Die Wallfahrt zum heiligen Herasem [Reprint 2020 ed.] 9783112368640, 9783112368633

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Die Wallfahrt zum heiligen Herasem [Reprint 2020 ed.]
 9783112368640, 9783112368633

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Die Wallfahrt zum heiligen Herasem

Die Wallfahrt zum heiligen Herasem Roman von

Luäwig Brinkmann Buchschmuck von Otto v. Kucfell

Berlin 1924

SeuterS Reiseführerverlag Büttner & Co. S. IN. b. H.

Qlle

Rechte

Vorbehalten

Copyright 1924 by Geuters Reiseführerverlag, Berlin

Vorbemerkung. Dieses Buch wurde in den Jahren 1915 und 1916 geschrieben, als man Deutschland noch für eine Großmacht halten durfte, der — von anderen und vielleicht wichtigeren Dingen abgesehen — die bedeutsamen Fragen der Welt­ wirtschaft und Weltpolitik, eins mit dem andern eng ver­ bunden, eins ohne das andere nicht durchführbar noch denkbar, besonders eng am Kerzen lagen. Keule haben freilich die wirtschaftlichen und politischen Probleme, die das ferne Marokko damals bot, kaum noch ein Inter­ esse für uns, nachdem Deutschland selbst marokkantsiert, das heißt eine von fremden Kerren okkupierte und aus­ gesogene Pariaplantage geworden ist, Indem der Franzose, hier genau wie in Nordafrika, den angestammten Partei­ hader und selbstmörderischen Bruderzwist arglistig mit der Sammetpfote der Bestechung oder dem Schlagringe brutaler Gewalt, je den Umständen entsprechend ange-^ wandt, wachhält und für seine Unterjochungszwecke aus­ nutzt. Trotzdem bleibe auch heute das damals über die vorerwähnten Gegenstände Gesagte, Gelobte und Ge­ tadelte, stehen, als eine Erinnerung mehr an die Kosfnungen und Sorgen eines Zeitalters von einzigartigem Glanze, der, durch eigene Schuld schimpflich ausgelöscht, niemals wieder uns aufleuchten wird.

Madrid, im September 1923.

L. B.

hilipp stand wartend an der Hoteltür. Gegenüber auf der Rathausuhr rückte der große Zeiger langsam weiter; aber Ernst kam nicht. Der Winkel zwischen der tat­ sächlichen Stellung des Zeigers und der gedachten, die die Absahrtszeit des Zuges darstellte, ging allmählich aus dem über­ stumpfen in den flachen Zustand über. Ernst kam nicht. Der Winkel wurde stumpf und näherte sich fast dem rechten. — Ernst kam natürlich noch immer nicht. Philipp schwur nun, allein zu fahren; länger ließe er sich nicht von dem Saumseligen an der Nase herumführen. Die Kutscher, deren Ge­ fährte 0or dem Hotel warteten, setzten dem ärgerlich Harrenden immer energischer zu. Sie hatten natürlich längst heraus, daß der unmäßig lange und dürre Jnglös — in Sevilla gelten alle Aus­ länder für Söhne des meerbeherrschenden Albions — den Schnell­ zug nach Cadiz zu erreichen wünschte; sie gestikulierten mit den Armen, wiesen auf die Uhr und mahnten ihn, sich zu beeilen. Das vermeintliche Phlegma des blonden Fremden drohte sichtbar das sonst so unverrückbare Gleichgewicht der andalusischen Rosselenker zu erschüttern. Philipp fluchte — des Sängers Höflichkeit verschweigt hier manche gewagte Redefigur. Das war also aus den genialen Vor­ sichtsmaßregeln geworden, die Ernst getroffen hatte, um die Ab­ fahrt des Neunuhrzuges nicht zu verschlafen! Zunächst war man schon am Tage zuvor aus dem ländlichen Tusculum des Freundes in das Hotel Inglaterra übergesiedelt, um nicht am Morgen e r Brinkmann, Walliabrt

