worttheater gekämpft, für die Beseitigung der »Tyrannei« des Textes und wider die Schriftzeichen, die den Schrei unterdrücken und die Möglichkeit einer unorganisierten Stimme: »Wenn ich sage, ich werde kein geschriebenes Stück spielen, so meine ich damit, daß ich kein Stück spielen werde, das auf der Schrift und auf dem Wort basiert (. . .); und daß selbst der gesprochene und geschriebene Teil es in einem neuen Sinne sein wird.«79 Er will die Artikulation, den Klang, die Intensität aus den von der Schrift versiegelten Verliesen menschlicher Ausdrucksfähigkeit wieder hervorholen. Jenseits ihrer Beherrschung durch Worte – denn es gilt ihm nicht unbedingt 74 »Riscoprendo cioè le pulsioni, le contraddizioni, il piacere e il disgusto che sta dietro alla produzione linguistica (nella misura in cui viene liberata dalla formalizzazione convenzionale), è possibile scoprire il movimento storico (non ontologico) che produce il linguaggio, che riempie di segni lo spazio vuoto dei rapporti interpersonali, lo spazio bianco della pagina.« Ebd. 75 »daß es / etwas gibt, / dem Platz zu machen ist: / meinem Körper«, Antonin Artaud, zit. n. Tel Quel, Nr. 20, Paris 1965, S. 23. 76 Antonin Artaud, »Das Theater der Grausamkeit«, in: ders., Letzte Schriften zum Theater, München 1980, S. 39. 77 Unmögliches Unterfangen, hier Artauds mit ungestümer Vehemenz vorgetragene Attacken gegen das Theater nachzeichnen zu wollen; vgl. aber Jacques Derrida, »Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, a. a. O., S. 351–379; sowie Maurice Blanchot, »Die grausame poetische Vernunft«, in: Antonin Artaud, Die Nervenwaage, a. a. O., S. 9–18. 78 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, Frankfurt a. M. 1969, S. 126. 79 Ebd., S. 119 f.

HIEROGLYPHEN

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als erwiesen, daß die Sprache der Worte die bestmögliche sei.80 Die monotone Willkür der »gewöhnlichen Wörtersprache« und des schriftlich fixierten Sinns konfrontiert Artaud mit der Poesie seiner Hieroglyphik81 und mit dem ausgemergelten Bewußtsein dessen, der nicht im Wort zur Ruhe gekommen ist. »Wenn die Verwirrung das Zeichen der Zeit ist, so sehe ich den Grund für diese Verwirrung in der Trennung zwischen den Dingen und den Worten, Vorstellungen und Zeichen, die sie bedeuten.«82 Daß die Einheit von Wort, Ding und Begriff dahin ist, heißt für Artaud vor allem dies: Schluß zu machen mit der Übermittlung eines Inhalts, soweit dieser nicht vollständig in der Präsenz seines Vollzugs sich erschöpft. Insofern ist ihm Theater unmittelbares Ereignis. Artaud will die Wiederholung, die Darstellung überhaupt, tilgen. Und zugleich all jenen Unterscheidungen ein Ende bereiten, die der klassischen Theatralität ihre abgezirkelte Identität verleihen. Repräsentiertes/Repräsentierendes, Signifikat/Signifikant, Autor/Regisseur/Schauspieler/Zuschauer, Bühne/Saal, Text/Interpretation, jedes einzelne Element in dieser unendlichen Verkettung der Repräsentation müsse gesprengt werden. Artaud sucht die verschiedenen Momente, aus denen jene sich strukturiert, in unmittelbare Kommunikation zu verschmelzen. »Von dieser Vorstellung durchdrungen, welche die Menge zunächst nur mit den Sinnen denkt und an deren Verständnis sich zu wenden, wie beim gewohnten psychologischen Theater, absurd ist, setzt sich das Theater der Grausamkeit zum Ziel, wieder zum Massenschauspiel zurückzukehren; in der Bewegung bedeutender, doch konvulsivischer und gegeneinander getriebener Massen etwas von jener Poesie zu suchen, die an den heute viel zu seltenen Tagen, an denen das Volk auf die Straße geht, in den Festen und in der Menschenmenge ist.«83 Artauds Vorhaben einer Zersetzung des traditionellen Theaters mündet in die kriegerisch-harmonische Vision eines Festes: Dort endlich ist die Barriere zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben und mit ihr die Passivität und Nichtteilnahme des Publikums, das nun auf gefährliche und aktive Weise, in erster Person am Spiel teilhat. »Aber nicht auf der Bühne darf man es heute suchen, sondern auf der Straße; und wenn man der Menschenmenge eine Gelegenheit bietet, ihre Menschenwürde zu zeigen, so wird sie es immer tun.«84 Im ›Theater der Grausamkeit‹,85 das sowohl Auflösung, Sprengung des Realen wie auch Entwurf einer gänzlich anderen Realität sein will, soll es also kein Publikum mehr geben und kein Schauspiel, keinen Text, keine Anweisungen – ein Fest findet statt, ein Akt, eine definitive und einzigartige Geste, ein kollektives Ereignis. »Die Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen, das heißt Theater machen oder neu machen«, schrieb Artaud 1936,86 und es ist gewiß kein Zufall, daß das Kollektiv 80 Ebd., S. 115. 81 »Mit der Hieroglyphe eines Atem will ich eine Idee vom heiligen Theater wiederfinden.« Ebd., S. 162. Zur Nähe von Hieroglyphen und Traumsprache vgl. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a. a. O., S. 295 f. u. 365 ff. 82 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, a. a. O., S. 10. 83 Antonin Artaud, »Das Theater und die Grausamkeit«, ebd., S. 90. 84 Antonin Artaud, »Schluß mit den Meisterwerken«, ebd., S. 81. 85 »Alle, die wissen wollen, was ›Theater der Grausamkeit‹ bedeutet, sollten sich an Artauds eigene Schriften halten.« Peter Brook, Der leere Raum. Möglichkeiten des heutigen Theaters, München 1975, S. 59. 86 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, a. a. O., S. 15.

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A/traverso seinem Œuvre in einer Situation besondere Aufmerksamkeit widmet, in der Feste und Massenveranstaltungen zum Alltagsbild der italienischen Großstädte gehören und die ›Menschenmenge, die auf der Straße geht‹ das metropolitane Leben prägt. Eigentümlicherweise aber gilt dieses Interesse an Artaud erst in zweiter Linie seinem Entwurf eines künftigen Theaters; wichtiger scheint der Einfluß seiner Sprache, die zu jener äußersten Grenze vordringt, welche das Unbewußte darstellt. Wenn Artaud vom Theater spricht, ist immer auch von der Sprache die Rede. Und vor allem vom Körper. In Artauds Glossolalien, in seinen Zungenschlägen und Hieroglyphen, in den syntaktischen Anomalien, die jene aus Mallarmés Würfelwurf multiplizieren, kommt fortwährend etwas zur Sprache, das ihre Struktur über den Haufen wirft. Zeichen, die nicht der Vernunft gehorchen, unwiederholbar, sich verflüchtigend, polyvalent: nichtsignifikante Zeichen, Sprache im Raum, Atemzüge und Schreie. Die Bologneser lesen sie als Eingriff des Körpers in eine sprachliche Ordnung, die alles der Verständlichkeit und Eindeutigkeit unterwerfen will. »Die Befreiung des Körpers führt einen delirierenden Signifikanten ein.«87

Der Körper, das ist das Unbewußte. Es ist vieldeutig und intensiv und widersetzt sich der universellen Verständlichkeit, die die Sprache herzustellen beansprucht. »Die Verständlichkeit ist zudem ein Fetisch, der die reale Widersprüchlichkeit in die Schemata einer auf irreführende Weise ein für alle Mal gegebenen Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung zwingt.«88

Artaud beendet dieses Ein-für-alle-Mal der stabilen Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung. Seine Poesie sucht den üblichen Sinngebungen zu entgehen. Sie arbeitet mit Mitteln der Musik, des Traums, des Nicht-Sinns, des Deliriums: »Es geht nicht um die Unterdrückung des artikulierten Wortes, sondern darum, den Wörtern etwa die Bedeutung zu geben, die sie im Traum haben.«89 Im extremsten Fall wird die gedankliche Botschaft unwichtig. Dann entstehen Effekte, die nicht nur die herkömmlichen Überzeugungen und Bedeutungen zerstören, sondern auch die Syntax selbst, die doch mit der Unterscheidung zwischen dem bedeuteten Objekt und dem aussagenden Ich das Identitätsbewußtsein gewährleistet.90 Obwohl auch in Rhythmus und Intonation91 eine gestaltende Energie am Werk ist, erinnert Artauds glossolalische Sprache oft an das unartikulierte Lallen eines Kindes oder an psychotisches Gestammel. Der Gegensatz zum Infantilen und Wahnsinnigen aber besteht gerade in der willkürlichen Formung ›unverständlicher‹ Zeichen, die nicht in gesellschaftlich anerkannte Codes übersetzbar sind. 87 »La liberazione del corpo introduce un significante che delira«, »Leggere nella merda«, in: A/traverso, quaderno 2, a. a. O., S. 15. 88 »La comprensibilità, poi, è un feticcio che costringe la contraddizzione reale entro gli schemi di un rapporto mistificatoriamente dato una volta per tutte fra segno e senso.«, »Soggetto collettivo che scrive A/traverso«, in: A/traverso, April 1975, S. 3. 89 Antonin Artaud, »Das Theater und die Grausamkeit«, in: ders., Das Theater und sein Double, a. a. O., S. 100. 90 Vgl. Julia Kristeva, »Das Subjekt im Prozeß: Die poetische Sprache«, in: Jean-Marie Benoist (Hrsg.), Identität. Ein interdisziplinäres Seminar unter Leitung von Claude Lévi-Strauss, Stuttgart 1980, S. 195 ff. 91 Etwa in der Aufnahme des Hörspiels Pour en finir avec le jugement de dieu (1947), das Artaud selbst vorgetragen hat.

LE PAUVRE ARTAUD

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Gleichwohl wechselt bei Artaud die Position des Subjekts radikal. Durch den ungehemmten Artikulationsfluß des Unbewußten ist es vom Zusammenbruch der Sinngebungsfunktion bedroht. Denn jene Bewegung, die von der Entmachtung des Textes ihren Ausgang nimmt, um alle Instanzen des Unbewußten freizulegen, gelangt unweigerlich dorthin, wo es keinen Unterschied zwischen der Botschaft und ihrer Kommunikation mehr gibt – wo die Identität des Subjekts und seine Differenz zur übrigen Welt in die Krise gerät. »Artaud hat – zum Beispiel durch die Erfahrung mit ›Peyotl‹ – versucht, diese Unterscheidung, diese getrennte Identität zu durchbrechen. Und er hatte einige Erfahrung mit der psychiatrischen Abgeschlossenheit und Marginalisierung, die Strafe, die die Leistungsgesellschaft für denjenigen bereithält, der die Grenzen des individuellen Subjekts in Frage stellt.«92

Artauds Bewußtsein von dieser Situation war äußerst luzide und schroff – und nicht nur auf verzweifelt individuelle Weise auch eintönig und karg. Artaud stellt das Problem der menschlichen Existenz, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, das kollektive Unbewußte herauszufordern.93 Ohne die Vorstellungskräfte der Massen zu erreichen, blieb er isoliert,94 während andere, wie Aragon, in der Kommunistischen Partei verkamen. Und die Antwort der sozialen Ordnung auf solch entschlossenes Vorgehen ist wohlbekannt. Immer wenn jemand sein Begehren unabhängig von den vorgesehenen Befriedigungsmustern zum Ausdruck bringt und die Verteidigung dieses Ausdrucks zu seiner Lebensform95 macht, tritt die psychiatrische Institution auf den Plan, um das auszutreiben, was die gesellschaftliche Norm überschreitet: indem sie in Anstalten einschließt und die Bewußtseine aus dem Kopf zu schlagen versucht – wie es mit Artaud jahrelang geschehen ist,96 wobei an ihm all die erbärmlichen Methoden angewandt wurden, derer sich diese 92 »Artaud (ad esempio tramite l’esperienza del ›peyotl‹) ha tentato di rompere questa distinzione, questa identità separata. Ed ha ben conosciuto l’esperienza della segregazione e dell’emarginazione psichiatrica, la sanzione che la società della prestazione riserva a chi mette in discussione i limiti del soggetto individuale.«, »Leggere nella merda«, in: A/traverso, quaderno 2, a. a. O., S. 15. (Vgl. dazu Antonin Artaud, »Der PeyotlRitus der Tarahumaras«, in: ders., Die Tarahumaras. Revolutionäre Botschaften, München 1975, S. 10–33. 93 »Man muß Schluß machen mit der Vorstellung von Meisterwerken, die einer sogenannten Elite vorbehalten sind und die die Menge nicht versteht, und sich sagen, daß der Geist keine besonderen Stadtteile kennt, wie sie heimlichen sexuellen Begegnungen vorbehalten bleiben. (. . .) Wenn Shakespeare und seine Nachahmer uns auf die Dauer die Vorstellung von einer Kunst um der Kunst willen eingeredet haben, mit der Kunst auf der einen und dem Leben auf der anderen Seite, so könnte man sich getrost auf dieser wirkungslosen und faulen Vorstellung ausruhen, solange nur das Leben draußen noch standhielte. Zu viele Anzeichen lassen jedoch erkennen, daß all das, was uns leben ließ, nicht länger standhält, daß wir allesamt verrückt, verzweifelt und krank sind. Und ich fordere uns auf, dagegen anzugehen.« Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, a. a. O., S. 80 ff. 94 »Und alle Bettler, Arbeiter und Zuhälter von Marseille sind mir gefolgt, und ein Taxichauffeur wollte mich gratis fahren, und ein Mann aus der Menge hat mir einen Revolver zugesteckt, damit ich mich gegen die Polizei verteidige« (1945), Antonin Artaud, Briefe aus Rodez/Postsurrealistische Schriften, München 1979, S. 9. 95 »Weil das Leben nicht diese destillierte Langeweile ist, in der man unsere Seele seit sieben Ewigkeiten ka­steit, es ist nicht dieser höllische Schraubstock, in dem die Bewußtseine verschimmeln, und das Musik, Poesie, Theater und Liebe braucht, um von Zeit zu Zeit – aber so wenig, daß es nicht der Mühe wert ist, darüber zu sprechen – explodieren zu können.« Ebd., S. 29. 96 »Ich, ich selbst habe neun Jahre in einem Irrenhaus zugebracht und habe mich nie mit dem Gedanken an Suizid gequält, aber ich weiß, daß ich mich nach jeder Unterhaltung, die ich mit dem Psychiater während der Morgenstunden führte, danach sehnte, mich zu erhängen, denn mir war bewußt, daß ich ihm nicht die Kehle durchschneiden konnte.« (1947/48), Antonin Artaud, Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, München 1977, S. 30.

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poetik der veränderung

Institution zu bedienen weiß; indem die Sprache der Überschreitung interpretiert und normalisiert, als abweichend, psychotisch, schizophren, als asozial gebrandmarkt wird. Oder aber sie wird im Grenzfall als Kunst, als Sprache des Kunstwerks zugelassen. »Die schizophrene Sprache, die Sprache der Spaltung, ist die Form, in der sich der Wille ausdrückt, den Körper wieder auf die Bühne zu bringen, der Wille, dem Körper Platz zu machen, seine Unreduzierbarkeit auf den Leistungs-Sex zu behaupten, das Begehren zu befreien. Die Trennung spricht. Die Schizophrenie, die Weigerung, von einem einzigen Ort aus zu sprechen, einzig als Individuum zu sprechen, der Wille, die Logik und die verständliche Sprache zu unterbrechen, ist die in Sprache und Verhalten zum Ausdruck kommende Übersetzung eines Bruchs der signifikanten Verkettungen auf allen Ebenen. Man muß rekonstruieren, wie Artaud implizit und explizit dieses Ziel verfolgt hat, (. . .) um der Sprache ein Geschlecht zu geben und der Vernunft Geschichte.«97

So wird Antonin Artaud, der der Sprache ihre Sexualität zurückgeben wollte, zum dritten Bezugspunkt in der Geschichte der Avantgarde, weil dritte, äußerste Erfahrung des Widerspruchs zwischen Leben und Kunst. Abgeschnitten von allen Öffentlichkeiten und bis in den Tod interniert, weil er die Frage der Existenz in radikaler Weise aufwarf, ihre Grauzonen betrat und ihre Wüsten behauste, gilt er dem bologneser Kollektiv als geheimer Gewährsmann.

97 »Il linguaggio schizofrenico, il linguaggio della divisione è la forma in cui si esprime la volontà di riportare il corpo sulla scena, la volontà di fare posto al corpo, di affermare la sua irreducibilità a sesso-prestazione, di liberare il desiderio. / La divisione parla. La schizofrenia, il rifiuto di parlare da un unico luogo, di parlare unicamente come individuo, la volontà di interrompere la logica ed il linguaggio comprensibile, è la tradu­ zione linguistica e comportamentale di una rottura delle catene significanti a tutti i livelli. Occorre ricostruire come Artaud, implicitamente ed esplicitamente abbia perseguito questo obiettivo, (. . .) per dare un sesso al linguaggio, storicizzare la ragione.«, »Leggere nella merda«, in: A/traverso, quaderno 2, a. a. O., S. 16.

Signori, non stiamo parlando delle stesse cose, lo scarto che passa fra la vostra informazione e le nostre è grande quanto una vita. Radio Alice1 Jedes Element der Kontestation oder Subversion eines Systems muß einem logisch höheren Typus entstammen. Anthony Wilden2

IM WUNDERLAND DER MEDIEN

I. Die nihilistischen Sophismen des Dadaismus, die revolutionäre Poesie Majakovskijs und die existentielle Radikalität Artauds bekommen durch einen scheinbar unbedeutenden Vorfall unmittelbare Aktualität. Eine juristische Entscheidung öffnet all den in der Avantgarde­ rezeption des Kollektivs A/traverso versammelten Elementen einer Poetik der Veränderung plötzlich das Experimentierfeld der Massenmedien. Der Vorfall ereignet sich 1975: Das Urteil eines italienischen Höchstgerichts erklärt das staatliche Rundfunkmonopol für verfassungswidrig, ohne es jedoch durch eine neue Regelung zu ersetzen. In der damit entstandenen Gesetzeslücke bildet sich rasch ein Netzwerk von kleinen ›lokalen‹, ›freien‹ Radiostationen, die das staatliche Informationsmonopol über die Rundfunkmedien dann tatsächlich zusammenbrechen lassen. Dennoch wäre es absurd, das Entstehen Hunderter privater und in der Mehrzahl kommerzieller Rundfunkstationen in Italien als Ergebnis eines Widerspruchs in der Gesetzgebung zu begreifen. Man kann darin auch die Folgen eines vom Markt hervorgerufenen Bruchs der bestehenden Eigentumsverhältnisse sehen, denen jener bislang unterworfen war – eines Bruchs des staatlichen Monopols über den Äther durch die Kommunika­ tionsindustrie. Umgekehrt zeigt der Aufbau Dutzender selbstverwalteter Radios zweierlei: neben der quantitativen Ausdehnung des Personenkreises, der sich nicht länger mit dem Programm der staatlichen Rundfunkanstalt zufriedengibt, wird vor allem deutlich, wie das Know-how, das technische Wissen sich mit der Entwicklung dieses industriellen Sektors verbreitet hat und nun auf neue Weise genützt wird. Daß damit objektiv die Bedingungen für eine neue Massen-Kommunikation im starken Sinne des Wortes gegeben sein könnten, ist eine der Hypothesen, mit denen das Kollektiv A/traverso die Experimente für eine comunicazione sovversiva in Angriff nimmt. 1 »Meine Herren, wir sprechen nicht von denselben Dingen, / die Kluft, die zwischen eurer Information und den unseren liegt, / ist so groß wie ein Leben.« Radio Alice (Bologna), »Progetto di un’agenzia di informazione«, in: Aut-Aut, Nr. 163: Informazione di massa e comunicazione di classe, Jan./Feb. 1978, S. 44. 2 Anthony Wilden, System and Structure, zit. n. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, o. O., o. J. (1976), S. 10.

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II. Zunächst muß von einer anderen, äußerst strategisch zugespitzten Hypothese gesprochen werden. Angesichts einer Situation, in der die Massenkommunikation immer mehr den Charakter einer umfassenden Herrschaftsform annimmt und ihre Planung zunehmend als gesellschaftliche Kontrolle wirkt, hat Umberto Eco dem Publikum eine bestimmte Haltung vorgeschlagen, die er guerriglia semiologica3 nannte. Eco geht davon aus, »daß man, statt die Botschaften zu verändern oder die Sendequelle zu kontrollieren, einen Kommunikationsprozeß dadurch verändern kann, daß man auf die Umstände einwirkt, in denen die Botschaft empfangen wird.«4 Diese Überlegung ist zugleich schon Handlungsanweisung: Statt sich mit dem Senden von Informationen zu beschäftigen, soll man sich kritisch am Ort ihres Empfangs niederlassen. Um eigene Botschaften in Umlauf zu bringen, muß man einen Sendekanal zur Verfügung haben oder sich eines bemächtigen. Naheliegender aber, so Eco, und umfassender sind da die Möglichkeiten eines Eingriffs am anderen Ende der Kommunikationskette5, wo sich die Macht des Senders verliert. Der nämlich kann zwar versuchen, die Wirkungen seiner Botschaft zu kalkulieren, zu steuern, ihre Interpretationsvariabilität zu reduzieren. Nie jedoch läßt sich der Modus kontrollieren, in dem der Empfänger eine Botschaft rezipiert: es gibt keine Garantie dafür, daß er sie so aufnimmt, wie der Sender es hofft. Nach einem beinahe geflügelten Wort Ecos ist es daher viel weniger wichtig, eine Fernsehstation zu besetzen – oder den Sessel des Intendanten – und viel wichtiger, »überall in der Welt den ersten Platz vor jedem Fernsehapparat«6 einzunehmen. Denn dort erst entscheidet sich, wie eine Botschaft interpretiert wird. Fehlinterpretationen oder ›misunderstandings‹ sind ein weitverbreitetes Phänomen, das von der Mediensoziologie gewöhnlich mit einem Kompetenzdefizit seitens der Empfänger erklärt wurde.7 In dem von Eco vorgeschlagenen Konzept der decodifica aberrante (ab3 Auch guerriglia semiotica; erstmals hat Eco diese Metapher 1965 in Perugia auf einem Kongreß über Probleme der Fernsehrezeption ins Spiel gebracht. Vgl. U. Eco / P. Fabbri / P. P. Giglioli / F. Lumachi / T. Seppili / G. Tinacci-Mannelli, »Prima proposta per un modello di ricerca interdisciplinare sul rapporto televisionepubblico«, Perugia 1965; und jetzt dt. den auf dem Kongreß ›Vision 67‹ des International Center for Communication, Art and Sciences, New York, Okt. 1967 gehaltenen Vortrag »Für eine semiologische Guerilla«, in: Umberto Eco, Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1985, S. 146–156. 4 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 441. 5 Der Kommunikationsprozeß wird gewöhnlich in folgendem elementaren Modell dargestellt: Quelle  Sendegerät  Signal  Kanal  Signal  Empfangsgerät  Botschaft  Empfänger Code 6 Umberto Eco, »Für eine semiologische Guerilla«, a. a. O., S. 154; vgl. auch S. 262. 7 Paolo Fabbri hat auf die Mängel der Defizit-Theorie hingewiesen und auf einen Trugschluß, der dieser Interpretation zugrunde liegt: Die Wirkungsforschung glaubt, der Empfänger habe schlecht verstanden, weil sie den Grad seines Verständnisses der Botschaft mittels rein verbaler Untersuchungen feststellt. In Wirklichkeit gibt es einen großen Unterschied zwischen dem Verständnis und der Fähigkeit, es zu verbalisieren. Der Wissenschaftler aber ist Opfer seiner Überzeugung, daß alles, was gedacht wird, verbalisiert werden kann, und was nicht gesagt werden kann – auch nicht gedacht wird. Vgl. Paolo Fabbri, »Le comunicazioni di massa in Italia: sguardo semiotico e malocchio della sociologia«, in: Versus. Quaderni di studi semiotici, Nr. 5/2, 1973, S. 95 ff.

semiotische guerilla

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weichende Decodierung)8 werden Mißdeutungen nicht als Defizit, sondern als Differenz zwischen den Codes des Senders und denen des Empfängers betrachtet; und weiters nicht nur als Produkt einer gleichsam passiv erlittenen Verschiedenheit der Codes, sondern auch als ein Resultat sozialer Strategien, die der Empfänger bewußt einsetzt:9 er versteht den Code des Senders, konfrontiert ihn aber mit einer abweichenden Decodierung, die vom Nullpunkt einer vorbehaltlosen Aufnahme der Botschaft bis zu ihrer Zurückweisung reichen kann und sich im Extremfall als irreversible Vertrauenskrise gegenüber der Informationsquelle äußert: Je mehr er spricht, umso weniger glaubt man ihm.10 Gegen die Übermacht von Botschaften, durch deren Redundanz auch ihre Rezeption bereits weitgehend festgelegt ist, »zeichnet sich die Möglichkeit einer Taktik der Decodierung ab, wobei die Botschaft als signifikante Form unverändert bleibt«11. Eine Botschaft sehr verschiedenen Interpretationen preisgeben, sie diskutieren, mit Kommentaren umlagern oder auch nur durch Zwischenrufe unterbrechen, und endlich »die Bedeutung dieser Botschaft umdrehen«12 – das ist die Taktik der semiologischen Guerilla. Es handelt sich offensichtlich um ein ganz aufklärerisches Unternehmen, das zweierlei Absichten verfolgt: Einmal will es ein analytisches Bewußtsein erzeugen von den ideologisch-rhetorischen Mustern der massenmedialen Botschaften und von der gesellschaftspolitischen Normdistribution der Apparate, die diese Botschaften verbreiten; zum anderen soll es die Rezipienten lehren, sie ermutigen und in die Lage versetzen, einen entscheidenden Eingriff in den Kommunikationsprozeß vorzunehmen: sich mit systematisch abweichenden Decodierungen gegen das Medienbombardement zu verteidigen.13 Setzen ›alternative‹ Botschaften die zumindest kurzfristige Inbesitznahme eines Sendekanals voraus, so zielt »eine ideale semiotische ›Guerilla‹«14 auf die Bildung eines Publi18 Vgl. dazu Umberto Eco, La struttura assente. Introduzione alla ricerca semiologica, Mailand 1968, S. 53 f. u. 102 (dort eine schematische Darstellung der ›abweichenden Decodierung‹, die sich auch in der dt. Fassung findet: Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, a. a. O., S. 193 f.). Diese Thematik weiterentwickelt hat Stuart Hall, »Encoding/decoding«, in: Stuart Hall / Dorothy Hobson / Andrew Lowe / Paul Willis (Hrsg.), Culture, Media, Language, Birmingham 1980, S. 128–138; ähnlich auch Stuart Hall, »Die Botschaft des Fernsehens – verschlüsseln und entschlüsseln«, in: Erziehung und Kultur, Nr. 25, Bonn 1974, S. 8–14. Zusammenfassend Umberto Eco / Paolo Fabbri, »Progetto di ricerca sull’utilizzazione dell’informazione ambientale«, in: Problemi dell’informazione, Nr. 5, 1978, S. 560 ff. 19 Damit wurde in semiotische Termini übersetzt, was amerikanische Soziologen schon in den 50er Jahren als ›two-step-flow‹ der Massenkommunikation beschrieben hatten, nämlich daß die Botschaft beim Empfang von den sogenannten Opinion-leaders filtriert und auf die Erwartungen der Empfänger abgestimmt wird – nicht selten zum Schaden der Sender: an den berüchtigten ›Bumerang-Effekten‹ wird deutlich, daß es keine unilaterale Wirkung der Massenmedien auf das Publikum gibt. 10 Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang von einem »oppositionellen« Code, der sich dem »hegemonialen« widersetzt, bzw. der hegemonialen Deutung der Ereignisse. 11 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, a. a. O., S. 441. 12 Umberto Eco, »Für eine semiologische Guerilla«, a. a. O., S. 154 f. 13 Das Hintanhalten solch aktiver Rezeption hat im übrigen dazu geführt, »daß noch heute, nach Jahre langer Praxis, das Publikum, völlig preisgegeben, ursachverständig in seinen kritischen Reaktionen, mehr oder minder auf die Sabotage (das Abschalten) angewiesen geblieben ist«, wie Benjamin schon 1930/31 in seinen »Reflexionen zum Rundfunk« treffend anmerkt; Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II/3, Frankfurt a. M. 1977, S. 1506. Ähnlich auch Rudolf Arnheim, Rundfunk als Hörkunst (1936), München 1979, S. 24: »so rächt sich der Hörer auf einfachste Weise – er stellt ab.« 14 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, a. a. O., S. 441.

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kums, das die Strategien der Massenmedien »mit Scharfsinn« erkennt und nicht in ihre Fallen tappt. Ein derartiges Verhalten hat sich Eco zufolge15 nach dem »großen Jahr 1968« in ungeahntem Ausmaß verbreitet: als generalisierte Fähigkeit, die Medienprodukte zu kritisieren, sie mit Ironie zu dekonstruieren und sich vor allem nicht von ihnen faszinieren zu lassen. Darüber hinaus habe diese stupende Gewandtheit, allen Botschaften eine »subversive Lesart« entgegenzustellen, auch auf die mächtigen Informationsapparate zurückgewirkt. So sei kritische Interpretation eine wirkungsvolle verändernde Kraft geworden.

III. In der Folge von ’68 geschah freilich auch etwas anderes. Die einmal gemachte Erfahrung, in erster Person zu sprechen und das Leben in die eigene Hand zu nehmen, führte zu einer Vielzahl von Initiativen, in denen der Wunsch nach autonomen Öffentlichkeitsformen zum Ausdruck kam; oder schlichter, das Bedürfnis nach besserer Information, dem ein Wissen um den zentralen Stellenwert der Medien in der ›postindustriellen‹ Gesellschaft zugrunde lag. Plötzlich waren die Massenmedien mit der Existenz neuer Informationskanäle konfrontiert, vor allem mit den im Gefolge der Dazibaos und Flugblätter entstandenen kleinen Zeitschriften. Obwohl diese meist ganz unprofessionell gemacht waren und oft nur Nachrichten aus den Bulletins der Presseagenturen zusammenstellten, welche ohnedies allgemein zugänglich waren, von den großen Medien aber ausgeschieden wurden, sah sich die Informationsindustrie vor eine unüberwindliche Tatsache gestellt: Auch wenn sie etwas verschweigen wollte – jemand anderer würde an ihrer Stelle sprechen und früher oder später ihr Publikum erreichen.16 So wurden die Medien nicht nur durch die kritische Rezeption reformiert, wie sie Eco propagierte, und durch den Eintritt der 68er-Generation in viele Redaktionen, sondern gerade auch durch die Multiplizierung der Informationskanäle, durch die Konkurrenz der vielen kleinen, ›alternativen‹ Medien.17 Die Kritik an den Massenmedien entfaltete sich nun gewissermaßen in einem zweiten Aggregatzustand: Neben die semiologische Guerilla trat jene andere, ›praktischere‹ Praxis der sogenannten controinformazione (Gegeninformation),18 die selbst Informationen verbreiten und sich nicht länger mit dem Status des Empfängers begnügen wollte. Zwar 15 Vgl. Umberto Eco, »Dalla ›guerriglia semiologica‹ alla professionalità della comunicazione«, in: Aut-Aut, Nr. 163, 1978, S. 66. 16 Und sei es nur durch verbales Tam-Tam; vgl. Umberto Eco, »Obbiettività dell’informazione: il dibattito teorico e le trasformazioni della società italiana«, in: Umberto Eco / Marino Livolsi / Giovanni Panozzo, Informazione. Consenso e dissenso, Mailand 1979, S. 15–33. 17 Landesweite Bedeutung erlangten in Italien die beiden Tageszeitungen Il Manifesto und Lotta Continua; vgl. Patrizia Violi, I giornali dell’estrema sinistra, Mailand 1977. 18 Vgl. Pio Baldelli, Informazione e controinformazione, Mailand 1972; zur internationalen Diskussion: 3344 Cahiers de Recherches de S. T. D. (Université Paris 7), Nr. 4: Information Contre-Information?, 1978. Die von Eco vorgeschlagene Terminologie, die Tätigkeit der ›semiologischen Guerilla‹ als ›controinformazione‹ zu bezeichnen und das eigenständige Senden von Botschaften als ›alternative Information‹, konnte sich nicht durchsetzen; vgl. Umberto Eco / Patrizia Violi, »La Controinformazione«, in: Valerio Castronovo / Nicola Tranfaglia (Hrsg.), La stampa italiana nel neocapitalismo, (Storia della stampa italiana Bd. 5), Bari 1976, S. 97–172, bes. S. 100 ff.

kurz darauf wurden um sehr wenig Geld Sendeanlagen für eine Station gekauft, die bald unter dem Namen ›Radio Alice‹ bekannt werden sollte

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sah auch die Gegeninformation es als ihre Aufgabe an, Medienkritik zu leisten: die Techniken zu analysieren, mit denen Nachrichten manipuliert werden, wie etwa die sorgfältige Auswahl von Sendezeiten, das Verstecken der eigentlichen Nachricht im Rahmen anderer, scheinbar entgegengesetzter Nachrichten, oder die Auswahl vertrauenswürdiger Stimmen und Bilder; zu untersuchen, warum bestimmte Informationen zurückgehalten, entstellt oder erfunden werden; die Mechanismen zu verstehen, die Fälschungen möglich machen und auch glaubwürdig erscheinen lassen; – und insofern stand sie noch ganz in der Tradition der semiologischen Guerilla. Doch in erster Linie ging es darum, eigene Botschaften zu senden. Mit dem Bruch des staatlichen Rundfunkmonopols19 erweiterte sich der Bereich dieser Initiativen sprunghaft. Das Auftauchen der ›freien Radios‹,20 die von Eco wie von vielen italienischen Intellektuellen »mit berechtigter Genugtuung«21 begrüßt wurden, schien eine Ära absoluter Informationsvielfalt anzukündigen. Aber die erste Begeisterung war rasch verflogen. Die finanziell abgesicherten Privatstationen verdrängten sehr bald die kleinen, ›freien‹ Radios; und vor allem wurde schon nach kurzer Zeit klar, daß das Medium selbst sich einer einfachen ›Befreiung‹ widersetzt. Genauso rasch wie die Stationen sich vermehrten, verschwanden auch die Unterschiede zum staatlichen Rundfunk. Schließlich verkamen die ›freien‹ Radios weitgehend zu Sprachrohren politischer Gruppierungen oder wurden als Werbeträger der Unterhaltungsindustrie ›privatisiert‹.22 Nicht alle jedoch waren gewillt, ein so bescheidenes Auskommen zu finden. 19 Daß allerdings von Anfang an kapitalstarke Interessenverbände (die Elektronikindustrie, die großen Verlagshäuser und nicht zuletzt die politischen Parteien) im Rundfunk und erst recht im Fernsehen Fuß zu fassen versuchten und daß sie mittlerweile auch den Machtkampf im Äther für sich entschieden haben, soll hier nicht übersehen werden. Die Debatten um den öffentlich-rechtlichen Status der Medien und ihre Privatisierung sind bekannt; die Frage aber erhält zusätzliche Brisanz, wenn man sie im Licht der Diskussion über das Prinzip des ›free flow of information‹, das sich direkt aus der Doktrin des ökonomischen Liberalismus herleitet, und im Zusammenhang mit den Bestrebungen für eine ›new world informaton order‹ betrachtet; vgl. dazu Herbert I. Schiller, »Freedom From the ›Free Flow‹«, in: Journal of Communication, Nr. 24, 1974, S. 110–117; ders., »The Free Flow of Information – For Whom«, in: George Gerbner (Hrsg.), Mass Media Policies in Changing Cultures, New York/London 1977, S. 105–115; Antoine Lefébure / Maurice Ronai, »Arma a doppio taglio. La rivoluzione informatica apre un fronte decisivo della guerra economica e industriale«, in: Le Monde Diplomatique, Dossier 5: La rivoluzione informatica, Juli 1980, S. 5–49, bes. S. 46 ff.; Reiner Steinweg (Hrsg.), Medienmacht im Nord-Süd-Konflikt. Die Neue Internationale Informationsordnung, Frankfurt a. M. 1984. 20 Einen ersten aufschlußreichen Bericht lieferte Umberto Eco, »Das Ende eines Rundfunk-Monopols«, in: Die Zeit, Nr. 41, 1. Okt. 1976, S. 44. Über die Geschichte der ›freien Radios‹ in Italien informieren u. a. Paolo Hutter (Hrsg.), Piccole antenne crescono. Documenti, interventi e proposte sulla vita delle radio di movimento, Rom 1978; und dt. Mario Barbi, »Massenkommunikation in Italien – Probleme der ›Senderbewegung‹«, in: Sozialistisches Jahrbuch, Tübingen 1978, S. 156–182; sowie die Artikel von Edoardo Fleischner, Birgid Rauen und Robert Ruoff (siehe Literaturverzeichnis). 21 Umberto Eco, »Dalla ›guerriglia semiologica‹ alle professionalità della comunicazione«, in: Aut-Aut, Nr. 163, a. a. O., S. 62. 22 Zur Entwicklung des italienischen Privatrundfunks vgl. auch Giuseppe Richeri, Local Radio and Television Stations in Italy, Manuskript der International Commission for the Study of Communication Problems, (Unes­co) 1979, (darin die offiziellen Zahlen für 1978: 2275 lokale Radiostationen in Italien gegenüber 8240 in den USA, und 503 lokale TV-Stationen gegenüber 984 in den USA – damit hatte Italien die höchste Senderdichte bezogen auf die Bevölkerung und noch mehr bezogen auf die Bodenfläche); und zusammenfassend Frank Böckelmann, Selbstregulierung eines ›freien‹ Rundfunkmarktes, Berlin 1984.

freie radios

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IV. Bereits 1974, als die staatliche RAI23 noch das uneingeschränkte Rundfunk- und Fernsehmonopol besaß, munkelte man in Bologna über Pläne für einen Piratensender.24 Im November desselben Jahres organisierte das Kollektiv ›Controradio‹ ein Meeting, um das Projekt öffentlich zu diskutieren. Und kurz darauf wurden um sehr wenig Geld25 Sendeanlagen für eine Station gekauft, die bald unter dem Namen ›Radio Alice‹ bekannt werden sollte. Dann verstrichen mehrere Monate. Sie dienten den Initiatoren des Unternehmens, die hauptsächlich aus dem Kreis um die Zeitschrift A/traverso kamen, zu technischen Vorbereitungen und zur theoretischen Auseinandersetzung mit den Problemen der Massenkommunikation und des Rundfunks im besonderen. Als aber in der Septembernummer ’75 von A/traverso der Artikel »soggeTTo colleTTivo emeTTe a/Traverso«26 erschien, war aus dem Vorhaben ein Versprechen geworden. Der Aufsatz enthält, wenn auch noch sehr allgemein und unsystematisch, schon einige grundlegende Elemente einer eigenständigen Medienkonzeption; er nennt – als Voraussetzung die Existenz der ›wissenschaftlich-technischen Intelligenz‹, die fähig ist, mit den modernen elektronischen Medien umzugehen, aber auch imstande, ihre Funktion zu verändern; – als Grund für die Wahl des Mediums Rundfunk seine gegenüber der Schrift viel reicheren Möglichkeiten: die Aktualität, die der Mitteilung verliehen werden kann, und vor allem seine Besonderheit, als »multiples feed-back« zu funktionieren;27 – als Absicht, Information nicht als Dienstleistung zu betrachten und das Medium als neutrale, leere Struktur, die man nur mit Inhalten zu füllen brauche: vielmehr gehe es darum, die Kommunikationsweise jenseits der Inhalte zu verändern. 23 Radio Audizioni Italiana 24 Roberto Faenza betrieb zu der Zeit die halblegale Radiostation ›Bologna Libera‹; vgl. auch Roberto Faenza, Wir fragen nicht mehr um Erlaubnis, Berlin 1975. 25 Etwas mehr als 300.000 Lire, das entspricht heute etwa 1 1.000; vgl. Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 99 (112). Der Preissturz für derartige Geräte und Bauteile spielte eine wichtige Rolle und die Elektronik auch in dieser Hinsicht den Geburtshelfer der ›freien‹ Radios – wenngleich die technischen Anlagen für diesen Sender aus alten Militärbeständen stammten: so wiederholte sich hier jener »Mißbrauch von Heeresgerät«, dem die Entstehung des Unterhaltungsrundfunks zu verdanken ist; vgl. Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 147. 26 »ein kollektives Subjekt sendet diagonal«, in: A/traverso, Sept. 1975, S. 2. 27 Die Vorstellungen von Feedback scheinen damals noch sehr begrenzt gewesen zu sein: So sollten verschiedene Rezeptionsweisen einer Sendung auf Tonband aufgezeichnet und die Sendung dann sozusagen samt Empfang nochmals ausgestrahlt werden. Wegen des nicht-legalen Status der ›freien Radios‹ war offenbar noch nicht an die Verwendung des Telefons als Medium der Rückkoppelung zu denken. Ein ähnlicher Gedanke zum Feedback findet sich übrigens bei William S. Burroughs, »Der erste Watergate-Skandal passierte im Garten Eden«, in: ders., Die elektronische Revolution, o. O., 21976, S. 17 f.: »Jede Aufnahme, die am Aufnahmeort wieder abgespielt wird, kann einen Effekt auslösen (. . .) Wenn man eine Aufnahme von einem Verkehrsunfall am Unfallort wieder abspielt, kann das einen neuen Unfall auslösen.« Der Einfluß von Burroughs wie überhaupt der kalifornischen Technologiekritik ist nicht zu übersehen. Wichtig war auch die französische Zeitschrift Interférences, die eine internationale Vermittlungsfunktion besaß: sie informierte über ähnliche Versuche in anderen Ländern und über den aktuellen Stand der Medientheorie.

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Abgesehen von der Verwerfung der Gegeninformation als bloßer Dienstleistung werden dabei zwei sehr gegensätzliche Gesichtspunkte in Betracht gezogen: Zum einen jene Position, die Enzensberger28 im Gefolge von Brechts Radiotheorie29 eingenommen hat: Die Medien sind gegenwärtig dem Monopol der herrschenden Klasse unterworfen, welche sie zu ihrem Vorteil »umfunktioniert«; ihre Struktur jedoch bleibt grundlegend egalitär. Es sei Sache der revolutionären Praxis, die ihnen eingeschriebenen, durch die kapitalistische Ordnung aber pervertierten Möglichkeiten freizusetzen, die Medien zu befreien und sie ihrer wirklichen, sozialistischen Bestimmung zurückzugeben. Nicht die Medien als solche stellen ein Problem dar, sondern wer sie kontrolliert, und davon hänge ab, ob ihr emanzipatorisches Potential sich auch wirklich entfalten könne. Dem gegenüber steht die Ansicht, wie sie emphatisch von McLuhan mit der berühmten Formel the medium is the message30 und mit umgekehrten Vorzeichen teilweise von der Frankfurter Schule31 vertreten wurde: Weil das Medium die Botschaft unabhängig von Inhalt und Empfänger strukturiert, ist es allemal stärker als sein jeweiliger Betreiber. Während Adorno aus diesem Grund jeden abweichenden Gebrauch von Rundfunk und Fernsehen für ausgeschlossen hält,32 stellt McLuhan begeistert fest: Die Medien revolutionieren alles – sie sind selbst die Revolution. Beide Ansätze spielen in der Diskussion um die Gründung des Radios eine gewisse Rolle,33 erweisen sich aber in bezug auf die turbulente Entwicklung, die Radio Alice in seinem kurzen Leben durchlaufen sollte, als ziemlich begrenzte und kaum brauchbare Modelle. Manche Aspekte, wie der »dörfliche Zauber«, den der Rundfunk McLuhan zufolge ausstrahlt, oder der »schmutzige« Charakter der elektronischen Medien, von dem Enzensberger spricht, finden in der Praxis dieses ›freien‹ Senders ihre Bestätigung. Sie werden jedoch in einer Weise radikalisiert, die sowohl den schönen Optimismus in der transmedialen 28 Hans Magnus Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch, 20: Über ästhetische Fragen, 1970, S. 159–186. 29 Bertolt Brecht, »Radiotheorie (1927–1932)«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1967, S. 117–134. Ähnliche Postulate wie die Brechts, den Rundfunk »aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln« (S. 129), was »eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivierung und Wiedereinsetzung als Produzent« (S. 126) erfordere, finden sich auch bei Benjamin: »Es ist der entscheidende Irrtum dieser Institution, die grundsätzliche Trennung zwischen Ausführendem und Publikum, die durch ihre technischen Grundlagen Lügen gestraft wird, in ihrem Betrieb zu verewigen.« Walter Benjamin, »Reflexionen zum Rundfunk«, a. a. O., S. 1506; vgl. dazu auch Sabine Schiller-Lerg, Walter Benjamin und der Rundfunk. Programmarbeit zwischen Theorie und Praxis, München 1984. 30 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Frankfurt a. M./Hamburg 1984. 31 Etwa Theodor W. Adorno, »Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens«, in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 51972, S. 9–45. 32 »Die technische Struktur des Rundfunks macht ihn gegen liberale Abweichungen, wie die Filmindustriellen sie auf dem eigenen Feld noch sich gestatten können, immun.« Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Amsterdam 1968, S. 189. Zum Fernsehen äußerte sich Adorno später etwas milder. 33 Brecht und Enzensberger werden in den Texten des Radiokollektivs mehrmals zitiert, McLuhan wurde jedenfalls gelesen. »Non vogliamo dilungarci quindi su analisi già chiare da decine di anni soffermandoci su potenzialità tecniche risapute« (Wir wollen uns daher nicht in Analysen ergehen, die seit Jahrzehnten schon klar sind, und uns nicht länger mit der altbekannten technischen Leistungsfähigkeit aufhalten), Radio Alice, »Per una teoria dell’uso liberato del mezzo radiofonico«, in: Paolo Hutter (Hrsg.), Piccole antenne crescono, a. a. O., S. 57.

wort und antwort

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Prosa McLuhans verblassen lassen als auch die pädagogischen Illusionen und die Umkehrungs-Mystik, die Enzensberger beschwört, wenn er die Frage der Eigentumsverhältnisse in den Mittelpunkt stellt.

V. Dies, weil das Medium nun als funktionelles Objekt betrachtet wird, das – paradigmatisch für »eine Praxis der technologischen Destrukturierung«34 – von seiner Funktion, seinem Funktionieren abgebracht werden soll. Mario Barbi, einer der Redakteure von Radio Alice, nennt rückblickend die Ausgangsthese hierfür: »Versteht man Kommunikation als Produktion und Austausch von Zeichen zwischen mindestens zwei Personen, die in ein soziales Verhältnis, in Interaktion zueinander treten, so kann man feststellen, daß das System der Massenkommunikation eben die Funktion hat, jede Interaktion auszulöschen, und daß es entsprechend modelliert wird.«35

Was die Massenkommunikation charakterisiert, ist also die Tatsache, daß sie Nicht-Kommunikation produziert. Die Massenmedien zielen gewissermaßen darauf ab, die kommunikativen Beziehungen zu mindern, sie zu neutralisieren oder in vorgegebene Muster zu kanalisieren. In institutionelle Kanäle. Dabei verzahnen sich Ausschließung und schweigende Zustimmung: »Im System der Massenkommunikation ist das Subjekt durch den Journalisten seiner Möglichkeit beraubt, eigene Botschaften zu produzieren wie auch deren Kontext zu bestimmen (. . .) Das Empfänger-Subjekt hat es also mit einer Botschaft zu tun, die zwar eine Information ist (es passiert etwas), aber gleichzeitig eine Aufforderung, der gegebenen Interpretation zuzustimmen und die Art, wie die Gesellschaft dargestellt wird, zu akzeptieren.«36

Die arbeitsteilig vermittelte Enteignung des sprechenden Subjekts stellt nur ein Element im Funktionszusammenhang der Massenmedien dar; bedeutsamer ist, daß in den geschlossenen Kanälen institutioneller Massenkommunikation Wirklichkeit nur gebrochen zur Sprache kommt. Der Funktion der Trennung zwischen Akteur und Informant wie zwischen Sender und Empfänger entspricht die Form der Abstraktion: Jedes Ereignis verwandelt sich sofort in ein Modell. Nur als solches passiert es die Informationskanäle, die eben lediglich modellierte Inhalte übermitteln. Umgekehrt ist Information zu einem System der Interpretation geronnen, zu einem engmaschigen Netz von Bedeutungsmodellen, dem kein Ereignis entkommt, sobald es ans Licht der Öffentlichkeit geführt wird. Ist alles in Modelle 34 »una pratica di destrutturazione tecnologica«, Mario Barbi, »Teoria materialista della comunicazione: richezza della teoria, miseria della pratica?«, in: Aut-Aut, Nr. 163, a. a. O., S. 31. 35 »Se la comunicazione è una attività di produzione e scambio segnico tra almeno due persone che instaurano tra loro un rapporto sociale, una interazione, scopriamo che il sistema della comunicazione di massa ha per funzione quella di abolire l’interazione e che in tal modo viene modellato.« Ebd., S. 29. 36 »Nel sistema della comunicazione di massa il soggetto è espropriato dal giornalista della produzione del messaggio che lo parla e della contestualizzazione di questo (. . .) Il soggetto-ricevente ha così a che fare con un messaggio che è sì una informazione (sta succedendo questo), ma è anche una domanda ad acconsentire all’interpretazione fornita e un ordine ad accettare il modo in cui la società viene rappresentata.« Ebd.

