Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht: Dargestellt an den Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften im Recht der GmbH [1 ed.] 9783428487585, 9783428087587

Nicht nur im Steuerrecht, sondern auch im Privatrecht - und dort vor allem im Gesellschaftsrecht - argumentieren Rechtsp

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Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht: Dargestellt an den Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften im Recht der GmbH [1 ed.]
 9783428487585, 9783428087587

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CHRISTIAN MÖLLER

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht

Schriften zum Wirtschafts recht Band 102

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht Dargestellt an den Kapitalautbringungsund -erhaltungsvorschriften im Recht der GmbH

Von Dr. Christian Möller

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Möller, Christian:

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht: dargestellt an den Kapitalautbringungs- und -erhaltungsvorschriften im Recht der GmbH / von Christian Möller. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum Wirtschaftsrecht ; Bd. 102) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-428-08758-5 brosch.

D703 Alle Rechte vorbehalten

© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-026X ISBN 3-428-08758-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 E>

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen. Sie wurde von Herrn Prof. Dr. Lutz Michalski betreut, dem ich hierfür herzlich danken möchte. Weiterer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Vol/cer Emmerich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Bedanken möchte ich mich schließlich bei Herrn Dr. rer. pol. Michael Pfaar für vielfältige Gespräche und, vor allen Dingen, bei meinen Eltern für die in jeder Hinsicht gewährte Unterstützung und Förderung. Ihnen widme ich diese Arbeit. Düsseldorf, im August 1996

Christian Möller

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht Zielsetzung, Definition, Abgrenzung und Vorgehensweise

17

I. Die Zielsetzung dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

11. Vorläufige Definition des Begriffes der wirtschaftlichen Betrachtungsweise

19

ill. Abgrenzung zu verwandten oder in der Bezeichnung ähnlich lautenden Gegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

1. Wirtschaftliche Bedeutung von Sachverhalten als Inhalt des Tatbestandes einer Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

2. Verwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden bei der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

3. "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" als eine die wirtschaftliche Lage der von der Entscheidung Betroffenen beachtende Form der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

4. Ökonomische Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

5. Wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine bestimmte Auslegung bürgerlich-rechtlicher Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

IV. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

2. Kapitel

Fälle der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Recht der GmbH

27

I. Verdeckte Sacheinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1. Problemstellung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .

27

2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

a) Reichsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

b) BGHZ 15, 52 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

c) BGHZ 28, 314 ff.

32

d) BGHZ 110, 47 ff.

33

e) BGHZ 118, 83 ff.

34

10

Inhaltsverzeichnis f) BGHZ 113, 336 ff.

36

g) BGHZ 122, 180 ff.

37

3. Einordnung in der Literatur ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

ll. Die verdeckte Gewinnausschüttung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1. Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

a) RGZ 146, 84 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

b) BGHZ 31, 258 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

c) BGHZ 81, 365 ff.

43

3. Einordnung in der Literatur ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

a) Die Lehre vom Doppelgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

b) Leistungen causa societatis

45

c) Einzelfallbezogene Ansätze

46

Ill. Kapitalersetzende Darlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung

47

................................. .

48

2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

a) Reichsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

aa) JW 1938, S. 862 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

bb) JW 1939, S. 355 ff.

51

b) Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BGHZ 31, 258 ff.

52

. .......................... .

52

bb) WM 1972, S. 74 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

cc) BGHZ 105, 168 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

3. Gesetzesbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

4. Einordnung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

a) Fehlverhalten des Gesellschafter-Gläubigers . . . . . . . . . . . . . . .

56

aa) Venire contra factum proprium

. . . . . . . . . . . . . . . . . .. .

56

bb) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

cc) Konkursverschleppung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

dd) Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter . . . . . . . . . . .

58

b) Wirtschaftliche Betrachtungsweise: Materieller Eigenkapitalbegriff .

59

Inhaltsverzeichnis

11

c) Verhältnis von Fehlverhaltensvorwurf und wirtschaftlicher Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

5. Wirtschaftlich vergleichbare Rechtshandlungen, § 32a Abs. 3 . . . . . .

61

3. Kapitel

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

63

I. Regelung in der Reichsabgabenordnung von 1919 . . . . . . . . . . . . . . .

63

1. Enno Beckers Entwurf zu § 4 Reichsabgabenordnung . . . . . . . . . . .

63

a) Verselbstständigung des Steuerrechts durch Gesetzesauslegung, § 4 Satz 1 des Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

b) Überwindung der Verhaftung an äußeren Formen durch "TatbestandswÜfdigung", § 4 Satz 2 des Entwurfes . . . . . . . . . . . . . .

65

2. Endgültige Regelung in der RAO und weitere Entwicklung . . . . . . .

66

a) Fehlen des § 4 Satz 2 in der Endfassung des Gesetzes . . . . . . . .

66

b) Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

11. § 1 Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes von 1934

68

1. Nationalsozialistisches Verständnis der Vorschrift

68

2. Die Position des Reichsfinanzhofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

ill. Die Zeit von 1945 bis zur Neuordnung der Abgabenordnung . . . . . . . .

70

IV. Abgabenordnung 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

V. Dogmatische Einordnung der Sachverhaltsbeurteilung . . . . . . . . . . . . .

72

1. Sachverhaltsbeurteilung als Teil des Rechtsanwendungsprozesses ... .

73

2. Sachverhaltsbeurteilung als methodisch unzulässige Vorgehensweise . .

74

3. Bestimmte Auslegung der Steuergesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

VI. Bedeutung der steuerrechtlichen Diskussion ftir die weitere Untersuchung

76

1. Fehlende Kodifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

2. Rechtsstaatliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

3. Analogieverbot im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

4. Eigenständigkeit des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

12

Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel

Die Behandlung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Schrifttum außerhalb des Steuerrechts

79

I. Gesellschaftsrechtliches Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

ll. Zivilrechtliches Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

1. Rittner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

2. Häsemeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

3. Pawlowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

4. Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

5. Leenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

6. BallerstedtlMestmäcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

7. Raisch/K. Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

8. Torggler

85

ill. Kartellrecht

85

1. DImer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

2. Teichmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

IV. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

v.

1. Bruns

87

2. Cadus

88

3. Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

5. Kapitel

Eigener Ansatz rür die methodologische Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise

90

I. Sachverhaltsbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

l. Die ,,Brille" der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

a) Das Problem

..................................

91

b) Die Lösung nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise in ihrer herkömmlichen Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

2. Semantische Bedeutung des Ausdrucks "wirtschaftliche Betrachtungsweise" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

13

Inhaltsverzeichnis 3. Elemente zwischen Nonn und Sachverhalt? . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

a) Der Justizsyllogismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

b) Engischs Bild vom "Hin- und Herwandem des Blickes" . . . . . . .

96

aa) Die Bildung des Sachverhaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

bb) Subsumtion als Annäherung des Lebenssachverhaltes an die Nonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

c) A. Kaufmanns These von der Rechtsfindung als einer Assimilation von Lebenssachverhalt und Nonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

d) Unergiebigkeit der neueren rechtsmethodischen Diskussion . . . . . .

101

e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

4. Verfassungswidrigkeit einer sachverhaltsbeurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

5. Ungeeignetheit einer sachverhaltsbeurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise als Mittel einer rationalen Argumentation . . . . . . . .

103

........ .

103

b) Fehlende Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

a) Ungeeignetheit des Kriteriums des 6. Zwischenergebnis

"wirtschaftliche~"

................................ . ...... .

105

1. Auslegung rechts geschäftlicher Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

a) Auslegungslösung bei kapitalersetzenden Darlehen . . . . . . . . . . .

106

b) Ungeeignetheit der rechtsgeschäftlichen Auslegung zur Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

2. Qualifikation von Rechtsgeschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

a) Die Bedeutung der rechtsgeschäftlichen Qualifikation im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen

109

aa) Der Begriff der rechtsgeschäftlichen Qualifikation ....... .

109

cc) Praktische Bedeutung der Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . .

110

bb) Qualifikation als Begrenzung der Privatautonomie

m.

105

b) Qualifikation und wirtschaftliche Betrachtungsweise . . . . . . . . . .

112

c) Stellungnahme

113

3. Zwischenergebnis

113

Treu und Glauben, § 242 BGB

114

1. Nähe von § 242 BGB und wirtschaftlicher Betrachtungsweise in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

114

2. Die Lehre vom Rechtsrnißbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

115

14

Inhaltsverzeichnis a) Individueller Rechtsmißbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

115

b) Institutioneller Rechtsmißbrauch

......................

116

3. Ungeeignetheit des Rechtsmißbrauchsgedankens für die Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

4. Zwischenergebnis

119

IV. Gesetzesumgehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

119

I. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

120

2. Heute vertretene Auffassungen zur Gesetzesumgehung . . . . . . . . . .

122

a) Gesetzesumgehung als Scheingeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

122

b) Gesetzesumgehung als eigenständiges Rechtsinstitut . . . . . . . . . .

123

c) Der Begriff der Gesetzesumgehung als Kennzeichnung einer Form der normzweckorientierten Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . .

125

3. Zwischenergebnis

.................................

126

V. Typologische Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

I. Die Denkform des Typus

............................

127

2. Der Erkenntniswert der Typuslehre für die Rechtsanwendung . . . . ..

128

a) Tatbestandsmerkmal als Typus

.......................

128

b) Rechtsfortbildung aus Strukturtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

3. Die Konzeption Leenens zur Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

130

4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

5. Zwischenergebnis

.................................

133

VI. Gesetzesauslegung im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

133

I. Unmöglichkeit der Zuordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise

allein zur Gesetzesauslegung oder allein zur Analogie

..........

134

2. Erforderlichkeit einer Zuordnung unter dem Gesichtspunkt einer Wesensverschiedenheit beider Institute oder aus rechtsstaatlichen Erwägungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

a) Möglichkeit einer Abgrenzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

136

b) Praktisches Bedürfnis für eine Abgrenzung? . . . . . . . . . . . . . ..

137

3. Erforderlichkeit einer Zuordnung aufgrund praktisch unterschiedlicher Vorgehensweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138

a) Gesetzesauslegung als zunehmende Konkretisierung des Gesetzes durch Gleichsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

138

aa) Das Gleichsetzungsmodell Engischs und Kaufmanns . . . . . . .

139

bb) Kritik und Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

141

Inhaltsverzeichnis

15

cc) Zwischenergebnis: Auslegung als Gleichsetzung von Fällen. ..

142

b) Analogie als die Gleichbehandlung ähnlicher Sachverhalte . . . . ..

142

aa) Voraussetzung der Gesetzeslücke als einziger Unterschied zwischen Auslegung und Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

bb) Erforderlichkeit einer Gesetzeslücke? . . . . . . . . . . . . . . . ..

144

(I) Dogmatische Begründung

.....................

144

(2) Relevanz in der praktischen Prüfung? . . . . . . . . . . . . ..

145

c) Zwischenergebnis: Übereinstimmender Prüfungsansatz . . . . . . . ..

146

4. Zusammenfassung: Wirtschaftliche Betrachtungsweise als Gesetzesauslegung im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146

5. Bedürfnis für einen eigenständigen Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

a) Wirtschaftliche Betrachtungsweise als Kennzeichnung der Umgehungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

147

b) Wirtschaftliche Betrachtungsweise als besondere Vorgehensweise bei der Gesetzesauslegung im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . . . ..

148

c) Bedeutung gesetzlicher Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

148

6. Nichtanwendbarkeit einer Norm aufgrund wirtschaftlicher Betrachtungsweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

a) Einschränkende Auslegung . . . . . . . . .

149

b) Teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

6. Kapitel

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise in der praktischen Prüfung

152

I. Besondere Anwendungsvoraussetzung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

152

11. Die PTÜfungsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

153

1. Der gesetzliche Normfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

154

2. Zuordnung des Lebenssachverhaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

154

3. Vergleich anhand des Gesetzeszweckes . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

154

4. Wertende Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

III. Zur Verwendung dieser Prüfungsfolge

156

16

Inhaltsverzeichnis 7. Kapitel

Anwendung auf ausgewählte Probleme

157

I. Verdeckte Sacheinlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

157

1. Der Normfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

2. Erforderlichkeit eines subjektiven Elementes? . . . . . . . . . . . . . . ..

159

.............................

159

b) Wertender Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

a) Bisherige Diskussion

161

3. Drei- und Mehrpersonenverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Bisherige Diskussion

163

.............................

164

b) Wertender Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

165

IT. Verdeckte Gewinnausschüttungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

169

1. Der gesetzliche Normfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

169

2. Wechselseitige Beteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170

a) Bisherige Diskussion

.............................

b) Wertender Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Leveraged Buyout und Management Buyout a) Bisherige Diskussion

170 171

................

175

.............................

176

b) Wertender Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

177

ITI. Eigenkapitalersetzende Darlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

1. Der Normfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

2. Einschränkung der Regeln über den Eigenkapitalersatz für Treuhänder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

180

a) Bisherige Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

b) Wertender Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

182

3. Eigenkapitalersetzende Funktion von Nutzungsüberlassungen

......

188

a) Bisherige Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

aa) Einbeziehung in den Tatbestand des kapitalersetzenden Darlehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

bb) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

190

b) Wertender Fallvergleich

191 8. Kapitel

Zusammenfassung der Ergebnisse

199

Literaturverzeichnis

201

1. Kapitel

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht - Zielsetzung, Definition, Abgrenzung und Vorgehensweise I. Die Zielsetzung dieser Arbeit Vor mittlerweile über zwanzig Jahren hat Fritz Rittner die erste und bislang einzige monographische Untersuchung über die wirtschaftliche Betrachtungsweise in der zivilrechtlichen Judikatur des Bundesgerichtshofes veröffentlicht. I Rittners Untersuchung des vorhandenen Entscheidungsmaterials beschreibt die Unsicherheit und die gelegentliche Floskelhaftigkeit, mit der zuweilen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Begriff einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise verwandt wird, um die als angemessen angesehenen Ergebnisse durch die Verwendung von Leerformeln zu begründen. 2 Die Untersuchung schließt mit der eindringlichen Warnung vor einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise als methodischem Instrument. Sie sei inhaltlich nicht fixiert und verkürze daher in den meisten Fällen unbewußt die wirklichen Gründe einer Entscheidung. Wirtschaftliche Betrachtungsweise gefährde damit die Rationalität der Rechtsfindung und öffne das Tor zu verdeckter richterlicher WiIlkür. 3 Rittners Warnung ist nicht gehört worden. Wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit am Beispiel der Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften des GmbH-Gesetzes dargestellt werden soll, bedient sich die Rechtsprechung, seit neuerer Zeit aber auch der Gesetzgeber\ weiterhin der - hier vorläufig so bezeichneten - Rechtsfigur der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Es läßt sich also wohl konstatieren, daß in bestimmten Fällen ein praktisches Bedürfnis zu bestehen scheint, Rechtsfindung mit Hilfe einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu betreiben, obwohl es sich nicht um eines der klassischen Instrumente der juristischen Methodenlehre, wie es die Analogie oder die teleologische Reduktion einer Norm sind, handelt. 1 Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (1975). 2

A.a.O., S. 47 ff.

3

A.a.O., S. 54.

4

Vgl. insbesondere § 32a Abs. 3 GmbHG, und hierzu 2. Kapitel, IV.

2 Möller

18

1. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht

In auffallendem Widerspruch zu ihrer praktischen Bedeutung steht die geringe wissenschaftliche Aufinerksamkeit, die der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der methodentheoretischen Literatur\ aber auch im allgemeinen zivil- oder gesellschaftsrechtlichen Schrifttum6 zuteil geworden ist. Dies erstaunt umso mehr, als daß die steuerrechtliche Literatur zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise mittlerweile unübersehbar umfangreich geworden ist. 7 Der noch darzustellenden, allerdings über ihren Stellenwert im Privatrecht noch weit hinausgehenden, Bedeutung dieser Rechtsfigur im Steuerrecht entspricht dort also eine - immer wieder neu belebteS - Diskussion über ihre Grenzen und ihren Inhalt. Dies hat dazu geführt, daß der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise heute ganz allgemein eben mit dem Steuerrecht assoziiert wird. 9 Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, in gleicher Weise für das Privatrecht Grundlagen zu finden, von denen aus auch hier die wirtschaftliche Betrachtungsweise ein Instrument rationaler Rechtsfindung sein kann. Hiermit wird das von Rittner so eindringlich dargestellte Problem in ein neues Licht gerückt: Es kann nicht in Frage stehen, ob im Privatrecht wirtschaftliche Betrachtungsweise in die Rechtsfindung eingeht. Dies ist, das macht ein erster Blick auf das umfangreiche Entscheidungsmaterial lO deutlich, von der Praxis längst im bejahenden Sinn entschieden. Vielmehr soll an dieser Stelle nach einer kritischen Analyse des Vorhandenen versucht werden, einen Ansatz zu finden, nach dem wirtschaftliche Betrachtungsweise in einem rationalen Verfahren und auf einer sicheren methodologischen Grundlage stattfinden kann. Nunmehr von einem anderen Ansatzpunkt her wird es damit wiederum unternommen, der von Rittner zu Recht als einer solchen bezeichneten Willkür in der Rechtsfindung, die bislang mit wirtschaftlicher Betrachtungsweise im Zivilrecht ll einhergeht, entgegenzuwirken. 5 Keine Erwähnung findet die wirtschaftliche Betrachtungsweise in den Standardwerken von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, und von Fikentscher. Methodenlehre des Rechts, Band III; bei Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 596, wird sie als eine methodologische Besonderheit des Steuerrechts bezeichnet. 6 Vgl. hierzu insbesondere 4. Kapitel. 7 Statt aller: TIpke / Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 65 ff. mit zahlreichen Nachweisen; vgl. weiterhin 3. Kapitel mit Nachweisen. 8 In den letzten Jahren insbesondere durch die Habilitationsschrift von Crezelius. Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung (1983); hierzu kritisch TIpke/ Lang. a.a.O. 9 Vgl. das schon angeruhrte Zitat bei Bydlinski, oben Fn. 5, sowie etwa Zeller. Auslegung von Gesetz und Vertrag, S. 391, und Pawlowski. Methodenlehre rur Juristen, S. 105. 10 Aufgeruhrt insbes. im 2. Kapitel. 11 Wobei das Steuerrecht insofern kaum nachsteht; vgl. Crezelius, a.a.O, S. 195 ff., und 3. Kapitel.

11. Vorläufige Definition der "wirtschaftlichen Betrachtungsweise"

19

11. Vorläufige Definition des Begriffes der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Eines der Ziele der Untersuchung soll es mithin sein, den methodologisehen Standort der wirtschaftlichen Betrachtungsweise festzumachen. Zur Festlegung des Untersuchungsgegenstandes soll es jedoch zunächst genügen, sich dieser Rechtsfigur als einem in der Rechtsfindung, vor allem der Gerichte, auftretenden Phänomen zu nähern, also rein deskriptiv eine als "wirtschaftliche Betrachtungweise" im Sinne dieser Untersuchung zu bezeichnende Vorgehensweise zu umschreiben. Insoweit möchte ich im Sinne dieser Arbeit die wirtschaftliche Betrachtungsweise als jene Form der Rechtsanwendung kennzeichnen, bei der ausdrücklich oder auch implizit darauf abgestellt wird, daß ein Rechtssatz zwar nicht nach den in ihm genannten tatbestandlichen Voraussetzungen Anwendung finden könne, daß es aber die tatsächliche Gestaltung des Lebenssachverhaltes erfordere, den Rechtssatz dennoch anzuwenden, weil nämlich eben wirtschaftlich betrachtet - der zu beurteilende Lebenssachverhalt dem Regelungsbereich der Norm unterfalle. Kennzeichnend für eine derartige Vorgehensweise sind die Gegenüberstellung von Begriffen wie "bloß formaler Gestaltung" oder "bloß begrifflichem" Vorliegen oder Nichtvorliegen der Anwendungsvoraussetzungen einer Norm einerseits und der "wirtschaftlichen Bedeutung", der "faktischen Lage", des "materiellen Gehalts" oder des "tatsächlichen" oder "wirklichen" Inhalts eines Sachverhaltes andererseits. 12 Diese zunächst etwas abstrakt klingende Beschreibung wird im folgenden durch die Darstellung der Rechtsprechung und Literatur zu den Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften im Recht der GmbH an Kontur gewinnen. An dieser Stelle sei ihr Farbe verliehen anhand einer Passage aus einer der ersten Entscheidungen des Reichsgerichtes in Zivilsachen, die der Sache nach eine wirtschaftliche Betrachtungsweise vorgenommen hat, und die zugleich auch etwas von dem richterlichen Selbstverständnis vermittelt, das der Verwendung dieser Rechtsfigur in der Rechtsprechung der Obergerichte zugrundeliegt l3 : "Es ist ... Sache der Jurisprudenz und vor allem Pflicht der ... Judikatur ... nicht zu dulden, daß im öffentlichen Interesse wurzelnde Rechtsprinzipien in ihrer le-

12 An dieser Stelle soll ein Beleg dieser Zitate zunächst unterbleiben; insbesondere im 2. Kapitel wird diese hier als der Arbeit vorgegeben dargestellte Definition mit Beispielen belegt werden. J3 Tatsächlich wird diese Entscheidung insbesondere von Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Rechtsfortbildung des Privatrechts, S. 3 f., als Beleg für ein Ende des vergangenen Jahrhunderts aufkommendes stärkeres Seibstbewußtsein der Judikatur gegenüber dem positiven Gesetz zitiert.

20

1. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht bendigen Wirkung, sei es absichtlich vereitelt, sei es auch nur objektiv gelähmt werden durch Rechtsakte, welche (trotz Verschiedenheit in der juristisch-technischen Form) im wesentlichen dasselbe sachliche Resultat (in bezug auf die bestimmten für die Erreichung der Ziele des Gesetzes relevanten Beziehungen) für das praktische Leben erzeugen .... ,,14

Für eine vom Reichsgericht so umschriebene Vorgehensweise sind verschiedene Bezeichnungen zu finden. Hier soll, etwa mit Rittner '5 und der Terminologie im Steuerrecht '6, der Begriff der "wirtschaftlichen Betrachtungsweise" gewählt werden. Es finden sich jedoch auch Bezeichnungen wie "tatsächliche Betrachtungsweise"'7 oder, dies vor allem im Strafrecht, "faktische Betrachtungsweise".'8 Zum Teil ist damit allerdings auch ein Unterschied in der Sache verbunden. '9 Ohne daß an dieser Stelle bereits die genaue Wirkungsweise der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im einzelnen anhand von obergerichtlichen Entscheidungen deutlich gemacht werden sollte, lassen sich, auch in den Kernbereichen des Zivilrechts, zahllose Beispiele rur deren Anwendung finden. Um nur einige zu nennen: Bekannt ist etwa die Diskussion um den Charakter des Sicherungseigentums im Zusammenhang mit der Frage nach der Zulässigkeit von Rechtsbehelfen in Einzelzwangsvollstreckung und Konkurs. In Abgrenzung eines "bloß formalrechtlichen" von einem "wirtschaftlichen" Eigentum20 wird zum Teil die Meinung vertreten, in der Zwangsvollstreckung gegen den Sicherungsgeber könne der Sicherungsnehmer nur die Klage auf vorzugsweise Befriedigung aus § 805 ZPO, nicht aber die Drittwiderspruchsklage aus § 771 ZPO geltend machen. 21 Entscheidend könne nämlich, so drückt

14

Entscheidung vom 2.2.1889, RGZ 24, 45 (50).

A.a.O.; desgleichen z.B. Jahr. in: RaiserlSauermannlSchneider. Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, S. 14, 15; Teichmann, FS Bartho1omeyczik, S. 377 ff.; Ulmer. WuW 1971, S. 878 ff. 16 Vgl. statt aller Tipke I Lang, a.a.O. 15

17 Z.B. Sandrock. Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung, S.43; Ouo, Jura 1989, S. 328 ff. IR Vgl. vor allem Brons, JZ 1958, S.461 ff., und Cadus, Die faktische Betrachtungsweise (1984). 19 Sogleich III.5.

20 Hierzu Junker. AcP 193 (1993), S.349 ff.; Stein/Jonas-Münzbetg, ZPO, § 771 Rn. 15; Gernhuber. JuS 1988, S. 355, 358 f.; Hencke/, ZZP 84 (1971), S. 447,456. 21 LG Bie1efe1d, MDR 1950, S. 750; LG Berlin, JR 1952, S. 249 f.; MÜßchKommK. Schmidt, ZPO, § 771 Rn. 29; Baumbach I Lauterbach I Albers I Hartmann, ZPO, § 771 Rn. 26; AK-ZPO-Schmidtlvon Rhein, § 771 Rn. 17; anders aber die ganz herrschende Auffassung: Stein/ Jonas-Münzbetg, ZPO, § 771 Rn. 26 mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum.

11. Vorläufige Definition der "wirtschaftlichen Betrachtungsweise"

21

es eines der Urteile aus, nicht die formale Rechtsstellung des Eigentümers, sondern nur die wirtschaftliche Betrachtungsweise sein, derzufolge die Sicherungsübereignung nur die Bestellung eines Pfandrechts sei. 22 Im Konkurs entspricht die Ablehnung eines Rechtes auf Aussonderung aus der Konkursmasse gemäß § 43 KO und die Verweisung auf eine abgesonderte Befriedigung (§ 48 KO) als Gegenstück zu § 805 ZPO sogar ganz einhelliger Rechtsprechung23 und Literatur. 24 Gerade auch im steuerrechtlichen Schrifttum25 wird auf die Einschränkungen des gutgläubigen Erwerbs nach § 892 Abs. I BGB als einer Fallgruppe wirtschaftlicher Betrachtungsweise im Zivilrecht hingewiesen. Der gutgläubige Erwerb scheidet aus, wenn ein sogenanntes Verkehrsgeschäft nicht vorliegt, weil Verfugender und Erwerber "zwar formalrechtlich verschieden sind, faktisch aber (bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise) zusammenfallen. ,,26 Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn das Verfiigungsgeschäft zwischen einer juristischen Person und ihren Mitgliedern vorgenommen wird. 27 Gemäß § 652 Abs. I BGB ist ein Maklerlohn dann zu zahlen, wenn der vom Makler vermittelte Vertrag zustandekommt. Bereits seit jeher 8 wird aber bei der Subsumtion unter dieses Tatbestandsmerkmal nicht streng begrifflich vorgegangen. Anstatt, wie dies dem Wortlaut entspräche, auf eine rechtliche Identität von vermitteltem und zustandegekommenem Vertrag abzustellen, soll es - aufgrund der naheliegenden Gefahr des Mißbrauchs - genügen, daß der zustandegekommene Vertrag in sachlicher, persönlicher und zeitlicher Hinsicht mit dem vermittelten Vertrag wirtschaftlich gleichartig isf 9 ; wie bereits das Reichsgericht formulierte, 22

LG Bielefeld, a.a.O.

2l RGZ 124, 73 (75); 145, 188 (193); BGH, NJW 1959, S. 939; NJW 1962, S.46; BGHZ 95, 149 (152); WM 1987, S. 74, 76. 24 Serick. Eigentumsvorbehalt und Sicherungsübereignung, Bd. V, § 68 III 5 c; Baur / Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd. H, Rn. 14.25; MünchKomm-Quack, BGB, Anh. §§ 929-936 Rn. 96, Häsemeyer, Insolvenzrecht, S. 223; jeweils m.w.N. 2S Wi/ser, Der Durchgriff bei Kapitalgesellschaften im Steuerrecht, S. 31 f. 26 So wörtlich Staudinger-Gursky, BGB, § 892 Rn. 85; außerdem KG, JZ 1928, S. 1199; Erman-Hagen, BGB, § 892 Rn. 12; MünchKomm-Wacke, BGB, § 892 Rn. 39; jeweils m.w.N. 27 Gursky, a.a.O., Rn. 87 ff. zu den verschiedenen, denkbaren Konstellationen. 2M RG, LZ 1911, Sp. 547; JW 1916, S. 1475; Wam.Rspr. 1925, Nr. 62; RGZ 115,266 (269 f.); JW 1937, S. 2916. 29 Aus der jüngeren Rspr. BGH, NJW 1988, S. 967, 968; NJW-RR 1990, S. 184, 185; NJW 1991, S.490; in der Literatur MünchKomm-Schwerdtner, BGB, § 652 Rn. 104 f.; Palandt-Thomas, BGB, § 652 Rn. 29 ff.; Erman-Werner, BGB, § 652 Rn. 45; Soergel-Mormann, BGB, § 652 Rn. 15.

22

1. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht

kommt es dabei "weniger auf die juristische Gestalt als auf den wirtschaftlichen Erfolg" an. 30 Dafür, zur Darstellung der Wirkungsweise der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht eine jener Fragestellungen aus dem allgemeinen Zivilrecht, sondern das Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsrecht der GmbH zu wählen, spricht zunächst einmal die Vielfalt des auf diesem Gebiet vorhandenen, vor allem auch neueren Entscheidungsmaterials, das stets von einer umfangreichen Kommentierung im Schrifttum begleitet worden ist. Das Recht der Kapitalautbringung und -erhaltung befindet sich hierdurch in ständiger Bewegung; viele Einzelfragen sind, nicht zuletzt aufgrund der Schwächen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in ihrer herkömmlichen Form, umstritten. Zum anderen ermöglicht die Komplexität der Sachverhalte im Bereich des Kapitalautbringungs- und -erhaltungsrechts in besonderem Maße, einerseits die Wirkungsweise der wirtschaftlichen Betrachtungsweise darzustellen und andererseits Lösungsansätze am praktischen Fall zu überprüfen.

III. Abgrenzung zu verwandten oder in der Bezeichnung ähnlich lautenden Gegenständen Gerade ein Begriff wie deljenige der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, der eben außerhalb des Steuerrechts keine langandauernde wissenschaftliche Beachtung gefunden hat31 , wird oftmals auch mit ganz anderen Bedeutungsinhalten belegt. Diese gilt es zunächst zu erläutern und von dem Untersuchungsgegenstand abzugrenzen. Darüber hinaus gibt es aber mit der ökonomischen Analyse des Rechts auch noch eine methodische Kategorie, die in der Bezeichnung zwar an die wirtschaftliche Betrachtungsweise erinnert, im übrigen aber nur sehr entfernte Bezüge zu ihr hat. 1. Wirtschaftliche Bedeutung von Sachverhalten als Inhalt des Tatbestandes einer Norm Mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im hier gemeinten Sinne nicht zu verwechseln ist die bereits im Tatbestand einer Norm vorgegebene Bedeutsamkeit wirtschaftlicher Umstände für einzelne Tatbestandsmerkmale. 32 Diese Abgrenzung betont insbesondere auch Rittner. 33 Als Beispiel können LZ 1911, a.a.O. Vgl. ausführlich unten 4. Kapitel. 32 Anders aber Olte, JuS 1970, S. 154 ff., und Raiser in der in ,Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft' abgedruckten Diskussion, S. 200. 33 Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, S. 29. 30

31

III. Abgrenzung zu verwandten Gegenständen

23

insoweit die von Otte als eine Frage wirtschaftlicher Betrachtungsweise angefiihrten §§ 93, 119 Abs. 2, 459 und 950 BGB gelten. 34 Wirtschaftlich zu betrachten meint im Sinne Ottes, daß das in diesen Vorschriften enthaltene Kriterium der "Wesentlichkeit" nicht etwa, wie vielfach üblich, aus einer wie immer ermittelten Verkehrsanschauung, sondern eben vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Bedeutung etwa der Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB) oder der Wertänderung (§ 950 BGB) zu bestimmen sei. 35 Ähnliches gilt fiir Tatbestandsmerkmale, die wirtschaftliche Zwecke der Beteiligten zum Gegenstand haben (§§ 97, 98 BGB), oder den eben auch nur aufgrund eines Vermögensvergleiches herzuleitenden, also durch wirtschaftliche Kriterien determinierten Vermögensschaden gemäß § 251 BGB. 36 Wie Rittner zu Recht dargelegt hat, handelt es sich hier um eine einfache Auslegung des Gesetzes, bei der eben Elemente des Rechtssatzes, die wirtschaftlicher Herkunft sind, selbstverständlich als solche interpretiert werden. 37 "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" im hier darzustellenden Sinne erschöpft sich aber hierin nicht. 2. Verwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden bei der Rechtsfindung Um einen, dem letztgenannten ähnlichen, Fall "wirtschaftlicher Betrachtungsweise", aber ebenfalls nicht um die hier gemeinte Rechtsfigur 8 handelt es sich, wenn bei der Rechtsanwendung wirtschaftswissenschaftliehe Methoden verwandt werden. 39 Auf die Notwendigkeit dieser Abgrenzung weist insbesondere Teichmann hin. 40 Beispielhaft kann hier die Bestimmung des Unternehmenswertes im Rahmen der Abfindungsregelung bei Unternehmensverträgen im Konzernrecht, § 305 AktG, angefiihrt werden. Dieser ist nach heute ganz allgemeiner Auffassung mit Hilfe der sog. Ertragswertmethode, also einem von der Betriebswirtschaftslehre entwickelten Verfahren, zu ermitteln. 41 Die Ähnlichkeit mit den zu I. dargestellten Sachverhalten ist offenbar, nur bedarf es hier anders als dort eines verstärkten Eingehens auf wirtschafts34

A.a.O., S. 158 f.

35

A.a.O.

Vgl. Rittner, Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, S. 29 f. 37 A.a.O., S. 33. 36

38 Dies übersieht Urbas, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, der innerhalb seiner Arbeit eine begriffliche Uminterpretation vornimmt, S. 5 und passim.

39 Vgl. hierzu insbesondere Raisch I K. Schmidt, in: Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, S. 143, 158 ff.; zum Kartellrecht, wo diese Fragen naturgemäß besondere Bedeutung erlangen, vgl. Börner, FS Hartmann, S. 77, 81 ff., sowie unten 4. Kapitel. 40 41

FS Bartho1omeyczik, S. 379. Statt aller s. Emmerich I Sonnenschein, Konzernrecht, S. 313 ff.