der Abreise noch den Teufeleien und unberechenbaren Zwischen­ fällen einer Automobilfahrt auf einer andalusischen Landstraße ausgesetzt zu sein. Dann aber, als zweite Vorsichtsmaßregel, hatte Ernst bestimmt: „Wenn man um neun Uhr bereits auf dem Bahn­ hof sein will, lohnt es sich nicht, erst noch zu Bett zu gehen!" So hatten sie die Nacht, eine wunder­ same warme Iulinacht, bei ernsten und heiteren Ge­ sprächen in der Venta Eritaüa ver­ bracht; und Spaniens köstlichste Weine ran­ nen langsam in goldenen Flüssen da­ hin, wie die Lehren der Lebensweisheit den Lippen des vielerfahrenen Freundes entströmten. Aber dann — dann war auf einmal das Unerwartete ein­ getreten. Ernst war plötzlich, in jähem Wechsel der Stimmung verstummt. Es dämmerte gerade die bleiche Stunde des Morgen­ grauens. Er rief nach seinem Chauffeur, der auf dem Gefährt ein­ geschlafen war, und bestieg den Wagen. „Ich fürchte, ich habe meinen Koffer vergessen," sagte er, als der jüngere Freund ihn erstaunt fragte. „Ich hole Sie nachher aus dem Hotel ab!" Und damit knatterte der Wagen davon.

Was war das? Hatte er absichtlich sein Reisegepäck zurück­ gelassen, um einen Vorwand zu haben, sich im letzten Augenblicke aus dem Staube zu machen? Oder zog ihn etwas unbekannt Ge­ heimnisvolles in seinen Zaubergarten zurück, in dem noch heute, auf dem Hügel am Guadalquivir, die uralten Olivenbäume stehen, unter denen bereits der Ritter Don Juan Tenorio, Meister Mozarts Don Juan, vor siebzig Lustren in verliebten Gesprächen lustwan­ delte, und der nach mancherlei tragischen und komischen Geschicken, wie es nun einmal der Lauf der Welt ist, in den Besitz unseres Freundes, des weltberühmten Don Juan dieser Tage, gelangt ist? Hatte das Abenteuer mit der verwünschten Komödiantin, die ihm so viel Pein bereitet hat, immer noch kein Ende gefunden? Oder wollte Ernst im letzten Augenblick noch der Fahrt ausweichen, zu der er seinen Freund Philipp so dringend eingeladen, als er schrieb: „Ich fühle schon die Gespenster durch die Wände filtrieren. Kom­ men Sie sofort, um an meinem letzten Schmause teilzunehmen. Doch nicht in diesem verfluchten Lande, wo die Menschen, weil sie Feiglinge sind, schweigen, aber die Steine schreien? Gehen wir ins Land Arabia. Ich habe genug der Wirklichkeiten und will zum Beschluß nur noch Märchen erleben. In Marokko können Sie ebenso gut technische Probleme lösen, wie in Madrid. Wüsten sind sich immer ähnlich!"

Endlich dachte der Wartende erbost: „Mag der Launenhafte meinetwegen alle seine Pläne wieder umgestürzt haben! Ich aber habe mich nicht vergeblich auf die Reise eingerichtet. Jetzt fahre ich eben allein!"

Er ergriff seinen Koffer, um kurz entschlossen eine Droschke zu besteigen — da brauste das weiße Automobil, das von Ernst selbst gesteuert wurde, heran. „Ich glaubte schon, Sie wären doch noch zu Bett gegangen," begrüßte Philipp ingrimmig den Freund. „Warum sollte ich das tun?" fragte Ernst gleichmütig.

'Ja, warum? Philipp dachte über das „warum" nach, als sie dem Bahnhof zuflogen. Er fand aber keine Antwort. „Es fehlt jetzt nur noch eine Panne," sagte er, da er ziemlich pessimistisch geworden war.

„Leicht möglich auf diesem verfluchten Pflaster. unsere edle Stadtverwaltung!"