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im wunderland der medien

verwandelt, zu Zeichen neutralisiert, seines Sinns entleert, herrscht universelle ›Kommunizierbarkeit‹. Die Bezugnahme auf Baudrillard ist offenkundig: er hat das Prinzip der Massenmedien prägnant als »Wort ohne Antwort« bezeichnet und ihre Wirkung als »Unmöglichkeit der Antwort«37. Um das zu erläutern, zog er einen Vergleich mit den sogenannten ›primitiven Gesellschaften‹. Dort gehöre die Macht demjenigen, »der zu geben vermag und dem nicht zurückgegeben werden kann. Geben, und zwar in einer Weise, daß einem nicht zurückgegeben werden kann, das heißt den Tausch zum eigenen Vorteil zu durchbrechen und ein Monopol aufzurichten (. . .) In der Sphäre der Medien verhält es sich ebenso: hier wird zwar gesprochen, aber so, daß nirgends darauf geantwortet werden kann.«38 Das Vorhandensein autonomer Sendekanäle jedoch erlaubt nun, die Ordnung dieser hochformalisierten Nicht-Kommunikation zu stören. »Die Radios haben einen Kommunikationskanal geschaffen, der unmittelbar sozial ist, weil er die Interaktion und die Antwort-Aktion begünstigt.«39

Die Wiederherstellung der Möglichkeit zur Antwort, zur Erwiderung – oder mit einem Wort aus der Fechtkunst, zur Riposte – provoziert eine Krise in der bestehenden Organisation der Massenkommunikation und läßt die »gesamte gegenwärtige Architektur der Medien«40 in einem neuen Licht erscheinen: Wenn die Massenmedien nicht so sehr Träger eines bestimmten Inhalts sind und die Zirkulation einer Aussage deren Sinn modelliert, dann geht es nicht so sehr darum, andere Inhalte auszumachen, sondern den Sinntransfer auf die Modellierung selbst zu erfassen.41 Dann aber genügt nicht einfach – in einer Art Kurzschluß – die heroische Geste der Aneignung jenes Ortes, an dem die Zeichen produziert werden. Vielmehr stellt sich zunächst die Frage, wie das, was und worüber das Medium berichtet, durch die Berichterstattung verändert wird; sodann die Frage, ob die Perspektive dieser Veränderung ihrerseits geändert werden kann; und schließlich die Frage nach einer Modifizierung aller Termini jenes Systems der Nicht-Kommunikation – was dem Umsturz der funktionellen Struktur ihrer Medien gleichkäme.

VI. Das früheste, mit Januar ’75 datierte Dokument des bologneser Radiokollektivs weist bereits in die Richtung eines solch globalen Angriffs. Unter dem Titel »informazione e appropriazione«42 findet sich erstmals die aus einer Kritik an der Gegeninformation entwickelte Bezeichnung guerriglia informativa. Gewiß eine Anspielung auf die guerriglia semiolo37 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, a. a. O., S. 64. 38 Jean Baudrillard, »Requiem für die Medien«, in: ders., Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 91 f. 39 »Le radio hanno aperto un canale di comunicazione che è immediatamente sociale perchè favorisce l’interazione e la risposta-azione.« Mario Barbi, »Teoria materialista della comunicazione«, a. a. O., S. 31. 40 Jean Baudrillard, »Requiem für die Medien«, a. a. O., S. 91. 41 »In Wirklichkeit ist das Medium das Modell par excellence.« Ebd., S. 99. 42 »Information und Aneignung«, zuerst in: A/traverso, quaderno 2, März 1976, S. 11 u. 14; ein leicht veränderter Wiederabdruck auch in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 111–117 (124–130).

inform/azione

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gica – nicht zu Unrecht, hatten doch die Erfahrungen jahrelanger ›semiotischer Guerillatätigkeit‹ eine ganze Generation den kritischen Umgang mit den Massenmedien gelehrt. Jetzt aber verkehrt sich die Bedeutung der Rede vom ›kleinen Krieg‹: Die ursprünglich damit bezeichnete Praxis einer abweichenden Rezeption weicht einem offensiveren Vorgehen. Das Operationsfeld der Informationsguerilla verschiebt sich vom radikalen Rezeptionsverhalten auf die Ebene »del sabotaggio del ciclo informativo«43. Aber nicht die nihilistische Seite der Sabotage, bei der nach der Handlung nur noch die negative Erfahrung vorhanden zu sein braucht,44 ist hier gemeint, nicht das Abschalten, Unterbrechen oder Zerstören, sondern eine produktive, auf Kommunikation gerichtete Dimension. Darin besteht auch der prinzipielle Unterschied zur Gegeninformation, deren Aufmerksamkeit einzig dem Inhalt der Information gilt. Da diese elementare Form alternativer Information die Beziehungen sowohl zwischen Code und Botschaft als auch zwischen Sender und Empfänger im wesentlichen unverändert läßt, läuft sie Gefahr, die bestehenden Kommunikationsverhältnisse zu reproduzieren: Gefangener der Struktur des angeeigneten Mediums zu werden und schließlich Opfer des Status als Sender. Ihr Publikum sind weiterhin die ›passiven Massen‹, die jetzt zwischendurch mit ›wahreren‹ Aussagen beliefert werden und allzuoft auch mit ›nichts als der Wahrheit‹. Anders die Informationsguerilla. Zwar muß auch sie sich das Medium aneignen, doch der Inhalt tritt zunächst in den Hintergrund. »Informieren genügt nicht. WER sendet WER empfängt? (. . .) Es handelt sich nicht um wahrere Information über dieselben Fakten, um genauere Information, um umfassendere, klarere, angemessenere, um korrektere Information (wie ›korrigiert‹ man Information?) Es handelt sich um etwas anderes; um eine andere Information über andere Fakten.«45

Nicht so sehr die Botschaft steht zur Diskussion. Auch sie – aber nicht in erster Linie. Das Entscheidende an der Strategie der Informationsguerilla liegt in der Ausdehnung der Intervention auf den gesamten Informationszyklus: »Die Informationsguerilla, die organisierte Umwälzung der Informationszirkulation, der Bruch der Beziehungen zwischen Ausgabe und Verbreitung der Daten.«46

Mit der Privilegierung der Zirkulation als Feld der Auseinandersetzung ist die von den Massenmedien installierte Kommunikationsweise, ihr Funktionieren insgesamt in Frage gestellt. Auch ihr ökonomisches: 43 »der Sabotage des Informationszyklus«, »informazione e appropriazione«, in: A/traverso, quaderno 2, a.a. O., S. 11. 44 Vgl. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1977, S. 458 ff. 45 »Informare non basta. Ki emette Ki riceve? / (. . .) Non si tratta di informazione più vera / sui medesimi fatti, informazione più dettagliata, / più vasta più articolata più adeguata, più corretta / (come si ›corregge‹ l’informazione?) / Si tratta d’altro; un’ altra informazione su altri fatti«, in: A/traverso, quaderno 2, a. a. O., S. 12; wiederabgedruckt in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 8 f. (18 f.). 46 »La guerriglia informativa, lo sconvolgimento organizzato della circolazione delle informazioni, la rottura del rapporto tra emissione e circolazione dei dati (. . .)«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 98 f. (111).

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im wunderland der medien

»Der Fluß von ständig gelieferten Informationen, seien es Nachrichten oder Musik, ist vergesellschaftetes Eigentum, das kollektiv hergestellt und kollektiv verbreitet wird. Es darf keine Information oder Nachricht geben, die aus dem Informationszyklus herausgenommen, angehäuft und dann im nachhinein verkauft wird (wie die Presseagenturen üblicherweise funktionieren): beim Radio wird durch die Unmittelbarkeit, den freien Zugang sowohl zur Ausstrahlung als auch zum Empfang, und durch die allgemeine Verbreitung die Möglichkeit geschaffen, die Konzeption des Privateigentums an der intellektuellen Arbeit zu überwinden.«47

Doch diese weitreichenden Konsequenzen sind nur ein Aspekt der Umwandlung üblicher Einweg-Kommunikation in eine Massen-Kommunikation, die diesen Namen verdient. »Non informazioni alternative, ma pratica che informa«48 lautet die paradox geschärfte Losung der Informationsguerilla; ihre Tätigkeitsform wird als »Inform/Azione«49 bezeichnet: Aktion, die informiert – kommunikative Praxis, die verändert. Und ihre strategische Energie stellt sich als einfache Gleichung dar: »Die kreative Zirkulation ist eins mit der Veränderung der Situation, in der der Text zirkuliert.«50

Die Techniken, derer sich die Informationsguerilla bedient, sind keineswegs geheimnisvoll. Einige sind alt und oft nur in Vergessenheit geraten, andere wurden schon von der historischen Avantgarde erprobt. Manche entstammen der karnevalistischen Tradition, und gewiß wurde auch mit den Sophisten Umgang gepflegt. In vielen Fällen aber ist es allein die weniger systematische Anwendung der gängigen medialen Strategien, oder ihre Zweckentfremdung, die überraschende Wirkungen hervorruft. Und manchmal handelt es sich um wirkliche Erfindungen.

47 »Il flusso di informazioni che vengono date in maniera continua, siano esse notizie o musica, sono proprietà sociale, che in modo collettivo viene prodotta e in modo collettivo viene diffusa. Non deve esistere una informazione o una notizia che venga estratta dal suo ciclo di circolazione, tesorizzata e poi venduta a posteriori (che è il funzionamento classico delle agenzie stampa): nella radio la instantaneità, la libertà di accesso sia alla trasmissione che alla ricezione, la generalità della diffusione, creano la possibilità di superare la concezione della proprietà privata del lavoro intellettuale.« Radio Alice, »Per una teoria dell’uso liberato del mezzo radiofonico«, a. a. O., S. 57 f. 48 »Nicht alternative Information, sondern eine Praxis, die informiert.« Franco Berardi, Finalmente il cielo è caduto sulla terra, Mailand 1978, S. 93. 49 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 91 (104). 50 »La circolazione creativa è tutt’uno con la trasformazione della situazione in cui il testo circola.«, »Sulla strada di Majakovskij«, in: A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 2.

Doch was ist das? Woher kam dieser Strom, diese Flut von überirdischen Gesängen, Flügelschlag, Pfiffen und Zok-Zok-Lauten mit einem ganzen Silberstrom aus wundervollen, verrückten Glöckchen, der sich, zusammen mit dem Gesang von Kindern und Flügelrauschen, von dorther ergoß, wo es uns nicht gab? Über jeden Dorfplatz des Landes ergossen sich diese Stimmen, dieser silberne Regenguß. Herrliche Silberschnellen strömten, mit Pfiffen, von oben herab. Waren es Himmelsklänge – Geister – die niedrig über die Hütte hinwegflogen? Nein . . . Der Musorgskij der Zukunft gab einen Nationalabend mit seinen Werken, auf die Radiostationen im Luftraum zwischen Vladivostok und dem Baltikum gestützt, unter den blauen Wänden des Himmels . . . Velemir Chlebnikov1 Chi è Alice, cosa fa Alice? Domande ingenue, perchè Alice è sempre da un’altra parte. Collettivo A/traverso2

»trasmettere è divertente«3 – SENDEN IST EIN VERGNÜGEN Die Sendeanlagen sind also gekauft und in einer verwinkelten, aus mehreren kleinen Zimmern bestehenden Mansardenwohnung im fünften Stock des Hauses Via Pratello 41 installiert. Dort, mitten im alten bologneser Stadtteil Pradel’, dem früheren Lumpenviertel, liegen die »ehrwürdigen, himmlischen, erhabenen« Studios von Radio Alice. Benannt ist die Radiostation nach jener Alice, deren Abenteuer Lewis Carroll in zwei berühmten Büchern erzählt hat.4 Und noch ein drittes Buch stand bei der Namensgebung Pate, Logique du sens von Gilles Deleuze,5 das die Paradoxien, die Carrolls Heldin durchreist, als Metaphern für die Mechanismen des Identitätsverlusts entschlüsselt. 1 »Radio der Zukunft« (1921), in: Velemir Chlebnikov, Werke, Bd. 2, Reinbek 1972, S. 272. 2 »Wer ist Alice, was macht Alice? Naive Fragen, denn Alice ist immer woanders.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., hintere Umschlagseite. 3 Aus einer Flugschrift mit dem Titel »Cossiga: ›per quante volte Radio Alice riapre, per tante volte la richiuderemo‹, novembre 77«, zit. n. Aut-Aut, Nr. 163, a. a. O., S. 22. 4 Lewis Carroll, Alice im Wunderland. Alice hinter den Spiegeln, übersetzt und hrsg. v. Christian Enzensberger, Frankfurt a. M. 1963. 5 Paris 1969.

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»TRASMETTERE È DIVERTENTE«

Nach einer langen, von der Analyse des Mediums Rundfunk beanspruchten Inkubationszeit beginnen Ende Jänner 1976 die ersten Probesendungen6: »White Rabbit von Jefferson Airplane – wird leiser

Musik wird lauter«7

Hier Radio Alice, endlich Radio Alice. Ihr hört uns auf der Frequenz von 100,6 Megahertz und werdet uns noch lange hören, wenn uns nicht vorher die Deutschen umbringen

Am 9. Februar nimmt Radio Alice dann den regulären Betrieb auf. Anfangs wird täglich von 6 Uhr 30 bis 8 Uhr 30 morgens und von 14 Uhr bis 2 Uhr nachts gesendet, bald aber ohne Unterbrechung von der Früh bis spät in die Nacht und manchmal noch länger. Am Morgen des ersten Tages wünscht eine sanfte Frauenstimme – mit indischer Musik im Hintergrund – den Hörern einen guten Morgen und fordert sie auf, im Bett zu bleiben: »›Eine Einladung an euch, heut morgen nicht aufzustehen, mit jemandem im Bett zu bleiben, euch Musikinstrumente zu bauen und Kriegsmaschinen.‹«8

Das Unerhörte dieser verführerisch vorgetragenen Ansage lag nicht allein in der gewagten Aufforderung9 – und was sollte das schon heißen, »Kriegsmaschinen«10 zu ersinnen? Entscheidender, daß hier eine Grenze überschritten wurde: Der erste Schritt war getan »vom kritischen Konsum des schon Gegebenen wie des schon Gesagten zur kritischen Produktion«11.

  6 Einige dieser Sendungen sind abgedruckt in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 12 ff. (22 ff.).   7 »White Rabbit dei Jefferson Airplane – sfuma / Qui Radio Alice. Finalmente Radio Alice. Ci state ascoltando sulla frequenza di 100,6 megahertz e continuerete a sentirci a lungo, se non ci ammazzano i crucchi / risale la musica«, ebd., S. 12 (22); ›White Rabbit‹: eine Anspielung auf das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland.   8 »›Un invito a non alzarvi stamattina, a stare a letto con qualcuno, a fabbricarvi degli strumenti musicali e delle macchine da guerra.‹« Ebd., S. 38 f. (50).   9 Damit wird einer von Chlebnikovs alten »Vorschlägen« (1914/16) wieder aufgenommen: »Die Kunst des leichten Erwachens aus dem Schlaf zu entwickeln.« In: Velemir Chlebnikov, Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 227. 10 Der Begriff stammt von Deleuze und Guattari: »Was haben denn die Nomaden gemacht? Gegen den Staatsapparat haben sie Kriegsmaschinen erfunden, die etwas ganz anderes sind als der Staatsapparat.« Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 39. 11 »dal consumo critico del già dato come del già detto alla produzione critica«. Angelo Pasquini, »Il messaggio non è uno«, in A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 6. Wiederabdruck in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 95 (108).

SENDEN IST EIN VERGNÜGEN

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Radio Alice hatte sich gegen die massenmediale Nicht-Kommunikation eine Stimme erobert. Eine Stimme, die niemandes Sprachrohr sein wollte, weder Verkünder der Wahrheit, noch Animateur der sogenannten Basis: »Das Radio als Ausgangshypothese, als Spiel, weder Ziel noch befreiende Praxis.«12 Das Spiel konnte beginnen.

12 »La radio come ipotesi di partenza, come gioco, non obbiettivo nè pratica liberatoria.« Ebd., S. 97 (110). Benjamin schrieb schon 1929 vom Fernsehen, »daß seine künstlerischen Verwendungsmöglichkeiten (. . .) umso vielfältiger sein werden, je mehr es gelingen wird, (. . .) mit ihm zu spielen.« Walter Benjamin, »Gespräch mit Ernst Schoen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 550.

›Eine Einladung an euch, heut morgen nicht aufzustehen, mit jemanden im Bett zu bleiben, euch Musikinstrumente zu bauen und Kriegsmaschinen.‹

Auf den Turmbau zu Babel verstehen wir uns besser als auf das Parlament Viktor Šklovskij1 es können beliebig viele mitspielen William S. Burroughs2

WER SPRICHT?

I. Die Intervention auf den gesamten Zyklus der Information ausdehnen: diese Strategie der Informationsguerilla zielt auf die methodische Dekonstruktion der herrschenden Medienrealität. An ihrem Anfang steht die Aneignung eines Mediums, die Inbesitznahme des Ortes, von dem aus gesendet wird. Zwei spezifische Eigenschaften des Rundfunks3 kommen dabei in ganz unterschiedlicher Weise zum Tragen. Einmal die hohe Geschwindigkeit der Informationsübermittlung. Sie ist für Radio Alices Konzept der direkten Information von wesentlicher Bedeutung. Denn die lichtschnelle Ausbreitung der Wellen erlaubt »jene Verspätung der Schrift«4 gegenüber den Ereignissen, die der räumlichen oder zeitlichen Distanz entspricht, zu überwinden: In der Live-Sendung schließlich gibt es nicht nur eine Synchronität zwischen Sender und Empfänger, sondern auch der Abstand zwischen dem Ereignis und seiner Übertragung wird minimal. Die andere Fähigkeit der Radiowellen hingegen, nämlich große Entfernungen zu überbrücken, ist von Beginn an sozusagen staatlich limitiert; ihr sind mit einem Radius von fünfzehn Kilometern enge Grenzen gesetzt.5 Dennoch liegt die durchschnittliche Hörerzahl 1 Viktor Schklowskij, Zoo oder Briefe nicht über die Liebe, a. a. O., S. 34. 2 William S. Burroughs, »Die unsichtbare Generation«, in: Klaus Schöning (Hrsg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, Frankfurt a. M. 1970, S. 239. 3 Seine Vorgeschichte als Kriegsgeschichte wird oft unterschlagen. Die Erfindung des Bolognesers Guglièlmo Marconi erlangte im 1. Weltkrieg große Bedeutung für die Übermittlung militärischer Nachrichten insbesondere bei der Marine. Zivilen Rundfunk gab es – zuerst in den Vereinigten Staaten – erst ab 1921. Bemerkenswert ist eine weitere, anfangs als negativ betrachtete ›Eigenschaft‹ dieser Erfindung: »die mögliche Interzeption gesendeter Nachrichten. (. . .) Und nichtsdestoweniger wurde genau dieser Defekt nach etwa 30 Jahren ausgenutzt und ist zum Rundfunk geworden«; aus Marconis selbstverfaßtem Nachruf, der unmittelbar nach seinem Tod von Radio Roma ausgestrahlt wurde, zit. n. Orrin E. Dunlap, Jr., Marconi. The Man and His Wireless, New York 1941, S. 353. 4 »quel ritardo delle scrittura rispetto al processo reale«, in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 106 (119). 5 Zumindest seit Juli 1976, als ein weiteres Urteil des Verfassungsgerichtshofs die ›lokalen‹ Rundfunkstationen legalisiert, sie aber gewissen Reglementierungen unterwirft.

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wer spricht?

von Radio Alice bei 30.000.6 Und die geringe Reichweite wird weniger als Mangel denn als Herausforderung erlebt. Die lokale Beschränkung verkehrt sich in eine Dimension der Bereicherung, der Intensität – der ›Perversion des Lokalen‹, wie man in Anspielung auf die Ökonomie der Partialtriebe sagen könnte. Nicht ohne Grund sprach McLuhan vom Radio eben als einer »Stammestrommel«7. Alle weiteren Parameter eines normalen Rundfunkbetriebs aber werden experimentell modifiziert. Auch so grundlegende organisatorische Gegebenheiten wie der hohe Grad der Arbeitsteilung und der übliche große Kostenaufwand. Beidem entgeht Radio Alice: die technische Ausstattung ist bescheiden, der Betrieb einfach und billig, der Empfang gratis. Außerdem gibt es keine Werbesendungen.8 Finanziert wird der populäre Sender durch Spenden und den Erlös aus öffentlichen Veranstaltungen. Die Tätigkeit der Mitarbeiter wird nicht bezahlt. Und was die Arbeitsteilung angeht, so zeigt sich, daß die Bedingungen ihrer Aufhebung in der Vergesellschaftung des Kommunikationskanals angelegt sind. Zumal, wenn man auch die Trennung zwischen Sender und Empfänger als Arbeitsteilung auffaßt.

II. »Informare non basta«, schrieb das Radiokollektiv, »Ki emette Ki riceve?« Die Schreibweise9 schon signalisiert das Angriffsziel: die extreme Polarisierung der kommunikativen Rollen. In der direkten Kommunikation noch verschränkt, ist ihre strikte Scheidung in Sender und Empfänger für die gegenwärtige Organisation der Massenkommunikation konstitutiv;10 nicht jedoch – und das wußte schon Brecht – ist diese Trennung naturgegeben, noch ist sie technisch bedingt. 16 Bei einer Einwohnerzahl Bolognas von beinahe einer halben Million; vgl. Giuliano Buselli, »II moderno principe a Bologna«, in: Primo Maggio, Nr. 8, 1977, S. 37. Diese Zahl dürfte ungefähr stimmen, auch wenn sie keinen Sponsoren vorgelegt werden mußte; zum Vergleich: laut einer 1976 durchgeführten Umfrage der RAI erreichten die ›alternativen‹ Rundfunksender Roms über 300.000 Hörer und die lokalen Radios Italiens insgesamt täglich 3,8 Millionen; vgl. dazu Michael Klier / Roberto Faenza, »Piratensender in Italien«, in: Filmkritik, Nr. 247, Juli 1977, S. 342; die »Teilnehmerstatistik der Europäischen Rundfunkunion (EBU)« vom 31. 12. 1976 weist für Italien 22,7% der Bevölkerung als Fernsehteilnehmer und 23,2% als Rundfunkteilnehmer aus; vgl. Media-Perspektiven, Nr. 6, 1977, S. 361. 17 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, a. a. O., S. 286 ff. 18 Schon damals war die finanzielle Basis der lokalen Sender meist die Werbung. Seither stieg nicht nur die Zahl der Radiostationen in Italien auf 6400 und die der Fernsehstationen auf rund 600, sondern auch die Bedeutung der Werbung enorm; vgl. Regine Igel, »Stärker als Rambo. ›Noch werden die Werbespots im Fernsehen von Spielfilmen unterbrochen‹«, in: Die Zeit, Nr. 12, 13. März 1987, S. 38. 19 Zur ironischen oder aggressiven Konnotation des Buchstaben ›k‹ statt ›c‹ bzw. ›ch‹ vgl. die Diskussion von Luciano Graziuso / Ghino Ghinassi, »Kappa ›ironico‹?«, in: Lingua Nostra, Nr. 37, 1976, S. 119–120; Livio Petrucchi, »Ancora qualche osservazione sull’uso del kappa ›politico‹ in Italia«, in: Lingua Nostra, Nr. 38, 1977, S. 114–117; schließlich Fabio Marri, »Vecchie diskussioni sul K«, in: Lingua Nostra, Nr. 40, 1979, S. 49–55. 10 »Der Schritt vom Telephon zum Radio hat die Rollen klar geschieden. Liberal ließ jenes den Teilnehmer noch die Rolle des Subjekts spielen. Demokratisch macht dieses alle gleichermaßen zu Hörern, um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen der Stationen auszuliefern.« Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 146.

sender und empfänger

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So führt denn auch die Öffnung der Radiostationen zu einer radikalen Änderung der Positionen von Sender und Empfänger.

Musik wird lauter«11

»Radio Alice sendet alles mögliche: was ihr wollt und was ihr nicht wollt, was ihr denkt und was ihr zu denken glaubt, vor allem wenn ihr hierher kommt, um es zu sagen, oder wenn ihr uns unter folgender Nummer anruft: 66 oder 271428 oder 80 und so weiter, im Herzen von Bologna

Die Hörer von Radio Alice sind aufgerufen, nicht länger Zuhörer, bloße Empfänger von Information zu bleiben, sondern die »naturgemäßen Folgerungen aus den Apparaten zu ziehen«12: entweder indem sie zum Telefon greifen und, wenn sie unterwegs sind, einige Münzen in den Automaten werfen, um auf Sendung zu gehen, oder indem sie einfach die Radiostation aufsuchen. Tatsächlich herrscht reges Treiben im Stiegenhaus der Via Pratello 41 – ein ständiges Kommen und Gehen. Und da alle Anrufe direkt ausgestrahlt werden, kann es auch vorkommen, daß man im Radio Stimmen hört, die nur die Redakteure beschimpfen: »Nächstes Live-Telefonat: ›Dreckige Kommunisten, wir werden es euch teuer heimzahlen dieses Radio, wir wissen, wer ihr seid‹«13

Was aber ist es, das den Hörer so gegen dieses Radio aufbringt? Daß er sich selbst auf dessen Wellenlänge hören kann? Offensichtlich eine Situation voller Widersprüche. Jedenfalls stellt sie das präzise Gegenteil jenes langweiligen, um nicht zu sagen armseligen Schauspiels dar, das seit einigen Jahren von fast allen Rundfunk- und Fernsehanstalten inszeniert wird, um ›Publikumsbeteiligung‹ zu demonstrieren: ist diese doch nichts weiter als die Simulation von Reversibilität,14 die – in den Sendeablauf integriert – an dessen Eintönigkeit nichts ändert. Da werden einzelne, meist repräsentativ ausgewählte Exemplare des großen Publikums als Boten jenes ›unverfälschten Lebens draußen‹ 11 »Radio Alice trasmette di tutto: quello che volete e quello che non volete, quello che pensate e quello che pensate di pensare, specie se venite a dirlo qui o se ci telefonate a questo nummero, 66 o al 271428 o all’80 e così via, nel cuore di Bologna / risale la musica«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 14 f. (25). 12 Walter Benjamin, »Reflexionen zum Rundfunk«, a. a. O., S. 1506. 13 »altra telefonata in diretta: / ›Sporchi comunisti ve la faremo pagare cara questa radio, sappiamo chi siete‹«, in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 38 (50). An dieser radikal-demokratischen Offenheit des Radios nahm selbst Eco Anstoß: vgl. Umberto Eco, »Con qualche radio in più«, in: Corriere della Sera, 21. März 1977, S. 3. (Eine leicht gekürzte Übersetzung in: Alternative, Nr. 114/15: Wer spricht für wen?, Juni/Aug. 1977, S. 146–148.) 14 Der Begriff ›Reversibilität‹ beschreibt die Möglichkeiten, »den Kommunikator zum Rezipienten werden zu lassen und umgekehrt«, Walter A. Koch, »Massenkommunikation«, in: ders., Varia Semiotica, Hildesheim/ New York 1971, S. 122.

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präsentiert.15 Aus dem phone-in16 beliebig ausgeblendet, in knapper Zeit verzweifelt um Perfektion bemüht oder als Gäste in der Live-Sendung nur Opfer professioneller Routine haben sie allesamt nicht die geringste Chance, die Medien als Kommunikationsmittel zu benützen. Einen schärferen Gegensatz zu solch entmündigender Flexibilität eines Feedback17, das formale Umkehrbarkeit erlaubt, ohne irgendetwas an der Rollenscheidung zu ändern und an der Abstraktheit des Gesamtprozesses, ja eine heftigere Gegnerschaft dazu läßt sich kaum denken, als sie in den Experimenten von Radio Alice zutage tritt. Hier nämlich ist die Möglichkeit des Eingriffs, des Wortergreifens keine Farce. Indem das Telefon – mehr noch, weil wirkungsvoller als der freie Zugang zu den Mikrofonen im Studio – jeden ermächtigt, öffentlich das Wort zu ergreifen, beginnt die Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger ihren Sinn zu verlieren. Und zwar auf drastische Weise: Die Deplazierung des Ortes, an dem gesprochen wird, zerstreut auch die Verfügungsgewalt über das Medium. Radio Alice versteht sich als Kommunikationsmittel zur allgemeinen Verwendung. »La voce degli estromessi«18, die Stimme der Ausgeschlossenen, derer, die nie etwas zu sagen hatten, ist auf der Frequenz von 100,6 MHz zu hören, »die bedrohliche Stimme derer, denen das Wort entzogen wurde«19. Wenn das Radio allen offensteht, die etwas sagen wollen, und zugleich allem, ›wovon man nicht spricht‹, dann ist die Sendestation weniger ein Sender im Sinne einer Zentrale, in der alle möglichen Informationen zusammenlaufen, um nach bestimmten Regeln wieder 15 Anfang der 60er Jahre formulierte Adorno: »Die aber aus dem Publikum herausgeholt werden, um dem Publikum sich zu zeigen, dürften so sehr ausgesiebt werden, daß sie in Wahrheit kaum jene Leute von der anderen Seite der Trennungslinie sind, als welche man sie vorführt. Selbst wenn sie wie die legendäre mythische Hausfrau aussehen, sie sind zu ihrer eigenen Durchschnittlichkeit erst stilisiert; je natürlicher sie sich gebärden, umso peinlicher empfindet man die Stilisation.« Theodor W. Adorno, »Kann das Publikum wollen?«, in: Anne Rose Katz (Hrsg.), Vierzehn Mutmaßungen über das Fernsehen, München 1963, S. 55. 16 Dessen Risiken sind mittlerweile technisch perfekt ausgesteuert. Einen guten Einblick in die Mechanik des phone-in gibt der 1968 verfaßte und nach der Präsidentschaft Reagans spielende Roman von Norman Spinrad, Champion Jack Barron, München 1982. Da sitzt Vince Gelardi, neapolitanisches Schlitzohr, in der Regiekabine und stellt Anrufe je nach dessen Bedarf in Jack Barrons wöchentliche Fernsehshow durch; sein Repertoire reicht von getürkten Telefonaten über einen »Wartesaal« bis zur sogenannten »Affensperre«, die verhindern soll, daß Anrufe durchgeschaltet werden, die zu Komplikationen führen könnten. Einige Kostproben aus der Regieleitung: »›He, Jack, tut mir leid. Er war die ganze Zeit echt komisch, bis er auf Sendung war. Hörte sich an wie ’n armer Irrer, der was vom Wiederaufleben des Sklavenmarktes sabberte‹« (S. 202). Oder Barron: »›He, Vince‹, bat er, ›(. . .) Man soll Mrs. Pulaski sehen, aber nicht hören. Laß ihren Ton abgestellt, es sei denn, ich stelle ihr direkt eine Frage. Und wenn du sie abschalten mußt, dann blende sie aus, so wie bei einer schlechten Verbindung‹ (. . .) Ihre Stimme schwappte über und versank schließlich in simulierten Störgeräuschen, als Vince sie ausblendete. ›Scheint, als wäre bei Mrs. Pulaskis Verbindung der Wurm drin‹, sagte Barron weiter« (S.126 ff.); vgl. auch S. 65, 196 und 305. 17 Wahrscheinlich sollte man unter Feedback nicht nur den Grad der Ausrichtung auf sogenannte ›Konsumentenwünsche‹ verstehen, wie es Walter A. Koch, »Massenkommunikation«, a. a. O., S. 121, vorschlägt, sondern jenen komplexen Steuerungsmechanismus, auf den die kybernetischen Systeme sich so blendend verstehen: »Sie sind in der Lage, das was sie negiert, als zusätzliche Variable einzuführen. Sie sind in ihrer Operation selbst die Zensur. Es bedarf keines Metasystems.« Jean Baudrillard, »Requiem für die Medien«, a. a. O., S. 108. 18 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 36 ff. (48 ff.). 19 »la voce minacciosa di coloro, a cui la parola è stata tolta«. Ebd., S. 59 (71).

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verbreitet zu werden oder auch nicht, sondern eher ein Relais, ein Durchgangsort, an dem ansonsten unhörbare und unerhörte Stimmen einfach verstärkt werden: kein zentral distribuiertes Programm, sondern eine Redistribution der Möglichkeit, das Wort zu ergreifen. Für Stimmen, die immer altrove20, ›anderswo‹ sind und ohne institutionelle Legitimation sprechen – Stimmen ohne Status, ohne Wahrheitsanspruch. Kein Wunder, daß die Ortlosigkeit dieses Sprechens, die Bodenlosigkeit seiner Diskurse dem Radio Vorwürfe und Anfeindungen als ›Unruhestifter‹ einträgt. Aber Radio Alice findet auch Anerkennung und erlangt schließlich weit über seinen Aktionsradius hinaus eine fast legendäre Berühmtheit.

III. Umberto Eco sah in der Koppelung von Telefon und Radio »eine Revolution in der Technik des Journalismus«21. »Wir haben einen Journalismus des Augenblicks« pries er die neue Rundfunkpraxis und hob, Radio Alice gegen Übergriffe der Staatsgewalt und eine hysterische Medienkampagne verteidigend,22 zwei Errungenschaften besonders hervor: – die Direktheit der Information; durch den extensiven Einsatz des Telefons werde es möglich, »uns ungleich näher an die Geschehnisse heranzurücken, als es seit den ersten Experimenten Sarnoffs je gelungen ist«23; – die ›Kopflosigkeit‹ des Augenblicks-Journalismus. »In vielen Fällen ist er nicht nur un-

20 Eines der Lieblingswörter von A/traverso; vgl. »A/traverso ALICE Altrove«, ebd., S. 87 (99). In diesem ›anderswo‹ stecken zwei Konzeptionen: die der Mobilität, des klassischen Attributs jener Guerilla, das etwa den Korsaren ihren Namen gab; und die der Dezentralisierung, oder besser des ›Azentrismus‹. Das Interesse an der Thematik ›azentrischer Systeme‹ entstand im Gefolge von Michel Foucaults Untersuchungen über die Natur der Macht; vgl. »Acentrismo e idea del potere«, in: A/traverso, nuova serie Nr. 2, Mai 1988, S. 6 f.; weiters Jean Petitot, »Centrato/acentrato«, in: Enciclopedia Einaudi, Bd. 2, Turin 1977, S. 894–954; und Le Monde Diplomatique, Dossier Nr. 0: L’informazione accentrata, Turin 1978. 21 Umberto Eco, »Con qualche radio in più«, in: Corriere della Sera, 21. März 1977, S. 3. 22 Der Artikel nahm Radio Alice wenige Tage nach dessen Schließung durch Sicherheitskräfte gegen eine von den Medien verbreitete Verschwörungstheorie in Schutz, derzufolge das Radio Anstifter jener Unruhen gewesen sein sollte, die sich nach der Erschießung eines Studenten durch die Polizei am 11. März 1977 in Bologna ereigneten; die kommunistische Stadtverwaltung ging noch einen Schritt weiter und vermutete die Drahtzieher des Tumults beim CIA. Zur Verschwörungstheorie im allgemeinen vgl. Franz Neumann, »Angst und Politik«, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1967, S. 261–291. 23 Umberto Eco, »Con qualche radio in più«, a. a. O.; David Sarnoff (1891–1971): Rundfunk- und Fernseh­ pionier. Zunächst Funker bei der Marconi Wireless Telegraph Company; empfing 1921 die Notsignale der sinkenden Titanic und harrte 72 Stunden vor den Geräten aus, um die Nachrichten weiterzuleiten. Als Generaldirektor der neugegründeten Radio Corporation of America (RCA) schuf er 1921 mit der Direktübertragung des Boxkampfes Dempsey – Carpentier eine Sensation, die seinem Unternehmen riesige Marktanteile in der Radioindustrie sicherte. Vgl. David Sarnoff, »The Fabulous Future«, in: The Fabulous Future. America in the 1980. New York, 1955, S. 13–31. Vgl. auch Bert Brechts »Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks« (1927), in: ders., »Radiotheorie«, a. a. O., S.121: »Ich meine also, sie müssen mit den Apparaten an die wirklichen Ereignisse näher herankommen«.

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mittelbar: er ist azephal«,24 insofern nämlich der Sender als offener Kanal fungiert, wo jeder zu Wort kommen kann, und es zudem keinen privilegierten Sender mehr gibt, sondern Dutzende kleine Stationen. Azephalie und Unmittelbarkeit sind für Eco die beiden großen Innovationen dieses »neuen Kapitels in der Geschichte der Kommunikation«, welches sich nun auf Grund der technologischen Entwicklung auftut. Wenn aber die freien Radios ein Resultat der elektronischen Revolution sind, dann kann ihre besondere Art der Berichterstattung nicht Gegenstand polizeilicher Maßnahmen werden. Gegen jene Anschuldigungen, die Radio Alice vorwarfen, die Ausschreitungen erst hervorgerufen zu haben, weil es darüber berichtete, führt Eco denn auch die »Unabwendbarkeit der technologischen Revolution«25 ins Treffen. Um anschließend gegen die Rückständigkeit der Repression zu polemisieren: Genausowenig wie man Bleistifte beschlagnahmen könne, um das Entstehen gewisser Schriften zu verhindern, sei es angebracht, die Sendeanlagen einer mißliebigen Rundfunkstation zu zerstören,26 wie es bei Radio Alice geschehen ist. Gewiß entsprang dem Kurzschluß von Radio und Telefon eine Art ›kopfloser‹ Information – auch in einem viel weiteren Sinn als dem der juristischen Verantwortlichkeit.27 Und die Kreuzung dieser Medien brachte nicht nur die »Telefonmünzen-Korrespondenten«28 hervor, nicht nur ein Patchwork, eine arlecchinata von Informationen. Denn es handelt sich eben um keine rein technische Neuerung: Radio Alice verwickelt alle Beteiligten in eine experimentelle Szene; in ihr spielt das Telefon29 eine entscheidende, dafür prädestinierte und unwiderstehliche Rolle. Man erinnere sich nur an jene denkwürdige Sequenz aus Godards week-end, in der ein Sportwagenbesitzer namens »Saint-Just, der kleine Sänger«30 aus einer desolaten Telefonzelle an der Landstraße Hymnen an eine imaginäre Geliebte sendet; oder die bei neurotischen 24 Umberto Eco, »Con qualche radio in più«, a. a. O. 25 Umberto Eco / Paolo Fabbri / Mauro Wolf / Pietro Favari (Istituto di Discipline della Comunicazione e dello Spettacolo, Università di Bologna), »Appunti di studio per una ricerca sulle radio indipendenti in una situa­ zione di tensione«, in: Comunicazione Visiva Nr. 1, Mai 1977, S. 101. Diese eigentliche Verteidigungsschrift für Radio Alice argumentiert sowohl juristisch als auch soziologisch; die von der Elektronik-Industrie eröffneten und von den freien Radios realisierten neuen Informationsmöglichkeiten werden mit einer anthropologischen Mutation verglichen: »Es ist, als ob alle ein drittes Auge auf dem Zeigefinger bekommen hätten: kaum zu verbieten, daß sich jemand das Loch im Hintern anschaut.« Ebd., S. 101 f. 26 Abschließend heißt es: »Einst besetzten die Revoltierenden die von der Staatsgewalt geschützten Rundfunkstationen; heute besetzt die Polizei die von den ›Revoltierenden‹ schlecht geschützten Radios.« Ebd., S. 103. 27 Entfällt, da die entlastende Beweisführung Ecos ohnedies klar: wo kein Kopf . . . 28 Dies ist die Bezeichnung, die Eco gibt; die von Radio Alice gewählte lautet ironisch »Arbeiterkorrespondenten«. 29 Serienreifes Telefon existiert seit 1876. Zum Telefon vgl. Ithiel de Sola Pool (Hrsg.), The Social Impact of the Telephone, Cambridge/Mass. 1977; Jeffrey M. Peck, »The Telephone: A Modern Day Hermes«, in: Canadian Review of Comparative Literature, XII, Sept. 1985, S. 394–408; Sidney A. Aronson, »The Sociology of the Telephone«, in: International Journal of Comparative Sociology, 12, Sept. 1971, S. 153–167; Louis Marin, »›ALLO! J’ECOUTE . . .‹: Brèves Variations sur la Fonction Phatique/Téléphonique«, in: Traverses, Nr. 16: Circuits/Courts-Circuits, 1979, S. 3–9; und zu den interaktionsstrategischen Problemen des Telefons vgl. Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a. M. 1974, S. 294 ff. 30 Dargestellt von Jean-Pierre Léaud.

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Kindern und Stotterern beobachtete Tendenz, ihre Sprachstörungen beim Telefonieren abzulegen.31 »Le téléphone dans la chambre de papa est notre grand amusement«32 notierte Victoria Sackville 1891 in ihrem Tagebuch. Und auch wenn das Telefon nicht die »gelungenste und vollständigste Wunschmaschine«33 darstellt – verkoppelt mit der Öffnung eines nichtindividuellen, frei zugänglichen Sendekanals ergibt sich eine unkontrollierbare Situation: »Telefonie wirft sich über alles«34. Mühelos schieben die beiden Medien sich ineinander.35 Die dialogische Matrix des Telefons infiltriert die Einweg-Kommunikation des Rundfunks und transformiert ihn zu einem Massen-Interaktionsmittel. Denn das Telefon ist ein zur Teilnahme aufforderndes Medium, es verlangt nach einem Partner. »Es will nicht einfach als Kulisse dienen wie das Radio.«36 Umgekehrt wird das Telefon plötzlich zu einem öffentlichen Kanal erweitert: Die Geräusche, Worte und Töne werden gleichzeitig zu sehr vielen, unbestimmt vielen Menschen getragen. Intimes und Gesellschaftliches, Öffentliches und Geheimes vermischen sich zu einem Stimmengewirr, das nun aus den Lautsprechern dringt. Hatte der Empfänger bislang nichts zu sagen, weil er nicht gehört wurde, so weicht seine Hörigkeit jetzt einer Dialogizität, oder besser, der Ansteckung. Mehr noch als die beiden Medien nämlich affizieren sich die Kommunikationsteilnehmer. »Vom Schweigen und vom Traum zu den Stimmen. Die Stimmen sind mehr als eine. Sie verflechten sich, sie durchkreuzen sich, sie überlagern sich. Die Form ist die der Ansteckung. Man berührt sich und man steckt sich an. Die Pest verläßt die Lazarette und überschwemmt den gesunden Körper.«37

Der gesunde Körper des Mediums fällt einer Epidemie von Stimmen zum Opfer. Stimmen, die vor dem Mikrofon das Wort ergreifen oder via Telefon die Sendung unterbrechen, sie korrigieren, ihr etwas hinzufügen. Stimmen, die miteinander sprechen. Sender und Empfänger sind nicht länger in ihren Rollen gefangen – hier starke Sender, dort schweigende 31 Was den Psychiatern angeblich ein Rätsel ist; vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, a. a. O., S. 63. Zur Bedeutung des Telefons für die Entdeckungen Freuds aber vgl. Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, a. a. O., S. 133 f . 32 Zit. n. Asa Briggs, »The Pleasure Telephone. A Chapter in the Prehistory of the Media«, in: Ithiel de Sola Pool (Hrsg.), The Social Impact of the Telephone, a. a. O., S. 40. 33 »Hier funktioniert der Wunsch ungehemmt, auf dem erotischen Träger der Stimme als Partialobjekt, ist zufällig, in Vielheit gegeben und schließt sich einem Strom an, der, auf dem Wege grenzenloser Expansion eines Deliriums oder Ausflusses, das gesamte soziale Kommunikationsfeld durchzieht.« Jean Nadal, zit. n. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Winterthur 1974, S. 501. Technischer betrachtet ist das Telefonnetz die größte und komplexeste integrale Maschine der Welt; vgl. Colin Cherry, »The Telephone System. Creator of Mobility and Social Change«, in: Ithiel de Sola Pool (Hrsg.), The Social Impact of the Telephone, a. a. O., S. 122. 34 Wladimir Majakowski, »Das bewußte Thema«, in: Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 193 f.; eigentl. »Die Telefone werfen sich auf alle«. 35 Im Sinne von McLuhan könnte man auch von einer Abkühlung des »heißen Mediums« Rundfunk durch das Telefon sprechen, welches ein »in geringerem Maß definiertes«, »detailärmeres«, also »kaltes« Medium ist; vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, a. a. O., S. 31 ff. 36 Ebd., S. 260. 37 »Dal silenzio e dal sogno alle voci. Le voci sono più di una. Si intrecciano, si attraversano, si sovrappongono. La forma è quella della contaminazione. Ci si tocca e ci si contamina. La peste esce dai lazzaretti e investe il corpo sano.« Angelo Pasquini, »Il messaggio non è uno«, in: A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 6.

akteur/informant

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Empfänger. Die Information hört auf, einseitiger Prozeß zu sein, und setzt einen kontinuierlichen gegenseitigen Austausch in Gang: nicht bloß Rückwirkung, noch einfache Umkehrung, Rollenwechsel also, sondern Abbau der Rollen, wechselseitiger Einsatz – tatsächliche Kommunikation. Entsprechend emphatisch ein Werbeslogan von Radio Alice: »Trasmettiamoci addosso«. »Besenden wir uns«38, das heißt unterhalb jeder Differenz von Empfänger und Sender, die immer dazu neigt, das Wort zu monopolisieren und, was noch wichtiger ist, die Artikulationsweise zu diktieren.

IV. Die Radikalisierung des Mediums Rundfunk zum Kommunikationsmittel, oder wie Eco sagt, die »mit seiner Natur übereinstimmendere«39 Art der Verwendung, entfesselt alle möglichen Effekte der einfachen Aneignung eines Sendekanals. In einer Kettenreaktion wird eine ganze Reihe von strukturellen Größen der Massenkommunikation, die sich als »Zwang des Mediums«, »des Programms« oder »der Öffentlichkeit«40 durchsetzen und jeweils ein ganzes Syndrom von Nicht-Kommunikation bilden, von ihrem normalen Funktionieren abgebracht. Das betrifft zunächst die beteiligten Personen. Vor allem sprengt Radio Alice den professionellen Rahmen. Haben sich doch nach dem Auseinandertreten von Sender und Empfänger die Funktionen des Senders zu Berufen und Institutionen verselbständigt, deren Kompetenz das Schweigen oder die Bedeutungslosigkeit des Wortes der Anderen legitimiert: Angeblich primitive und unqualifizierte Äußerungen bedürfen eines korrigierenden Kommentars oder gelangen erst gar nicht in die Kanäle der Massenkommunikation. Gegen diese Rahmung der Aussagen, die den Status des Sprechers festlegt und den Charakter der Rede, bezieht das Kollektiv A/traverso ebenso entschieden wie lakonisch Stellung: »Wir professionalisieren uns nicht. Wir weigern uns, uns auszubilden. Wir lernen nicht. Es geht uns nicht in den Kopf (. . .)«41

Die Zurückweisung jeglicher Professionalität berührt aber nicht allein das Verhältnis Sender/Empfänger. Mit der uneingeschränkten Zugänglichkeit des Kommunikationskanals wird auch die zweite große Trennung, die zwischen Quelle/Sender, zwischen Akteur und Informant hinfällig: Die Protagonisten der Ereignisse können nun selbst informieren, handelndes und sprechendes Subjekt werden eins, und oft wird das Wort zu ergreifen selbst ein Ereignis. Ein Netz von Gelegenheitskorrespondenten ersetzt die Figur des professionellen Journalisten. Im Gegensatz zu diesem sind sie tatsächlich immer rechtzeitig zur Stelle: als handelnde Personen oder als Augen- und Ohrenzeugen berichten die Hörer via Telefon 38 A/traverso, quaderno 2, a. a. O., S. 24. 39 Umberto Eco / Paolo Fabbri / Mauro Wolf / Pietro Favari, »Appunti di studio per una ricerca sulle radio indipendenti in una situazione di tensione«, a. a. O., S. 102. 40 Vgl. Gerhard Maletzke, Psychologie der Massenkommunikation, Hamburg 1963, S. 38 ff. 41 »Noi non ci professionalizziamo. Rifiutiamo di educarci. Non impariamo. Non ci entra in testa (. . .)«, Angelo Pasquini, »Il messaggio non è uno«, in: A/traverso, quaderno 3, a. a. O., S. 6.