24

1. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht

wissenschaftliche Methoden42 und nicht bloß auf allgemeinverständliche, aber dem Wirtschaftsleben entnommene Begriffe. Auch das ist jedoch noch keine wirtschaftliche Betrachtungsweise im hier gemeinten Sinne. 3. "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" als eine die wirtschaftliche Lage der von der Entscheidung Betroffenen beachtende Form der Rechtsanwendung "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" im Sinne dieser Arbeit ist schließlich abzugrenzen von einem Gebrauch des Begriffes, der diesem weitestgehend eine eigene Bedeutung nimmt: wenn nämlich die wirtschaftliche Lage des Rechtsunterworfenen als Argument verwandt wird, eine Rechtsvorschrift in einer bestimmten Weise anzuwenden. Beispielhaft kann hier etwa Baumann43 genannt werden, der bei der Besprechung der krankheitsbedingten Kündigung des Arbeitnehmers die erheblichen Belastungen herausstellt, denen ein Arbeitgeber ausgesetzt ist, wenn ihm eine Kündigung verwehrt wird. Baumann plädiert daher für eine "vernünftige wirtschaftliche Betrachtungsweise", die die Kostensenkungsbemühungen der Arbeitgeber unterstütze. 44 Es ist wohl diese Art der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die Hattenhauer eine "vulgarisierte Form der Interessenjurisprudenz" genannt hat, die wirtschaftliche Interessen zur Autorität für das Recht werden lasse. 45 Auch diese Form wirtschaftlicher, also eigentlich eher auf die Interessen der Wirtschaft bezogener, Betrachtungsweise ist hier nicht angesprochen. 4. Ökonomische Analyse des Rechts Nichts als die Ähnlichkeit in der Bezeichnung verbindet den Gegenstand dieser Untersuchung weiterhin mit der Ökonomischen Analyse des Rechts 46 , die auch als "Ökonomische Betrachtungsweise"47 bezeichnet wird. Bei der Hierzu insbesondere Raisch;K. Schmidt. a.a.O. BB 1982, S. 1308, 1310. 44 Ähnlich zur Notwendigkeit der Bevorzugung mittelständischer Unternehmen bei der öffentlichen Auftragsvergabe "aufgrund einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise" Breuel. DNG 1981, S. 378. 45 Zwischen Hierarchie und Demokratie, S. 181. 46 Internationales Standardwerk: Posner, The Economic Analysis of Law (4. Aufl. 1992); in deutscher Sprache: Behrens. Die Ökonomischen Grundlagen des Rechts (1986); Assmann; Kirchner; Schanze. Ökonomische Analyse des Rechts (1978); Schäfer; Du. Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (1986); Lehmann. Bürgerliches Recht und Handelsrecht - eine juristische und ökonomische Analyse (1983). 47 So in der deutschen Übersetzung von Posners Standardwerk, in: Assmann ; Kirchner; Schanze. a.a.O., S. 93, 107. 42 43

III. Abgrenzung zu verwandten Gegenständen

25

ökonomischen Analyse des Rechts, die in ihren Grundlagen in den sechziger Jahren von den Amerikanern Calabresi und Coase entwickelt wurde48 und eher zögerlich auch Eingang in die deutsche Rechtsliteratur findet 49 , handelt es sich um eine Untersuchung und kritische Würdigung des geltenden Rechts mit Hilfe wirtschaftswissenschaftlicher Methoden auf seine volkswirtschaftliche Effizienz hin. 50 Die ökonomische Analyse oder Betrachtungsweise des Rechts bemüht sich um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Ökonomie und Recht. 5 ) Wiewohl gerade auch das Gesellschaftsrecht von den Erkenntnissen der Ökonomischen Analyse profitieren kann52 , trägt dieser Ansatz nur wenig zu dem hier zu untersuchenden, auf eine bestimmte Art der Entscheidungsfindung abzielenden, Gegenstand bei. 53 Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne dieser Arbeit ist eben nicht eine wirtschaftswissenschaftliche Vorgehensweise. 54 5. Wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine bestimmte Auslegung bürgerlich-rechtlicher Begriffe

Auch als wirtschaftliche Betrachtungsweise bezeichnet wird eine spezifische Auslegung von Begriffen des bürgerlichen Rechts, sofern sie in anderen Rechtsgebieten verwandt werden, anhand der besonderen - wirtschaftlichen Zielsetzungen dieser Rechtsgebiete. 55 Sie hat mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Sinne dieser Untersuchung einen gemeinsamen Ursprung im Steuerrecht, muß aber scharf von ihr geschieden werden; letzlich handelt es sich nach heutigem Verständnis um eine Form der teleologischen Auslegung. Auf die Unterscheidung zwischen beiden Formen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise wird gesondert einzugehen sein. 56

4K Vgl. zur Geschichte und zu den Verbindungen zu der früheren Strömung des Rechtsrealismus insbesondere Schanze. in: Assmann / Kirchner / Schanze, a.a.O, S. 3 ff. 49 Nachweise bei Behrens, a.a.O., S. 2 f.; vgl. aber zum Verhältnis von Rechtsprechung und Wirtschaftspolitik bereits Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 307. 50 Grundlegend Posner. Economic Analysis of Law, S. 23 ff. 51 Behrens, a.a.O., S. 5.

52 Mit zahlreichen Beiträgen in: Boettcher / Herder-Dorneich / Schenk, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 1982 f. 53 Vgl. allerdings unten 7. Kapitel, III.2.b ).cc ).(3). 54 Vgl. bereits oben 2. 55 Dies ist letzi ich auch die bei Rittner hauptsächlich gemeinte Form der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, vgl. unten 4. Kapitel, 11.1. 56 Insbesondere 3. Kapitel, V.

26

1. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht

IV. Gang der Darstellung Im folgenden soll zunächst unter ausführlicher Auswertung der Rechtsprechung dargestellt werden, warum die Umgehungstatbestände im Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsrecht der GmbH - nämlich verdeckte Sacheinlage, verdeckte Gewinnausschüttung und kapitalersetzendes Darlehen - als Anwendungsbeispiele der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu gelten haben und wie die Gerichte insoweit praktisch vorgehen (2. Kapitel). Nach einem Blick auf die Geschichte und Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht, in dem diese Rechtsfigur ihren Ausgang genommen hat (3. Kapitel), wird das ungleich weniger umfangreiche Schrifttum zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise außerhalb des Steuerrechts gesichtet (4. Kapitel). Dies leitet über zum Kern der Untersuchung, der methodologischen Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise (5. Kapitel), mit der darauf aufbauenden Erarbeitung einer praktischen PTÜfungsfolge (6. Kapitel). Die Ergebnisse werden schließlich anhand ausgewählter Probleme des Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsrechts auf ihre praktische Tauglichkeit hin untersucht (7. Kapitel).

2. Kapitel

Fälle der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Recht der GmbH Bei der Durchsicht des zu den hier zu untersuchenden Kapitalautbringungs- und -erhaltungsvorschriften vorhandenen Rechtsprechungsmaterials, aber auch der die Judikatur begleitenden und sie kommentierenden Literatur fällt auf, daß nur selten der Ausdruck "wirtschaftliche Betrachtungsweise" verwandt wird. Vielmehr ist die Rede von "wirtschaftlicher Einheit", "wirtschaftlichem Erfolg", "tatsächlich Gewolltem" oder ,,materieller Sichtweise". Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich der Sache nach um eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne dieser Untersuchung handelt, deren Wirkungsweise im folgenden aufgezeigt werden soll. Dabei ist, wo sich dies anbietet, die oftmals parallel verlaufende Entwicklung im Aktienrecht mit eingearbeitet, um zur weiteren Verdeutlichung zu dienen. Der Rechtsprechung wurde bewußt ein breiter Raum zugewiesen; wo ein methodologisch wie immer einzuordnendes Instrument der Rechtspraxis zu erläutern ist, kann dies nur vor dem Hintergrund der konkreten Fallgestaltung geschehen.

I. Verdeckte Sacheinlagen Die "Lehre von der verdeckten Sacheinlage"I , im GmbH- wie im Aktienrecht trotz kritischer Stimmen gleichermaßen anerkanne, dient dem Schutz der realen Kapitalautbringung durch die Gesellschafter. 3 1. Problemstellung

Der Wunsch von Gesellschaftern, bei der erstmaligen Autbringung von Kapital oder bei der späteren Kapitalerhöhung Gestaltungen zu suchen, die es erlauben, es statt der aufwendigeren Beachtung der Vorschriften über Sach1 Es wird hier der neueren Tenninologie gefolgt; der ältere Ausdruck "Verschleierte Sacheinlage" ist, wie etwa Joost, ZIP 1990, S. 549, 550 zutreffend bemerkt, irrefiihrend, weil er bereits impliziert, es müsse hier mit einer subjektiven Umgehungsabsicht "verschleiert" werden. Dies wird aber gerade allgemein abgelehnt; s.u. 7. Kapitel, I.2.a). 2 Übersicht bei Groß, AG 1991, S. 217 ff. und im folgenden. J Allgern. Meinung; vgl. statt aller Priester, FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, S. 159, 176 f.

28

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

einlagen (§§ 5 Abs. 4, 9c S. 2 GmbHG) in der Satzung oder im Kapitalerhöhungsbeschluß bei der Bareinlageverpflichtung zu belassen, kann verschiedene Ursachen haben. 4 Diese müssen durchaus nicht unlauter sein; Motiv kann beispielsweise auch die Befürchtung sein, bei der Einbringung etwa eines Unternehmens Geschäftsgeheimnisse offenlegen zu müssen. 5 Jede Gestaltung aber, die die Gesellschafter der Sache nach Sacheinlagen leisten läßt, wo die Satzung Bareinlagen vorschreibt, birgt Gefahren für die Gesellschaft und ihre Gläubiger. Zum einen kann nämlich die präventive Werthaltigkeitskontrolle des § 9c S. 2 GmbHG nur dort, wie vorgesehen, verfahrensmäßigen Schutz6 der realen Kapitalautbringung bieten, wo tatsächlich in der Satzung bzw. im Kapitalerhöhungsbeschluß Sacheinlagen vereinbart sind. 7 Zum anderen spiegelt die entsprechende Eintragung im Handelsregister den Gläubigern der Gesellschaft vor, es seien neue Geldmittel zugeflossen, auch wenn beispielsweise tatsächlich lediglich Forderungen der Gesellschafter gegen die Gesellschaft mittels Verrechnung oder Hin- und Herzahlens8 in Eigenkapital "umgewandelt" worden sind. 9 Den genannten Gefahren ist zunächst der Gesetzgeber selbst entgegengetreten. In § 19 Abs. 5 GmbHG, für Kapitalerhöhungen gemäß § 56 Abs. 2 entsprechend anzuwenden, ist bestimmt, daß eine Leistung auf die Stammeinlage, welche nicht in Geld besteht, oder welche durch Aufrechnung einer für die Überlassung von Vermögensgegenständen zu gewährenden Vergütung bewirkt wird, den Gesellschafter nur dann von seiner Verpflichtung zur Einlageleistung befreit, wenn sie in den Formen der Sacheinlage erfolgt. Damit werden die Leistung an Erfüllung statt lO und, insoweit in Erweiterung des Aufrechnungsverbotes des § 19 Abs. 2, die Aufrechnung mit Vergütungsansprüchen als der offensichtlichsten Umgehungsmöglichkeit der Sacheinlagevorschriften erfaßt. 11 Allerdings läßt die Vorschrift von ihren tatbestandlichen Voraussetzungen her Raum für eine Vielzahl anderer Umgehungsgestaltungen. Zu nennen sind die im einzelnen noch zu besprechende Einschaltung Dritter in eine beabsich-

4

Anschaulich Lutter. FS Stiefel, S. 505, 506.

5

Priester. ZIP 1991, S. 345, 347.

6

K. Schmidt. Gesellschaftsrecht, § 37 11 I).

7

Hierauf stellt ab insbes. Roth. NJW 1991, S. 1913, 1915.

R

Hierzu sogleich 2.f.

9

BGHZ 110,47 (62).

10

Grundlegend Boesebeck. Anm. zu RG v. 16.2.1938, JW 1938, S. 1401,1402.

Vgl. Niemann. DB 1988, S. 1531, Groß. GmbHR 1983, S. 290 ff.; ausfiihrIich Schön. Aufrechnung und Kapitalaufbringung im Recht der GmbH, S. 15 ff. 11

I. Verdeckte Sacheinlagen

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tigte Umgehungskonstellation l2 , das Hin- und Herzahlen von Beträgen anstelle einer Aufrechnung l3 oder die Aufrechnung mit Darlehensforderungen des Gesellschafters. Daraus wird deutlich, daß durch § 19 Abs. 5 der Hydra l4 der Umgehungsmöglichkeiten der besonderen Vorschriften für Sacheinlagen, also letztlich der Umgehung des Umgehungsverbotes l5 in § 19 Abs. 5, nicht beizukommen ist. Diese Funktion erfüllt die Lehre von der verdeckten Sacheinlage. Mit ihr sollen all jene Umgehungskonstellationen erfaßt werden, die weder dem Tatbestand der Sacheinlage, also der als solcher vereinbarten Einbringung von Sachmitteln, noch dem Tatbestand des § 19 Abs. 5 in seinem Wortlaut unterfallen. 16 Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage ist dabei kein Spezifikum gerade des GmbH-Rechts. Im Aktienrecht sind § 27 Abs. 3 AktG bzw., für den Fall der Kapitalerhöhung, § 183 Abs. 2 die Parallelvorschriften zu §§ 19 Abs. 5, 56 Abs. 2 GmbHG. Dort werden Verträge und Rechtshandlungen über Sacheinlagen, soweit diese nicht formgerecht festgesetzt sind, für unwirksam erklärt; die Übernahme von Vermögensgegenständen unter Anrechnung auf die Stammeinlage gilt als Sacheinlage, §§ 27 Abs. 1 S. 2, 183 Abs. I i.Y.m. 27 Abs. I S. 2 AktG. Auch diese Vorschriften genießen Umgehungsschutz J7 , der durch die Anwendung der Lehre von der verdeckten Sacheinlage erreicht wird. 18 Soweit es die Bestimmung der Voraussetzungen einer verdeckten Sacheinlage betrifft, sind GmbH- und Aktienrecht dabei austauschbar. 19 Für den Gegenstand der Untersuchung von besonderem Interesse ist nun, wie der Tatbestand der verdeckten Sacheinlage gemeinhin umschrieben wird. Es besteht nämlich weitgehende Einigkeit darüber, daß ein Gesamtgeschehen dann wie eine Sacheinlage zu behandeln ist, wenn zwischen dem Gesellschafter (oder einem mit ihm eine wirtschaftliche Einheit bildenden Dritten) und der Gesellschaft in nahem zeitlichen oder sachlichen Zusammenhang mit einer Bareinlage ein Rechtsgeschäft getätigt wird, das im wirtschaftlichen Ergebnis dazu führt, daß der Gesellschaft statt barer Mittel ein einlagefähiger 12

Hierzu insbesondere Autenrieth. OB 1988, S. HOl ff. sowie unten 7. Kapitel, 1.3.

13

Hierzu insbesondere Bergmann. AG 1987, S. 57, 77 ff., sowie im folgenden 2.f.

14

Ausdruck bei Wiedemann. ZIP 1991, S. 1257, 1259.

15

Scholz-Schneider. GmbHG, § 19 Fn. 183 unter Hinweis aufBGHZ 28,314 (319).

16 11

18

Statt aller Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 19 Rn. 101. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 29 11 I c). HÜjJer. AktG, § 27 Rn. 9; K. Schmidt, a.a.O.; Kölner Kommentar-Lutter, AktG, § 183

Rn. 68 ff.; GeßlerIHefermehl-Bungeroth, AktG, § 183 Rn. 24, und die im folgenden genannten Beiträge. 19 Vgl. etwa Ulmer. ZHR 154 (1990), S. 128 ff., der auf jegliche Unterscheidung in der Behandlung verzichtet.

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

Gegenstand zugeflossen ist. Liegt dieser Tatbestand vor, hat dies zur Folge, daß eine Erfüllungswirkung rur die Einlageverpflichtung nicht eintritt. 2o Ganz im Sinne der oben dargestellten Grundannahme wird also nicht bestritten, daß formell eine Erfüllung i.S.d. § 362 BGB eingetreten wäre21 ; man läßt aber aufgrund des materiellen Endergebnisses der Transaktionen, das dem Grundsatz der realen Kapitalaufbringung zuwiderläuft, eine Befreiung des Gesellschafters von seiner Verbindlichkeit nicht zuY Daher wird die Lehre von der verdeckten Sacheinlage zu Recht als ein Fall der wirtschaftlichen Betrachtungsweise angesehen. 23 Diese zusammenfassende Beschreibung der Lehre von den verdeckten Sacheinlagen soll im folgenden illustriert werden, wobei zunächst auf die von der Judikatur entschiedenen Fälle und sodann auf das sie begleitende Schrifttum eingegangen wird. 24 Stets stellt sich dabei die Frage, wie Umgehungsfalle, die wirtschaftlich der Ersetzung der geschuldeten Bareinlage durch einen anderen Gegenstand gleichstehen, von solchen Sachverhalten abzugrenzen sind, die entweder eine zulässige Vermeidung der entsprechenden Rechtsfolgen darstellen oder aus sonstigen Gründen nicht vom Normzweck erfaßt sind. 25 2. Rechtsprechung a) Reichsgericht

Erstmals höchstrichterlich angesprochen wird das Problem der verdeckten Sacheinlage in einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 23. April 1928. 26 Hier allerdings wird die rechtstechnische Einordnung noch nicht deutlich: Das Reichsgericht behandelt die Frage als eine solche der Einhaltung des 20 Statt aller Scholz-Winter, GmbHG, § 5 Rn. 76 ff.; Scholz-Schneider, GmbHG, § 19 Rn. 139 ff.; Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 5 Rn. 143 ff.; Luuer/HommelhojJ. GmbHG, § 19 Rn. 35, jeweils m. W.N. 21 Wiedemann. a.a.O., S. 1259 f., der dies im Rahmen eines neuen Ansatzes versucht, kommt letzi ich auch nicht ohne die Annahme einer "verdeckten Nichterfüllung" aus. 22

Joost. a.a.O., S. 550.

So ausdrücklich Meilicke. Die "verschleierte" Sacheinlage - eine deutsche Fehlentwicklung, S. 13; Frey. ZIP 1990, S. 288; Karollus. ZIP 1994, S. 589, 592; Mildner, Bareinlage, Sacheinlage und ihre Verschleierung im Recht der GmbH, S. 6; Bergmann. a.a.O., S. 86; sowie jüngst BGH, NJW 1993, S. 1983, 1984. 23

24 Aus dem Anliegen der Untersuchung heraus wird hier nur der Tatbestand, nicht aber die Rechtsfolgen und die mögliche spätere Heilung der verdeckten Sacheinlage behandelt; hierzu vor allem Priester, DB 1990, S. 1753, 1754 ff. 25

Scholz-Schneider, GmbHG, § 19 Rn. 140.

26

RGZ 121,99 (102).

I. Verdeckte Sacheinlagen

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Fonngebotes; bestehe wie in dem betreffenden Fall die Absicht, ein Grundstück in die Gesellschaft einzubringen, so bedürfe dies der Einhaltung der - dort aktienrechtlichen - Fonngebote zur Aufnahme in den Gesellschaftsvertrag; nicht thematisiert wird also die Frage, ob nicht bereits mit Einzahlung der Einlage die Forderung der Gesellschaft erloschen ist, also eine gänzlich neue Situation besteht. Erst in der Entscheidung RGZ 141, 204 behandelt das Gericht die in § 19 Abs. 3 GmbHG a.F. bereits gesetzlich geregelte Frage, ob die Gesellschaft mit Ansprüchen aus der Überlassung von Sachgütern aufrechnen kann, als eine solche der Umgehung der Sacheinlagevorschriften. 27 In seiner Entscheidung vom 5. März 1938 28 , wiederum einer aktienrechtlichen Entscheidung, weist das Gericht schließlich zum ersten Mal ausdrücklich auf die Diskrepanz zwischen der fehlenden rechtlichen Verknüpfung bei der Übernahme von Aktien dritter Gesellschaften kurz nach Bargrundung einer Gesellschaft einerseits, aber eines engen wirtschaftlichen Zusammenhanges andererseits hin. 29 Maßgeblich wird hier erstmalig auf die "in Wirklichkeit vorgenommene Sacherhöhung"30 abgestellt. Dieses sich juristischer Begrifflichkeit bewußt verschließende Verdikt ist seither Leitlinie der Rechtsprechung zu den verdeckten Sacheinlagen geblieben. b) BGHZ 15, 52 ff.

Der Bundesgerichtshof erhielt erstmalig in seiner in BGHZ 15, 52 ff. abgedruckten Entscheidung vom 13. Oktober 1954 Gelegenheit, sich mit dem hier behandelten Problemkreis zu befassen. Letztlich wäre das ohnehin in § 19 Abs. 2 GmbHG gesetzlich angeordnete Aufrechnungsverbot - es handelte sich um die Verrechnung des Einlagenanspruches der Gesellschaft mit Darlehensforderungen des beklagten Gesellschafters - zur Entscheidung in der Sache wohl ausreichend gewesen. Der Il. Senat nahm den Fall jedoch zum Anlaß, weitergehend Regeln rur die Behandlung der Aufrechnung im Zusammenhang mit Einlageforderungen aufzustellen. 31 In der Gegenüberstellung der rein äußerlichen Übernahme von Geldeinlagen und der wirtschaftlichen Einbringung von Sacheinlagen32 , eben der wirtschaftlich auch von den 27 Aa.O., S.211: "Einer Umgehung dieser Vorschrift (§ 5 Abs.4 GmbHG, d. Verf.) wäre aber offensichtlich Tür und Tor geöffnet, wenn bei späteren Erwerbsgeschäften eine Aufrechnung der Stammeinlageforderung der Gesellschaft mit der von ihr aus solchen Geschäften dem Gesellschafter geschuldeten Vergütung statthaft wäre." 20 RGZ 157,213 ff.

29 30

31 32

A.a.O., S. 226 f. Aa.O., S. 224. Aa.O., S. 59 f. A.a.O., S. 61.

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

Parteien so gesehenen "Umwandlung eines Darlehens in eine Stammeinlage"33, sehen die Richter den tragenden Grund tUr ihre Anwendung des § 19 GmbHG. c) BGHZ 28, 314 ff.

Diente hiernach eine wirtschaftliche Betrachtungsweise noch in der soeben angetUhrten Entscheidung bloß zur Erläuterung des wohl im Gesetz auch begrifflich angelegten Ergebnisses, so geht die in BGHZ 28, 314 ff. veröffentlichte Entscheidung bereits einen Schritt weiter. Dort hatte der Beklagte zwar eine Bareinlageverpflichtung tUr die von ihm mitbegründete GmbH übernommen und auch auf das Konto der Gesellschaft eingezahlt. Nur drei Tage später aber hatte die Gesellschaft den Betrag zurücküberwiesen, als Entgelt tUr eine ihr vom Beklagten übertragene Patentlizenz. - Begrifflich wäre hier sicherlich Erfiillung der Bareinlageverpflichtung im Sinne des § 362 BGB eingetreten. 34 Aber dennoch erkannte das Gericht gegen den Beklagten und verurteilte ihn zur erneuten Zahlung, nunmehr an den Konkursverwalter. Es leuchtet unmittelbar ein, wenn insofern ausgetUhrt wird, das Aufrechnungsverbot des § 19 Abs. 3 GmbHG a.F. könne andernfalls ganz einfach umgangen werden. Wörtlich vergleicht die Entscheidung die Leistung des Beklagten mit einem "geworfenen Ball, der an einem Gummiband hängt und wieder zurückschnellt. ,,35 Aber hierbei handelt es sich eben nicht um eine begrifflich deduzierte, sondern um eine den wirtschaftlichen Gehalt eines Gesamtvorganges beurteilende Entscheidung. Von zwei Entscheidungen des BGH zum Recht der Aktiengesellschaften abgesehen, die die Wirksamkeit der ErfiilIung einer Bareinlageverpflichtung nur am Rande streiften36, wurde die Diskussion zur verdeckten Sacheinlage So die Bilanzerläuterung der Gesellschaft im Ausgangsfall, vgl. a.a.O, S. 54. Zu einer entgegengesetzten Auffassung müßte wohl Wiedemann. ZIP 1991, S. 1257, 1259 f. gelangen, der vorschlägt, die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als eine Frage der Erfüllung der Geldeinlageverpflichtung zu behandeln, also bei den Rechtsfolgen anzusetzen. Wiedernann muß aber selbst bei seiner Nichterfüllungslösung auf die wirtschaftliche Durchkreuzung des Tilgungserfolges abstellen; auf die Frage der freien Verfiigbarkeit (§ 54 Abs. 3 AktG analog) - hierzu Ulmer. GmbHR 1993, 189, 192 - dürfte es hier wohl nicht ankommen. 35 A.a.O., S. 319 f. 36 BGH, BB 1975, S. 248 f. betraf den Fall eines Kaufmannes, der sich zweier Strohmänner bedient hatte, um letzIich durch Zahlungen im Dreieck das Unternehmen einer KG in eine Aktiengesellschaft zu überführen, ohne dabei die Sachübernahmevorschriften zu beachten. Der BGH hielt zwar die Tilgung gegenüber der Gesellschaft rur unwirksam, maßgeblich rur die Entscheidung war jedoch das Verhältnis zwischen dem Kaufmann und den Strohmännern. BGH, ZIP 1982, S. 689 ff., die Philipp Holzmann-Entscheidung, betraf im wesentlichen die Zulässigkeit einer Ermächtigung zum Bezugsrechtsausschluß, sprach aber inzident aus, daß ein geplanter Bezugsrechtsausschluß selbstverständlich nicht durch 33

34

I. Verdeckte Sacheinlagen

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erst wieder belebt, als es gegen Ende der achtziger Jahre vor allem aufgrund zweier spektakulärer Unternehmenszusammenbrüche - der Konkurse der Internationalen Baumaschinen Holding AG ("IBH") und der Beton- und Monierbau AG (" BuM") - erneut galt, die Reichweite dieses Rechtsinstitutes, dort in ihrer Anwendung auf Aktiengesellschaften, auszuloten. 37 d) BGHZ 110, 47 tT.

Im Bereich des Konkurses der IBH38 sind vor allem die Verfahren von deren Konkursverwalter gegen eine Tochtergesellschaft des Reifenherstellers Lemmerz unter dem hier zu behandelnden Gesichtspunkt von Interesse. 39 Lemmerz hatte gegen die später insolvent gewordene IBH, eine Aktiengesellschaft, eine Forderung aus einem Lieferantenkredit. Nach Absprache mit dem Vorstandsvorsitzenden der IBH wurde in folgender Weise vorgegangen: Die Lemmerz-Werke ließen durch einen Rechtsanwalt eine GmbH, die spätere Beklagte, gründen; mit dieser Gesellschaft schlossen sie einen Organschafts-, einen Ergebnisübernahme- sowie einen Treuhandvertrag ab. Die GmbH zeichnete sodann Aktien der IBH zu einem Ausgabepreis, der der Forderung von Lemmerz entsprach, und zahlte den Betrag auf dem Kapitalerhöhungskonto der IBH ein. Nur eine Woche später zahlte dann ihrerseits die IBH ihr Darlehen bei Lemmerz zurück. Eine formale, begriffliche Sichtweise müßte hier zweifelsfrei zu dem Ergebnis kommen, daß die Beklagte, die ja genau die ihr obliegende Leistung erbracht hat, in voller Höhe von ihrer Einlageverbindlichkeit befreit worden ist. 40 Dennoch ist die Beklagte im gesamten Instanzenzug verurteilt worden, den übernommenen Betrag ein zweites Mal, nunmehr an den Konkursverwalter der IBH, zu zahlen. In seiner Entscheidung stellt der BGH maßgeblich darauf ab, daß es demjenigen, der einen Anteil gegen Barzahlung übernehme, nicht gestattet sein dürfe, auf diesem Wege die Schutzvorschriften rur Sacheinlagen zu unterlaufen; dies geschehe aber, wenn ein wirtschaftlich zusammengehöriger Vorden Willen zur Herbeifiihrung einer verdeckten Sacheinlage gerechtfertigt sei (vgl. im einzelnen S. 682 f.). J7 Vgl. Boujong. GmbHR 1992, S. 207, 208. 38 Zur strafrechtlichen Aufarbeitung vgl. LG Koblenz, AG 1992, S. 93 ff. 39 LG Mainz, ZIP 1987, S. 512 ff.; OLG Koblenz, ZIP 1988, S.642 ff.; BGHZ HO, S.47 ff.; zum IBH-Konkurs im übrigen BGH, AG 1993, S. 28 ff. ("IBH/GM-Sheik K"); OLG Köln, AG 1993, S. 43 ff. ("IBH-Holding"); OLG Koblenz, AG 1993, S. 42 f. ("IBHHolding AG/Powell Duffryn pie"). 40 So im Hinblick auf die Verfiigungsfreiheit, § 54 Abs. 3 AktG, auch ausdrücklich LG Mainz, a.a.O., S. 514. 3 MOUer

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

gang willkürlich in ein Erwerbsgeschäft - dem der Senat das Lieferantendarlehen gleichsetzt - und eine Barzahlung aufgespalten würde. 41 In gleicher Weise hatten sich schon zuvor die Untergerichte geäußert; sie waren der Auffassung gewesen, daß der IBH im "Endeffekt" nicht das ursprünglich gezahlte Kapital, sondern nur die Befreiung von einer Verbindlichkeit geblieben sei42 , bzw., es handele sich "in Wahrheit" um eine Sacheinlage, weil das wirtschaftliche Ergebnis dasselbe bleibe, wenn Leistungen, die wirtschaftlich zusammengehörten, "nur äußerlich" aufgespalten würden. 43 Der Umstand, daß offenbar mit Bedacht eine dritte Partei, nämlich eben die Beklagte, in den Zahlungskreislauf eingeschaltet worden war, was ja nach dem Trennungsprinzip des deutschen Gesellschaftsrechts44 bei einer begrifflich-formalen Betrachtung durchaus nicht ohne Bedeutung sein müßte, wurde ebenfalls aufgrund des bestehenden Treuhandverhältnisses als nicht erheblich zurückgewiesen; "letztlich", so konstatiert der BGH, habe die einzige Leistung in der Einbringung der Lemmerz-Forderungen durch die Beklagte bestanden. 45 Ohne daß die Entscheidung des Senates im Ergebnis anzugreifen ist, fällt doch auf, mit wie wenig zusätzlichem Begründungsaufwand vorgegangen wird, wenn der argumentativ-methodische Weg der wirtschaftlichen Betrachtungsweise einmal eingeschlagen ist. e) BGHZ 118, 83 ff.

Die Insolvenz von BuM hat den BGH in einer Reihe veröffentlichter Entscheidungen46 beschäftigt; hier behandelt werden soll die Entscheidung vom 13. April 199247 , zusammen mit dem Instanzurteil des OLG Düsseldorf. 48 In dem diesen Urteilen zugrunde liegenden Sachverhalt war die BuM, eine große Bauunternehmung in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Zur Zuführung von Geldmitteln wurde eine Kapitalerhöhung ins Auge gefaßt, bei der unter anderen die beklagte Westdeutsche Landesbank einen Teil der Aktien zunächst übernehmen und 41 BGH, a.a.O., S. 159 ff.; die Ausfiihrungen zur abschließenden Regelung im Aktiengesetz sind an dieser Stelle naturgemäß nicht von Interesse. 42 LG Mainz, a.a.O., S. 514.

43 OLG Koblenz, a.a.O., S. 643; interessanteIWeise und eine gewisse Beliebigkeit offenbarend wird dieses Ergebnis im weiteren (S. 645) als rechtliche Betrachtung bezeichnet. 44 Vgl. grundlegend Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 4 I 2 b). 45 A.a.O., S. 163; auf diesen Aspekt wird unter 3.d). noch ausfiihrlich eingegangen. 46 Insbes. BGH, ZIP 1982, S. 923 ff.; BGHZ 96, 231 ff.; 118, 83 ff. 47 BGHZ 118, a.a.O . • 0 ZIP 1991, S. 161 ff.

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sodann am Markt unterbringen wollte. Noch vor Durchführung dieses Planes räumte die Beklagte dann aber der BuM umfangreiche Überziehungskredite in Vorfinanzierung der geplanten Zuführung von Eigenkapital ein. Es wurde bald deutlich, daß die so entstehenden Forderungen womöglich als Gegenstand einer verdeckten Sacheinlage angesehen werden könnten, wenn sie durch Aufrechnung oder auch durch Hin- und Herzahlen mit der eigentlichen, nach Beschluß der Hauptversammlung zu erfolgenden, Eigenkapitalzuführung verrechnet würden. Man versuchte, dieses Ergebnis zu vermeiden, indem eine bislang unbeteiligte Bank, die BRZ, der BuM ihrerseits eine Kreditlinie einräumte, aus der heraus das debitorische· Konto bei der WestLB ausgeglichen wurde. Wenig später zahlte die WestLB an BuM bar auf ihre Einlageverpflichtung ein; mit den Beträgen wurde der zuletzt aufgenommene Kredit getilgt. Die eingeschlagene Strategie nützte der Beklagten nicht. Sie wurde auf Klage des Konkursverwalters in allen drei Instanzen zur neuerlichen Zahlung verurteilt. In seiner Entscheidung vom 13. April 1992 erweitert der BGH neuerlich den Umfang der Sachgestaltungen, die den Sanktionen für verdeckte Sacheinlagen unterfallen. Ausgehend von der häufiger anzutreffenden Grundformel 49 , eine verdeckte Sacheinlage sei gegeben, wenn ein Rechtsgeschäft in sachlicher und zeitlicher Nähe zur Bareinlageverpflichtung vorgenommen werde 50, klärt das Gericht zunächst, daß eine Voreinzahlung auf eine künftig entstehende Bareinlageverpflichtung zwar womöglich zulässig sei, ein Zufluß von Geldmitteln aber nur dann als ein solcher behandelt werde, wenn materiell in möglichst weitgehendem Umfang die gleichen Wirkungen erreicht werden, die im Falle des gesetzlich vorgesehenen Ablaufes einträten. Zur Abgrenzung von Voreinzahlung und Zwischenkreditfinanzierung werden Kriterien genannt, die wiederum auf eine materielle und damit auf eine wirtschaftliche Sichtweise deuten: Vereinbarter Rangrücktritt bei Scheitern der Erhöhung, Zinsfreiheit, Unkündbarkeit bis zur Eintragung der Kapitalerhöhung. 51 Sodann wird die Frage aufgeworfen, ob nicht gerade bei wirtschaftlicher Sichtweise die Beklagte überhaupt "nur formalrechtlich" Aktionär sei, da sie nur als Teil eines Emissionskonsortiums die Aktien am Markt unterbringen sollte; für den zur Entscheidung stehenden Fall wird dies allerdings abgelehnt. 52 Zur Übertragung auf das hier in Frage stehende GmbH-Recht 49 Vgl. OLG Karlsruhe, ZIP 1991, S. 27, 28; OLG Hamm, BB 1990, S. 1221, 1222; aus der Kommentarliteratur Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 19 Rn. 147a; Lutter/HommelhojJ. GmbHG, § 19 Rn. 35. 50 BGH, a.a.O., S. 92 f.; zur dort auch behandelten Frage nach einern subjektiven Element vgl. unten 4.a. 51 BGH, a.a.O., S. 90 f. 52 A.a.O., S. 96 ff.; maßgeblich soll insofern eine TreuhändersteIlung sein, die allerdings nicht mehr vorliege, wenn die Bank Rechte aus den Aktien selbst wahrgenommen habe.

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

eignet sich diese spezifisch aktienrechtliche Nuancierung der Fragestellungen im Rahmen der Grundsätze über die verdeckte Sacheinlage naturgemäß nicht; in der Untersuchung des methodischen Vorgehens ist sie aber deshalb von besonderem Interesse, weil hier einmal in wirtschaftlicher Betrachtungsweise eine Einschränkung und nicht, wie sonst stets, eine Erweiterung von Pflichtenkreisen jedenfalls in Erwägung gezogen wird. 53 Schließlich stand noch der Umstand im Raum, daß ja nicht die Beklagte, sondern ein drittes Unternehmen die Zahlung geleistet hatte. Hier hatte die Vorinstanz auf die Zugehörigkeit bei der Banken zum System der Vereinsbanken abgestellt und zudem einen Kreditauftrag zwischen der beklagten und der dritten Bank konstruiert, was eine Zurechnung rechtfertige 54 - seinerseits eine wirtschaftliche Betrachtungsweise. Hingegen negiert der Bundesgerichtshof die Einschaltung einer dritten Partei nahezu völlig; es habe BuM zunächst den Kredit, wenn auch aus einem anderweitig aufgenommenen Kredit, zurückgezahlt; zwar sei es erst danach zur Bareinlage gekommen, diese Reihenfolge sei jedoch unerheblich. 55 Eine gewisse Beliebigkeit in der Argumentation ist hier nicht zu übersehen. t) HGRZ 113, 336 ff.

Die nach langer Zeit erste Entscheidung aus dem Recht der GmbH 56 brachte zu den verdeckten Sacheinlagen im hier zu untersuchenden Kontext 57 vergleichsweise wenig Neues. Zur Beurteilung stand das "AusschüttungsRückhol-Verfahren"58, bei dem auf eine Barkapitalerhöhung eingezahlte Mittel noch am gleichen Tage zurückgeflossen waren, um einen Gewinnanspruch der Gesellschafter zu tilgen. Wiederum unter Hinweis auf das allein bestimmende wirtschaftliche Ergebnis wurde festgestellt, daß ein Hin- und Herzahlen nicht anders als eine verbotene Aufrechnung beurteilt werden könne. 59

55

Hierzu unten 5. Kapitel, VI.6. OLG Düsseldorf, a.a.O., S. 166 f. A.a.O., S. 94.