Gott segne

Glücklicherweise langte man aber ohne geplatzten Reifen oder gebrochene Welle auf dem Bahnhöfe an. Die Formalitäten de» Fahrkartenkaufes und so. fort wurden ohne weiteren Zwischenfall erledigt, und Cipriano, der Chauffeur, reichte feinem Herrn da» Reisegepäck zu, eine ganz kleine Tasche.

/Tarnst machte es sich in seiner Ecke bequem — die beiden VZ/ Freunde saßen allein in ihrem Abteile — und stopfte sich die kurze Pfeife, die nie erkaltete, außer während der wenigen Stun­ den des Schlafes und der Mahlzeiten oder wenn er einmal eine Zigarre rauchte, eine große schwere Brasil, häufiger aber eine der fürchterlichen Taganinas, welches satanische Produkt eine Spezialität der Tabakfabrik Sevillas ist, des ehemaligen Wirkungskreises von Bizets Carmen.

„Gottlob ist unsere Abfahrt Geheimnis geblieben," sagte er schmunzelnd, als sich der Zug in Bewegung setzte. „Sonst hätten wir von den Lippen der Edlen von Sevilla, die sich stets bemüßigt fühlen, mir zum Abschiede das Geleit zu geben, viel Worte des Bleches mit anhören müssen! Nichts ist grauenvoller, als das konventionelle Gewäsch aus „besonderen Anlässen". Wenn Blech geredet werden soll, so sei es wenigstens ex tempore!"

Er zog zwei Bücher aus der Tasche, die ihn etwas behindern mochten. Philipp griff danach. „Reiselektüre," erklärte Ernst. „Detektivromane? Pfui! Wer hätte das von Ihnen gedacht?" rief Philipp entrüstet. „Nur Geduld, mein Lieber! Es ist mir Pflicht und Bedürfnis, in den Geist unserer herrlichsten aller Zeiten einzudringen! Und diese Machwerke haben unsern Geist gründlichst erfaßt. Wir werden alle noch Detektivromane schreiben oder wenigstens erleben!" „Gott soll uns bewahren!"

„Nur abwarten, kommt Zeit, kommt Rat — oder Unrat, je nachdem! Es liegt so etwas in der Lust; ich brauche das nicht

zu beweisen. Beweis genug ist das Ueberwuchern dieser Klasse von Literatur. Die und das Variete sind neben dem Wandelbildertheater unsere wesentlichsten Kulturträger geworden!"

„Ihre Paradoxen glauben Sie ja selbst nicht! stückchen und Tricks "

Iongleurkunst-

„Berühren Sie nicht mein Steckenpferd: meine Philosophie des Tricks," sagte Ernst feierlich. „Was ist denn das wieder?" fragte Philipp lachend. „Hören Sie zu. Worin liegt des Menschen Bedeutung? Ledig­ lich darin, daß er ein paar Tricks versteht. Die Kunst ist nur her­ auszufinden, welche Tricks unter gegebenen Umständen den meisten Eindruck machen. Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit: die guten Schüler waren stets die, die einige auf die Charaktereigen­ tümlichkeit der betreffenden Lehrer berechnete Tricks verstanden. Schade, daß Sie meine eigenen Pädagogen nicht kennen; Sie würden das sofort bestätigt sehen. Der eine legte Gewicht auf ge­ wisse militärische Allüren, straffes Aufstehen, womöglich die Hacken zusammenschlagen und lautes artikuliertes Sprechen, wobei die Konsonanten fast die Zähne herausschleuderten — auf diesem Ge­ biete tat unser Primus Wunder; er schnellte stets wie von -einer Spiralfeder getrieben in die Höhe und brüllte mit Stentorstimme erhabenen Blödsinn in die Welt. Es war und blieb natürlich Blöd­ sinn; aber unser Magister war durch sein schneidiges Gehgbe für ihn gewonnen und klärte leutselig den Unsinn als Irrtum auf, während die andern Jungens, die über die richtige Antwort nachsinnend sich zögernd erhoben und ebenso zögernd zu sprechen anfingen, von vornherein im Erfolge gehandicapt waren, obgleich sie wirklich etwas wußten.