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im Radio. Ihre Zeugenschaft erlaubt das Geschehen aus unmittelbarer Nähe und in dem Augenblick zu übertragen, in dem es sich ereignet. Und auch wenn es nicht – wie im Normalfall direkter Information – zufällig Anwesende sind, die bei Radio Alice anrufen, sondern ein Korrespondent sich mit einem kleinen Kassettenrecorder an den Schauplatz begibt, versucht er doch, die übliche Distanz zu den Ereignissen42 zu verringern. Meist, indem er die Stimmen der ›mitwirkenden‹ Personen aufnimmt: die Drohungen der Polizisten, als die Stadtverwaltung einen selbstorganisierten Markt räumen ließ,43 die aufgebrachten Rufe der Hausfrauen und wie sie den Unterschied zu den Preisen im Supermarkt vorrechnen, die Schreie der Marktweiber, die Vielstimmigkeit eines gesellschaftlichen Konflikts. In einer Art ›teilnehmenden Berichterstattung‹ mischen sich die Korrespondenten manchmal auch selbst ins Geschehen, werden zu Komplizen der Akteure und können wie jene von ihren eigenen Erfahrungen berichten.44 Denn um solche geht es bei der direkten Information. Hier muß eines besonderen Umstandes gedacht werden. Information hat zunehmend den Platz der Erfahrung eingenommen. Das läßt sich am Bedeutungsverlust des Alltäglichen gegenüber den Medienereignissen ermessen. Durch die Skelettierung aller Erfahrung auf den medialen Informationswert hat sich jedoch nicht nur die Mitteilbarkeit aller Lebensbereiche vermindert, sondern es ist auch ein existentielles Vermögen abhanden gekommen. Das Vermögen nämlich, Erfahrungen auszutauschen. An der Stimme des Radiosprechers wird dies deutlich. Sie hat gegen jede Erfahrung, und erst recht gegen jene, die von Mund zu Mund geht, verschlossen zu sein. Daß sie trotzdem glaubwürdig ist – und die Medien geradezu als Vermittler von Erfahrung erscheinen –, hängt mit einer doppelten Täuschung zusammen, auf die sie sich stützen: erstens, daß ein Mensch seine Identität aufspalten kann, seinen Job vom übrigen Leben trennen und die geforderte professionelle Objektivität aufrechterhalten kann; und zweitens, daß diese Spaltung unbemerkt vor sich gehen kann, sodaß, sollte irgendein Hörer dennoch innehalten und argwöhnisch werden, ein umfassendes Einverständnis, ein nahtloses Medienenvironment, eben eine mit der Familie, den Freunden und Arbeitskollegen geteilte Erfahrung – »ich hab es im Radio gehört« – ihn dazu bringt, diesem momentanen Einblick zu mißtrauen und sich weiterhin dem Urteil der Medienprofis auszuliefern. Deswegen ist es auch so schockierend, oder vielmehr so erfrischend, wenn Gefühle unverhüllt und ohne jede Zurückhaltung durchbrechen,45 wie bei jenem Radiosprecher, der die Abendnachrichten mit einigen wütenden Sätzen über seinen Berufsalltag schloß, was ihm auch prompt eine fristlose Kündigung einbrachte. 42 Etym. von ›eräugen‹, ›vor Augen stellen‹; vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 211975, S. 171. 43 Vgl. Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 69 (82); die sogenannten ›mercantini rossi‹ waren eine von Produzenten und Verbrauchern gemeinsam organisierte Initiative im Kampf gegen die Inflation. 44 Goffman erwähnt einen besonderen Fall ›hautnaher Information‹ in den herkömmlichen Medien: Sprecher von Werbespots werden dazu angehalten, Produkte, für die sie werben, selbst zu kaufen, zu verwenden und wenn möglich zu schätzen, um so ihre eigene Glaubwürdigkeit als Werbeträger zu erhöhen; vgl. Erving Goffman, Forms of Talk, Philadelphia 1981, S. 237 f. 45 Einen ähnlichen, allerdings weniger absichtslosen Vorgang gibt es beim Interview: Die interviewte Person geht davon aus, »ihre Handlung werde in zwei Teile gespalten, einen für die Aufzeichnung bestimmten und einen nicht für sie bestimmten. Diese Aufspaltung ist eine Grundregel des Bezugssystems von Interview-

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Ganz anders die Stimmen auf 100,6 MHz. Aus ihnen ist die Subjektivität des Sprechers nicht verbannt. Die Informationen sind mit Alltagserfahrungen durchsetzt: Selbst wenn die Weltnachrichten verlesen werden, klingt es manchmal so aufgeregt, voll Begeisterung und Neugier, als erzählte jemand, was vor ein paar Minuten an der Straßenecke passiert ist. Während die ›Objektivität‹ herkömmlicher Berichterstattung oft ein strategisches Mittel ist, das den Journalisten vor den Risiken seines Gewerbes schützt,46 tritt bei Radio Alice das Aussagesubjekt an die erste Stelle. Der Sprecher setzt sich den Hörern aus, spricht von sich selbst, stiftet Kommunikation. Dabei geht es nicht so sehr darum, hinter die einmal erreichte Erfahrungsarmut zurückzukehren; vielmehr um neue Möglichkeiten, die ein Bruch mit den Kriterien der Professionalität freilegt, um neue Medien-Erfahrungen. Wie jene, die sehr alltäglich oder auch allnächtlich ist und doch, da sie in einer Radiostation ihren Ausgang nimmt, ziemlich außergewöhnlich. Die Geschichte freilich läuft Gefahr, hier ungenau und verkürzt wiedergegeben zu werden. Einer der Redakteure von Radio Alice hat sie so ähnlich, beiläufiger vielleicht, erzählt: Es war eine jener Nächte, die er in der Via Pratello zu verbringen beschlossen hatte. Nicht aus Langeweile und auch nicht, weil sie alle im Lauf des Abends gegangen waren, Matteo und Stefano sicher noch auf die Piazza zu den anderen, er aber zog es vor, hier zu sein. Vielleicht erinnerte er sich an die sprichwörtliche Einsamkeit des Radiohörers, die jetzt auch seine war, während er die Musik langsam aufblendete. Seit geraumer Zeit kamen keine Anrufe mehr und er war zufrieden damit, spielte die alten Platten und erzählte so vor sich hin. Unbedeutendes Zeug womöglich, aber es machte ihm Spaß, war ihm schon so zur Selbstverständlichkeit geworden, daß er aufgehört hatte, sich zu beobachten. Manchmal lehnte er am Fenster, vor dem jetzt alles ruhig war, doch auch vor dem Mikrofon gingen ihm dieselben Gedanken durch den Kopf, und er wußte, daß sie zu seiner Stimme paßten. Er hatte etwas herausgefunden über die Sprache und die Unmöglichkeit ihrer Kontrolle, etwas, das theoretisch darstellbar und – er war ganz sicher – auch praktisch anzuwenden wäre, da bewahrte ihn das Klingeln des Telefons vor einer leichtfertigen Formulierung. Es mochte drei Uhr früh gewesen sein, Anrufe um diese Zeit waren so selten, daß ihn das laute Geräusch unvorbereitet traf. Mehr noch war er über die Frauenstimme am anderen Ende überrascht, die ihm vertraut schien, obwohl er sie nie zuvor gehört hatte. »Aber für sie mußte es anders sein«, daran dachte er und horchte, über den Tisch gelehnt, auf dem das Mikrofon befestigt war. Einen Augenblick lang glaubte er zu spüren, wie in ihrer Stimme die Aufregung mitschwang, sich im Radio übertragen zu wissen. Am Anfang Interaktionen. In den letzten fünf oder sechs Jahren jedoch wurde diese Regel in bestimmten Gesellschaftskreisen nicht mehr eingehalten, und die Interviewer wurden zu Monitorgeräten, die über von ihnen miterlebte Dinge berichteten, die normalerweise als nicht für eine Berichterstattung geeignet angesehen werden. (. . .) Die genannten Regeln sind so tief verwurzelt, daß eine Person selbst dann, wenn sie einem bestimmten Interviewer gegenüber mißtrauisch ist, nicht anders kann, als ihre Tätigkeit aufzuspalten in einen Teil, über den öffentlich berichtet werden kann, und einen Teil, der nicht für die öffentliche Berichterstattung gedacht ist – wenigstens ihrer Meinung nach.« Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch (1971), a. a. O., S. 396, Fußnote 62. 46 Etwa kann er den Eindruck erwecken, daß er jemand anderen zitiert, obwohl er doch seine eigene Meinung zum Ausdruck bringt; vgl. Gaye Tuchmann, »Objectivity as Strategic Ritual. An Examination of Newsmen’s Notions of Objectivity«, in: American Journal of Sociology, 77/4, 1972, S. 660–679.

eine kleine gruppe zwischen himmel und erde

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zumindest. Dann, schien es ihm, wurde das Gespräch unbekümmerter. Er vergaß seinen Einfall, von der Zeit und der Sprache, ihm gefielen manche ihrer Ausdrücke. Lange Zeit, so kam es ihm jedenfalls vor, sprachen sie miteinander, in fortwährendem Hin und Her. Nur ganz selten kehrte diese Aufregung zurück, die immer auf der Stelle trat, sie im Kreis drehen ließ, als drehten sie sich in einem Schwindel und könnten nicht anhalten. Doch er wußte, es hatte nichts damit zu tun, daß sie noch immer auf Sendung waren. Und er dachte daran, daß beim Radio alles Sichtbare wegfällt, daß die Wörter im Dunkeln eine andere Bedeutung bekommen, sie werden sinnreicher, als die Unbekannte ihm vorschlug, das Radio für heute zu schließen und zu ihr zu kommen. Bei der angegebenen Adresse fand er das Haus unverschlossen, die Wohnungstür angelehnt, und als er eintrat dieselbe Dunkelheit wie zuvor. Plötzlich spürte er sie, sie berührte ihn, und ihre Stimme war jetzt nicht mehr technisch verformt. Ohne Licht, als müßten die Spielregeln des Radios weiter in Kraft bleiben und ihre Gesichter verborgen, lagen sie nebeneinander und sprachen noch lange. Als er spät an diesem Morgen erwachte, fand er sich allein in der fremden Umgebung. Nichts Geplantes oder Künstliches lag in dieser öffentlich demonstrierten Intimität zwischen Sprecher und Hörer,47 und über eine kleine Erzählung auf der Piazza am nächsten Nachmittag oder Abend reichte das Besondere doch kaum hinaus; dennoch zeigt die Begebenheit das Gesicht einer möglichen Utopie jenseits aller medientheoretischen Überlegungen.

V. Neben diesen elementaren Eingriffen in die ›Rundfunk-Ökologie‹ gibt es noch einen weiteren wesentlichen Aspekt der Organisation des Senders. Das Radiokollektiv versucht den Gegensatz zwischen den Technikern und Redakteuren aufzuheben und überhaupt ohne stabile Hierarchie in seinem Inneren auszukommen. Obwohl die Struktur des Senders die antihierarchischen Tendenzen begünstigt, führt sie umgekehrt zu neuen Spannungen: Da sich die Außenwelt gewissermaßen ständig des Radios bemächtigt, ist das Kollektiv enormen zentrifugalen Kräften ausgesetzt. Abgesehen davon, daß das Radio gerade auch wegen seiner Offenheit immer wieder in den Normalzustand, also zu einem Unterhaltungsbetrieb abzusinken droht, hat dies zur Folge, daß die innere Homogenität der kleinen Gruppe zwischen Himmel und Erde, die das Radio betreibt, fortwährend zersetzt wird und sich nur im Resonanzkörper der sozialen Bewegung, in der sich diese experimentelle Kommunikationspraxis ausbreitet, wieder aufbaut.48 Sodaß die Gruppenidentität nicht 47 Auch nichts Provokatorisches, worauf etwa noch Wolf Vostells Aktionsspiel 100 mal Hören und Spielen (1969) setzte, wenn der WDR-Sprecher zu kommandieren hatte: »Lecken Sie beim Hören die Schaltknöpfe Ihres Radios!«; vgl. Friedrich Knilli, Deutsche Lautsprecher. Versuche zu einer Semiotik des Radios, Stuttgart 1970, S. 13 f. 48 Bleibt anzumerken, daß Radio Alice Mitglied der FRED (Federazione Radio Emittenti Democratiche) ist. Dieser ›Verband demokratischer Radiosender‹ wurde im Februar 1976 als Interessenvertretung aller nichtgewinn­ orientierten Sender gegründet; vgl. »Grundsatzerklärung der FRED«, in: Alternative, 114/15: Wer spricht für wen?, Juni/Aug. 1977, S. 136; sowie FRED, »Censura, comunicazione e movimento«, in: Aut-Aut, Nr. 163, a. a. O., S. 33–40.

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stabil ist, sondern eher in der Schwebe zwischen Verschworenheit und der Dynamik eines offenen Systems. Mit dem Wegfall der medienspezifischen Rahmenbedingungen und dem Angriff auf die Normvorstellungen der Professionalität ändert sich also der Charakter der Sendungen fundamental. Und es ist klar, daß sich auch bei den Inhalten ein beträchtlicher Unterschied zum offiziellen Rundfunk zeigt. Denn die üblichen Auswahl- und Aussonderungsmechanismen, die vorgeschalteten Filter, die einen großen Teil möglicher Themen abweisen, zensieren oder zumindest vernachlässigen, sind bei Radio Alice außer Kraft gesetzt.

Musik wird lauter bei den letzten Wörtern«49

»Radio Alice sendet: Musik, Nachrichten, blühende Gärten, Tiraden, Erfindungen, Entdeckungen, Rezepte, Horoskope, Zaubertränke, Liebesgeschichten, Kriegsberichte, Fotografien, messages, Massagen, Lügen.

In der Tat halten nun, da keine Kontrolle über den Zugang zum Sendekanal mehr existiert, alle nur erdenklichen Stoffe Einzug, die gewöhnlich den Verantwortlichen und der Ausgewogenheit zum Opfer fallen; sie reichen von den traditionellen Thematiken der Gegenöffentlichkeit,50 von Nachrichten, die sonst niemand verbreitet, bis zu Diskussionen über andere mögliche Welten. Dazwischen nehmen alltägliche und abseitige Geschichten breiten Raum ein: Ernährungstips, eine Sendereihe über sardische Musik, Interviews mit den streikenden Arbeiterinnen von Ducati, Reiseberichte, einige Passagen aus Roland Barthes Die Lust am Text, Debatten, Kontroversen, jemand: »sie haben mir das Fahrrad gestohlen, kann man im Radio durchsagen, daß sie Scheißkerle sind?«51, die aktuellen Drogenpreise, das Ergebnis einer Feldforschung über den Bologneser Dialekt. Und auch von jenen Dingen, über die Tabu und Neurose eine Mitteilungssperre verhängen, ist auf einmal die Rede: von Sexualität wird offen und in einer Sprache gesprochen, deren Freimütigkeit wohlerzogene Hörer gewiß erröten ließ, besonders wenn sie sich in besserer Gesellschaft befanden. Gleichzeitig verschwindet die übliche Rangordnung der Informationen, den Katastrophenberichten wird der Charakter des Sensationellen ausgetrieben, und die Stimmen von unten werden systematisch privilegiert: die kleinen Beobachtungen, die unbefangenen Schilderungen, die Flüche und derben Formulierungen. Sie berichten von Zufällen und Wahrheiten, von untergründigen, langsamen Veränderungen, von obskuren Begebenhei49 »Radio Alice trasmette: musica, notizie, giardini fioriti, sproloqui, invenzioni, scoperte, ricette, oroscopi, filtri magici, amari, bollettini di guerra, fotogafie, messaggi, massaggi, bugie. / risale la musica sulle ultime parole«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 14 (24). 50 Vgl. dazu Walter Hollstein, Der Untergrund, Neuwied 1969, S. 116 ff., und Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur, Köln 1973, S. 265 ff. 51 Stefano Benni hat dem Dienstleistungsbetrieb vieler ›freier‹ Radios ein langes Gedicht gewidmet: »Un giorno al telefono di una radio di movimento«, in: Paolo Hutter, Piccole antenne crescono, a. a. O., S. 49–52.

phone-in, interview

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ten und unverbesserlichen Existenzen, von Eifersüchten, Bosheiten und Neugierden, von anstößigen Episoden, von unwesentlichen Details, von den Rudimenten des wirklichen Lebens – keine Heiligkeit, keine Helden, keine Genies. Manchmal besteht die Gefahr der Monotonie und der Banalisierung; nie jedoch fallen die Anrufe auf das Modell der Leserbriefspalten in gewissen Frauen-Illustrierten zurück. »Gäbe es einen Willen des Publikums, und folgte man ihm unmittelbar«, dann sei, so befürchtete Adorno nicht ganz zu Unrecht, »mehr Schwachsinn über Kaiserinnen, die sich als Filmschauspielerinnen verdingen«, zu erwarten.52 Für Radio Alice aber gilt Chlebnikovs Vision: »Ratschläge zum einfachen Hausgebrauch werden mit Aufsätzen von Bürgern der schneebedeckten Gipfel des menschlichen Geistes abwechseln.«53 Natürlich trägt nicht allein die Selektion der Botschaften zur Standardisierung der Massenkommunikation bei. Genauso die ständige Thematisierung von Meinungen – zum Thema wohlgemerkt, die wie Spielmarken in Umlauf gebracht werden. Sie verkarstet zur Thematisierung des Immergleichen, zur öffentlichen Meinung.54 Längst schon bedarf diese keiner räsonierenden Öffentlichkeit mehr. An ihre Stelle ist das Publikum getreten. Und wie Inhalte werden auch bestimmte Formen ausgeschlossen, andere hingegen nahegelegt, wenn nicht gar vorgeschrieben:55 regelmäßige Strukturen, aufeinanderfolgende Sequenzen, feststehende Standards. Dazu kommt der eingeebnete sprachliche Grundton des Medien-Zeitalters, den Roland Barthes auf den Begriff gebracht hat: »alle offiziellen Sprachinstitutionen sind Wiederkäumaschinen: die Schule, der Sport, die Werbung, die Massenware, der Schlager, die Nachrichten sagen immer die gleiche Struktur, den gleichen Sinn, oft die gleichen Wörter: die Stereotypie ist ein politisches Faktum, die Hauptfigur der Ideologie.«56 »Coca Cola douche von den Fugs – wird leiser

Stimme 1 – Sie reden und reden, okay! Sie reden andauernd. Sie senden Zeichen, Wörter, Teile von Zeichen, Teile von Wörtern«57

Die Gleichförmigkeit aber ist Ausdruck stagnierender Kommunikation. Dies zeigt sich besonders bei Interviews und beim phone-in. Gerade im phone-in, das die diversen ›Wunsch52 Theodor W. Adorno, »Kann das Publikum wollen?«, a. a. O., S. 57. 53 Velemir Chlebnikov, »Radio der Zukunft«, a. a. O., S. 271. 54 Vgl. Hartmut von Hentig, »Gedanken zur öffentlichen Meinung«, in: Merkur, Nr. 180, Feb. 1963, S. 113–134; und zur Rolle der Meinungsumfragen vgl. Pierre Bourdieu, »L’opinion publique n’existe pas«, in: Les Temps Modernes, Nr. 318, Jan. 1973, S. 1292–1309. 55 Was den Inhalten die öffentliche Meinung, ist den Formen die gesellschaftliche Organisation der Wahrnehmung. So gibt es einen ganzen Kodex von »Aufmerksamkeitsregeln«, denen genügt werden muß, ein »Repertoire stimulierender Techniken zur Überschreitung von Wahrnehmungsschwellen« u. a. m.; vgl. Frank Böckelmann, Theorie der Massenkommunikation, Frankfurt a. M. 1975, S. 47, 63 ff., 79 ff. und 87. 56 Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1974, S. 62. 57 »Coca Cola douche dei Fugs sfuma / Voce 1 – Parlano, parlano, o. k. parlano di continuo. Lanciano segni, parole, pezzi di segni, pezzi di parole«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 21 f. (31 f.).

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konzerte‹ als Cliché von Hörerbeteiligung abgelöst hat, erkaltet Kommunikation zu einem leeren Muster.58 Und selbst wenn es einem Teilnehmer gelingen sollte, unerwünschte oder auch nur überraschende Aussagen zu treffen, so ist es doch für den Moderator meist ein leichtes, diese zu neutralisieren und zu trivialisieren. Vollends zur Karikatur liberaler Öffentlichkeit gerät das phone-in, wenn jemand ›abgehängt‹ wird – und sei es nur, weil eben der Programmablauf wichtiger ist, als den Meinungen der Hörer Raum zu geben. Das Interview zeigt mehr Interesse am Gesprächspartner. Doch auch hier sind dem Dialog durch die rituelle Funktion des Interviews, die sozialen Rollen und jeweiligen Machtgefälle zu bekräftigen, enge Grenzen gesetzt. Irgendwo hat das Radiokollektiv geschrieben, daß Interviews wie Kreuzworträtsel sind: Der Befragte kann nur die vom Interviewer freigelassenen Kästchen füllen.59 Radio Alice versucht, die starre Rollenkonstellation und die daraus resultierende Gesprächsstrukturierung mit verschiedenen geringfügigen Umstellungen zu unterlaufen: Obwohl es weiterhin die Fragestrategie ist, die ein Interview strukturiert,60 verlagert sich jetzt die Initiative, Fragen zu stellen; auch die Anwendung irrelevanter Antworten trägt dazu bei, zwanghafte Gesprächs- und Assoziationsabläufe zu unterbrechen. Allen derartigen Verfahren, die kommunikationsabweisenden Standards aufzuweichen, ist gemeinsam, daß sie dem Hörer die Möglichkeit geben, den Lauf der Sendungen wesentlich zu beeinflussen: »und so konnten sie sich jenen Guerillakrieg liefern, der der Konversation so not tut.«61 »Beim Radio läutet das Telefon: – Hallo . . . hallo, hier Radio X Anrufer (Hörer) – Was gibts? Radiosprecher – Was heißt ›Was gibts?‹, sag du, was gibts?, du hast angerufen. Anrufer (Hörer) – Genau! Was gibts?«62

Die Gleichförmigkeit findet ihre äußere, grobe Organisationsform im Programm. Neben der Aufgabe, im Medienverbund einen »zeremoniellen Kalender«63 zu erstellen, dem alle eingewöhnt, ja unterworfen sind, wie einst dem kalendarischen Ritual der Priester, das immer auch der gesellschaftlichen Kontrolle diente, neben dieser großen Aufgabe hat das Programm alles auszuschließen, was nicht in seine Schemata paßt, und einen organisierten Widerspruch zwischen Stoffülle und Zeitmangel in Szene zu setzen. Die daraus resultierende ›Willkürlichkeit der permanenten Stoffbeschneidung‹64 wirkt gleichfalls als Normierung. 58 Obwohl hauptsächlich phone-ins bei BBC untersucht werden, die den Hörer keineswegs in den Wind reden lassen, vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Gerhard Leitner, Gesprächsanalyse und Rundfunkkommunikation. Die Struktur englischer phone-ins, Hildesheim/Zürich/New York 1983. 59 Zit. n. Paolo Hutter, Piccole antenne crescono, a. a. O., S. 31. Natürlich gibt es Gegenmaßnahmen: Gewandtheit und bestimmte Regelverletzungen wurden zu einer hohen Kunst entwickelt; vgl. Johannes Schwitalla, »Dialogsteuerungsversuche interviewter Politiker«, in: Günter Bentele (Hrsg.), Semiotik und Massenmedien, München 1981, S. 108–127. 60 Vgl. Umberto Eco, »Con qualche radio in più«, a. a. O. 61 Honoré de Balzac, Ursula Mirouët (dt. v. Walter Benjamin), Berlin o. J., S. 40. 62 »trilla il telefono in radio: – ›Pronto . . . pronto qui Radio X‹ / Ascoltatore: – ›dimmi‹ / Radio: – ›come dimmi, dimmi tu, hai chiamato tu‹ / Ascoltatore: – ›appunto, dimmi‹«, zit n. Paolo Hutter, Piccole antenne crescono, a. a. O., S. 27. 63 William S. Burroughs, The Job. Interviews by Daniel Odier, New York 31974, S. 43 f. 64 Diese Formulierung stammt wahrscheinlich von Alexander Kluge.

nicht-perfektion

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»In den Programmen viele volle Rubriken wie in einer Zeitung: Der weite Horizont . . . Eine halbe Stunde mit eurem Karl . . . Auf du und du mit dem Folk . . . All Jazz . . . Nachrichten um 13, 14, 15 Uhr . . . «65

Bei Radio Alice gibt es kein fixes Programmschema, sodaß die Interessen und Vorstellungen der Hörer auch nicht »durch dieses Nadelöhr des Programms hindurch«66 mit der Produktivkraft des Mediums verkehren müssen. Auch keinen Programmverantwortlichen und keinen sogenannten gesellschaftlichen Programmauftrag: alle wichtigen Entscheidungen werden auf der einmal wöchentlich stattfindenden Redaktionssitzung getroffen. Eine Programmstruktur aber ergibt sich erst, wenn die verschiedenen Personen, Gruppen und Kollektive sich am Mikrofon bzw. Telefon abwechseln. Das Fehlen vorheriger Programmierung verhindert einen gewohnheitsmäßigen Verlauf des Sendebetriebs; seine Desorganisation läßt das Erfinden neuer Programmformen zu, die sofortige Realisierung von Einfällen und vor allem den jederzeitigen Wechsel von beiläufiger Rezeption in aktive Teilnahme. Derart wird die Programmanstalt durch ein Sendelaboratorium ersetzt. Ähnliches gilt von der Perfektion. Auch sie ist ein Gegner unmittelbarer Kommunikation. So sind es oft gerade die Lücken im Programm,67 die Pannen oder Versprecher, also die nicht-perfekten Stellen, die den durch Perfektion verschüchterten Publikumsinteressen eine Bresche schlagen. Der Rundfunk bietet sehr günstige Bedingungen für allerlei Mißgeschicke. So hat sich der professionelle Sprecher nicht nur an die ihm zugewiesene Rolle zu halten und ganz auf die Vorlage zu beschränken; er ist auch angehalten, den Text in Aussprache, Rhythmus und Betonung fehlerlos zu artikulieren und ihn durch Verkürzung oder Dehnung exakt so lange dauern zu lassen, wie ihm dafür Zeit zugebilligt ist. Fehlerquellen also genug.68 Die Sprecher von Radio Alice hingegen achten nicht auf derlei Perfektion: Einer irrt sich bei der Musikansage, verbessert sich, wählt im letzten Augenblick ein anderes Stück statt des angesagten und schimpft über die schlechte Qualität der Platte; ein anderer vertratscht sich am Telefon oder geht einmal um den Häuserblock, und als er zurückkommt, ist das Musikstück schon seit zwei Minuten zu Ende; dann wieder wird eine angekündigte Sendung auf später verschoben, weil der Moderator den Bus verpaßt hat oder jedenfalls noch nicht eingetroffen ist. Ein häufiges Malheur bei den großen Anstalten entsteht durch das Mißverständnis darüber, ob das Mikrofon abgestellt ist oder nicht. Wenn der Sprecher glaubt, daß er mit seinen an den Staff gerichteten Bemerkungen, seinen Selbstgesprächen oder Wutausbrüchen nicht auf Sendung ist, obwohl gerade das Gegenteil der Fall ist, sind all jene amüsanten Rolleneinbrüche möglich, die dann oft ebenso amüsante Entschuldigungen nach sich zie65 »Nei programmi tante rubriche fitte fitte come in un giornale: Nell’ottica in cui si evidenzia . . . Mezz’ora con il vostro Carlo . . . A tu per tu con il folk . . . Tutto Jazz . . . Bollettino delle 13 delle 14 delle 15 . . .«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 37 (48). 66 Alexander Kluge, »Zur Theorie des Films«, in: Alexander Kluge / Oskar Negt, Kritische Theorie und Marxismus, Den Haag 1974, S. 10. 67 Vgl. Kluges Ausführungen zur Rolle der Pause im Theater, ebd., S. 17 und 43. 68 Bekanntlich wächst mit dem steigenden Niveau der angestrebten Perfektion auch die Fehleranfälligkeit, weil sich die Komplexität des Systems erhöht. Das führt zu interessanten Paradoxa, wie jenem, daß Systeme trotz einwandfreien Funktionierens wegen Fehlern in den Überwachungseinrichtungen abgeschaltet werden.

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hen. Von der Rundfunkpraxis des bologneser Kollektivs nun kann man sich am ehesten eine Vorstellung machen, wenn man davon ausgeht, daß der Unterschied zwischen Sendung und ›nicht-öffentlichen‹ Situationen im Studio, zwischen offenem und abgestelltem Mikrofon verschwindet. Nicht daß es keine Kommentare des Sprechers mehr gäbe, die der Hörer eigentlich nicht hören sollte, keine verärgerte Stimme, die herausplatzt »Wer tippt dieses verdammte . . .« im Glauben, nur die im Studio Anwesenden könnten es hören, und die in Erstaunen oder Disziplin erstickt, bevor noch der Satz zu Ende ist, weil wider Erwarten doch alles übertragen wird. Aber diese Fauxpas verletzen keine »gestellte Harmonie (. . .) zwischen der Sendestation, dem Sponsor, dem Hörer und dem Image des Sprechers«69. Sie gehören zum Alltag des Sendebetriebs und machen oft seinen besonderen Reiz aus. Manchmal, wie im folgenden Ausschnitt, handelt es sich auch um hinterhältige Versuchsanordnungen, in die nicht alle Beteiligten eingeweiht sind – im Gegensatz zu den anderen im Studio (Stimme 1, 2, und 4) weiß der Musiker (Stimme 3) nicht, daß er schon auf Sendung ist. Zu hören sind die letzten 60 Sekunden vor seinem Live-Auftritt bei Radio Alice: 1 – (sehr laut) ooouh! 2 – eh, beh, beh, se volete andiamo! 3 – (leise) certo 1 – ah! quando volete comunque! 3 – in questa cuffia c’è molto fruscio 2 – se . . . eh va be, senti non è mica un problema, possiamo partire 4 – avete risolto? (Pause, keine Antwort) . . . eh? 1 – . . . eh? 4 – avete risolto? 2 – eh, noi abbiamo risolto, voi potete, quando volete potete partire, basta che (Pause) insomma, anzi, da questo momento vi mettiamo in onda, quindi fate! (mehrere Sekunden völlige Stille und Konfusion) 3 – (irritiert) no, momento, scusa . . . 4 – (bricht in schallendes Gelächter aus) 2 – fai un po’ tu . . . 4 – (lacht die ganze Zeit heftig) 3 – no dai, ricomincia la storia di oggi insomma 4 – sì! (lacht noch immer) sì! 3 – sai non è mica per divertire 4 – oh no, (versucht das Lachen zu unterdrücken) . . . tzzz . . . 2 – (sachlich) no, la voce va bene, adesso bisogna provare se . . . c’è . . . il pezzo 3 – ah, il pezzo . . . (erschöpft) il pezzo . . . 4 – lo vuoi tonalità alta, tonalità bassa, cosa vuoi non so? 2 – a discrezione dell’artista 3 – (erleichtert) bene . . . (dann sagt er in seriösem Tonfall das Musikstück an:) ›Perche Finardi è un nemico del popolo? Anzi, Finardi è sicuramente un nemico del popolo‹ (Musik)70 69 (»prearranged harmony«), Erving Goffman, Forms of Talk, a. a. O., S. 270. 70 In der Übersetzung geht die kommunikative Unmittelbarkeit freilich verloren: »1 – hee! / 2 – ja, gut, gut, wenn ihr wollt, fangen wir an! / 3 – gewiß / 1 – nur wenn ihr wollt! / 3 – in diesem Kopfhörer gibt’s ein starkes Rauschen / 2 – also . . . gut, das ist gar kein Problem, wir können anfangen / 4 – seid ihr bereit? . . . hm? /

diskreditierung

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Während die mit Routine und unter Einsatz modernster Aufzeichnungstechniken gewissermaßen keimfrei gemachten, fertigen Medienprodukte keinerlei Störungen dulden und sie in hohem Maße auch zu verhindern wissen, gibt es bei Radio Alice – auch bedingt durch die sehr dezentrale Produktion – keine vorgefertigten Programme: »la scelta del delirio comunicativo delle trasmissioni in diretta«71 führt zu einer Systematik der Nicht-Perfektion. Mit dem forcierten, beinahe ausschließlichen Einsatz der Live-Sendung72 zielt das Radiokollektiv bewußt routinefeindlich auf ein Unterbrechen kontrollierter Abläufe, auf unvorhersehbare Eingriffe und überraschende Montagen. Mit einem Wort: auf ein kommunikatives Delirium. Nicht zuletzt erzeugt Radio Alice einen Effekt der Diskreditierung. Die legitimatorische Aufgabe der Massenmedien beschränkt sich ja keineswegs auf die Legitimierung der Bedeutung der sanktionierten Themen und der Irrelevanz der abgewiesenen; auch ist sie nicht mit der Rücksichtnahme auf die sogenannte Öffentlichkeit identisch oder aus ökonomischen Abhängigkeiten zu erklären. Eher handelt es sich zunächst einmal um Selbstlegitimation:73 Parallel zur Politik suchen auch die modernen Informationsmedien allgemeinen Kredit für ihre spezifische Kommunikationsweise. Ähnlich wie Umstände, unter denen das normale Funktionieren eines Massenmediums gestört ist, seine soziale Funktion auf besonders drastische Weise erhellen,74 wird durch die bloße Tatsache, daß sich eine Radiostation außerhalb der gewohnten medialen Normen und journalistischen Gepflogenheiten installiert, das Vertrauen in die technologisch begründete und durch hohe Professionalität scheinbar unzweifelhafte Legitimität der offiziellen Medien erschüttert. Freilich ist die Korrosion ihrer Glaubwürdigkeit ein sich langsam akkumulierender Prozeß.75 Schlagartig aber demonstriert Radio Alice, daß das vorherrschende lediglich eines von vielen möglichen Kommunikationssystemen ist. Und, so könnte man 1 – . . . hm? /4 – seid ihr bereit? / 2 – wir sind bereit, ihr könnt, wenn ihr wollt, könnt ihr anfangen, es genügt, also, jedenfalls von jetzt an seid ihr auf Sendung, also los! / 3 – nein, Moment, verzeih . . . / 4 – Lachen / 2 – mach du es doch . . . / 4 – Lachen / 3 – also nein, das haben wir heute schon einmal gehabt / 4 – ja! . . . Lachen . . . ja! / 3 – also wir sind doch nicht zum Vergnügen hier / 4 – aber nein, . . . nein / 2 – nein, der Ton ist gut, jetzt müssen wir schauen, ob . . . die Nummer . . . bereit ist / 3 – ja, die Nummer . . . die Nummer / 4 – willst du mehr Höhen, mehr Bässe, was weiß ich? / 2 – das liegt im Ermessen des Künstlers / 3 – gut . . . ›Warum ist Finardi ein Feind des Volkes? Vielmehr, Finardi ist sicher ein Feind des Volkes‹«, Perchè Finardi, aus: SARABANDA, Il Canto di Alice (Tonbandkassette), Vol. 1, Seite 2. 71 »die Wahl des kommunikativen Deliriums der Live-Sendungen«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 110 (122). 72 Vgl. Ecos Überlegungen zur Live-Sendung »Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik«, in: Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (1962), Frankfurt a. M. 1977, S. 186–211. Interessant wäre hier ein Vergleich mit den Radioexperimenten aus der Frühgeschichte des Rundfunks, als die Aufzeichungstechniken noch kaum entwickelt waren, perfekte Tonkonserven überhaupt fehlten und der Live-Sendung daher ein viel größerer Stellenwert zukam als heute; vgl. etwa Gerhard Hay (Hrsg.) Literatur und Rundfunk 1923–1933, Hildesheim 1975. 73 Vgl. dazu Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, a. a. O., S. 112–122. 74 Vgl. Charles R. Wright, »Functional Analysis and Mass Communication Revisited«, in: Jay G. Blumler / Elihu Katz, The Uses of Mass Communications. Current Perspectives on Gratification Research, Beverly Hills/London 31974, S. 197–212. 75 Vgl. Umberto Eco / Paolo Fabbri, »Proggetto di ricerca sull’utilizzazione dell’informazione ambientale«, a. a. O., S. 579 ff.

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hinzufügen, daß der Monopolrundfunk seiner Rolle als Erforscher des Mediums – sieht man von einigen wenigen Ausnahmen ab – nicht gerecht wurde.76 Entscheidend für diese Delegitimierung ist der Versuch, dem Einzelnen keine Darstellung der angeblichen Ordnung seiner Existenz mehr zu bieten. Mehr noch, die Intention einer repräsentativen Wiedergabe der gesamten Welt wird als Trug verworfen. Das Radio gibt keine Zustände wieder, will sie vielmehr entdecken. ›Objektive Berichterstattung‹ räumt das Feld zugunsten subjektiver Erfahrung. Radio Alice ist seinen Benützern »geeignetes Instrument, um ›das Land hinter dem Spiegel‹ zu erkunden, um kreativ im Alltag einzugreifen.«77

VI. »Nothing von den Fugs wird leiser

Stimme 2 – Vielleicht hat Alice das Wunderland noch nicht gefunden, es bleibt sowieso das Vorher/Nachher, und an Monstern fehlt es wirklich nicht Stimme 1 – Ich werde dir die Nase blutig schlagen! Stimme 2 – Das ist eins der Risiken, die man eingeht, wenn man 100 Megahertz einstellt (. . .) Der Risiken sind viele«78

Noch in eine andere Richtung wird das auf Hierarchie, Kompetenz und Geschlossenheit basierende Informationsmodell verlassen. Sobald nämlich all seinen Prinzipien oder Strukturierungen durch die Offenheit des Kanals der Boden entzogen ist, passiert eine Rückkoppelung von Massenkommunikation und direkter Interaktion. An deren Stelle sind ja die Massenmedien in schwindelerregender Weise getreten: Nicht nur destruiert die Massenkommunikation die letzten Zonen bürgerlich-liberaler, kritisch-exklusiver Öffentlichkeit;79 der technische Apparat, erfunden, um die natürlichen Grenzen des menschlichen Kommunikationsradius zu überwinden, unterbricht und ersetzt 76 Umberto Eco / Paolo Fabbri / Mauro Wolf / Pietro Favari, »Appunti di studio per una ricerca sulle radio indipendenti in una situazione di tensione«, a. a. O., S. 103. Berühmteste Ausnahme ist Orson Welles’ Hörspiel über die Invasion der Marsmenschen; vgl. Werner Faulstich, Radiotheorie, Eine Studie zum Hörspiel ›The War of the Worlds‹ (1938) von Orson Welles, Tübingen 1981. 77 »strumento adatto a perlustrare ›il paese al di la dello specchio‹, ad intervenire creativamente nel quotidiano.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 123 (135). 78 »Nothing dei Fugs sfuma / Voce 2 – Forse Alice non ha ancora trovato il paese delle meraviglie, tanto resta il prima/dopo, e i mostri certo non mancano / Voce 1 – Ti farò sanguinare il naso! / Voce 2 – È uno dei rischi che si corrono sintonizzandosi sui 100 megahertz (. . .) I rischi sono tanti«, Ebd., S. 26 (36 f). 79 »Die durch die Massenmedien erzeugte Welt ist Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach;« Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 51971, S. 205 f.

kollektive rezeption

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auch den zwischenmenschlichen Kontakt. Die interpersonelle Kommunikation ist heute bereits weitgehend von der Medienrezeption festgelegt;80 und der massenhafte Vollzug vereinzelter Rezeption zersetzt den Zusammenhang öffentlicher Kommunikation. Voneinander isoliert stehen die an die Massenkommunikation angeschlossenen Individuen einander gegenüber.81 In dem Moment aber, in dem die Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger ihren grundsätzlichen Charakter verliert und das Medium Versammlungsort gesellschaftlicher Erfahrung wird, ändert sich mit der Lage der Rezipienten auch die Rezeptionsweise. Sie entspricht der Art des Produzierens, und die ist kollektiv. Denn wie die Isolierung im Senderaum wegfällt,82 sind auch die Hörer von Radio Alice nicht länger gezwungenermaßen anonyme Glieder eines dispersen Publikums, dem die Sendung ins Haus kommt. Das Publikum tritt aus dem Schatten der schweigenden Mehrheit: zum einen, wie gesagt, über den Weg des Senders, und dann, indem es sich in kollektiver Rezeption83 selbst organisiert. Die Hörer nämlich treten auch untereinander direkt in Beziehung. Mehr noch, sie werden oft erst Hörer, indem sie sich auf eine Begegnung einlassen. Eine Situation, die man in jenen Tagen in Bologna häufig antrifft, mag dies illustrieren: Da kommt jemand mit einem kleinen Transistorradio unterm Arm auf die Piazza, vor eine Bar oder an irgendeinen anderen belebten Ort. Ohne um sich zu blicken stellt er das Gerät aufs Trottoir, setzt sich daneben hin und dreht an den Knöpfen. Womöglich kritzelt er noch einige Buchstaben in Blockschrift auf einen Zettel und steckt ihn an die Teleskopantenne: RADIO ALICE. Unterdessen sind mehrere Passanten stehengeblieben, ein paar treten neugierig näher, um die Stimme aus dem Radio besser zu hören, »das also ist Radio Alice!«. Bald scharen sich zwei Dutzend Leute um das Gerät, das doch jeder zu Hause stehen hat, und sie lauschen, als wäre ein besonderes Ereignis geschehen, der König gestorben vielleicht, oder Krieg ausgebrochen. Oder wurden die Löhne verdoppelt, denn was 80 Günther Anders faßte dies in den Aphorismus: »jeder Jonny küßt heut’ wie Clark Gable«. 81 Darin liegt eine offensichtliche Widersprüchlichkeit der Massenkommunikation, genauer ihrer institutionellen Formierung: Massenmedien für individuelle, vereinzelte Rezeption. »Das Theater hat, wie eine große Versammlung, eine elementare gesellschaftliche Funktion. Die fehlt dem Radio durch seine Konstitution; denn das Radio wendet sich zwar an 100 000, – aber man darf nicht unterschlagen: an 100 000 Einzelne.« Alfred Döblin, »Literatur und Rundfunk. Vortrag«, in: Dichtung und Rundfunk. Reden und Gegenreden, Berlin 1930, S. 14. Ähnlich Benjamin: »›Anfänger‹, sagte er, ›begehen den Irrtum zu glauben, sie hätten einen Vortrag vor einem mehr oder weniger großen Publikum zu halten, das nur eben, zufällig, unsichtbar sei. Nichts ist verkehrter. Der Radiohörer ist fast immer ein einzelner, und angenommen selbst, Sie erreichen einige Tausende, so erreichen Sie immer nur tausende Einzelne.‹«, »Auf die Minute« (1934), in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV/2, a. a. O., S. 761. 82 Benjamin nannte die jeweils isolierte Lage von Sender und Empfänger, in der kein Gespräch mehr zwischen Sprecher und Hörer stattfindet, die »Schattenseite« des Rundfunks: »Vielleicht begegne ich da mal einem von euch. Aber wir werden uns nicht erkennen. Das ist die Schattenseite vom Rundfunk«. Walter Benjamin, »Straßenhandel und Markt in Alt- und in Neuberlin«, in: ders., Aufklärung für Kinder. Rundfunkvorträge, Frankfurt a. M. 1975, S. 17. 83 Zur ›simultanen Kollektivrezeption‹ vgl. die vor allem das Kino betreffenden Ausführungen von Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Alter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O., S. 38 ff. Alexander Kluge weist auf die Kollektivrezeption der amerikanischen Stummfilme hin, die für die Arbeitsemigranten aus Europa, und zwar ganz unterschiedlicher Nationalitäten, produziert wurden; indem die Kinobesucher laut und durcheinander in den verschiedenen Sprachen diese Filme kommentierten, sie sich wechselseitig übersetzten, habe der Chor im Zuschauerraum sie überhaupt erst hergestellt. Vgl. Alexander Kluge, »Zur Theorie des Films«, a. a. O., S. 11.

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sie da hören, macht viele lachen. Sie beginnen zu diskutieren, Zwischenrufe ertönen, und einer sucht seine Taschen nach einer Telefonmünze ab, während das Palaver um sich greift, denn er will die Sache selbst testen. Es kommt also zu einer öffentlichen, kollektiven Verwendung des Radios. Die Szene erinnert an den Gebrauch, den die Puertoricaner in New York von den Radio- und TV-Geräten, von Plattenspielern und Kassettenrecordern machen:84 Im Gegensatz zu den Weißen, die nicht gewillt sind, den Raum außerhalb ihrer eigenen vier Wände zu bewohnen, ist es für jene ganz selbstverständlich, die Geräte öffentlich und vor allem gemeinschaftlich zu benützen.85 Und sie macht verständlich, warum das Transistorradio beliebtes Requisit der bologneser Jugendlichen wird. Nur daß statt der Übertragung aus dem Fußballstadion eine ungewöhnliche Stimme zu hören ist; dessen vielleicht, mit dem man eben noch gesprochen hat: »Stimme 2 – Es sei also der Tanz, es sei also das Fest, es sei also die Musik, es sei also die Hypothese, es sei«86

VII. Die Hypothese ist so einfach wie komplex: Erst in dem Augenblick, da man versucht, das Massenmedium, das einem Wort Adornos zufolge seine Hörer erst zur Masse macht, als ›Medium der Massen‹ nutzbar zu machen,87 wird es möglich, die Blockade zwischen organisierter und alltäglicher Kommunikation einzureißen. Das beginnt bei der alten Forderung Benjamins, das Medium »auf ein Format, das menschenwürdig ist, zu reduzieren«88, und reicht bis dorthin, wo es nicht mehr über Ereignisse berichtet, sondern selbst in sie eingreift.