56

BGHZ 113,336 ff.; Vorinstanz OLG Köln, ZIP 1990, S. 717 ff.

53

54

Wichtig ist die Entscheidung wohl vor allem wegen der darin ausgesprochenen Haftung einer die Bareinlage bestätigenden Bank, vgl. hierzu Kühler, ZHR 157 (1993), S. 196, 200 ff. SM Hierzu bereits ausfiihrIich Essig. Gewinnausschüttung und nachfolgende Wiedereinlage - zivil- und steuerrechtliche Grenzen des Schütt-Aus-Hol-Zurück-Verfahrens (1982), m.w.N. 59 A.a.O., S. 341. 57

I. Verdeckte Sacheinlagen

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g) BGHZ 122, 180 ff.

Insbesondere in terminologischer Hinsicht von Interesse ist schließlich die Entscheidung vom 5. April 1993 6°, da dort, in einer aktienrechtlichen Entscheidung, der II. Senat erstmals nicht nur der Sache nach eine wirtschaftliche Betrachtungsweise vornimmt: Nachdem zuvor alleine das LG Mainz61 diese Bezeichnung gewählt hatte, formulierte in dieser Entscheidung nunmehr auch das oberste Zivilgericht, bei einer Barkapitalerhöhung müsse auch "bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise" tatsächlich Kapital zufließen62 , da im Recht der Kapitalaufbringung eine "wirtschaftliche Gesamtbetrachtung"63 geboten sei.

3. Einordnung in der Literatur Im hier zu untersuchenden Kontext ist insbesondere die methodologische Einordnung der Lehre von der verdeckten Sacheinlage von Interesse. Es fällt auf, daß vor allem die der Lehre von der verdeckten Sacheinlage eher kritisch gegenüberstehenden Autoren64 den Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise als maßgeblichen Gesichtspunkt nennen65 , ohne dies jedoch zum Anlaß einer methodologischen Untersuchung zu nehmen; insbesondere Meilicke66 wirft zudem die - allerdings von seinem Standpunkt aus folgerichtig ohne nähere Erörterung verworfenene - Frage auf, ob es womöglich einen "Typus"67 der Sacheinlage gebe. 68 BGHZ 122, 180 ff. ZIP 1986, S. 1323, 1326; wiederum in einem Prozeß aus dem IBH-Konkurs; vgl. auch AG Ouisburg, GmbHR 1993, S. 193, 194: " ... wirtschaftlich gesehen ... ". 62 A.a.O., S. 184. 63 A.a.O., S. 186. 60

61

M Loos, AG 1989, S. 381 ff.; ders., BB 1989, S. 2147 ff.; Meilicke. Die "verschleierte" Sacheinlage - eine deutsche Fehlentwicklung, S. 58 ff.; ders., OB 1990, S. 1173 ff.; ders., GmbHR 1989, S. 411 ff.; Mildner, Bareinlage, Sacheinlage und ihre "Verschleierung" im Recht der GmbH, S. 91 ff.; Bergmann, AG 1987, S. 57 ff.; Karollus, ZIP 1994, S. 589 ff. 65 Meilicke, "Verschleierte Sacheinlage", S. 13; Mildner, a.a.O., S. 6; Bergmann. a.a.O., S. 86; außerdem Frey. ZIP 1990, S. 288; Karollus, a.a.O., S. 592. 66 Die "verschleierte" Sacheinlage - eine deutsche Fehlentwicklung, S. 19. 67 Hierzu unten 5. Kapitel, V.

68 Vor allem Meilicke, Die "versch1eierte" Sacheinlage - eine deutsche Fehlentwicklung, S. 53 ff., sowie OB 1990, S. 1173 ff. (s.a. Crezelius, OB 1990, S. 2485) nimmt an, die Lehre von der verdeckten Sacheinlage verstoße gegen die 2. EG-Richtlinie zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts; kritisch Lutter/Gehling, WM 1989, S. 1445, 1456 ff. Der dahingehende Vorlagebeschluß des LG Hannover (AG 1991, S. 186) wurde nicht in der Sache beschieden, AG 1992, S. 398 (vgl. hierzu Groß. AG 1993, S. 108, 110 ff.). Inter-

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

Von den die Lehre von der verdeckten Sacheinlage grundsätzlich bejahenden Autoren äußern sich durchaus nicht alle zu ihrer Einordnung in den methodologischen Kanon. Im übrigen ist die Qualifikation oftmals etwas unscharf. So stellt etwa Boujong die hier interessierenden Fragen unter die Überschrift der "Rechtsfortbildung"69, während Mülbert das Verbot der verdeckten Sacheinlage auf die "allgemeinen Regeln der Gesetzesumgehung" stützen möchte. 70 Joost sieht als Grundlage der rechtlichen Lösung einen "übergreifenden Grundsatz der realen Kapitalaufbringung".71 Lutter schließlich möchte zwischen Fällen, in denen Umgehungsabsicht vorliegt - er nimmt dann die §§ 138, 826 BGB als Grundlage eines Sittenwidrigkeitsverdikts an - und sonstigen Fällen objektiver Normzweckvereitelung unterscheiden, die er als solche "objektiver Normanwendung" ansieht. 72 In diesem Zusammenhang merkt er an, die Notwendigkeit einer alle denkbaren Gestaltungen erfassenden Normanwendung hänge mit der Gemengelage zwischen einschränkenden und belastenden Vorschriften einerseits und der grundsätzlich die Vermeidung suchenden Gestaltungsfreiheit andererseits zusammen, die im Recht der Kapitalaufbringung bei der GmbH bestehe. 73 Die Ansicht, es handele sich um einen Fall der Normanwendung, die vom Zweck der Vorschriften zur Kapitalaufbringung determiniert werde, dominiert im übrigen bei weitem. Sofern eine Differenzierung überhaupt deutlich zum Ausdruck komme4 , wird hierbei zum Teil auf eine teleologische, normzweckbestimmte Auslegung abgestelleS, vor allem aber die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als ein Fall analoger Normanwendung begriffen. 76

essant auch in dem hier zu untersuchenden Zusammenhang sind die in AG 1992, S. 399 ff. abgedruckten Schlußanträge des Generalanwalts, der eine generelle "Typisierung" aller sich als eine Sacheinlage darstellenden Fälle ablehnt, aber zugesteht, daß jede mitgliedstaatliche 'Umgehung des Gesetzes', Rechtsordnung insofern "ihre allgemeinen Vorschriften 'Rechtsmißbrauch', 'Scheingeschäft')" anwenden könne. Sollte sich der EuGH dem anschließen, so würde sich die Frage nach Bedeutung der "wirtschaftlichen Betrachtungsweise" im deutschen Recht mit neuem Akzent darstellen, da dann zu überlegen wäre, ob es sich bei dieser um eine solche "allgemeine Vorschrift" handelt. 69 GmbHR 1992, S. 207 ff.; vgl. allerdings S. 209, wo die verdeckte Sacheinlage als ein Beispielsfall für teleologische Auslegung einer Norm aufgeführt wird. 70 ZHR 154 (1990), S. 145, 177. 71 ZIP 1990, S. 549, 555.

«. )

FS Stiefel, S. 505, 510 ff. Lutter, FS Stiefel, a.a.O., S. 508. 74 Nicht so bei Groß, AG 1993, S. 108, 109; Henze, ZHR 154 (1990), S. 105, 108; Priester, ZIP 1991, S. 345,347. 7S Boujong, a.a.O., S. 209. 76 Mit beachtlichen Argumenten Roth, NJW 1991, S. 1913, 1916, sowie Ulmer, ZHR 154 (1990), S. 128, 140; Mayer, NJW 1990, S. 2593,2597. 72

73

11. Die verdeckte Gewinnausschüttung

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11. Die verdeckte Gewinnausschüttung Sichern die Vorschriften über die Prüfung der Werthaltigkeit von Sacheinlagen und damit auch das Institut der verdeckten Sacheinlage die reale Kapitalaujbringung, so bilden die von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Regeln über die Identifizierung und Behandlung verdeckter Gewinnausschüttungen 77 die komplementäre Absicherung vor allem der Vorschriften über die Kapitalerhaltung, also, für die GmbH, der §§ 30 f. GmbHG. 78 Wie darzulegen sein wird, bedient sich auch hier die Rechtspraxis zur Qualifizierung eines Sachverhaltes als einer verdeckten Oewinnausschüttung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Sinne dieser Untersuchung. 1. Problemstellung

Eine Verlagerung von Vermögenswerten der GmbH auf einen oder mehrere Gesellschafter berührt stets das Interesse der Gläubiger der Gesellschaft; erfolgt die Vermögensverlagerung in ungleichmäßiger Weise oder gefährdet sie den Bestand der Gesellschaft, so ist zugleich das Interesse der benachteiligten Mitgesellschafter betroffen. Das GmbHG begegnet den Gefahren für die Gläubiger in § 30 Abs. 1 mit dem Verbot der Auszahlung von Vermögen, das zur Deckung des Stammkapitals erforderlich ist. Dies ist ein selbstverständliches Element der Institution des gebundenen Garantiekapitals. 79 Der Schutz der Mitgesellschafter wird formell durch die kompetenzrechtlichen Vorschriften, §§ 29, 46 GmbHG, und materiell durch den Gleichbehandlungsgrundsatz analog § 53a AktG 80 sowie das richterrechtlich entwickelte Institut der gesellschafterlichen Treuepflicht8 \ verwirklicht.

77 An dieser aus dem Steuerrecht übernommenen Bezeichnung wird hier aufgrund ihrer weiten Verbreitung festgehalten; tatsächlich erscheint aber die Kritik angesichts der ganz unterschiedlichen Funktion im Gesellschaftsrecht (vgl. Bommert, Verdeckte Vermögensverlagerungen im Aktienrecht, S. 9 ff.; Schneider. ZGR 1985, S. 279, 280) nicht unberechtigt. 78 In dieser Funktion liegt jedenfalls ihr Herkommen, wobei z.T. heute darüber hinaus auch auf die Schutzfunktion gegenüber Mitgesellschaftern hingewiesen wird; vgl. dazu sogleich 1. 79 Statt aller Wiedemann, Gesellschaftrecht I, § \0 IV I b); schwer nachvollziehbar will demgegenüber Wilhelm, FS Flume 11, S. 337, 361 und passim, die Vermögensbindung durch § 30 über das Garantiekapital hinaus auf jeglichen Vermögenstransfer außerhalb der Gewinnausschüttung erweitern; dagegen zu Recht Schulze-Osterloh, FS Stimpel, S. 487, 491; Fabritius, ZHR 144 (1980), S. 628, 637. 80 Vgl. Rowedder. GmbHG, § 13 Rn. 11. 81 Grundlegend BGHZ 65, 15 ff. ("IIT"), und Winter. Mitgliedschaftliehe Treuebindungen im GmbH-Recht (\988).

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

Bereits früh wurde aber deutlich, daß der durch § 30 GmbHG 82 angestrebte Schutz unvollständig bleibt, wenn Auszahlungen lediglich im Sinne einer Geldleistung verstanden werden, wie dies das Reichsgericht zunächst noch angenommen hatte. 83 Paradigmatisch rur die Vielzahl der denkbaren Umgehungsmöglichkeiten des Garantiekapitalschutzes wird hierbei stets das Austauschgeschäft zwischen Gesellschafter und Gesellschaft genannt, bei dem der Leistung der Gesellschaft keine gleichwertige Leistung des Gesellschafters gegenüber steht. 84 Allgemein wird formuliert, es müsse jeder Vermögenstransfer erfaßt werden, der dem Gesellschafter aufgrund des Gesellschaftsverhältnisses zu Lasten des gemeinsamen Sondervermögens einen Vorteil verschaffe. 85 Mag diese Definition noch auf einen Fall gewöhnlicher, vom Telos der Norm her bestimmter Gesetzesinterpretation hinweisen, so bedient sich die Praxis in einem weiteren Schritt eines Vehikels, um die vom Ausgangsfall des unausgewogenen Austauschgeschäftes abweichenden Gestaltungen zu erfassen86, eben einer, wenn auch nicht ausdrücklich so bezeichneten87 , wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Dies soll im folgenden belegt werden. 2. Rechtsprechung Das zur Problematik der verdeckten Gewinnausschüttung im Gesellschaftsrecht vorhandene Entscheidungsmaterial ist bei weitem nicht so umfangreich wie die gerade in den letzten Jahren zur verdeckten Sacheinlage88 ergangene Judikatur. Es reicht aber hin, ein Vorgehen in wirtschaftlicher Betrachtungsweise, also Rechtsanwendung unter wertender Gegenüberstellung "formaler" Gestaltung und "materiellen" Inhalts, nachzuweisen.

82 Bzw., insoweit sachgleich, durch § 57 AktG 1965 mit seinen Vorläufern in ADHGB, HGB und AktG 1937. 83 RGZ 80, 148 (150); vgl. Fleck, FS 100 Jahre GmbHG, S. 391, 399. 84 Vgl. nur Lutter/HommelhojJ. GmbHG, § 29 Rn. 47; Scholz-Emmerich, GmbHG, § 29 Rn. 174; Scholz-H.P. Westermann, GmbHG, § 30 Rn. 20; jeweils mit zahlreichen w.N. 85 Hachenburg-Goerdeler/Müller, GmbHG, § 29 Rn. 129. 86 Insofern unzutreffend Tries, Verdeckte Gewinnausschüttungen im Recht der GmbH, S. 46 f. 87 Ausnahmen sind lediglich Emmerich / Sonnenschein, Konzernrecht, S. 106, und Emmerich, FS Westermann, S. 55, 60, für den Sonderfall des Erwerbs wechselseitiger Beteiligungen. 88 Vgl. oben 1.2.

11. Die verdeckte Gewinnausschüttung

41

a) RGZ 146, 84 ff.

Das Reichsgericht hatte, wie bereits erwähnt, zunächst nur die Zahlung von Geld unter § 30 GmbHG subsumiert. 89 Bereits zu Anfang der dreißiger Jahre hatte sich aber die Auffassung durchgesetzt, die Vorschrift solle das Stammkapital gegen alle Leistungen der Gesellschaft an einen Gesellschafter schützen, die nicht durch eine entsprechende Gegenleistung ausgeglichen würden; letzteres wurde auch bereits zu diesem Zeitpunkt in der Stellung einer Realsicherheit für die Schuld eines Gesellschafters erkannt. 90 In besonderer Weise werden die Beweggründe des Senates zur Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung aber durch eine Entscheidung allerdings zu § 213 HGB, der seinerzeitigen aktienrechtlichen Entsprechung des § 30 GmbHG, veranschaulicht, die das GmbH-Recht jedoch ausdrücklich in Beziehung nimmt und daher hier kurz geschildert werden so1l91: An einer Aktiengesellschaft waren unter anderem zwei Aktionärsgruppen beteiligt. Nach Streitigkeiten beschloß man, daß die eine Gruppe die Anteile der anderen übernehmen solle; so geschah es auch. Die Finanzierung erfolgte in der Weise, daß zunächst die Gesellschaft zwei Darlehen aufnahm und hypothekarisch besicherte. Einen Teilbetrag des einen Darlehens gab sie direkt an die Kommanditgesellschaft der verkaufenden Aktionärsgruppe sowie eines ihrer Mitglieder persönlich zu Darlehen; den restlichen Teilbetrag gab sie der Käufergruppe als Kredit, die ihn weiter an ein Mitglied der Verkäufergruppe kreditierte mit der Maßgabe, daß dieser Kredit durch die Zahlung an die Verkäufer-KG getilgt werden solle. Den Auszahlungsanspruch auf das andere Darlehen trat sie an ein Mitglied der Käufergruppe ab; dieses seinerseits zedierte die Forderung weiter an die KG, an die ausbezahlt wurde. Im Endeffekt hatte also die Aktiengesellschaft zwei Darlehensansprüche gegen sich, die entsprechenden Geldmittel aber waren an die Verkäufer gelangt. - Das Reichsgericht ließ sich durch die Vielfalt der Transaktionen nicht blenden. Unter Hinweis auf die zuvor ergangenen Entscheidungen zum Recht der GmbH 92 stellt die Urteilsbegründung klar, daß auch die aktienrechtlichen Vorschriften des HGB die Herausgabe von Vermögenswerten in jeder rechtlichen Form sanktionieren. 93 Um eine solche handele es sich hier jedoch: "Betrachtet man vielmehr die ganzen Vorgänge, die sich hier abgespielt haben, in ihrem Zusammenhang, wie es erforderlich ist, weil sie aufs engste zusammengehören und nur bei dieser Betrachtungsweise nach ihrem Sinn und Zweck verständlich H9

RGZ 80, 148 (150).

92

RGZ 133,393 (395); 136,260 (264); s.a. RGZ 142,286 (288); 150,28 (33). RGZ 146, 84 ff. Vgl. oben Fn. 15.

93

A.a.O., S. 92.

90 91

42

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht werden, so gelangt man zum dem Ergebnis, daß die verklagte Kommanditgesellschaft und ... ihre Aktien der Gemeinschuldnerin bezahlt bekommen haben aus deren Stammvermögen ... . Diesen wirtschaftlichen Erfolg verdunkelt nun aber eine Reihe von Geschäften, deren wirtschaftlicher Sinnn und Zweck, mögen sie auch rechtlich voneinander trennbar und ernst gemeint sein, nicht erkennbar ist; ,,94

Diese Ausführungen können zugleich als Beispiel gelten für die bei einem Vorgehen in wirtschaftlicher Betrachtungsweise typischen rhetorischen Elemente: Vorgänge und nicht etwa einzelne Rechtshandlungen sind zu bewerten, weil sie aufs engste zusammengehören; Rechtsgeschäfte, Kern einer an Rechtsbegriffen orientierten Jurisprudenz, verdunkeln lediglich den wirtschaftlichen Erfolg. b) BGHZ 31, 258 ff.

Der Bundesgerichtshof hatte sich in einer Reihe von Entscheidungen mit der verdeckten Gewinnausschüttung zu befassen. 95 Hier kurz erläutert werden sollen zwei in der amtlichen Sammlung veröffentlichte Entscheidungen: In BGHZ 31, 258 ff. hatte der Beklagte, der selbst aus besatzungsrechtlichen Gründen keinen Flugbetrieb unterhalten konnte, durch zwei Strohleute die spätere Gemeinschuldnerin, ein kleines Luftverkehrsunternehmen in der Rechtsform der GmbH, gründen lassen. Fraglich wurde unter anderem, ob der Beklagte ein Entgelt für Flüge, die er ohne Gegenleistung in Anspruch genommen hatte, als eine verdeckte Gewinnausschüttung96 zurückzahlen müsse. Der erkennende Senat erkannte klar, daß das Auszahlungsverbot des § 30 GbmbHG grundsätzlich nur denjenigen betrifft, der eine förmliche GesellschaftersteIlung innehat. Dies war hier offensichtlich nicht der Fall. In bewußter Abwendung von der bisherigen Rechtsprechung97 kam das Gericht aber zu dem Schluß, daß der Fall einer Strohmanngründung gleichzustellen sei; zwar nicht formell, wohl aber wirtschaftlich sei der Beklagte von Anfang an Gesellschafter gewesen, nur der äußeren Rechtsgestaltung nach sei diese wirkliche Sachlage verdeckt gewesen. 98 Daher müsse auch auf den Beklagten § 30 GmbHG Anwendung finden; dieser sei durch die vergütungsfreie Zurverfügungstellung von Flügen erfüllt. 94

A.a.O., S. 92 f.

WM 1957, S.61 f.; 80HZ 31, 258 ff.; NJW 1976, S. 191 f.; WM 1982, S. 1402; WM 1986, S. 237, 239; WM 1986, S. 789; NJW 1987, S. 1194, 1195; NJW 1990, S. 2625 95

u.a.m.

% Der Senat (a.a.O., S. 262) spricht, tenninologisch wohl auch richtiger, von verdeckter Kapitalrückzahlung, vgl. auch oben Fn. 78. 97 A.a.O., S. 264. 9. A.a.O.

11. Die verdeckte Gewinnausschüttung

43

Stellt die zuvor erörterte Entscheidung des Reichsgerichts eine Erweiterung der Regeln gegen Vermögensverlagerungen in sachlicher Hinsicht dar, so betriill dieses Urteil also die wirtschaftliche Betrachtung von persönlichen Rechtsverhältnissen; eine rein schuldrechtliche Beziehung zu den Gesellschaftern, nämlich die Treuhandabrede, führte dazu, daß der Beklagte nicht nur so behandelt wurde, als sei er selbst Gesellschafter geworden; vielmehr spricht die Entscheidung ausdrücklich davon, hiermit werde die wirkliche Sachlage99 beurteilt. c) BGHZ 81; 365 ff.

Bestand in BGHZ 31, 258 ff. noch ein Vertragsverhältnis zwischen den Beteiligten, nämlich die Treuhandabrede, die zu einer von der gesetzlichen Begriffiichkeit abweichenden Beurteilung führte, so reichte in der in BGHZ 81, 365 ff. abgedruckten Entscheidung ein rein tatsächliches Verhältnis, nämlich enge Verwandtschaft: Dort hatte ein Alleingesellschafter die GmbH veranlaßt, Restkaufpreisansprüche gegen seinen Sohn für zwei Grundstücke mit eigenen Guthaben bei der Gesellschaft verbuchen zu lassen, allerdings zu einem Zeitpunkt, als, unter Einbeziehung zu berücksichtigender eigenkapitalersetzender Darlehen, Auszahlungen an ihn selbst ohne einen Verstoß gegen § 30 GmbHG nicht mehr möglich waren. Der Bundesgerichtshof verurteilte den Sohn, also einen Nichtgesellschafter, zur Zahlung. Zur Begründung steilte der Senat, unter Hinweis auf § 89 Abs. 3 AktG, nicht etwa auf allgemeine zivilrechtliche Begriffskategorien ab. lOo Vielmehr bezeichnet das Gericht als entscheidend die Zurechnung der an den Sohn geflossenen Mittel zum Vater aufgrund der zwischen beiden bestehenden wirtschaftlichen Einheit. 101 Inkonsequent ist dann allerdings, daß das Gericht ohne weiteres auch die Rückzahlung von dem mit dem Gesellschafter in wirtschaftlicher Einheit stehenden Beklagten verlangt. Es handelt sich also gar nicht um eine Zurechnung der Vermögensverlagerung zum Vater, denn in diesem Fall hätte ja letzterer die Rückzahlung vorzunehmen gehabt. Vielmehr wird, allein aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses, der Kreis der von § 30 in seiner persönlichen Reichweite betroffenen Personen erweitert.

99

A.a.O.

Wie etwa Schulze-Osterloh, FS Stimpel, S. 487, 502, der die Vertretungsregeln einbezieht, vgl. unten 3. 101 A.a.O., S. 368 f. 100

44

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

3. Einordnung in der Literatur Bei der Behandlung verdeckter Gewinnausschüttungen muß deutlich zwischen deren tatbestandlichen Voraussetzungen und ihrer rechtlichen Behandlung im Hinblick vor allem auf die zivilrechtliche Wirksamkeit der sie ermöglichenden Rechtsgeschäfte und, eng damit verknüpft, auf die Verpflichtung zur Rückgewähr unterschieden werden. Dabei tritt als ein Anwendungsbereich wirtschaftlicher Betrachtungsweise stets der Tatbestand der verdeckten Gewinnausschüttung in Erscheinung, während die Rechtsfolgen durchaus aus begrifHich-zivilrechtsdogmatischen Kategorien hergeleitet werden. Aufgrund dieses Umstandes soll auf den letztgenannten Fragenkreis, obwohl er in der allgemeinen Diskussion zur verdeckten Gewinnausschüttung wohl das Übergewicht hat l02 , hier nicht näher eingegangen werden. Aus demselben Grunde ebenfalls außer Betracht bleiben kann die Diskussion über den Umfang der Kapitalbindung, vor allem im Vergleich zum Aktienrecht. 103 Für die Untersuchung von besonderem Interesse ist hingegen, wie die Lehre von· der verdeckten Gewinnausschüttung als Rechtsinstitut im rechtswissenschaftlichen Schrifttum begründet wird. Ausgehend von der vom Reichsfinanzhof in den Jahren 1918 - 1925 geprägten Rechtsprechung zur verdeckten Gewinnausschüttung, die aber die ganz andersartige Problematik der Gewinnermittlung im Körperschaftssteuerrecht betrifft lO4 , waren diese Überlegungen, wie aufgezeigt, zunächst von der Rechtsprechung des Reichsgerichts in seine gesellschaftsrechtliche Judikatur übernommen worden. a) Die Lehre vom Doppelgeschäft

Die erste umfassende dogmatische Untersuchung zur Frage der Herleitung findet sich bei Ballerstedt. 105 Ballerstedts Grundthese ist, daß aus der gesellschaftsrechtlichen Gebundenheit des Gesellschafters eine vom individuellen 102 K. Schmidt, BB 1984, S. 1588 ff., Joost, ZHR 148 (1984), S. 27, 29 f.; Wintel: ZHR 148 (1984), S. 579, 587 ff.; Ulmer. FS 100 Jahre GmbHG, S. 363,368 ff.; Sonnenholl Stützle, WM 1983, S.2 ff.; BarthlGelsen, OB 1981, S.2265 ff.; Röhrkasten, GmbHR 1974, S. 36, 37 f. 10) Hierzu vor allem Wilhelm, FS Flume I1, S. 337, 348 ff.; dagegen Fabritius, ZHR 144 (1980), S. 628, 637 f.; Schulze-Osterloh, FS Stimpel, S. 487, 491; vgl. auch Joost, GmbHR 1983, S. 285 ff. 104 Vgl. die nahezu unüberschaubare Literatur im Bereich des Steuerrechts, insbes. Lange, Verdeckte Gewinnausschüttungen (5. Aufl. 1987); Döllerer. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen bei Kapitalgesellschaften (2. Aufl. 1990), jeweils mit zahlreichen w.N.; vor allem Fröhlich. Die verdeckte Gewinnausschüttung (1968), mit umfassender Erörterung des Verhältnisses zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise (S. 37 ff.). 105 Kapital, Gewinn und Ausschüttung bei Kapitalgesellschaften (1949), S. 114 ff.

11. Die verdeckte Gewinnausschüttung

45

Willen unabhängige Determination der rechtlichen Einordnung eines Rechtsgeschäftes zwischen Gesellschafter und Gesellschaft folge. I06 Konstruktiv erfaßt Ballerstedt die verdeckte Gewinnausschüttung als eine Kombination zweier Elemente; eines schuldrechtlichen Bestandteils, also dem Drittumsatzgeschäft, soweit, wie das Gesamtgeschäft einen angemessenen Leistungsaustausch beinhalte, und eines gesellschaftsrechtlichen Bestandteils, nämlich der Zuwendung eines Vermögensvorteils durch den über einen angemessenen Gegenwert hinausgehenden Teil der Vergütung. Letzterer sei eben aufgrund der Gebundenheit des Gesellschafters im Personenverband ohne Rücksicht auf Bezeichnung oder Partei willen als· eine verdeckte Gewinnausschüttung einzuordnen. Hinsichtlich nur dieses letzteren Teils nimmt Ballerstedt Nichtigkeit und damit eine Verpflichtung zur Teilrückzahlung an. I07 Die These von der Aufspaltung des Gesellschaftergeschäfts in einen schuldrechtlichen und einen gesellschaftsrechtlichen Teil ist abgelehnt worden, weil sie als ein bloßes juristisches Konstrukt ohne Grundlage in der Lebenswirklichkeit bleibe. 108 Darüber hinaus vermag sie aber wohl auch nicht zu begründen, wie denn Fälle mit Drittbeteiligung zu lösen sind, in denen also etwa mit einem Nichtgesellschafter ein Geschäft abgeschlossen wird, der in besonderer Beziehung zu einem Gesellschafter steht; möchte man die vom Parteiwillen unabhängige autoritative Einordnung als Teil-Ausschüttung hier weiterfuhren, müßten doch zumindest Kriterien gefunden werden, nach welchen die gesellschaftsrechtliche Gebundenheit, die nach Auffassung Ballerstedts die Umqualifizierung rechtfertigt, auch auf den Nichtgesellschafter erstreckt werden kann. Letztlich kommt im übrigen auch Ballerstedt nicht umhin, ohne Bezugnahme auf seine konstruktiven Erwägungen Vorgänge in ihrem wirtschaftlichen Bedeutungsgehalt zu beurteilen. I09 b) Leistungen causa soc;etat;s

Einen zivilrechtsdogmatisch begründeten Ansatzpunkt wählt auch Flume: lo Seine Grundthese lautet, daß die verdeckte Gewinnausschüttung ein nur vorA.a.O., S. 120. A.a.O., S. 116. lOH Geßler. FS Fischer, S. 131,139; ähnlich auch Hager. ZGR 1989, S. 71,90. 109 A.a.O., S. 163 ("Vielmehr ninunt sie [die Muttergesellschaft, d. Verf.] den Kapitalzins wirtschaftlich als Kapitalertrag ihrer Einlage in der Untergesellschaft entgegen"); S. 164 ("Für die aktienrechtliche Würdigung des Vorgangs ist entscheidend, welcher wirtschaftliche Zusanunenhang ihm zugrundeliegt"); S. 173 ("Sofern es sich wirtschaftlich um die in Vertragsform gekleidete Vorwegnahme erwarteter Jahresgewinne handelt, scheidet der Gesichtspunkt einer sittenwidrigen Maßnahme von vornherein aus"). 110 ZHR 144 (\980), S. 18, 19 f.; desgleichen in Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I, 2. Teil, Die Juristische Person, S. 287. 106

107

46

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

gebliches Umsatzgeschäft sei, bei dem durch die dahingehende Titulierung die tatsächlich im Gesellschaftsverhältnis angelegte causa des Geschäfts verdeckt werde. 11I Es handelt sich also um eine vor allem auf die subjektive Sicht der Beteiligten abstellende Auffassung. 112 Abgesehen von den damit verbundenen Nachweisschwierigkeiten ist es jedoch gerade fraglich, ob es zum Schutz der Gläubiger und Mitgesellschafter ausreicht, nur solche Gestaltungen zu erfassen, bei denen die Beteiligten sich des Ausschüttungscharakters bewußt sind ll3 ; letztlich hinge damit die Reichweite des Schutzes von der Kompliziertheit der Sachverhaltsgestaltung ab. 114 Daß es womöglich für die Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung doch subjektiver Elemente bedarf l5 , soll hiermit nicht ausgeschlossen werden; unbefriedigend erscheint es aus dem genannten Grunde jedoch, das Institut der verdeckten Gewinnausschüttung insgesamt gerade auf der von den Beteiligten vorausgesetzten causa beruhen zu lassen. c) Einzelfallbezogene Ansätze

Es bleiben jene, die sich der Problematik der verdeckten Gewinnausschüttung in der einen oder anderen Weise einzelfallbezogen nähern, wie dies ja auch einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise eigen ist. 116

Canaris insbesondere hat es für den Fragenkreis der Zuwendungen an Nichtgesellschafter unternommen, die in den Regelungen des Aktiengesetzes enthaltenen gesetzlichen Wertungen für die Lösung heranzuziehen 117; er erteilt dabei dem auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise hindeutenden Begriff des "nahestehenden" Dritten eine Absage und verweist auf die insbesondere von Teichmann l18 für die Erfassung von Gesetzesumgehungen entwikkelten Grundsätze. 119 Offen bleibt allerdings, wie Canaris den Kreis der sach111

A.a.O.

A.a.O., S. 21, wobei Flume aus der Unausgewogenheit des Leistungsverhältnisses ein Indiz für das Vorliegen der subjektiven Kriterien herleiten möchte, vgl. S. 20. 112

11) Ablehnend die ganz herrschende Lehre; vgl. Scholz-H.P. Westermann, GmbHG, § 30 Rn. 27; Lutter I Hommelhoff. GmbHG, § 29 Rn. 47; Winter, Mitgliedschaftliehe Treuebindungen im Recht der GmbH, S. 224; Dreßel, Kapitalaufbringung und -erhaltung in der GmbH, S. 234; Tries, Verdeckte Gewinnausschüttung im Recht der GmbH, S. 49 ff. 114 Vgl. zum Beispiel Fallgestaltungen wie den Managment Buyout und die wechselseitige Beteiligung, bei denen der Ausschüttungscharakter nicht so offen zu tage tritt wie etwa bei einern Austauschgeschäft mit unausgewogenem Leistungsverhältnis. 115

Vgl. hierzu Scholz-H.P. Westermann, GmbHG, § 30 Rn. 27 m.w.N.

Vgl. außer den im Nachstehenden genannten Geßler, a.a.O., S. 144 ff.; HachenburgGoerdelerlMüller, GmbHG, § 30 Rn. 47 ff. 117 FS Fischer, S. 31, 35 ff. 116

IIR 119

Die Gesetzesumgehung (1962); hierzu ausführlich unten 5. Kapitel, IV. A.a.O., S. 35.

III. Kapitalersetzende Darlehen

47

lich vom Begriff der verdeckten Gewinnausschüttung zu erfassenden Geschäfte begrenzen wollte; Kritik hat seine Untersuchung auch im Hinblick auf eine eher willkürlich erscheinende Abgrenzung unter Hinweis auf § 89 AktG zwischen Ehefrau und minderjährigen Kindern einerseits und anderen Verwandten andererseits erfahren. 120 In zutreffender Weise kritisch zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie von der Rechtsprechung vorgenommen wird, äußert sich schließlich auch Bommert. In seiner umfassenden Abhandlung allerdings für den Bereich des Aktienrechts setzt er sich vor allem, wie auch die vorliegende Untersuchung, kritisch mit der Tendenz auseinander, eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ohne näher umrissenes Konzept vorzunehmen. 121 Es bleibt aber festzuhalten, daß es bislang nicht gelungen ist, eine dogmatisch einwandfreie Begründung für die Abgrenzung verdeckter Gewinnausschüttungen von unbedenklichen Geschäften zu entwickeln. Die Praxis wird sich daher auch weiterhin mit dem Mittel einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise behelfen.

III. Kapitalersetzende Darlehen Die Lehre von den verdeckten Sacheinlagen und der Tatbestand der verdeckten Gewinnausschüttung sind vergleichsweise einfach als Anwendungsfalle einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu begreifen, da sie Umgehungssachverhalte aufgrund ihres wirtschaftlichen Gehaltes zu beurteilen suchen. Für die Rechtsfragen des kapitalersetzenden Darlehens gilt Gleiches für die Vorschrift des § 32a Abs. 3 GmbHG, die dem Grundtatbestand des kapitalersetzenden Darlehens jene Rechtshandlungen des Gesellschafters oder Dritter gleichstellt, die der Darlehensgewährung wirtschaftlich entsprechen, und die damit eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zum gesetzlichen Leitbild richterlicher Entscheidung erhebt. 122 Darüber hinausgehend läßt sich aber auch der Grundtatbestand des kapitalersetzenden Darlehens als eine Umqualifizierung formalen Fremdkapitals in materielles - wirtschaftliches - Eigenkapital und damit als ein Anwendungsfall wirtschaftlicher Betrachtungsweise begreifen.

120

Hager, a.a.O., S. 102 f.