Bei einem andern Iugendbildner waren die Jahreszahlen der drei panischen Kriege das Alpha und Omega der Weisheit. Wer die im gegebenen Augenblicke an den Mann zu bringen wußte, wurde versetzt, wenn er auch sonst nicht einmal das Jahr der Ge­ burt Christi wußte. Und das Seltsame ist, daß die allergrößte Mehrzahl meiner Kameraden eben trotzdem nicht das Datum der punischen Kriege kannte. Ihr daraus entstandenes Mißgeschick ver­ dienten sie mit Recht; denn wenn man so wenig gewitzigt ist, den

Trick und seine Bedeutung für unser Wohlergehen auf Erden nicht zu erfassen .... Ich sage Ihnen: Wer in der Welt über den Durchschnitt hinausragt, erreicht das lediglich infolge solcher Tricks. In gewissen Sphären kommt es darauf an, Skat spielen zu können; in anderen, drei Witze zu beherrschen und sie in jeder Rede dem jubelnden Volke an die blöden Schädel zu schleudern; in anderen, den Inhalt eines verstaubten Aktenstückes zu kennen; in anderen, im rechten Augenblicke eine Träne bereit zu haben; in anderen, sich dumm zu stellen — was den meisten ja nicht schwer fällt — und einen belehrenden, ermahnenden Wortschwall geneigten Hauptes über sich ergehen zu lassen. Wer nur einen Trick kann, bringt es zum Amtsrichter; wer drei beherrscht, wird Geheimrat; zum Minister gehören aber sechs Tricks. Glück und Unglück bringt die Liebe, je nach dem man ledig bleibt oder einen Ehebund für das ganze Leben schließt. Davon aber abgesehen. Glück in der Liebe, Erfolg beim Weibe: das be­ ruht in der Regel auf zwei oder drei rein körperlichen Tricks. Ium Beispiel: Tennis spielen oder eine Viertelstunde auf einem Bein stehen können. Ich kannte einen, der sich ein schönes Weib er­ rungen, weil er heraus hatte, auf die wundersamste Weife mit den Ohren zu wackeln!" „Ganz so schlimm ", suchte Philipp den Freund zu unterbrechen. Der wurde schon seit einem Monat schreckenerregend bitter und ungerecht, wenn er auf das mit Recht so beliebte weib­ liche Geschlecht zu sprechen kam. „Der Blinde soll nicht von der Farbe reden," suhr Ernst fort. „Ich habe übrigens meine Theorie des modernen Lebens wohl­ verstanden die einzige richtige! — in ein System gebracht. Ich, jawohl, ich habe die Philosophie der Tricks geschaffen und be­ gründet." Damit schlug er sich mit komischem Selbstbewußtsein an die etwas über das Normale hinausgehende männliche Brust. „Nur in paar Stichproben, die Kapitelüberschriften. Also: Erster Teil: Die Klassen der Tricks, mit den Kapiteln: Körperliche Tricks, zum Beispiel Ohrenwackeln. Geistige Tricks, mit den Unterabteilungen

a) Moralische Tricks, zum Beispiel Tränen vergießen; ge­ hört unter Umständen auch in die Klasse der körperlichen Tricks. Oder in die Kirche gehen, usw. c) Aesthetische Tricks, zum Beispiel: das Leitmotiv; wenn man nämlich keinen harmonischen Uebergang weiß, setzt man mit dem Leitmotiv ein. Oder aber: Salat anmachen. Oder: ein Ehebruch im Dramcl; sonst geht nämlich nie­ mand ins Theater. c) Intellektuelle Tricks. Zum Beispiel: Witze reißen. Oder: Skatspielen. Oder: die punischen Kriege. Zweiter Teil: Die Anwendung der Tricks; darin die Kapitel: Anwendung auf die Vorgesetzten. Zum Beispiel: sich dumm stellen, also Mimikry gleich Anpassung an die Umwelt. Anwendung auf die Weiber. Zum Beispiel: Lackstiefel. Anwendung auf das Publikum. Zum Beispiel: sein Buch vom Staatsanwalt konfiszieren lassen. Oder die Behaup­ tung: Besitz ist Diebstahl.