84 Daß die individualisierte Form des Kinos, das Fernsehen, Kollektivrezeption keineswegs ausschließt, belegt auch Irene Pennacchioni, »Fernsehen und Vorstellungswelt in Nordost-Brasilien«, in: Harry Pross / ClausDieter Rath (Hrsg.), Rituale der Medienkommunikation, Berlin/Marburg 1983, S. 112–118. In gewissen Regionen Brasiliens scheint gemeinschaftliche Fernsehrezeption geradezu institutionalisiert. Die Geräte sind auf öffentlichen Plätzen, und zwar in eigens dafür vorgesehenen Betonsäulen aufgestellt, rund um die sich ein ›öffentlicher Klangraum‹ bildet, in dem sich die TV-Geräusche mit allen anderen Tönen des täglichen Lebens vermischen. 85 Die jüngste Erfindung des Walkman bedient nur eine Seite dieses Verhaltens, die kollektive fällt in den »Schlamm des Asphalts«. 86 »Voce 2 – Sia dunque la danza, sia dunque la festa, sia dunque la musica, sia dunque l’ipotesi, sia«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 61 (73). 87 Zu anderen Versuchen in diese Richtung vgl. Ithiel de Sola Pool (Hrsg.), Talking Back. Citizen Feedback and Cable Technology, Cambridge/Mass. 1973; Larry Soule/Vivian Soule, Two-Way Radio and Socio-Cultural Development, Straßburg 1977; Christine S. Higgins / Peter D. Moss, Sounds Real. Radio in Everyday Life, St. Lucia 1982. 88 Walter Benjamin, »Theater und Rundfunk. Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/2, a. a. O., S. 776.

ein unendlich kombinatorisches Stimmengewirr

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Ähnliches tun freilich auch die gängigen Massenmedien. Und zwar in zunehmendem Maße und auf eine Weise, daß viele Ereignisse nur mehr geschehen, als würden sie in Hinblick, wegen, für die Medien geschehen: geplant, damit darüber berichtet werden kann.89 Durch die Allgegenwart der Massenmedien wird jedes Ereignis zur Inszenierung,90 die Wirklichkeit zum Medienereignis zugerichtet, zum Spektakel91 – von Wiederherstellung öffentlicher Kommunikation keine Rede. Dem Konsumenten als dem Antipoden einer organisierten Rezipientenmasse entspricht ja gerade die Darbietung, zu der man nicht Stellung, sondern die man nur hinnehmen kann. Entgegengesetzt verläuft die organisatorische Energie von Radio Alice. Wenn das Radio zu einem Fest auf der Piazza Maggiore lädt und dort sich daraufhin zweitausend Menschen »armati di latte, chitarre, flauti, aquiloni, bandiere«92 zu einer jam-session93 versammeln und dann in einer fröhlichen Prozession durch die Straßen der Stadt strömen, wird die mögliche Nähe des Mediums zu unmittelbarer Kommunikation offenbar. Die Teilnehmer der Feste und Happenings auf der Piazza betrachten das Radio als ihr Kommunikationsmittel. Hier wie dort sprechen sie in erster Person, treten in erster Person auf. Und hier wie dort zeigt sich ein unvorhergesehenes Verhalten. Es entdeckt sich befreit von all den Vorstellungen, die sich zu der Erwartung verfestigt haben, es würde der Bericht zum Ereignis nur hinzugefügt und bliebe diesem äußerlich; während doch die »öffentliche Schreibweise des Ereignisses«94 zur Struktur des Ereignisses selbst geworden ist. In dieses Verhältnis eindringen zu können, darin besteht die immense Ausstrahlung von Radio Alice. Wie Alice im Wunderland setzt das Radio bestehende Vorstellungsmuster außer Kurs – und »comincia a produrre nuovi comportamenti«95. Massenkommunikation eskaliert zur Interaktion. Die Attraktivität der Stimmen von Radio Alice geht über die Bedeutung der Botschaften hinaus. Da ereignet sich etwas, das die Kommunikationssituation und mit ihr die daran Beteiligten verändert. Anfangs nur zögernd: 89 Diesen Sachverhalt hat Günther Anders bereits vor 30 Jahren unter dem Titel »Die Welt als Phantom und Matrize« vortrefflich beschrieben: »Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muß das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.« Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 111. 90 Das gilt vor allem vom Fernsehen, das in besonderer Weise auf die Wirklichkeit abstrahlt: »a) Das Wissen, daß das Ereignis aufgenommen wird, hat Einfluß auf seine Vorbereitung (. . .) b) Die Anwesenheit der Fernsehkamera beeinflußt den Verlauf des Ereignisses.« Umberto Eco, »TV: la trasparenza perduta«, in: ders., Sette anni di desiderio, Mailand 1983, S. 173. 91 Es kommt zu einem gewaltigen ›Entwirklichungseffekt‹, der jenen des Kinos weit hinter sich läßt. Entstand jedoch mit dem Fernsehen eine neue kollektive Vorstellungswelt, so wird diese nun durch die Verbreitung der Video-Aufzeichnungen unwiederbringlich zersplittert; vgl. Mario Pemiola, »Fernsehästhetiken«, in: Harry Pross / Claus-Dieter Rath, Rituale der Medienkommunikation, a. a. O., S. 37–49. Zum Begriff des ›Spektakels‹ siehe Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Düsseldorf 21974. 92 »bewaffnet mit Blechdosen, Gitarren, Flöten, Drachen und Fahnen«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 104 (117). 93 Zu den Ähnlichkeiten zwischen jam-session und Live-Sendung vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, a. a. O., S. 192 ff. 94 Frank Böckelmann, Theorie der Massenkommunikation, a. a. O., S. 228. 95 »beginnt neue Verhaltensweisen zu erzeugen«, »Cloacale 2«, in: A/traverso, Juli 1976, S. 4.

kommunikatives delirium

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»Alice stellt sich vor, scheu, mit einem artigen Knicks. Fertige Produkte, Aussagen, die die Wiederholung schnell konsumiert, ein Seufzer der Erleichterung.«96

Bei den Probesendungen überwiegen noch fertige Texte, Rezitationen, gesprochene Schrift. Bald aber besetzt die Improvisation, die Sprache der Spontaneität den Platz vor den Mikrofonen. Die Rückkopplung wird unmittelbar. »die Leute kommen ins Spiel, sprechen, erklären sich, Delirien auf der Suche nach einem Weg durch die Wellentäler. Für einen Augenblick zerbricht das System der Isolierung, der Raum der Nekropolis. Die Information kommt an, sofort, außerhalb der Kanäle der institutionellen Kommunikation, unhörbare Worte, mit erstickter Stimme: ›eine meiner Freundinnen ist tot, widmet ihr ein Lied‹. Hier gibt es keine Maschinen, sondern Gedanken, und das Über-Ich fährt in Urlaub. Eine Hausfrau mit zwei Kindern ›ich will dich nicht treffen, sähe ich dich, es würde damit enden, daß ich mich in dich verliebe.‹ Zerbrochen die Ordnung des Diskurses, der Zeit, des Raums.«97

Dem Diskurs wird sein Ereignischarakter zurückgegeben. Darin liegt das Wesentliche des ganzen Unternehmens: An die Stelle der spektakulären Darstellung der Realität treten Aussageereignisse. »Es ist ohne Bedeutung, zu melden, daß in dieser oder jener Schule die Direktion besetzt worden ist, wichtig ist, daß es die Schüler berichten, die sie besetzt haben, beim Radio anrufen und gleichzeitig das Geschrei hören, das sie selbst gerade senden.«98

Wichtig ist also nicht so sehr, was da berichtet wird, und sei es noch so aufsehenerregend oder alltäglich, wichtig ist die Herstellung eines kommunikativen Flusses, der alle Mechanismen der Nicht-Kommunikation mit sich fortreißt. Die neudefinierte Beziehung zwischen Sender und Empfänger, die Durchlässigkeit des Kanals, der dialogische Charakter des Mediums, der unerhörte Schauplatzwechsel, für den das Telefon auf der einen und das mobile Transistorradio auf der anderen Seite des Kanals sorgen, die Direktheit und Aktualität der ungefilterten Informationen legen das Feld einer subversiven Kommunikation aus. Ein Feld für jene Ereignisse, jene Masse von gesagten Dingen, für das Auftauchen all jener Aussagen, für alles, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, für jenes »große unaufhörliche und ordnungslose Murmeln des Diskurses«99. Das muß man sagen, um das Vorhaben wieder in seiner Gesamtheit erscheinen zu lassen. 96 »Alice si presenta, timidamente con un inchino composto. Prodotti finiti, enunciazioni che la ripetizione consuma velocemente, un sospiro di sollievo.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 104 (116). 97 »la gente entra in gioco, recita, si confessa, deliri in cerca di un sentiero su e giù per i calanchi. Per un attimo si rompe il sistema dell’isolamento, lo spazio della necropoli. L’informazione arriva, immediata, fuori dai canali della comunicazione istitutionale, parole inascoltabili, con la voce strozzata: ›una mia amica è morta, dedicatela una canzone‹. Qui non ci sono macchine ma pensieri, e il super-io va in vacanza. Una massaia con due bambini ›non voglio incontrarti, se ti vedessi finirei per innamorami di te.‹ Rotto l’ordine del discorso, del tempo, dello spazio.«, »Cloacale 2«, in: A/traverso, Juli 1976, S. 4. 98 »Non è importante dire che in tale scuola sia stata occupata la presidenza, è importante che a dirlo siano gli studenti che l’hanno occupata, telefonando alla radio, ed ascoltando contemporaneamente quelle urla che loro stessi stanno trasmettendo.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 108 (121). 99 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – Dezember 1970, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1975, S. 35.

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»Alice schaut, spielt, springt, verliert Zeit zwischen den von der Sonne beschienenen Blättern, läuft dann weg, läßt sich anderswo nieder. Dennoch funktioniert alles innerhalb der Ordnung des Diskurses. Der Diskurs vernäht, erklärt, wiederholt, läßt keine Unterbrechungen zu, organisiert, beteiligt sich, macht Vorwürfe . . . Wie eine Einladung zum Essen, um dir von der Arbeit zu erzählen und dich nicht essen zu lassen Schweigen Das Subjekt hat sich verändert Es schnauft, pfeift, gibt dir nicht recht.«100

Der offene Kanal stiftet eine Möglichkeit und ein Verlangen: das Wort zu ergreifen, ohne sofort in der ›Ordnung des Diskurses‹ gefangen zu sein, »ohne sich im voraus ein Programm oder eine Sprache zu schaffen«101. Radio Alice ist auch »die Stimme der Ausgeschlossenen«, vor allem aber Vergnügungsstätte, Ort verschiedenster Spiele und Geschäfte, ein unendlich kombinatorisches Stimmengewirr. »Alice fischia urla sparla interrompe spara.«102

100 »Alice guarda, gioca, salta, perde tempo tra i fogli illuminati dal sole, poi corre via, si situa altrove. / Eppure tutto funziona nell’ordine del discorso. / Il discorso cuce, spiega, ripete, non ammette interruzioni, organizza, partecipa, rimprovera . . . / Come un invito a pranzo per parlarti di lavoro e non farti mangiare / Silenzio / Il soggetto è cambiato / Sbuffa, fischia, non ti da ragione.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 36 (48). 101 »senza precostituirsi un programma o un linguaggio«, ebd., S. 110 (123). 102 »Alice pfeift, brüllt, pöbelt, unterbricht, schießt.«, ebd., S. 37 (48).

Unsere Sprachen sind volkstümliche, vulgäre, gesprochene Sprachen. Raymond Queneau1 Wir wissen heute langsam, daß Sprachüberschreitungen ebenso herausfordern können wie Moralüberschreitungen, und daß die ›Poesie‹ – die Sprache der Sprachüberschreitungen schlechthin – deshalb stets aufrührerisch ist. Roland Barthes2

EINE SCHMUTZIGE SPRACHE

I. Eine neue Art der Kommunikation schafft immer auch neue Sprechweisen, eine neue Sprache. Ihr gilt, noch vor der Auseinandersetzung mit dem Rundfunk, noch vor der Analyse seiner Besonderheiten und seiner Anfälligkeit für Veränderungen, von Anfang an das zentrale Interesse des Kollektivs A/traverso. So nannte sich die im Vereinsregister eingetragene Kooperative ›Ricerca linguaggio radiofonico‹3, und schon in der Ankündigung des Radioprojektes hatte es geheißen: »Dieses Projekt zu verwirklichen bedeutet, die Art der Kommunikation/Information, aber auch gerade die Form der spezifischen Sprache zu verändern (in diesem Fall die Rundfunksprache)«4.

Wie das Medium wird auch die Sprache nicht als neutrale Struktur aufgefaßt; sie ist kein reines Transportmittel, kein bloßes Vehikel der Botschaft: »il linguaggio non è un mezzo ma una pratica« (die Sprache ist kein Mittel, sondern eine Praxis)5. Sprache ist verändernde Praxis: so lautete auch das Vermächtnis der historischen Avantgarde. Aktualisiert 1 Raymond Queneau, »Der Vorrang des Mündlichen vor dem Geschriebenen« (aus: Bâtons, Chiffres et Lettres, 1950), in: Panorama des zeitgenössischen Denkens, Frankfurt a. M. 1961, S. 372. 2 Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, Frankfurt a. M. 1974, S. 41. 3 Dessen »erklärte Emanation« laut Polizeibericht Radio Alice ist; weiters heißt es dort, daß dem Vorstand Saviotti, Capelli, Torrealta, Berardi und Brunetti angehörten; der Bericht ist abgedruckt in: Autori Molti Compagni, Bologna Marzo 1977 . . . fatti nostri . . ., Verona 1977, S. 240. 4 »Realizzare questo progetto significa trasformare il modo della comunicazione/informazione ma anche la forma stessa del linguaggio specifico (il linguaggio radiofonico, in questo caso)«, »soggeTTo colleTTivo emeTTe a/Traverso«, in: A/traverso, Sept. 1975, S. 2. 5 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 107 (120).

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durch die Forschungen der Pariser Autorengruppe Tel Quel6 gewinnt diese Formel große Bedeutung für A/traversos Projekt einer subversiven Kommunikation. Davon ist bereits etwas zu spüren, wenn man Radio Alice auf der Senderskala sucht. Ohne hinzusehen wissen erfahrene Radiohörer binnen weniger Sekunden, welchen Sender sie eingestellt haben; die Station gibt sich sofort zu erkennen. So auch Radio Alice: doch weder durch Stationsansagen oder Pausenzeichen, deren Relevanz für die ›Treffsicherheit‹ ohnedies im allgemeinen gering ist, noch durch die Musik, die hiefür gewöhnlich das entscheidende Element7 darstellt; noch auch durch den Inhalt der Sendungen. Vielmehr, weil Radio Alice keine wohldosierte Geräuschkulisse abgibt. Die Aufforderung am Arbeitsplatz, im Büro oder in der Bar, das Radio abzuschalten, lautete denn auch nicht »spegni quella radio estremista« (dreh dieses radikale Radio ab), sondern »spegni quella radio che parla troppo« (dreh dieses Radio ab, das zuviel redet)8. Natürlich unterscheiden sich die Botschaften von denen, die man üblicherweise im Radio zu hören kriegt; und es wird auch nicht einer bestimmten Musikrichtung der Vorrang gegeben, am wenigsten dem glatten und technisch perfekten Disco-Sound, mit dem die kommerziellen Stationen das UKW-Band mittlerweile dominieren. Vor allem aber ist das ›Sprachverhalten‹ auf 100,6 MHz sehr verschieden von dem gewohnten. »Anfang 1976 begannen alle italienischen Zeitungen von der ›schmutzigen Sprache‹ eines freien Radios in Bologna zu schreiben, Radio Alice sein Name.«9

Worin besteht jene schmutzige Sprache, die da zu hören ist und die für derartiges Aufsehen sorgt? H. M. Enzensberger sprach davon, daß die elektronischen Medien »mit jeder Reinheit« aufräumen, daß es zu ihrer Produktivität gehöre, »prinzipiell ›schmutzig‹«10 zu sein. Unklar an diesem auch von A/traverso zitierten11 Prinzip aus dem ›Medienbaukasten‹ bleibt allerdings, warum die elektronischen Medien »prinzipiell schmutzig« sein sollen. Auf Grund ihrer technischen Struktur? Gewiß sind die technisch bedingten Verunreinigungen von Bedeutung: jener Effekt der Frequenzüberlagerung zum Beispiel, der in Italien unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz hunderter privater Rundfunkstationen um die 16 »faire du langage un travail« heißt es etwa bei Julia Kristeva. Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Tel Quel vgl. »La trama che tesse il soggetto«, in: A/traverso, quaderno 4, Sept. 1976, S. 9; dt. liegen drei Aufsatzsammlungen vor. Alternative, Nr. 66: Revolutionäre Texttheorie. Die Gruppe Tel Quel, Juni 1969; ›Tel Quel‹ (Hrsg.), Das Denken von Sade, München 1969; Tel Quel, Die Demaskierung der bürgerlichen Kultur­ ideologie, München 1971, (darin v. a. Jean-Joseph Goux, »Marx und die Inschrift der Arbeit«, S. 86–109). 17 So Wolfgang Hagen, »Zu wem aber spricht, der im Radio redet? – Zu den Toten«, in: Fragmente, Nr. 11, 1984, S. 136–139; vgl. auch Kurt Blaukopf, »Senderfärbung und kulturelle Entwicklung«, in: Communications. Internationale Zeitschrift für Kommunikationsforschung, Heft 3/1977, S. 315–335. 18 Zit. n. Paolo Hutter, Piccole antenne crescono, a. a. O., S. 39. 19 »Nei primi mesi del ’76 tutti i giornali d’Italia cominciarono a parlare del ›linguaggio sporco‹ usato da una radio libera bolognese, radio Alice il suo nome.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., hintere Umschlagseite. 10 Hans Magnus Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, a. a. O., S. 164; vgl. zu dieser Thematik auch die Anthologie seines kleineren Bruders Christian, Größerer Versuch über den Schmutz, München 1968. 11 Etwa in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 99 (112) oder 106 (119).

das denken geschieht im mund

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Wellenlängen so enorme Ausmaße angenommen hatte, daß der Empfänger oft mit einem Wellensalat konfrontiert war, mit Frequenzübersättigungen, die auch mit anderen gastronomischen Begriffen wie ›Kompott‹, ›Marmelade‹ und, besser noch, ›Püree‹12 belegt worden sind. Oder »schmutzig« wegen der jedem Reinheitskodex hohnsprechenden, atemberaubenden Ausdehnung des TV-Programmangebots von den Soap-operas bis zum allabendlichen Striptease,13 vor dem selbst katholische Stationen – doch schließlich verstehen auch sie ihr Handwerk – nicht zurückschreckten? Zweifellos wurde Radio Alice durch die radikale Öffnung des Sendekanals ›verschmutzt‹: Kann jedermann das Wort ergreifen, dann ist es mit der ›prinzipiellen Sauberkeit‹, die sicherlich zu einem Gutteil auf die Beschränkung und Kontrollierbarkeit des Zugangs zum jeweiligen Medium beruht, weitgehend vorbei. Auch der Verzicht auf die ›reinigende‹ Funktion der Aufzeichnung ist der Sauberkeit abträglich. Doch die schmutzige Sprache von Radio Alice entfaltet sich in viel umfassenderer Weise. Obwohl mehr als ein Jahr lang täglich, manchmal sogar rund um die Uhr ausgestrahlt, stellt sie sich jedoch nur selten in Argumenten dar, geschweige denn in einem einheitlichen theoretischen Gebäude. Eher liegt ihr Ort in der Art der Verwendung des Mediums, in seiner Entwendung aus dem vorgesehenen Zusammenhang, eben in den angeführten Funktionsveränderungen. Und eher ereignet sie sich in der Organisierung der Sprechweisen, in der Syntax der Mündlichkeit, in der Artikulation der Laute.

II. Einem Werbeplakat für Radio Alice diente El Lissitzkijs Entwurf einer Rednertribüne des Schülerkollektivs14 als Vorlage. Am Fuß der Konstruktion tauchen jetzt die Musikanten aus Yellow Submarine auf, und in das rote Quadrat über der Szenerie ist, gleichsam als Markenzeichen, der Titel von Majakovskijs letztem Gedicht eingefügt: APIENAVOCE. ›Aus vollem Hals‹ oder ›Mit ganzer Stimmkraft‹.15 Interessanter als diese Modifikationen ist die Wahl der Vorlage, in der sich eine bestimmte historische Korrespondenz offenbart. Von der Zeit, aus der El Lissitzkijs Entwurf 12 Umberto Eco, »Dalla ›guerriglia semiologica‹ alla professionalità della comunicazione«, a. a. O., S. 62. Italien hat heute proportional mehr Radiostationen als jedes andere Land der Welt. Es gab Pläne, das durch die Frequenzübersättigung hervorgerufene Chaos unter Kontrolle zu bringen; der wirkungsvollste dieser Versuche bestand jedoch gerade darin, ihm freien Lauf zu lassen: Entnervt von diesem »Püree-Effekt« zogen es die Hörer bald wieder vor, sich den (kapital)starken Sendern zuzuwenden. Vgl. auch G. G., »Rundfunkchaos in Italien«, in: Media-Perspektiven Nr. 12, 1977, S. 706–714. 13 Vgl. etwa »Die italienischen Privatstationen. Fernsehparadies oder verrückter Bildschirm«, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 38, 16. Feb. 1978, S. 30; oder »Wilder Pyjama«, in: Der Spiegel, Nr. 44, 29. Okt. 1979, S. 191. 14 Entstanden 1920, 1924 als Lenintribüne überarbeitet; vgl. Malewitsch – Mondrian und ihre Kreise. Ausstellungskatalog, Salzburg 1978, S. 92. 15 Vladimir Majakovskij, »A piena voce« (übers. v. Angelo Maria Ripellino), in: Per conoscere Majakovskij, hrsg. v. Giovanni Buttafava, Mailand 1977, S. 285 f.; Wladimir Majakowski, »Mit aller Stimmkraft«, in: ders., Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 423 ff. (Karl Dedecius übersetzt »Aus vollem Halse«, in: Wladimir Majakovskij, ICH. Ein Selbstbildnis, a. a. O., S. 207 ff.; ebenso Johannes von Guenther, in: Wladimir Majakowski, Aus vollem Halse, Berlin o. J.).

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stammt, sagte Viktor Šklovskij einmal: »Es wurde mehr gesprochen als geschrieben«16, und vielleicht trifft das auf alle turbulenten Perioden des ablaufenden Jahrhunderts zu, in denen die festgeschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse in Bewegung geraten – denn jedes kollektive Wortergreifen ist vor allem eine mündliche Angelegenheit. So stellt denn auch die ›Oralität‹ der Sprache neben der Direktheit der Information das wichtigste Charakteristikum von Radio Alice dar. Und sie ist es auch an erster Stelle, die sich der ›Sauberkeit‹ widersetzt: Sauber will die Hochsprache sein, »sauber, klar und knapp«17 hat sich der Nachrichtensprecher auszudrücken, sauber jede Formulierung, der ein schriftlich fixierter Text zugrunde liegt. Weil die Schrift schon die Sprache von der Interaktion löst,18 zieht das Kollektiv A/traverso dem geschriebenen das gesprochene Wort vor. Die Abwendung von der Schrift, wie sie im Radioprojekt zum Ausdruck kommt, bedeutet also nicht nur die Übernahme eines Informationssystems von höherer Geschwindigkeit, sondern betrifft die funktionelle und strukturelle Gegensätzlichkeit von gesprochener und geschriebener Sprache: »Die elektronischen Kommunikationsmittel schaffen die Möglichkeit einer Aufwertung des Wortes und der oralen Kultur.«19

Nachdem Oralität lange Zeit auf negative Weise gedacht und oft mit Analphabetismus gleichgesetzt wurde,20 kommt es mit der sich abzeichnenden Dominanz der »sekundären Oralität«21 von Video, Fernsehen, Rundfunk, Tonband und Telefon in der abendländischen Schriftkultur auch zu einer Neubewertung der Mündlichkeit.22 In vielerlei Hinsicht ist die Rede reicher als die Schrift: sowohl was bestimmte Ausdrucksmittel angeht, die der geschriebenen Sprache fehlen, wie Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe, Änderung der Sprech16 Viktor Šklovskij, Sentimentale Reise (1923), Frankfurt a. M. 1964, S. 339; hier aber zit. n. Viktor Erlich, Russischer Formalismus, a. a. O., S. 90. Ähnlich nannte Majakovskij die ersten Jahre nach der Revolution die »mündliche Periode der sowjetischen Literatur«; ebd., S. 341. 17 So Werner Höhne, ehemaliger Leiter der Nachrichtenabteilung des WDR; zit. n. Bernd Wintermann, »Die Nachrichtenmeldung als Text. Linguistische Untersuchungen an Rundfunknachrichten«, Diss. Göttingen 1972, S. 9. 18 Dies scheint auch der Grund, warum ein Großteil der geschriebenen Sprache sich beim Sprechen im Mund sträubt. 19 »I mezzi di comunicazione elettronici stanno creando la possibilità di valorizzare maggiormente le parole e la cultura orale.« Radio Alice, »Per una teoria dell’uso liberato del mezzo radiofonico«, in: Paolo Hutter, Piccole antenne crescono, a. a. O., S. 57. 20 Interessant ist, daß ein negatives Urteil über die geschriebene Sprache im Vergleich zur gesprochenen nie fällt; vgl. Gunther Kress, »The Social Values of Speech and Writing«, in: Roger Fowler / Bob Hodge / Gunther Kress / Tony Trew (Hrsg.), Language and Control, London 1979, S. 51. 21 Vgl. zu diesem Begriff Walter J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the World, London/New York 1982, S. 11; ›mediatisierte Oralität‹ nennt sie Paul Zumthor, Introduction à la poésie orale, Paris 1983, S. 36. 22 Vgl. die Studien über Oralität und Literalität aus dem Umkreis der ›Ethnografie der Kommunikation‹, v. a. Jack Goody / Ian Watt, »Konsequenzen der Literalität«, in: Jack Goody (Hrsg.), Literalität in traditionellen Gesellschaften, Frankfurt a M.1981. S. 45–104; die beiden Sammelbände: Deborah Tannen (Hrsg.), Spoken and Written Language. Exploring Orality and Literacy, Norwood, N. J., 1982, (von einer »neuen schriftlosen Epoche« spricht Robin Tolmach Lakoff, »Some of my Favorite Writers are Literate: The Mingling of Oral and Literate Strategies in Written Communication«, ebd., S. 239–260); und Deborah Tannen (Hrsg.), Coherence in Spoken and Written Discourse, Norwood, N. J., 1984; sowie Aleida und Jan Assman / Christof Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I, München 1983.

und in das rote Quadrat über der Szenerie ist, gleichsam als Markenzeichen, der Titel von Majakovskijs letztem Gedicht eingefügt: APIENAVOCE, ›Aus vollem Hals‹

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geschwindigkeit, Pausen etc., als auch in bezug auf die Komplexität der sprachlichen Strukturen.23 Die Rede unterliegt einer geringeren Normierung als die Schrift, sie ist näher am Denken,24 wegen des weitgehenden Fehlens vorheriger Planung25 spontaner, und sie entwickelt durch die Anwesenheit des Zuhörers eine besondere kommunikative Dynamik. Die Betonung der Mündlichkeit bei Radio Alice entspricht dem Konzept eines offenen Mediums: »Die Überwindung der formalisierten Techniken, mit denen die Normativität der Schriftkultur den Zugang zur Rede versperrte, schafft die Möglichkeit einer breiteren und offeneren sozialen Kommunikation.«26

Vor allem aber bezeichnet die Abwendung von der Schrift – gerade weil die interaktive Dimension der Oralität von den Medien weitgehend eliminiert wurde – die Suche nach direkter Kommunikation: Und die ist eben immer noch Sache der Rede, des gesprochenen Wortes, des Mundes. Nun ist jedoch der Rundfunk auf mehrerlei Weise aus der unmittelbaren Kommunikationssituation herausgetreten. Einmal als technisches Medium überhaupt und durch seine Konstituierung als Einwegkanal im besonderen. Weiters durch seine professionelle Rahmung. Schließlich ist es – obwohl gerade der Rundfunk erlaubt, die menschliche Stimme anstelle der Buchstaben zu benutzen, um den Gedanken sprachliches Leben zu verleihen – in den Anstalten schon sehr bald üblich geworden, daß beinahe alles vorher zu Papier gebracht und dann verlesen wird. Sodaß die Rede, die doch die vitale Seite der Sprache darstellt, insofern sie nie bei den bereits erworbenen und gängigen Ausdrucksmöglichkeiten verharrt, nun schriftsprachlichen Gestaltungsprinzipien unterliegt: In der Regel reduziert sich der sprachliche Ausdruck im Augenblick des Sprechens auf einfaches Vorlesen oder auf Rezitation.27 Aus einem Entstehungsprozeß, den Rudolf Arnheim »Mikrofonschaffen«28 genannt hat, wird ein bloßer Übermittlungsvorgang. Das bleibt nicht ohne Folgen für den Kontakt zum Publikum. Der nämlich schwindet in dem Maße, wie der Sprecher die Her-

23 Die erzähltechnischen Gemeinsamkeiten von mündlichen und schriftlichen Erzählungen, etwa den Wechsel des Gesichtspunktes oder die Verwendung von Vieldeutigkeiten, betont Livia Polanyi, »Literary Complexity in Everyday Storytelling«, in: Deborah Tannen (Hrsg.), Spoken and Written Language, a. a. O., S. 155–170. 24 »Das Denken geschieht im Mund«, Tristan Tzara, zit. n. Maurice Nadeau, Die Geschichte des Surrealismus, a. a. O., S. 26; vgl. auch Heinrich von Kleist, »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 1977, S. 319 ff. 25 Vgl. Domenico Parisi / Cristiano Castelfranchi, »Scritto e parlato«, in: Studi di Grammatica Italiana, Nr. 6, 1977, S. 169–190; und Elinor O. Keenan, »Why Look at Unplanned and Planned Discourse?«, in: Elinor Keenan / Tina Bennett, Discourse across Time and Space, Los Angeles 1977, S. 1–41. 26 »II superamento delle tecniche formalizzate con le quali la normatività della cultura scritta impediva l’accesso al discorso crea la possibilità di una comunicazione più estesa e accessibile.« Radio Alice »Per una teoria dell’uso liberato del mezzo radiofonico«, a. a. O., S. 57. 27 Vgl. Giovanni Nencioni, »Parlato-parlato, parlato-scritto, parlato-recitato«, in: Strumenti critici, Nr. 29, Feb. 1976, S. 1–56. 28 Rudolf Arnheim, Rundfunk als Hörkunst, a. a. O., S. 125: »spricht ein Mensch zu anderen, so ist das Natürliche nicht, daß er einen schon fertig formulierten Text vom Papier oder auswendig vorträgt, sondern daß er etwas, was ihm eben einfällt oder was er eben erlebt, mitteilt oder daß er doch im Augenblick der Mitteilung in Worte kleidet, was aus seinem Gedächtnis an Wissen, Gedanken und früheren Erkenntnissen aufsteigt.«

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ausforderung des Mikrofonschaffens umgeht,29 und sein Vortrag jene Lebendigkeit einbüßt, die einst den Erzähler und seine Zuhörer gleichermaßen fesselte.30 Allerdings hat der Rundfunk gegen den drohenden Verlust von Publikum, von welchem er doch abhängig ist, je schon Gegenmaßnahmen ergriffen. Sie betreffen in erster Linie die Stimme, die Diktion, die Sprechweise, also die formale Seite der Sache. Goffman31 weist darauf hin, daß der Rundfunksprecher die Aufgabe hat, den Eindruck spontaner, freier Rede zu erwecken: Zunächst soll er sich den Anschein geben, als glaube er persönlich an das, was er zu sagen hat; die Art, wie Werbespots gesprochen werden, liefert dafür das offenkundigste, wenn auch extremste Beispiel.32 Zweitens wird versucht, die Tatsache, daß es sich um Vorlesen handelt, auf irgendeine Weise herunterzuspielen, sodaß der Hörer leicht in den Glauben verfällt, es handle sich um freie Rede;33 indem zum Beispiel diese vorgetäuschte ›freie‹ Rede von Texteinschüben unterbrochen wird, die der Sprecher als Zitate, eben Vorgelesenes kenntlich zu machen sich bemüht; oder noch einfacher durch Sprecherwechsel bei diesen ›dann gelesenen‹ Texten; und niemand wird erfahren, ob dieser entzückende Versprecher einstudiert war oder doch bloß ein Lapsus. Es sind also zwei Techniken, mit deren Hilfe der Rundfunksprecher das Gefühl von Spontaneität hervorruft: die Projektion offenbar persönlicher Überzeugung in das Gesagte und die Simulation freier Rede.34 Dazu kommt als dritte das Streben nach Fehlerlosigkeit,35 29 Als »unsportlich« bezeichnete Dieter Hildebrandt die gängige TV-Praxis, selbst in Live-Sendungen den Text von einem elektronischen Schriftband abzulesen; »Warum sind Sie besser als die Regierung, Herr Hildebrandt?«, Interview v. Michael Freitag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Magazin Heft 282, 26. Juli 1985, S. 26 f. 30 Vgl. Paul Zumthor, »Die orale Dichtung. Raum, Zeit, Periodisierungsprobleme«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer, Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a. M. 1985, S. 359–375; und ähnlich Jean-Pierre Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, Frankfurt a. M. 1987, S. 189 ff. 31 Erving Goffman, Forms of Talk, a. a. O., S. 237 ff. 32 Goffman weist auch auf ein spezielles Problem hin, das entsteht, wenn derselbe Sprecher die Nachrichten liest und die Werbesendung, die ihnen vorausgeht oder folgt; da der Tatsachencharakter der Nachrichten auf die Werbung übergehen und ihr größere Glaubwürdigkeit verleihen kann, wird diese Interferenz in vielen Anstalten ausgeschlossen. 33 In gewisser Weise wird versucht, mit der medialen Formierung der Sprache auch das Medium selbst verschwinden zu lassen. Das erinnert an die Schuß-Gegenschuß-Technik im Film, welche ja die Präsenz der Kamera vergessen lassen soll; vgl. P. Adams Sitney, Shot and Countershot. Four Lectures on Representation in Cinema, Österreichisches Filmmuseum Wien, Jänner 1985. 34 Vgl. Werner Winter, »Echte und simulierte gesprochene Sprache«, in: Hugo Moser u. a. (Hrsg.), Gesprochene Sprache, Düsseldorf 1974, S. 129–143. Ein ähnliches Problem behandelt Paul Goetsch, »Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen«, in: Poetica, Bd. 17, Heft 3–4/1985, S. 202–218. 35 Der hier zitierte Aufsatz Goffmans »Radio Talk. A Study of the Ways of our Errors«, in: Forms of Talk, a. a. O., S. 197–327, ist in der Hauptsache eine mikroskopische Studie über ›speech faults‹ von Radiosprechern und deren Korrektur. Goffman unterscheidet vier Arten von Fehlern: – ›influences‹, Einwirkungen und Hindernisse, die den Fluß der Sprache stören, wie Stottern, Pausen etc.; – ›slips‹, Ausrutscher bzw. Fehlleistungen, die eigentlichen Verstöße gegen die Sprachregeln, soweit sie einer Achtlosigkeit und nicht einer Inkompetenz entspringen; – ›boners‹, Schnitzer, unkorrekte Verwendung von Wörtern u. a., was natürlich zu einer Diskreditierung des Sprechers führt; und schließlich – ›gaffes‹, Dummheiten, also unbeabsichtigte oder unachtsame Verletzungen der Sitten oder irgendwelcher Normen des guten Benehmens: Indiskretionen, Taktlosigkeiten, Aufdringlichkeiten.

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welche den Eindruck fließender freier Rede vertieft, zumal Fehler meist Lesefehler sind und daher die ganze Illusion zerstören könnten. Solche Disziplinierung des Sprechers kennt Radio Alice nicht. Gegen eine in Rundfunk und Fernsehen durchgesetzte Sprachbehandlung, die nicht weniger verlangt als ein dauerndes Übersetzen von Papier in Rede, gegen die perfekt artikulierte Botschaft des Ansagers ergreifen hier Stimmen das Wort, ohne sich je zu entschuldigen. Sie benötigen das von Sprachpflegern und Stimmhygienikern36 bereitgestellte Inventar jenes sauberen Sprechens nicht, arbeiten vielmehr an seiner Demontage: häufige Pausen, Laute, die die Rede verzögern,37 Versprecher, Wiederholungen, Brüche der syntaktischen Struktur und des logischen Zusammenhangs, zerrissene Rhythmen – unweigerlich betreibt das gesprochene Wort der Alltagssprache eine fortwährende Zersetzung seiner hoch- bzw. schriftsprachlichen Formalisierung. Sicher ist die Sprache von Radio Alice schmutzig zuallererst, weil sie Umgangssprache ist. Eine unbekümmerte, zwanglose Sprache. Die Stimmen, die hier das Wort ergreifen, sprechen »ohne Manuskript und ohne Syntax«38, sie sprechen von anderen Dingen und auf andere Weise. Das Benehmen der Stimmen im Verhältnis zur Sprache ist davon geprägt, daß sie über ein hohes improvisatorisches Vermögen verfügen und ganz von dem ihnen eigenen Dialogcharakter bestimmt sind. Wie jede verbale Kommunikation »weit davon entfernt, auf die Welt der Buchstaben begrenzt zu sein«39, mangelt es diesen Stimmen in ihrer Vielstimmigkeit, ja Vielsprachigkeit, in ihren dialektalen Verschiedenheiten40 und 36 Zur Frage, in welchem Maße die Medien zu Normgebern geworden sind, vgl. Harald Weinrich, »Sprachliche Normen in Presse, Hörfunk und Fernsehen«, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1979, Heidelberg 1980, Heft 2, S. 9–14. Über die Entwicklung der italienischen Rundfunksprache von der Gründung der RAI, Gaddas »Note per la redazione di un testo radiofonico« (1965) bis zum Entstehen der ›freien‹ Radios informiert Donato Goffredo, »La radio«, in: Donato Goffredo / Ernesto G. Lauro / Vitalino Rovigatti / Antonio Thiery / Matteo Ajassa, Comunicazione e partecipazione, Rom 1979, S. 119 ff. Anzumerken bleibt, daß der offizielle Rundfunk gezwungen war, nicht nur Stil und Themen seiner Programme, sondern auch seine Sprache zu ändern, um mit den freien Radios Schritt halten zu können: An die Stelle der Aufrechterhaltung des Monopols traten Rekuperationsversuche. 37 Obwohl die Füll-, Überbrückungs- und Pausenpartikel in der freien Rede eine wichtige Rolle spielen, gelten sie der normativen Sprachpflege als Manifestationen »geistiger Pleiten und Konkurse«. Sie werden in den Schneideräumen erbarmungslos ausgemerzt. Vgl. Sabine Kowal, »Zur Funktion von Füllauten in spontaner Textproduktion«, in: Ernest W. B. Hess-Lüttich (Hrsg.), Textproduktion und Textrezeption, Tübingen 1983, S. 63–71; und Emanuel A. Schegloff, »Discourse as an Interactional Achievement: Some Uses of ›Uh Huh‹ and Other Things that Come Between Sentences«, in: Deborah Tannen (Hrsg.), Analyzing Discourse: Text and Talk, Washington, D. C.,1982, S. 72–93. 38 »Er sprach, offensichtlich mit einem Zigarettenstummel in der Hand, ohne Manuskript und ohne Syntax. Niemals erweckte er, wie die üblichen Manuskriptableser, den erschreckenden Eindruck, als stände er unter dem Diktat einer rätselhaft flüssig vom Himmel rinnenden Intuition.« Rudolf Arnheim, Rundfunk als Hörkunst, a. a. O., S. 48. 39 Roman Jakobson, »Verbal Communication«, in: Scientific American, Nr. 227/3,1972, S. 80. 40 Der staatliche Rundfunk kannte, wie in anderen Ländern auch, nur eine Sprechweise, eine Standardsprache, die aus einer Mischung von Römisch und Toskanisch bestand (Florentinisch ist die traditionelle Basis der italienischen Hochsprache; die römische Färbung ist aus einer Reihe von Gründen in ganz Italien wohlrezipiert: Sowohl das Prestige der Hauptstadt als auch die große Nähe dieser Varietät zur Umgangssprache spielen da eine Rolle und natürlich die Tatsache, daß die RAI ihren Sitz in Rom hat). Eine solche Standardsprache gilt zwar als optimal verständlich, und sie gewährt dem Sprecher einen quasi objektiven Status, aber die Beherr-

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individuellen Besonderheiten an jeglicher Uniformität. Auch sind sie voll von Widersprüchen: Worte, die sich widerrufen, Sätze, die sich zurücknehmen, Aussagen, die sich selbst widerlegen. Und sie begnügen sich nicht mit der darstellenden, repräsentativen Funktion der Sprache. Anstelle der programmierten Mitteilungen des Radiosprechers artikuliert sich ein Treiben, das sich nur schwer fassen läßt und sogleich wieder verloren geht: »Im ersten Fall gibt es nur eine Sprache: die des Ansagers, der verkündet, daß das Geschehen geschehen ist. Man spricht über etwas, das etwas anderes bedeutet und sowieso nie zu fassen ist, weil es bereits vergangen ist. Ein Spiegel In diesem Sinne sind die Nachahmungsversuche auf pathetische Weise lächerlich: Dialekte und Akzente werden nicht toleriert. Im zweiten Fall gibt es etwas, das der Sprache ständig entgleitet. Es äußert sich im Gelächter, in der Unterbrechung, im Wort, das sich nicht findet und das sich weigert, durch ein anderes ersetzt zu werden, im Stottern, im Schweigen.«41

Mit jedem seiner Wörter richtet sich das Sprechen auf einen der Inhalte, die schon vor ihm da sind. Aber es gibt darin auch etwas, das nicht auf dem Sinn aufgebaut ist, das NichtGesagte der Rede,42 das sich dennoch ausdrücken will. Die gesprochene Sprache begünstigt ein Abdriften vom Sinn ihrer Worte, oder doch zumindest von seiner Reduzierung auf Eindeutigkeit. Im Akt der Rede nämlich vermögen zwei Pole auseinanderzufallen: die Realisierung des Sinns und die Realisierung der kommunikativen Dimension. Wenn etwa eine Geschichte erzählt wird, die bekannt ist, dann muß offensichtlich die Erzählweise der Geschichte wichtiger sein als die Geschichte selbst; die Inhalte treten hinter die Redeweise zurück, die Sprecher werden wichtiger als das, was sie sprechen: »Es gibt Sprecher, denen schung dieses Spezialstils ist auch Voraussetzung für den Zugang zu den Medien; und, »for instance, one might almost describe standard languages as pathological in their lack of diversity« (R. A. Hudson, Sociolinguistics, Cambridge 1980, S. 34.). Nun wird gewöhnlich der Dialekt als minderwertige, niedere Sprache angesehen, sein Gebrauch in den Medien ist verpönt. Den freien Radios aber verschafft gerade der selbstverständliche Dialektgebrauch erhöhte Aufmerksamkeit. Die Dialekte verstärken den lokalen Charakter der Stationen, sie intensivieren die kommunikative Beziehung zu den Hörern und ermutigen sie zum Dialog. Überhaupt gehört das plötzliche Auftauchen von Dialekten im Rundfunk zu einem der bemerkenswertesten Phänomene der freien Radios. Zumal in einer Situation, in der die italienischen Dialekte immer mehr aus dem Alltagsleben zurückgedrängt werden: Umfragen aus den Jahren 1974 und 1977 ergaben, daß die Mehrheit der Italiener in den eigenen vier Wänden noch Dialekt sprach; 1982 kehrte sich dieses Verhältnis um; vgl. Alfredo Todisco, Ma che lingua parliamo. Indagine sull’italiano d’oggi, Mailand 1984, S. 19 f.; auch Gaetano Berruto, »Zur Italienisierung der Mundarten in Italien im zwanzigsten Jahrhundert«, in: Italienische Studien, 7, 1984, S.127–139; und Nora Galli de’Paratesi, Standardisation Trend and Linguistic Opinions in Contemporary Italian in the Great Urban Centres. A Sociolinguistic Enquiry, Cosenza 1979; schließlich die schöne Studie von Luigi Malerba, Le parole abbandonate. Un repertorio dialettale emiliano, Mailand 1977. 41 »Nel primo caso il linguaggio è uno: quello dell’annunciatore, dell’annunciante che l’evento è avvenuto. Si parla di una cosa che significa una altra cosa e ehe comunque non si può mai prendere perché è passata. / Uno specchio / In questo senso i tentativi di imitazione sono pateticamente ridicoli: i dialetti e le inflessioni non sono tollerati. Nel secondo caso qualcosa al linguaggio continua a sfuggire. Si manifesta con la risata, la sospensione, la parola che non si trova e si rifiuta di farsi sostituire, il balbettio, il silenzio.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 37 f. (49). 42 Wie jeder Sprecher weiß, daß er nie das sagt, was er im Kopf hat, dürfte man sich auch nicht mit einer Sprachwissenschaft begnügen, die nur die geäußerten Aussagen untersucht.

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man sogar bei den Wettermeldungen zuhört.«43 Im Vordergrund steht nicht die Botschaft, sondern die Kommunikativität der Sprache. »Es gibt nicht nur eine Botschaft, es sind die tausend verschiedenen Wörter, die tausend verschiedenen Verhaltensweisen, die sie vervollständigen. Die Sprache rebelliert:«44

III. Die schmutzige Sprache von Radio Alice verdankt dieses Epitheton nicht allein ihrer Entfernung von der Schrift, aus welcher sie sich der Hochsprache widersetzt, noch der einfachen Tatsache, daß dem professionellen Sprecher weniger genormte, zufällige Stimmen vorgezogen werden: »sie ist schmutzig, weil sie vor allem Erlebtes in sich birgt, das nicht auf formalisierte Kategorien, auf allgemein verständliche linguistische Codes reduziert werden kann.«45

Dieses ›Erlebte‹ kann nur außerhalb der reglementierten Rundfunksprache zu Wort kommen. Aber es macht auch den Bezug zum System der Sprache überhaupt lose und oppositionell. Wenn mit der Stimme der Ausgeschlossenen auch »das Nicht-Gesagte sich zu sagen beginnt«46, gerät die stabile Beziehung zwischen Code und Botschaft, auf der sich gewissermaßen der soziale Zusammenhalt gründet, ins Schlingern. Die auf Kommunikation gerichtete Ungeordnetheit des Redeflusses und der Erfindungsreichtum lebendiger Sprachäußerung überschreiten die Grenzen der etablierten Sprache. Vier Sprachverbote werden dabei übertreten.47 1. Einmal all jene Gesetze, die an der Grenze des Verbotenen und des Unmöglichen den Code garantieren: Ein ganz unscheinbarer Ausschluß trifft die sogenannten Sprachfehler, die die Wortform oder die Grammatik verletzen, weiters die syntaktischen Anomalien, aber auch Fehler in der Aussprache und im Wortgebrauch. Gewiß sind diese sporadischen Regelverletzungen eine natürliche Eigenschaft der Alltagssprache.48 Und doch gewinnen sie im Rundfunk, weil sie stets weitere nach sich ziehen,49 eine besondere Qualität – zumal bei Radio Alice, wo keine Instanz mehr über die Reinheit der Sprache wacht. Sie untergraben die normgebende Funktion des Mediums und können als unmittelbarster Ausdruck eines 43 Walter Benjamin, »Reflexionen zum Rundfunk«, a. a. O., S. 1506. 44 »Il messaggio non è uno, sono le mille parole diverse, i mille comportamenti diversi che lo completano. / Il linguaggio si ribella:« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 95 (108). 45 »è sporco perché contiene dentro di sé molta parte di quel vissuto che non può essere ridotto entro categorie formalizzate, entro codici linguistici universalmente comprensibili.« Ebd., S. 106 (119). 46 Maria-Antonietta Macciocchi, »Radio-Alice ou l’›Inform-Action‹«, in: Le Monde, 3./4. Juli 1977, S. 11. 47 Vgl. im folgenden Michel Foucault, »Der Wahnsinn, das abwesende Werk«, in: ders., Schriften zur Literatur, München 1974, S. 119–129. 48 Vgl. Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum (1901), Frankfurt a. M. 1972, S. 52–94. 49 »The occurrence of one imperfection increases the chance of another and that in turn increases the chance of consequent ones.« Erving Goffman, Radio Talk. A Study of the Ways of our Errors, a. a. O., S. 204.

sprachfehler, tabu

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Sprechens angesehen werden, dem keinerlei äußere Einschränkungen mehr auferlegt sind: das redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. 2. Ebenso wie nun tabuisierte Themen zur Sprache kommen, werden auch die Sprachtabus durchbrochen. Das Tabu50 formiert sich innerhalb des existierenden Codes, es belegt vorhandene Wörter und Ausdrücke mit dem Verbot, sie auszusprechen:51 die Flüche, Blasphemien und Obszönitäten, also all die lästerlichen, unanständigen Wörter, die doch sehr weit verbreitet sind. Meist spiegelt die sprachliche Norm eine gesellschaftliche wider; die ›unaussprechlichen‹ Wörter haben verschiedene Tabu-Grade,52 eine unterschiedliche Anstößigkeit in verschiedenen Umgebungen. Die Wort-Tabuierung, die in der italienischen Gesellschaft nach ’68 weitgehend aufgehoben oder zumindest stark zurückgedrängt wurde,53 blieb aber in der Hochsprache und daher für die Medien weiter bestehen. Durch die ›freien‹ Radios änderte sich das. Nun konnte man auch im Rundfunk jene verbotenen, schmutzigen Wörter hören, die zum charakteristischen Bestandteil des ›linguaggio popolare‹54 gehören, jenen Schwall von Schimpfwörtern und Exklamationen, wie das durch eine Art Hypergebrauch längst enttabuisierte cazzo!55 oder das in der Emilia häufige sočmel56. Der Gebrauch vulgärer Termini bei Radio Alice entsprang sicherlich dem Wunsch, sich bestimmten sprachlichen Konventionen zu widersetzen und vor allem mit den Normen der Mediensprache zu brechen, ging aber kaum über den weiten Rahmen der Alltagssprache hinaus. Eher gab es da eine andere, weniger offensichtliche Mißachtung gewisser Tabus: »Es gibt verbotene Wörter, die ganz geläufig scheinen, alltäglich, wie Straße, Frau, gehen, Arsch, Himmel, Körper – und die eine mögliche Spannung in sich haben, die verdeckt wird durch die Reduzierung der Straße zum Objekt, der Frau zum Objekt (. . .)«57

Weil diese einfachen Wörter ohne jede Begeisterung ausgesprochen und wiederholt werden, als wenn sie natürlich wären, als wenn sie jedesmal angemessen wären, ist aus ihnen, 50 Die ursprüngliche Bedeutung dieses polynesischen Wortes, das Captain Cook zum ersten Mal 1771 auf Tonga hörte und dann nach Europa brachte, ist ›getrennt‹, ›fern gehalten‹. 51 Grundlegend dazu Nora Galli de’Paratesi, Semantica dell’eufemismo. L’eufemismo e la repressione verbale con esempi tratti dall’italiano contemporaneo, Turin 1964. 52 Ernst Leisi, Das heutige Englisch, Heidelberg 1985, S. 127, verweist auf Michael Swans System von 1 bis 5 ›Baedekersternen‹ für den Grad der Derbheit von Taboo Words. Einer ähnlichen Abstufung bedienten sich übrigens die bologneser Jugendlichen beim Gebrauch des Euphemismus ›storia‹ (sexuelle ›Geschichten‹): die Skala reichte von ›storia di 1° grado‹ (Annäherung) bis ›storia di 5° grado‹; vgl. Gian Ruggero Manzoni / Emilio Dalmonte, Pesta duro e vai trànquilo. Dizionario del linguaggio giovanile, Mailand 1980, S. 153. Diese Sammlung von mehr als 700 Ausdrücken gibt ein ganz brauchbares Bild von der Sprache der italienischen und besonders der bologneser Jugendlichen Ende der 70er Jahre. 53 Vgl. Nora Galli de’Paratesi, »Gli improperi nella società italiana e in quella britannica. Niente sesso: solo parolacce inglesi« in: Tuttolibri, Jg. 6, Nr. 9, 8. März 1980, S. 13. 54 Vgl. Ernst Radtke, Typologie des sexuell-erotischen Wortschatzes des heutigen Italienisch, Tübingen 1980. 55 Dennoch war der Skandal groß, als in der RAI eines Morgens das männliche Geschlechtsorgan zum ersten Mal beim Namen genannt wurde; vgl. Ugo Volli, »Mode modi modelli«, in: Ernesto Galli della Loggia (Hrsg.), Il trionfo del privato, Rom/Bari 1980, S. 150. 56 Anspielung auf Fellatio; vgl. Nora Galli de’Paratesi, Semantica dell’eufemismo, a. a. O., S. 48. 57 »ci sono parole vietate, che sembrano comunissime, di tutti i giorni, come strada, donna, camminare, culo, cielo, corpo – e che hanno una tensione possibile che viene occultata col ridurre la strada a oggetto, la donna a oggetto (. . .)«, Franco Berardi ›Bifo‹, Chi ha ucciso Majakovskij?, a. a. O., S. 40.