Verdeckte Vennögensverlagerungen im Aktienrecht, S. 99, der Rechtsprechung wird ,juristische Brachialgewalt" vorgeworfen; ähnlich S. 32 und S. 58 f. 122 Hierzu unten 5. 121

48

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

1. Problemstellung

Die Eigenkapitalausstattung deutscher Unternehmen gilt im internationalen Vergleich allgemein als niedrig. 123 Das durch die Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften geschützte Mindeststanunkapital von DM 50.000,- ist lediglich als eine "Seriösitätsschwelle"124 für die Aufnahme der Geschäftstätigkeit zu verstehen. Weder ist gesichert, daß das vorhandene Eigenkapital nicht im Rahmen der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft aufgebraucht wird, noch, und dies ist der unter dem Begriff der materiellen Unterkapitalisierung l25 bekannt gewordene Tatbestand, ist sichergestellt, daß nicht der Geschäftsbetrieb mit einer für den Umfang der Geschäftstätigkeit völlig unzureichenden Kapitalausstattung durch die Gesellschafter aufgenommen wird. 126 Soweit aber der Gesellschaft durch die Gesellschafter in hinreichendem Maße Kapital zur Verfügung gestellt oder, im Falle der Aufzehrung des vorhandenen Kapitals, nachgeschossen wird, muß dies nicht notwendig in der Form der Einbringung von Eigenkapital geschehen. Vielmehr können die Gesellschafter der Gesellschaft Kapital auch in der Form von Darlehen überlassen. Die Motive können durchaus legitim sein; die Finanzierung durch GeseIlschafterdarlehen wird heute betriebswirtschaftlieh als eine im Grundsatz sachgemäße und zweckmäßige Form der Unternehmensfinanzierung angesehen. 127 In der Literatur werden insoweit drei Sachverhaltsgestaltungen unterschieden l28 : I. Bei Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, also zur Abwendung des Konkurses, werden nicht etwa Nachschüsse im Sinne des § 26 GmbHG geleistet, sondern ein oder die Gesellschafter stellen der Gesellschaft Darlehen zur Verfügung (sog. konkursabwendende Sanierungskredite). 2. Der Gesellschaft werden zu einem Zeitpunkt Kredite gewährt, zu dem eine Fremdkapitalaufnahme von einem unabhängigen Dritten nicht oder nicht mehr erfolgen könnte, weil die Gesellschaft kreditunwürdig ist. 3. Die Gesellschafter legen, etwa aus steuerlichen Erwägungen, die Finanzierung der Gesellschaft von vornherein auf eine Fremdfinanzierung aus Ei-

123

Zahlenmaterial bei Süchting, Finanzmanagement, S. 83.

124

Ballerstedt, ZHR 135 (\ 971), S. 383,385.

125 Geprägt wurde der Begriff wohl von Ulmer, FS Duden, S. 661, 669 ff.; Forderungen, rur Fälle materieller Unterkapitalisierung Haftungstatbestände zu entwickeln, sind aber wohl weitgehend ergebnislos geblieben, vgl. insbes. BGHZ 68, 312 (319). 126 Zu der anhaltenden Diskussion mit zahlreichen Nachweisen Hachenburg-Ulmer, § 32a, b Rn. 16. 127 Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, § 38, Rn. I. 12R Etwa K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 37 IV 2.

III. Kapitalersetzende Darlehen

49

genmitteln bei niedriger Eigenkapitalquote an und stellen der Gesellschaft langfristige Darlehen zur Verfiigung (sog. Finanzplankredite). Den Gesellschaftern ist es unbenommen, durch die gesellschafts- oder einzelvertragliche Vereinbarung der Unkündbarkeit dieser Darlehen eine Bindung des Darlehenskapitals in der Gesellschaft zu erreichen und diese damit zu "Quasi-Eigenkapital" zu erheben. 129 Wo dies aber nicht geschieht, birgt die Hingabe von Fremd- statt von hinreichendem Eigenkapital durch die Gesellschafter, die sog. nominelle Unterkapitalisierung l3 O, besondere Gefahren für außenstehende Gläubiger. 131 Sie sind nämlich nicht davor geschützt, daß die Gesellschafter, wenn ihnen aufgrund ihrer Informationsvorteile der drohende Konkurs oder die Aussichtslosigkeit von Sanierungsbemühungen offenbar wird, die hingegebenen Mittel abziehen und so den endgültigen Zusammenbruch der Gesellschaft herbeiführen. 132 Im Konkurs schmälern zudem die Ansprüche der Gesellschafter-Gläubiger die an alle Gläubiger auszuschüttende Quote, wenn nicht die Gesellschafterkredite durch sog. Rangrücktrittsklauseln 133 subordiniert sind. An dieser Stelle setzen die Regeln über die Behandlung eigenkapitalersetzender Darlehen an: Die ursprünglich von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, die auch nach Einführung der §§ 32a, b GmbHG fortgelten 134, verbieten es in ihrem Grundtatbestand bei Bestehen einer Unterbilanz den Gesellschaftern, hingegebene Kredite abzuziehen, und zwar bis zur Höhe des satzungsmäßigen Stammkapitals. 135 Zugleich versagt der durch die GmbHGNovelle von 1980 eingeführte § 32a Abs. 1 Gesellschafterkrediten in vollem Umfang die Aufnahme in die Konkurstabelle, wenn ein ordentlicher Kaufmann stattdessen Eigenkapital zugeführt hätte. 136 Damit werden Kredite der Gesellschafter aufgrund zwingender Regelung dem Eigenkapital gleichgestellt. 137 Als Grundtatbestand des eigenkapitalersetzenden Darlehens, und zwar sowohl bei der gesetzlichen Vorschrift des § 32a Abs. I GmbHG als auch für 129

Wiedemann. FS Beusch, S. 893, 898 ff.

Der Begriff wurde geprägt von Wiedemann. in: Die Haftung des Gesellschafters in der GmbH, 1968, S. 25. 131 Raiser. Recht der Kapitalgesellschaften, § 38 Rn. 7. 132 Fleck. FS Wemer, S. 107, 110; Vonnemann. GmbHR 1989, S. 145, 149. m Hierzu Schmidt. FS Goerde1er, S. 487, 499 f. 134 BGHZ 90, 370 (378 f.); vgl. auch Kübler. FS Stimpel, S. 3, 6 ff.; Geßler. ZIP 1981, S. 228 ff.; Beinert/Heinerkes/Binz. GmbHR 1981, S. 18 f. 135 Zusammenfassung bei Ulmer. GmbHR 1984, S. 256, 258 ff. 136 Zur Dualität des Haftungssystems insbes. Meyer. BB 1990, S. 1935 ff. 137 Wiedemann. FS Beusch, S. 894, 901 f. 130

4 MöUer

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2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

die durch die Rechtsprechung geprägten Regeln wird dabei allgemein die Hingabe von Krediten durch die Gesellschafter zu einem Zeitpunkt angesehen, zu dem die Gesellschaft kreditunwürdig ist. 138 Hierunter fallen auch die unmittelbar konkursabwendenden Sanierungskredite, die letztlich Ausgangspunkt der Lehre vom Eigenkapitalersatz waren und daher als deren klassischer Fall gelten. 139 Schließlich besteht Einigkeit daruber, daß die oben als dritte Fallgruppe genannten sog. Finanzplankredite dem Tatbestand des eigenkapitalersetzenden Darlehens unterfallen, letztere dann, wenn sie nicht vor Eintritt der Krise der Gesellschaft abgezogen werden. 140 2. Rechtsprechung Dem Anliegen der Untersuchung entsprechend soll im folgenden nicht so sehr auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale des eigenkapitalersetzenden Darlehens, sondern vielmehr auf die Rechtfertigung seiner Rechtsfolgen in Rechtsprechung und Lehre eingegangen werden. Dabei wird deutlich, daß sich bereits früh eine bis heute erhalten gebliebene Dualität innerhalb der Begrundungsansätze herausgebildet hat, nämlich ein wie immer gearteter Fehlverhaltensvorwurf einerseits und andererseits eine Qualifizierung oder wirtschaftliche Betrachtungsweise der Darlehen als Eigenkapital aufgrund ihrer wirtschaftlichen Funktion. a) Reichsgericht Das Reichsgericht stützte seine Entscheidungen zu dem später als eigenkapitalersetzendes Darlehen bekannt 'gewordenen Tatbestand zunächst auf den Vorwurf einer deliktischen sittenwidrigen Schädigung der Gesellschaft und ihrer Gläubiger. aa) JW 1938, S. 862 ff.

So wies das Gericht in seiner Entscheidung vom 16. November 1937 141 die Klage des Alleingesellschafters eines Chemieunternehmens gegen dessen Konkursverwalter auf Rückzahlung von Darlehen in Höhe des nahezu dreifachen der satzungsmäßigen Stammeinlage als treuwidrig ab. Es stelle einen Verstoß gegen § 826 BGB dar, zum Schaden anderer Gläubiger Forderungen zu erheben, die nur aufgrund der formalrechtlichen Trennung der Rechtssphä13M

Scholz-Schmidt, GmbHG, §§ 32a, 32b Rn. 35.

139

K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 37 IV 2 a.

140

141

Lutter/HommelhojJ. GmbHG, §§ 32a/b Rn. 17 m.w.N. JW 1938, S. 862 ff.

III. Kapitalersetzende Darlehen

51

ren von Gesellschaft und Gesellschafter entstanden seien, denn hierdurch werde der Zweck der Vorschriften, die eine Befriedigung der Gläubiger aus dem Gesellschaftsvermögen vorsähen, vereitelt. 142 Wählte das Reichsgericht also einen auf individuelle Vorwertbarkeit eines bestimmten Verhaltens gegründeten Ansatz, so erscheint doch bereits in dieser Entscheidung die für eine wirtschaftliche Betrachtungsweise kennzeichnende Gegenüberstellung von "formalrechtlichen" und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. 143 bb) JW 1939, S. 355 jJ.

Deutlicher noch werden Ansätze einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der Entscheidung vom 3. Dezember 1938 144, in der das Reichsgericht dem Gesellschafter einer Einmanngesellschaft die Aufrechnung eigener Darlehensansprüche mit Schadensersatzansprüchen der gemeinschuldnerischen Aktiengesellschaft versagte. Zwar war auch hier der gegen den Gesellschafter gerichtete individuelle Vorwurf - es stelle einen Mißbrauch der Einmanngesellschaft dar, seine volle Haftung auf einen abgegrenzten Teil des Vermögens zu beschränken 145 - tragender Grund der Entscheidung. Es folgt jedoch die Feststellung, der Senat habe aufgrund dieses Mißbrauchs "die angeblichen Darlehen als das behandelt, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich Gesellschafterdarlehen".I46 Damit deutet sich die heute vorherrschende Deutung der Einordnung der Regeln über die kapitalersetzenden Darlehen als eines Tatbestandes der "Umqualifizierung" an. 147

142

A.a.O., S. 864 f.

Kamprad (Gesellschafterdarlehen an die GmbH als verdeckte Sacheinlagen, S. 61) sieht die Entscheidung auf das Verbot der Gesetzesumgehung gegründet; zum Verhältnis von wirtschaftlicher Betrachtungsweise und dem Begriff der Gesetzesumgehung vgl. unten 5. Kapitel, IV. 144 JW 1939, S. 355 ff. 145 A.a.O. 143

146

A.a.O., S. 356.

Diese Passage wird etwa von K. Schmidt (z.B. GmbHR 1986, S. 337, 338) zur Illustration seiner These angeführt, es handele sich um die "Qualifikation" von Darlehen als Eigenkapital; vgl. auch unten 4.b). 147

52

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht b) Bundesgerichtshof

aa) BGHZ 31, 258 jJ.

Die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes zum eigenkapitalersetzenden Darlehen ist das Lufttaxi-Urteil aus dem Jahre 1959. 148 Dort hatte der die Gesellschaft durch einen Treuhandvertrag mit den Gesellschaftern beherrschende Beklagte der mit nur geringem Eigenkapital ausgestatteten GmbH Darlehen eingeräumt, die ihm kurz vor Konkurseintritt zurückgezahlt wurden. Der BGH gab der Rückzahlungsklage des Konkursverwalters, gestützt auf §§ 30, 31 Abs. 1 GmbHG und auf § 242 BGB, statt. 149 Der Gesellschafter 150 verstoße gegen Treu und Glauben, wenn er der Gesellschaft in der Krise zunächst Darlehen zur Verfiigung stelle, sie dann aber zur Unzeit abziehe. Aufgrund dieses Kernsatzes der Entscheidungsgründe wird das LufttaxiUrteil, sicher zutreffend, so verstanden, daß der Bundesgerichtshof in dieser frühen Phase seiner Entscheidungen zum kapitalersetzenden Darlehen den individuellen Fehlverhaltensvorwurf gegen den Gesellschafter nicht mehr an einer sittenwidrigen Schädigung der Gesellschaftsgläubiger, sondern in einem venire contra factum proprium gegenüber der Gesellschaft 151 festgemacht habe. 152 Ohne daß dies explizit ausgesprochen würde, wird jedoch auch deutlich, daß der Senat bereits in dieser frühen Entscheidung daran gezweifelt hat, ob die Darlehen des Beklagten überhaupt als Darlehen oder nicht vielmehr - wirtschaftlich betrachtet - als Eigenkapital einzuordnen seien; die Urteilsgründe setzen den Begriff des Darlehens in den entscheidenden Passagen 153 in Anfiihrungszeichen und bringen damit zum Ausdruck, daß das Gericht, auch wenn darauf nicht näher eingegangen wird, seine Entscheidung durchaus auch auf die Erwägung gestützt hat, hier könne es sich "in Wahrheit" nicht um Kredite handeln.

148 BGHZ 31, 258 ff.; sie wurde bereits als rur die Fragen der verdeckten Gewinnausschüttung grundlegend zitiert (oben, II.). 149 A.a.O., S. 273. 150 Mit welchem der Senat den Beklagten aufgrund seiner wirtschaftlichen Stellung gegenüber den bloß formellen Gesellschaftern gleichsetzt (S. 264; vgl. auch unten 7. Kapitel, III.2.a). 151 Kamprad. Gesellschafterdarlehen an die GmbH als verdeckte Sacheinlagen, S. 64. 152

HommelhojJ. ZGR 1988, S. 460,469.

153

Insbes. S. 274.

III. Kapitalersetzende Darlehen

53

bb) WM 1972, S. 74 ff.

In dem sog. Deckenputz-UrteW54 von 1971 155 kommt die Dualität innerhalb des Begründungsansatzes - einer Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Gesellschafters einerseits und einer, dort auch ausdrücklich als einer solchen gekennzeichneten, wirtschaftlichen Betrachtungsweise andererseits - noch deutlicher zum Ausdruck. In dem betreffenden Fall hatte die beklagte Alleingesellschafterin der zum Zeitpunkt der Klageerhebung in Liquidation befindlichen Gesellschaft Kredite zeitweise in Höhe nahezu des Sechsfachen der Stammeinlage gewährt, sich diese jedoch später bis auf einen Restbetrag zurückzahlen lassen. Der Bundesgerichtshof bejahte einen Rückerstattungsanspruch der Gesellschaft aus §§ 30, 31 Abs. 1 GmbHG unter dem Gesichtspunkt des eigenkapitalersetzenden Darlehens. Dabei verschob sich in dieser Entscheidung der Akzent des Fehlverhaltensvorwurfes auf eine Gefährdung der Gläubiger der Gesellschaft: Der Gesellschafter dürfe das durch die unzureichende Kapitalausstattung herbeigeführte Konkursrisiko nicht auf die außenstehenden Gläubiger abwälzen, sondern müsse die während einer Liquiditätskrise hingegebenen Mittel bis zur Überwindung der Krise in der Gesellschaft belassen. 156 Andererseits formuliert der Senat, diese Mittel seien wirtschaftlich als Kapitalgrundlage der Gesellschaft zu betrachten. 157 Das Verhältnis beider Elemente des Begründungsansatzes zueinander - des Fehlverhaltensvorwurfes einerseits und der wirtschaftlichen Betrachtung des Darlehens als Eigenkapitalgrundlage - bleibt jedoch auch in dieser Entscheidung noch undeutlich. cc) BGHZ 105, 168 ff.

Nachdem der BGH in seiner Entscheidung vom 24. März 1980 158, also am Vorabend der GmbH-Novelle von 1980, die Grundsätze über die eigenkapitalersetzenden Darlehen noch einmal zusammengefaßt, dabei aber als innere Rechtfertigung dieser Grundsätze wiederum den Gesichtspunkt der Gläubigergefährdung genannt hatte 159, tritt in den neueren Entscheidungen der

154 155 156 157 158 159

Bezeichnung bei HommelhojJ. a.a.O., S. 470. BGH, WM 1972, S. 74 ff. Aa.O., S. 75. Aa.O. BGHZ 76, 326 ff. Aa.O., S. 329.

54

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

Aspekt der Finanzierungsverantwortung l60 der Gesellschafter in den Vordergrund. Als beispielhaft hierfür kann die sog. HSW-Entscheidung vom 19. März 1988 161 gelten, die Kredite zum Gegenstand hatte, die die Hamburgische Landesbank an eine später in Konkurs gegangene GmbH gegeben hatte, an der ihr Anteile zur Sicherheit übertragen worden waren. Wie bereits zuvor in einer Entscheidung aus dem Komplex des BuM-Konkurses '62 , in der die rur die GmbH entwickelten Grundsätze über eigenkapitalersetzende Darlehen auf die Aktiengesellschaft übertragen wurden, sieht das Gericht nunmehr als entscheidend nicht mehr so sehr den Vorwurf eines subjektiven Fehlverhaltens, sondern vielmehr den Verstoß gegen objektive Finanzierungsregeln an. Die Gesellschafter seien frei, so ruhrt der Senat aus, eine in Liquiditätsschwierigkeiten geratene Gesellschaft zu liquidieren. Führten sie aber die Geschäftstätigkeit fort, so seien sie in der Wahl der Mittel gebunden und dürften das Risiko, das mit der an sich erforderlichen Zuruhrung von Eigenkapital verbunden sei, nicht auf die Gesellschaftsgläubiger abwälzen. Notwendige Finanzhilfen seien daher in der Form des Eigenkapitals zu erbringen. '63 In dieser Sicht stellt sich die Hingabe eines eigenkapitalersetzenden Darlehens als ein Verstoß gegen die so zu umschreibende Finanzierungsverantwortung des Gesellschafters dar. Wie dieser Gesichtpunkt nach Auffassung des Gerichts mit der Umqualifizierung des Darlehens, also seiner wirtschaftlichen Betrachtung als Eigenkapital zusammenhängt, verdeutlicht die sich anschließende Passage der Entscheidungsgründe: Werde statt des gebotenen Eigenkapitals Fremdkapital zugeruhrt, also ein kapitalersetzendes Darlehen, so rechtfertige es dieser Befund, diese Leistung - ihrem wirtschaftlichen Zweck entsprechend - als Eigenkapital anzusehen und entsprechend zu behandeln. '64 c) Zusammenfassung

Die Dualität von - im Laufe der Zeit gewandeltem - Fehlverhaltensvorwurf und wirtschaftlicher Betrachtungsweise als Begründungsansatz der Rechtsprechung rur die Grundsätze über eigenkapitalersetzende Darlehen kann daher dahingehend aufgelöst werden, daß

161

Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 32a, b Rn. 8, und unten 4.a).dd). BGHZ 105, 168 ff.

162

BGHZ 90, 381 (389).

163

A.a.O., S. 175.

164

A.a.O., S. 176.

160

III. Kapitalersetzende Darlehen

55

der Verstoß gegen das objektiv-rechtliche Gebot der ordnungsgemäßen Finanzierung der rechtfertigende Grund, die zwingende und damit die von den Parteien gewählte Form der Kapitalzufiihrung außer acht lassende Qualifikation der Mittel als Eigenkapital, also eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne dieser Untersuchung, die Folge dieses Verstoßes ist. '65 3. Gesetzesbegründung Mit der GmbH-Novelle vom 4. Juli 1980 166 wurden in den Vorschriften der §§ 32a, 32b nach umfassender Diskussion '67 Regeln über die Behandlung von eigenkapital ersetzenden Darlehen ins Gesetz aufgenommen. Im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist insbesondere die amtliche Begründung des Gesetzentwurfes. 168 Durch die Regelung des § 32a Abs. I werde den Gesellschaftern im Falle nicht ordnungsgemäßer Finanzierung die Berufung auf ihre formelle Rechtsstellung versagt, stattdessen würden die von ihnen gewährten Darlehen so eingeordnet, wie es ihrer Natur entspreche. 169 Auch dies weist auf eine Deutung der Regeln über die kapitalersetzenden Darlehen als eines Anwendungsfalles wirtschaftlicher Betrachtungsweise. '70 4. Einordnung in der Literatur Im Hinblick auf die Bestimmung des Norrnzwecks der §§ 32a, 32b und auf die Rechtfertigung der Rechtsprechungsgrundsätze über kapitalersetzende Darlehen finden sich im rechtswissenschaftlichen Schrifttum zum einen Erörterungen, die eher bei einem wie immer zu begründenden Fehlverhalten der finanzierenden Gesellschafter ansetzen. 171 Andere Autoren, vor allem im jün165 In diesem Sinne auch von Gerkan / HommelhojJ, Kapitalersatz im Gesellschafts- und Insolvenzrecht, S. 28; Hellwege. ZGR 1988, S. 516, 519. 166 BGBL I S. 836.

16.

Nachweise bei Müller. GmbHR 1982, S. 13 Fn. 3. BT-Drs. 8/1347.

169

A.a.O., S. 39.

167

Vgl. insoweit schon die amtliche Begründung zum Entwurf des Reichsjustizministeriums zu einem Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung von 1939, das in § 36 bereits eine dem heutigen § 32a ähnliche Regelung vorsah, und die ebenfalls der formalen Rechtsstellung der Gesellschafter-Gläubiger die Natur der Darlehen als Einlagen gegenüberstellte (abgedruckt bei Schubert [Hrsg.], Entwurf des Reichsjustizministeriums zu einem Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung von 1939, S. 163). 171 Weitere, im älteren Schrifttum genannte Begründungsansätze bei Kamprad. Gesell170

56

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

geren Schrifttum, gehen diese Fragestellung demgegenüber eher von der objektiven Funktion der hingegebenen Darlehen als Eigenkapital und damit, im Sinne dieser Untersuchung, von einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise her an. Diese Ansätze stehen nicht beziehungs los nebeneinander; wo dies problematisiert wird, wird der Fehlverhaltensvorwurf als innere Rechtfertigung der Umqualifizierung der Darlehen dargestellt. a) Fehlverhalten des Gesellschafter-Gläubigers

aa) Venire contra factum proprium

Die Regeln über die eigenkapitalersetzenden Darlehen nahmen, wie dargestellt, ihren Ausgangspunkt bei einem Vorwurf treuwidrigen Verhaltens, insbesondere im Sinne eines venire contra factum proprium. 172 Der Gesellschafter verhalte sich widersprüchlich, wenn er in der Krise der Gesellschaft hingegebene Mittel wieder abziehe, bevor der Sanierungszweck erreicht sei. Diese Auffassung wird aber nur noch vereinzelt vertreten. 173 Überwiegend wird sie kritisiert 174 , weil, wie K. Schmidt l75 plakativ formuliert, nichts Widersprüchliches darin zu erkennen sei, daß der Gesellschafter die Mittel, die er als Darlehen zugeführt habe, auch als solche behandelt wissen wolle. 176 bb) Vertrauensschutz

Als ein weiterer Aspekt wird die These aufgestellt, den Gesellschafter treffe eine Vertrauenshaftung gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft, die einmal hingegebenen Mittel nicht abzuziehen. Der finanzierende Gesellschafter trage dazu bei, daß sich im Geschäftsverkehr der Eindruck bilde und verfestige, die Gesellschaft könne dauerhaft ihre Verbindlichkeiten erfüllen. An diesem Rechtsschein müsse sich der die Finanzierungsleistung in Form des Darlehens erbringende Gesellschafter als Ausdruck eines objektiven Verkehrsschutzes festhalten lassen. l77 schafterdarlehen an die GmbH als verdeckte Sacheinlagen, S. 55 ff., und Fleischer. Finanzplankredite und Eigenkapitalersatz im Gesellschaftsrecht, S. 57 ff. 172 S. bereits oben a) und Hachenburg-Ulmer, GmbHG, §§ 32a, b Rn. 33. 173 Vgl. Kuhn, WM 1978, S. 598, 602; Goertzen, OB 1988, S. 2445. 174 Lutter/Hommelhoff, ZGR 1979, S.31, 35; Ulmer; FS Ouden, S.661, 673; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 18 III 4 b); Ensthaler; OB 1991, S. 1761, 1763. 175 A.a.O. 176 Ähnlich Maier-Reimer; FS Rowedder, S. 245, 269: Oie Annahme. eines venire contra factum proprium setze bereits das Ergebnis, daß nämlich Eigenkapitalersatz vorliege, voraus. 177

Insbes. Lutter / Hommelhoff, ZGR 1979, S. 31, 36 f.; Ketzer; Eigenkapitalersetzende

III. Kapitalersetzende Darlehen

57

Auch diese Auffassung hat sich nicht durchsetzen können. 178 Gegen sie ist etwa eingewandt worden, Vertrauenshaftung setze Zurechenbarkeit des Vertrauenstatbestandes und damit die Möglichkeit der Zerstörung des Rechtsscheins voraus; führe der Gesellschafter Fremdkapital zu, so mache er deutlich, daß er sich gerade nicht an der Finanzierungsleistung festhalten lassen wolle. '79 Zudem sei auch fraglich, ob die Grundannahme, der Verkehr vertraue auf eine ordnungsgemäße Eigenkapitalausstattung, überhaupt zutreffe. Daß Sanierungsbemühungen einer Gesellschaft nicht notwendig auf dem Einsatz von Eigenkapital fußen müßten, sei im Rechts- und Geschäftsverkehr hinreichend bekannt. 180 Letztlich läßt sich die Kritik als ein Unbehagen angesichts eines möglichen Zirkelschlusses verstehen; auf seinen Schutz vertrauen kann der Rechtsverkehr nämlich nur deshalb, weil und soweit es die Grundsätze über eigenkapitalersetzende Darlehen gibt. ce) Konkursverschleppung

Etwas anders akzentuiert '81 wird der Gläubigerschutz von denjenigen, die auf die wirtschaftlich unsinnige Verlängerung der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft abstellen; durch die Hingabe der Finanzmittel statt der Einleitung einer erforderlichen Liquidation werde in der Regel nur weiteres Gesellschaftsvermögen verwirtschaftet. '82 Dieser Aspekt erscheint jedoch gegenüber der sogleich darzustellenden These von der Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter nicht als ein eigenständiger Begründungsansatz, da auch er dem Gesellschafter zum Vorwurf macht, durch den Einsatz von Fremdmitteln wälze er das Risiko des gebotenen Eigenkapitaleinsatzes auf die Gläubiger der Gesellschaft ab. '83 Dementsprechend wird dieser Aspekt auch zumeist im Zusammenhang mit der Begründung der Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter genannt. 184

Aktionärsdarlehen, S. 37 ff.; Hildebrand. Eigenkapitalersetzende Bankdarlehen, S. lOS ff.; zum Vertrauensschutz im Gesellschaftsrecht vgl. bereits Kreifels. GmbHR 1956, S. 81, 83. 179

Vgl. etwa K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 18 III 4 b). Ensthaler. DB 1991, S. 1761, 1763.

1MO

Fleischer. Finanzplankredite und Kapitalersatz im Gesellschaftsrecht, S. 79 f.

17M

Lutter/Hommelhoff, ZGR 1979, S. 31,38 nennen diesen Aspekt lediglich als einen unter mehreren Gründen für die von ihnen befürwortete Vertrauenshaftung. 1R2 Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 32 a, b Rn. 8; Vonnemann. GmbHR 1989, S. 145, 149; Fischer / Lepper. ZIP 1986, S. I, 2. 1M3 Sogleich unter dd). 1R1

1M

231 f.

Vgl. etwa Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 32a, b Rn. 8; Geßler. ZIP 1981,S. 228,

58

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht dd) Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter

Als Grundlage und innere Rechtfertigung der Grundsätze über die eigenkapitalersetzenden Darlehen wird heute, wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, auch im Schrifttum ganz allgemein die Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter, also verkürzt, die Freiheit des "Ob", nicht aber des "Wie" der Finanzierung in der Krise, genannt. 185 Sie schränke die grundsätzliche, bereits in der Trennung der Vermögenssphären von Gesellschafter und Gesellschaft angelegte Finanzierungsfreiheit ein, da es dem Gesellschafter nicht erlaubt sein dürfe, das Konkursrisiko auf die außenstehenden Gläubiger abzuwälzen. 186 Der vorzeitige Abzug von kapitalersetzenden Darlehen stellt sich dann als ein Verstoß gegen die Finanzierungsverantwortung dar; es wird dem Gesellschafter damit wiederum ein, wenn auch verschuldensunabhängiger, Fehlverhaltensvorwurf gemacht. Die Finanzierungsverantwortung wird vielfach zurückgeführt auf Grundsätze ordnungsgemäßer Finanzierung, wie sie auch in der gesetzlichen Formel des ordentlichen Kaufmannes, der Eigenkapital zugeführt habe (§ 32a Abs. I GmbHG)'87, zum Ausdruck komme. '88 Dieser Ansatz führt jedoch nicht sehr weit, da sich sogleich die Frage nach der normativen Grundlage der Geltung der Grundsätze ordnungsgemäßer Finanzierung stellt. Andere leiten die Finanzierungsverantwortung des Gesellschafters aus dessen Doppelrolle als Gesellschafter und Darlehensgeber her. '89 Auch diese Begründung ist letztlich unbefriedigend, weil mit der Kennzeichnung der Position des Gesellschafters als einer Doppelrolle zwar die Situation zutreffend gekennzeichnet, ein Geltungsgrund für eine besondere Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter damit aber nicht genannt ist. Tiefergehend findet sich der ambitionierte Versuch Fleischers, die Finanzierungsverantwortung auf ein allgemeines, auch unter Gesichtspunkten ökonomischer Analyse des Rechts zu begründendes "Prinzip der Symmetrie von Chancen und Risiken" zu gründen: Wer durch den Einsatz von Risikokapital überproportional am Unternehmenserfolg teilnehme, solle auch das dementsprechende Verlustrisiko tragen. 190 Ebenfalls aus der besonderen Stellung des Gesellschafters argumentieren jene, die als tragenden Grund für die FinanzieIR5 K. Schmidt, ZHR 147 (1983), S. 165, 178; Lutter, ZIP 1989, S.477, 478; Hachenburg-Ulmer, GmbHG, § 32a, b Rn. 8; Mincke, ZGR 1987, S. 520, 524; Rümker, ZGR 1988, S. 494, 500 ff.; kritisch aber H.P. Westermann, ZIP 1982, S. 386.

IR7

Scholz-Schmidt, GmbHG, § 32a, 32 b Rn. 4. Geßler, ZIP 1981, S. 228, 230.

IR6

IRR

Etwa Wiedemann, ZIP 1986, S. 1293, 1299 f.

IR9

Scholz-Schmidt, GmbHG, §§ 32a, 32 b Rn. 4; bereits Ulmer, FS Duden, S. 661, 673.

190

Finanzplankredite und Kapitalersatz im Gesellschaftsrecht, S. 86 ff.

III. Kapitalersetzende Darlehen

59

rungsverantwortung die Wahrnehmung von Leitungs-, Mitverwaltungs- und Kontrollrechten ansehen; wer in der Gesellschaft eine Unternehmerstellung einnehme, müsse auch in vollem Umfang das Unternehmensrisiko tragen. 191 Die Antwort auf die Frage, welchem dieser beiden letztgenannten Ansätze zu folgen ist, soll hier zunächst dahinstehen. b) Wirtschaftliche Betrachtungsweise: Materieller Eigenkapitalbegriff

Anders als die vorgenannten Äußerungen, die die Grundsätze über kapitalersetzende Darlehen als Folge eines wie immer zu bestimmenden Fehlverhaltensvorwurfs erscheinen lassen, weisen andere, zum Teil von den gleichen Autoren verwandte Formulierungen auf eine Deutung dieser Grundsätze als eines Anwendungsfalles wirtschaftlicher Betrachtungsweise hin: Es dürfe nicht ein formalrechtlicher Aspekt statt des wirtschaftlichen Sinnes des Geschehens zum entscheidenden Kriterium gemacht werden l92 ; kennzeichnend für die Rechtsprechungsgrundsätze über kapitalersetzende Darlehen sei, daß sie nicht an formale Rechtspositionen, sondern an materielle Funktionen anknüpften l93 ; bei eigenkapitalersetzenden Darlehen handele es sich funktional um Eigen- und nicht um Fremdkapital 194 ; kapitalersetzende Darlehen müßten als das behandelt werden, was sie in Wirklichkeit seien, nämlich Gesellschaftereinlagen. 195 Im Anschluß an die finanzierungswissenschaftlichen Untersuchungen von Albach l96 haben es insbesondere K. Schmidt l97 und Wiedemann l98 unternommen, die Grundsätze über kapitalersetzende Darlehen als Ausprägung eines materiellen KapitaibegrijJes l99 innerhalb einer Finanzierungssystematik darzustellen, die nicht mehr allein auf die Formenwahl, sondern auf Funktionen abstelle 2°O, und damit Ausdruck einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise201 191 K. Schmidt, ZHR 147 (1983), S. 165, 186 f.; Rümker, ZGR 1988, S.494, 502; Adams. Eigentum, Kontrolle und Beschränkte Haftung, S. 88 f.; Fleck. FS Werner, S. 107, 116. 192 von Gerkan, GmbHR 1986, S. 218,220. 193

Kohlhosser, WM 1985, S. 929, 935; Ullrich, GmbHR 1983, S. 133, 140.

194

Priester, FS Döllerer, S. 475, 484.

19S Mincke, ZGR 1987, S. 521, 526, der allerdings selbst kapitalersetzende Darlehen mit stillen Einlagen gleichsetzt. 196 ZGesStW 118 (1962), S. 653 ff. 197 FS Goerdeler, S. 487 ff.

198

FS Beusch, S. 893 ff.

Vgl. bereits Lutter / Hommelhoff, ZGR 1979, S. 31, 43; im Ansatz auch Junker, ZHR 156 (1992), S. 394,399. 200 Schmidt, a.a.O., S. 490. 199

60

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbJ.I-Recht

sei. Sie unterscheiden dabei zwischen verschiedenen Kategorien materiellen Eigenkapitals, nämlich dem Kernkapital, das dem formellen Eigenkapital entspricht, dem gewillkürten Ergänzungskapital, dessen dem formellen Eigenkapital gleichkommende Haftungsfunktion sich aus gesellschafts-. oder schuldvertraglicher Abrede ergebe, und schließlich dem erzwungenen Haftoder Ersatzkapital, also den durch die Grundsätze über eigenkapitalersetzende Darlehen gebundenen Mitteln. 202 So verstanden handelt es sich bei den Regeln über die eigenkapitalersetzenden Darlehen um eine Umqualifizierung von Krediten in Eigenkapital kraft zwingenden Rechts 203 und damit um eine Form wirtschaftlicher Betrachtungsweise. c) Verhältnis von Fehlverhaltensvorwurf und wirtschaftlicher Betrachtungsweise

Das Verhältnis der auf einen Verstoß gegen Verhaltensnormen abzielenden Begrundungsansätze (oben a» für die Kapitalersatzregeln einerseits und der auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise abstellenden Überlegungen, die auf die Postulierung eines materiellen Eigenkapitalbegriffes hinauslaufen, wird, wo dies überhaupt thematisiert wird, nicht immer ganz deutlich. So stellt Hommelhoff den, wie immer hergeleiteten, Fehlverhaltensvorwurf als eine "Einbindung" der Umqualifikation "in die Grundwerte der Gesamtrechtsordnung" dar. 204 Schmidt bezeichnet die Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter als "Grundlage", auf der die Behandlung von Fremdmitteln als Eigenkapital im Sinne eines materiellen Kapitalbegriffes beruhe. 20s Fleischer nennt das von ihm postulierte Prinzip der Symmetrie von Chancen und Risiken die "normative Grundlage für das Außerachtlassen der rechtlichen Formenwahl". 206 Am deutlichsten wird das Verhältnis von Finanzierungsverantwortung und wirtschaftlicher Betrachtung von Gesellschafterkrediten wohl bei Wiedemann, der, in einer Linie mit den Ausführungen des Bundesgerichtshofes in der HSW-Entscheidung207 formuliert, der Verstoß gegen die Grundsätze ord-

201

So ausdrücklich Wiedemann, a.a.O., S. 907, 910.