Dritter Teil: Die Folgen des Tricks. Unterteilt in: Angenehme Folgen. a) Man wird mit einem Orden geschmückt. b) Man entlobt sich. c) Man bekommt einen schönen Nachruf, wenn man ge­ storben ist.

Unangenehme Folgen. a) Körperliche Folgen. Zum Beispiel: Hühneraugen durch die Lackstiefel. Oder einen Schnupfen, indem daß man auf sein Fräulein Braut, im Regen wartet. b) Geistige Folgen. Erstens: Moralische Folgen. Zum Beispiel: man schließt endlich doch der öffentlichen Meinung zuliebe den Ehe­ bund. Zweitens: Aesthetische Folgen. Zum Beispiel: die liebende Gattin schmückt sich alle Monat mit einem neuen Hut. Drittens: Intellektuelle Folgen: Man kann sein ganzes Leben lang nicht die punischen Kriege vergessen. Oder

man erhält jeden Abend einen Bericht über das durchaus unpassende Benehmen des Dienstmädchens. Selbstverständlich," fuhr der kleine Herr fort, nachdem er ein wenig Atem geholt hatte, „ist das nur ein ganz oberflächlicher Ueberblick der Grundzüge meines an sich höchst tiefsinnig fein ver­ ästelten Systems. Da es aber den ganzen Kosmos umfaßt und einbegreift, ist es selbst ein Mikrokosmos!"

Er fügte noch zahlreiche barocke Gedanken über sein absurdes Riesensystem hinzu, während Philipp, im Stillen darüber nach­ dachte, welcher wunderlichen Laune diese tolle Improvision wohl entspringen mochte. Was suchte der Freund in seinem Sarkasmus zu zerstören? Welche Träume, welchen Schutt suchte er sich durch Hohn und Spott von der Seele zu räumen? Denn immer, wenn der geniale Mann ins Skurrile verfiel, dann galt es, einen Riß zu überkleistern, den die plumpe Faust des Schicksals in den harnonischen Bau seines Geisteslebens gestoßen hatte. Endlich schloß Ernst mit dem Stoßseufzer: „Wenn mir nur nicht gar so viele Lasten aufgebürdet wären! Die Sache verdient es, sich ihr ausschließlich zu widmen. Meine Tricktheorie ist der erste wirklich klassische Versuch, das Weltall auszudeuten. Ich werde es für die Zeit aufschieben müssen, da ich mich einmal ganz zurück­ gezogen habe. Procul negotiis, nur so kann solch eine zarte Blüte gedeihen!"

„Ich fürchte, Sie werden in Ihrem Ruhestand mehr Arbeit be­ kommen, als Ihnen zu bewältigen möglich ist," sagte Philipp lächelnd. „Ich erinnere Sie an Ihre Memoiren; oder Ihre kultur­ historischen Untersuchungen; an Ihre Sammlungen; Ihre Er­ findungen; den Okkultismus, was weiß ich."

„Man soll das eine tun und das andere nicht lassen! Leider will es mein Unglück, daß gar so viel Aufgaben mir vom Schick­ sal zugewiesen sind. Es ist eine schlechte Verteilung. S i e hätten auch etwas davon abbekommen können. Aber mit der Vorsehung soll man nicht hadern. Sie wird schon wissen, warum gerade ich die harten Nüsse zu knacken habe. Wenn ich ihr nur keinen Strich durch die feine Rechnung mache und mich vorzeitig aus diesem