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so Roland Barthes, jede magische oder poetische Aktivität verschwunden. Die Aufdeckung ihrer »verborgenen, aber möglichen Spannung« heißt denn nichts anders als »die hinter dem Stereotypen verdrängte Wollust historisch wieder ausbrechen zu lassen.«58 3. Steuert das Tabu die erotisch-politischen Besetzungen von Signifikanten, so arbeitet die Zensur auf der Ebene der Signifikate. Sie spricht der Kombination akzeptierter Signifikanten einen unerlaubten Sinn zu; es sind dies all die Äußerungen, die vom Code zugelassen und im Redeakt erlaubt wären, deren Bedeutung aber für eine bestimmte Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt unerträglich ist: die verbotenen Bedeutungen im Sprechen der ›Freigeister‹.59

Mit diesem Text60 antwortet A/traverso auf die Hausdurchsuchung bei einem der Redakteure von Radio Alice, in der die künftigen Ereignisse schon ihren Schatten vorauswerfen. Schließlich stellte die Zerstörung der Sendeanlagen von Radio Alice durch die Polizei im März 1977 nichts weiter als einen, wenn auch maßlosen61 Akt der Zensur dar. Das Radio58 Roland Barthes, Die Lust am Text, a. a. O., S. 62. 59 Zur Geschichte des Begriffs ›Zensur‹ vgl. Émile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Bd. 2, Kap. 6 »le censor et l’auctoritas«, Paris 1969, S. 143–151. 60 »ein Gedicht geschrieben in Alexandrinern / ein Zettel beschrieben mit Leuchtschrift in vierzehn Farben / ein Tampax eigenartig verpackt / ein Tonband mit Liedern von Vivaldi (ein bekannter Liedermacher, hat der Polizist gesagt) / eine Schachtel voll mit Visitenkarten / eine Tube Locorten Vioformio / ein Durchschlagpapier nur zweimal gebraucht / ein Foto als er beim Militär war / ein Foto von ihr, fast nackt, das aber dem anderen ähnelt / ein Spiel sehr schwer zu verstehen für einen, der so selten spielt. / das Unverständliche durchstöbern / die Wohnungen der Genossen mit ihren Kindern / mit ihren Büchern von Marx und Rimbaud / von all dem versteht ihr nichts / sicher können wir uns einigen / über die Tatsache, daß konspirieren gemeinsam atmen bedeutet.«, »Giù le mani da Radio Alice«, in: A/traverso, Dez. 1976, S. 8. 61 »Niemand würde daran denken, die Druckerei und die Redaktion einer Zeitung zu zerstören. In einem solchen Fall würde die öffentliche Meinung von Faschismus, von Staatsstreich sprechen (oder sie würde überhaupt nicht mehr sprechen).« Umberto Eco / Paolo Fabbri / Mauro Wolf / Pietro Favari, »Appunti di studio per una ricerca sulle radio indipendenti in una situazione di tensione«, a. a. O., S. 103.

zensur, codewechsel

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kollektiv ist sich freilich bewußt, daß ein Projekt, das »als einzige Zensur die ästhetische zuläßt«62, immer äußerst bedroht ist – insbesondere wenn es sich um ein Massenmedium handelt: »Nicht etwa wegen der Inhalte, die du sendest, wegen der Schlagwörter, die du sagst, wegen der Leute, die du interviewst: auch deswegen, aber vor allem, weil über diesen Kanal das Begehren spricht, und das ist eine unhörbare Stimme.«63

4. Das verweist auf eine vierte, wesentliche Form der Überschreitung. Sie besteht darin, den Code selbst in ein Spiel zu verwickeln, das er nicht oder nur unter bestimmten Vorzeichen vorsieht. Gilt, daß der Code der Botschaft vorausgeht, von ihr unabhängig ist und ebenso vom Sender, so läuft eine Botschaft zu senden darauf hinaus, die Grenzen des Codes zu akzeptieren.64 Die Botschaft ist dann nicht der Ausdruck einer Erfahrung, sondern drückt eher die Möglichkeiten und Grenzen des Codes hinsichtlich der Erfahrung aus. Von daher die Frage, wie man etwas Unvorhergesehenes ausdrücken soll, etwas, das die Möglichkeiten des Codes überschreitet. Jacques Lacan hat die Heterogenität von Sprache und Erfahrung hervorgehoben: Die Notwendigkeit des Menschen, seine Bedürfnisse – in der Muttersprache – auszudrücken, unterwirft ihn, ›subjektiviert‹ ihn dem Signifikanten;65 die Unterwerfung aber ruft einen abweichenden Effekt hervor, das Begehren: Der Mensch begehrt, weil er der ›Monarchie des Signifikanten‹ unterworfen ist, weil der Sinn seiner Rede nicht der ganze Sinn seiner Erfahrung ist. Das Begehren ist jener unreduzierbare Rest, dem die sprachliche Konvention seinen Sinn nicht zu sagen erlaubt. Das Subjekt hat nur eine Möglichkeit, dies zu verstehen zu geben, nämlich indem es eine Botschaft ohne vertrauten, akkreditierten Sinn produziert, eine Botschaft, die im Code nicht vorgesehen ist. Hierin gründet die Nähe zwischen Poesie und Wahnsinn. Sagen die Wörter etwas anderes, als sie im Sprachschatz bedeuten, so hören sie auf, sich in der gegebenen Sprache anzusiedeln: die Wörter ohne Bedeutung, die die ›Unsinnigen‹, die ›Blöden‹ gegen den Sprachcode sprechen; oder jene Sprache, deren Wörter zwar dem gemeinsamen Code unterstehen, aber zugleich einen anderen Code nennen, in dem sie nur sagen, daß sie sagen: Literatur, poetische Sprache, Experiment. An diese Vorstellung knüpft die aus vielen und ganz unterschiedlichen Quellen gespeiste Poetik des Kollektivs A/traverso an. Inspiriert von der großen Metapher der ›Wunschmaschinen‹ des Anti-Ödipus66 wird die Lösung des Widerspruchs zwischen Code und Begeh62 »l’unica censura amessa è estetica«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 84 (97). 63 »Non per i contenuti che trasmetti, per gli slogan che dici, per la gente che intervisti: anche per questo ma soprattutto perché attraverso questo canale il desiderio parla, ed è una voce inascoltabile.« Ebd., S. 108 (121). 64 Dies und das folgende nach Vincent Descombes, Das Selbst und das Andere, Frankfurt a. M. 1981, S. 111 ff. 65 Wie man in einer absoluten Monarchie ›Subjekt des Königs‹ ist; vgl. Jacques Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften II, Olten/Freiburg 1975, S. 165–204; (statt Sender/Code spricht Lacan vom Subjekt/Signifikant). 66 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, a. a. O.; das Unbewußte wird hier nicht mehr als Gefüge im Sinn der klassischen psychoanalytischen Theorie verstanden, sondern als fortwährende Produktion von Destruktionen der einen Ordnung und des einen Gesetzes, auf die das Begehren ständig reduziert wird.

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ren einseitig letzterem zugeschlagen und auf die Formel »Il desiderio si dà una voce«67 gebracht. Das Begehren verleiht sich eine Stimme – Radio Alice ist »un microfono per il desiderio rimosso«68. Der Gegensatz freilich bleibt akut, da der Code, der die Rolle eines Gesetzes spielt, sich auf der Verdrängung des Begehrens aufbaut. Beginnt nun dieses Verdrängte, NichtGesagte sich zu artikulieren, droht dem Code Gefahr. Es besteht die Gefahr, oder vielmehr die Möglichkeit, daß der Code, »dieser kleinste gemeinsame Nenner der Verständlichkeit«69, von für ihn unverständlichen Zeichen unterlaufen wird, daß sein Regelkanon umgestoßen, sein universeller Geltungsbereich in Frage gestellt wird – daß das symbolische Band der Gesellschaft angegriffen wird.70 Eben das soll geschehen. »Die Presse greift uns als pornografisches, als obszönes Radio an. Diese gegen uns erhobene Anklage (der Obszönität) verblüfft uns ein wenig. Wir erwarteten alle möglichen Vorwürfe: Piraten, Aufwiegler, Kommunisten, Subversive, aber gerade mit diesem hatten wir wirklich nicht gerechnet. Und dennoch ist er natürlich, ist er richtig. Die Sprache, insofern sie sich von den Verdrängungen befreit, die sie auf den Code reduzieren, und das Begehren, das den Körper sprechen läßt, ist obszön (buchstäblich: obszön).«71

Zu dem ersten, großen strategischen Prinzip des Radiokollektivs, nämlich dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurückzugeben, tritt also nun jene zweite, subtilere, man könnte auch sagen unspektakuläre, aber nicht weniger wirksame Strategie der Subversion: die Gesetze des Codes zu durchbrechen, die »Diktatur des Signifikanten«72 zu beseitigen.

IV. War es lange Zeit mehr oder weniger sanktioniertes Vorrecht der Dichtung – oder Kainsmal des Wahnsinnigen, die Gültigkeit des Codes nicht anzuerkennen: die eine im Laboratorium der poetischen Sprache, der andere im Netz der psychiatrischen Institution, so besteht Radio Alice auf der alltäglichen Dimension dieser ›Abweichung‹. Die poetische Sprache wird 67 »Das Begehren verleiht sich eine Stimme«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 111 (124), auch S. 34 (45). 68 »ein Mikrofon für das verdrängte Begehren«, »Che cos’è A/traverso«, in: A/traverso, Juni 1977 (ital.-franz. Ausg.), S. 3. Diese Definition taucht in den Texten von A/traverso immer wieder und in immer neuen Varianten auf; vgl. etwa Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 108 (121). 69 »questo minimo comun denominatore della comprensibilità«, ebd., S. 106 (119). 70 »So hieße denn, wie Mallarmé dachte, an die Sprache, an die Zeichenformen zu rühren die Gemeinschaft umzustürzen.« Vincent Descombes, Das Selbst und das Andere, a. a. O., S. 127. 71 »la stampa ci attacca come radio pornografica, come radio oscena. Quando questa accusa (di oscenità) ci viene rivolta, ne siamo un po’ sconcertati. Pensavamo a molte accuse: pirati, sobillatori, comunisti, sovversivi, ma proprio questa non la avevamo prevista. E invece è naturale, è giusto. Il linguaggio, in quanto si libera delle rimozioni che lo riducono al codice, e fa parlare il desiderio, il corpo, è osceno (letteralmente: osceno).« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 110 (123). 72 Ebd., S. 109 (122). Vgl. auch Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, a. a. O., S. 48; er spricht dort von der »Monarchie«, der »Souveränität des Signifikanten«.

deformationen

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nicht mehr scharf von der gewöhnlichen, ›praktischen‹ unterschieden – vielmehr gilt es die schöpferische und subversive Energie der Sprache im Alltag aufzuspüren. »Da draußen riecht man die Scheiße. All dies Ungesagte kommt hervor. Spricht in den Gesängen des Maldoror von Lautréamont und dann in den Kämpfen um die Verkürzung des Arbeitstages. In der Pariser Kommune und in der Poesie von Rimbaud. Spricht dann in Artaud, dem Surrealismus, spricht im französischen Mai und im italienischen Herbst, spricht quer/durch die getrennten Ordnungen der Sprache, des Verhaltens, der Revolte. Das Begehren spricht mit eigener Stimme. Und für jene ist sie obszön.«74

Natürlich tauchen da die alten Kampfbegriffe der historischen Avantgarde wieder auf, samt den Kategorien, die man zu ihrem Verständnis aufgeboten hatte: die organisierte Gewalttätigkeit gegen die bisher gebräuchliche Sprache, der Bruch mit automatisierten Wahrnehmungsweisen, das Verlassen der eingespielten Realitätsebene.75 Und in einem manchmal direkten, oft aber nur scheinbaren Rückgriff auf die Avantgarde finden auch deren poetische Verfahren erneute Anwendung. Subversion der regulären Codes durch die Poesie. Durch eine Poesie wohlgemerkt, die im Alltäglichen ihren Ausgang nimmt: hat doch die lebendige, gesprochene Sprache immer schon etwas Widerspenstiges an sich. Wie wird nun das Regelspiel der herkömmlichen Sprache zerschlagen, welche Normverstöße sind hier am Werk, was zeichnet die Modelle der Unordnung aus, die von Radio Alice in das System der Sprache eingeführt werden? Zunächst gibt es neben den beiläufigen, ständigen Sprachverletzungen, wie sie sich aus dem Wortfluß vor dem Mikrofon ergeben, ein willkürliches, bewußt auf Veränderung gerichtetes Moment der Sprachbehandlung: eine Suche nach Fehlern, eine Lust76 an Deformationen, ein Innovationsbedürfnis. Das reicht von Akzentverschiebungen, phonetischen Abweichungen, der kaum wahrnehmbaren Vertauschung von Lauten, Silbenumkehr oder der Einsprengung eines Wortes in ein anderes bis zu semantischen Drifts. Einige Beispiele wenigstens? Die besten sind im Augenblick ihres Auftretens wieder verschwunden, die folgenden daher vielleicht zu gesucht: »Oh, oh, com’è vero! Ponzio Pilato si formalizza nell’uomo qualunque, la maggioranza silenziosa, la rumoranza minorosa.« (Oh, oh, wie wahr! Pontius Pilatus nimmt die Gestalt von jedermann an, die schweigende Mehrheit, die mindernde Lärmheit.)77 73 Worauf noch die formalistische Schule besonders beharrte – wohl auch, um die poetische Funktion der Sprache klarer aufzufassen; vgl. Victor Erlich, Russischer Formalismus, a. a. O., S. 48, 71 f. und 201. 74 »Là fuori si annusa l’odore delle merda. / Tutto questo non-detto emerge. Parla nei Canti di Maldoror di Lautréamont, e poi nelle lotte per la riduzione della giornata lavorativa. Nella comune di Parigi e nella poesia di Rimbaud. Poi parla in Artaud, nel surrealismo, parla nel maggio francese e nell’autunno italiano, parla a/traverso gli ordini separati, del linguaggio, del comportamento, della rivolta. / Il desiderio si dà una voce. E per loro è oscena.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 34 (45), auch S. 111 (124). 75 Das von David Burljuk, Alexander Kručonych, Vladimir Majakovskij und Velemir Chlebnikov verfaßte Manifest Ein Schlag ins Gesicht des öffentlichen Geschmacks etwa fordert »einen durch nichts zu beschwichtigenden Haß auf die bisher existierende Sprache«. (Huppert übersetzt ›Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack‹, in: Wladimir Majakowski, Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 556.) 76 »Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, wie sehr sich der große russische Dichter Chlebnikov jeweils über Druckfehler freute.« Roman Jakobson, »Was ist Poesie? Ein Referat«, in: ders., Poesie und Sprachstruktur, Zürich 1970, S. 9. 77 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 56 (68).

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Der durch Kreuzung entstandene Wortbastard attackiert die entstehende Wendung ›maggioranza silenziosa‹, verhöhnt die Rede von der ›schweigenden Mehrheit‹. Im nächsten Beispiel erwächst aus der phonetischen Ähnlichkeit eine semantische Nähe:78 »Pulizia impresentabile alla luce di più recenti presenti avvenimenti, pulizia/polizia nel cervello« (Nichtherzeigbare Sauberkeit angesichts der jüngsten Ereignisse, Sauber-keit/-männer im Hirn).79

Das Wortspiel basiert auf einer scheinbaren Homonymie, die eine Bedeutungsverwandtschaft enthüllt oder vielmehr suggeriert. Es handelt sich bei diesen kleinsten Eingriffen um eine Methode mit dadaistischen Aszendenten, in der sich Norm und Abweichung treffen und in der Waage halten, ohne Spuren in den Sprachgewohnheiten der Allgemeinheit zu hinterlassen. Nicht immer ist ›mit freiem Auge‹ erkennbar, ob die Deformation einen Fehler, eine sprachliche Fehlleistung, einen Lapsus im eigentlichen Sinn des Wortes also darstellt, oder eine beabsichtigte Erfindung. Und manchmal könnte man auch von einer »arrangierten Ermutigung zu Verletzungen«80 sprechen. Deutlicher manifestiert sich der kreative Eingriff in die Sprache am Neologismus. Denn zeichnet sich auch die schmutzige Sprache durch einen hohen Grad an Regelverletzungen aus, so ist es doch über das unmittelbare ›Wortvergnügen‹ hinaus Ziel dieses Sprachverhaltens, die Neuschöpfungen in möglichst weiten Umlauf zu bringen. Das heißt eine über den einzelnen Redeakt hinausreichende Wirkung auf den allgemeinen Sprachgebrauch zu erzielen: Hohes Ansehen bei Radio Alice genoß, wem es gelang, seine eigenen Kreationen oder auch Fehler zu verallgemeinern. Das Bedürfnis nämlich, das den Schöpfer eines Wortes die Grenzen der akzeptierten Sprache übertreten läßt – »das Wörterbuch ist eine Art Grenze der Sprache«81 – und ihn dazu bringt, einen neuen Ausdruck zu prägen, muß mit einem allgemeineren Bedürfnis korrespondieren. Eine individuelle Abweichung von der geltenden lexikalischen Norm wird nur unter der Bedingung in die Sprache eingehen, daß die Zensur der Sprachgemeinschaft sie passieren läßt.82 Wenn sich ein erster Lapsus in der Sprache seines Urhebers zu wiederholen beginnt und von dessen Umgebung aufgegriffen wird, dann und nur dann wird aus einem sporadischen Fehler oder einer Ad-hoc-Prägung eine dauernde Modifikation. Denn dann besteht eine wenn auch unbewußte Nachfrage nach dieser Neuerung – in der sich letztlich eine Unzufriedenheit mit der herkömmlichen Sprache ausdrückt.83 Eben das scheint das Radiokollektiv, einmal abgesehen von der Eitelkeit, mit seiner Begeisterung für Neologismen intuiert zu haben. Dazu kommt, daß der Neologismus laut Roland Barthes »ein erotischer Akt«84 ist. Viele der Neologismen von Radio Alice sind sogenannte ›ungewöhnliche Wörter‹, die entweder dialektaler Herkunft sind, aus sprachlichen Substandard-Schichten und insbe78 »das Wort wird wahrgenommen wie ein Bekannter mit unversehens unbekanntem Gesicht, oder wie ein Unbekannter, in dem man Bekanntes ahnt«, Roman Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, a. a. O., S. 107. 79 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 7 (15). 80 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, a. a. O., S. 91. 81 Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, a. a. O., S. 153. 82 Zum Verhältnis von Lapsus, Neologismus und kollektiver Zensur vgl. Petr Bogatyrev / Roman Jakobson, »Die Folklore als besondere Form des Schaffens«, in: Roman Jakobson, Selected Writings IV, Den Haag 1966, S. 1–15. 83 Vgl. Leo Spitzer, »The Individual Factor in Linguistic Innovation«, in: Cultura Neolatina, Jg. 16/1, 1956, S. 78. 84 »weshalb er unweigerlich die Zensur der Pedanten auf den Plan ruft«, Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, a. a. O., S. 95.

neologismen

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sondere aus dem gergo85 stammen, auch aus der Werbung, aus fremden Sprachen, oder die einfach veraltet und längst schon außer Gebrauch sind. Für jeden dieser Fälle gibt es eine Unzahl von Beispielen.86 Hier nur zwei davon, allerdings zwei besonders markante: càrtola, vielleicht etym. ›chartúla‹ (Kärtchen, kleines Stück Papier), offensichtlich von ›carta‹, ›cartolina‹; Bezeichnung für ein außergewöhnlich schönes Gesicht87 (etwa: »vedi che gran bella càrtola«); auch für ein Mädchen, das durch sein Verhalten ungewollt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt; manchmal für ›unerfahren‹; aber nie abwertend, sondern immer mit einer gewissen Zärtlichkeit und Sympathie. Zut, aus dem Franz. (verflixt! nichts da! ich pfeif drauf!);88 in der Sprache des Radiokollektivs ein offenbar sinnloses Wort89, etwa in dem Nonsense-Spruch »Zut è divenire perfettissimo/perfettissimo è divenire Zut« (Zut heißt die höchste Perfektion zu erreichen / die höchste Perfektion ist Zut · blöd)90, oder am Beginn des »nastro n°4, ovvero dei rischi«: Band Nr. 4, oder von den Risiken »Peaches en regalia aus ›Hot Rats‹ von Zappa wird leiser Stimme 1 – Radio Alice, zu Ihren Diensten Stimme 2 – Runde 100 Megahertz, mit Garibaldi am Violon­ cello und Rin Tin Tin an der Maultrommel. Eine Art ständiger Auflösung der normalen Realität, verloren vor den Tribunalen der Töne, der wir antworten: ZUT Musik wird lauter«91 85 Dem Deutschen fehlt ein Ausdruck für diese Sprachschicht, die dem franz. Argot entspricht und sich auch weitgehend mit amerik. Slang deckt, obwohl dieser die Gaunersprache nicht umfaßt; vgl. dazu Ernst Leisi, Das heutige Englisch, a. a. O., S. 185 ff.: »er ist der Bezirk fortwährender Neuschöpfung, ein sprachliches Experimentierfeld, aus dem beständig neue Wörter an die Gemeinsprache abgegeben werden. Hier kann der sprachschöpferische Akt, die Sprache in statu nascendi belauscht werden.« Für bibliographische Anmerkungen zu den ›gerghi‹ vgl. Ernst Radtke, Sonderwortschatz und Sprachenschichtung: Materialien zur sprachlichen Verarbeitung des Sexuellen in der Romania, Tübingen 1981, S. 27–39. 86 Einige finden sich in Gian Ruggero Manzoni / Emilio Dalmonte, Pesta duro e vai trànquilo, a. a. O. 87 Eine typische bologneser Prägung, vgl. ebd., S. 31; noch unbekannt bei Jean Renson, Les dénominations du visage en français et dans les autres langues romanes. Étude sémantique et onomasiologique, Paris 1962, Bd. 2, Kap. XXI, S. 602–624. 88 Auf mehrere Artikel von J. Orr, in denen obszöne Anklänge dieses an sich harmlosen Ausdrucks dargestellt werden, verweist Nora Galli de’Paratesi, Semantica dell’eufemismo, a. a. O., S. 48 f. 89 ZUT diente auch als Name für zwei Zeitschriften aus dem Umkreis von A/traverso: Zut, foglio di agit/azione dadaista erschien in mehreren Ausgaben 1976/77 in Bologna/Rom; von Zut-International nur eine viersprachige Null-Nummer in Mailand/Frankfurt/Paris/New York im Nov. 1978. Im Sommer 1987 erscheint ZUT erneut. 90 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., Abb. S. 46 (58); vgl. unten Abb. S. 133. 91 »Peaches in regalia da ›Hot Rats‹ di Zappa sfuma / Voce 1 – Radio Alice, per servirla / Voce 2 – 100 megahertz tondi tondi, con Garibaldi al violoncello e Rin Tin Tin allo scacciapensieri. Una specie di costante sperdimento del livello normale della realtà perduta nei tribunali sonori cui rispondiamo ZUT / risale la musica«, ebd., S. 24 (35 f.); vgl. auch S. 58 (68) und S. 104 (116 f.).

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Eine andere Besonderheit in der Sprache von Radio Alice ist der exzessive Gebrauch von negativen Präfixen,92 vor allem von ›s-‹, das im Italienischen die Bedeutung eines Wortes meist in ihr Gegenteil verkehrt, verdreht, an einem Widerspruch bricht: wie in sparlare (schlecht über jemanden sprechen, unpassende Bemerkungen machen, pöbelhafte Ausdrücke verwenden – eben alles andere, nur nicht ›sprechen‹)93, sbalordire (verblüffen; von ›balordo‹, tölpelhaft, ungeschickt), screditare (diskreditieren, in Verruf bringen), etc. Die Vorliebe für Wörter mit dem Präfix ›s-‹ ging so weit, daß man, um sie in großer Zahl zur Verfügung zu haben, Wörterbücher konsultierte; und es entstand unter den bologneser Jugendlichen eine richtiggehende Mode, durch negative Präfixierung94 neue Wörter zu kreieren oder vorhandenen eine von ihrer ursprünglichen abweichende, ja völlig verschiedene Bedeutung zu verleihen; etwa: sballarsi (Alkohol oder Drogen konsumieren, sich berauschen; von ›balla‹, Schwips), sbarbina (Mädchen, entgegen dem Anschein immer mit positiver Konnotation; von ›barba‹, Bart), sbolognare, sbolognarsi (nach einem Rausch wieder klar im Kopf werden; im Ital. normalerweise aber fehlerhafte oder unbrauchbare Dinge, auch Falschgeld bzw. ungültiges Geld in Umlauf bringen, unterschieben), und viele andere mehr.95 Die Kreativität des Sprachverhaltens äußert sich nicht nur in der Wortbildung, sondern liegt auch in der Fähigkeit des Sprechers, neue Bedeutungen zu erzeugen und den Konsens über gewohnte Bedeutungen zu brechen. Von dieser Strategie der Bedeutungsveränderung, Bedeutungsverschiebung, Bedeutungsumkehr und endlich dem Bedeutungswandel, der eintritt, wenn der neue Wortgebrauch sich mehr und mehr zu verfestigen beginnt, wird später noch die Rede sein. Vorher aber muß über ein Verfahren gesprochen werden, das von den Veränderungen auf der Ebene des Wortes zum Kernstück einer Poetik der schmutzigen Sprache führt.

V. In einem der schönsten Texte des Kollektivs A/traverso mit dem Titel »Di grande, di rivoluzionario, non c’è che il minore« (Groß und revolutionär ist nur das Kleine, das Mindere) heißt es:

92 Zu den negativen Präfixen im Ital. vgl. Maurizio Dardano, La formazione delle parole nell’italiano di oggi. Primi materiali e proposte, Rom 1978, S. 31 f. und S. 127 ff. 93 Vgl. Maurizio Dardano, (S)parliamo italiano? Storia, costume, mode, virtù e peccati della nostra lingua, Rom 1978. 94 Angeblich gab es auch den umgekehrten Vorgang. In bestimmten Kreisen – und als erstes bei den ›Mao-Dadaisten‹ – soll es üblich gewesen sein, den Buchstaben ›s‹ als Anlaut wegzulassen; erhalten habe sich diese Deformation nur noch in der Begrüßungsformel »Ciao, come . tai?« – ». to bene!«; vgl. Gian Ruggero Manzoni / Emilio Dalmonte, Pesta duro e vai trànquilo, a. a. O., S. 130. 95 Auch hierzu geben Manzoni / Dalmonte zahlreiche Beispiele.

sprechen ist wie fasten

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»Wer verlangt, daß unsere Wörter einen Sinn haben sollten, dem antworten wir, daß unser Mund immer schon ein Sinnesorgan war sprechen ist wie fasten delirieren ist wie beißen«96

Was schon im Zusammenhang mit der Live-Sendung als kommunikatives Delirium auftauchte, stellt das wohl eigenwilligste Verfahren in der Sprache von Radio Alice dar. Entwickelt aber wurde es schon von den russischen Futuristen:97 Chlebnikov, der die ersten Überlegungen dazu formulierte, spricht vom »selbstgenügsamen Wort«, von einer »sinnüberschreitenden Sprache«98, Jakobson von einer »herabgestimmten Semantik«99, und laut Šklovskij ist der Gebrauch unverständlicher oder bedeutungsloser Wörter ein »allgemeines Sprachphänomen«100. Anders als beim »semantischen Kurzschluß«101, dem der Sprecher anheimfällt, wenn das betreffende Wort sich nicht findet und statt dessen die Bedeutung eines anderen, naheliegenderen etwas gestreckt werden muß, wird hier der Sprache ihre repräsentative Funktion verweigert. Man denke nur an die Scherzreden, mit denen Kinder, oft ganz ohne Grund, allein um des Sprachvergnügens willen ihren Spaß haben.102 Oder an das gegenstandslose Gespräch, das den Dialog als Selbstzweck behandelt, sei es, um eine Situation zu verreden,103 sei es, um einen komischen oder absurden Effekt zu erzielen.104 Auch die Verliebten kennen dieses ›ins Blaue reden‹ sehr gut: wenn die Sprache ihre Verpflichtung 196 »A chi domanda che le nostre parole abbiano un senso / rispondiamo che la nostra bocca è sempre stata un organo di senso / parlare è come digiunare / delirare è come mordere«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 74 (87). 197 Vgl. Victor Erlich, Russischer Formalismus, a. a. O., S. 50 f. 198 Man müßte den Weg zurückverfolgen, den diese oft als ›transmental‹ oder ›metalogisch‹ bezeichnete Sprache (zaumnyj jazyk, wörtl. ›jenseits des Verstandes‹, ›über den Verstand hinausgehend‹, aber auch ›abstrus‹, ›wunderlich‹, ›schrullig‹ und ›hinterhältig‹, ›hinterfotzig‹) von Rußland über das Cabaret Voltaire nach Paris nahm. Sie war formfreies ›Stammeln‹ aus nichtbestehenden, wahllos erfundenen Worten, ein Gemisch abstrakten phonetischen Materials mit nie gehörten Ausdrücken in willkürlicher Kombination. »Wir aber denken, daß die Sprache zuerst einmal ganz einfach Sprache sein muß, und wenn sie schon an etwas erinnern soll, dann am besten an eine Säge oder an den vergifteten Pfeil eines Wilden.« Aleksej Kručonych / Velemir Chlebnikov, »Das Wort als solches« (1913), in: Velemir Chlebnikov, Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 113; vgl. auch das Dossier »Chlebnikov und andere«, zusammengestellt von Peter Urban, in: Kursbuch, 10, 1967, S. 1–26. 199 Roman Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, a. a. O., S. 131. 100 Zit. n. Victor Erlich, Russischer Formalismus, a. a. O., S. 81. 101 Ernst Leisi, Das heutige Englisch, a. a. O., S. 90 f.; die wahren Fachleute dieses ›Kurzschlusses‹ befinden sich freilich im Publikum, denn der subjektiven Willkür der ›elliptischen Wahrnehmung‹, also der Technik, die es dem Hörer ermöglicht, auf den verschiedenen Ebenen der Sprache, auf lautlicher, syntaktischer wie auf narrativer Ebene Lücken zu schließen, sind keine Grenzen gesetzt. 102 Jakobson paraphrasierend, der die plötzliche »Lautdeflation« in dem Augenblick, in dem das Kind zu sprechen beginnt, mit der Beherrschung des Lautes als Mittel zur Bezeichnung in Verbindung bringt, könnte man hier von einer ›Sinndeflation‹ sprechen; vgl. Roman Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941), Frankfurt a. M. 1969, S. 26 ff. 103 Vgl. Jan Mukařovský, »Zwei Studien über den Dialog«, in: ders., Kapitel aus der Poetik, Frankfurt a. M. 1967, S. 123 f. 104 Andy Warhol etwa kultivierte das sogenannte ›Vorbei-Interview‹ und erhob es schließlich zu einer eigenen literarischen Gattung.

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zur Darstellung verliert, wenn Worte und Zeichen plötzlich Zugabe, Luxus, Überschwang werden, in den wunderlichen Zurufen und Zärtlichkeiten, die so außerordentlich lächerlich für jemanden sind, der die Vertrautheit der Liebenden nicht teilt. Das Telefon kommt diesem Blabla des Redestroms entgegen, es übermittelt die Geräusche ohne Ansehung sogenannter Bedeutungen: Tatsächlich überraschen Transkriptionen von Gesprächen dadurch, daß sie oft unverständlich, ja gänzlich sinnlos erscheinen. Dieser Unsinn ist immer schon das Unbewußte, sagt die Psychoanalyse und versucht es mit einer Sprechkur zutage zu fördern: Das sprachmächtige Ich muß vom Thron, damit die unsägliche Wahrheit der Unsinnsreden laut werden kann.105 Radio Alice aber hat keine therapeutischen Absichten, wenn es das Telefon mit dem Radio koppelt und das Unbewußte im Wortschwall ungehindert sich ausbreiten läßt. Statt dessen geht es – utopischerweise – um zweierlei: um die Installation eines kommunikativen Feldes, auf dem die zwischen Verbot und Verdrängung errichteten Interaktionsrituale ihre Bedeutung verlieren; und um die Evokation eines Sprechens, das den herrschenden Sinngebungen entkommt. Am Anfang jener kleinen, minderen Sprache, wie sie Radio Alice entwirft, steht eine Bewegung der Entfremdung von der eigenen Sprache, eine Erschütterung dieser Gewohnheit, die man beherrscht, und – ein unaussprechliches Wort: »Das hauptsächliche Kennzeichen dieser minderen Sprache ist ein hoher Koeffizient von Deterritorialisierung«106

Dieser Satz könnte von Gilles Deleuze stammen, und ebenso die nächste Zeile.107 Also weiter: »Fremde sein in der eigenen Sprache Zigeuner sein im Kreditsystem, das alle Wörter verpfändet (. . .)/ das ein Subjekt ein Prädikat ein dazugehöriges Objekt verlangt Aber der minderen Sprache ist noch keine Syntax gegeben im Gegenteil Zustände der Intensität, Momente libidinöser Produktion Verdichtungen wie in den schönsten Versammlungen, plötzliche Wechsel Sympathien, sofortige Zerstörung der logischen ­Ordnungen«108 105 Zur Nähe von Telefon und psychoanalytischer Technik vgl. erneut Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, a. a. O., S. 136 ff. 106 »Il primo carattere di questo linguaggio minore è un forte / coefficiente di deterritorializzazione«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 74 (87). 107 In einem Aufsatz über Carmelo Bene heißt es: »ein Fremder sein, aber in der eigenen Sprache, stottern, aber so, daß die Sprache selbst zu stottern beginnt und nicht nur das Sprechen.« Gilles Deleuze, Kleine Schriften, Berlin 1980, S. 53.

wir sind sicher, es war majakovskij

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Da wird eine Intensität, eine Leidenschaft, ein Begehren beschworen, eine Art libidinöses Pulsieren, allesamt Attribute von Subjektivität. Oder besser, Vorstellungen eines radikalen Subjektivismus, der aber sogleich wieder verworfen wird. Denn, so sagt Deleuze, »das, was Aussagen in jedem von uns produziert, das sind niemals wir als Subjekt, das ist etwas ganz anderes, das sind die Vielheiten, die Massen und die Meuten, die Völker und die Stämme, die kollektiven Kräfte, die durch uns hindurchgehen, die in uns sind und die wir nicht kennen, weil sie selbst Teil unseres Unbewußten bilden.«109 Ganz ähnlich A/traverso: »In der minderen Sprache gibt es kein Subjekt, sondern eine kollektive Verkettung von Aussagen, es gibt keinen Helden, keinen Erzähler, keine träumende oder geträumte Figur. ›Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Vokal ich zum Beispiel für einen Augenblick meinen unnützen Kopf verliere, denn – hört auf mich – wenn ich sage, daß ich denke, erfasse ich nichts weiter als einen Refrain, der aus der Ferne kommt und von mir spricht wie von vielen anderen Arten von Anlagen.‹«110

Dieses Eintauchen des Subjekts in die Sprache kommt einem Identitätsverlust gleich, das Subjekt verliert sich »in einem Vokal«, es erscheint als Knotenpunkt kollektiver ›Aussageordnungen‹111. Genauso wie die Sprache dann nicht länger als Denkoperation aufgefaßt werden darf, die vor dem Geist ein Bild oder eine Darstellung der Welt entstehen lassen würde: Wenn Sprache und Unbewußtes ineinandergreifen, strauchelt die Sprache, verweilt in einer Erinnerung, wird unterbrochen, flieht vor den gesellschaftlichen Sinngebungen.112 Von hier, der äußersten Grenze der Sprache, sind die Verfahrensweisen der herabgestimmten Semantik113 nicht weit entfernt. Sie kehren das gewohnte Verhältnis zwischen dem sprachlichen Zeichen und seinem Gegenstand um, arbeiten mit Effekten des Nonsense oder euphonischen Intensivierungen, in denen das bezeichnete Objekt, wenn überhaupt, 108 »essere estranei nel proprio linguaggio / essere zingari nel regime di credito che impegna tutte le parole (. . .) / che domanda un soggetto un verbo un complemento oggetto / Ma nel linguaggio minore non è ancora data sintassi / al contrario stati di intensità, momenti di produzione libidica / condensazioni come nelle assemblee più belle, cambiamenti improvvisi / simpatie, distruzione immediata degli ordini logici«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 73 f. (86 f.). 109 Aus einem Referat von Gilles Deleuze auf dem Mailänder Kongreß ›Psychoanalyse und Politik‹ 8./9. Mai 1973, in: Gilles Deleuze / Félix Guattari / Giovanni Jervis u. a., Antipsychiatrie und Wunschökonomie, Berlin 1976, S. 10. 110 »Nel linguaggio minore non esiste un soggetto, ma un concatenamento collettivo di enunciazioni, non esiste un eroe, narratore, personaggio sognatore o sognato, / ›Vivo solo qua e là in una parolina nella cui vocale perdo per un istante la mia testa inutile perché, datemi retta, quando dico di pensare non colgo che un ritornello che viene da lontano e che parla di me come di tanti altri tipi di congegni‹«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 74 f. (87). 111 Auch dieser Gedanke taucht, bevor er von Deleuze und Guattari popularisiert wurde, schon bei den russischen Formalisten auf: »Unter diesen Umständen ist der Mensch und das menschliche Hirn nichts anderes als der geometrische Schnittpunkt des kollektiven Schaffens.« Viktor B. Šklovskij, »Kollektives Schaffen« (1923), in: Poetica, 1, 1967, S. 99. 112 Vielleicht auch in jene »fundamentale Nicht-Adäquatheit von Rede und Wirklichem«, die laut Roland Barthes »immer ein Delirium ist«; Roland Barthes, Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Gehalten am 7. Januar 1977, Frankfurt a. M. 1980, S. 33. 113 Vgl. die Beispiele für die »selbstschöpferische Rede« Chlebnikovs bei Roman Jakobson, »Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, S. 311–327.

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nur mehr als schwaches Echo des Zeichens auftritt. Der Klang wird wichtiger, elementarer als die Bedeutung der Wörter. »Die mindere Sprache ist reine Klangmaterie Klangmaterie immer verstanden unter dem ­Gesichtspunkt ihrer eigenen Aufhebung, deterritorialisierter musikalischer Klang, Schrei, der der Sinngebung entkommt, der Komposition, dem Gesang, dem Wort, Wohlklang, der sich bricht, um sich aus einer noch übergroßen Verkettung zu befreien.«114

Reine Klangmaterie, Töne und Schreie als Möglichkeit, die Sprache aus ihrer konventionellen Untertänigkeit gegenüber der Bedeutung zu befreien. Um diese Verkettung, die auch eine gesellschaftliche ist, kreisen alle sprachtheoretischen Überlegungen des Kollektivs A/traverso. Nun könnte man meinen, daß es sich bei dem Konzept der minderen Sprache um nichts weiter als ein abstraktes ästhetisches Projekt handelt oder, schlimmer noch, um literaturhistorische Reminiszenzen einer kleinen, elitären Gruppe. Tatsächlich aber ist die Unterscheidung zwischen Avantgardekunst und Massenkultur längst eine manieristische geworden. Radio Alice stellt nur einen Aggregationspunkt ihrer gegenseitigen Infiltration dar, allerdings einen strategischen: »questa volta Majakovskij non è solo« (dieses Mal ist Majakovskij nicht allein)115 schreibt A/traverso, und dennoch ist die Überraschung bisweilen groß: Manche Telefonanrufe sprechen eine Sprache, der das Radiokollektiv mit angehaltenem Atem zuhört, so sehr verwirklichen sich da die eigenen Intentionen. »Ein weiteres Live-Telefonat: das schönste, das wir je bekommen haben: ›Niemand spricht, nur ein Saxofon spielt für ein paar Minuten.‹ Wir sind sicher, es war Majakowskij.«116

114 »Il linguaggio minore è pura materia sonora / materia sonora intesa sempre in rapporto con la propria abolizione suono musicale deterritorializzato, grido che sfugge alla significazione, alla composizione, al canto alla parola, sonorità in rottura per liberarsi da una catena che è ancora troppo grande.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 75 (88). 115 »Alice scrive«, in: A/traverso, März/April 1977, S. 1. 116 »Un’altra telefonata in diretta: la più bella ricevuta. / ›Non parla nessuno, suona solo un sax per un paio di minuti‹ / Siamo sicuri fosse Majakovskij.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 40 (52).

anti-language

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VI. Sprache ist immer auch Weltanschauung, und über die Grenzen der konventionellen Sprache hinauszugehen bedeutet daher, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Denn die Sprache bekräftigt die grundlegenden Ordnungen, durch welche eine Gesellschaft definiert ist: Sie ist eine ständige Bezugnahme auf Institutionen, auf Orte und Zeiten, auf die Bewegungsmuster und die Arten von sozialen Beziehungen, die für das gesellschaftliche Leben charakteristisch sind. Oder anders gesagt, das Zustandekommen effektiver Kommunikation setzt voraus, daß Sprecher und Zuhörer sich sowohl über die Bedeutung der Wörter einig sind als auch über das soziale Gewicht oder die sozialen Werte, die mit der Wahl eines Ausdrucks verbunden sind. Wie die Sprache ihre Normativität aus einem Konsens über die Werte erhält, so rühren Normbrüche an tief im Bewußtsein gelagerten semantischen Gewohnheiten. Die Akte des Bruchs, wie willkürlich sie auch immer sein mögen, präsentieren sich also nicht nur als Verletzung von Sprachgesetzen, als Negation der Standardsprache, sondern sind Träger symbolischer Bedeutung: Die Abweichungen von der Norm symbolisieren – das ist ihre wesentliche Funktion – den Versuch, eine Opposition zur gesellschaftlichen Ordnung auszudrücken. Insofern rückt die Sprache von Radio Alice in die Nähe dessen, was M. A. K. Halliday mit der Bezeichnung anti-language117 im Auge hatte. Offensichtlichstes Kennzeichen einer anti-language sind negative Partikel und Affixe sowie eine partielle Relexikalisierung, also die Ersetzung von Wörtern der Standardsprache durch neue, wobei es in bestimmten, für den Sprecher zentralen Lebensbereichen zu einer »Überlexikalisierung« kommen kann, zu einem gewissermaßen überlebensgroßen Spezial­ vokabular. Als effektivsten Prozeß der Negation des Standards aber nennt Halliday den der »semantischen Variation«. Die Gegensprache nimmt auf der Ebene der semantischen Codierung Strukturen und Anordnungen auf, die den Normen der gewöhnlichen Sprache entgegengesetzt sind. Meist, indem Ausdrücke der Standardsprache in der Gegensprache eine andere Bedeutung kriegen als im normalen Gebrauch. Ihre Bedeutung ist verschieden, doch was entscheidender ist, diese neuen Bedeutungen verkörpern zugleich so etwas wie eine ›gegenkulturelle Version‹ des sozialen Systems. Eine Gegensprache kann, wie jeder Code, als systematisches Muster in der Wahl von Bedeutungen definiert werden. Wenn die Sprache die Realitätserfahrung und die Beziehungen der Menschen untereinander codiert, so tut das die Gegensprache auf eine Weise, die unvereinbar ist mit den herrschenden Konventionen: etwa mit der binären Codierung von 117 Michael A. K. Halliday, »Anti-Languages«, in: American Anthropologist, Nr. 78 (3), 1976, S. 570–584; als ›Antilanguages‹ auch in: M. A. K. Halliday, Language as Social Semiotic. The Social Interpretation of Language and Meaning, London 1978, S. 164–182. Peter Burke verweist auf die gegenteilige Verwendung dieses Begriffs bei Italo Calvino, »Per ora sommersi dall’antilingua«, in: Oronzo Parlangèli (Hrsg.), La nuova questione della lingua, Brescia 1971, S. 171–175, der als ›antilingua‹ jene Sprache brandmarkt, die man ›ufficialese‹ zu nennen pflegt; vgl. Peter Burke, »Languages and Anti-Languages in Early Modern Italy«, in: History Workshop Journal, 11, 1981, S. 24–32; (Burke berichtet dort übrigens von der Verhaftung eines römischen Bettlers im Jahre 1595, der gesteht, daß im folgenden Mai eine Vollversammlung der Gauner stattfinde, um ihr Rotwelsch zu ändern (»mutare il gergo di parlare«), weil Außenstehende den Code geknackt hätten). Vgl. auch G. R. Kress, »Poetry as Antilanguage«, in: PTL, A Journal of Descriptive Poetics and Theory of Literature, 3, 1978, S. 327–344.