Tenninologie bei Wiedemann, a.a.O., S. 895; Schmidt, a.a.O., S. 493 f. bezeichnet nicht-fonnelles als Quasi-Eigenkapital, das er in die Kategorien "kraft Gesellschaftsvertrages", "kraft schuldrechtlicher Abrede" und "kraft zwingenden Rechts" einteilt. 203 Schmidt. a.a.O., S. 503. 204 ZGR 1988, S. 460, 477. 205 Gesellschaftsrecht, § 18 III 4 b). 202

206 207

Finanzplankredite und Kapitalersatz im Gesellschaftsrecht, S. 86. BGHZ 105, 168 (176); vgl. oben a).

III. Kapitalersetzende Darlehen

61

nungsgemäßer Finanzierung durch die Hingabe von Krediten sei die "innere Rechtfertigung" für deren Umqualifizierung in Eigenkapital. 208 d) Ergebnis

Wie auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und die Gesetzesbegründung zu § 32a GmbHG, stützen neuere Ansätze in der Literatur die Regeln über kapitalersetzende Darlehen auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise dieser Kreditmittel als materielles Eigenkapital vor dem Hintergrund eines materiellen KapitalbegrifJes. Dabei erscheint die Finanzierungsverantwortung des Gesellschafters, die eine Finanzierung der in eine Liquiditätskrise geratenen Gesellschaft durch Eigen- statt durch Fremdmittel fordert, als die innere Rechtfertigung dieser Umqualifizierung. 5. Wirtschaftlich vergleichbare Rechtshandlungen, § 32a Abs. 3 Vergleichsweise unkompliziert als ein Fall wirtschaftlicher Betrachtungsweise zu begreifen ist demgegenüber die Vorschrift des § 32a Abs. 3 GmbHG, die die Regelungen über kapitalersetzende Darlehen auf solche Rechtshandlungen eines Gesellschafters oder eines Dritten erstreckt, die der Darlehensgewährung wirtschaftlich entsprechen. Die jetzige Formulierung des § 32a Abs. 3 GmbHG ist Ergebnis der Beratungen des Rechtsausschusses des Bundestages zur Reform des GmbHG von 1980. 209 Noch im Referentenentwurf von 1977210 war versucht worden, alle denkbaren Formen der Umgehung des Grundtatbestandes des Abs. 1 in den Abs. 2-6 kasuistisch aufzuführen. Nach Auffassung des Rechtsausschusses barg dieser Regelungsansatz jedoch die Gefahr, daß Lücken für wirtschaftlich vergleichbare Sachverhalte bestehen bleiben würden. 211 Deshalb wurde die ursprüngliche Fassung durch eine Generalklausel 212 ersetzt. Erstmals im Gesellschaftsrecht hat damit der Gesetzgeber die Anordnung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise213 als Regelungstechnik verwandt 20K

209 210

A.a.O., S. 909; so auch Lutter/HommelhojJ. GmbHG, § 32a/b Rn. 3. BT-Drs. 8/3908. BT-Drs. 8/1347.

211 A.a.O., S. 74; vgl. auch die Äußerungen von Raiser im Protokoll über die 3. Sitzung der Arbeitsgruppe GmbH-Reform vom 7.2.1979. 212 A.a.O.; die genauen Motive rur die Wahl der Gesetz gewordenen Formulierung sind nicht mehr zu ermitteln, da die betreffende Sitzung der Arbeitsgruppe GmbH-Reform ausweislich der vom Verfasser eingesehenen Gesetzesmaterialien nicht dokumentiert ist. 213 So Wiedemann, ZIP 1986, S. 1293, 1294; Büscher/Klusmann, ZIP 1991, S. 10, 12, Bäcker. ZIP 1989, S. 681, 685.

62

2. Kap.: Fälle wirtschaftlicher Betrachtungsweise im GmbH-Recht

und damit den Gerichten den Auftrag erteilt, fiir eine nicht an der äußeren Gestaltung der Gesellschaftsfinanzierung verhaftete Anwendung der Grundsätze über Eigenkapitalersatz zu sorgen. 214 Bäcker 15 hat seine Untersuchung über die Reichweite des Tatbestandes des § 32a Abs. 3 zum Anlaß genommen, sich als einer der wenigen mit der Bedeutung und Natur der wirtschaftlichen Betrachtungsweise außerhalb des Steuerrechts auseinanderzusetzen. 216 Auf der Grundlage der Einordnung bereits des Grundtatbestandes der Regeln über die kapitalersetzenden Darlehen217 als einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise ließe sich allerdings überlegen, ob § 32a Abs. 3 nicht eigentlich überflüssig ist, da eine ohne Rücksicht auf die formelle Gestaltung vorgehende wirtschaftliche Betrachtungsweise ohnehin auch Umgehungstatbestände erfassen könnte. 218 Dementsprechend wurden auch bereits unter alleiniger Geltung der ursprünglichen Rechtsprechungsregeln jene Sachverhalte, die heute unter § 32a Abs. 3 subsumiert werden, aufgrund einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise als kapitalersetzende Darlehen eingeordnet. 219

214

So Ulmer. ZIP 1984, S. 1163, 1167.

Eigenkapitalersetzende Rechtshandlungen der GmbH-Gesellschafter und Dritter, S. 61 ff.; Waechter. Gesellschafterdarlehen und Umgehungsgeschäfte im Konkurs der GmbH, S. 69 ff., geht die Bestimmung der Rechtsnatur des § 32a Abs. 3 GmbHG unter dem Gesichtspunkt des Umgehungsgeschäftes an. 215

216 217

Auf seine Ausfiihrungen wird zurückzukommen sein; vgl. unten 4. Kapitel, I. Oben 2.c).

Näher unten 5. Kapitel, VI.5.c). 219 BGHZ 31, 259 (264): "Formell war der Beklagte weder Gründer noch ... Gesellschafter der Gemeinschuldnerin. Wirtschaftlich war er aber von Anfang an der alleinige Gesellschafter"; auch BGHZ 81, 365 (369); BGH, ZIP 1981, S. 1448, 1449 jeweils ebenfalls zu den Gesellschaftern gleichstehenden Dritten. 218

3. Kapitel

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht Der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise wird gemeinhin mit dem Steuerrecht identifiziert.' Dies ist verständlich, denn in diesem Rechtsgebiet ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise eine allgemein anerkannte2 und umfassend wissenschaftlich behandelte3 Rechtsfigur. Daher soll, vor einer Behandlung der sich spezifisch rur das Privatrecht aufwerfenden dogmatischen Fragen, eine Darstellung der Bedeutung und Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht erfolgen.

I. Regelung in der Reichsabgabenordnung von 1919 Die Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht kommt nicht von ungefähr. In diesem Bereich des Rechts hat sie bereits im Jahre 1919 eine, wenn zunächst auch lückenhafte, gesetzliche Kodifizierung erhalten, die ganz maßgeblich zur Eigenständigkeit der Steuerrechtslehre beigetragen hat.

1. Enno Beckers Entwurf zu § 4 Reichsabgabenordnung Der von Enno Becker im Frühjahr .1919 vorgelegte Entwurf einer Reichsabgabenordnung lautete in seinem § 4: "Bei der Auslegung der Steuergesetze ist nicht am Wortausdruck zu haften, sondern ihr Zweck und ihre wirtschaftliche Bedeutung und der durch die Entwicklung begründete Wandel der Dinge und Anschauungen zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Würdigung von Tatbeständen des bürgerlichen Rechts."

1 Vgl. etwa Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 105; Zeller, Auslegung von Gesetz und Vertrag, S. 391; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 596. 2 V gl. nur die Standardwerke von Tzpke / Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 65 ff.; Tzpke, Die Steuerrechtsordnung; Bd. III, 1283 ff.; Koch-Scholtz, Abgabenordnung, § 4 Rn. 15; Hübschrnann/Hepp/Spitaler-Fischer, Abgabenordnung, § 42 Rn. 128, jeweils mit zahlreichen Nachweisen. 3 Vgl. die im folgenden näher bezeichneten Dissertationen von Urbas, Hirschmann, Worm, Maerz, Haubrichs u.a.

64

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

Becker selbst sah in dieser Vorschrift das Kernstück der Abgabenordnung4 , mit der eines seiner zentralen Anliegen verwirklicht werden sollte. Becker wollte dem Richter bei der Anwendung der Steuergesetze die Freiheit einräumen, zu einer an der Leistungsfähigkeit des einzelnen orientierten und eine gleichmäßige Besteuerung gewährleistenden Entscheidung zu gelangen. 5 Um dies zu erreichen, enthielt § 4 des Entwurfes zwei voneinander unabhängige methodische Instrumente. Zum einen wurde eine auf eine steuerrechtsspezifische Würdigung abstellende Auslegung der Gesetze postuliert, § 4 S. 1. Zum anderen wollte Becker durch § 4 S. 2 eine "Tatbestandsauslegung" im Vorfeld der Gesetzesanwendung in der Abgabenordnung verankern. Beide Gedanken sind in dem Begriff der "wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht" aufgegangen, ohne daß diese bei den Erscheinungsformen stets klar auseinandergehalten würden. 6

a) Verselbstständigung des Steuerrechts durch Gesetzesauslegung, § 4 Satz 1 des Entwurfes

Bis zur Schaffung der Reichsabgabenordnung herrschte in der Rechtsprechung der Gedanke vor, der bürgerlich rechtliche Inhalt eines Begriffes - etwa der des "Eigentums" oder der "Abtretung" - müsse auch dann für die Rechtsanwendung maßgeblich sein, wenn dieser Begriff in einem Steuergesetz verwandt werde. 7 Becker sah demgegenüber die Notwendigkeit, das Steuerrecht aus den vorgefundenen Begriffiichkeiten des bürgerlichen Rechts herauszulösen und eine Auslegung zu ermöglichen, die die besonderen Zwecke des Steuerrechts - Sicherung der fiskalischen Interessen durch eine an der Leistungsfähigkeit orientierte Lastenverteilung - berücksichtigte. 8 Zwar sei es, wie Becker später in seiner Kommentierung der Reichsabgabenordnung ausführte, nicht zu vermeiden, daß das Steuerrecht Begriffe des bürgerlichen Rechts zur Umschreibung der zu erfassenden Tatbestände verwende. Dies sei aber nur ein Notbehelf. Tatsächlich fuße das Steuerrecht auf wirtschaftlichen Begriffen wie Einkommen, Vermögen und Umsatz; diese gelte es letztlich zu erfassen. Bereits Becker. RAD, 7. Aufl., § 4 Anm. I a. Urbas. Die Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 127 mit Nachweisen. 6 Kruse. Steuerrecht Allgemeiner Teil, S. 73. 7 Cordes. Untersuchungen zu Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, S. 48; Esser. Die Entwicklung des Verhältnisses von Steuerrecht - Privatrecht unter besonderer Berücksichtigung der sog. ..wirtschaftlichen Betrachtungsweise", S. 16 ff., mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts. H Wilser. Der Durchgriff bei Kapitalgesellschaften im Steuerrecht, S. 24. 4

5

I. Regelung in der Reichsabgabenordnung von 1919

65

aus diesem Grunde müßten die bürgerlich-rechtlichen Begriffe im Steuerrecht in einer spezifisch steuerlichen, auf ihren wirtschaftlichen Gehalt abstellenden Weise ausgelegt werden. 9 Diese Auffassung Beckers, die ihren Ausdruck in Satz 1 des Entwurfes zu § 4 RAO gefunden hat, wurde Ausgangspunkt der Verselbständigung des Steuerrechts gegenüber dem - älteren und wissenschaftlich sehr viel stärker durchdrungenen - Zivilrecht. 1O § 4 S. I des Entwurfes drückt den aus heutiger, ganz auf teleologische Gesichtspunkte bei der Gesetzesauslegung abstellender Sicht selbstverständlichen Gedanken aus, daß der Sinn des Gesetzesausdruckes stets aus dem Kontext der Regelungsmaterie heraus erschlossen werden mußli; Engisch spricht von der "Relativität der Rechtsbegriffe".12 Diese Erscheinungsform der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist jedoch nicht die in dieser Untersuchung gemeinte Rechtsfigur; sie läßt sich richtiger als "wirtschaftliche Auslegung" bezeichnen. 13 b) Überwindung der Verhaftung an äußeren Formen durch "Tatbestandswürdigung", § 4 Satz 2 des Entwurfes

Der Gedanke einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Sinne dieser Untersuchung kommt vielmehr in Satz 2 der Vorschrift zum Ausdruck. Becker war es nämlich daran gelegen, den Richter bei der Beurteilung steuerlich relevanter Sachverhalte von der Bindung an die äußere Form der rechtlichen Gestaltung zu befreien. Es sei erforderlich, daß "ohne Rücksicht auf die von den Beteiligten beliebten Benennungen, Bezeichnungen oder die von ihnen gewählten Fonnen und Verkleidungen alle Fälle, die ihrer wirtschaftlichen Bedeutung nach von der Steuer getroffen werden sollen, von ihr getroffen werden."14

Mit dieser Forderung betrat Becker, wie er auch selbst betont hat l5 , kein Neuland. 16 Zwar hatte die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu der seiner Zuständigkeit zugewiesenen Stempelsteuer des Reichesi? im Anschluß an das RAO, 3. Aufl., § 4, Anm. 6. 10 Vg\. etwa Ball, Steuerrecht und Privatrecht, S. 117 ff. 11 Statt vieler Tipke / Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 65. 12 Einfiihrung in das juristische Denken, S. 157 ff. 13 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I1I, S. 1284. 14 RAO, 3. Aufl., § 4 Anm. 2. 15 RAO, 3. Aufl., Ein\., S. XII. 16 Urbas, Die Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 114. 17 Reichsstempelgesetz vorn 14.6.1900.

9

5 Möller

66

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

Preußische Oberverwaltungsgericht '8 zunächst ganz im Zeichen einer Orientierung an den von den Beteiligten gewählten Konstruktionen und ihrer Beurteilung unter strenger Beachtung der zivilrechtlichen Begriffiichkeiten und Rechtsbeziehungen gestanden. '9 Bereits in der sogenannten Hohenlohe-Entscheidung vom 5. Januar 191420 - es handelte sich um die Frage der Besteuerung einer Strohmann-Gründung durch einen vermögenden Fürsten - hatte das Reichsgericht aber der Besteuerung die "tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse" zugrundegelegt und ausgefiihrt, es entscheide nicht die von den Parteien willkürlich gewählte äußere rechtsgeschäftliche Form, sondern der aus dem Steuergesetz ersichtliche Zweck der Einnahmenerzielung. 21 Diese Entscheidung ist allerdings vereinzelt geblieben. 22 Den in der Hohenlohe-Entscheidung enthaltenen Gedanken wollte Becker, der daher als Begründer der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im deutschen Recht gelten kann23 , mit Satz 2 seines Entwurfes kodifizieren: Es sollten nicht nur die Gesetze vor dem Hintergrund ihres wirtschaftlichen Zweckes ausgelegt, sondern auch der zu besteuernde Tatbestand, also der der Rechtsanwendung vorgelagerte Lebenssachverhalt, auf seinen wirtschaftlichen Gehalt hin untersucht, der "wirtschaftliche Kern" eines Vorganges erfaßt werden können. 24 Diese Ausfiihrungen Beckers in seiner späteren Kommentierung der Reichsabgabenordnung entprechen der späteren Verwendung des Begriffes "wirtschaftliche Betrachtungsweise" so, wie sie im 1. Kapitel umschrieben und im 2. Kapitel in ihrer Wirkungsweise dargestellt worden ist. 2. Endgültige Regelung in der RAO und weitere Entwicklung a) Fehlen des § 4 Satz 2 in der Endfassung des Gesetzes

§ 4 des Entwurfes von Becker stieß bei den Gesetzesberatungen auf Widerstand. Soweit sie die Auslegung im Hinblick auf die spezifisch steuerrechtlichen Zwecke betraf, sah man die Vorschrift als überflüssig und im übrigen als gefährlich an, da sie der Rechtsunsicherheit Vorschub leisten werIM

PrOVGE 64, 6 (7); 64, 45 (47); PrVerwBI. 41 (1919/20), S. 171.

19

RGZ 77, 238 (241); 79, 191 (192); 83, 21 (22); 83,288 (289).

RGZ 84, 17 ff.; zu dieser Entscheidung auch Hedemann. Reichsgericht und Wirtschaftsrecht, S. 12 f. 21 A.a.O., S. 21. 20

22 Cordes, Untersuchungen zu Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, S. 48. 23

Kruse, Steuerrecht Allgemeiner Teil, S. 72.

24

Becker, RAO, 7. Aufl., § 4 Anm. 2 a).

I. Regelung in der Reichsabgabenordnung von 1919

67

de; sie sei ein Produkt der - abzulehnenden - Freirechtsschule. 25 Um die Annahme durchzusetzen, verzichtete die Regierung schließlich auf Satz 2 des § 4. 26 Damit war nur eine wirtschaftliche Auslegung der Steuergesetze, nicht aber die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne einer "Tatbestandsauslegung" unter Berücksichtigung der Ziele und wirtschaftlichen Zwecke des Verhaltens der Parteien, wie sie Becker vorgesehen hatte, Gesetz geworden. b) Entwicklung der Rechtsprechung

Durch seinen maßgeblichen wissenschaftlichen und praktischen Einfluß auf die weitere Entwicklung - er wurde Senatspräsident beim Reichsfinanzhof - hat Becker aber dennoch ganz entscheidend dazu beigetragen27 , daß sich auch die im letzteren Sinne verstandene wirtschaftliche Betrachtungsweise, also eine "Würdigung des Sachverhalts· m , in Steuerrechtsprechung und Steuerlehre durchsetzen konnte. Diese Form der wirtschaftlichen Betrachtungsweise sei, so drückte es Becker aus, stillschweigend in § 4 RAO enthalten, auch wenn er zugestand, daß der Wortlaut der Vorschrift nur eine Gesetzesauslegung in wirtschaftlicher Betrachtungsweise umfasse. 29 Zwar hielt der 1918 errichtete Reichsfinanzhof, dem duch das Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung vom 10. September 191930 die allgemeine Zuständigkeit fiir die Entscheidung in Steuersachen eingeräumt worden war, zunächst an einer an den zivilrechtlichen Begriffiichkeiten orientierten Auslegung der Steuergesetze und an einer Anerkennung formaler Gestaltungen der Steuerpflichtigen fest. 31 Bereits 1924 aber konnte Becker in der 3. Auflage seiner Kommentierung zur Reichsabgabenordnung eine Reihe von Urteilen des RFH aufführen, die auf der Grundlage von § 4 RAO eine Auslegung anhand des besonderen Zweckes der Steuergesetze vorgenommen hatten oder aber die "bloß formale Rechtsgestaltung" der "tatsächlichen Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens" gegenüberstellten. 32 Es bildete sich die Lehre von

25 Cordes. Untersuchungen zu Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, S. 51 f. 26 Vgl. die Endfassung des § 4: "Bei Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen." 27 Theis. OB 1954, S. 706. 2K Becker. RAO, 3. Aufl., Anm. 2. 29 Becker, RAO, 7. Aufl., Anm. 2. 30 RGBI. I S. 1591. 31

32

Urbas. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 128. RAO, 3. Aufl., § 4 Anm. 21 ff.

68

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

der "wirtschaftlichen Betrachtungsweise"33; auch die Entstehung des Begriffes fällt in diese Zeit. 34

11. § 1 Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes von 1934 Erst das sog. Steueranpassungsgesetz von 193435 kodifizierte die von Bekker bereits für die Reichsabgabenordnung vorgesehene Idee einer besonderen "Tatbestandswürdigung". Die Vorschrift lautete: ,,(1) Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen. (2) Dabei sind die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. (3) Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen."

Diese Vorschrift blieb, bis auf den durch Kontrollratsgesetz Nr. 12 vom 11. Februar 194636 gestrichenen Hinweis auf die nationalsozialistische Weltanschauung, bis zur Neuordnung der Abgabenordnung im Jahre 1977 in Kraft. Die Bedeutung und Berechtigung des § lAbs. 3 StAnpG war von Anfang an umstritten. Einigkeit bestand lediglich darin, daß es sich nicht, wie bei Abs. 2 der Norm, um einen weiteren Hinweis zur Auslegung von Gesetzen handeln konnte, da dies eine Wiederholung bedeutet hätte. "Tatbestand" im Sinne der Vorschrift konnte daher nur der "Sachverhalt", also die Lebenswirklichkeit sein. 37 1. Nationalsozialistisches Verständnis der Vorschrift

Die den Nationalsozialisten nahestehenden Autoren, allen voran der seinerzeitige Finanzstaatssekretär Reinhardt, erhoben ab etwa dem Jahre 1936 § I Abs. 3 StAnpG zur wichtigsten Bestimmung des gesamten Steuerrechts. 38 Dabei ging die von diesen Autoren vorgenommene Einordnung der Vorschrift weit über eine Standortbestimmung innerhalb der klassischen Metho33 Cordes, Untersuchungen zu Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, S. 54. 34 Vgl. etwa Ball, Steuerrecht und Privatrecht, S. 118 f. 35 RGBI. I S. 925. 36 KR ABI., S. 60. 37 TIpke I Kruse, Reichsabgabenordnung, (Bearbeitung 1970), § 1 StAnpG Rn. 44; Brandt, Die Beurteilung von Tatbeständen im Steuerrecht nach § 1 Abs. 3 Steueranpassungsgesetz, S. 1 m.w.N. 38 Vgl. insbesondere Brandt, a.a.O., S. 14 ff. mit zahlreichen Nachweisen.

11. § 1 Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes von 1934

69

denlehre hinaus. Die Vorschrift, so Reinhardt, sei "bindendes Staatsgrundgesetz", auf das sich "alle gesetzlichen Vorschriften als auf einen Generalnenner zurückführen" ließen; die Geltung des in ihr niedergelegten Grundsatzes ergebe sich bereits aus der nationalsozialistischen Revolution. 39 Auf § I Abs. 3 sei zurückzugreifen, wenn eine steuergesetzliche Vorschrift zur Beurteilung eines Falles nicht ausreiche oder ihre Anwendung zu einem mit der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht zu vereinbarenden Ergebnis führe. Im einzelnen bedeute dies, daß gesetzliche Bestimmungen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus durch § lAbs. 3 StAnpG außer Anwendung gesetzt seien; Entscheidungen seien dann direkt aus § 1 Abs. 3 zu treffen. Bei nationalsozialistischen Gesetzen diene die Vorschrift der Lückenfüllung. § 1 Abs. 3 sei somit Träger der nationalsozialistischen Rechtserneuerung. 4o Diesen Äußerungen zur Bedeutung des § 1 Abs. 3 StAnpG, denen heute zu Recht ein rechtswissenschaftlicher Charakter abgesprochen wird41 , wird hier deshalb ein so breiter Raum gewidmet, weil sie für die Diskussion zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht, aber auch in den wenigen Publikationen zur wirtschaftliche Betrachtungsweise außerhalb des Steuerrechts bis heute eine gewisse Bedeutung behalten haben; im Kontext mit der Erwähnung der nationalsozialistischen Weltanschauung in § 1 Abs. 1 StAnpG bilden sie nämlich auch heute noch die Grundlage zum Teil unsachlich geprägter Kritik an der von BFH bzw. BGH vollzogenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise. 42 2. Die Position des Reichsfinanzhofes Nach anfänglichem Zögern machte sich der Reichsfinanzhof die Lehren der Autoren um Reinhardt in seinen Urteilen seit gegen Ende der dreißiger Jahre in einigen Teilen zueigen. 43 Praktisch bedeutete dies vor allem eine zu Lasten des Steuerpflichtigen gehende, individuelle Besonderheiten einer rechtlichen Gestaltung übergehende Typisierung von Steuerfällen, deren Grundgedanke es war, Sachverhalte nicht aufgrund der von den Beteiligten gewählten Rechtsbeziehungen, sondern danach zu besteuern, was nach Auf-

39

Reinhardt. RStBI. 1936, S. 1041, 1044.

A.a.O., 1052; noch deutlicher im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie GÖers. Tatbestandsbeurteilung nach nationalsozialistischer Weltanschauung, S. 42 f. 41 1ipke/Krnse. a.a.O.; Brandt. a.a.O, S. 20. 42 Crezelius. Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 202; Rittner, Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, S. 52; Haubrichs. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 14. 43 Umfangreiche Nachweise bei Brandt. a.a.O., S. 28 ff. 40

70

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

fassung der Allgemeinheit als die typische Gestaltung eines wirtschaftlichen Sachverhaltes anzusehen wäre. 44 Daneben traten Urteile, die einen nicht vorhandenen Sachverhalt schlichtweg fingierten. 45 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise erschien damit nicht mehr, wie von Becker intendiert, als Mittel der Herstellung einer gerechten Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit46 , sondern vor allem, und dies speist bis heute die Kritik an ihr47 , als ein Instrument zur Durchsetzung der fiskalischen Interessen des Staates.

III. Die Zeit von 1945 bis zur Neuordnung der Abgabenordnung Wie bereits angesprochen, blieb das Steueranpassungsgesetz mit Ausnahme der auf die nationalsozialistische Weltanschauung abstellenden Passagen für die Steuererhebung maßgeblich. Dem entsprach eine weitgehende Fortführung der auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise abstellenden Rechtsprechung des RFH zunächst durch den Obersten Finanzgerichtshof, und, seit dessen Errichung im Jahre 1950, den Bundesfinanzhof. 48 In einem in der Literatur unter dem Stichwort der "Einheit der Rechtsordnung" im Sinne einer stärkeren Orientierung des Steuerrechts am Zivilrecht49 begleiteten Wandel ist allerdings seit etwa Mitte der fünfziger Jahre eine restriktivere Handhabung zu beobachten, die eher geneigt ist, rechtliche Gestaltungen, die der Steuervermeidung dienen sollten, anzuerkennen. 50 Hierzu dürfte ganz maßgeblich die aufkommende Erkenntnis der rechtsstaatlichen Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen der Besteuerung beigetragen haben. 51 Diese fand auch in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes jhren Niederschlag. Das Bundesverfassungsgericht 44 Esser, Die Entwicklung des Verhältnisses Steuerrecht - Privatrecht unter besonderer Berücksichtigung der sog. "wirtschaftlichen Betrachtungsweise", S. 79 f. 4S Nachweise bei Brandt. a.a.O., S. 33 f.; besonders deutlich die Entscheidung des RFH, E 50, 273. 46 Vg\. oben 1.2.

47 Vor allem Crezelius. Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 208 f. 48 Nachweise bei Urbas. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 135 ff. 49 Wenz. Staats- und Verwaltungswissenschaftliche Beiträge, S. 299, 304 f.; Eckardt. StBJB 1961/62, S. 77, 80 ff.; Buchwald. lR 1958, S. 87 ff. so BFH, BStB\. III 1955 S. 47, 48; 1956 S. 307; 1959 S. 5,6 f.; 1961 S. 368, 370. SI Vg\. etwa Spitaler, StBlB 1957/58, S. 143, 151 ff.; Eckhardt. StBJB 1961/62, S. 77, 124.

IV. Abgabenordnung 1977

71

mahnte an, die wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht zu einer Auflösung der rechtlichen Methode vermittels außerrechtlicher Gesichtspunkte zu nutzen52 ; grundsätzlich sei es dem Steuerpflichtigen zu gestatten, seine Angelegenheiten so einzurichten, daß er möglichst wenig Steuern zu zahlen habe. 53 Die Annahme von Abweichungen des Steuerrechts von der zivilrechtlichen Begriffsbildung, so das Gericht, bedürften jedenfalls einer hinreichenden Rechtfertigung. 54 Diese Entscheidungen haben dazu beigetragen, im Steuerrecht, das rur die Mehrzahl der Bürger die wichtigste und sie am stärksten belastende Form der Eingriffsverwaltung ist, rechtsstaatliche Grundsätze zur Geltung zu bringen. 55 Die Problematik der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht wird seither auch und insbesondere in dem Spannungsverhältnis zwischen gleichmäßiger Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit einerseits und hinreichender gesetzlicher Normierung von Steuertatbeständen andererseits gesehen. 56

IV. Abgabenordnung 1977 Eine dem § I StAnpG entsprechende Verankerung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist in der zum 1. Januar 1977 inkraft getretenen reformierten Abgabenordnung, der sog. AO 197757 , nicht mehr enthalten. Nachdem ursprünglich sogar geplant war, eine umfassende und abschließende Kodifizierung der auf die besonderen wirtschaftlichen Zwecke der Vorschriften abstellenden Auslegung der steuerlichen Vorschriften in Entsprechung des § I Abs. 2 StAnpG einerseits58 und der wirtschaftlichen Betrachtung von Sachverhalten in Entsprechung des § lAbs. 3 StAnpG andererseits 59 aufzunehmen 60 , wurde darauf schließlich verzichtet. Allerdings sind, wie bereits im Steueranpassungsgesetz61 , mit den §§ 39, 41, 42 AO Vorschriften aufgenommen worden, die als besondere Fälle einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise

52

E 13. 318 (329).

53

E 9, 237 (250).

54

E 13, 331 (340).

55

Dazu im Überblick TIpke / Lang, Steuerrecht, § 4 C. 2.

Dazu insbes. Crezelius, Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 200 ff.; vg!. unten V1.2. 57 BGB!. 1976 I S. 613 ff. 56

58 § 3 Arbeitskreisentwurf, abgedruckt in: Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.), Reform der Reichsabgabenordnung; § 3 Referentenentwurf, BT-Drs. VII 1982. 59 § 43 Arbeitskreisentwurf. 60 61

Hierzu Brandt, BB 1970, S. 1293 ff. §§ 5, 10, 11.

72

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

verstanden werden62 • Der Gesetzgeber war aber der Auffassung, eine gesetzliche Fixierung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise als allgemeinem Prinzip sei entbehrlich. Bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise handele es sich um ein allgemeines Auslegungsprinzip, das im Steuerrecht ebensowenig der Kodifikation bedürfe wie in der übrigen Rechtsordnung. 63 Der Bundesfinanzhof 64 und das Schrifttum65 sind dieser Einschätzung gefolgt.

v. Dogmatische Einordnung der Sachverhaltsbeurteilung In den vorstehenden Ausführungen ist immer wieder betont worden, daß der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht nur teilweise mit demjenigen im Sinne dieser Untersuchung deckungsgleich ist. Soweit, auch heute noch66, wirtschaftliche Betrachtungsweise gleichgesetzt wird mit einer steuerrechtsspezifischen Auslegung zivilrechtlicher Begriffe im Steuerrecht - also in dem früher von § lAbs. 2 StAnpG abgedeckten Bereich - führt die heute ganz einhellige Auffassung, die diese Vorgehensweise zu Recht lediglich als eine bestimmte Form der teleologischen, auf den Besteuerungszweck der Vorschrift abstellenden Auslegung, einordnet61, für den Zweck dieser Untersuchung nicht weiter. Die im 2. Kapitel angeführten Entscheidungen zu den Kapitalisierungsvorschriften im GmbH-Recht gehen an keiner Stelle im Wege einer bestimmten, etwa einer "gesellschaftsrechtsspezifischen", Auslegung des Gesetzes vor. Vielmehr wird, jedenfalls vordergründig, der Sachverhalt auf seinen wirtschaftlichen Gehalt hin untersucht und einer rechtlichen Würdigung unterzogen. Einzig von Interesse sind daher diejenigen Ansichten, die zur dogmatischen Standortbestimmung der zweiten Variante der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht, also der früher in § lAbs. 3 StAnpG normierten Tatbestandswürdigung, vertreten wurden und werden. Nur diese Form der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht ist gemeint, wenn der Begriff im folgenden verwandt wird.

62

Tipke. Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1308 ff.

63

BT-Drs. 7/4292, S. 15.

64

Zusammenstellung der jüngeren Rechtsprechung bei SöjJing. StVj 1992, 51, 56 ff.

Tipke/Lang. Steuerrecht, § 5 Rn. 65; Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 42 Rn. 128; Koch-Scholtz, AO, § 4 Rn. 15; Pawlowski. BB 1977, S. 253 ff.; Crezelius. Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 86. 65

66

Z.B. Tipke / Lang. Steuerrecht, § 5 Rn. 65.

Tipke / Lang. Steuerrecht, § 5 Rn. 69; Beisse. StuW 1981, S. 1, 2 f.; Klein /Orlopp. AO, § 4 Anm. 6. 67

V. Dogmatische Einordnung der Sachverhaltsbeurteilung

73

Soweit ersichtlich lassen sich, mit Nuancen im einzelnen, drei verschiedene Auffassungen unterscheiden. 1. SachverhaItsbeurteilung als Teil des Rechtsanwendungsprozesses

Dem Ausdruck "wirtschaftliche Betrachtungsweise" in seinem natürlichen Sprachverständnis entspricht am ehesten die vor allem im älteren Schrifttum vertretene Auffassung, der Sachverhalt, also die vom Gericht ermittelten Tatsachen der Lebenswirklichkeit, sei vor seiner Subsumtion unter das Steuergesetz in einem getrennten Schritt des Rechtsanwendungsprozesses einer Würdigung und Beurteilung auf seinen wirtschaftlichen Gehalt hin zu unterziehen. 68 Spitaler etwa führt aus, bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise müsse der Sachverhalt gewertet und gewürdigt werden; es komme auf den wirtschaftlichen Gehalt, den wirtschaftlichen Sinn und Zweck an. Die Steuergesetze wollten die "ursprünglichen Lebensverhältnisse vor ihrer Einkleidung in bestimmte Rechtsformen" treffen. Bei der Auslegung des Sachverhaltes müsse daher, wie auch bei der teleologischen Gesetzesauslegung, der Zweck der Setzung des Sachverhaltes berücksichtigt werden. 69 Mutze sieht die Funktion der wirtschaftlichen Betrachtungsweise darin, Tatbestände und Sachverhalte in ihrem wirtschaftlichen Gehalt und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung richtig zu erfassen. Der Sachverhalt dürfe nicht als eine Vielzahl von Einzelheiten, sondern müsse als eine wirtschaftliche Einheit und Ganzheit gesehen werden. 70 Theis formuliert, das Steuerrecht erfasse "nur die tatsächliche wirtschaftliche Gestaltung, das, was ist, nicht, was nach der Form zu sein scheint."7! Die sich vom herkömmlichen Verständnis der Rechtsanwendung am weitesten entfernenden Ausführungen finden sich bei Kruse: Die Problematik der Rechtsanwendung beziehe sich nicht allein auf die Erarbeitung der Entscheidungsnorm. Die Subsumtion könne ein normgemäßes Resultat nur erbringen, wenn Obersatz und Sachverhalt aufeinander "zugerichtet" seien; daher sei nicht allein das Gesetz auszulegen, sondern auch der Sachverhalt sei zu qualijizieren. 72 Ähnlich drückt es Böhmer aus, der zwei Ebenen des 68 Außer den im folgenden Genannten Hirschmann. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Besteuerung des Umsatzes, S. 25; Friedländer. NJW 1956, S. 1049, 1052; Barske. Reichsabgabenordnung, S. 42; Blenke. Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht und ihre Grenzen, S. 168; Wilser. Der Durchgriff bei Kapitalgesellschaften im Steuerrecht, 70; Kühn / Kutter / Hofmann. AO, Anh. zu § 4, Anm. 6. 69 StBJB 1962/63, S. 405, 420 f. 70

Zivilrecht in der Steuer- und Wirtschaftspraxis, S. 10 f.

71

OB 1954, S. 706, 708.