Jammertals fortstehle und alle die schönen Nüsse meinen nur sehr säuerlich lachenden Erben zum Knacken übrig laste! Doch ich glaube wirklich, wir sind schon in Utrera! Donner­ wetter, das ist ein heißer Tag! Mir ist, als säße mir die ganze Sahara im Halse! Geht es Ihnen nicht auch so?" Philipp nickte beistimmend. „Wir müssen uns eine Flasche Jerez zu Gemüte führen," fuhr der kleine Herr fort. „Jerez hat bei solcher Hitze eine wunderbar kühlende Wirkung!" „Gut. Probieren wir es einmal!" Unterdessen fuhr schon der Zug langsamer. Natürlich war wie immer die ganze Bevölkerung des Städtchens auf dem Bahnhöfe versammelt, um die angenehme Zerstreuung zu genießen, die stets ein durchkommender Personenzug ihren unschuldigen Gemütern bereitet. „Bei dem Gedränge wird es nicht leicht sein, das Buffet zu finden," sagte Ernst. „Es ist entweder am linken oder am rechten Ende des Bahnsteiges. Auf jeden Fall aber weit draußen. Wir sind im Lande des Unpraktischen. Aber gerade deshalb ist es so schön hier. Suchen Sie also den Zug hinauf, ich ihn hinab. Wer das Buffet findet, taust den Wein!" Philipp stieg gewandt aus dem Abteil und brach sich durch die buntfarbiger Kleider der andalusischen Schönen Bahn. Die be­ wundernden Bemerkungen über seine ungewöhnliche Körperlänge schien er in geheuchelter Sprachunkenntnis zu überhören, trotzdem sie aus dem Munde wirklich schöner Frauen fielen. Richtig, da war das Buffet. Er kaufte die gewünschte Flasche, bestieg wieder den Wagen und sah sich nach dem Freunde um. Da stand er. Wie eine — allerdings etwas kurz geratene — Erscheinung aus einer höheren Welt. Ueber dem runden gewal­ tigen Antlitze, das von einem kleinen Panamahütchen gekrönt war, lag eine Welle intensiv roter Glut; erst am Vorgebirge des leider etwas zu kühn geformten Bauches schien sich die purpurne Licht­ woge in violetten Schatten zu verlieren. Unter den einen Arm hatte er eine Flasche geklemmt; mit dem anderen gestikulierte er; alles schien darauf hinzuweisen, daß er einen Augenblick tiefster innerer Erregung durchkostete.

Oder war diese intensive rote Glut, die auf den Wangen des kleinen Herrn leuchtete, nur durch den Schein des mächtigen, pur­ purroten Sonnenschirmes erzeugt, den sein Gegenüber, ein geist­ licher Herr im schwarzen Gewände, über die Schulter gelehnt hatte?

Man mutzte einsteigen. Ernst schüttelte dem Diener Gottes die fleischige Rechte und erklomm das Abteil. Ein freundliches Winken zum Fenster hinaus; dann wandte er sich wieder seinem Reise­ gefährten zu. „Wie, Sie Unglücksrabe, Sie haben auch eine Flasche?" „Freilich, genau unserer Abmachung entsprechend," versuchte Philipp sich zu entschuldigen. „Ach was, Abmachung! Haben Sie nicht den Burschen mit seinem Erfrischungskarren gesehen?" „Nein!" „Man muh seine Augen aufmachen! Nun haben wir die Be­ scherung! Aber es ist nicht meine Schuld. Sie können Ihre Flasche ruhig allein trinken!"

Ernst brachte das fast im Tone der Erbitterung heraus. suchte, wie immer, einzulenken: „Wir können uns ja eine aufheben."

Philipp

„Daraus wird nichts! Das wäre noch schöner, sich die Reise mit unnötigem Ballast zu verderben. Nein, ©träfe muß sein. Schon um der inneren Gerechtigkeit willen, die der Leitfaden aller unserer Handlungen sein soll! Ich bin aber neugierig, ob der dumme Kerl Vicente, den ich lieber mein Facnihil als mein Factotum nennen möchte, ein Glas eingepackt hat."

Er nahm aus der Hängematte sein Köfferchen, dessen geringer Umfang Philipp jetzt erst auffiel, und öffnete es. „Schlüssel nehme ich aus Prinzip nicht mit; mit solchen Dumm­ heiten verbittere ich mir nicht meine Reise," sagte er dabei. Dann fing er zu kramen an. „Wirklich, an nichts denkt der verdammte Bengel! Wie sollte er aber auch? Zum Denken gehört Verstand,, und mit diesem Danaergeschenk hat ihn die allgütige Natur ver­ schont. Nun, dann trinken wir eben aus der Flasche. Oder haben Sie ein Glas?"