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so elementaren Begriffen wie Arbeit (Produktivität/Lohn), Liebe (Du und keine andere), Geld (Soll/Haben), aber auch von Recht bzw. Politik (gerecht/ungerecht) und Wissenschaft (wahr/falsch). Die anti-language unterläuft die gesellschaftliche Sinngebung, sie bricht den Konsens, daß – weil wir alle in derselben Gesellschaft leben, wir alle dieselbe Sache meinen. Und sie drückt eine subjektive Gegenrealität aus, die Konzeption einer hypothetischen, möglichen Welt: in der etwa Werte durch das bezeichnet werden, was sie nicht sind. Wie Raum und Zeit im Wunderland, wo die Zeit rückwärts läuft und die Dinge sich immer mehr entfernen, je näher man auf sie zukommt.118 »Wir sprechen nicht dieselbe Sprache«, heißt es oft, wenn Verhandlungen abgebrochen werden. Das ist keine bloße Floskel, Sprachunterschiede verweisen nicht nur auf die Grenzen zwischen sozialen Gruppen,119 sondern auf Unterschiede im Wertsystem, auf eine vielleicht nur wenig, aber unverkennbar verschiedene Weltsicht. Eine, die daher potentiell bedrohlich ist, wenn sie nicht mit der eigenen übereinstimmt. Dies ist ohne Zweifel eine Erklärung für die aggressive Ablehnung von Nichtstandard-Sprechern, wie sie nicht selten von Standard-Sprechern ausgedrückt wird. Das bewußte Motiv »Ich mag ihre Vokale nicht« steht für das darunterliegende »Ich mag ihre Werte nicht«. Erst recht neigen solche Urteile dazu, eher gesellschaftlich, also politisch denn sprachlich motiviert zu sein, wenn es sich um bewußte Sprachveränderung handelt, um absichtliche, willkürliche Akte.120 »Wir verstehen sie nicht« wird zur Aussage in einem symbolischen Konflikt, der überall dort entsteht, wo Bedeutungen ausgetauscht – jetzt im Sinn von kommuniziert – werden, und der mitunter nicht weniger stark sein kann als ökonomische Interessenkonflikte: das Mißverständnis verbirgt dann entgegengesetzte Vorstellungen über die Richtung der gesellschaftlichen Veränderung. »Poliziotti, magistrati, giornalisti hanno detto che Radio Alice è oscena.« (Polizisten, Richter und Journalisten haben behauptet, Radio Alice ist obszön.)121

Die Sprache von Radio Alice war vielen solchen Anfeindungen ausgesetzt: von bösartigen Telefonanrufen und Wandinschriften über die quasi halbamtliche Bezeichnung creativodemenziale122 bis hin zur polizeilichen Schließung des Senders und der Verfolgung der Redakteure. Zweifellos richteten sich diese Angriffe auch gegen die Fähigkeit der »semantischen Reklassifizierung«, wie Halliday sagen würde, gegen die Fähigkeit, neue Bedeutungen zu erzeugen und herkömmliche umzukehren. Gegen eine Sprache, die als Trägerin 118 Vgl. auch die »Ratschläge« Chlebnikovs (1918): »1. Die Menge der Arbeit nicht nach der Zeit, sondern nach der Zahl der Herzschläge zu messen! 2. Den Wert einer Sache nach der Zahl der Herzschläge messen, die man dafür verausgabt hat. 3. Die Wünsche ebenso messen. Eine Sache gehört dem, der sie am meisten wünscht.« Welimir Chlebnikow, Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, Berlin 1984, S. 241 ff. 119 Vgl. die Arbeiten von John J. Gumperz, besonders die Aufsatzsammlung Sprache, lokale Kultur und soziale Identität, Düsseldorf 1975. 120 »Man kann auch oft einen Widerstand der Gemeinschaft gegen einen neuerfundenen Terminus beobachten, der gewöhnlich nicht so sehr auf einer eigentlichen sprachlichen Aversion als auf einer Aversion gegen den Typus von Schöpfern (›coiners‹, eigtl. Münzer, Falschmünzer) beruht, von dem man annimmt, dafür verantwortlich zu sein.« Leo Spitzer, »The Individual Factor in Linguistic Innovation«, a. a. O., S. 79. 121 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 34 (45). 122 Diese schmückenden Beiwörter wurden auch noch Jahre später verwendet: »demenziali-creative come Radio Alice di Bologna«, Ugo Volli, »Mode modi modelli«, a. a. O., S. 151.

verstärkt auf millionen watt

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einer anderen sozialen Ordnung erschien. Insofern könnte man diese Sprache vielleicht als anti-language auffassen. »An anti-language however, is nobody’s mother tongue.«123 Sie existiert, so Halliday, nur im Kontext einer alternativen sozialen Realität, sie ist die Sprache einer Gegengesellschaft. Bei den Beispielen, die Halliday diskutiert, handelt es sich um Sprachen genau definierter sozialer Einheiten mit klar umrissenen Grenzen: die Gegenkultur der Vagabunden im elisabethanischen England, die Unterwelt des modernen Calcutta und die Subkultur in den polnischen Gefängnissen und Heimen. Während man hier tatsächlich von Realisierungen eines sogenannten ›zweiten Lebens‹ sprechen kann, ist eine derartige Bestimmung für die Sprache von Radio Alice widersprüchlich. Zwar gab es in den späten 70er Jahren in Italien die These von einer Spaltung in »zwei Gesellschaften«124 – die offizielle der Institutionen, der Krise und der Modernisierung, und dann jene zweite der Jugendlichen, der Arbeitslosigkeit, der Marginalisierung. Doch verliefen die sozialen Veränderungen komplexer und gleichzeitig kapillarer, als es das Bild von einem Riß in zwei Teile suggeriert. Und gewiß war Radio Alice ein Kommunikationsmittel vor allem der Jugendlichen. Aber zum einen gingen die Prozesse des Sprachwandels, wie die Zurückdrängung der Dialekte,125 quer durch die ganze Gesellschaft; zum anderen war die Öffnung der Rundfunkstation eine technologisch bedingte Möglichkeit, die gerade nicht auf eine ›Gegengesellschaft‹ beschränkt war, oder geeignet, eine »Gegensprache mit einer konsistenten Menge kookkurrierender Regeln« hervorzubringen. Seine Rolle als Katalysator von Sprachveränderungen gewinnt Radio Alice gerade dadurch, daß es sich als Massenmedium begreift, die Lust an der Sprache in den Vordergrund rückt – und manchmal auch den Sinn der Zeichen ändert. Die Subversion der Sprache jedenfalls, als unmittelbare, alltägliche, sprachliche Praxis, des gesprochenen Wortes und des sprechenden Subjekts, kennt diese Art von Trennungen nicht: in Gesellschaft und Gegengesellschaft, in Hochkultur und Jugendkultur, in Avantgarde und Massen. Genausowenig wie sie sich um die Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt kümmert: »Die Musik der Fabriken, der Geruch der Irrenhäuser und der Gefängnisse, das unheimliche Knirschen beim Abbröckeln der Gedanken, die Nichtanwendung auf die Realität, die lärmend zur Unaufmerksamkeit gegenüber dem Leben wird. Die inneren-äußeren Bewegungen verstärkt auf Millionen Watt. Und dann das Spiel, das Fest, die wohltuende Krankheit der Phantasie, die die Grenzen des Hier und Jetzt zurückweist, den Realitätswahn, den Terror des Labyrinths. Das erheiternde Schauspiel des 123 Michael A. K. Halliday, »Antilanguages«, a. a. O., S. 175. 124 Diese Vorstellung fand eine gewisse Verbreitung im Gefolge einer Aufsatzsammlung von Alberto Asor Rosa, Le due società. Ipotesi sulla crisi italiana, Turin 1977. 125 Ein anderes, schönes Beispiel für Veränderungen im Sprachgebrauch liefern Elisabeth Bates und Laura Benigni, »Rules of Address in Italy: A Sociological Survey«, in: Language in Society, 4, 1975, S. 271–288. Sie zeigen, daß sich in Rom beim Gebrauch der Anrede ›tu‹ (für Nahestehende oder Untergeordnete) und ›Lei‹ (für Fremde oder Höherstehende) ein Wandel vollzieht, der allen Erwartungen widerspricht: Die Jugendlichen der Unterschicht verwenden immer häufiger das höfliche ›Lei‹, während die der Mittelschicht das einfache ›tu‹ bevorzugen. Sollte dieser Prozeß weitergehen, dann ist zu erwarten, daß Mittel- und Unterschichten einfach ihre Normen tauschen, »sehr zur Bestürzung vieler Römer«.

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eine schmutzige sprache

Verschiedenen und des Verbotenen, die sich prügeln. Unsere unendlichen Ortswechsel. Wer hat von einer Stimme gesprochen? hundert, tausend Stimmen in jedem von uns.«126

Womöglich also erweist sich die anfängliche Vermutung als unzureichend. Die Vielstimmigkeit von Radio Alice scheint keine anti-language zu sprechen – sie ist schlimmer. VII. Angesichts der öffentlichen Beunruhigung über die Sprache und das Verhalten der italienischen Jugendlichen des Jahres 1977 und angesichts der Bemühungen von Soziologen, Politologen und Linguisten, Erklärungen oder wenigstens Definitionen dafür zu finden, hat Umberto Eco eine kleine Geschichte erzählt; eine Fabel über das, was den akademischen Beobachtern widerfuhr. Er verglich ihre Lage mit jener aussichtslosen des Helden eines utopischen Romans:127 Ein amerikanischer Geschäftsmann, in Wahrheit natürlich CIA-Agent, bereist die äußeren Planeten mit der Absicht, eine Reihe von Produktionszentren zu niedrigen Kosten als Vorposten einer künftigen neokolonialen Expansion zu installieren. Er ist Experte für Linguistik, kommt er doch häufig auf Planeten, deren Sprache er nicht kennt und deren lokalen Code er mittels einer Analyse des Verhaltens der Eingeborenen hypothetisch erschließen muß. Auch auf jenem bestimmten Planeten nun geht er nach den bewährten Methoden vor. So findet er eine Reihe von grammatikalischen Regeln, kommuniziert mit den Eingeborenen, setzt einen Vertrag auf, aber als es endlich zur Unterzeichnung kommen soll, merkt er, daß ihm Fragen gestellt werden, die er nicht versteht. Es wird ihm bewußt, daß der Code komplexer sein muß, als er dachte: Er nimmt die Untersuchungen wieder auf, arbeitet ein neues Modell des kommunikativen Verhaltens aus und stößt erneut auf eine Mauer von Unverständnis. Schließlich erfaßt er intuitiv, daß er an eine Zivilisation geraten ist, die ihren Code jeden Tag ändert. Die Eingeborenen haben die Fähigkeit, im Zeitraum einer einzigen Nacht ihre kommunikativen Regeln völlig neu zu ordnen. Verzweifelt tritt der Agent den Rückzug an. Der Planet ist uneinnehmbar geblieben.

126 »La musica delle fabbriche, l’odore dei manicomi e delle galere, lo scricchiolio sinistro degli sfaldamenti del pensiero, l’inapplicazione alla realtà che diventa rumorosamente inapplicazione alla vita. I movimenti interni-esterni amplificati a milioni di watt. / E poi il gioco, la festa, la benefica malattia dell’immaginazione che rifiuta la barriera del qui-ora, la mania della realtà, il terrore del labirinto. L’esilarante spettacolo del di/verso e del di/vieto che si scazzottano. Le nostre infinite dislocazioni. Chi ha parlato di una voce? cento, mille voci in ognuno di noi.« Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 93 (106). 127 Umberto Eco, »Come parlano i ›nuovi barbari‹. C’è, un’altra lingua: l’italo-indiano«, in: L’Espresso, Nr. 14, 10. April 1977, S. 54; wiederabgedruckt unter dem Titel »Il laboratorio in piazza«, in: Umberto Eco, Sette anni di desiderio, a. a. O., S. 64 (hier nennt Eco Robert Sheckley als Autor des Romans).

Nur ein unerwarteter Zug bringt den Gegner aus dem ­ onzept. K Vladimir Majakovskij1 Die entscheidende soziologische Frage ist natürlich nicht, wieso Menschen so etwas tun können, sondern wieso sie es so selten tun. Erving Goffman2

PARODIE  FÄLSCHUNG  SIMULATION

I. Es gibt zwei Arten von Codewechsel: einen gleichsam naturwüchsigen, bei dem die Sprache sich je nach sozialer Situation oder Thema ändert, und einen virtuellen, strategischen. Ist ersterer Forschungsgegenstand der Linguisten,3 so gehört letzterer zum Metier von Geheimgesellschaften – und ist Geschäft der künstlerischen Avantgarden. Kombinieren sich beide, wird die Situation verwirrend. Verwirrung stiftete denn auch die italienische Jugendbewegung, die sich Mitte der 70er Jahre vor allem im Dreieck Mailand–Bologna–Rom entfaltete und die im Widerstreit mit einer Regression auf den traditionellen politischen Aktivismus starke kulturrevolutionäre Züge annahm. Nachdem Umberto Eco gleich am Beginn des erwähnten Artikels über die neuen Barbaren4 eine prinzipielle Unlesbarkeit dieser Bewegung konstatiert hat, versucht er doch, den Gründen für das Zusammenlaufen sozialrevolutionärer und avantgardistischer Strömungen in ihr nachzugehen; sowie dem öffentlichen Unverständnis gegenüber einer 1 Wladimir Majakowski, »Wie macht man Verse?«, in: ders., Vers und Hammer, a. a. O., S. 50. 2 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, a. a. O., S. 378, Fußnote 44. 3 Vgl. z. B. die Arbeiten von John J. Gumperz, »The Sociolinguistic Significance of Conversational Code-Switching«, in: Jenny Cook-Gumperz / John J. Gumperz, Papers on Language and Context (Working Paper No. 46), Berkeley 1976, S. 1–46; und John J. Gumperz, »Ethnic Style in Political Rhetoric«, in: ders., Discourse Strategies, Cambridge 1982, S. 187–203. 4 Umberto Eco, »Come parlano i ›nuovi barbari‹«, a. a. O.; der Begriff neue Barbaren übrigens ist nicht neu, Benjamin sprach im Zusammenhang mit Erfahrungsarmut davon, »um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen«, dessen utopischer Gehalt sich aus einer Gegnerschaft zum Faschismus bestimmt. »Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren«; Walter Benjamin, »Erfahrung und Armut«, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, a. a. O., S. 215. 5 Umberto Eco, »Come parlano i ›nuovi barbari‹«, a. a. O., S. 55; Ecos Beobachtungen erinnern in manchem an Bells Analyse The Cultural Contradictions of Capitalism; dt.: Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt a. M. 1976.

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Situation, die dadurch charakterisiert ist, daß »die neuen Generationen in ihrer Alltagspraxis die Sprache (eher die Vielheit der Sprachen) der Avantgarde sprechen und leben«5. An diesem Unverständnis setzt Eco an. Zwar habe die ›Hochkultur‹ jene Subversion der Sprache als abstrakte Utopie akzeptiert, solange sie im Laboratorium der Kunst gesprochen wurde, und sich auch darauf verstanden, alle möglichen Erklärungen dafür zu finden: die Kunst versuche eben, einen Zustand der Krise abzubilden, das menschliche Subjekt in Frage zu stellen, etc. etc. . . . Doch während die Hochkultur sich noch abmühte, die Besonderheiten in der Sprache der Avantgarde zu identifizieren und ihr dorthin zu folgen, wo jene längst in Sackgassen sich verloren hatte, bahnten die Massenmedien den subversiven Implikationen der avantgardistischen Versuche einen Weg über die numerierten Ausgaben, die Kunstgalerien und die Cineastenclubs hinaus. Sodaß diese Sprache, diese Wucherung der Botschaften ohne klaren Code jetzt von Gruppen verstanden und bis zur Perfektion auch praktiziert wird, die immer außerhalb der Hochkultur sich befanden, die – so Eco – »weder Céline noch Apollinaire« gelesen haben, sondern dazu erst durch die Musik, das Fest, das Dazibao und das Pop-Konzert gelangten. Als unakzeptabel aber gelten diese Ausdrucksformen nur, weil man die Sprache der Avantgarden nun bei den Massen, von den Massen selbst gesprochen findet. Nicht so sehr die Motivationen für derlei Ignoranz jedoch, die Eco freilegt, sind hier von Interesse, sondern daß der von den Massenmedien in Gang gesetzte Transformationsprozeß, der von der Sprache bis zu den Verhaltensweisen reicht, sich nun trifft »mit einer realen historischen und ökonomischen Situation, in der das gespaltene Ich, das aufgelöste Subjekt, das Syndrom der Heimatlosigkeit und des Identitätsverlusts aufgehört haben, experimentelle Halluzinationen oder obskure Vorbilder zu sein und sich in psychische und soziale Lebensbedingungen großer Teile der Jugendlichen verwandelt haben«6. So gewinnt die ins Abstrakte eingemeindete Avantgarde, die angeblich immer nur sich selbst Modell stand, mit einem Mal wieder handgreifliche Konkretheit7. Sie wird erneut zum Modell außerästhetischer Finalität: diesmal aber für die Lebenspraxis der Jugendlichen in den italienischen Großstädten.8

II. Diese Überlegungen entsprachen ganz expliziten strategischen Schritten des Radiokollektivs. Keine unverständliche Sprache zu sprechen und doch die Selbstverständlichkeit der herrschenden Sinnstiftung, der Stereotypien anzufechten, dies war nur möglich »in der Ab-

6 Umberto Eco, »Come parlano i ›nuovi barbari‹«, a. a. O., S. 57. 7 Freilich ist das Problem der Differenz von Kunst und Alltagsleben immer schon eines der Avantgarde, und beide zu verschränken deren ureigenstes Vorhaben. Vgl. etwa Burkhardt Lindner, »Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis? Über die Aktualität der Auseinandersetzungen mit den historischen Avantgardebewegungen«, in: W. Martin Lüdke (Hrsg.), ›Theorie der Avantgarde‹. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 72–104. 8 Maurizio Calvesi spricht, gerade bezogen auf die italienischen Verhältnisse, von einer ›Massenavantgarde‹: »Massenavantgarde zu werden ist Bestimmung und widersprüchliches Bestreben der Avantgarde.« Maurizio Calvesi, Avanguardia di massa, Mailand 1978, S. 247.

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weichung des erahnten Verlaufs vom sich tatsächlich realisierenden Prozeß«9: Was Radio Alice in Umlauf brachte, wurde sehr bald schon in der Jugendbewegung und weit darüber hinaus verbreitetes Allgemeingut. Durch seine radikale Offenheit ist das Radio zunächst einfach ein Forum, das die Individuen nicht isoliert, stumm macht, sprachlos oder unvermögend, sich verständlich zu machen, wie überall sonst in jener Info-Sphäre, welche ihnen stets nur eine Alternative offenhält: zu schweigen oder andere für sich sprechen zu lassen. Kurz, Radio Alice ist ein medialer Treffpunkt; so als gäbe es in Bologna plötzlich eine zweite Piazza Maggiore neben der alten im Zentrum, mit ihrer lebendigen sozialen Tradition, wie sie Enrico Palandri beschreibt: »Wenn die Piazza belebt ist, scheint sie ein Phalanstère: Ort der Liebeshändel, der kurzen Begegnungen, der verstohlenen Blicke und des endlosen Herumschlenderns, dabei zu sein ist leicht und vergnüglich; und dies war der Mai, der Wunsch nach Deinesgleichen und Fremden, sich mit Kleinigkeiten, kleinen Gesten, wenigen Worten darzustellen: eine Blume im Knopfloch, ein Studentenschlips, ein Seidenschal, ein Treffpunkt für die Eitlen und die Verächter des Scheins.«10

Als hätte die Piazza11 sich technologisch in den Äther geweitet, gilt auch für das Radio, was dem öffentlichen Platz wesentlich ist: »daß er Personen miteinander mischt und eine Vielzahl von Aktivitäten anzieht«12. Solch ein Ort ist Radio Alice von Anfang an, ein Umschlagplatz von Subjektivität. Denn Information heißt für die jungen Bologneser, nicht nur von all dem zu sprechen, was sich außerhalb ihres Alltagslebens ereignet, sondern im Gegenteil vor allem eigene Ausdrucksformen und Verhaltensweisen in der Stadt zirkulieren zu lassen: »Sich verabreden, Treffpunkte ausmachen, Gewohnheiten verbreiten . . .«13

Dazu wird die Funktionsweise des Mediums gemäß den eigenen Absichten und Einfällen verändert. Die ständige Möglichkeit eines respektlosen Feedback etwa kündigt die Spielregeln der Massenkommunikation auf, denen zufolge der Konsument nicht spricht:14 Wenn 19 »nello scarto fra intuizione della tendenza e processo che si realizza«, A/traverso, Dez. 1976, S. 4. 10 »Quando è bella la piazza sembra il falansterio: luogo dei corteggiamenti amorosi, dei brevi incontri, degli sguardi o del lungo bighellonare, starci dentro è facile e divertente; e questo era maggio, la voglia di simili e di diversi da te, presentarsi attraverso piccoli segni, piccoli gesti, poche parole: un fiore all’occhiello, una cravatta da studentello, un foulard, un luogo di ritrovo per i vanitosi e i noncuranti delle apparenze.« Enrico Palandri, Boccalone. Storia vera piena di bugie, Mailand 1979, S. 25 f. Roland Barthes bezeichnet übrigens das Phalanstère als Ort, »dessen erstes Kennzeichen nicht mehr Schutz ist, sondern Zirkulation«; Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, a. a. O., S. 129 f. 11 Deren besondere soziale Funktion und Atmosphäre Lewis Mumford weniger romantisch, aber ganz ähnlich schildert: »Plaza, Campo, Piazza und Grand’Place stammen unmittelbar von der Agora ab. Auf dem freien Platz mit seinem Kranz von Kaffeehäusern und Restaurants vollziehen sich spontane Begegnungen, Unterhaltungen, Versammlungen und Rendezvous, die selbst dann, wenn sie Gewohnheit geworden sind, zwanglos bleiben«; Lewis Mumford, Die Stadt. Geschichte und Ausblick, Köln/Berlin 1979, S. 177. 12 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Frankfurt a. M. 1986, S. 27. 13 »Darsi appuntamenti, indicare luoghi di ritrovo, diffondere abitudini . . .«, Franco Berardi ›Bifo‹, La barca dell’amore s’ è spezzata, a. a. O., S. 160. 14 »Der Konsument spricht nicht.« Edgar Morin, Der Geist der Zeit. Versuch über die Massenkultur, Köln/Berlin 1965, S. 57.

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die Hörer unter die Sprecher geraten, kehrt das Subjekt ins Innere des Informationsprozesses zurück. »Indem es (sich) informiert, erkennt sich das Subjekt, konstituiert es sich.«15

Weiters setzt auch die bloße Mündlichkeit eine im Standard-Text unauffindbar gewordene Subjektivität frei. Die Improvisation als expressives Verfahren schließlich soll, indem sie die inneren Kontrollinstanzen überrumpelt, das Unbewußte zutage fördern; einer verschütteten Kreativität auf der Spur, sucht die Sprache sich einer traumartigen Logik, einer delirierenden Wahrnehmungsweise zu nähern, die jener des Drogenrausches16 nicht unähnlich ist: »das Delirium in die Ordnung der Kommunikation einführen«17

heißt es emphatisch. Zum Vorbild hat der Appell an das Unbewußte gewiß die surrealistischen Versuche einer écriture automatique, nur weiß man eben auch, zumal bei einem Sendebetrieb rund um die Uhr, daß die unbewußte Phantasie arm und die automatische Schreibweise eintönig sein kann. Die Tatsache, daß der Informationsfluß bei Radio Alice spontan entsteht und daher alle nur denkbaren ›Unreinheiten‹ mit sich führt, bedeutet nicht, daß er jeder kommunikativen Kalkulation entbehrt. Einmal will das Radiokollektiv mit dieser ungefilterten Flut von Stimmen, die voll sind von Lapsus, Unsicherheiten, Pausen und Nonsense, voll von Abschweifungen und Ungereimtheiten – will mit dieser frei herumirrenden Sprache die Hörer ermutigen, ohne Scheu selbst das Wort zu ergreifen. Vor allem aber soll der dominierende Sprachgebrauch verletzt werden und mit ihm die Wirklichkeitskonstruktion der Massenmedien. Dem Subjekt Raum zu schaffen heißt denn auch, die Logik des Unbewußten durch eine Logik der Strategie zu ersetzen: »PASSAGGIO ALL’OFFENSIVA ALICE FASE DUE.«18 Die Sprache wird zu einem Feld strategischer Operationen: »Ein Terrain, auf dem sich eine richtige Schlacht abspielt, auf dem reale Wünsche wirksam werden«.19

Ein Schlachtfeld, auf dem sich gegensätzliche Sichtweisen der sozialen Welt kreuzen und auf dem die Kontrahenten sehr ungleich ausgerüstet sind. Dort ein legitimes oder legales Ordnungssystem, dessen Macht nicht zuletzt darauf gegründet ist, als fraglos hingenommen zu werden. Und da der Versuch einer solchen Infragestellung, der weniger durch seine 15 »Informando(si) il soggetto si riconosce, si costituisce.« Franco Berardi ›Bifo‹, La barca dell’amore s’ è spezzata, a. a. O., S. 150. 16 Der seit den späten 60er Jahren verallgemeinerte Drogengebrauch hatte sicherlich beträchtlichen Einfluß auf die Veränderung der Wahrnehmungsweisen einer ganzen Generation; es scheint, als stünden Verlangsamung und Halluzination dabei den sich ständig beschleunigenden Rhythmen des Alltagslebens wie der industriellen Produktion gegenüber. 17 »introdurre il delirio nell’ordine della comunicazione«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 109 (122). 18 »ÜBERGANG ZUR OFFENSIVE ALICE PHASE ZWEI.«, A/traverso, Dez. 1976, S. 4. 19 »Un terreno su cui si gioca una battaglia vera, su cui agiscono desideri reali«, Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 107 (120).

alice phase zwei

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Mittel als durch die Wahl des Angriffspunktes bedeutsam ist: er zielt auf die symbolischen Fundamente der sozialen Ordnung. Nun stellt allein schon die Möglichkeit, das Wort außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen zu ergreifen, und die Fähigkeit, etwas öffentlich, in Worten faßbar zu machen, was bislang auf der Ebene individueller Erfahrung verblieb – Ängste, Hoffnungen und Ungewißheiten – eine außergewöhnliche, weil durch nichts legitimierte Herausforderung dar. Aber das ist nicht alles. Denn jenseits der institutionellen Instanz, von der aus gesprochen wird, postuliert jeder Diskurs seine eigene Institutionalität, oder, wenn man so will, eine ›Ordnung des Diskurses‹, ein Ritual, das ihm gehört. Doppelte Institutionalisierung: die von der Aussagesituation herrührende und jene, die von einer Typologie des Diskurses – politisch, wissenschaftlich, literarisch etc. – herrührt und ihm ebenfalls Wahrheit verleiht. Die Anfechtung dieser Wahrheit ist die dritte strategische Dimension, in der Radio Alice operiert. Zum Ereignis der Vielstimmigkeit und der Auflehnung gegen den festgelegten Sinn der Wörter kommt der Bruch des gesellschaftlichen Konsenses. Der ist kein amerikanischer Traum mehr, wie in den 50er Jahren, kein anything goes wie in den 60ern, mit der gegenkulturellen Variante des Do it!. Jetzt heißt es eher »wenn nicht demokratisch, wissenschaftlich jedenfalls . . .«. Das Projekt der subversiven Kommunikation setzt also nicht nur auf die Dialogizität des Mediums und eine ›schmutzige‹ Sprache, sondern auch auf sophistische Techniken: die offizielle Darstellung der Realität widerlegen, das Bild der Welt verrücken, die Koordinatentafel der Wahrheit in Unordnung bringen. Erneut ist dies Sache des Subjekts, einer ungebundenen Intelligenz – und einer Sprache, die die institutionellen Codes unterläuft. Denn »ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen statt sie zu zerstören«?20

III. »Come s/parla il soggetto?« Wie also spricht das Subjekt, oder besser, wie widerspricht es, wie pöbelt es an und redet dazwischen? »Das Subjekt dringt in die Formen der herrschenden Kommunikation und unterbricht sie ironisch.«21

Schon bevor es soweit kommt, lassen sich eher zufällige, aber systematisch begünstigte Störungen beobachten, die der vorgeblichen Wahrheit den Boden zu entziehen drohen. Selbst in den offiziellen Anstalten ereignen sich fast zwangsläufig derartige Pannen: Im Nachrichtenblock wird eine Meldung über irgendein lokales Ereignis oder den Sturz des Dollars verlesen, ein paar Minuten später, brandneu ins Haus geflattert, wird sie mit aufgeregter Stimme noch einmal vorgetragen, derselbe Wortlaut, verschieden intoniert. Das tut dem Wahrheitsgehalt noch nicht unbedingt einen Abbruch. Wohl aber, wenn der Sprecher bei Radio Alice einen Text einfach durch seine Unbeteiligtheit kommentiert: Er macht 20 Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, a. a. O., S. 141. 21 »Il soggetto entra nelle forme di comunicazione dominante, le interrompe ironicamente«, »soggetto collettivo che scrive a/traverso«, in: A/traverso, quaderno 2, März 1976, S. 17.

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kleine Pausen, um sich über den Inhalt zu informieren, murmelt vor sich hin, stockt, lacht erheitert auf, wenn ihn etwas amüsiert, fährt über unwichtige Passagen mit eilendem Geplapper hinweg, stolpert dann wieder vor einem schwierigen Namen, liest noch einmal, buchstabiert, knurrt ärgerlich, sucht nach Worten, verstummt und beginnt schließlich mit seinem Singsang von neuem. Der Kommentar bemächtigt sich hier gleichsam der Leerstellen des kommentierten Textes und macht das Implizite, seine unausgesprochenen Mitgegebenheiten zum Gegenstand der Explikation. Er versucht gerade das zu enthüllen, was die Nachricht verbirgt, zu verbergen sucht, und zwingt den Text, seinen geheimen Sinn freizugeben. Daneben gibt es einfache Formen des kritischen Kommentars: korrigierte Informationen, Entschlüsselung von Neuigkeiten, Übersetzung amtlicher Ausdrücke, etwa wenn mit einem ›sozialen Euphemismus‹ davon gesprochen wird, daß »die Löhne nicht Schritt halten können«, oder wenn in bezug auf das Treffen zweier Gewerkschaftsführer von einem »Gipfeltreffen« die Rede ist. Eine subtilere Variante bietet der Kommentar, der nur in einer wörtlichen Wiederholung dessen besteht, was er kommentiert. Oder der Sprecher zitiert seinen professionellen Gegenspieler, verfällt in den formellen Tonfall des Ansagers, um ihn zu parodieren und mit einem Anflug von Ironie gleich wieder zu verlassen – Zeichen des Überdrusses und Verfremdungseffekt. Man kann bei Radio Alice verschiedene Techniken der Parodie ausmachen und drei Bereiche, gegen die sie vornehmlich gerichtet sind: die Sprache der Massenmedien, den politischen Jargon und die Rhetorik der Werbung. Wie Michail Bachtin und andere gezeigt haben, entsteht die Parodie aus einem Konflikt zweier Sprachstile. Ein Text wird einer systematischen Veränderung unterzogen, indem er aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst und in einen neuen eingebettet wird oder, indem ein Teil des Textes ersetzt wird, die allgemeine Textkonstruktion aber gleich bleibt. Wesentlich daran ist die Konfrontation zweier sprachlicher Systeme, also die Gegenüberstellung des Originals mit seiner entstellten Version, in der eben das Original wiedererkennbar sein muß. Und in der ein Bild des Originals entworfen wird, welches die Konventionen des ihm zugrundeliegenden sprachlichen Verhaltens bloßlegt: Die Parodie verwendet die Kompositionsprinzipien, die Kunstgriffe, die Verfahren ihres Originals, indem sie sie aufdeckt, um einen Terminus der russischen Formalisten zu gebrauchen22. Zum einen richtet sich die Parodie gegen das Formelhafte, Abgenützte, gegen die sprachlichen Stereotypien, gegen die abgedroschenen Klischees. Die kritische Zielsetzung der Parodie liegt aber vor allem in der Ausleuchtung der Kunstmittel, der angewandten Verfahren, der Konventionen einer Gattung.23 Sie will nicht nur einen Text der Lächerlichkeit preisgeben, indem sie das Lächerliche der parodierten Sprache freilegt, sondern den Rezipienten zwingen, seine Aufmerksamkeit auf den ur22 Vgl. Viktor Šklovskij, »Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Texte der Russischen Formalisten, Bd. I, München 1969, S. 9–35. 23 Vgl. Viktor Šklovskij, »Die Parodie auf den Roman: Tristram Shandy«, in: ders., Theorie der Prosa, Frankfurt a. M. 1966, S. 131–162; und Jurij Tynjanov, »›Dostojevskij und Gogol’‹ (Zur Theorie der Parodie)«, in: ders., Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur, a. a. O., S. 78–133; einen guten Überblick gibt Wolfgang Karrer, Parodie Travestie Pastiche, München 1977; und bündig Tuvia Shlonsky, »Literary Parody. Remarks on its Method and Function«, in Actes du IVe Congrès de l’ Association Internationale de Littérature Comparée, Bd. 2, Den Haag 1966, S. 797–801.

verfahren der parodie

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sprünglichen Text zu lenken, und eine verstärkte Reflexion auf die Sprache selbst auslösen. Schließlich führt die Parodie zu einer »Kollision zweier Sinngebungen«24: Das Original wird verändert, um darin einen neuen Sinn erkennen zu lassen. Mit der veränderten Einstellung zum Original aber wird auch eine neue Sicht der Wirklichkeit eröffnet. Die von Radio Alice angewandten Methoden der Entstellung des üblichen Sprachgebrauchs sind äußerst vielfältig. Sie reichen von so minimalen Operationen wie dem bloßen Austausch eines Wortes oder sogar nur eines Buchstabens, von der Zerdehnung eines Wortes in seine Silben oder falscher Pausensetzung bis zu komplexen semantischen Modifikationen; von der klassischen Strategie der Synonyme – deren Rezept nichts weiter verlangt, als Wörter mit einer ähnlichen Bedeutung zu nehmen und sie in einen Kontext zu stellen, der logisch das jeweils andere Wort verlangt – bis zur endlosen Wiederholung bestimmter offizieller Redensarten, die oft auch durch Deformation oder Übertreibung verfremdet werden. Vom Medium begünstigt sind dabei all jene Verfahren, die das gesprochene Wort bietet, um die Sprache zu verhören: Bedeutungswandel durch unterschiedliche Artikulation, Aussprachefehler, die einen tieferen Sinn freilegen, Veränderungen des Akzents, Transposition einer Mitteilung aus ihrer ursprünglichen Fassung in einen anderen Tonfall. Ein Sprecher kann ›hohe‹ Sprechweisen außerhalb der Kontexte verwenden, die sie als Norm definieren, oder umgekehrt ›niedere‹ Sprechweisen in formellen Kontexten, also etwa Dialekt in Nachrichtensendungen; dadurch lassen sich komische, überraschende, spöttische Effekte erzielen, denn solche Variationen sind meist bedeutungsvoll. Immer geht es bei diesen ironischen Versuchen, die sprachlichen Codes auseinanderzunehmen und die Redegewohnheiten zu überwinden, darum, mit der Sprache zu spielen, sich das Wort anzueignen und es auf ungewöhnliche Weise zu gebrauchen. Es gibt eine Sendung, das »Band Nr. 5, oder vom Vorsitzenden«, die einige Techniken der Parodie in sich versammelt und die vor allem etwas von dem Vergnügen25 an der Praxis der subversiven Kommunikation aufblitzen läßt:26 24 Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969, S. 121. 25 Sollte es stimmen, was Roland Barthes sagt? »Der Text ist (sollte sein) jene ungenierte Person, die Vater Politik ihren Hintern zeigt.« Roland Barthes, Die Lust am Text, a. a. O., S. 79. 26 Die Sendung ist abgedruckt in: Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, a. a. O., S. 28–31(39–42); sie wird hier in den wesentlichen Passagen wiedergegeben. »Orpheus von Monteverdi, Prolog – Nach dem zweiten Trompetenstoß setzt die Stimme ein / Stimme 1 – Hier die ehrwürdigen Studios von Radio Alice, ihr hört uns auf soundsoviel Supermegahertz aus Schokolade und türkischem Honig. Wir haben Telegramme, Kablogramme und Afghanogramme erhalten, man beglückwünscht und gratuliert uns zu den ersten drei Jahrhunderten Sendebetrieb. Unter anderem ein großes Lob des Vorsitzenden, das uns vor Stolz die Brust schwellen läßt. Es wird hiermit verlesen /La guardia rossa (Die Rote Garde) – wird leiser / Stimme 1 – Hier die himmlischen Studios von Radio Alice, wir schreiten zur Verlesung der Botschaft des Vorsitzenden / Trommelwirbel – Überblendung – L’internazionale von den Area – wird leiser / Stimme 2 – Den Brüdern von Radio Alice Gruß und ein langes Leben; langes Leben (Chor). Gestern abend, Freitag, den 13. Januar, während mich der Schmerz überkam (und meine wohlbekannte Einsamkeit), drang die Dialektik in mich ein wie eine Verhöhnung meines Fleisches, das leidet und nicht versteht / Musik wird lauter – Überblendung – Long live chairman Mao von Cornelius Cardew – wird leiser/ Stimme 2 – Ich hoffe, oh entzückende Brüder von Radio Alice, daß Ihr mir freundlichst den Empfang bestätigen wollt: den ganzen Morgen habe ich diese Glückwünsche auf jedes Haus von Bologna gemalt (. . .) / China von Gato Barbieri – wird leiser / Stimme 1 – Hier sind noch immer die erhabenen Studios von Radio Alice, während ihr dieser Zirudela zuhört, setzen wir die Verlesung der Botschaft des Vorsitzenden fort (. . .) Stimme 2 – Ich

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nastro n°5, ovvero del presidente »L’Orfeo di Monteverdi prologo – dopo il secondo squillo entra il parlato Voce 1 – Qui gli studi reverenti di Radio Alice, ci state ascoltando su un tot di supermegahertz al cioccolato e pandispagna. Ci sono arrivati telegrammi, cablogrammi, afghanogrammi, ci si felicita e congratula per i nostri primi tre secoli di trasmissione. Tra gli altri una summa del presidente che ci inorgoglisce il gargarozzo. Ve ne diamo lettura La guardia rossa sfuma Voce 1 – Qui gli studi cielesti di Radio Alice, diamo lettura del messaggio del presidente Rulli di tamburi – dissolvenza – L’internazionale degli Area – sfuma Voce 2 – Ai fratelli di Radio Alice salute e lunga vita; lunga vita (coro). Ieri sera venerdì 13 gennaio, nell’insediarsi del mio dolore (e della mia ben nota solitudine), la dialettica è entrata in me come derisione della mia carne che soffre e non capisce risale la musica – dissolvenza – Long live chairman Mao di Cornelius Cardew sfuma Voce 2 – Spero, o deliziosi fratelli di Radio Alice, che vogliate gentilmente accusarmi ricevuta: per tutta la mattina ho scritto queste congratulazioni a ogni casa di Bologna (. . .) muß zugeben, ich zähle zu den Freunden von Radio Alice wegen des Vertrauens, das es in mich setzt. Vertrauen ist es aber nicht. Niemand hat es. Es ist eine Gnade. Ich wünsche sie Euch. Gnade ist es, was ich Euch wünsche. Es geht reihum, und jetzt ist es an mir, zu schweigen. Euer Vorsitzender. / Volunteers von Jefferson Airplane.«

sweet mao

Cina di Gato Barbieri sfuma

Volunteers dei Jefferson Airplane«

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Voce 1 – Qui sempre gli studi sublimi di Radio Alice, mentre ascoltate questa zirudela continuiamo la lettura del messaggio del presidente (. . .) Voce 2 – Debbo ammetterlo, sono tra gli amici di Radio Alice in ragione della fiducia che essa mi accorda. Ma non è fiducia. Nessuno ce l’ha. È una grazia. Ve la auguro. È una grazia che vi auguro. Si fa a turno ed ora è il mio di tacere. Il vostro presidente

Auch wenn die konkrete Stimmführung nur erahnt werden kann, zeigt dieses Beispiel doch zur Genüge, wie die parodierende Verfremdung mit ihren Objekten verfährt. Und es zeigt die ungezügelte Freude an Selbstironie. Gleich zu Beginn wird die Seriosität und Autorität der Massenmedien verhöhnt, die Wichtigtuerei rund um die technische Effizienz verspottet und die Selbstgefälligkeit jubiläumswürdiger Kontinuität der Lächerlichkeit preisgegeben. Dann überlagert sich der redundante Sermon des Sprechers mit der sklerotisierenden Liturgie politischer Aussprachen. Deren Ernsthaftigkeit oder besser Getragenheit entspricht eine vornehmlich vage Ausdrucksweise, die hier durch Nachbeten ›wahrnehmbar‹ gemacht und ins Absurde weitergesprochen wird. Die Politik bezieht ihre unberührbare Macht ja gerade auch aus der Abstrusität und Obskurität ihrer Sprache: vor allem darf diese Sprache nicht alltäglich sein, will sie Respekt einflößen und das Prestige derer vergrößern, die solche Reden halten. Das gilt gleichermaßen für beide großen politischen Lager Italiens, die kommunistische Partei wie die katholische Kirche – und für die Neue Linke als ihr mißratenes Kind ganz besonders. Vielleicht weil das Radiokollektiv davon aus eigener Erfahrung ein Lied singen kann, ist diese Zirudela27 so vortrefflich gelungen: Das Ritual verliert seine Wirkung, die Feierlichkeit verflüchtigt sich in Gelächter, und endlich, wenn die Rhetorik der politischen Propaganda sich plötzlich in dadaistische Botschaften verkehrt, ist es am Großen Vorsitzenden, auch einmal zu schweigen.

27 Bologneser Dialekt: ›lyrische Gelegenheitsdichtung mit Gesang‹.

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IV. Meister der Ironie waren in jenen Tagen die Indiani Metropolitani, die ›Stadtindianer‹, wie die wenig geglückte deutsche Übersetzung lautet. Woher sie kamen und wann sie zum ersten Mal auftauchten, läßt sich nicht genau sagen. Würde man versuchen, ihr Entstehen historisch nachzuzeichnen, könnte man vermutlich einiges über die verschiedenen Strömungen innerhalb der italienischen Jugendbewegung, über die Krise der marxistischen Linken Mitte der 70er Jahre und über die Antiquiertheit ihrer Kampfformen erfahren. Und man würde im Dickicht der Subkultur bald die Orientierung verlieren. Sicher ist, daß Momente eines ›indianischen‹ Verhaltens schon 1975 während der großen Feste des italienischen Underground, bei den Sonnentänzen im legendären Mailänder Parco Lambro und beim Umbria Jazz Festival vorhanden waren. Bereits im März 1973 hatten sich die jungen Arbeiter, als sie das Fiatwerk Mirafiori in Turin besetzten, angeblich rote Stirnbänder zum Zeichen ihrer Entschlossenheit umgebunden und die politischen Slogans durch Kriegsgeschrei ersetzt, durch ein langes »éaéaéaéao«, durch Hupen und Trommellärm.28 In der Septembernummer ’75 von A/traverso erschien dann auch ein Artikel mit dem Titel »Notizie dalla riserva«29, der mit einer ›indianischen‹ Sprache, mit Metaphern, wie sie in jedem durchschnittlichen Western den Rothäuten in den Mund gelegt werden,30 die entfremdeten Lebensbedingungen der Jugendlichen in den Großstädten Italiens beschrieb: als Dahinvegetieren in Reservaten am Rand der Gesellschaft. Doch Rauchsignale am Horizont kündigten große Veränderungen an. Aber erst im Frühjahr 1977 traten die Indiani Metropolitani, vor allem in Rom und Bologna, zum ersten Mal als Gruppe öffentlich in Erscheinung. Mit ihren bemalten Gesichtern, farbenprächtigen Kostümen und Plastiktomahawks zogen sie sogleich die Aufmerksamkeit der Medien auf sich.31 Und die Presse hatte allen Grund, beunruhigt zu sein. Denn außer ihrem ungewöhnlichen Aufzug zeigten die Indiani ein unbotmäßiges Verhalten. Sie dehnten die hauptsächlich von Hausfrauen getragene Bewegung der autoriduzione, die mit selbstbestimmten Preisherabsetzungen bei den Mieten, bei Strom-, Gas- und Telefonrechnungen begonnen und ganze Stadtteile erfaßt hatte,32 auch auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens aus. So verlangten sie häufig in den vornehmen Kinos der Innenstadt freien Eintritt, sie speisten in Nobelrestaurants ohne zu zahlen, und schreckten auch nicht davor 28 Franco Berardi ›Bifo‹ /Angelo Pasquini, »Si fa presto a dire indiano«, in: L’Espresso, Nr. 16, 24. April 1977, S. 136. 29 »Nachrichten aus dem Reservat«, A/traverso, Sept. 1975, S. 3. 30 Einige dieser Metaphern fanden kurzzeitig Eingang in die politische Sprache, z. B. »Die PCI spricht mit gespaltener Zunge«. 31 Welche Rolle das Indianerbild der Filmindustrie und selbst die Stereotypien des 19. Jhdts. vom ›gefährlichen‹ oder aber ›edlen‹ Wilden spielten, analysiert aus ethnologischer Sicht Giorgio Mariani, »›Was Anybody More of an Indian than Karl Marx?‹: The ›Indiani Metropolitani‹ und the 1977 Movement«, in: Christian F. Feest (Hrsg.), Indians and Europe. An Interdisciplinary Collection of Essays, Aachen 1987, S. 585–598. 32 Vgl. Bruno Ramirez, »The Working-Class Struggle Against the Crisis. Self-reduction of Prices in Italy«, in: Zerowork, Nr. 1, Dez. 1975, S. 143–150; Eddy Cherki / Michel Wieviorka, »Auto-reduction Movements in Turin«, in: Semiotext(e), Nr. 9: Italy: Autonomia. Post-political Politics, 1980, S. 72–78; auch Dario Fo, Bezahlt wird nicht!, Berlin 1977; und dazu Martin W. Walsh, »The Proletarian Carnival of Fo’s ›Non si paga! Non si paga!‹«, in: Modern Drama, XXVII/Nr. 2, S. 211–222.

bei den Sonnentänzen im legendären Mailänder Parco Lambro und beim Umbria Jazz Festival

angeblich rote Stirnbänder zum Zeichen ihrer Entschlossenheit umgebunden

indiani metropolitani

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zurück, an Geschäftsplünderungen teilzunehmen – allerdings um sich so unnütze Dinge wie Sportbekleidung, Liköre oder Angelgeräte ›anzueignen‹. Berühmt aber wurden die Indiani Metropolitani durch ihre öffentlichen Auftritte, ihre Sprache und die Atmosphäre, die sie mit den ihnen eigenen Ausdrucksformen verbreiteten: den Festen auf der Piazza, den spontanen Darbietungen, den Wandmalereien, der Ironie und der Unsinnspoesie. Offensichtlichstes Zeichen ihrer ›metropolitanen‹ Existenz sind die Graffiti33 und Murales oder besser »Immurales«34 überall in der Stadt. Als Medium funktionieren die von SprayKalligraphien übersäten Häuserwände in gewisser Weise ähnlich wie Radio Alice. Die Wände sind einer Spontaneität der Beschriftung überlassen: ein offener Raum, der keinen privilegierten Diskurs zuläßt, der Aufmerksamkeit und kommunitäre Teilnahme auf sich zieht und ständig die Möglichkeit zur Replik bietet. Graffiti vermehren sich. Zwei verbreiten eine Epidemie. Durch Ergänzungen, Einfügungen und Übermalungen entstehen ganze Anthologien von Texten und Kommentaren, Dialoge, die von einem Haus zum anderen laufen, eine Multiplizierung der Stimmen: die Schriftzeichen überlagern sich, werden durch andere ausgelegt, ihr Sinn wird in sein Gegenteil verkehrt oder geht gänzlich verloren. Etwa wenn die Forderung nach der Freilassung von Degli Occhi »Degli Occhi libero« durch die Paraphrase »Marini stopper« zu einer Meldung aus der Welt des Fußballs verkommt. Oder wenn die ursprüngliche Botschaft »Fuan« (Abkürzung für die Studentenorganisation der Neofaschisten) von zweiter Hand in »Va Fuan c . .« (Va fa’ n culo: Leck mich am Arsch) korrigiert wird, jemand dritter mit gespielter Entrüstung »Vergogna, leggono anche i bambini!« (Schämt euch, das lesen auch die Kinder!) hinzufügt und schließlich ein vierter sarkastisch kommentiert: »Buoni, i bambini« (Brave Kinder).35 Im Gegensatz zu den Graffiti behandeln die Wandmalereien36 fast immer politische Themen. Geprägt von einer figurativen Naivität erinnern sie an Murales ethnischer Gruppen in den Ghettos der Weltstädte. Die Graffiti sind offensiver, radikaler. Natürlich haben viele von ihnen einen Sinn, wollen eine Botschaft vermitteln. Man findet auch klassische propagandistische Parolen, aber oft in extrem zugespitzter Form: »LAVORO ZERO E REDDITO INTERO / TUTTA LA PRODUZIONE ALL’AUTOMAZIONE« (Nullarbeit bei vollem Lohn, die ganze Produktion in Automation). Manche Schriftzüge spielen mit einer eigentümlichen Selbstreferenz. Sie sind verspielt, bestehen durch minimale Behauptung: »QUESTA SCRITTA È BLEU« (diese Aufschrift ist blau). Ein anderer Graffito lebt von seiner bloßen Entschlossenheit: »VOGLIO FARE UNA SCRITTA« (ich will etwas schreiben). Am interessantesten jedoch sind jene Graffiti, denen es gelingt, die üblichen Sinnzusammenhänge durcheinanderzubringen. Eher absurd als ironisch, wollen sie das städ33 »die häufig mehr durch ihre Plazierung als durch ihren Inhalt enthüllen: die Anarchisten wählen gewöhnlich Türen, die Marxisten Mauern, die Situationisten Schaufenster oder Bilder (Plakate, Malereien usw.)«, Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren . . ., Berlin 1978, S. 65. 34 Der Ausdruck stammt von Giorgio Celli, La scienza del comico, Bologna 1982, S. 25. 35 Die Beispiele stammen aus dem Artikel »Una mano di bianco cancellerà la ›cultura‹-spray«, in: Il Resto del Carlino, Bologna, 11. Juni 1977, S. 1. 36 Viele der Graffiti und Wandgemälde sind abgebildet in: Egeria Di Nallo, Indiani in Città, Bologna 1977.