In: Tipke / Kruse. RAO, § I StAnpG Rn. 2d; dies., Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, § 6 IV 1; vgl. auch Kruse, Steuerrecht Allgemeiner Teil, S. 76 ff. 72

74

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

Sachverhaltes unterscheidet, eine äußere, tatsächliche, und eine die Bedeutung der Dinge einbeziehende innere Seite, die durch Sachverhaltsbeurteilung zu ennitteln sei, und die fiir die Rechtsanwendung entscheidend sein müsse. 73 Nach diesem Verständnis entfaltet die wirtschaftliche Betrachtungsweise ihre Wirkung im "Zwischenbereich" von Gesetzesfeststellung und Sachverhaltsennittlung. 74 Wiewohl diese Auffassung dem natürlichen Sprachverständnis am ehesten entspricht, denn es wird eben der Sachverhalt auf eine bestimmte Weise "betrachtet", ist doch unverkennbar, daß sie jedenfalls auf den ersten Blick aus dem Rahmen der klassischen Methode der Rechtsanwendung im Sinne der Subsumtion eines vom Richter zu ennittelnden Sachverhaltes unter ein von diesem ausgelegtes Gesetz fällt. 75 2. Sachverhaltsbeurteilung als methodisch unzulässige Vorgehensweise Aufgrund dieser Inkongruenz mit den herkömmlichen Methoden der Rechtsanwendung wird die wirtschaftliche Betrachtungsweise vielfach abgelehnt; soweit es die Zeit der Geltung des § 1 Abs. 3 StAnpG betrifft, schlagen die betreffenden Autoren vor, die Vorschrift entweder lediglich als Anweisung an den Richter zu begreifen, die der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen ordnungsgemäß und zutreffend zu ennitteln, oder aber die Vorschrift als verfassungswidrig außer Anwendung zu lassen. 76 In seiner umfassenden monographischen Untersuchung zu § 1 Abs. 3 StAnpG77 hat es insbesondere Brandt unternommen, diese Auffassung zu begründen. Brandt setzt sich sehr ausfiihrlich mit den verschiedenen zur Methode der Rechtsanwendung vertretenen Ansichten auseinander und kommt zu dem Schluß, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise in ihrer Fonn als "Sachverhaltsbeurteilung" der juristischen Methodenlehre nicht bekannt sei. 78 7J Böhmer, Erfiillung und Umgehung des Steuertatbestandes, S. 10 ff.; ähnlich Maerz, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 78 f. 74 HartmannlWalter, Auslegung und Anwendung von Steuergesetzen, S. 196; Blencke, Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht und ihre Grenzen, S. 168. 75 Näher unten 5. Kapitel, 1.

76 Außer den im folgenden Genannten noch Riewald, AO (8. Aufl.), § 1 StAnpG Anm. 1; Meilicke, Steuerrecht Allgemeiner Teil, S. 103, Haubrichs, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 14; Wonn, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und die Gesellschaftssteuer, S. 43; Hopfenmüller, StBJB 1961 /62, S. 237, 242. 77 Die ,,Beurteilung von Tatbeständen" im Steuerrecht nach § 1 Abs. 3 Steueranpassungsgesetz (1967); vgl. auch Brandt, BB 1970, S. 1293, 1295 ff. 78 A.a.O., S. 127.

V. Dogmatische Einordnung der Sachverhaltsbeurteilung

75

Der Rechtsanwendungsprozeß stehe aber nicht zur Disposition des Gesetzgebers, sondern sei durch Art. 20 Abs. 3, 97 GG verfassungsrechtlich determiniert; allein das Gesetz, nicht eine Beurteilung des Sachverhaltes, dürfe die Rechtsanwendung steuern. 79 Daher sei § lAbs. 3 StAnpG verfassungswidrig und nichtig. 80 Dieser Auffassung schließt sich auch Tipke an. 81

3. Bestimmte Auslegung der Steuergesetze Die in der neueren Literatur wohl vorherrschende Ansicht begreift auch die hier gemeinte Fonn der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, bei der die Rechtsprechung vordergründig auf eine Qualifikation der Tatbestände abstellt, als eine, wenn auch verdeckte, Auslegung des Gesetzes. 82 Beisse bezeichnet die wirtschaftliche Betrachtungsweise, und zwar in ihren beiden Spielarten, als eine "teleologische Methode". Zweck der Steuergesetze sei die Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die in wirtschaftlichen Tatbeständen zum Ausdruck komme. Daher wollten die Steuertatbestände nicht bloße Formalgestaltungen, sondern "wirtschaftliche", d.h. wirklich wirkende Vorgänge und Zustände erfassen. 83 Crezelius drückt sich dahin aus, es handele sich bei der Sachverhaltsbeurteilung kraft Qualifikation bei näherer Betrachtung um ein Auslegungsproblem; es frage sich beispielsweise, ob eine bestimmte rechtliche Gestaltung, etwa ein Gesellschafterdarlehen, unter den vom Gesetz verwandten Begriff, im Beispielsfall Eigenkapital, falle. 84 Die genannten Autoren berufen sich dabei nicht zuletzt auch auf das Bundesverfassungsgericht, das fonnuliert hatte, wirtschaftliche Betrachtungsweise könne angewandt werden, "wo ein Gesetz zwar bestimmte rechtliche Sachverhalte nennt, dabei aber nicht deren spezielle rechtstechnische Einkleidung, sondern ihre rechtliche Wirkung meint. ,,85 Auch ohne auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise gänzlich zu verzichten, wie dies die Vertreter der vorge79

A.a.O., S. 133.

80

A.a.O., S. 178 ff.

81

In: Tipke/Kruse, RAO, § 1 StAnpG Rn. 45-47.

Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 111, S. 1294 ff.; Hübschrnann/Hepp/SpitalerFischer, AO, § 42 Rn. 128; Koch-Scholtz, AO, § 4 Rn. 15, Crezelius, Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 85 ff.; Beisse, StuW 1981, S. 1,2 ff. 83 A.a.O. 82

84

A.a.O., S. 89.

E 13,318 (328). - Ob das BVerfG damit aber tatsächlich über den methodologischen Standort der wirtschaftlichen Betrachtungsweise befinden wollte, darf bezweifelt wel'den. In einer neueren Entscheidung der dritten Kammer des Ersten Senates vom 3.6.1992, NJW 1993, S. 1189 heißt es: "Diese sogenannte ,wirtschaftliche Betrachtungsweise' enthält nichts anderes als eine im Einkommenssteuerrecht angelegte autonome Beurteilung eines zivilrechtlichen Sachverhaltes" (Hervorhebung vom Verfasser). 85

76

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

nannten Auffassung gefordert hatten, gelingt es der neueren steuerrechtlichen Literatur auf diesem Wege, wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine rechtliche, das heißt aber auch rechtsstaatlich eingebundene, Methode zu erfassen. 86

VI. Bedeutung der steuerrechtlichen Diskussion für die weitere Untersuchung Eine Befassung mit der Frage der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auf einem Teilgebiet des Privatrechts wäre unvollständig, wenn sie die intensive Diskussion dieser Rechtsfigur im Steuerrecht nicht wenigstens in ihren Grundzügen nachzeichnete. Auch auf die hier unternommenen Versuche einer Einordnung in das Instrumentarium der Methodenlehre wird zurückzukommen sein. Gleichwohl darf die Bedeutung der steuerrechtlichen Erwägungen für das hier zu untersuchende Problem nicht überbewertet werden. Hierfür sind verschiedene Umstände maßgeblich. 1. Fehlende Kodifizierung Ein - womöglich eher formal zu nennender - Unterschied liegt in der Kodifizierung. Jedenfalls bis 1977, in den §§ 39, 41, 42 AO teilweise auch weiterhin, ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht gesetzlich geregelt worden, zunächst in der Reichsabgabenordnung, sodann, deutlicher noch, im Steueranpassungsgesetz. Dies hat die Diskussion dort jedenfalls maßgeblich vorangetrieben. Eine entsprechende gesetzliche Regelung fehlt im Gesellschafts- wie im gesamten Privatrecht. 2.· Rechtsstaatliche Erwägungen Der ganz andere Zweck des Steuerrechts, ein Teilgebiet des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger zu ordnen, bedingt notwendig eine andere verfassungsrechtliche Einbindung der Rechtsanwendung als im Bereich des Gesellschaftsrechts. Die Diskussion von Fragen des Gesetzesvorbehaltes und der Rechtssicherheit, die Rechtsprechung und Literatur zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht in den letzten Jahren entscheidend geprägt haben87 , hat daher für die vorliegende Untersuchung eine geringere Bedeutung.

86 87

Vgl. Beisse, StuW 1981, S. 1, 5 f. Vgl. oben m.2.

VI. Bedeutung der steuerrechtlichen Diskussion

77

3. Analogieverbot im Steuerrecht Als Ausdruck eines rechtsstaatlichen Prinzips, nämlich des Gesetzesvorbehaltes, wird im Bereich des Steuerrechts weithin ein Verbot der steuerschärfenden Analogie vertreten. Jedenfalls bis vor wenigen Jahren war, auch in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes88 , ganz unbestritten, daß der steuerbegründende Analogieschluß im Steuerrecht ausnahmslos unzulässig sei. 89 Zwar sind inzwischen Gegenstimmen laut geworden, die die Schließung unbewußter Lücken im Gesetz im Wege der Analogie als eine Vollendung des Willens des Gesetzgebers und damit als ein Ausdruck des Demokratieprinzips befürworten90; die Frage nach der Zulässigkeit der steuerschärfenden Analogie muß an dieser Stelle nicht näher erörtert werden. Es erscheint aber doch sehr wahrscheinlich, daß die Annahme ihres Verbotes die Diskussion zur methodischen Stellung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise über Jahrzehnte beeinflußt hat, da dieser Weg der methodologischen Einordnung dem Steuerrechtswissenschaftler verschlossen erschien. - Im Privatrecht gilt hingegen ein generelles Verbot der Analogie nicht. 91 Überlegungen zur Standortbestimmung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise können dort daher auch die Analogie einschließen. 4. Eigenständigkeit des Steuerrechts Wie aufgezeigt, hat sich die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, vorangetrieben durch Becker, maßgeblich aus den Bestrebungen des Steuerrechts zur Selbstständigkeit vom Zivilrecht entwickelt. Fraglich war und bleibt auch noch in der jüngsten Diskussion, inwieweit die Begriffe des Zivilrechts in ihrer zivilrechtlichen Bedeutung für die Anwendung des Steuerrechts maßgeblich sein sollen. 92 Die heute zur wirtschaftlichen Betrach88 BStBl. 11 1972 S. 455,457; 1976 S. 246,248; 1977 S. 283,287; 1978 S. 346; 1982 S. 221. 89 Flume, StBJB 1967/68, S. 63, 65 ff.; Flume, StBJB 1964 165, S. 55, 68 ff.; Flume, StBJB 1985/86, S.277, 290 ff.; Kühn/Kutter/Hofmann, AO, Anh. zu § 4, Anm. 16~ Koch/Scholtz-Scholtz, AO, § 4 Rn. 18; Tipke/Kruse, AO, § 4 Rn. 121; Crezelius, Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 362 ff.

90 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 211 ff.; Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 189 ff.; Klein/Orlopp, AO, § 4 Anm. 9; Tanzer; StuW 1981, S. 201, 216 f.; differenzierend Birk, Steuerrecht I, § 11 Rn. 31; in der Rechtsprechung BFH, BStBl. 11 1984,

S. 221, 224; S. 315. 91 Hierzu unten 5. Kapitel, VI.2.b). 92 Vgl. etwa einerseits Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1291, der eher für eine Eigenständigkeit eintritt, und andererseits Crezelius, Steuerliche Rechtsanwendung, S. 195 ff. und passim, der aus rechtsstaatlichen Erwägungen für eine einheitliche Verwendung der Begriffe plädiert.

78

3. Kap.: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht

tungsweise in der Fonn der Sachverhaltsbeurteilung wahrscheinlich herrschende Auffassung, in Wahrheit handele es sich um eine Fonn der Auslegung, bei der berücksichtigt werde, daß der Gesetzgeber einen zivilrechtlichen Tatbestand nenne, aber einen wirtschaftlichen Tatbestand meine 93 , ist Ausdruck dieser Eigenständigkeit des Steuerrechts. - Diese Ansicht vennag hingegen im Gesellschaftsrecht als einem Teilgebiet des Privatrechts nicht in gleicher Weise zu verfangen. 94 Eine Eigenständigkeit der Begriffe innerhalb des Privatrechts wäre jedenfalls noch schwerer zu begründen als im Verhältnis vom Steuerrecht zum Privatrecht. Der nun folgende Versuch einer methodologischen Standortbestimmung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Privatrecht muß aus den genannten Gründen daher grundsätzlich eigenständig erfolgen und kann auf den Ergebnissen der steuerrechtlichen Diskussion nur sehr begrenzt aufbauen.

93

94

Vgl. oben V.3. Zur insoweit gleichen Rechtslage in Österreich so auch Torggler, ÖZW 1986, S. 100.

4. Kapitel

Die Behandlung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Schrifttum außerhalb des Steuerrechts Es fehlt im steuerrechtlichen Schrifttum nicht an Hinweisen, die wirtschaftliche Betrachtungsweise sei auch im Zivilrecht verbreitet und anerkannt. In ihrem Kontext dienen diese Hinweise zumeist als zusätzliche Legitimation der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht. I Die These, die wirtschaftliche Betrachtungsweise sei auch im Zivilrecht - wie überhaupt auf allen Rechtsgebieten - verbreitet, trifft zweifellos zu. Dies ist bereits in der Zusammenstellung der Entscheidungen zu den Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften im GmbH-Recht im 2. Kapitel dieser Untersuchung deutlich geworden. In auffallendem Kontrast zum häufigen tatsächlichen Vorkommen wirtschaftlicher Betrachtungsweise auch außerhalb des Steuerrechts steht hingegen, dies sei an dieser Stelle nochmals betont, der Umfang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Rechtsfigur. Davon, die wirtschaftliche Betrachtungsweise sei im Zivilrecht, oder auch nur außerhalb des Steuerrechts überhaupt, anerkannt, kann nach Durchsicht des vorhandenen Materials richtigerweise nicht die Rede sein. Im folgenden sollen die bislang zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise erfolgten Darstellungen gesichtet werden. Auch der Versuch einer auf Vollständigkeit bedachten Übersicht über das vorhandene Material muß sich aufgrund der vergleichsweise geringen Zahl der Publikationen dabei nicht auf das Zivil- oder gar auf das Gesellschaftsrecht beschränken, sondern kann andere Rechtsgebiete einbeziehen, ohne daß hierdurch der Rahmen der Untersuchung gesprengt würde. Bei näherem Hinsehen fällt zudem auf, daß häufig mit wirtschaftlicher Betrachtungsweise die früher in § lAbs. 2 StAnpG geregelte besondere Auslegung bürgerlich-rechtlicher Begriffe in ihrer Verwendung außerhalb des Zivilrechts gemeint ist.

I Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Fn. 29; Beisse, StuW 1981, S. I, 6; Groh, StuW 1989, S. 227, 228 f.; Wilser. Der Durchgriff bei Kapitalgesellschaften im Steuerrecht, S. 31 f.; Pawlowski, BB 1977, S. 253,254 f.

80

4. Kap.: "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" außerhalb des Steuerrechts

I. Gesellschaftsrechtliches Schrifttum In den Standardwerken der Lehrbuch- und Kommentarliteratur des Gesellschaftsrechts fehlt eine Beschäftigung mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ebenso wie etwa in der monographischen Untersuchung von Ulmer zur Entwicklung des Gesellschaftsrechts durch den Bundesgerichtshof. 2 Soweit ersichtlich, wird die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Bereich des Gesellschaftsrechts lediglich in einer einzigen Abhandlung zum Gegenstand vertiefter Überlegungen gemacht; im Rahmen seiner Dissertation zu den eigenkapitalersetzenden Rechtshandlungen im Sinne des § 32a Abs. 3 GmbHG hat sich Bäcker mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auseinandergesetzt. 3 Bäcker kritisiert zunächst die Tendenz in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, eine ausführliche Entscheidungsbegründung durch den Hinweis auf die Erforderlichkeit der Beurteilung des zur Entscheidung stehenden Sachverhaltes nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise zu ersetzen. 4 In aller Regel stelle sich die wirtschaftliche Betrachtung als eine Methode dar, mittels derer ein Sachverhalt in bestimmter Weise beurteilt werde, es fehle aber insoweit an jeglicher Systematik. Tatsächlich werde der Ausdruck "wirtschaftliche Betrachtungsweise" nämlich auch verwandt, um eine bestimmte Art der Normauslegung zu bezeichnen. 5 Im Wirtschafts-, insbesondere im Kartellrecht, erscheine sie als eine Form der teleologischen Auslegung. 6 Von hier aus gelangt Bäcker zu einer grundsätzlichen Kritik der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Soweit sie darauf abstelle, nicht die formal bestehende Rechtslage, sondern die tatsächliche Durchführung eines Rechtsgeschäfts für die Entscheidung bestimmend sein zu lassen, ergebe sich dies bereits aus einer teleologischen Gesetzesauslegung. Soweit wirtschaftliche Betrachtungsweise hingegen verwandt werde. um von der formalrechtlichen Qualifizierung eines Rechtsgeschäftes abzuweichen und es stattdessen nach seinem wirtschaftlichen Gehalt zu beurteilen, sei sie zu ungenau. Sie verleite dazu, eine genaue rechtliche Analyse des Einzelfalles zu unterlassen und durch eine schlagwortartige Begründung zu ersetzen. Die soziale oder wirtschaftliche Funktion eines rechtlichen Vorganges, die zudem auch noch oberRichterrechtliche Entwicklungen im Gesellschaftsrecht 1971-1985 (1986). Eigenkapitalersetzende Rechtshandlungen der GmbH-Gesellschafter und Dritter, S. 61 ff. 4 A.a.O., S. 65. 5 A.a.O., S. 66 unter Hinweis auf die Rechtsprechung zu §§ 97, 98, 419, 1365, 1822 BGB. 6 A.a.O., S. 67 f. 2

3

II. Zivilrechtliches Schrifttum

81

flächlich und unzulänglich bestimmt werde, vernachlässige den Ordnungsgehalt einer Rechtsgestaltung. 7 Im Ergebnis lehnt Bäcker die wirtschaftliche Betrachtungsweise daher gänzlich ab 8 ; der Versuch einer näheren Einordnung unterbleibt.

11. Zivilrechtliches Schrifttum Etwas umfassender hat sich die zivilrechtliche Literatur geäußert, unter die hier auch solche Autoren gefaßt werden sollen, die, vom Zivilrecht her kommend, ganz allgemein methodologische Überlegungen zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise angestellt haben. 1. Rittner

Bereits in der Einleitung genannt wurde die Monographie Rittners mit dem Titel "Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes" aus dem Jahre 1975.9 Rittner untersucht zunächst die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes rein empirisch auf Passagen, in denen die Wendungen "wirtschaftliche Betrachtungsweise", "wirtschaftliche Betrachtung", "wirtschaftlich verständige Beurteilung" o.ä. vorkommen. lo Die so gefundenen Entscheidungen gruppiert Rittner sodann ein; er unterscheidet eine floskelhaft-rhetorische Verwendung des Ausdrucks"; eine Auslegung von Gesetzen, die es dem Richter aufgeben, wirtschaftliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen l2 , nach "wirtschaftlicher Betrachtungsweise", und schließlich eine Berufung auf "wirtschaftliche Betrachtungsweise", die als Scheinargument eine fehlende Begründung ersetzen solle. 13 Hingegen verneint Rittner das Vorhandensein von Urteilen, die eine wirtschaftliche Betrachtungsweise in Form einer "wirtschaftlichen Beurteilung" des Sachverhaltes entsprechend § 1 Abs. 3 StAnpG, also wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne dieser Untersuchung, vornehmen. 14 - Von 7

Aa.O., S. 68 f.

• Aa.O., S. 70. 9 In gleicher Weise, jedoch weniger ausführlich, bereits in FamRZ 1961, S. I, 5 ff., sowie Wirtschaftsrecht, § 5 Rn. 22. 10 A.a.O., S. 16 ff. 11 Vgl. etwa BGHZ 48, 193 (195): Eine baurechtliche Beschränkung könne eine Enteignung darstellen, wenn eine Bebauung sich "nach vernünftiger und wirtschaftlicher Betrachtungsweise" anbiete. 12 Etwa §§ 97, 98 BGB, (Abs. 2 ErbbaurechtsVO, 16 GWB. 13

A.a.O., S. 27 ff.

14

Aa.O., S. 36 f.; insoweit im Gegensatz zu den Erkenntnissen in 2. Kapitel dieser Un-

6 Möller

82

4. Kap.: "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" außerhalb des Steuerrechts

dieser Klassifizierung ausgehend, äußert sich Rittner rundherum ablehnend zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Er gelangt zu dem Verdikt, der wirtschaftlichen Betrachtungsweise sei keinerlei methodische Funktion oder Nutzen zuzuerkennen '5 ; soweit sie nicht ohnehin nur zur Verschleierung fehlender Argumentation eingesetzt werde, reiche statt ihrer eine korrekte, normzweckorientierte Auslegung hin. '6 Soweit es die - von Rittner in der Rechtsprechung des BGH allerdings auch gar nicht vorgefundene - wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne einer Sachverhaltsbeurteilung betreffe, sei eine solche unverständlich und ohne Sinn, weil es bei einer bloßen Gegenüberstellung von äußerer Form und wirtschaftlichem Gehalt an dem maßgeblichen Bezugspunkt aus dem Gesetz fehlen müsse. I? 2. Häsemeyer Im Jahre 1986 hat sich Häsemeyer in einem Festschriftenbeitrag mit der Frage beschäftigt, wie im Spannungsverhältnis von Privatautonomie und der Durchsetzung von zwingenden Schutzvorschriften Gesetzesumgehungen, insbesondere im Insolvenzrecht, wirksam zu verhindern seien. 'B In einem kurzen Absatz widmet sich Häsemeyer dabei auch, in ablehnender Form, der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die glaube, durch die "rechtliche Form" auf den "wahren Inhalt" eines Geschäftes durchgreifen zu können. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise besage entweder Selbstverständliches, sofern sie nämlich zur korrekten Auslegung von Rechtsgeschäften anhalte, oder aber Unrichtiges, sofern sie nämlich Anlaß sei, "den Beteiligten ,wirtschaftlich' zu kommen, wenn sie sich rechtlich geben."'9 Eine vertiefte Befassung mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise erfolgt also auch bei Häsemeyer nicht. 3. Pawlowski Aus Anlaß der Novellierung der Abgabenordnung im Jahre 1977 hat Pawlowski insbesondere die Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtung im Steuerrecht gewürdigt, sich dabei aber auch mit ihrer Rolle im Zivilrecht beschäftigt und diese an Beispielen20 dargestellt. 21 Pawlowski lehnt die wirtschafttersuchung; kritisch auch Bäcker, Eigenkapitalersetzende Rechtshandlungen der GmbHGesellschafter und Dritter, S. 65 Fn. 142. 15 Aa.O., S. 47. 16 Aa.O., S. 54 ff. 17 Aa.O., S. 37. 1M 19

20

FS 600 Jahre Universität Heidelberg, S. 162 ff. A.a.O., S. 168. §§ 518, 648 BGB.

11. Zivilrechtliches Schrifttum

83

liehe Betrachtungsweise als ungenau ab; sie veranlasse den Rechtsanwender, die genauere Analyse des Falles zu früh abzubrechen und sich auf unscharfe Begriffe wie "wirtschaftliche Abhängigkeit" einzulassen. Anstelle der wirtschaftlichen Betrachtungsweise möchte Pawlowski daher, und zwar sowohl im Steuerrecht als auch im Zivilrecht, eine "funktionale Qualifikation" einsetzen. Die Kernthese lautet, Rechtsgeschäfte seien unter bestimmten Umständen rechtlich nicht so zu behandeln, wie die Parteien sie privatautonom eingeordnet haben. Bestimmend müsse stattdessen vielmehr ihre objektiv zu ermittelnde Funktion sein. 22 - Inwiefern sich die funktionale Qualifikation im Sinne Pawlowskis tatsächlich zur methodologischen Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise eignet, wird zu untersuchen sein. 23 4. Jahr In einem Sammelband über das Verhältnis von Wirtschafts- und Rechtswissenschaften hat Jahr bereits Mitte der sechziger Jahre zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise Stellung genommen. 24 Jahr unterscheidet zwei Arten der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Die eine, die er als legitime Form funktionalen Rechtsdenkens empfindet, trete etwa zu Tage, wenn Rechtsverhältnisse nach den wirtschaftlichen Interessen ihrer Beteiligten analysiert werden; so könne, so das Beispiel Jahrs, eine Abgrenzung von Leasing, Miete und Abzahlungskauf, sofern die Parteien nichts anderes verlauten ließen, richtigerweise nur unter Herausarbeitung der für die Parteien wirtschaftlich relevanten Funktionen der jeweiligen Rechtsinstitute erfolgen. 25 Die zweite Art der wirtschaftlichen Betrachtungsweise - die in der vorliegenden Untersuchung gemeinte Sachverhaltsbeurteilung - sei hingegen nicht mehr als ein Versuch, gewisse als gerecht empfundene Problemlösungen schlagwortartig zu kennzeichnen 26, und daher fragwürdig und unwissenschaftlich. Sie erschöpfe sich darin, ohne jede Rücksicht auf Formen und Strukturen nur die - zumeist noch ganz oberflächlich und unzulänglich bestimmte - soziale (wirtschaftliche) Funktion maßgeblich sein zu lassen; diese Form der wirtschaftlichen Betrachtungsweise mache es unmöglich, die Richtigkeit der von ihr gefundenen Lösungen rational intersubjektiv zu begründen. 27

21

BB 1977, S. 253 ff.

22

Aa.O., S. 255.

23

Unten 5. Kapitel, II.2.

Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik, S. 14, 15 ff. 2S Aa.O., S. 18 f. 24

26

A.a.O., S. 15.

27

Aa.O., S. 17.

84

4. Kap.: "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" außerhalb des Steuerrechts

Jahr schlägt vor, zur Überwindung der Inkongruenz von Form und Gehalt einer juristischen Gestaltung, wo dies für erforderlich gehalten werde, die wirtschaftliche Betrachtungsweise durch ein typologisches Denken zu ersetzen; anstelle abstrakter Rechtsbegriffe will er konkret-allgemeine Typenbegriffe für die Rechtsanwendung entscheidend sein lassen. 28 5. Leenen In ähnlicher Weise äußert sich auch Leenen in seiner Untersuchung zum Typusdenken in der Rechtswissenschaft29 zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Gesetzliche Tatbestände seien oftmals nicht begrifflich, sondern typologisch zu verstehen. Wirtschaftliche Betrachtungsweise sei dann die Zuordnung eines Sachverhaltes zu dem in der Vorschrift gemeinten Typus unter Außerachtlassung seiner begrifflichen Merkmale. 30 - Auf die Thesen Jahrs und insbesondere Leenens wird im Zusammenhang mit einer ausführlichen Erörterung des Typusbegriffes zurückzukommen sein. 31 6. Ballerstedt / Mestmäcker In der im selben Sammelband wie dieser wiedergegebenen Diskussion zu den Thesen Jahrs haben sich auch Ballerstedt und Mestrnäcker, beide in negativer Weise, über die wirtschaftliche Betrachtungsweise geäußert. Ballerstedt verdeutlicht die von ihm gesehenen Gefahren der wirtschaftlichen Betrachtungsweise an den seinerzeit erhobenen Forderungen, den Aktionären als den "wirtschaftlichen Eigentümern" des Unternehmens größere Rechte einzuräumen; der Jurist sei an das Gesetz gebunden und dürfe nicht versuchen, seine vermeintlich besseren wirtschaftlichen Einsichten in die Gesetzesanwendung einzubringen. 32 Mestrnäcker bezeichnet die wirtschaftliche Betrachtungsweise als "eine Art methodische Wechselreiterei", die die Bewältigung von Rechtsproblemen aus dem System des Rechts herausschiebe. 33 7. Raisch / K. Schmidt Im Rahmen eines Beitrages über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften äußern sich Raisch und K. Schmidt kurz zur A.a.O., S. 24 f. Typus und Rechtsfindung (1971). 30 A.a.O., S. 188. 31 Unten 5. Kapitel, V. 32 A.a.O., S. 195 f. 33 A.a.O., S. 197.

28

29

III. Kartellrecht

85

wirtschaftlichen Betrachtungsweise. 34 Es handele sich dabei nicht um eine spezifisch wirtschaftswissenschaftliche Methode. Ihr Ziel sei die Befreiung von fonnaler Rechtsanwendung und der verstärkte Durchgriff auf die ratio legis. Der Sache nach werde damit ein Systembruch hingenommen, um den individuellen Gesetzeszweck zu verwirklichen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise könne so Einfallstor freirechtlicher Tendenzen werden. 35 8. Torggler Für das österreichische Recht, das aufgrund der vielfältigen Beziehungen zur deutschen Rechtsentwicklung36 hier ohne eine Annäherung mit den Methoden der Rechtsvergleichung herangezogen werden kann, hat schließlich Torggler die Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Zivilrecht gewürdigt.37 Auch Torggler mißt einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise nur insoweit eine Bedeutung zu, als daß es sich dabei um die Auslegung spezifisch wirtschaftlich geprägter Rechtsbegriffe handelt. 38 Hingegen lehnt er die wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Fonn einer Beurteilung des Sachverhaltes unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten entschieden ab. Nur der jeweiligen Nonn könne entnommen werden, ob und inwieweit wirtschaftliche Merkmale für die Auslegung erheblich seien. 39

Hf. Kartellrecht Eine gewisse Bedeutung hat die wirtschaftliche Betrachtungsweise außerhalb des Steuerrechts noch bei der Anwendung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) erlangt40, auch wenn diese hier nicht, wie 1m österreichischen Kartellgesetz41 , gesetzlich verankert ist. 34 35

Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, Bd. I, S. 143, 165 f. A.a.O., S. 166.

36 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, daß das Steueranpassungsgesetz mit seinem § 1 Abs. 3 von 1939 bis 1945 auch in Österreich gegolten hat; vgl. Doralt / Ruppe, Grundriß des österreichischen Steuerrechts, Bd. I, S. 6. 37 ÖZW 1986, S. 100 ff. 38 A.a.O., S. 103. 39

A.a.O., S. 102.

Vgl. außer den im folgenden genannten Immenga/Mestmäcker, GWB, Einl. Rn. 23; Bechto/d, GWB, Einl. Rn. 43; kritisch Rinck/Schwark, Wirtschaftsrecht, § 9 Rn. 225; von Gamm, Kartellrecht, Einf. A Rn. 18. 41 Bundesgesetz vom 19.10.1988 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, BGBI. Nr. 600/1988; § I: "Für die Beurteilung eines Sachverhalts nach den Abschnitten II und V ist in wirtschaftlicher Betrachtungsweise der wahre wirtschaftliche Gehalt und nicht die äußere Erscheinungsform des Sachverhalts maßgebend." 40

86

4. Kap.: "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" außerhalb des Steuerrechts

1. Ulmer

Als, soweit ersichtlich, erster hat Ulmer der Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Kartellrecht eine Abhandlung gewidmet. 42 Als Beispiele fiir das Vorkommen einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Bereich des GWB nennt Ulmer den Begriff des "Unternehmens", der alle wirtschaftlich Tätigen unabhängig von Rechtsform und Gewinnerzielungsabsicht erfasse, die Erfassung auch "sternförmiger" Vereinbarungen mit einer zentralen Stelle als "Vertrag" im Sinne des § I GWB und die Gleichsetzung rechtlicher mit wirtschaftlichen Bindungen bei § 15 GWB. 43 Insoweit handele es sich um eine herkömmliche, auf den Zweck der Vorschrift abstellende Auslegung. Ihr sei eigen, daß sie frage, ob die jeweilige Vorschrift nicht auch auf wirtschaftlich gleichgelagerte Sachverhalte angewendet werden müsse, bei denen es an der vom Wortlaut vorausgesetzten Gestaltung fehle. 44 Andererseits warnt Ulmer vor einer Übernahme der seinerzeit in § lAbs. 3 StAnpG geregelten Sachverhaltsbeurteilung, soweit sie den durch die §§ 133, 157 BGB gesteckten Rahmen überschreite; Rechtsfortbildung im Wege der Analogie müsse, wenn sie nicht ohnehin an einem Analogieverbot scheitere, offen geschehen. 45 2. Teichmann Noch am ehesten positiv zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise auch in der in dieser Untersuchung gemeinten Form äußert sich Teichmann. 46 Auch Teichmann unterscheidet verschiedene Erscheinungformen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Soweit es sich dabei um die gebietsspezifische Auslegung von Rechtsbegriffen handele - auch er nennt das Beispiel des "Unternehmens" i.S.d. GWB - stelle dies eine teleologische Methode dar, die aus rechtsstaatlichen Erwägungen heraus allerdings darauf zu achten habe, daß die Kernbedeutung des im Gesetz genannten Begriffes nicht vernachlässigt werde. 47 Von der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei der Auslegung von Gesetzen trennt Teichmann die "Auslegung von Sachverhalten". Dabei dürfe aber nicht einfach großzügig über die formale Konstruktion hinweggehend "die Sache selbst" erfaßt werden. Der Rechtsanwender müsse vielmehr, wenn fiir die Erreichung eines wirtschaftlichen Erfolges mehrere juristische Kon-

42 43 44

45 46 47

WuW 1971, S. 878 ff. A.a.O., S. 879 f.

Aa.O., S. 882; kritisch hierzu aber Wiedemann, FS Larenz, S. 199,208. Aa.O.; zustimmend hierzu Raiser, JZ 1972, S. 495, 496. FS Bartholomeyczik, S. 377 ff. Aa.O., S. 381 f.

IV. Strafrecht

87

struktionen denkbar seien, von denen vordergründig nur die eine im Gesetz negativ sanktioniert werde, fragen, ob auch die andere Gestaltung unter die Sanktionsnorm zu fassen sei. 48 Umgekehrt sei vorzugehen, wenn der wirtschaftliche Gehalt einer gesetzlich sanktionierten Gestaltung sich im Einzelfall von dem des Regelsachverhaltes unterscheide. 49 Zum methodischen Standort dieser Vorgehensweise sei hiermit jedoch nichts ausgesagt. Wirtschaftliche Betrachtungsweise könne nur die Frage nach der Gleichwertigkeit zweier juristischer Konstruktionen beantworten. Ob es sich bei der Erstreckung des Gesetzes auf beide Konstruktionen gleichermaßen noch um Gesetzesauslegung oder bereits um Analogie handele, lasse sich hingegen allein aus dem Gesetz selbst entnehmen. 50

IV. Strafrecht Auch auf dem Gebiete des Strafrechts findet sich der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise51 ; zumeist wird allerdings synonym der Ausdruck "faktische" oder "tatsächliche" Betrachtungsweise verwandt. Bei näherem Hinschauen wird jedoch offenbar, daß diese faktische Betrachtungsweise nicht mit der im Rahmen dieser Untersuchung behandelten Rechtsfigur identisch ist. Vielmehr handelt es sich, ähnlich den unter dem früheren § 1 Abs. 2 StAnpG entwickelten Thesen, um eine Tendenz der Rechtsprechung, aus dem Zivilrecht übernommenen Begriffen im Strafrecht einen besonderen Bedeutungsgehalt zuzuweisen. 52 1. Bruns

Bereits 1938 hatte Bruns eine eigenständige Auslegung zivilrechtlicher Begriffe bei ihrer Verwendung in Tatbeständen des materiellen Strafrechts gefordert53 und diese These später aktualisiert. 54 Am Beispiel des Begriffes des "Kommissionärs" im seinerzeitigen § 90 BörsG legt er dar, daß der Ge-

48

A.a.O. S. 386.

49

A.a.O., S. 387.

50

A.a.O., S. 393.

51

Etwa Dtto, Jura 1989, S. 328.

Außer den im folgenden Genannten noch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 56 ff.; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S.43 ff. Ebenso stellt sich die Situation im Öffentlichen Recht dar; zur Güterkraftverkehrsordnung Höfel, Werkfrachtfiihrer und Werkspediteur im Güterkraftverkehrsrecht, S. 43 f. 52

53

Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, S. 13 ff.

54

JZ 1958, S. 461; JR 1984, S. 133 ff.

88

4. Kap.: "Wirtschaftliche Betrachtungsweise" außerhalb des Steuerrechts

schäftsführer einer Gesellschaft Täter dieses Deliktes sein könne, auch wenn Kominissionärin - zivilrechtlich - die Gesellschaft als alleinige Vertragspartnerin sei. 55 Dies ergebe sich daraus, daß für die strafrechtliche Betrachtung im Vordergrund stehen müsse, wer tatsächlich handele, und nicht, für wen eine Handlung nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wirke. 56 2. Cadus Bereits erheblich kritischer steht dem - so verstandenen - Begriff der wirtschaftlichen oder faktischen Betrachtungsweise Cadus in seiner 1984 erschienenen Monographie zum Thema gegenüber. 57 Ihren Protagonisten gelinge es nicht, im Rahmen einer methodischen bzw. dogmatischen Ableitung den Nachweis darüber zu führen, welche bestimmten Tatbestandsmerkmale es seien, die abweichend vom Zivilrecht ausgelegt werden müssen. 58 Als kennzeichnendes Prinzip habe die faktische Betrachtungsweise daher keinen Leistungswert; folgerichtig werde der Begriff auch in verschiedenster Weise verwandt. 59

3.0tto Otto schließlich weist nach, daß es sich bei der faktischen Betrachtungsweise nicht um eine besondere Interpretationsmethode des Strafrechts handele. Vielmehr sei sie ein Element innerhalb der teleologischen Auslegung von Strafrechtsnormen, mit dem Inhalt und Grenzen dieser Normen konkretisiert würden. Je nach Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift sei zu beantworten, ob ein bestimmter Begriff inhaltlich seinem zivilrechtlichen oder auch öffentlich-rechtlichem Gehalt entspreche. 60

v. Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich zunächst feststellen, daß der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise dort, wo er im Schrifttum Erwähnung findet, durchaus nicht einheitlich verwandt wird. Dies entpricht der für das Steuerrecht früher in § lAbs. 2 und Abs. 3 StAnpG zum Ausdruck gekommenen

55 56 57 58

59 60

JZ 1958, a.a.O., S. 462. JZ 1958, a.a.O., S. 463. "Die faktische Betrachtungsweise". A.a.O., S. 99. A.a.O., S. 100. Jura 1989, S. 328, 329; ebenso Grundkurs Strafrecht, AT, § 2 4 e).

v. Zusammenfassung

89

Dichotomie. Soweit wirtschaftliche Betrachtungsweise hiernach, wie insbesondere im Strafrecht, als Bezeichnung für eine auf das Rechtsgebiet bezogene teleologische Auslegung erscheint, führen die in der Literatur gewonnenen Erkenntnisse im Bezug auf das Thema dieser Abhandlung nicht weiter. Dort, wo der Ausdruck "wirtschaftliche Betrachtungsweise" im Sinne dieser Untersuchung verwandt wird, stößt er ganz überwiegend auf Ablehung. Dies ist verständlich vor dem Hintergrund einer Rechtsprechung, die, wie im 2. Kapitel dargelegt, wirtschaftliche Betrachtungsweise tatsächlich oftmals als Begründungsersatz für als angemessen empfundene Ergebnisse verwendet. Diese Form einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist allerdings abzulehnen. Wenn daher im folgenden versucht wird, auf der Grundlage einer eigenen methodologischen Einordnung das Konzept einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu entwickeln, so werden damit die ablehnenden Stimmen insbesondere Rittners und Ulmers nicht negiert. Vielmehr wird hiermit die an den Anfang der Untersuchung gestellte Prämisse weiterverfolgt: Es besteht offenbar eine Tendenz der Praxis, in der Begründung von Entscheidungen eine wirtschaftliche Betrachtungsweise einzusetzen. Daß diese zumeist nicht in einer Weise erfolgt, die ihre Ergebnisse rational nachvollziehbar sein läßt, macht es nicht illegitim, nach einer Darstellungsform der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu suchen, die diesem Ziel näher kommt.

5. Kapitel

Eigener Ansatz für die methodologische Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise - soweit der Ausdruck in der hier gemeinten Form verwandt wird - ist, dies ist deutlich geworden, bislang in die Methodenlehre nicht integriert; Stellungnahmen beschränken sich weitgehend auf ablehnende Äußerungen. Eine methodologische Einordnung erscheint jedoch unverzichtbar, um die wirtschaftliche Betrachtunsweise, in einem weiteren Schritt, praktisch handhabbar zu machen. An diesem Ziel eines praktikablen Ansatzes zur Problemlösung haben sich dabei alle Überlegungen zu orientieren. Es läßt sich zunächst überlegen, die wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine "Sachverhaltsbeurteilung" zu begreifen und ihr so eine methodische Kategorie sui generis zuzuweisen. Diesen Überlegungen soll, da dies die der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes unausgesprochen zugrunde liegende Prämisse zu sein scheint, ein breiter Raum zugewiesen werden (I. Abschnitt). Weiterhin kommt die Ansiedlung der Problematik bei den klassischen zivilrechtlichen Instituten der Vertragsauslegung (11. Abschnitt) oder der Rechtsmißbrauchslehre als einer Fallgruppe der Rechtsprechung zu Treu und Glauben (Ill. Abschnitt) in Betracht. Ferner wird zu erwägen sein, ob sich die wirtschaftliche Betrachtungsweise mit dem überkommenen Begriff der Gesetzesumgehung (IV. Abschnitt) oder, mit Leenen 1, als typologische Betrachtungsweise einordnen läßt (V. Abschnitt). Schließlich werden sich die Überlegungen aber darauf konzentrieren, wie die wirtschaftliche Betrachtungsweise letztlich als ein Anwendungsfall der direkten oder analogen Normanwendung, der sogenannten "Gesetzesauslegung im weiteren Sinne", begriffen werden kann (VI. Abschnitt).

I. Sachverhaltsbeurteilung Es wurde bereits mehrfach betont, daß sich die wirtschaftliche Betrachtungsweise, wie sie von der Rechtsprechung gehandhabt wird, vordergründig als eine "Beurteilung des Sachverhalts" darstellt. I

Vgl. oben 4. Kapitel, II.5.

I. Sachverhaltsbeurteilung

91

1. Die "Brille" der wirtschaftlichen Betrachtungsweise

in der Rechtsprechung

In ein Bild übertragen, ließe sich eine so verstandene wirtschaftliche Betrachungsweise als eine mit einer bestimmten Optik versehene "Brille" veranschaulichen: a) Das Problem

Der dem Richter vorgetragene Sachverhalt läßt sich als solcher nicht unter das Gesetz subsumieren. Als Beispiel hierfür soll einer der einfachsten denkbaren Fälle einer verdeckten Gewinnausschüttung dienen: Der Alleingesellschafter A einer GmbH hat die Gesellschaft bei bestehender Unterbilanz veranlaßt, ein der Gesellschaft gehörendes Kraftfahrzeug im Wert von 10.000,- DM an einen Freund F zum Preise von 2.000,- DM zu veräußern. Dieser veräußert es am nächsten Tag für ebenfalls 2.000,- DM an A weiter.

Der Versuch, diesen einfach gelagerten Sachverhalt unter § 30 Abs. I GmbHG zu subsumieren, sieht sich mit dem Wortlaut der Vorschrift konfrontiert. Es heißt dort: "Das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft darf an die Gesellschafter nicht ausgezahlt werden."

Die Subsumtion des Sachverhaltes unter die Norm scheitert an zwei Stellen. Es ist nämlich, jedenfalls bei natürlichem Sprachverständnis, nicht zu einer "Auszahlung" durch die Gesellschaft gekommen - "gezahlt" hat im Beispielsfall der F an die GmbH und A an den F, wenn auch jeweils gegen Übereignung eines Vermögensgegenstandes der Gesellschaft. Und selbst dann, wenn man die Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs als "Auszahlung" ansehen wollte, so ist diese Vermögensübertragung doch zunächst an den F und damit nicht an einen Gesellschafter erfolgt. Demzufolge bliebe das Verhalten des A sanktionslos.

b) Die Lösung nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise in ihrer herkömmlichen Form

Dieses zunächst zu konstatierende Ergebnis läßt den mit dem Fall befaßten Juristen verständlicherweise unbefriedigt. Zu offensichtlich ist, daß der Gesellschaft in kollusivem Zusammenwirken von A und F Vermögenswerte entzogen werden sollten. Dies aber widerspricht offenbar dem Sinn und Zweck der auf die Sicherung des Eigenkapitals ausgerichteten Regelung der §§ 30 f. GmbHG.

92

5. Kap.: Eigener Ansatz für die methodologische Einordnung

An dieser Stelle setzt die wirtschaftliche Betrachtungsweise ein. Zwar ist der Sachverhalt keiner weiteren tatsächlichen Aufklärung mit den Mitteln der Zivilprozeßordnung mehr zugänglich. Entscheidet sich der Rechtsanwender jedoch, ein von ihm als richtig empfundenes Ergebnis im Wege wirtschaftlicher Betrachtungweise zu begründen, so wird er nunmehr den Sachverhalt auf seinen "wirtschaftlichen Gehalt" hin untersuchen und ihn dabei für die Rechtsanwendung modifizieren. Er wird gleichsam die bereits erwähnte "Brille" aufsetzen und ausmachen wollen, was hier "tatsächlich" geschehen sei. Solchermaßen in den Blick genommen, stellt sich der äußere Sachverhalt, eigentlich nur die Summe der Tatsachenfeststellungen, anders dar. "Tatsächlich", so ließe sich mit Hilfe einer wirtschaftlichen Betrachtung feststellen, habe der F keine wirkliche, wirtschaftliche Funktion innerhalb des Leistungsaustausches gehabt; seine Person könne daher vernachlässigt werden. In einer ersten Stufe wirtschaftlicher Betrachtungweise wäre damit der Sachverhalt auf das Verhältnis von Gesellschafter und Gesellschaft eingegrenzt. In einer zweiten Stufe würde dieses Verhältnis dann folgendermaßen beurteilt: Das Vermögen der Gesellschaft hat sich um 8.000,- DM vermindert, das des A sich um den gleichen Betrag erhöht. Wirtschaftlich, so würde der erneute Blick durch die "Brille" wirtschaftlicher Betrachtungsweise verdeutlichen, sei dies nichts anderes, als habe die Gesellschaft dem A liquides Vermögen in Höhe von 8.000,- DM übertragen. Der solchermaßen durch eine wirtschaftliche Betrachtungsweise modifizierte Sachverhalt kann dann ohne weiteres, mit der Sanktionsfolge des § 31, unter § 30 Abs. I GmbHG subsumiert werden. Die vorstehende Darstellung setzt sich womöglich dem Vorwurf unangebrachter Simplifizierung aus. Gerade die Simplizität macht jedoch die wirtschaftliche Betrachtungsweise in ihrer vorherrschenden Form aus. Die Darstellung verdeutlicht nochmals, mit welch einfachen Mitteln die im 2. Kapitel umfassend dargestellte Rechtsprechung im Falle der wirtschaftlichen Betrachtungsweise vorgeht. Der Sachverhalt wird in einer bestimmten, seine tatsächlichen Strukturen vernachlässigenden Weise modifiziert; um im Bild zu bleiben, ist die Brille des Richters mit einer vereinfachenden Optik versehen. In dieser Weise modifiziert, läßt sich der Sachverhalt unter die Norm subsumieren; mit relativ geringem Begründungsaufwand ist auf diesem Wege die Rechtfertigung für das gewünschte Ergebnis gefunden. Für diese Art der Vorgehensweise soll im folgenden der Begriff "Sachverhaltsbeurteilung" verwandt werden.

I. Sachverhaltsbeurteilung

93

2. Semantische Bedeutung des Ausdrucks "wirtschaftliche Betrachtungsweise" Für ein derartiges Verständnis der wirtschaftlichen Betrachtungweise, wie es im Steuerrecht bereits Enno Becker vorgeschwebt hatte 2 , läßt sich nur ein einziges Argument anbringen, und auch dieses Argument hält selbst der oberflächlichen Hinterfragung nicht stand:

Ein Verständnis der Rechtsfigur als eines bestimmten "Blickes für den Sachverhalt" entspricht nämlich dem Ausdruck "wirtschaftliche Betrachtungsweise" in seiner semantischen Bedeutung. Es handelt sich eben um eine bestimmte Anschauung, eine vereinfachende Betrachtung des Lebenssachverhaltes. Diese steht unter einem bestimmten, sicherlich mit dem wenig aussagekräftigen Prädikat "wirtschaftlich" nicht unzutreffend bezeichneten Aspekt, denn gewiß sind etwa im Beispielsfall die Verrnögenszu- und -abflüsse bei Wirtschaftssubjekten "wirtschaftliche" Daten. 3 Es ist aber offenbar, daß eine Beschäftigung mit dem Begriff "wirtschaftliche Betrachtungsweise" in seiner Wortbedeutung für das Verständnis und die zutreffende Einordnung der mit ihr bezeichneten Vorgehensweise nichts erbringen kann4 • Um dies zu erkennen, reicht es aus, sich zu vergegenwärtigen, daß der Ausdruck "wirtschaftliche Betrachtungsweise" erst in den zwanziger Jahren zur Kennzeichnung der von der Rechtsprechung bereits zuvor angewandten Vorgehensweise entwickelt wurde. 5 Der Umstand, daß mit ihm die Vorgehensweise der Rechtsprechung zutreffend verbildlicht worden ist, sagt aber selbstverständlich nichts darüber aus, ob diese Vorgehensweise selbst zutreffend ist. Ebensowenig schließt dieser Befund andererseits für sich genommen die Möglichkeit aus, eine eigenständige methodische Kategorie der "Sachverhaltsbeurteilung" zu schaffen. Um eine solche methodische Kategorie auszuschließen, bedarf es noch weitergehender Überlegungen. 3. Elemente zwischen Norm und Sachverhalt? Wäre eine Sachverhaltsbeurteilung, wie sie in der Rechtsprechung in Erscheinung tritt, methodisch denkbar und zulässig, so müßte sie, geht man vom Grundschema der juristischen Subsumtion aus, im Zwischenbereich von S.O. 3. Kapitel, Ll.b). Eine genaue semantisch-philologische Untersuchung des Begriffes findet sich in der steuerrechtlichen Untersuchung von Urbas, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 13 ff. 4 Dies übersieht Urbas, a.a.O. 5 Urbas, a.a.O., S. 127. 2

3

94

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

Sachverhalt und Nonn angesiedelt sein; bevor die Nonn auf den Sachverhalt - im Sinne der Lebenswirklichkeit - Anwendung findet, wird letzterer zunächst "modifiziert". Überlegungen zur Zulässigkeit einer Sachverhaltsbeurteilung müssen demnach bei dem Verhältnis von Sachverhalt und Rechtsnonn und damit bei der Struktur des sogenannten Justizsyllogismus ansetzen. a) Der Justizsyllogismus

Die Grundfonn des juristischen Schlusses, der sogenannte Justizsyllogismus, ist eine Anwendung des in der klassischen Logik der Scholastiker so bezeichneten modus barbara. 6 Dieser lautet: Alle M sind P. (sog. Obersatz) Alle S sind M. (sog. Untersatz) Also sind alle S P. (sog. Schlußsatz)

Zur Verdeutlichung sei dies auf den Fall der Auszahlung entgegen § 30 Abs. 1 GmbHG bezogen: Wer die Voraussetzungen des § 30 Abs. I GmbHG errullt, muß das empfangene Kapital zurückzahlen. A errullt die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 GmbHG. Also muß A das Kapital zurückzahlen.

An dieser Anwendung des Justizsyllogismus auf § 30 Abs. 1 GmbHG fällt sogleich zweierlei auf. Zum einen hatte in der oben beschriebenen allgemeinen Fonn des modus barbara der Untersatz eine generelle Aussage enthalten; im Beispielsfall lautet der Untersatz hingegen auf ein singuläres Urteil. Die Frage, ob auch diese, für den juristischen Schluß kennzeichnende Fonn noch als modus barbara bezeichnet werden kann 7, mag hier als ein bloßes Problem der Benennung dahinstehen. Viel wichtiger erscheint, daß gerade nicht geklärt ist, ob A die Voraussetzungen des § 30 Abs. I GmbHG erfüllt. Die eigentliche Schwierigkeit besteht also in der Bildung des Untersatzes, innerhalb dessen die eigentliche Subsumtion geschieht. 8

6

Klug, Juristische Logik, § 5.1.

Klug, a.a.O., spricht insoweit von modus barbara Il; vgl. auch Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 8 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 16 I. 8 Schneider. Logik für Juristen (1. Aufl.), § 74, 1. 7

I. Sachverhaltsbeurteilung

95

Auch diese Subsumtion läßt sich - fonnal - wieder als logischer Schluß begreifen. Er hat folgende Fonn: M ist vollständig gekennzeichnet durch die Merkmale M I, M 2, M 3. S weist die Merkmale MI, M 2, M 3 auf. Also ist S ein Fall von M. 9

Wiederum bezogen auf den Beispielsfall, müßte sich also folgender Schluß bilden lassen: § 30 Abs. 1 hat die Merkmale "Gesellschafter", "durch Zahlung empfangen", "der Gesellschaft" und "gebundenes Vermögen". A ist Gesellschafter. Er hat durch Zahlung empfangen. Die Zahlung erfolgte durch die Gesellschaft. Sie erfolgte aus gebundenem Vermögen. Also erfüllt A die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 GmbHG.

Es zeigt sich, daß dieser Schluß nicht ohne weiteres möglich ist. Es trifft zwar zu, daß A Gesellschafter ist und daß das vorhandene Vermögen der Gesellschaft gebunden ist. Zweifelhaft ist aber zum einen, ob A durch Zahlung empfangen hat, und zum anderen, ob die Zahlung durch die Gesellschaft - und nicht durch F - erfolgte. Wer nun wirtschaftliche Betrachtungsweise als Sachverhaltsbeurteilung betreibt, der wird die Lösung des Problems vom Sachverhalt aus angehen. Dies läßt sich folgendennaßen darstellen: M ist vollständig gekennzeichnet durch die Merkmale M 1, M 2, M 3. S entspricht bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise S(wiB). S(wiB) weist die Merkmale M 1. M 2, M 3 auf. Also ist S ein Fall von M.

Wiederum auf den Ausgangsfall bezogen, entspräche dem: § 30 Abs. 1 hat die Merkmale "Gesellschafter", "durch Zahlung empfangen", "der Gesellschaft", "gebundenes Vermögen".

9

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 273.

96

5. Kap.: Eigener Ansatz für die methodologische Einordnung A ist Gesellschafter. Er hat ein Fahrzeug unter Wert erworben. Dies entspricht bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise einer Zahlung. Also hat A durch Zahlung empfangen. A hat das Fahrzeug von F erworben, der es seinerseits von der Gesellschaft erworben hatte. Dies entspricht bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise einem Erwerb von der Gesellschaft. Also erfolgte (unter Herbeinahme des vorherigen Schlusses) die Zahlung durch die Gesellschaft. Sie erfolgte aus gebundenem Vermögen. Also erfüllt A die Voraussetzungen des § 30 Abs. I GmbHG.

Das vorhergehende Schema ist aus Darstellungsgründen stark vereinfacht. Womöglich würde nämlich auch derjenige, der eine "Sachverhaltsbeurteilung" vornimmt, zunächst noch versuchen, Sachverhalt und Norm von der Norm her einander anzunähern, etwa, indem er den Begriff der Auszahlung abweichend vom allgemeinen Sprach verständnis als "Gesamtvermögensverminderung" auslegte. 1o Für die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Sachverhaltsbeurteilung kennzeichnend bleibt dennoch jene Gleichsetzung, die vorstehend mit "S ist bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise S(wiB)" ausgedrückt worden ist, und bei der der geschehene Sachverhalt mit einem ohne weiteres unter die Norm subsumierbaren Sachverhalt gleichgesetzt wird. Ein derartiges Element zur Vermittlung zwischen Sachverhalt und Norm ist dem klassischen Justizsyllogismus fremd 11. b) Engischs Bild vom "Hin- und Herwandern des Blickes"

Das klassische Subsumtionsschema ist weiterentwickelt worden von Engisch und A. Kaufmann. Es fragt sich, ob sich vielleicht in deren Thesen Hinweise auf ein von einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise als Sachverhaltsbeurteilung vorauszusetzendes Element zur Vermittlung von Norm und Sachverhalt finden lassen. In seiner 1942 erstmals erschienen Schrift "Logische Studien zur Gesetzesanwendung" hat sich Engisch ausführlich mit dem Verhältnis von Sachverhalt und Norm auseinandergesetzt. 10 So tatsächlich die h.L.; vgl. Hachenburg-Goerdeler/Müller, § 30 Rn. 56 m.w.N.; s.a. unten VI. 1. 11 Vgl. nur die Darstellungen bei Klug, Larenz, Schneider. Zippelius, jeweils a.a.O.

I. Sachverhaltsbeurteilung

97

Engisch unterscheidet drei Elemente des Untersatzes der Subsumtion: I. die Vorstellung des konkreten Lebensfalles, des "Sachverhalts", 2. die Feststellung, daß dieser Sachverhalt sich tatsächlich zugetragen hat, 3. die Würdigung des Sachverhaltes als eines solchen, der die Merkmale des Gesetzes aufweist; dieses Element berge die eigentliche Subsumtion. 12 Dabei kann das zweite Element hier vernachlässigt werden; es betrifft die richterliche Überzeugungsbildung. Gibt es eine vermittelnde "Sachverhaltsbeurteilung", so ist sie angesiedelt entweder im Bereich der Bildung des für die Subsumtion maßgeblichen Sachverhaltes, also dem ersten Element, oder aber im Rahmen der Subsumtion. aa) Die Bildung des Sachverhaltes

Was die Bildung des Sachverhaltes angeht, so hat Engisch das Bild vom "Hin- und Herwandern" des Blickes des Rechtsanwenders zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt geprägt.13 Einerseits bestimme zwar der Lebenssachverhalt, welche Vorschriften auf ihn anwendbar seien; andersherum aber seien auch aus dem "Rohsachverhalt"'4 vom Juristen erst mit Blick auf die Norm jene Elemente zu ermitteln, die für die Rechtsanwendung von Bedeutung sind. Dieses Bild ist von Kruse als einem Befürworter einer sachverhaltsbeurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht '5 aufgenommen und zum Beleg der These verwandt worden, auch die neuere Methodenlehre gehe von der Notwendigkeit einer, so wörtlich, "Qualifikation" des Sachverhaltes aus. 16 Tatsächlich basiert diese Berufung auf Engisch aber auf einem Mißverständnis. Wie Engisch selbst später erläuternd ausgeführt hat 17 , bedeutet der Satz vom Hin- und Herwandetn des Blickes nichts anderes, als daß, nachdem zunächst die für die rechtliche Würdigung denkbaren Rechtsnormen ermittelt worden sind, der Sachverhalt auf das Vorhandensein jedes einzelnen Tatbestandsmerkmales hin untersucht werden müsse, womit dann diejenigen Elemente des Lebenssachverhaltes hervorträten, die für die Normanwendung

12

A.a.O., S. 19.

13 A.a.O., S. 14 f.; dieses Bild übernehmen Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 281; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 157 ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 281. 14 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 279. IS Vgl. oben 3. Kapitel, V.!. 16 1ipke / Kruse, RAO, § I StAnpG Rn. 2d. 17 Einführung in das juristische Denken, S. 217 f. (Fn. 54).

1 Möller

98

5. Kap.: Eigener Ansatz für die methodologische Einordnung

"wesentlich" seien. Endpunkt des "Hin und Her" sei schließlich die Bejahung oder Verneinung der Anwendbarkeit der in Betracht gezogenen Nonnen. Um dies am eingangs genannten Beispiel zu veranschaulichen: Der mit dem Fall betraute Jurist wird, soweit es ihm auf die Rückführung der Vermögenswerte ankommt, an § 31 Abs. I GmbHG denken. Geht er davon aus, daß § 31 GmbHG grundsätzlich anwendbar sein könnte, wird er jedes einzelne Tatbestandsmerkmal mit dem Sachverhalt vergleichen. Relevant ist für ihn dabei nur derjenige Teil des Sachverhaltes, der sich subsumieren läßt. Andere Elemente scheiden nach und nach aus dem Blick aus; so ist es, obwohl dies doch zweifellos ebenso ein Teil der Lebenswirklichkeit ist, unerheblich, welche Marke oder Laufleistung das veräußerte Kraftfahrzeug aufweist. Gelänge die Unterordnung unter die Nonn, so stünde damit zugleich der für diese Subsumtion relevante Sachverhalt fest. - Ganz andere Elemente der Lebenswirklichkeit interessieren hingegen etwa den Strafrichter, der den Sachverhalt unter dem Aspekt womöglich eines Bankrotts gemäß § 283 StGB untersucht; entsprechend änderte sich der relevante Sachverhalt. Diese Erläuterungen verdeutlichen, daß Engischs Bild vom "Hin- und Herwandern des Blickes" nicht den von Kruse in Anspruch genommenen Inhalt hat, einer "Qualifikation" und damit einer Modifizierung des Lebenssachverhaltes das Wort zu reden; es handelt sich vielmehr nur um eine Auswahl relevanter Elemente des Sachverhaltes. bb) Subsumtion als Annäherung des Lebenssachverhaltes an die Norm

Hat nach der Konzeption Engischs daher bei der Bildung des Sachverhaltes ein zwischen Lebenswirklichkeit und Nonn vennittelndes Zwischenelement keinen Raum, so ist damit noch nicht gesagt, daß diese Vennittlung nicht innerhalb der Subsumtion, also auf der Ebene des dritten von Engisch genannten Elementes des Untersatzes, erfolgen kann. Engisch beschreibt den Vorgang der Subsumtion als eine schrittweise Annäherung des in der anzuwendenden Nonn enthaltenen Begriffes an den Gegenstand der Beurteilung. IR Streng genommen sei es nicht möglich, einem Begriff als einer generellen Gattung die Lebenswirklichkeit als ein individuelles Vorkommnis zu subsumieren. Nur Begriffe ließen sich tatsächlich unter Begriffe höherer Art subsumieren; der Ausdruck Subsumtion für den juristischen Schluß sei zwar verbreitet und dürfe beibehalten werden, richtigerweise

IS A.a.O., 26 fT.; vgl. hierzu auch die Engischs Erläuterungen, in: FS 600 Jahre Unversität Heidelberg, S. I, 6 f.

I. Sachverhaltsbeurteilung

99

spreche man allerdings von Subordination. 19 Bei diesem Vorgang sei davon auszugehen, daß die im Gesetz verwandten Begriffe stets eine Gruppe von Objekten (im weitesten Sinne, also auch als "Fälle", zu verstehen) durch einen Namen kennzeichneten, der auf eine Gemeinsamkeit der Objekte hinweise. 20 Der Subsumtionschluß bedeute die Zuordnung des Lebenssachverhaltes zur Gruppe der mit dem Begriff gemeinten Fälle. Hierzu sei zunächst zu ermitteln, welche Fälle ganz allgemein und zweifellos unter den Begriff zu fassen seien; dies bezeichne man als die "Auslegung" des Gesetzes. 21 Im nächsten und wichtigsten Schritt, der eigentlichen Subsumtion, sei dann die Auslegung in Richtung auf den konkreten Einzelfall vorzunehmen. Sie stehe unter der Fragestellung, ob auch der zu beurteilende Fall unter den Begriff gefaßt werden könne, weil er die vom gesetzlichen Begriff vorausgesetzte Gemeinsamkeit mit den zweifellos erfaßten Fällen aufweise; gelinge diese Gleichstellung, so sei die Subsumtion erfolgreich. 22 Demnach enthält nach der Konzeption von Engisch auch die Subsumtion keine weitere Modifikation des Sachverhaltes als Zwischenelement; jegliche Annäherung zwischen Sachverhalt und Norm erfolgt von der Norm her. Auch Engisch kennt also keine andere Form der rechtlichen Beurteilung als die aus dem Gesetz herrührende; eine "Sachverhaltsbeurteilung" läßt sich, entgegen Kruse, mit seinen Überlegungen nicht begriinden. 23 c) A. Kaufmanns These von der Rechtsfindung als einer Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm

In seiner Studie "Analogie und ,Natur der Sache'''24 beschreibt A. Kaufmann den Vorgang der Rechtsanwendung als eine "Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm". Der Lebenssachverhalt könne, da er auf der Ebene der empirischen Faktizität liege, nicht durch einfachen Syllogismus unter die Norm subsumiert werden, die sich auf der Ebene des begrifflich formulierten SOllens bewege. Daher müßten beide zunächst in einem teleologischen Verfahren "gleichgemacht" werden; dieser Prozeß müsse sich von beiden Seiten, also von Norm und Sachverhalt her, vollziehen. 25 Dies setze voraus, daß es ein Tertium gebe, einen Mittler zwischen Sollen und Sein; dieses Tertium sei 19

20 21

22

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S.

22 f. 24 f. 26. 34 f.

23 So - zum Steuerrecht - auch Brandt, Die "Beurteilung von Tatbeständen" im Steuerrecht nach § 1 Abs. 3 StAnpG, S. 125. 24 (1965). 25

A.a.O., S. 29.

100

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

der .,Sinn", in dem Gesetzesnorm und Lebenssachverhalt identisch sind. Dieser Sinn. in dem das Allgemeine besonders und das Besondere allgemein sei, sei die "Natur der Sache" der Norm einerseits und des Sachverhaltes andererseits. In der "Natur der Sache" entsprächen sich demnach Norm und Sachverhalt, er sei der Angelpunkt eines analogischen Verfahrens der Rechtsfindung. 26 Auch auf diese Äußerungen Kaufmanns beruft sich Kruse in seinen Anmerkungen zum seinerzeitigen § lAbs. 3 StAnpG zum Nachweis seiner These, eine Sachverhaltsbeurteilung sei der Methodenlehre durchaus nicht fremd. 27 Es liegt tatsächlich auf den ersten Blick nicht fern, den Aussagen Kaufmanns die Bedeutung zuzumessen, die Kruse in ihnen zu erkennen glaubt. 28 Wirtschaftliche Betrachtungsweise wäre hiernach der Prozeß, mittels dessen die "Natur der Sache" eines Sachverhaltes ermittelt wird, und auf den sodann die Rechtsnorm, ebenfalls "der Natur ihrer Sache" nach, angewandt wird. Diese Deutung jedoch hieße, Kaufmann zu mißverstehen. Schünemann hat in Erläuterung der Thesen Kaufmanns den Ausdruck "Sachverhaltsisolierung" verwandt; von einer "Angleichung" oder Assimilation von Norm und Sachverhalt könne nicht gesprochen werden, weil der Sachverhalt nicht zugleich über seine eigene Subsumtion entscheiden könne. 29 Mit "Natur der Sache" möchte Kaufmann lediglich eine den Dingen von Natur aus innewohnende - ontologische - Ordnung bezeichnen, die sowohl der Normgeber als auch der Normanwender zu berücksichtigen habe; Lebenssachverhalte seien notwendig "wertbezogen".3o Letztlich geht es Kaufmann damit um die Überwindung des Gegensatzes von Sollen und Sein; es handelt sich eher um eine Betrachtung aus philosophischer Perpektive als um eine Handlungsanweisung der juristischen Methodenlehre. 31 Zur Begründung einer besonderen Beurteilung des Sachverhaltes gibt der Begriff daher nichts her. Wie Kaufmann selbst in dem Nachwort zur zweiten Auflage seiner Untersuchung 32 auf die Kritik Krieles hin ausruhrt, der ein Verfahren der "Angleichung" von Sachverhalt und Norm als "Rechtsbeugung durch inkorrekte Feststellung sowohl des Sachverhaltes als auch der Norm,,33 bezeichnet hatte, ist er keineswegs der Auffassung, der ermittelte Lebenssachverhalt müsse "modifiziert" wer26

A.a.O., S. 35.

Tipke / Kruse. RAD, § I StAnpG Rn. 2f. Vgl. auch die Kritik bei Kriele. Theorie der Rechtsgewinnung, S. 205 (Fn. 41), und die Darstellung bei Fikentscher; Methodenlehre des Rechts, Bd. IV, S. 181. 29 FS Kaufmann 70. Geburtstag, S. 299, 305. 30 A.a.O., S. 37. 31 Schapp. Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 24 f. l2 (1982), S. 60 ff. 33 Theorie der Rechtsgewinnung, S. 205 (Fn. 41). 27

28

I. Sachverhaltsbeurteilung

101

den. Soweit es die praktische Rechtsanwendung betrifft, will Kaufmann lediglich verdeutlichen, daß Norm und Sachverhalt aufeinander "verwiesen" seien. Ob nämlich beispielsweise Salzsäure eine "Waffe" im Sinne des Strafgesetzes sei, könne schlechthin nicht ermittelt werden, ohne ihre konkrete Verwendung zu untersuchen; andererseits sei ohne einen Blick in das Gesetz nicht zu ermitteln, ob der Angriff Teil etwa eines Raubes oder eines Mordversuches sei; an dem Ausdruck "Angleichung" möchte Kaufmann aufgrund seiner Mißverständlichkeit insofern nicht festhalten. 34 So verstanden, erscheint die Auffassung von Kaufmann dem Bild Engischs vom "Hin- und Herwandern des Blickes" verwandt. d) Unergiebigkeit der neueren rechtsmethodischen Diskussion

In den vergangenen Jahren hat sich die methodentheoretische Diskussion zunehmend von der Frage nach den Elementen des herkömmlichen, oben beschriebenen juristischen Schlusses als einer wie immer vorzunehmenden Subsumtion unter das Gesetz entfernt. Für eine Beschäftigung mit diesen Überlegungen, die gekennzeichnet werden durch Begriffe wie "Topik" und "materiale Rechtfertigung von Entscheidungen"35 und fur die etwa die Untersuchungen von Perelman36 und von Alexy37 stehen können, ist hier jedoch kein Raum. Diesen Studien ist eigen, daß sie versuchen, Argumentationsstrukturen zu entwickeln, innerhalb derer sie zwar die normative Gebundenheit richterlicher Entscheidungen anerkennen, aber die juristische Begründung als einen "Diskurs" begreifen, bei dem nicht feststehe, was als Entscheidungsbasis anzunehmen und welche Schritte im einzelnen vorzunehmen seien. 38 Dem klassischen Subsumtionsschluß wird in diesen neueren Überlegungen kein Platz mehr eingeräumt. 39 Wirtschaftliche Betrachtungsweise fungiert hingegen gerade als ein Hilfsmittel, implizite materielle Wertungen innerhalb eines jedenfalls vordergründig aufrecht erhaltenen Subsumtionsschlusses einzubringen. Daher können die genannten neueren Untersuchungen der juristischen Argumentation fur die Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht weiterfuhren.

34

A.a.O., S. 70.

35

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 153 f.

Juristische Logik als Argumentationslehre (1979). Theorie der juristischen Argumentation (1978). 3R Perelman, a.a.O., S. 16 ff.; Alexy, a.a.O., S. 35 f.; kritisch Engisch, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, S. I f.; vgl. auch Fikentscher. Methodenlehre des Rechts, Bd. IV, S. 181, allgemein zu "Theorien nonnfreien Entscheidens". 39 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155. 36 37

102

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

e) Zwischenergebnis

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß innerhalb der überkommenen Methodenlehre für eine wirtschaftliche Betrachtungsweise, die einen als feststehend angenommenen Sachverhalt vor seiner rechtlichen Würdigung einer "Beurteilung", tatsächlich aber einer "Modifikation" unterwirft, kein Raum ist. 4. Verfassungswidrigkeit einer sachverhalts beurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise?