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tische Signalsystem kurzschließen, die Ordnung der Zeichen stören. Ihr Angriff auf die Funktionalität der Zeichen ist von einem Zurücktreten des Inhalts begleitet.37 Die Wort­ ensembles, in denen doch ihre Vorgeschichte noch anklingt, verweigern die Auskunft, so als sei die Vernunft – oder die ›Logik der Politischen Ökonomie‹ – unbrauchbar und vergeblich geworden: »dopo Marx, Aprile«, »dopo Mao, Giugno« (nach Marx, April / nach Mao, Juni). Oft kommt das poetische Vergnügen aus einer Verletzung der fundamentalen Gesetze der menschlichen Sprache. Sie verliert ihren referentiellen Status, um sich als unsichere Sprache, als Schriftzeichen und manchmal als reiner Graphismus ins Spiel zu bringen. »Die Mauern der Stadt ähneln immer mehr einem Bild von Cy Twombly«, schrieb Umberto Eco.38 Damit führt er nicht nur die Differenz zu den üblichen politischen Wandinschriften vor Augen, sondern markiert eine bestehende kulturelle Kluft. In der Tat entzündet sich die Rebellion der Indiani Metropolitani gegen die soziale Ordnung der ›Bleichgesichter‹ an den traditionellen Formen der Politik. Politik ist für die Indiani immer eine verwerfliche Angelegenheit. Gelangweilt von den öffentlichen Gemeinplätzen und müde, die Phraseologie des ideologischen Jargons zu wiederholen, suchen sie gegen den herrschenden politischen und kulturellen Konsens zu verstoßen. Ihrem mangelnden Vertrauen in die radikale Rhetorik entspricht der Wunsch zu provozieren, zu überraschen und zu verblüffen. Allein ihre Anwesenheit genügt, um ›ernsthafte‹ politische Kundgebungen in Happenings mit Gesängen, Tänzen und anderen für diese seriösen Anlässe ungewohnten Ausdrucksformen zu verwandeln. Gegenüber der Ernsthaftigkeit der Politik, ihrer Vernünftigkeit und ihrem falschen historischen Pathos setzen die Indiani auf die Verspottung und die ständige Verkehrung der Wahrheit, um auch die andere Seite der Realität, jene immer versteckte und verborgene sichtbar zu machen. Und vor allem behandeln die Indiani die Sprache als »eine Wissenschaft imaginärer Lösungen«39. So konnte man in vielen Versammlungen jener Zeit, an denen sie unfähig waren, mit ›vernünftigen‹ Reden teilzunehmen, ihre absurden und paradoxen Slogans hören. Berühmt wurde ihre Angewohnheit, sogenannte unsachliche, unrealistische Forderungen so zu überdrehen, daß einem derartigen Urteil der Boden entzogen war: »Più centrali nucleari / meno case popolari« (Mehr Atomkraftwerke / weniger Sozialwohnungen). Die Indiani proklamieren, was die öffentliche Meinung für unmöglich hält. Sie sind imstande, sarkastische Bilder von komplexen politischen Problemen zu zeichnen und die Betrachter zu zwingen, sie in einem neuen Licht zu sehen. Ironie und Selbstironie sind ihnen nicht Geste der Überlegenheit, sondern eine Form des Kampfes: »Le Radio libere sono un’illusione / tutto il potere alla televisione« (Die freien Radios sind eine Illusion / alle Macht dem Fernsehen). Von sich selbst behaupten die Indiani, so aufsässig zu sein, weil sie als Kinder zu wenig geschlagen wurden: »Abbiamo preso poche botte da bambini.« 37 Vgl. den Essay von Baudrillard über die Graffiti von New York, die diese ›Sinnentleerung‹ in extremistischer Weise vollziehen; Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, a. a. O., S. 19–38; zu den italienischen Graffiti vgl. auch Cesare Garelli, Il linguaggio murale, Mailand 1978. 38 Umberto Eco, »Come parlano i ›nuovi barbari‹«, a. a. O., S. 55. 39 Maurizio Torrealta, »Painted Politics«, in: Semiotext(e), Nr. 9, 1980, S. 102.

Gelangweilt von den öffentlichen Gemeinplätzen

Murales oder besser »Immurales« überall in der Stadt

Nullarbeit bei vollem Lohn, die ganze Produktion in Automation

ich will etwas schreiben

nach Marx, April

nach Mao, Juni

verhöhnung

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Die Ironie kommt durch Verkürzungen und Kurzschlüsse sehr schnell zu dem, was sie sagen will, und sagt Dinge, die sonst nur auf komplizierte Weise auszusprechen sind. Sie lebt von der kurzen Distanz zwischen der Phase der doxa, der Meinung, und der Phase der paradoxa, dem Bestreiten. Wie ungewöhnlich aber dieses ironische Spiel im Rahmen herkömmlicher politischer Vorstellungen war und auf welch globales Unverständnis es stieß, berichtet Umberto Eco:40 Bei einer Demonstration skandierten die Studenten »Gui e Tanassi sono innocenti / siamo noi i veri delinquenti« (Gui und Tanassi sind unschuldig / wir sind die wahren Verbrecher), um gegen die Immunität dieser beiden in einen Bestechungsskandal verwickelten Politiker zu protestieren. Darauf antwortete eine Gruppe von Arbeitern, die sich mit den Studenten solidarisierten und deren Slogan aufnahmen, aber in ihr gewohntes Verständnis der Wirklichkeit rückübersetzten: »Gui e Tanassi sono delinquenti / gli studenti sono innocenti« (Gui und Tanassi sind Verbrecher / die Studenten sind unschuldig). Die Realität war wieder zurechtgerückt. Ein anderes beliebtes Verfahren, das man auch bei den Graffiti findet, ist das Umfunktionieren der Werbung. Die Werbung wird immer mehr zu einem kulturellen Bezugspunkt. Sie installiert sprachliche Modelle und Stile, denen sich die Politik – denn sie hat ebenfalls etwas an den Mann zu bringen – zunehmend weniger entziehen kann. Ins Absurde getrieben wird der ›Realismus‹ der Werbung durch die explizite Wiederverwendung ihres Sprachmaterials an deplazierten Orten: »Bevo Jägermeister perchè a Seveso c’è la diossina« (Ich trinke Jägermeister, weil Seveso voller Dioxin ist). Abgesehen vom Sachverhalt und seiner ironischen Banalisierung beruht die Irritation, die dieser Kalauer hervorruft, auf einer Art Doppelbelichtung. Er ist skandalös nicht nur, weil hier ein anderer Inhalt eingesetzt wird, sondern weil etwas vom Funktionsmechanismus der Werbung sichtbar wird: Obwohl jedermann weiß, daß die Werbung lügt – und sie gewissermaßen zur Bedingung hat, oder zumindest davon ausgehen muß, daß man ihr nicht glaubt –, gelingt es ihr doch, Effekte von Glaubwürdigkeit und Wahrheit zu erzeugen. Die Politik operiert im selben Niemandsland zwischen Mißtrauen und Faszination, zwischen Skepsis und Hoffnung; und es ist genauso unmöglich, über den politischen Jargon in Begriffen von Wahrheit zu urteilen wie über die Sprache der Werbung.41 Schließlich verstehen sich die Indiani Metropolitani auf eine weitere Methode, die Konventionen öffentlicher Kommunikation zu verletzen, nämlich die Herabsetzung von Autoritäten. Von der Verhöhnung bedroht sind jene Personen und Objekte, die Autorität und Respekt beanspruchen, die in irgendeinem Sinn erhaben sind. Denn absolute Macht und totale Lächerlichkeit liegen oft nur eine Handbreit auseinander. Lächerlich gemacht zu werden ist die Angst aller ernsthaften Größen: Ihr Ansehen wird beschädigt, wenn Gelächter erschallt – ihres Status entkleidet, sind sie auf das reduziert, was alle argwöhnen. 40 Umberto Eco, »Come parlano i ›nuovi barbari‹«, a. a. O., S. 55. 41 Umgekehrt wird die Werbesprache oft zur Selbstanpreisung entwendet. Mit der Übertreibung und dem Superlativ als vorherrschendem Tonfall ist diese Eigenwerbung immer ironisch, sie macht sich stets über sich selbst lustig. Etwa wenn das Radiokollektiv verkündet: »Radio Alice è il più grande marxista-leninista della nostra epoca. Essa ha applicato e sviluppato creativamente i principi del marxismo-leninismo.« (Radio Alice ist der größte Marxist-Leninist unserer Epoche. Es hat die Prinzipien des Marxismus-Leninismus schöpferisch angewandt und weiterentwickelt.), in: A/traverso, quaderno 3, Juni 1976, S. 10.

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Und das Lachen ist respektlos und umwerfend: »Viva il compagno Craxi / che picchia i fascisti che scendono dal taxi« (Es lebe der Genosse Craxi / der die Faschisten schlägt, die aus dem Taxi aussteigen). Ist es hier der Nonsense, der lachen macht, so könnte man das folgende Verfahren ›degradierende Verherrlichung‹ nennen: »Zangheri, fratello nostro . . . perdonaci!« (Zangheri, unser Bruder, vergib uns) riefen die Indiani dem kommunistischen Bürgermeister von Bologna nach den Unruhen des März ’77 zu, auf Knien das Gebet der Moslems imitierend. In der ›indianischen‹ Ironie wird der moralische Imperativ institutioneller Codes – Situationen, Rollen, öffentliche Personen – aufgehoben. Quelle des Lachens ist ein Aderlaß des Sinns, eine Zersetzung der dem Sprachgebrauch zugrundeliegenden ideologischen Voraussetzungen, ein Erbrechen des guten Tons. Ein Vorfall soll in diesem Zusammenhang genauer beschrieben werden, weil er so etwas wie eine Sollbruchstelle mit der öffentlichen Ordnung überhaupt und der institutionellen Politik im besonderen darstellt: »An diesen Tag wird man sich in der politischen Geschichte Italiens noch lange erinnern; von diesem Tag an werden sich Bäche von Ansprachen über die neuen Bedürfnisse der jungen Bevölkerungsschichten ergießen; über diesen Tag werden hunderte selbstkritische und reumütige Reden gehalten werden. Einzig die Indiani Metropolitani werden sich still verhalten.«42 Der Hergang ist rasch erzählt. Am 17. Februar 1977 will der kommunistische Gewerkschaftssekretär Luciano Lama, die wichtigste Figur der italienischen Gewerkschaftsführung, auf der seit Tagen besetzten Universität von Rom eine Kundgebung abhalten, um den Studenten die Leviten zu lesen. Tags zuvor hat die studentische Vollversammlung beschlossen, Lama den Zutritt zur Universität nicht zu verwehren und physische Gewalt zu verhindern, aber den Versuch, »die Gewerkschaftslinie an der Universität einzuführen«, jedenfalls zu vereiteln. Es sollte kein sehr ruhmreicher Versuch werden. Und die Gewalttätigkeiten beschränkten sich beileibe nicht nur auf Symbolisches. So als hätten die Indiani Metropolitani die Bedingungen für ein erfolgreiches Verächtlichmachen des Gegners genau studiert43, und die Gewerkschaftsbürokratie nichts anderes im Sinn, als sich unbeliebt zu machen, nahmen die Dinge ihren Lauf. Bereits in aller Früh wird ein mit Lautsprechern ausgerüsteter Lastwagen, der als Rednertribüne vorgesehen ist, auf dem Universitätsgelände postiert. Rundum ziehen mehrere hundert Gewerkschaftskader auf, die unter der Losung »die Universität von den Faschisten zu befreien« dorthin beordert worden sind und für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. Doch noch bevor Lama erscheint, ist die Stimmung bereits aufs äußerste gespannt. Der Ordnungsdienst sieht sich mehr als zehntausend Studenten gegenüber, unter ihnen die Indiani Metropolitani in Kriegsbemalung, mit Plastik-Streitäxten, Luftschlangen, Konfetti – und ihren ironischen Parolen. Dazu muß man wissen, daß sich der Name ›Lama‹ vortrefflich für verschiedene Wortspiele eignet: »L’ama o non L’ama? Non L’ama più nessuno« (Man liebt ihn, man liebt ihn nicht . . .? Es liebt ihn niemand mehr); »Nessuno L’ama« (Kein Lama, oder: Niemand liebt ihn); »I Lama stanno nel Tibet« (Die Lamas gehören nach Tibet); »Attenti: i Lama sputano« 42 Maurizio Torrealta, »Painted Politics«, in: Semiotext(e), Nr. 9, a. a. O., S. 104. 43 und den Aufsatz von Harold Garfinkel, »Conditions of Successful Degradation Ceremonies«, in American Journal of Sociology, 61, 1955/56, S. 420–424, aufmerksam gelesen.

brunelleschi vs. kubismus

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(Vorsicht, Lamas spucken). Auch andere Verballhornungen mit »Dalai Lama« oder »Lama Sabachthani« sind zu hören. Die Slogans richten sich aber nicht nur gegen die Person des Gewerkschaftssekretärs, sondern vor allem gegen das von der PCI unterstützte und von Lama propagierte Austeritätsprogramm der christdemokratischen Regierung. Als dann Lama endlich zu sprechen beginnt, ertönen ironische Gesänge nach der Melodie von Jesus Christ Superstar: »Lama star / Lama star / i sacrifici vogliamo far« (Lama Star / Lama Star / wir wollen Opfer bringen immerdar). Dazu vollführen die Indiani ihre Tänze, schwingen die Spielzeugtomahawks und lassen eine Puppe des Gewerkschaftsführers direkt vor ihm in der Luft baumeln. All das, der beißende Spott, der Sarkasmus der Slogans, die Aggressivität des ironischen Chors und die provokativen Aktionen entfesseln den Zorn des Ordnerdienstes. Es kommt zu ersten Handgemengen und schließlich gehen die Nerven durch: die immer noch symbolische Auseinandersetzung entlädt sich in einem wilden Durcheinander. Die Eskalation der Waffen ist dabei eigenartig. Während die Indiani mit Wasser gefüllte Plastiksäcke werfen, antworten die Gewerkschafter mit Feuerlöschsprays. Zuletzt versprengen die Indiani den stalinistischen Gewerkschaftstrupp und lassen ihn dann unter Hohnrufen und Schmähungen entkommen: »Ti prego Lama non andare via / vogliamo ancora tanta polizia« (Wir bitten dich Lama, geh nicht vorbei / wir wollen noch mehr Polizei)44. Aber – und das ist wichtig – sie übernehmen nicht die Plattform auf dem herrenlos gewordenen Lastwagen und bemächtigen sich auch nicht der Mikrofone. Maurizio Torrealta interpretiert das Geschehen als Zusammenprall zweier Sprachstrategien: das absurde Argument als konstitutives Element jedes Spiels und auf der anderen Seite die politische Sprache, die ihren präzisen Ort hat, von dem aus nur sprechen kann, wer darauf Anspruch hat. Dieser auf die politische Sprache zugeschnittene Ort ist immer ein zentraler Punkt – in diesem Fall der Lastwagen –, der so gelegen ist, daß er die Macht verleiht, mit einem Blick jeden anderen Punkt des Platzes, auf welchem er diese Position einnimmt, zu kontrollieren.45 Ein anderer Interpret, Umberto Eco, nennt als einen der Gründe, die für den Ausgang dieses Ereignisses bestimmend waren, »den Gegensatz zwischen zwei Theater- oder Raumkonzeptionen«. Lama präsentierte sich auf dem Podium »gemäß den Regeln einer frontalen Kommunikation, wie sie für die Raumorganisation der Gewerkschaften und Arbeitermassen typisch ist«, um zu Studenten zu sprechen, die im Gegensatz dazu »andere Versammlungs- und Interaktionsformen entwickelt haben: dezentrale, mobile, scheinbar desorganisierte. Die Studenten haben den Raum in anderer Weise organisiert, und so kam es an jenem Tag in der Universität auch zu einem Zusammenstoß zwischen zwei Konzeptionen der Perspektive – sagen wir: einer nach Brunelleschi und einer kubistischen.«46 Man könnte den Vorfall, wie manche Ereignisse jener Zeit, aber auch unter einer anderen Perspektive betrachten: der Lust am theatralischen Akt, des bloßen gemeinschaftlichen Vergnügens.

44 Dieser Wunsch ging wenig später in Erfüllung: noch am selben Tag wurde die Universität von der Polizei geräumt. Man könnte also von einer self-fullfilling irony sprechen. 45 Maurizio Torrealta, »Painted Politics«, in Semiotext(e), Nr. 9, a. a. O., S. 104. 46 Umberto Eco, »È bastata una fotografia«, in: L’Espresso, Nr. 21, 29. Mai 1977, S. 14; dt.: »Ein Foto«, in: Umberto Eco, Über Gott und die Welt, a. a. O., S. 215 f.

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V. Vieles von dem, was sich während der ersten Monate des Jahres 1977 in den Großstädten Italiens abspielt, trägt karnevaleske Züge. Die Feste auf der Piazza, das Wiederentdecken des Körpers, die Öffnung der Privatsphäre, die stolze Betonung abweichenden Verhaltens, die jugendliche Ausgelassenheit, all das erinnert an den Karneval, wie ihn Michail Bachtin vorgestellt hat: »Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist.«47 Il mondo alla rovescia, die verkehrte Welt des Karnevals schafft die alltägliche ›Ordnung der Dinge‹ ab und erfindet in radikaler Entgrenzung und Verausgabung die Voraussetzungen für ein ›zweites Leben‹, das sich als Fest exzessiv und egalitär verwirklicht. An den Karneval erinnert die Rebellion der Jugendlichen gegen die gesellschaftliche Moral, gegen die Gesetze, Verbote und Beschränkungen des Alltags; ein Aufbegehren, in dem sich immer auch der Wunsch andeutet, die herrschende soziale Ordnung umzustürzen. Die kollektiven Verhaltensweisen und freien Umgangsformen schaffen einen familiär anmutenden zwischenmenschlichen Kontakt, eine gleichsam öffentliche Intimität. Bachtin nennt dies eine »freie, familiäre Beziehung«48, die alles ergreift, die verbotene und tabuisierte Bereiche betritt und eine Aufhebung der sozialen Hierarchie betreibt. Die Karnevalsmenge untergräbt die gesellschaftliche Ordnung, reißt alle hierarchischen Strukturen ein und hebt jegliche Distanz zwischen den Menschen auf. An den Karneval erinnern weiters die spielerischen Ausdrucksformen, die die Jugendbewegung entwickelt hat, und vor allem der Ort der Handlung: Der städtische Raum, diese oder jene Straße, eine Wand, ein Stadtviertel wird durch sie lebendig und wieder zum kollektiven Territorium. Ähnlich dem Karneval – ist er doch zuallererst eine öffentliche Angelegenheit: sein Schauplatz sind die Straßen und Plätze der Stadt. Es ist ein sozialer Ort, an dem in besonders intensiver Weise menschliche Begegnungen stattfinden. Nur auf dem öffentlichen Platz ist auch jene »Familiarisierung«49 möglich, und eine Teilnahme aller am Geschehen. »Der Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Im Karneval sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann handelnde Person. Dem Karneval wird nicht zugeschaut, streng genommen wird er aber auch nicht vorgespielt. Der Karneval wird gelebt«50, heißt es bei Bachtin. Dieses Leben als Spiel, bei dem alle Beteiligten Zuschauer und Spieler zugleich sind, verleiht den ver47 Seine Untersuchungen über den Karneval hat Michail Bachtin vor allem in der großen Rabelais-Studie François Rabelais und die Volkskultur des Mittelalters und der Renaissance, Moskau 1965, dargelegt (engl.: Mikhail Bakhtin, Rabelais and His World, Cambridge/Mass. 1968). Die folgenden Zitate sind einer schmalen dt. Auswahl entnommen: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, a. a. O., hier S. 48. Es gibt eine für das widrige Schicksal dieses großen, aber jahrzehntelang unbekannt gebliebenen russischen Forschers bezeichnende Anekdote: Sein Buch über Goethes Dichtung und Wahrheit war nach langem Hin und Her endlich zur Publikation angenommen, aber eine (deutsche!) Bombe fiel auf das Moskauer Verlagshaus und zerstörte alle Unterlagen. Bachtin hatte zwar einen Durchschlag behalten, aber während des Krieges mangelte es ihm, als passioniertem Raucher, an Zigarettenpapier. Neun Zehntel des Manuskripts gingen in Rauch auf – aber Bachtin hatte von hinten angefangen, und so blieben die ersten Seiten dieser Arbeit erhalten. Vgl. Katerina Clark / Michael Holquist, Michail Bakhtin, Cambridge/Mass. 1984, S. 273. 48 Michail Bachti, Literatur und Karneval, a. a. O., S. 49. 49 Ebd., S. 50. 50 Ebd., S. 48.

bestimmte sprachliche und gestische Handlungen

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schütteten Vorstellungen von einem Leben in Freiheit und Gleichheit für kurze Zeit den Schein von Realität. Es macht den Einzelnen frei für die Erfahrungen des Wandels, für die Erfahrung der »Relativität alles Bestehenden«51 und gibt ihm so nicht nur die Vorstellung, sondern auch die lebendige Anschauung einer anderen, besseren Welt. Die utopische Antizipation wird jedoch nicht über die ›Scheinhaftigkeit‹ eines ästhetischen Gebildes ermöglicht, sondern über konkretes, handelndes Spielen. Und an den Karneval erinnert schließlich die schmutzige Sprache und die Strategie der symbolischen Umkehrung52. Da ist einmal das nichtreglementierte Sprechen, das zur gesellschaftlichen und politischen Widerrede wird. Dann aber gibt es bestimmte sprachliche und gestische Handlungen, Akte expressiven Verhaltens, die die allgemein gültigen kulturellen Codes53 in Abrede stellen, sie unterlaufen oder umkehren. Dazu gehören insbesondere die Ironie, die Parodie und das Paradox, die Profanisierung des Erhabenen, die Angriffe auf die Etikette, die karnevalistischen Ruchlosigkeiten und die Herabwürdigung von Autoritäten, die unanständigen Reden und die obszönen Gesten. Gerade auf der Ebene des symbolischen Ausdrucks gibt es viele Gemeinsamkeiten; frappierend ist etwa die Analogie zu den Ausdrucksformen mittelalterlicher Karnevalsfeste54 bei der Vertreibung Lamas von der Universität: das satirische Mittel der Karnevalspuppe, das spielerische Schwertschwingen, der Einsatz lärmender, mißtönender Instrumente wie Schellen, Pfeifen und Trommeln, schließlich die Austreibung des gesellschaftlich Bösen durch Hohn, Spott und Lachen. Wenn Bachtin vom Karneval sagt, »es begann eine andere Wahrheit zu tönen: lachend, närrisch, unziemend, fluchend, parodierend, travestierend«55, so trifft dies in gewisser Weise auch auf die Praxis der subversiven Kommunikation zu: Die ›offizielle Wahrheit‹ wird auf den Kopf gestellt, indem man sie der Lächerlichkeit preisgibt, sie in ihr Gegenteil verkehrt und ihr andere Wahrheiten entgegensetzt.

51 Ebd., S. 51; vgl. auch S. 27. 52 Vgl. Barbara A. Babcock (Hrsg.), The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society, Ithaca 1978. 53 Peter Burke verweist im Zusammenhang mit dem Karneval auf den Begriff des ›Code-Wechsels‹; Peter Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 217. 54 Eine präzise Analyse der Symbolsprache des Karnevals findet sich bei Emmanuel Le Roy Ladurie, Karneval in Romans, Stuttgart 1982, S. 309 ff. und S. 316 ff. 55 Michail Bachtin, Literatur und Karneval, a. a. O., S. 39.

die Profanisierung des Erhabenen, die Angriffe auf die Etikette

die karnevalistischen Ruchlosigkeiten und die Herabwürdigung von Autoritäten

die unanständigen Reden und die obszönen Gesten

die Austreibung des gesellschaftlich Bösen durch Hohn, Spott und Lachen

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Vertraute Szenen, Bologna 1977. Aber es gab schon in früheren Jahren Vorboten dieser ›Karnevalisierung‹. 1975 brach in Rom zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder der Karneval aus – ungestüm, gewalttätig und zügellos. Seine Protagonisten fielen aus den Vororten und von der äußersten Peripherie in die reichen Straßen des Zentrums ein. Als Araber und Politiker maskiert, als Frauen verkleidet und in Priestergewändern tanzten und feierten sie drei Tage und drei Nächte in den Straßen der Stadt. Anstößigkeit und offene Aggressivität kennzeichneten das Geschehen.56 Die allgemeine Irritation über diese unvorhersehbare und bedrohliche Wiedergeburt des volkstümlichen Festes war groß, nicht zuletzt deshalb, weil der Karneval jetzt die in Wiederholungen erschöpfte Bilderwelt seiner modernen Versionen mit ihrer Mondänität und gleichzeitigen Domestiziertheit weit hinter sich ließ. Der Karneval war also plötzlich wieder da, als Fest der Krise und gegen die Krise. Nicht von ungefähr fand er in der Jugendbewegung ein fruchtbares Terrain: In ihr verbanden sich beide Aspekte des Karnevals, der des Spiels, des Festes und des Lachens – und jener andere der Aufsässigkeit und Rebellion gegen das Bestehende.57 »Riprendiamoci la festa« (Eignen wir uns das Fest wieder an), »Dissolutezza sfrenatezza festa«58 (Liederlichkeit Zügellosigkeit Fest), so und ähnlich lauteten ihre Parolen. Die Grenze zwischen Fest und Tumult hörte auf zu bestehen. Treffend sprach denn auch der Corriere della Sera von einer »Jacquerie«59, um die gewaltsamen Ausschreitungen vor der Mailänder Scala am 7. Dezember 1976 zu charakterisieren: als Entladung des Zorns der Jugendlichen gegen eine prunksüchtige Bourgeoisie, die an jenem Abend die Saisoneröffnung feiern wollte.60 Aber auch wenn die Jugendbewegung oft in eine »Mechanik der Jacquerie«61 verfiel, wie Eco das nannte, in eine Revolte bar jeder Theorie oder realistischen Einschätzung der Kräfte, und nur spontanen Impulsen folgend sich selbst zu verwirklichen suchte, so war sie doch nicht auf reinen Aktionismus beschränkt. Das Fest als kommunitäres Projekt und als utopisches Ereignis stand gerade in Bologna, dem Zentrum der ala creativa, des kreativen Flügels der italienischen Jugendbewegung, immer im Mittelpunkt der spontanen Massenaktionen. Die theatralischen Elemente, die hier die Manifestationen prägten, die phantasie56 Vgl. Annabella Rossi / Roberto de Simone, Carnevale si chiamava Vincenzo, Rom 1977, S. 13. 57 Es gibt grundsätzlich gegenläufige Interpretationen des Karnevals: Die eine betont seine konservative Zielsetzung, nämlich die Kanalisierung von Unzufriedenheit; etwa Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Ithaca 1977, bes. Kap. 3–5. Die andere, eher bachtinsche, sieht den Karneval als Quelle von Befreiung, Zerstörung und Erneuerung; vgl. dazu Natalie Zemon Davis, »The Reasons of Misrule: Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France«, in: Past and Present, 50, 1971, S. 54 ff. (wiederabgedruckt in: dies., Society and Culture in Early Modern France, Stanford 1975, S. 101 ff.); aus der mittlerweile unüberschaubar gewordenen Literatur zu Bachtin sei hier nur ein Aufsatz genannt, der die subversive Perspektive betont, unter der Bachtin den Karneval betrachtet: Julia Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375, bes. S. 361 ff.; gekürzt in: Alternative, Nr. 62/63, Dez. 1968, S. 199–205. 58 A/traverso, April 1975, S. 1. 59 Bauernaufstand 1358 im Norden von Paris; von ›Jacques Bonhomme‹, dem Spottnamen für die Bauern. Der Bologneser Stamm der ›Indiani Metropolitani‹ griff diesen Vergleich des Corriere auf und nannte sich ›Il Collettivo Jacquerie‹; vgl. Autori Molti Compagni, Bologna Marzo 1977 . . . fatti nostri . . ., a. a. O., S. 159–164. Zum karnevalistischen Ursprung der Jacquerie vgl. die Hinweise von Alessandro Fontana, »La scena«, in: Storia d’Italia, Bd. I (Caratteri Originali), Turin 1972, S. 157. 60 Vgl. Maurizio Torrealta, »Painted Politics«, in: Semiotext(e), Nr. 9, a. a. O., S. 157. 61 Umberto Eco, »No, perdio, non mi suicido«, in: L’Espresso, Nr. 17, 1. Mai 1977, S. 59.

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vollen Slogans, der Gebrauch von Musikinstrumenten, das mimetische Verhalten und die kleinen dramatischen Situationen während der Demonstrationen, die Kostümierungen und die Masken zeugen davon. Gewiß hat diese Betonung des Spielerischen damit zu tun, daß in Bologna seit Jahren eine ›praktische‹ Forschung über das Fest und den Karneval betrieben wurde. Ausgehend vom dortigen Theaterinstitut DAMS (Discipline Arte Musica Spettacolo)62 entfernte sich das Unternehmen, an dem Giuliano Scabia wesentlichen Anteil hatte,63 immer mehr von der ›Institution‹ Theater. Es wandte sich vom geschlossenen Raum des Theaters ab und suchte Kontakt mit der Stadt und ihrer Bevölkerung, um ursprüngliche und elementare Kommunikationsformen wiederzufinden oder neu zu entdecken. Spektakulären Höhepunkt dieser Versuche sollte dann das Wiederaufleben des Venezianischen Karnevals darstellen: »Seit einigen Jahren sind wir, zuerst nur wenige Leute, dann aber immer mehr, zum Ursprung des Karnevals zurückgekehrt.«64 Viele von denen, die an der Jugendbewegung teilgenommen, mit neuen kommunikativen Möglichkeiten experimentiert und einen »Prozeß der Rekarnevalisierung«65 vorangetrieben hatten, trafen sich wie auf eine geheime Verabredung hin 1980 beim venezianischen Karneval. »Die Spielformen der Bühne vermischen sich mit denen eines historischen, lange vergessenen, nun wiedergefundenen Festes (. . .) Man konnte in diesen Tagen tatsächlich aus der Zeit fallen, die Realität schien für ungültig erklärt. Alles geriet in den Sog von Spiel, Illusion, Verzauberung . . .«, heißt es überschwenglich im Bericht eines deutschen Besuchers.66 Kaum wiederentstanden jedoch, verkam der Karneval von Venedig zu einer monströsen Fremdenverkehrsattraktion. Seine kulturpolitische Funktionalisierung führte zu einer fortschreitenden Ablösung von den archaischen Grundlagen des Festes: sein kritischer, subversiver Gehalt wurde immer dünner, immer irrealer.67 Der aufsässige Ton verlor sich in den armseligen Vergnügungen, die eine Freizeitindustrie bereitzustellen gewillt ist. In ihren Händen besteht keine Gefahr, daß die so behütete öffentliche Ordnung durch einen unkontrollierten Ausbruch des Karnevals bedroht wird, noch durch seine einstige Tendenz, sich per tutta la durata dell’anno auszuweiten. Denn da »klirrt nicht die Schellenkappe des Narren, sondern der Schlüsselbund der kapitalistischen Vernunft«68. 62 Vgl. »Le istituzioni: il ›dams‹ tra realtà culturale e sociale«, in: tra, Nr. 3, Jan./Feb. 1978, S. 23–31. 63 Vgl. etwa Marco De Marinis, »La società delle feste. Utopia festiva e ricerca teatrale«, in: Il Verri, Nr. 6, Juni 1977, S. 23–67, bes. S. 62 f. Der Drache auf Seite 128 entstand in einem Projekt Giuliano Scabias mit seinen Studenten. 64 Giuliano Scabia, »Il racconto delle maschere«, in: Fabio Santagiuliana, Venezia. I Giorni Delle Maschere, Udine 1980, unpag.; vgl. auch den offiziellen Katalog. La Biennale di Venezia (Hrsg.), Carnevale del Teatro, Venedig 1980. 65 Wolfgang Greisenegger, »Die Lust der Verwandlung. Venezianische Maskerade«, in: Parnass, Sonderheft 1, 1984, S. 90. 66 Peter Iden, »Die Stadt ist Szene. Venezianischer Theaterkarneval«, in: Theater Heute, Heft 4, April 1980, S. 20. 67 Peter Burke berichtet von frühen Versuchen, den venezianischen Karneval schicklicher zu gestalten, und zwar durch Kommerzialisierung. Ende des 17. Jahrhunderts sollen bei einem Karneval mehr als 30 000 ausländische ›Touristen‹ anwesend gewesen sein. Peter Burke, »Karneval in Venedig«, in: ders., Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berlin 1987, S. 152 f. 68 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 170.

gegen eine prunksüchtige Bourgeoisie

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VI. Radio Alice war organisch mit den Echos der mehr oder weniger bedeutsamen Ereignisse verbunden, in denen die Jugendbewegung die Welt auf den Kopf zu stellen versuchte. Derselbe ironische Tonfall war auch vor seinen Mikrofonen präsent, dasselbe Vergnügen an der Parodie, dieselbe herausfordernde Sprache – eine karnevaleske Atmosphäre durchdrang alle Sendungen.69 Die eines »kühlen Karnevals« allerdings, wie Umberto Eco sagen würde,70 denn angesichts der um sich greifenden Ekstase des Subjektivismus versuchte das Kollektiv A/traverso seine unbefangenen analytischen Exerzitien weiterzuführen. Dabei machte man eine bedeutsame Entdeckung: Ausgehend von der auch als Entwendung bekannten Methode der Zweckentfremdung71 wurde das ihr benachbarte Terrain der Fälschung betreten. Die Entwendung stellt eine der markantesten Techniken der symbolischen Inversion dar. Wie beim Judo ist dabei die beste Erwiderung auf ein feindliches Manöver nicht das Zurückweichen, sondern das Ausnützen der gegnerischen Kraft für die eigene Aktion. Als an einer bologneser Hauswand in großen Lettern die Worte ›Radio Alice figli di puttana‹ auftauchten, findet das sogleich begeisterte Zustimmung des Radiokollektivs. Die Beschimpfung wird zum Werbeslogan umfunktioniert: Das alte Plakat von Radio Alice wird mit dem Zusatz »sui muri di Bologna qualcuno ha scritto RADIO ALICE FIGLI DI PUTTANA«72 versehen und neu aufgelegt. Aber das Verfahren der Entwendung dient nicht nur dazu, Angriffe abzuwehren oder den Gegner verächtlich zu machen. Durch willkürliche Umstellung des Kontextes lassen sich ›andere Versionen‹ der Realität erzeugen. In einen anderen Kontext gestellt, kann jedes Wort einen neuen semantischen Wert annehmen, jede Aussage in ihre eigene Widersprüchlichkeit verwickelt, jedes Ereignis gegensätzlichen Interpretationen preisgegeben werden. Wohlgemerkt, nicht um die Einsetzung einer gültigen Wahrheit geht es bei der Verbreitung solch verkehrter Lesarten, vielmehr darum, den ›Willen zur Wahrheit‹ in Frage zu stellen, die Krise der Wahrheit zu vertiefen, ihr Koordinatensystem zu verwirren. So erscheint unter dem Titel »Lamaodada« eine eigenwillige Darstellung der Vorgänge rund um den Auftritt Lamas73 in der Universität Rom: »Rom, 12. Februar. Von unserem Arbeiterkorrespondenten. Die heute morgen von unserem in der Öffentlichkeit als Luciano Lama bekannten Genossen K. M. durchgeführte Aktion hat Wirkungen gezeitigt, die unsere kühnsten Hoffnungen übertroffen haben. Unter Anwendung der klassischen Prinzipien des Maodadaismus ist es K. M., nachdem er sich mit 69 Vom Karneval als ›alternativem Massenmedium‹ spricht übrigens Bob Scribner, »Reformation, Karneval und die ›verkehrte Welt‹«, in: Richard van Dülmen / Norbert Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags, Frankfurt a. M. 1984, S. 143 ff. 70 Vgl. Umberto Eco, »The Frames of Comic ›Freedom‹«, in: Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Carnival!, Berlin/New York/Amsterdam 1984, S. 8. 71 Franz. détournement; es waren die Situationisten, die diesen alten, auch bei den Dadaisten sehr beliebten Kunstgriff zu ihrer Methode erkoren und für seine erneute Verbreitung sorgten. Vgl. Guy-Ernest Debord / Gil J. Wolman, »Gebrauchsanweisung für die Entwendung«, in: Isidore Ducasse (Lautréamont), Poesie, Hamburg 1979, S. 5–15; und René Vienet, »Die Situationisten und die neuen Aktionsformen gegen Politik und Kunst«, in: Situationstische Internationale 1958–1969, Nr. 11, Okt. 1967, Hamburg 1977, S. 279–284. 72 »Jemand hat auf die Mauern von Bologna RADIO ALICE HURENSÖHNE geschrieben«. 73 Vgl. oben S. 120 f.

RADIO ALICE HURENSÖHNE

Rechts unten das Majakovskij-Zitat lautet: »In den ersten Tagen unserer Revolution ist diese Vergeß­ lichkeit ein ziemlich häufiges Phänomen gewesen. Unsere Revolution hat sich vollzogen, als die Technik sich in einem schrecklichen Zustand befand. (…) Die erste Eisenbahn-Zeitung ist z. B. mit Kreide auf die Außenseite eines Wagens geschrieben worden und ist dann ohne Mitleid weggewischt worden, um die Herausgabe der zweiten Nummer zu sichern. (…) Was bei dieser groben und grammatiklosen Arbeit herausgekommen ist, ist viel interessanter als die schwülstigen Ausarbeitungen der arbeitsscheuen Literaten, die über die Revolution schreiben und dabei weiter in ihren unzugänglichen Stuben hocken.« Wladimir Majakowski, »Sammelt die Geschichte« (Bulletin des Pressebüros Nr. 16, Moskau 1923, 3. März), in: ders., Werke Bd. 5, a. a. O., S. 107 f.; es gibt noch ein Zitat auf diesem Plakat, und zwar aus dem Ersten Manifest des Surrealismus (1924): »Es ist wahrlich nicht die Angst vor dem Wahnsinn, die uns zwingen könnte, die Fahne der Imagination auf Halbmast zu setzten.«

hat jemand auf die Mauern von Bologna geschrieben

mao-dadaismus

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Geschick und Ausdauer in die höchsten Machtzentren der Gewerkschaft eingeschlichen hat, mit beachtlichem Erfolg gelungen, den Feind in die von uns gestellte Falle zu locken. Von langer Hand vorbereitet, hat K. M. den wahnwitzigen und utopischen Charakter des Projekts demaskiert und zum Platzen gebracht, das auf die Schaffung eines allgemeinen Konsenses bezüglich der teuflischen Einsparungsvorschläge abzielte; indem er in einer besetzten Universität mit Vorschlägen und Thesen aufgewartet hat, die wohl geeigneter für einen Fernsehauftritt gewesen wären, hat unser Mann in eindeutiger Weise den totalen Antagonismus zwischen den Interessen der Gewerkschaft und denen der Jugendbewegung aufgedeckt. (. . .) Ohne die Verdienste und Qualitäten der von unseren Agenten bereits in der Vergangenheit durchgeführten Operationen schmälern zu wollen (siehe das maodadaistische Treffen zwischen Paul VI. und Argan), können wir doch sagen, daß diese jüngste Aktion demgegenüber einen gewaltigen qualitativen Sprung darstellt.«74

Von der ohnehin grotesken Situation wird durch nochmalige Steigerung ein absurdes Bild entworfen, indem der Wirklichkeit eine maodadaistische Logik unterschoben wird. Und Giulio Argan, der Kunsthistoriker und kommunistische Bürgermeister von Rom, erscheint wie Buster Keaton in seinen besten Tagen, wenn die als Besiegelung des Historischen Kompromisses inszenierte Begegnung mit dem Papst in einen dadaistischen Akt umgedeutet wird.75 Begonnen haben die maodadaistischen Aktionen mit fingierten Telefonaten von Radio Alice. McLuhan76 zufolge ist das Telefon ein »unwiderstehlicher Eindringling«. Etwas anderes zu tun, als ein beharrlich läutendes Telefon abzuheben bedeutet eben, daß man riskiert, ein wichtiges Gespräch zu versäumen. Dazu kommt, daß die ›Telefon-Etikette‹ tatsächliche Eindringlinge begünstigt: Erkennungszeichen und Statussymbole sind per Telefon schwierig zu kommunizieren, weil die Wiedergabetreue des Telefons sehr gering und damit auch die Möglichkeit des Hörers eingeschränkt ist, den Anrufer zu identifizieren. »Am Telefon wirkt nur die Autorität des Wissens«, schreibt McLuhan77, und D. W. Ball78 74 »Roma, 17 febbraio. Dal nostro corrispondente operaio. L’azione compiuta questa mattina dal nostro compagno K. M., conosciuto pubblicamente come Luciano Lama, ha sortito un effetto superiore alle più rosee previsioni. Secondo i classici principi del Maodadaismo, K. M., abilmente e pazientemente inseritosi nelle più alte sfere del comando del sindacato, è riuscito con notevole successo a far cadere il nemico nella trappola che gli avevamo teso. Come si era precentemente stabilito, K. M. ha portato all’esplosione e allo smascheramento la natura delirante e utopistica del progetto teso a creare il consenso intorno alla diabolica proposta dei sacrifici; venendo a proporre all’interno di un’università occupata formule e tematiche più adatte a un discorso televisivo, il Nostro evidenziava macroscopicamente il totale antagonismo fra interessi sindacali e interessi del movimento. (. . .) Quest’azione rappresenta un salto di qualità enorme rispetto a quelle pure pregevoli e qualificate compiute dai nostri agenti in passato (vedi incontro maodada fra Paolo VI e Argan).« aus: Finalmente il cielo è caduto sulla terra: La rivoluzione, Nr. 1, 7. März 1977, S. 4; (diese Wochenzeitschrift entstand in Zusammenarbeit zwischen A/traverso, Bologna, und Zut, Rom; bis zu ihrem Verbot konnten gerade drei Ausgaben erscheinen). 75 Zum Begriff der Umdeutung vgl. das Kapitel »Die sanfte Kunst des Umdeutens«, in: Paul Watzlawick / John H. Weakland / Richard Fisch, Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern/Stuttgart/Wien 2 1979, S. 116–134. 76 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, a. a. O., S. 268. 77 Ebd., S. 264. 78 Donald W. Ball, »Toward a Sociology of Telephones and Telephoners«, in: Marcello Truzzi (Hrsg.), Sociology and Everyday Life, New York 1968, S. 65 ff. Vgl. auch Emanuel A. Schegloff, »Identification and Recognition in Telephone Conversation Openings«, in: George Psathas (Hrsg.), Everyday Language. Studies in Ethnomethodology, New York 1979, S. 23–88.

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nennt das Telefon ein strategisches Instrument gegen jene, die gewöhnlich unerreichbar sind: Es betreibt eine ›Familiarisierung‹ durch Erosion von Hierarchien und Autorität. Diesen Umstand machte sich Radio Alice zunutze für direkt übertragene Telefonate an verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Einer der gelungensten war ein frühmorgendlicher Anruf beim damaligen Ministerpräsidenten Andreotti. Der Sprecher gab vor, Gianni Agnelli, der einflußreiche Fiat-Präsident zu sein, beschwerte sich über die Disziplinlosigkeiten seiner Arbeiter und verlangte sofortige staatliche Abhilfe, die ihm der schlaftrunkene Andreotti auch gewähren wollte, bevor er das böse Spiel durchschaute. Die Methode freilich nützte sich schnell ab. Je öfter solche Telefonate – dann auch von anderen freien Radios – versucht wurden, umso schwieriger waren die gewünschten Personen überhaupt zu sprechen; und schließlich sah sich Radio Alice selbst mit ›indianischen‹ Anrufen konfrontiert. Aber: »IL MAO DADAISMO PROPONE DI FARE LE COSE IN GRANDE« – der MaoDadaismus empfiehlt, die Sachen in großem Maßstab zu machen79. An einem bestimmten Punkt wurde also die Formel Informazioni false che producano eventi veri gefunden: »Jetzt gehen wir einen Schritt weiter. Es genügt nicht, die Unwahrheiten der Macht zu denunzieren; man muß auch die Wahrheit der Macht denunzieren und sie zerstören. (. . .) Den Wahn der Macht enthüllen. Aber nicht nur. Man muß den Platz der Macht einnehmen, mit ihrer Stimme sprechen. Zeichen mit der Stimme und dem Tonfall der Macht verbreiten. Aber falsche Zeichen.«80

Diese Formel von den falschen Informationen, die wahre Ereignisse schaffen sollen, geht nicht nur über die eifrigen Bemühungen der Gegeninformation und die von Radio Alice forcierte subjektivistische Information entscheidend hinaus. Sie läßt auch die sophistischen81 Operationen der Ironie, der Parodie und des Paradoxons hinter sich. Wenn die Indiani Metropolitani von den Gewerkschaften längere Arbeitszeiten und niedrigere Löhne verlangen, wollen sie ihr Gegenüber herausfordern, mit ihm scherzen oder dribbeln, wie man im Fußball sagt, und den Gegner schließlich mit einer Körpertäuschung zu Fall bringen. Übertölpeln mit einem Wort. Was auch geschah, als eine humorlose Gewerkschaftsführung sich im ideologisch-verbalen Duell dazu hinreißen ließ, das auszusprechen, was sie vielleicht wirklich dachte, und die Jugendlichen »Faschisten« nannte – schlimmste Beleidigung in der italienischen Linken. Es genügte also ein kleiner Akt der Entwendung, damit der Gegner sich ungewollt demaskierte: Wie immer will der Sophist nicht recht bekommen, er will den anderen provozieren, zum Sprechen bringen, ihn zur Polemik auffordern, zum Krieg der Worte.

79 A/traverso, Dez. 1976, S. 1. 80 »Ora andiamo oltre. Non basta denunciare il falso del potere; occorre denunciare e rompere il vero del potere. (. . .) / Portare allo scoperto la deliranza del potere. Ma non solo. Occorre prendere il posto del potere, parlare con la sua voce. Emettere segni con la voce e il tono del potere. Ma segni falsi.«, »informazioni false che producano eventi veri«, in: A/traverso, Feb. 1977, S. 1. 81 Diogenes aber, der Kyniker, der ›Hund‹ also, mußte seine Vaterstadt Sinope verlassen, weil sein Vater Münzen gefälscht haben soll; vgl. Klaus Heinrich, »Antike Kyniker und der Zynismus der Gegenwart«, in: Das Argument, Nr. 37, 1966, S. 108.

Es wurden mehrere ganz vortreffliche Fälschungen in Umlauf gebracht

›4000 Menschen wurden 1976 bei der Arbeit umgebracht.‹

falsche informationen – wahre ereignisse

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Jetzt aber schlägt das Kollektiv A/traverso vor, falsche Informationen, Falschmeldungen also zu verbreiten, die »tatsächliche Ereignisse provozieren«. Was ist unter dieser Formel zu verstehen?82 Einmal, Informationen mit einer täuschend ähnlich nachgemachten offiziellen Signatur in Umlauf zu bringen, wobei alles darauf berechnet ist, daß der Empfänger sie fälschlicherweise zunächst für amtliche Mitteilungen hält. Zugleich aber betreiben diese gefälschten Zeichen ihre eigene Aufdeckung, denn es ist ja gerade ihre Absicht und ihr ausdrückliches Ziel, früher oder später als solche erkannt zu werden. Daraus ergeben sich zweierlei Wirkungen: eine ganz unmittelbare, ironische noch, die sich meist in Gelächter ausdrückt, wenn die Fälschung entdeckt wird. Die andere, viel weitreichendere Wirkung besteht in der Diskreditierung der offiziellen Sprache. Das ist das eigentliche Ereignis83, welches die Falschmeldungen erzeugen sollen. Sie zersetzen den Anschein von Objektivität und Natürlichkeit, den sich diese Sprache zu geben versucht, enthüllen ihre Subjektivität, also Willkürlichkeit und stellen so ihre Wahrheit radikal in Frage. Nicht so sehr, indem sie ihr eine Unwahrheit entgegensetzen, sondern indem sie einen Mechanismus des Schlitterns in Gang setzen, durch den die Glaubwürdigkeit offizieller Äußerungen insgesamt untergraben wird: In einem ersten Schritt wird etwas, das kraft seiner Signatur, seiner Legitimität wahr zu sein scheint, in Zweifel gezogen; es könnte trotz stimmiger Signatur unwahr sein – wie die falschen Informationen beweisen, wenn sie sich präzise auf die erforderlichen Codes einstimmen. Und sofort dehnt sich das einmal entstandene Mißtrauen auf eine ganze Reihe bisher vertrauter Wahrheiten aus. Besonders anfällig dafür ist die Sprache der Politik. Denn sie agiert nach dem »Prinzip der kommunikativen Kooperation«84, demzufolge ihr Sinn nicht ausschließlich auf einen ideologischen Inhalt, den sie darlegt, beschränkt werden kann, sondern vielmehr gerade darin liegt, ein Vertrauensverhältnis zu etablieren. Die politische Sprache sucht nach einer Art Kredit. Sie tut so, als wäre sie das Resultat eines Waffenstillstandes: Ihre Wahrheit hängt von der Existenz der Nicht-Wahrheit ab, die die Opposition ausspricht. Entsprechend sind in diesem Vertrauensverhältnis nur zwei Variablen gegenwärtig, die Möglichkeit der Zustimmung und die der Ablehnung. Zwischen Konsens und Dissens aber öffnet sich ein weites Feld für das, was man Momente ausgesprochenen Mißtrauens nennen könnte. Dies ist ein ideales Gelände für die Fälschung. Die Falschmeldungen erlauben weder Zustimmung noch Ablehnung. Sie höhlen das Vertrauensverhältnis aus, welches die Politik – und dasselbe gilt von den Massenmedien – zu installieren versucht. Als offenkundige und für jeden erkennbare Fälschungen wollen sie den Eindruck erwecken, doch nichts anderes zu sein als Teil jener Ansammlung von unzähligen Unwahrheiten, die das Informationssystem ausmachen.85 Dann aber ist die einzig mögliche, weil angemessene Haltung die einer 82 Vgl. auch – wenn möglich – Piero Lo Sardo / Angelo Pasquini, Notizie false che provocano eventi veri, Turin 1976. 83 Es handelt sich also nicht um so handgreifliche Effekte falscher Information wie jene, die in Prag 1968 entstanden, als die Bevölkerung alle Straßenschilder entfernte oder vertauschte, um die sowjetischen Invasoren mit einem Labyrinth zu konfrontieren. 84 Vgl. Lucrezia Escudero Castagnino, »Remarques pour une pragmatique du discours politique«, in: Tasso Borbé (Hrsg.), Semiotics Unfolding, Berlin/New York/Amsterdam 1984, Bd. 1, S. 479 f. 85 Vgl. die Untersuchung dieses Sachverhalts bei Daniel J. Boorstin, »Vom Sammeln der Nachrichten zum Herstellen von Nachrichten«, in: ders., Das Image oder Was wurde aus dem amerikanischen Traum?, Reinbek 1964, S. 13–44.