Auch dieser Umstand als solcher schlösse die Zulässigkeit einer sachverhaltsbeurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise grundsätzlich nicht aus. Die juristische Methodenlehre ist nicht statisch, sondern der Wandlung unterworfen; nichts spricht dagegen, daß sich Anstöße hierzu aus der Entscheidungspraxis der Gerichte ergeben können. Ein anderes würde allerdings dann gelten, wenn die Gesetzesbindung der Gerichte gemäß Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. I Grundgesetz zugleich eine Bindung an die überkommenen Lehren der Methodenwissenschaft beinhaltete. Dieser Auffassung ist offenbar Brandt in seiner Untersuchung zum früheren § lAbs. 3 StAnpG; es entspreche dem Gesetzmäßigkeitsprinzip der Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. I, daß alleine das Gesetz die Rechtsanwendung steuere, so daß für eine Sachverhaltsbeurteilung kein Raum sei. 40 Dieser Schluß ist aber wohl unzutreffend. Wie Larenz feststellt, haben die Verfahren, die die Methodenlehre für die Rechtsanwendung bereitstellt, als solche keinen Gesetzesrang. 41 Dies widerspräche auch der Notwendigkeit der Offenheit des dogmatischen Systems für Neuerungen. 42 Die Verfahren der Methodenlehre nehmen daher nicht teil an der verfassungsrechtlich normierten Gesetzesbindung des Richters. So ist auch in der verfassungsrechtlichen Literatur anerkannt, daß die Methodenlehre dem Richter keine verbindlichen Weisungen zur Interpretation und Anwendung des Gesetzes aufgibt. 43 Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten wäre die Schaffung einer eigenständigen methodischen Kategorie der wirtschaftlichen Betrachtungsweise also denkbar. 40 Die ,,Beurteilung von Tatbeständen" im Steuerrecht nach § 1 Abs. 3 StAnpG, S. 133, allerdings, im Hinblick auf den Gegenstand seiner Untersuchung, mit Blick auf die Verfassungsbindung des Gesetzgebers; dem folgend auch TIpke, in: TIpke / Kruse, RAO, § 1 StAnpG Rn. 45-47. 41 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 248. 42 Wank, Grenzen richterlicher Rechstfortbildung, S. 41. 43 AK-GG-Wassermann, Art. 97 Rn. 44; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 20 Rn. 611.

1. Sachverhaltsbeurteilung

103

Eine Verfassungsbindung des Richters bei der Rechtsanwendung besteht allerdings, und dies ist tatsächlich eine Anforderung sowohl des Rechtsstaatsprinzips als auch der Gesetzesbindung gern. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1, insoweit die Entscheidung des Richters auf rationaler Argumentation beruhen muß. 44 Es fragt sich letztlich also auch in verfassungsrechtlicher Sicht, ob eine wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Form einer "Beurteilung des Sachverhaltes" eine rationale, nachvollziehbare Argumentation erlaubt. 5. Ungeeignetheit einer sachverhaltsbeurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise als Mittel einer rationalen Argumentation Der Vorwurf, eine sachverhaltsbeurteilende wirtschaftliche Betrachtungsweise lasse eine rational nachvollziehbare Entscheidungsbegründung nicht zu, ist Kern der Kritik in den im 4. Kapitel zusammengestellten Veröffentlichungen. Die Richtigkeit dieser These läßt sich am hier zugrundegelegten Beispiel einer einfachen verdeckten Gewinnausschüttung darlegen. a) Ungeeignetheit des Kriteriums des "wirtschaftlichen"

Zunächst ist klarzustellen, daß dem Prädikat des "wirtschaftlichen", sofern es die sachverhaItsbeurteilende wirtschaftliche Betrachtungsweise betrifft, keinerlei Erkenntniswert zukommen kann. 45 Träfe dies nämlich zu, dann müßte die Entscheidungsfindung gerade so herzuleiten sein, daß die "wirtschaftlichen" Gesichtspunkte des Sachverhaltes gegenüber anderen, "nicht-wirtschaftlichen" Gesichtspunkten hervorgehoben werden und die Subsumtion an diesen Kriterien festgemacht wird; dies geschieht jedoch nicht. So wird im Beispielsfall zum letztlich alleinigen Kriterium der Beurteilung, daß sich das Vermögen des A um 8.000,- DM erhöht und das der Gesellschaft um 8.000,- DM vermindert hat. Dabei handelt es sich gewiß um einen "wirtschaftlichen" Vorgang. Andererseits aber ist es auch ein "wirtschaftlich" bedeutsamer Unterschied, daß sich die Vermögensverschiebung nicht in Form von Geldmitteln, sondern vermittels eines Sachwertes, nämlich des Fahrzeuges, vollzogen hat. Und ohne daß dies an dieser Stelle vertieft werden müßte, ist es unter Zugrundelegung des Begriffes des "wirtschaftlichen", wie ihn der amerikanische Nationalökonom G.S. Becker seinen einflußreichen Untersuchungen 46 zugrundegelegt hat, auch ein "wirtBVerfGE 34, 269 (287). Anders aber die steuerrechtliche Untersuchung von Urbas. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 14 tT., unter Erläuterung des semantischen Gehaltes des Ausdrucks. 46 Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, S. 7 und passim, 44

45

104

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

schaftlieh" zu bewertender Umstand, daß A den F in seine Transaktion eingeschaltet hat; hierdurch werden zwar keine rechtlichen, wohl aber wirtschaftlich durchaus zu bewertende Gegenverpflichtungen sozialer Natur begTÜndet. 47 Die in dieser Sichtweise gänzlich willkürliche Auswahl eines wirtschaftlich relevanten Datums ist demnach nicht geeignet, die wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine im Wortsinn auf die ökonomische Relevanz der zu beurteilenden Handlungen abstellende Rechtsanwendung erscheinen zu lassen. b) Fehlende Auswahlkriterien

Ist also das Kriterium des "wirtschaftlichen" offenbar weder das in praxi vorherrschende noch ein geeignetes Auswahlkriterium, aus der FÜlle der Umstände, die einen Sachverhalt ausmachen, die für seine "Beurteilung" wesentlichen auszuwählen, so weist dies bereits auf die grundsätzliche Problematik der sachverhaltsbeurteilenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise überhaupt, das Fehlen geeigneter Auswahlkriterien. Zur Verdeutlichung sei nochmals das Bild Engischs vom "Hin- und Herwandern des Blickes" bemüht. Der Blick des Rechtsanwenders, so Engisch, wechselt zwischen Sachverhalt und anzuwendender Rechtsnorm und wählt so aus dem Lebenssachverhalt diejenigen Umstände aus, die für die Subsumtion unter die Norm wesentlich sind; die für die Subsumtion unwesentlichen Umstände können negiert werden. In Fallgestaltungen aber, die in der Praxis eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zu erfordern scheinen, weil eine Subsumtion unter den Gesetzestext nicht möglich ist, versagt zugleich auch diese Selektionsfunktion des Gesetzestatbestandes für die "Sachverhaltsisolierung".48 Aus sich heraus bietet der Sachverhalt keine Anhaltspunkte; er besitzt, so drückt es Schünemann aus, einen heuristischen Wert lediglich im Rahmen einer Norrnkonkretisierung. 49 Im Beispielsfall etwa ist nicht ersichtlich, wie dem Rechtsanwender aus dem Sachverhalt als solchem heraus ersichtlich werden sollte, warum eine Negierung der Zwischenschaltung des F notwendig und zulässig sein sollte. Ob auf der anderen Seite eine solche Negierung auch dann gelten sollte, wenn z.B. das Fahrzeug, nachdem es mehrere Zwischeneigentümer hatte, mit der These, jedes Verhalten des Menschen sei auf sein ökonomisches Streben zurückzuführen. 47 Vgl. Becke" a.a.O., S. 292 tT. zur wirtschaftlichen Bedeutung sozialer Interaktion. 4K Schünemann, a.a.O. 49 A.a.O.

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen

105

gleichsam zufällig zu einem günstigen Preis an A gelangt wäre, ist zweifelhaft. Diese Frage läßt sich jedenfalls nicht beantworten, ohne nicht den Zweck des Verbotes verdeckter Gewinnausschüttungen, also der Vorschrift, die Anwendung finden soll, in die Überlegungen einzubeziehen. Vor der Vielzahl der Umstände, die einen Lebenssachverhalt ausmachen, muß eine "sachverhaltsbeurteilende" wirtschaftliche Betrachtungsweise daher notwendig versagen, weil sie keine Kriterien kennt, aufgrund derer die relevanten Tatsachen ausgewählt werden sollen. Um zu dem Bild, daß an den Ausgangspunkt der Überlegungen gestellt wurde, zurückzukehren: Dafür, wie die "Optik" der "vereinfachenden Brille" auszusehen hätte, gibt es keine Maßstäbe. Dies ist der Grund dafür, daß sich, wie im 2. Kapitel festgestellt, eine sachverhaltsbeurteilende wirtschaftliche Betrachtungsweise zwangsläufig in apodiktischen Behauptungen, ein Sachverhalt sei bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise einem gesetzlich geregelten gleich, niederschlagen muß. Dies führt dazu, daß die von einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise in Form einer Sachverhaltsbeurteilung gefundenen Ergebnisse nicht rational überprüfbar sind. 6. Zwischenergebnis Gegen eine Sachverhaltsbeurteilung, wie sie in der höchstrichterlichen Praxis durchgeführt wird, sprechen zwar keine zwingenden verfassungsrechtlichen Gründe, wenn sich auch andererseits keine Nachweise für ihre Zulässigkeit in der überkommenen Methodenlehre finden lassen. Ein solches Vorgehen erlaubt jedoch keine nachvollziehbare Entscheidung und ist daher abzulehnen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise kann demnach nicht als eine eigenständige methodische Kategorie sui generis im Sinne einer Sachverhaltsbeurteilung eingeordnet werden.

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen Ist der Weg zu einer eigenständigen methodischen Kategorie der "Sachverhaltsbeurteilung" hiernach verschlossen, bedeutet dies andererseits nicht, daß nicht überkommene Formen der zivilrechtlichen Beurteilung des Verhaltens der Beteiligten in die Überlegungen einzubeziehen seien. Zu denken ist insoweit an die Auslegung von rechtsgeschäftlichen Erklärungen gemäß §§ 133, 157 BGB und an die sogenannte Qualifikation von Rechtsverhältnissen.

106

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

1. Auslegung rechtsgeschäftIicher Erklärungen Eine wirtschaftliche Betrachtungsweise gewinnt nur dort Bedeutung, wo die Parteien mittels privatautonomer Regelung, also durch rechtsgeschäftliche Erklärung, tätig werden können. Nur dort haben sie nämlich die Möglichkeit, Gestaltungen zu treffen, bei denen, um eine typische Formulierung zu gebrauchen, formale Einkleidung und wirklicher wirtschaftlicher Gehalt auseinanderfallen. Somit liegt es auf den ersten Blick nicht fern, mit der Auslegung rechtsgeschäftlicher Erklärungen gemäß §§ 133, 157 BGB ein Institut des Zivilrechts heranzuziehen, dessen Gegenstand die Ermittlung des Inhaltes rechtsgeschäftlicher Erklärungen und vertraglicher Übereinkünfte anhand des wirklichen Willens (§ 133 BGB) der Parteien ist. a) Auslegungslösung bei kapitalersetzenden Darlehen

Tatsächlich vertritt S. Sieker in ihrer Untersuchung zu den kapitalersetzenden Darlehen in der Personengesellschaft50 die Auffassung, jedenfalls eine Zuordnung kapitalersetzender Darlehen zum Eigenkapital der Gesellschaft könne vermittels einer zutreffenden Auslegung der der Hingabe des Kapitals zugrundliegenden Abrede ermöglicht werden. 5 I Ergebe diese Auslegung, daß das versprochene Kapital der Förderung des Gesellschaftszweckes dienen solle, so sei die vom Gesellschafter geschuldete Leistung als Beitrag zum Eigenkapital der Gesellschaft anzusehen. Die abweichende Bezeichnung als "Darlehen" und der Wunsch, die hingegebenen Mittel von der Bindung und den Haftungsfolgen einer Einlageleistung freizuhalten, müsse dahinter zurücktreten. 52 Bezogen auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise im allgemeinen ließe sich dieser Gedanke etwa dahingehend formulieren, wenn gemäß § 133 BGB der "wirkliche Wille" der Beteiligten ermittelt werden solle, so sei darunter das "wirtschaftlich" oder "tatsächlich" gewollte zu verstehen; die Rechtsform, die die Parteien für die Erreichung dieses Zweckes gewählt haben, sei hingegen als ein nebensächliches Motiv unerheblich. Es fällt allerdings bereits schwer, das eingangs gebildete Beispiel einer verdeckten Gewinnausschüttung in dieser Weise einer Lösung zuzuführen. Allenfalls könnte man etwa die Zwischenschaltung des F als dessen "Bevollmächtigung" durch die Gesellschaft zum Verkauf an A auslegen, um so jedenfalls das nicht unter § 30 Abs. I GmbHG zu subsumierende Dreiperso-

10 11

12

Eigenkapital und Fremdkapital in der Personengesellschaft (1991). A.a.O., S. 48 ff. A.a.O., S. 49.

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen

107

nenverhältnis negieren zu können. Es ist aber offenbar, daß eine derartige Auslegung durch keinerlei Anhaltspunkt im Sachverhalt zu stützen und rein ergebnisorientiert wäre. b) Ungeeignetheit der rechtsgeschäftlichen Auslegung zur Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise

Die Auffassung Siekers begegnet aus dogmatischer Sicht durchgreifenden Bedenken, da sie sich in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätzen setzt53 : aa) Ursprünglich war der Grundsatz, eine ihrem Wortlaut nach eindeutige Erklärung sei einer Auslegung nicht zugänglich, unangefochten. 54 Nach dieser Regel käme die Auslegung eines Darlehensvertrages als Abrede der Hingabe VOn Eigenkapital (oder diejenige eines Kaufvertrages als Bevollmächtigung) ohnehin nicht oder doch nur solange in Betracht, als nicht die kautelaIjuristisehe Praxis unmißverständliche Formulierungen entwickelt hätte. bb) Der Grundsatz, demzufolge eine eindeutige Erklärung einer weiteren Auslegung nicht zugänglich sei, wird zwar heute mit dem wohl zutreffenden Argument bestritten, auch bei eindeutig erscheinenden Erklärungen könne wegen eines vom gewöhnlichen abweichenden Sprachgebrauches der Parteien ein ganz anderes Geschäft gewollt sein. 55 Auch die Vertreter dieser Ansicht sind jedoch der Auffassung, daß das übereinstimmende Verständnis der Parteien vom Inhalt einer vertraglichen Regelung, auch wenn es im Wortlaut der Vereinbarung keinen Ausdruck gefunden habe, für die Auslegung bindend sei; den Parteien dürfe nicht eine VOn ihnen nicht gewollte Regelung aufgedrängt werden. 56 Wollten die Parteien also einen Rückforderungsanspruch des einen Beitrag leistenden Gesellschafters begründen, oder, im Beispielsfall, einen auf gegenseitigen Leistungsaustausch gerichteten Vertrag abschließen und nicht bloß eine Vollmacht erteilen, so ist, was die Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB betrifft, dieser Wille für das Gericht bindend. cc) Der entscheidende Fehler einer Auslegungslösung liegt aber letztlich darin, daß sie das Ziel der Auslegung einer rechtsgeschäftlichen Erklärung verkennt. Es geht nicht darum, die wirtschaftlichen Zwecke oder Motive der Parteien zu ermitteln mit der Folge, daß eine wirtschaftlich gewollte Förde-

53

Ebenso Fleischer. Finanzplankredite und Kapitalersatz im Gesellschaftsrecht, S. 59.

Heute noch RGRK-Krüger-Nieland/Zöller, BGB, § 133 Rn. 5; Palandt-Heinrichs, BGB, § 133 Rn. 6. 54

55 Staudinger-Dilcher, BGB, §§ 133, 157 Rn. 18; Brox, Bürgerliches Recht/ Allgemeiner Teil, Rn. 125; MünchKomm-Mayer-Maly, § 133 Rn. 42, jeweils m.w.N. 56

Jauemig / Schlechtriem-Jauernig, BGB, § 133 Anm. 3 b) aa).

108

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

rung des Gesellschaftszweckes, wie dies Sieker vertritt, zur Negierung der Bezeichnung eines Beitrages als Darlehen fiihrte. Das Rechtsgeschäft als Gegenstand der Auslegung ist nach gängiger Formulierung ein Tatbestand, an den sich Rechts/olgen deshalb knüpfen, weil sie gewollt sind. 57 Dem entspricht es, daß Ziel der Auslegung nicht die Ermittlung der wirtschaftlichen Zwecke oder Motive der Parteien, sondern der von ihnen erstrebten Rechtsfolgen als der Regelungsgehalt der Erklärung ist; die wirtschaftlichen Zwecke können allenfalls Hilfsmittel zu deren Ermittlung sein. 58 Auf den Fall des kapitalersetzenden Darlehens bezogen bedeutet dies, daß bereits deshalb von der erstrebten Rechtsfolge "Rückzahlungsanspruch des Gesellschafters" ausgegangen werden muß, weil dies die vom Gesellschafter gewünschte günstige Folge im Hinblick auf Bindung der eingebrachten Mittel hat. Eine zutreffende Auslegung der Willenserklärungen der Beteiligten läuft den mit einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise verfolgten Zielen somit im Ergebnis sogar zuwider. Haben die Parteien nämlich eine bestimmte Gestaltung gewählt, um den negativen Rechtsfolgen einer anderen Gestaltung zu entgehen, so hat eine bloße rechtsgeschäftliche Auslegung lediglich zum Resultat, daß dieser Wille zur Geltung zu bringen und die gewünschte Gestaltung mit ihren für die Parteien günstigen Rechtsfolgen daher in vollem Umfang anzuerkennen ist. Für eine die Gestaltung durch die Parteien außerachtlassende wirtschaftliche Betrachtungweise führt der Gedanke der rechtsgeschäftlichen Auslegung deshalb ganz offensichtlich nicht weiter. 2. Qualifikation von Rechtsgeschäften Pawlowski hat im Zusammenhang mit einer Ablehnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise geäußert, daß sich in den in Frage stehenden Fällen überzeugende Ergebnisse allein mit Hilfe einer zutreffenden Qualifikation der rechtsgeschäftlichen Regelungen der Beteiligten erreichen ließen. 59 Bevor auf diesen Vorschlag im einzelnen eingegangen wird, soll der Begriff der rechtsgeschäftlichen Qualifikation näher erläutert werden.

57

Etwa Palandt-Heinrichs, BGB, Überbl. vor § 104 Rn. 2.

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 299 f.; Staudinger-Dilcher, BGB, §§ 133, 157 Rn. 25; AK-BGB-Hart, §§ 133/157 Rn. 3. 59 Pawlowski, BB 1977, S. 253, 254 ff. 58

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen

109

a) Die Bedeutung der rechtsgeschäftlichen Qualifikation im Privatrecht

aa) Der Begriff der rechtsgeschäftlichen Qualifikation

Der Begriff der rechtsgeschäftlichen Qualifikation steht in engem Zusammenhang mit der Auslegung der Willenserklärungen der Parteien, ist aber von dieser streng zu trennen. 60 Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei der Qualifikation um die rechtliche Einordnung von rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen in einem der Auslegung nachfolgenden Schritt. 61 Sie ist, anders als die Auslegung, vom Willen der Parteien unabhängig. 62 Ein jedem Juristen geläufiges Beispiel ist etwa die Einordnung eines konkreten Vertrages als Fall eines der im besonderen Schuldrecht genannten Vertragstypen. Dem Modell der Qualifikation liegt dabei der Gedanke zugrunde, daß die Parteien nur die rechtliche Regelung im Sinne des Anspruchsgefüges vereinbaren, das zwischen ihnen gelten soll, zum Beispiel also ein gegenseitiges, auf Austausch von Waren und Geld zum endgültigen Verbleib gerichtetes Rechtsverhältnis. Daß ein Vertragsverhältnis diesen Inhalts als "Kaufvertrag" einzuordnen sei, stellt hingegen bereits die Qualifikation des Rechtsverhältnisses durch den Juristen dar. 63 Aus dieser Qualifikation wiederum folgt die Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 433 ff. BGB, die gelten, soweit sie nicht abbedingbar sind und abbedungen werden. bb) Qualifikation als Begrenzung der Privatautonomie

Insbesondere auf Flume geht die Erkenntnis zurück, daß mit der Qualifikation von Rechtsgeschäften durch den das Recht anwendenden Juristen zugleich eine Begrenzung der Privatautonomie der Parteien verbunden ist. Die Privatautonomie erfordere notwendig die Rechtsordnung, die einen numerus clausus der Aktstypen und der durch sie gestaltbaren Rechtsverhältnisse enthalte, als Korrelat. Der einzelne könne nur in jenen Akten rechtsgestaltend handeln, welche ihm als Aktstypen nach der Rechtsordnung dafür zur Verfügung stehen, er könne nur Rechtsverhältnisse gestalten, die als Rechtsfiguren der Rechtsordnung eigen seien, und die Gestaltung könne nur in der Weise geschehen, wie es durch die Rechtsordnung anerkannt sei. 64 Dieser von Flume so umschriebene numerus clausus der Aktstypen wird gemeinhin als "Ty60

Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 298.

61

Schulze-Osterloh. AcP 190 (1990), S. 139, 144 f.

62

Pawlowski. Methodenlehre fiir Juristen, Rn. 279.

63

Larenz. a.a.O.

Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 11, § 1, 2; zustimmend Huber, JurA 1970, S. 784, 785. 64

110

5. Kap.: Eigener Ansatz für die methodologische Einordnung

penzwang" bezeichnet; er ist insbesondere aus dem Sachenrecht bekannt65 , durchzieht jedoch in dieser Sicht der Dinge die gesamte Rechtsordnung. 66 Sind die vorgeprägten schuldrechtlichen Aktstypen und das jeweils dazu gehörende Bündel an zwingenden Normen der Vertragsfreiheit solchermaßen vorgeordnet, so können die Vertragsparteien darüber nicht verfügen. 67 Daher liegt die Kompetenz zur Qualifikation von Rechtsverhältnissen allein bei dem das Recht anwendenden Juristen und wird zur Schranke der Privatautonomie. Zwar sind die Parteien frei in der Vereinbarung der inhaltlichen Regelung, aber nicht in der Qualifikation des hierdurch zwischen ihnen entstehendeQ Rechtsverhältnisses; die Eigenqualifikation durch die Parteien, die Benennung durch sie, ist unerheblich, wenn sie von der durch die Rechtsordnung vorausgesetzten Qualifikation abweicht. 68 Zur Illustration des Begriffes der Qualifikation wird in diesem Zusammenhang auf Art. 18 des schweizerischen Obligationenrechts hingewiesen69 , wo es heißt, bei der Beurteilung eines Vertrages sei der übereinstimmende Wille und nicht die unrichtige Bezeichnung zu beachten, die von den Parteien irrtümlich oder in der Absicht gebraucht werde, die wahre Beschaffenheit des Vertrages zu verbergen. Die Nähe zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise, bei der ebenfalls der Wille der Beteiligten zur Wahl einer bestimmten rechtlichen Gestaltung negiert wird, wird in dieser Formulierung offenbar. cc) Praktische Bedeutung der Qualifikation

Eigenständige Bedeutung erlangt die Qualifikation von Rechtsverhältnissen immer dort, wo sie die Anwendbarkeit zwingender Schutz-, Verbots- oder Formvorschriften nach sich zieht. Solche Vorschriften finden sich vor allem im Arbeits- und im Gesellschaftsrecht. (l) Im Arbeitsrecht führt das oftmals anzutreffende wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Parteien dazu, daß zwingende Schutzvorschriften des Arbeitsrechts mittels einer Bezeichnung des Rechtsverhältnisses als Dienstvertrag (in der Form der sog. "freien Mitarbeit") umgangen werden sollen. Dem wirkt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes mit Bil-

65

Jahnke, ZHR 146 (1982), S. 595,600 tT. mit Nachweisen.

Huber, JurA 1970, S. 784 f., a.A. Larenz, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, § I V. 67 Fenn, FS Bosch, S. 17l, 174. 66

68 Flume, a.a.O., § 20, 2 a) (a.E.); Michaelis, FS Wieacker, S. 444, 459; Pawlowski, BB 1977, S. 253, 254; Esser/Schmidt, Schuldrecht Allgemeiner Teil, § 12 I; K. Schmidt, GeseIlschaftsrecht, § 5 II 3 e); MünchKomm-Kramer, BGB, § 117 Rn. 14.

69

Fleischer, Finanzplankredite und Kapitalersatz im Gesellschaftsrecht, S. 71.

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen

lll

ligung des ganz überwiegenden Schrifttums70 mittels einer von der Bezeichnung unabhängigen Einordnung der Rechtsbeziehung entgegen. Maßgebend sei insoweit in erster Linie nicht, welche rechtliche Wertung die Parteien ihrer Vertragsbeziehung angedeihen lassen, sondern wie diese Beziehung bei objektiver Betrachtung in Wahrheit einzuordnen sei. 71 Ohne daß diese Rechtsprechung hier in ihren Einzelheiten erörtert werden müßte, kann sie als ein allgemein geläufiges Beispiel für eine juristische Qualifikation gegen den zum Ausdruck gekommenen Willen der Beteiligten gelten. (2) Im Gesellschaftsrecht ist die Qualifikation von Rechtsverhältnissen in zweierlei Hinsicht für die Abgrenzung der unterschiedlichen Rechtsformen von Bedeutung. Es handelt sich zum einen um die Fälle der sogenannten anfänglichen RechtsJormverfehlung, in denen die Parteien grundsätzlich eine bestimmte Rechtsform wählen wollten, aber deren Voraussetzungen, insbesondere formeller Art, nicht erfüllt, bei der GmbH vor allem also der notariellen Form der Errichtung nicht genügt oder die Eintragung in das Handelsregister nicht veranlaßt haben. 72 Der Zusammenschluß der Gesellschafter ist dann nicht, wie dies denkbar wäre 73 , unwirksam, sondern wird, je nach Art und Umfang der Geschäftstätigkeit, als BGB-Gesellschaft oder oHG eingeordnet. 74 Zum anderen lassen sich unter den Begriff der Qualifikation im GeseIlschaftsrecht jene Sachverhaltsgestaltungen fassen, in denen eine zunächst gewählte Eigenqualifikation der Gesellschafter nachträglich unrichtig wird, weil sich die Verhältnisse ändern (sog. nachträglicher RechtsJormzwang75 ). Ein bekanntes Beispiel ist die Umqualifizierung einer bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft in eine HGB-Gesellschaft, oder umgekehrt, infolge des Wachsens oder Herabsinkens des Unternehmens der Gesellschaft. 76 Auch diese Fälle, die unter dem Stichwort "Typenzwang im Gesellschaftsrecht,,77 weithin erörtert werden, lassen sich als Fälle einer vom Willen der Beteiligten unabhängigen Qualifikation begreifen.

70 Richardi, in: Münchner Handbuch des Arbeitsrechts, Bd. I, § 23 Rn. 55; Hanau / Adomeit, Arbeitsrecht, E 2; Jahnke. ZHR 146 (\ 982), S. 595, 614; a.A. Lieb. RdA 1975, S. 49, 50 ff. 71 BAGE 19,324 (329); ebenso AP Nr. 8; 11,12,15,16,17 und 18 zu § § 611 BGB-

Abhängigkeit. 72

K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 II 3 c).

So Lieb. Ehegattenrnitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand, S. 18 ff. 74 Heymann-Emmerich, HGB, § 105 Rn. 24. 73

75

K. Schmidt, a.a.O.

76

Baumbach/Duden-Hopt, HGB, § 105 Rn. 10 f.

77

Jahnke. ZHR 146 (\982) 595, 602 ff.

112

5. Kap.: Eigener Ansatz rur die methodologische Einordnung

b) Qualifikation und wirtschaftliche Betrachtungsweise

Den Gedanken der Qualifikation von Rechtsverhältnissen möchte Pawlowski fruchtbar machen, um die von ihm als ungenau abgelehnte wirtschaftliche Betrachtungsweise, und zwar sowohl im Steuerrecht als auch im Privatrecht, zu ersetzen. 7S Er bezeichnet dieses Verfahren als "funktionale Qualifikation". Pawlowski stellt die seiner Ansicht nach bestehenden Vorteile der funktionalen Qualifikation über die wirtschaftliche Betrachtungsweise - in der Form der Sachverhaltsbeurteilung der Rechtsprechung - anhand zweier Beispiele dar. Zum einen entnimmt Pawlowski der Rechtsprechung des Bundesjinanzhofes 79 den Fall einer von den Parteien so bezeichneten Schenkung eines Geldbetrages durch Großeltern an ihre Enkelkinder mit gleichzeitiger Rückgewähr des Betrages als Darlehen unter Vereinbarung einer Verzinsungspflicht. Die Zahlung der Schuldzinsen wollten die Großeltern sodann steuermindernd geltend machen. Der Bundesjinanzhof war aufgrund einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu dem Ergebnis gelangt, tatsächlich handele es sich bei den so bezeichneten Zinszahlungen um - nicht absetzbare - Schenkungen der Großeltern an ihre Enkelkinder. - Pawlowski legt dar, daß auch eine zutreffende Qualifikation des Geschäfts zu diesem Ergebnis gelangt wäre. Die Eigenqualifikation der Zahlungen als Darlehenszinsen werde nicht anerkannt, weil die Rechtsordnung auf ein Geschäft, daß inhaltlich eine Schenkung sei, auch die für diese geltenden Vorschriften zur Anwendung bringe. Dies gelte im übrigen nicht nur rur die steuerrechtliche Beurteilung, sondern in gleicher Weise dann, wenn zivilrechtlich etwa die Formwirksamkeit gemäß § 518 oder die Rückforderung wegen Notbedarfs, § 528 BGB, in Streit stehe. Schließlich sei es für eine zutreffende Qualifikation auch unerheblich, ob tatsächlich Kapital hin- und hergezahlt worden sei; die Qualifikation von Rechtsverhältnissen sei von bloßen formalen Handlungen unabhängig. so Das andere von Pawlowski gebildete Beispiel betrifft die rein zivilrechtliehe Frage, ob die von einer Gesellschaft beauftragten Bauhandwerker die Eintragung einer Sicherungshypothek gemäß § 648 BGB auch dann verlangen können, wenn das Grundstück einer von der Bestellerin verschiedenen, mit dieser jedoch konzemmäßig verbundenen Gesellschaft gehört. Dies wird von einem Teil der Rechtsprechung unter Hinweis auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise bejaht. sl - Pawlowski lehnt diese Herleitung als ungenau 7M

BB 1977, S. 253, 254 ff.

79

BFHE 78, 184 ff.

MO

A.a.O., S. 254 f.

'1

OLG München, NJW 1975, S. 220 f.; LG Köln, BB 1973, S. 1375, 1376.

11. Auslegung und Qualifikation rechtsgeschäftlicher Erklärungen

113

ab. 82 Die von ihm vorgeschlagene Lösung - es komme darauf an, ob die Bestellerin im Verhältnis zur Konzemgesellschaft zur Verpfändung berechtigt sei - gibt jedoch für die von Pawlowski vorgestellte Qualifikation von Rechtsgeschäften nichts her; es handelt sich, wie Pawlowski selbst darlegt, um einen Fall der "interessengerechten Auslegung"83 der Parteivereinbarungen. c) Stellungnahme

Soweit Pawlowski - im ersten von ihm gebildeten Beispiel - das Ergebnis tatsächlich mit Hilfe einer Qualifikation zu begründen sucht, ergeben sich Bedenken, ob damit das eingangs vorgestellte Modell der Qualifikation nicht über seinen legitimen Anwendungsbereich hinaus ausgedehnt wird. Wie erläutert, setzt die Qualifikation bei der unrichtigen Benennung eines Rechtsverhältnisses durch die Parteien an, die nicht dazu führen soll, daß Schutzund Formvorschriften unterlaufen werden. Pawlowski hingegen mißt der von ihm postulierten funktionellen Qualifikation eine darüber weit hinausgehende Bedeutung bei, wenn er mit ihr auch die Negierung von Handlungen der Parteien - wie im Beispiel das Hin- und Herzahlen des Kapitals - rechtfertigt. In gleicher Weise müßte eine Qualifikation, um als Ersatz bzw. als zutreffende Charakterisierung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in Betracht zu kommen, auch die Einschaltung Dritter in die Rechtsbeziehungen der Parteien erfassen können, also eine zutreffende Würdigung des anfangs des Kapitels genannten Beispiels ermöglichen. Damit aber würde der Begriff der Qualifikation über Gebühr strapaziert, ohne daß damit in der Sache eine Verbesserung erreicht wäre; zureichende Kriterien, warum eine womöglich sehr komplizierte rechtliche Gestaltung bei zutreffender Qualifikation einem bestimmten Vertragstyp zuzuordnen ist oder einem bestimmten Sachverhalt entsprechen soll, lassen sich dem Ansatz von Pawlowski nicht entnehmen. Es verhält sich demnach mit der Qualifikation letztlich nicht anders als mit der Sachverhaltsbeurteilung; der Ansatz Pawlowskis wäre daher, selbst wenn er die bisherige Bedeutung des Begriffes der Qualifikation nicht sprengen würde, für eine bessere Erfassung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ungeeignet.

3. Zwischenergebnis Auch die überkommenen Formen der zivilrechtlichen Beurteilung des Parteiverhaltens, Auslegung und Qualifikation, führen für eine Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht weiter. Aus einer interessengerech82 83

A.a.O., S. 256. A.a.O.

8 Möller

114

5. Kap.: Eigener Ansatz für die methodologische Einordnung

ten rechtsgeschäftlichen Auslegung folgte gerade eine Bestätigung der rechtlichen Gestaltung durch die Parteien. Die von Pawlowski vorgeschlagene Lösung über eine funktionale Qualifikation der Vereinbarungen der Beteiligten dehnt diesen Begriff über seinen überkommenen Gehalt hinaus aus, ohne einen sichereren Umgang mit den in Frage stehenden Fällen zu ermöglichen.

III. Treu und Glauben, § 242 BGB Im Zusammenhang mit einem Versuch der methodologischen Einordnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise erscheint die Nennung der Gesetzesbestimmung des § 242 BGB womöglich zunächst abwegig. Andererseits sind jedoch Verbindungslinien unübersehbar, denn sowohl das Gebot von Treu und Glauben als auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise sind - wie für letztere ausführlich dargelegt wurde - in der Praxis das Vehikel einer ergebnisorientierten Korrektur der strengen und wortlautgetreuen Gesetzesanwendung. 84 1. Nähe von § 242 BGB und wirtschaftlicher Betrachtungsweise in der Rechtsprechung

Auch in der Rechtsprechung bereits des Reichsgerichts und später des Bundesgerichtshofes ist diese unmittelbare Verwandtschaft zwischen wirtschaftlicher Betrachtungsweise und Treuegebot verschiedentlich zum Ausdruck gekommen. Als beispielhaft hierfür kann die Rechtsprechung zum sogenannten "Durchgriff' als Einschränkung des für das GmbH-Recht in § 13 Abs. 2 normierten Trennungsprinzips gelten, ohne daß die dogmatische Einordnung dieses Institutes - sie ist in der Literatur umstritten - hier näher problematisiert werden müßte. 85 In einer einleitenden Passage der sogenannten Siedlungsgesel/schqji-Entscheidung86 , die in ähnlicher Form in der Mehrzahl der Entscheidungen zum "Durchgriff' enthalten ist87 , wird das den Richter verpflichtende Prinzip von Treu und Glauben neben die für eine wirtschaftliche Betrachtungsweise kennzeichnenden Formulierungen gestellt; es heißt dort wörtlich: 1