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nicht-kooperativen Rezeption86. Es geht also weniger um die Diskreditierung der Politik als vielmehr um die Wiedererweckung kritischer Intelligenz: Derart tritt neben den Unterhaltungswert die erzieherische Funktion der Fälschungen. Um sie zu verbreiten, wurde in der Hauptstadt das CDNA (Centro di diffusione di notizie arbitrarie)87 gegründet. Dieser Club, entstanden mit dem Ziel, »in verschiedenen Bereichen des bürgerlichen Lebens die Willkür zu propagieren«88, rief eine Reihe von äußerst interessanten Initiativen auf dem Gebiet der Information ins Leben, die aber oft mißgedeutet wurden und seine Mitglieder auch mit den bestehenden Gesetzen in Konflikt brachten. Dabei hatten sie nur »in der Fälschung den fruchtbarsten Boden für die poetische Innovation gefunden«89. Es wurden mehrere ganz vortreffliche Fälschungen in Umlauf gebracht. In verschiedenen Städten warteten die Lokalzeitungen mit ungewöhnlichen Nachrichten auf. Eines Morgens etwa erschien der konservative bologneser Il Resto del Carlino mit folgenden Schlagzeilen: »4000 Menschen wurden 1976 bei der Arbeit umgebracht« – »Das Fleisch wird teurer / Lämmer mit Polenta« (Agnelli/›Lämmer‹ ist auch der Name des Fiat-Präsidenten). Oder im Jänner 1976 verteilte eine ›maodadaistische Zelle‹ bei einer großen Kundgebung der Kommunistischen Partei ein von der italienischen Industriellenvereinigung unterzeichnetes Flugblatt, in dem diese ihre Zustimmung und nachgerade Begeisterung für die politische Linie der PCI ausdrückte. Während die eingeschworenen Parteiarbeiter den Text mit vernagelter Befriedigung zur Kenntnis nahmen, erkannten viele einfache Mitglieder die Ironie und konnten sich das Lachen nicht verkneifen.

VII. Den höchsten Grad an Perfektion aber erreichte die Kunst der Fälschung in der Wochenzeitschrift Il Male (Das Böse)90, an deren Entstehen einige Mitglieder des CDNA maßgeblich beteiligt waren. Mit wöchentlich mehr als 100.000 verkauften Exemplaren und einer 86 Noch einmal Goffman, diesmal mit seinem Lieblingsthema, der Spionage, die diese Haltung naturgemäß auf die Spitze treiben muß: »Es liege eine sauber empfangene, leichtverständliche Nachricht vor, in welchem Lichte ist sie zu sehen, welche systematische, Wort für Wort umgehende Umdeutung muß sie erfahren? Hat der Sender wirklich das getan, was er getan zu haben scheint, nämlich eine ernstgemeinte und verläßliche Nachricht gesendet? Oder probiert er nur das Senden aus, oder macht er einen Scherz, oder sendet er eine falsche Nachricht, weil er jetzt für die andere Seite arbeitet, oder sendet er unter vorgehaltener Pistole und versucht das dem Empfänger irgendwie klarzumachen?« Erving Goffman, Strategische Interaktion, München/Wien, 1981, S. 121. 87 ›Zentrum zur Verbreitung willkürlicher Nachrichten‹. 88 Über das CDNA informieren Angelo Pasquini / Piero Lo Sardo / Giga Melik / Mario Canale, »Il vero/falso del ›Male‹«, in: alfabeta, Nr. 15/16, Juli/Aug. 1980, S. 27 f. 89 Ebd. 90 Aber auch ›Übel‹, ›Unglück‹, ›Unheil‹, ›Schaden‹, ›Nachteil‹, ›Ungemach‹, ›Leiden‹, ›Krankheit‹, ›Schmerz‹, ›Weh‹.

Mit wöchentlich mehr als 100.000 verkauften Exemplaren und einer beachtlichen Durchschnittsrate an Beschlagnahmungen

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beachtlichen Durchschnittsrate an Beschlagnahmungen, die übrigens zu einer Anmerkung im Carter-Report über die Menschenrechte führte,91 wurde diese Zeitschrift für politische Satire – wie ihr Untertitel lautet – ein in jeder Hinsicht großer Erfolg. Ihre Redakteure betrachteten die italienische Politik als eine theatralische Szenerie: »Il Male war der Einbruch des Komischen auf der Bühne, die Stimme Arlecchinos, der – aus dem Takt des theatralischen Dialogs gekommen – erklärt, was sich die ›wirklichen Schauspieler‹ auf der Bühne zu sagen haben.«92 Die ›wirklichen Schauspieler‹ des öffentlichen Lebens werden beim Wort genommen, oder besser beim Lapsus, »der die Szene zu erhellen vermochte und dadurch den tiefsten Sinn des Textes«. Zu dieser Erleuchtung bedient sich Il Male der Fälschung. Die Personen und ihre Sprache sind real, aber die Handlung, in der sie auftreten, ist gestellt: »die Fälschung als mögliches Szenario, in dem die Protagonisten fortfahren, sich mit ihren Stereotypien, ihren Ticks und Obsessionen zu bewegen«. Angesichts des 3. Weltkriegs oder der Begegnung mit den Außerirdischen ändert sich nichts an ihrer Sprache. »Die Ordnung ihres Diskurses kann keine Unterbrechungen ertragen, denn es ist eine paranoische Ordnung«. Und ihre Sorge gilt immer der Normalität, auf die sie die abstrusesten – eben gefälschten – Ereignisse zurückführen will. »Es gibt keinen Platz für Erstaunen, Verwunderung oder Bestürzung«. Aber gerade dadurch wird diese Sprache irreal: »Was sinnvolle Aussagen sein sollten, wird zu einer bloßen Sammlung von Lapsus, von unfreiwilligem Humor«. Hier eine kleine Auswahl von Fälschungen, vornehmlich ›Faksimile‹-Titelseiten italienischer Tageszeitungen, mit denen Il Male Furore gemacht hat: Der erste große Erfolg war eine Ausgabe der kommunistischen Tageszeitung l’Unità, in der – am Höhepunkt des Historischen Kompromisses – bekanntgegeben wurde, daß die PCI mit den Christdemokraten gebrochen habe. »Berlinguer vor einer gigantischen Menschenmenge in Genua: Schluß mit der DC« lautete die Schlagzeile, »Sie defilierten 28 Stunden lang. Es waren 7 Millionen« der Untertitel.93 Als der Direktor zeichnete übrigens Harpo, als Co-Direktor Zeppo und als verantwortlicher Direktor Groucho Marx. Dennoch soll die neue Linie selbst in hohen Parteikreisen diskutiert worden sein. Wenig später, kurz vor Weihnachten, erschien eine stupende Extraausgabe des Corriere della Sera.94 »Die Menschheit ist nicht mehr allein im Universum – Von einer fremden Galaxie gelangten sie auf die Erde«, Untertitel: »Gestern um 6.15 (Ortszeit) ist ein Raumschiff auf der Hochebene von Barranca del Cobre in Mexiko gelandet. Mehr als 18 Stunden lang wurde die Nachricht geheimgehalten. Heute früh um 4.37 die Bestätigung durch den Sicherheitsrat der UNO. Ausgangspunkt der Reise dürfte das Sternbild des Schützen sein. Erster Austausch von Botschaften mittels Absonderung von Gerüchen. ›Das ist ein verblüffendes Ereignis. Jetzt beginnt das Zeitalter des galaktischen Friedens‹ hat der Sekretär der Vereinten Nationen Waldheim erklärt. Schweigen der TASS. Strikte Zurückhaltung im Vatikan.« Umberto Eco meldet sich mit dem Kommentar »Wenn Reden Schweigen ist. 91 Ugo Volli, »Mode modi modelli«, a. a. O., S. 153 ff. 92 Vgl. im Folgenden A. Pasquini / P. Lo Sardo / G. Melik / M. Canale, »Il vero/falso del ›Male‹«, a. a. O. 93 Il Male, 1. Jg., Nr. 23, 20. Sept. 1978. 94 Il Male, 1. Jg., Nr. 36, 19. Dez. 1978.

kurz vor Weihnachten erschien eine stupende Extraausgabe des Corriere della Sera

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Der abwesende Marsmensch«95 zu Wort. Auf Seite 2 dann ausführliche Berichte, ein Gedicht von Eugenio Mortale mit dem Titel »Der Himmel«, ein Artikel »Konfuse Reaktionen der italienischen Politiker« und eine kurze Notiz »Im Vatikan erwartet man ein Zeichen des Heiligen Geistes«. Weiters »Zwei Fragen an Michel Foucault«, ein Bericht über eine »Selbstmordwelle in Hollywood«, Todesanzeigen und kleine Annoncen. An die Fälschung muß man glauben können. Und das Gelingen der Täuschung hängt entscheidend von ihrer Originalität ab.96 In diesem Fall beruhte sie auf einem sehr poetischen Aspekt der Fälschung, nämlich der Nostalgie für die Zukunft; im nächsten auf den Befürchtungen der Gegenwart. »Das ist der 3. Weltkrieg« verkündete das Titelblatt der römischen La Repubblica,97 »7 Millionen Tote in den letzten 12 Stunden« und dazu das Foto eines Atompilzes über dem Baikalsee. Der Herausgeber Scalfari fordert die Leser auf, »Ruhe zu bewahren«, und der Starkolumnist Giorgio Bocca schreibt zum Thema »Der Mensch ist eine Bestie«. Im Blattinneren findet sich eine Liste mit Verhaltensmaßregeln unter dem Titel »Rette sich wer kann!« und über die ganze Rückseite Werbung der Firma DIO (GOTT): »Ein quadratisches Unternehmen, das die Welt bewegt. .. es scheint tatsächlich, daß ohne Ihn die Welt stillstehen würde«. Diese Fälschung war Anlaß für einen schadenfrohen Bericht in der New York Times.98 Il Male aber antwortete mit einer Warnung: »Paß auf dich selbst auf New York Times, bald ist die Reihe an dir!«99 Dann folgte die wohl berühmteste Fälschung des Male.100 Getreu der von den Dadaisten formulierten Einsicht: »Je unwahrscheinlicher ein Vorfall ist, desto wahrscheinlicher ist er«101, ließ Il Male gleich mehrere Tageszeitungen mit fotografischer Evidenz über die Verhaftung des beliebten Schauspielers Ugo Tognazzi als Kopf der Roten Brigaden berichten. Il Giorno macht auf mit der Schlagzeile »Von jetzt an gibt es wenig zu lachen. Tognazzi ist der Kopf der BR«. Die Überschrift des Leitartikels: »Das war zu erwarten«. Der »verrückte Schauspieler« sei bei Morgengrauen in seiner Villa festgenommen worden. Daneben Fotos, keine Fotomontagen, richtige Farbfotos von Ugo Tognazzi in Ketten, mit einer riesigen Schürze bekleidet, auf der übergroß das Emblem der Players Navy Cut Zigaretten prangt, und rundherum die als Carabinieri verkleideten Redakteure des Male mit Maschinenpistolen im Anschlag und falschen Schnurrbärten, die sie echter erscheinen lassen als die wirklichen. Die Turiner La Stampa sieht »Licht am Ende des Tunnels« und meldet außerdem, daß dank der tüchtigen Hunde der Finanz zwei Trüffel-Dealer am Flughafen verhaftet worden sind. Paese Sera wiederum berichtet, Tognazzi habe sich zum politischen Gefangenen erklärt. »Er ist verrückt, aber ich vergebe ihm«, meint ein Kollege, bevor auch er untertaucht. Schließlich noch ein Artikel über »Eine beispiellose Karriere« mit Kommentaren von Roberto Benigni und Bettino Craxi. 195 Eine Anspielung auf sein Buch La struttura assente, dt.: Einführung in die Semiotik. 196 Vgl. Andreas Höfele, »Die Originalität der Fälschung. Zur Funktion des literarischen Betrugs in England 1750–1800«, in: Poetica, Bd. 18, 1986, Heft 1–2, S. 91. 197 Il Male, 2. Jg., Nr. 6, 20. Feb. 1979. 198 The New York Times, 2. März 1979, S. 3. 199 Il Male, 2. Jg., Nr. 11, 27. März 1979, S. 4. 100 Il Male, 2. Jg., Nr. 17, 8. Mai 1979. 101 Walter Serner, Hirngeschwuer, a. a. O., S. 34.

An die Fälschung muß man glauben können

und über die ganze Rückseite Werbung der Firma DIO

›Von jetzt an gibt es wenig zu lachen‹

Die Turiner La Stampa sieht ›Licht am Ende des Tunnels‹

»Je unwahrscheinlicher ein Vorfall ist, desto wahrscheinlicher ist er«

›Ohne eine starke christdemokratische Partei fühlen sich alle Italiener, uns eingeschlossen, ein wenig verwaist‹

Ihre Urheber nannten dies den »holographischen« Aspekt der Fälschung

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Eine Woche später der nächste Streich: wenige Tage vor den Parlamentswahlen kündigen von Il Male gefälschte Zeitungen an, daß sich die Christdemokraten »aus dem grausamen Wettstreit der Wahlen« zurückziehen.102 Der den Kommunisten nahestehende Paese Sera übertitelt das Editorial mit »Die große Einsamkeit der Linken« und macht sich zum Anwalt der »Gefühle des ganzen Landes angesichts des überraschenden Verschwindens dieser riesigen Partei«. Die Leitung der PCI veröffentlicht eine Petition für die Rückkehr der DC ins Parlament: »Ohne eine starke christdemokratische Partei fühlen sich alle Italiener, uns eingeschlossen, ein wenig verwaist (. . .) Allein sind wir nichts, mit der DC sind wir alles, alles, alles!« Il Popolo, die Tageszeitung der DC, erklärt, daß nach der bestürzenden Entscheidung der Führungsspitze die Parteikasse »in aller Ruhe unter den Mitgliedern verteilt werden wird«. Und Il Giornale schließlich bringt in der Rubrik »Die Stimme des Arztes« Erläuterungen des Vorstands der Universitätsklinik Mailand zum Thema »Was ist ein Kollaps«. Daß das Wunschdenken des Publikums eine entscheidende Rolle bei der Rezeption erfolgreicher Fälschungen spielt, zeigt die Extraausgabe des Corriere dello Sport während der Fußball-Weltmeisterschaft 1978. »Die Spiele sind annulliert« lanciert Il Male in riesigen Lettern: Ein Massendoping der Holländer, die Italien aus dem Bewerb geworfen hatten, sei aufgedeckt worden. Die Nachricht fand nicht nur bei den Tifosi begeisterte Zustimmung, sondern sie ließ in kürzester Zeit den Verkehr in Rom für mehrere Stunden zusammenbrechen; anderntags schrieben die Zeitungen: »Si è fermata la città«103. Ihre Urheber nannten dies den »holographischen« Aspekt der Fälschung: »die Realisierung eines vieldimensionalen Raumes mittels des gefälschten Ereignisses – Frucht eines Informationskurzschlusses«.104 Dazu gehören die treuherzigen Diskussionen über die neue Linie der Kommunistischen Partei genauso wie die aufgeregten Telefonate anläßlich der Verhaftung von Ugo Tognazzi oder die Gespräche, die nach der Meldung von der Ankunft der Außerirdischen überall, in den Bars, in den Autobussen und in den Warteschlangen vor den Bankschaltern entstanden sind; »an Orten also, an denen normalerweise entweder ein Kommunikationsstau oder aber ›die Ordnung des Diskurses‹ vorherrscht«. Internationales Aufsehen erregten zwei Fälschungen ausländischer Zeitungen. Anläßlich des ersten Papstbesuches in Polen im Juni 1979 brachte Il Male eine Nummer der Trybuna Ludu, Zentralorgan der Polnischen Kommunistischen Arbeiterpartei, heraus und verbreitete eine polnische Version auch in der Heimat des Papstes. Darin wird nach dem Motto »Fröhliche Stimmung im ganzen Land« in einer vierzeiligen Headline über die ganze Seitenbreite folgendes bekanntgegeben: »Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Vereinigten Arbeiterpartei, der Genosse Edward Gierek, ist zurückgetreten. Die PVAP aufgelöst. Karol Woityla auf dem polnischen Thron«. Die Auflösung der Partei wird als Konsequenz einer generellen Verkühlung dargelegt, die bereits vor neun Jahren105 die Parteikader erfaßt 102 Il Male, 2. Jg., Nr. 18, 15. Mai 1979. 103 »Die Stadt stand still«, klassischer Slogan der Linksparteien nach erfolgreichen Streiks. 104 Angelo Pasquini / Piero Lo Sardo / Giga Melik / Mario Canale, »Il vero/falso del ›Male‹«, a. a. O., S. 28 Fußnote 1. 105 Anspielung auf den Arbeiteraufstand von Danzig 1970.

›Wie konnte das geschehen?‹

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habe. Unter dem Titel »Der Bazillus der Wahrheit« bekennt der Chefredakteur, sich geirrt zu haben, als er behauptete, die Partei sei bei bester Gesundheit: »Wie konnte das geschehen? Vielleicht weil die Wahrheit nicht mehr wahr und die Fälschung nicht mehr falsch ist? Gibt es vielleicht eine einzigartige Verwirrung dieser beiden Begriffe? Und könnte diese auch die Autorität des Marxismus-Leninismus und des wissenschaftlichen Sozialismus angreifen? (. . .) Während diese schrecklichen Fragen sich im Kopf zusammendrängen, erscheint eine andere, ewigere, umfassendere und unabänderliche Wahrheit (mit einem Wort die religiöse Wahrheit) auf der Spitze jener großen Pyramide, die das polnische Nationalbewußtsein darstellt. Sicher wird man, so glauben wir, aus dieser unserer Trybuna Ludu die Zeitung der Neuen Vereinigten Christlichen Arbeiterpartei machen. Sie wird zur Stelle sein, genauso bereit wie gestern, wie immer, um der Wahrheit zu folgen, das heißt der Macht. (. . .) Die Zeitung, die ihr heute lest, diese Zeitung des Übergangs – ihr werdet sie nie wieder lesen. Viel Glück.« Bei der zweiten international gefeierten Fälschung106 von Il Male handelt es sich um eine falsche Pravda, die in 10.000 Exemplaren während der Olympischen Spiele 1980 in Moskau verteilt wurde. Um sie dorthin zu transportieren, hatte man symbolisch dieselbe Route gewählt, auf der auch die legendäre Iskra Lenins den Weg zu ihren Lesern fand, nämlich über Istanbul. Für Wahrheit in der gefälschten Pravda bürgte die Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Dissidenten: Vladimir Maximov, Eduard Kusnezov, Vassilij Betaki, Violeta Iverni, Natalia Gorbanievskaja, Leonid Pliusch und Josip Brodski. Das zentrale Argument der falschen Pravda, die der offiziellen zum Verwechseln ähnlich sah, war simpel, der Leitartikel führte es folgendermaßen aus: »Die Sowjetunion existiert nicht mehr. Die Herrschaft der bolschewistischen Partei ist vorbei. Breschnew, Suslow und Genossen regieren nicht länger, weder im alten und unglücklichen Rußland, noch in seinen riesigen Provinzen (. . .) Wir wiederholen nur, was wir schon vor zwei Wochen gesagt haben, aber es gibt immer noch Leute, die uns schreiben, um uns zu fragen, ob das auch wahr ist. Also gut, ungläubige Leser, es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit, worauf schon der spöttische Name unserer Zeitung hinweist. Sicher, die Wahrheit, wenn sie nicht verfälscht wird, ist unwahrscheinlich, und wir sind sicher, daß viele Leser nicht ein Wort von dem glauben, was wir sagen.« In der Tradition dieser Fälschungen stand auch ein später Nachzügler, eine gefälschte Ausgabe der Zeitung der sowjetischen Streitkräfte Roter Stern, von der im Winter 1983/84 an die 30.000 Exemplare in den Ländern des Warschauer Paktes verbreitet wurden und 15.000 in Afghanistan. Das Titelblatt zeigt einen Soldaten, der seine Kalaschnikov wegwirft, darüber die Worte »Schluß mit dem Krieg! Alle nach Hause!«. Dann wird den Soldaten der Roten Armee mitgeteilt, daß der Krieg in Afghanistan dank eines gegen die Zentralmacht in Kabul gerichteten Komplotts der Brüder Tschonkin107 beendet worden ist. 106 Vgl. z. B. Jean-Marcel Bouguereau, »›La Pravda‹ en flagrant délit de vérité«, in: Libération, 21. Juli 1980, S. 14 f. 107 Der Name ist zweifellos dem sowjetischen Exilschriftsteller Woinowitsch entliehen, dessen Romanheld der schwejksche Soldat Tschonkin ist: Seine Aufgabe war es, ein Riesenflugzeug zu bewachen, doch wurde er dabei von seiner Einheit vergessen. Wladimir Woinowitsch, Die denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Iwan Tschonkin, Darmstadt/Neuwied 1975.

›Also gut, ungläubige Leser, es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit‹

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Sie hätten sich als Köche ins Hauptquartier eingeschlichen und mit magischen Pilzen die gesamte militärische Führung der Roten Armee in Afghanistan in »lang anhaltenden Schlaf« versetzt. Diese bösartige Operation – es wurden selbst im besetzten Kabul einige hundert Fälschungen affichiert – führte überraschenderweise zu offiziellen Stellungnahmen seitens des Roten Stern: »eine derartige propagandistische Provokation widerspricht fundamental allen Normen nicht nur der journalistischen Ethik, sondern auch der elementarsten Ehrlichkeit« hieß es in einer wütenden Reaktion, die »Reagan und seine Komplizen« für vier gefälschte Seiten des Roten Stern verantwortlich machte108. Dabei hatten die Initiatoren der Aktion, unter ihnen der ehemalige Direktor von Il Male Vincenzo Sparagna, nichts weiter vor, als zu zeigen, daß ihre Erfindungen sich nur in einem Punkt von denen des echten Roten Stern unterscheiden: daß sie, wenn sie die Unwahrheit sagen, damit niemanden täuschen wollen. Entsprechend nannte sich das Unternehmen »Operation Tschonkin, oder wie man die Welt verändert, indem man sie endlich einmal vergnügt«. Allerdings bezog sich die Parodie im Unterschied zu den früheren Fälschungen diesmal auf eine tragisch konkrete Situation. Jenseits des allgemeinen Vergnügens, für das die Fälschungen sorgten, und abgesehen davon, daß die Arbeit des CDNA zu einer Kette von Mißverständnissen führte, die das Leben einiger seiner Mitglieder überschatteten109, muß man die brillante Intuition anerkennen, mit der es Il Male gelang, die Konfusion zwischen Realität und Darstellung aufzuspüren. Die Experimente mit den Falschmeldungen, die wirkliche Ereignisse hervorrufen, führten einen schwindelerregenden Realitätsverlust der Öffentlichkeit vor Augen, welche die Fälschungen für buchstäbliche, ungeschminkte Wahrheit nahm. Sie bewegten sich auch immer innerhalb der Ordnung des Möglichen: sowohl, wenn tatsächlich geschehene Ereignisse »den ihnen zugedachten Sinn zurückwiesen, sich störrisch gegen die gängigen Interpretationen sträubten und die Herren der Sprache zu Possenreißern degradierten«110, als auch bei der Simulation herbeigesehnter oder gefürchteter Ereignisse. Es muß die geheimsten Wünsche des Publikums erfüllt haben, zu guter Letzt einen seiner größten Lieblinge als Kopf einer diabolischen Verschwörung ins Netz gehen zu sehen. Jedenfalls wurde offenbar, daß man bereit war, alles zu glauben.

108 Vgl. Vincenzo Sparagna / Shavik Shuster, »Operazione Chonkin ovvero Come cambiare il mondo facendolo finalmente divertire II«, in: Frigidaire, Nr. 38, Jan. 1984, S. 46. 109 So wurde Angelo Pasquini beim Begräbnis seines Vaters unter der haltlosen Anschuldigung der ›Anstiftung zum Verbrechen‹ und der ›Bildung einer subversiven Vereinigung‹ verhaftet und mehrere Monate festgehalten; ›Bifo‹ hingegen konnte sich nur durch Flucht ins Ausland der Verhaftung entziehen – er hatte ein Gedicht geschrieben, das behördliches Mißfallen erregte . . . Vgl. »Lettera Aperta di un provocatore«, in: Autori Molti Compagni, Bologna Marzo 1977 . . . fatti nostri . . ., a. a O., S. 213 f. Auch Calogero Venezia, der Direktor des Male, sollte neunhundert Tage im Gefängnis verbringen, eben weil er Direktor des ›Bösen‹ war. 110 A. Pasquini, P. Lo Sardo, G. Melik, M. Canale, »Il vero/falso del ›Male‹«, a. a. O.

Avantgarden sind dies nur für kurze Zeit; und was ihnen bestenfalls passieren kann, ist, im vollen Sinn des Wortes, diese ihre Zeit ausgefüllt zu haben. Nach ihnen beginnen Kampfhandlungen auf weitläufigerem Feld. Guy Debord1 È tempo di migrare, è tempo di restare. Giunta al confine del regno, dove si narrano ambedue le storie; giunta al crocicchio delle separazioni, dove tutti i sentieri divergono, Alice si guardò attorno indecisa sul da farsi. A/traverso2

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Diese Fähigkeit ›glauben zu machen‹ erlaubte neue Einsichten in die Wirklichkeitskonstruktion der Massenmedien. Anhand der ›falschen Informationen‹ wurden nicht nur bestimmte Regeln erfolgreicher Informationspolitik praktisch erläutert, wie etwa jene banale, Feststellungen zu treffen und sie gleich darauf wieder zu dementieren. Vor allem aber wollte man zeigen, daß die Medien eine im wesentlichen unwahre Welt schaffen. »Sie fälschen nicht, damit man glaubt, daß jemand die Wahrheit gesagt hat«, heißt es bei Umberto Eco3 über jene »heutigen Fälscher«, die in den »Vorzimmern von Ministerien, Hinterzimmern der legalen oder kriminellen Macht« ihrem Handwerk nachgehen. Im Gegensatz zu diesen, die »am laufenden Band fälschen« und »offenkundige und für jeden erkennbare Lügen« verbreiten, ist die Intention der oft gewagten Manöver des CDNA jedoch eine strikt aufklärerische. Die Falschmeldungen enthüllen gewissermaßen das verborgene Drehbuch der Wirklichkeit. Nun konnte aber die noch gemäßigte Auffassung, daß gesellschaftliche Ereignisse keine Objekte sind, die sich schon irgendwo in der Realität finden, sondern daß sie nur in dem Maße existieren, wie die Medien sie berichten, – sie konnte so nicht länger aufrechterhalten werden. Es bedurfte einer radikalen Ergänzung: »Wir akzeptieren nicht die Hypothese, derzufolge es eine Realität gibt, und Medien, die ihr äußerlich wären.«4

1 Guy Debord, In girum imus nocte et consumimur igni, Berlin 1985, S. 85. (Man beachte das Palindrom.) 2 »Es ist Zeit weiterzuziehen, es ist Zeit zu bleiben. An die Grenze des Königreichs gelangt, wo man sich beide Geschichten erzählt, an den Kreuzungspunkt der Trennungen gelangt, wo alle Wege auseinandergehen, schaut sich Alice um, unschlüssig über das, was zu tun ist.«, »Cloacale«, in: A/traverso, Juli 1976, S. 4. 3 Umberto Eco, »Scheinbar echt, also falsch«, in: Die Zeit, Nr. 52, 19. Dez. 1988, S. 59. 4 »Non accettiamo l’ipotesi per cui c’è una realtà alle quale i media sarebbero in esteriorità.« Alberto Benini / Maurizio Torrealta, Simulazione e falsificazione. II segno come valore: semiotica e lotta di classe, Verona 1981, S. 39.

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Die Medien werden jetzt als ein enormer Apparat zur Inszenierung der Realität betrachtet. Die Wirklichkeit erscheint als ein Szenario, dessen Drehbuch schon a priori geschrieben und von den Massenmedien festgelegt ist. Wenn aber die Beziehung zwischen Realität und Zeichen derart hinfällig geworden ist, weil die Zeichen ihr nicht mehr gegenüberstehen, dann besteht das Problem weder darin, sie mit jener in Übereinstimmung bringen zu wollen, um Wahrheiten über die Realität auszusagen, noch darin, diese Beziehung zu manipulieren, um Unwahrheiten zu verbreiten. Vielmehr gibt es einen ständigen Kampf um die Wahrheit der Zeichen, die nicht mehr an einer präsignifikanten Natur des Realen gemessen werden kann: Es ist wahr . . ., es ist falsch . . ., es ist ein Geheimnis . . ., es ist eine Täuschung . . . Die Realität ist dann nichts anderes als ein Universum schon installierter Zeichen, womöglich gefälschter Zeichen, an die man sich aber so sehr gewöhnt hat, daß sie nicht mehr als solche erkennbar sind. Daraus ergibt sich eine interessante strategische Schlußfolgerung, die mehr ist als eine bloße Umbenennung: Nur eine Realität, der es manchmal gelingt, die Programme ihrer Zeichensysteme zu stören, verdient noch diesen Namen: »Wir nennen also real nur jene Aktion, der es, ad hoc ausgeführt, in einem günstigen Augenblick, zur richtigen Zeit gelingt, die schon geschriebenen Simulationssysteme, wie sie die Medien darstellen, zu verändern. Von Fälschung sprechen wir immer dann, wenn die Realität imstande ist, die Systeme der Beschreibung, der vom Diskurs bereitgestellten Drehbücher zu durchbrechen. Wir nennen Fälschung jedes Vorgehen, jede Aktion, die fähig ist, in einem günstigen Moment (kairós), im richtigen Augenblick, in einer gegebenen Zeitspanne die Beschreibungssysteme, die Simulationssysteme, die Drehbücher zu zerstören, die vom Diskurs produziert werden.«5

Einzig in der Fälschung der medialen Drehbücher also blitzt das Reale noch auf. Dann jedoch geht es, statt die präparierte Wirklichkeit weiterzuschreiben, um die »Simulation semiotischer Paradigmen anderer sozialer, produktiver, informativer, territorialer etc. Universen«6. Das aber war immer schon Vorhaben und Handwerk der künstlerischen Avantgarden. Im Zeitalter der Massenkommunikation freilich verliert die Avantgarde ihre alten Merkmale. »Die Verbreitung des Zeichens als allgemeines Äquivalent aller Dinge und der Transfer der zeichenproduzierenden Intelligenz ins Innere der Maschinen bringen nicht nur radikale Änderungen in den Formen der Sprache und des Denkens mit sich«.7 Zugleich entsteht eine neue Generation der Avantgarde:8 Sie entstammt einer gesellschaftlich unnütz und daher polyvalent gewordenen Intelligenz. Die künstlerischen Verfahren der historischen Avantgarde sind Teil ihres Alltagslebens, und die Medien dienen ihr dazu, sich zu vergnügen und die soziale Realität paradox, also erträglich werden zu lassen. 5 »Chiameremo dunque reale soltanto quella azione che, compiuta ad hoc, con un kairós, a tempo apportuno, riesce a modificare i sistemi di simulazione già scritti che sono i media. Parleremo dunque di falsificazione tutte le volte che il reale riesce a rompere il sistema delle descrizioni, delle sceneggiature già fornite dal discorso. Chiameremo falsificazione ogni procedimento, ogni azione, che in un kairós, in un tempo opportuno, in un tempo dato, riesce a rompere i sistemi di descrizione, i sistemi di simulazione, le sceneggiature che sono prodotte dal discorso.« Ebd. Vgl. auch die »Introduzione«, ein Gespräch mit P. Fabbri und F. Berardi ›Bifo‹, ebd. S. 9–26. 6 Franco Berardi ›Bifo‹, »Introduzione«, ebd., S. 20. 7 Maurizio Torrealta, ebd. S. 34. 8 Vgl. Maurizio Torrealta, »Painted Politics«, in: Semiotext(e), Nr. 9, 1980, S. 102–106.

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»Diese Generation hat den Traum der historischen Avantgarde verwirklicht. Sie sprachen wie Beckett oder Joyce. Aber keine Gruppe kann sich Tag für Tag ihren Code neu schaffen, ohne sich damit zur Auflösung zu verurteilen.«9 Auflösung jedoch im Sinne einer Zerstreuung: einer Vertreibung aus dem Laboratorium der schönen Künste – einer Ausbreitung über die gesamte Oberfläche des Gesellschaftskörpers. Das ist die Bestimmung der azephalen Avantgarde.

9 Umberto Eco, »Die neue Sprache der Liebe«, in: Daniel Rondeau, Trans-Europ-Express, Freiburg 1985, S. 81.

Franco Berardi ›Bifo‹

Lyrisch, episch, tragisch, ironisch und zynisch

Im April 1977, als in den Straßen von Rom und Bologna die Unruhen, die im März begonnen hatten, immer noch nicht zu Ende gegangen waren, berief die FIOM, die Gewerkschaft der Metallarbeiter, die in jenen Jahren im Panorama der italienischen Gewerkschaften eine radikale Haltung einnahm, eine landesweite Versammlung der Betriebsräte ein, um die Fragen zu diskutieren, die von der Studentenbewegung und den arbeitslosen Jugendlichen aufgeworfen wurden. Die Versammlung war ein entscheidender Augenblick in der Geschichte der italienischen Gewerkschaften und bestärkte die starke antikapitalistische und antiautoritäre Haltung der Metallarbeiter, die immer an der Spitze der italienischen Abeiterbewegung gestanden hatten. Anlässlich der Versammlung, die im Mailänder Teatro Lirico stattfand, erschien ein himmelblaues Flugblatt, für das die Redaktionen von A/traverso und Zut verantwortlich zeichneten – zwei Zeitschriften, fanzines, die in diesen Jahren in unregelmäßigen Abständen erschienen und die von Studenten, Künstlern und Aktivisten der antiautoritären Bewegung gelesen wurden, deren Hochburgen die Unversitäten von Rom, Bologna und Padua, aber auch einige Fabriken in Mailand und Turin waren. Der Titel des himmelblauen Flugblatts lautete: »Vom Lyrischen zum Epischen, unter Umgehung des Tragischen«. Wir ließen damals keine Gelegenheit aus, Scherze zu machen. Wozu nicht zuletzt auch eine Menge Unbefangenheit nötig war. Hunderte Menschen saßen in den italienischen Gefängnissen, während der italienische Innenminister, ein Psychopath namens Francesco Cossiga, all jenen mit Repression und Panzern drohte, die es wagen sollten, auf der Straße gegen die Regierungspolitik zu protestieren, und wir selbst wurden polizeilich gesucht und mussten untertauchen, sofern wir nicht ebenfalls im Gefängnis landen wollten. Aber die Lust, mit Worten zu spielen, war uns immer noch nicht vergangen. »Vom Lyrischen zum Epischen, unter Umgehung des Tragischen« war nur der Titel eines Flugblattes, und ich kann mich auch nicht erinnern, wer es unter die Leute brachte, denn wer immer dafür zuständig war, saß damals entweder im Gefängnis oder war ebenfalls untergetaucht. Das Flugblatt zirkulierte dennoch in einer hohen Auflage, denn A/traverso galt damals als Zeitschrift, die zur Revolte aufrief, und tausende Jugendliche in den Städten wollten ein Exemplar davon haben. Das dem Titel zugrunde liegende Wortspiel lässt sich auf zweierlei Arten lesen. In erster Linie war es eine Botschaft an die Arbeiter, die sich in Mailand im Teatro Lirico versammelten. In zweiter Lesart lieferte es eine Interpretation der Entwicklung der letzten Jahre, und sagte voraus, wie es mit der Bewegung weitergehen sollte, die in diesen Monaten den Höhepunkt an Ausdruckskraft und politischer Macht erreichte. »Lyrisch, episch und tra-

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gisch« wurde somit zum poetischen Slogan einer Bewegung, deren Ziel die Befreiung der ganzen Gesellschaft von der Herrschaft des Kapitals sowie von der Diktatur des Sinns und des Ernstes wurde. Das »Lyrische« bezog sich auf die Erfahrungen der vorangegangenen Jahre, als die Bewegung der Begehrenden, Liebenden, Zärtlichen, Träumenden entstanden war, wie sie Enrico Palandri in seinem unvergesslichen Roman Boccalone beschreibt, der von den Liebesgeschichten und der Rebellion der Bologneser Studenten handelt. Anfang der 70er Jahre hatten sich in Italien Haltungen herausgebildet, die in der fröhlichen Ablehnung der Lohnarbeit, der bürgerlichen Langeweile und der Konkurrenzgesellschaft, und nicht zuletzt auch in der Ablehnung der katholischen Familientradition und des Stalinismus bestanden. Wir lasen den Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari, die Gedichte Antonin Artauds und Majakovskijs, und die Ziele der Arbeiterbewegung gingen in unseren Augen mit der Schizo-Politik und den Forderungen nach befreitem Begehren einher. Die Bewegung der Begehrenden hatte in unserer Vorstellung jedoch eine historische Aufgabe, oder zumindest schien es uns so in jenen Jahren des intensiven politischen, aufständischen Aktivismus. Unsere Aufgabe bestand darin, von der existenziellen und poetischen Autonomie zur Eroberung der städtischen Räume überzugehen, die Herrschaft der Ökonomie zu brechen und eine befreite Gesellschaft zu begründen. Revolution ist ein gewichtiges Wort, ein Wort, das wir uns der Tradition des frühen 20. Jahrhunderts entlehnt hatten. Wir nahmen es nicht allzu ernst, wie ein Flugblatt unter Beweis stellt, das wir im Juni 1977 druckten, und das den ironischen Titel trug: »Die Revolution ist beendet, wir haben gesiegt.« Wir nahmen die Revolution nicht allzu Ernst, denn wir glaubten nicht an die Möglichkeit, die Welt wiederherzustellen, unten nach oben und oben nach unten kehren zu können. Wir glaubten nicht daran, dass sich eine Wahrheit finden ließe, indem wir die Ordnung des herrschenden Diskurses durch eine andere Ordnung ersetzten. Wir wollten keinerlei Ordnung anerkennen, auch nicht die der Revolution. Wir glaubten vielmehr an einen Aufstand der Begehrenden, bei dem jeder in seine bevorzugte Richtung gehen konnte, ohne bereits festgelegte obligatorische Haltungen anzuerkennen, wie sie von der revolutionären Dialektik der Vergangenheit mit Strenge und Überzeugung festgelegt worden waren. Wir nahmen die Revolution nicht allzu Ernst, aber das Wort gefiel uns. Deshalb stellten wir uns die Revolution als etwas Episches vor, das notwendigerweise auf den lyrischen Augenblick des sich Zusammenschließens folgte, auf den Augenblick der sozialen und politischen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und der Intellektuellen in einer aufständischen Bewegung. In Form eines Wortspiels forderten wir die Arbeiterbewegung, die sich im Teatro Lirico in Mailand versammelt hatte, auf, vom lyrischen Moment der glücklichen Neuzusammensetzung zum epischen Moment der andauernden Subversion überzugehen. Es war uns jedoch durchaus bewusst, dass es auf diesem Weg in der Geschichte immer wieder Gewalt, Terror, Selbstzerstörung und Totalitarismus gegeben hatte. Das Tragische eben, das wir umgehen wollten. Und haben wir es tatsächlich umgangen? Nein, wir haben es nicht umgangen, wie die Geschichte der darauf folgenden Jahre beweist. Aufgrund der staatlichen Unterdrückung und der althergebrachten Ideologien, die in

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der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit Italiens noch immer tief verwurzelt waren, griff der Terrorismus immer mehr um sich. Auf die anarchische und glückliche Phase der Bewegung folgte die tragische, totalitäre Phase des Terrorismus. Aber in jenem Augenblick hatten wir uns vorgenommen, vom Lyrischen zum Epischen überzugehen, beziehungsweise von der zärtlichen Fröhlichkeit der Begehrenden zur epischen Explosion der Kräfte der Befreiung. Und gleichzeitig wollten wir das Tragische, die Gewalt, die Repression und den Terror umgehen. Das ist uns nicht völlig gelungen, was jedoch nicht nur an uns lag. Die Geschichte dieser Bewegung und jener Jahre an der Schnittstelle von Spätmoderne und Postmoderne der achtziger Jahre lässt sich durch das Vergrößerungsglas rhetorischer und poetischer (und ethischer) Formen betrachten: verschiedener Stile und Ausdrucksweisen, die dem jeweiligen Zeitgeist entsprachen. Das Lyrische, das Epische und das Tragische waren gewiss Ausdrucksformen, die in der Geschichte der damaligen Bewegung große Bedeutung besaßen. Wenn die lyrische (intime, geflüsterte und zärtliche) Sprache versucht, sich in eine epische (historische, hochtrabende und aggressive) Sprache zu verwandeln, stößt sie auf die Tragödie der Geschichte, auf die historische Tragödie der großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts – einer Geschichte, die in den Gefühlen, den Gedanken und den Erwartungen der Rebellen jener Jahre noch sehr lebendig war. Aber wenn wir der 77er Bewegung gerecht werden wollen, vor allem der Bologneser Bewegung, um die es in diesem Buch geht, müssen wir von der Ironie sprechen. Was ist Ironie? Eine Frage, die kaum zu beantworten ist. Den Literaturwissenschaftlern zufolge ist Ironie eine rhetorische Figur, die uns erlaubt, eine Sache zu sagen, während wir scheinbar ihr Gegenteil oder zumindest etwas ganz anderes behaupten. Das mag stimmen, aber zweifellos greift die Definition zu kurz. Es gibt keine vollständige Definition der Ironie. Die Ironie ist undefinierbar. Wenn man Ironie definieren möchte, mangelt es einem entschieden an Ironie. Ich würde sagen, die Ironie ist eine sprachliche Geste, die die Wirklichkeit aufhebt. Die Wirklichkeit aufzuheben, bedeutet, ihr Gewicht nicht zu spüren. Die Ironie ist also eine sprachliche Geste, die es dem Sprecher ermöglicht, das Gewicht der Wirklichkeit aufzuheben, sich vom Gewicht der Wirklichkeit zu befreien. Allmacht der Sprache, Leichtigkeit. Die Ironie sprengt das Feld der Bedeutungen und ermöglicht es, jedes beliebige Signifikat mit jedem beliebigen Signifikanten in Verbindung zu bringen. Ironie ist Befreiung vom Gewicht der Bedeutung. Ausweitung des Feldes der Interpretation, bis man sich von der Wirklichkeit befreit hat. In den 60er und 70er Jahren, in den Jahren der großen politischen Revolten der Arbeiter und der Studenten, wurde die Wirklichkeit der Ausbeutung und der Unterdrückung mit den Waffen der Hyperbel, der Invektive sichtbar gemacht und bekämpft. Diese Waffen sind jedoch genauso schwer wie die Wirklichkeit der Ausbeutung und der Unterdrückung. Dann kamen die Stadtindianer, die Maodadaisten, die Querdenker, die Leser von Deleuze/Guattari, die Leser von Artaud. Anstatt zu kämpfen, griffen sie auf Ironie zurück. Sie zuckten mit den Achseln. Angesichts der Unterdrückung durch den Staat, angesichts der Verhaftung tausender Menschen schrieb die Zeitschrift A/traverso »Die Revolution ist beendet, wir haben

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gesiegt«. Sie zuckte schlicht und einfach mit den Achseln. Eine ironische Geste, die auf der Ebene der Sprache das Gewicht der Wirklichkeit auflöst. Am Rande der historischen Tragödie, die sich am Ende der Moderne ankündigt, tritt die 77er Bewegung in Erscheinung und zuckt mit den Achseln. Damals wurden wir uns bewusst, dass die Wirklichkeit nicht nur eine Bedeutung, sondern unendlich viele Bedeutungen hat. Und von den unendlich vielen Bedeutungen, die man einem Zeichen geben kann, entschieden wir uns für die absurdeste, für die leichtfüßigste, für die, die von der symbolischen Ordnung der Macht am weitesten entfernt war. Die Revolution ist beendet, wir haben gesiegt. In den darauffolgenden Jahren zeigte sich jedoch, dass es sich dabei um ein gefährliches Spiel handelte. Die Ironie hebt das Gewicht der Wirklichkeit auf, spielt den Signifikanten gegen das Signifikat aus, und wählt von tausend möglichen Interpretationen die leichtfüßigste, flüchtigste. Auf dem Boden der Ironie gedeiht jedoch auch ein Unkraut namens Zynismus. Wie Peter Sloterdijk in seinem Buch über die zynische Vernunft zeigt, hat Ironie nichts mit Zynismus zu tun. Zynismus ist eine bösartige Variante der Ironie, er ist Ironie im Dienste der Macht. Die Tatsache, dass an die Stelle der freien Radios private TV-Sender getreten sind, an die Stelle von Radio Alice Canale 5, der TV-Sender, mit dem Berlusconis Siegeszug begann, bedeutet, dass die Ironie in Zynismus übergegangen ist. Wie die Ironie weiß auch der Zynismus, dass es keine Wahrheit gibt, und dass sich jedes Zeichen auf tausend verschiedene Arten interpretieren lässt. Das Spiel der Ironie besteht jedoch darin, die Wirklichkeit aufzuheben, leichter zu machen, die Armen reich zu machen und Glück in die Welt der Traurigen zu bringen. Zynismus befreit das Zeichen vom Signifikanten und stellt sich dabei in den Dienst der Macht. Wie der Ironiker kennt auch der Zyniker sehr gut die Wahrheit, die Wahrheit, die in der Freiheit der Interpretation besteht. Aber der Zyniker unterwirft diese Freiheit der Herrschaft. Der Ironiker schläft einen glücklichen Schlaf, weil ihn niemand aus seinen Träumen wecken kann. Der Zyniker hat einen leichten Schlaf. Er schläft und träumt, wacht jedoch sofort auf, wenn ihn die Macht ruft. Nach dem Ende der Bewegung, nach dem politischen Rollback und dem Terrorismus liefen die italienischen Intellektuellen in Scharen zur zynischen Macht des Fernsehens und der sich wild im Kreise drehenden bedeutungslosen Zeichen über. Harte Zeiten für die Ironie, jetzt wo Berlusconi mit breitem Grinsen auf dem Gesicht die ganze politische Bühne erobert hat. Aber die Ironie steht immer auf der anderen Seite, stets bereit, aus dem abgezäunten Gehege der Mediascape, Berlusconis Imperium, auszubrechen. Wir könnten die Ironie, eine sprachliche (und auch ethische) Geste, die es ermöglicht, der Diktatur des Sinns und der massenmedialen Durchdringung aller Lebensbereiche zu entkommen, auch als media-escape bezeichnen.

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

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Verzeichnis der Abbildungen

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