„Einen Becher habe ich. Aber zuunterst in meinem Koffer. Der ist groß und schwer. Jetzt bei der Hitze — Sie müssen schon entschuldigen." „Wie Sie wollen? Aber entnehmen Sie wenigstens eine Moral der Geschichte. Gepäck ist Bleigewicht, das sich der Wanderer, den die Götter strafen wollen, selbst in seiner Blindheit an den eilen­ den Fuß schmiedet. Und er findet nicht einmal den Lohn seiner Mühen! Wieviel Menschen habe ich nicht schon sich die größten Unbequemlichkeiten auferlegen sehen, nur um einen Koffer, in dem der bitter entbehrte Gegenstand wohl verwahrt lag, nicht wieder ausschließen zu müssen! Welch ein Meer von Qualen und Seufzern liegt doch in des Menschen Koffern begraben! Wieviel Flüche des gepeinigten Mannestums, wieviel erstickte Wutschreie sind hinter ihren Schlössern, die nie zugehen, oder deren Schlüssel man nie findet, verschlossen. Das Leid der reisenden Menschheit ist nicht zu ergründen, nicht zu erfassen — allerhöchstens an dem Bändel des Hemdes, das nach mühseligem, endlich geglücktem Verschlüsse des Koffers seelenvergnügt zwischen Wand und Deckel herausbaumelt.

. . . Das Gepäck ist Dr-gon des Antitricks, wenngleich auch nicht gerade dieser selbst!" Philipp setzte die Flasche ab, die er eine Zeit lang unter schiefem Winkel nach oben gerichtet hatte. „Der Antitrick? Was ist denn das?" Seine Neugierde wurde nicht sogleich befriedigt, denn Ernst war ebenfalls mit seiner Flasche stark beschäftigt. Dann aber sagte er: „Der Antitrick? Lieber Freund, das ist Metaphysik. Ich weiß nicht, ob Sie für solche transzendenten Spekulationen schon reif sind. Er ist das böse Prinzip. Vielleicht können Sie sich jetzt dar­ unter schon etwas mehr vorstellen. Gleichnisse erläutern das am besten. Das Gepäck ist nur ein Symbol. Die alten Römer, die überhaupt praktische Leute waren, wußten das wohl. Sie nannten es impedimenta, das ist verdeutscht, die Hindernisse. Der Antitrick ist Gepäck und Ballast, das ist alles, was uns das Leben verdirbt. Der unerträglichste Ballast aber ist unsere Schulweisheit. Sehen Sie mich nicht so erstaunt an; es ist so! Kaum vermag so ein armes Menschenkind seine Sinne zu gebrauchen, so verschwört sich alles, das zarte Hirn mit Ballast zu beladen, es mit Wissen vollzu­ pfropfen, daß es sich sein Lebtag nicht mehr frei zu regen, frei zu fühlen weiß. Denn der Mensch ist nicht nur zur Freiheit ge­ boren, sagen die falschen Propheten; er muß durch Bleigewichte herniedergezwungen, festgebunden werden. — .---------

Aber lassen wir das jetzt. Vielleicht, wenn wir einmal auf den Höhen des Atlas find-------- . Nur wer der Erdenschwere entrückt und dem Himmel nahe ist "

Dann versank er in Schweigen. Philipp fiel der seltsame Anblick ein, da sein Freund, von den roten Sonnenschirmstrahlen umgossen, ein begeisterter Seher, auf dem Bahnhöfe von Utrera stand.

„Wer ist denn eigentlich der geistliche Herr, mit ^bem Sie sich vorhin so angelegentlich unterhielten?" „Seine Hochwürden, der Kanonikus der Kathedrale von Sevilla, männlichen Geschlechtes." „Was?"

„Nie dumm fragen, sondern nachdenken! Er erzählte mir übri­ gens gerade die neueste Skandalgeschichte aus dem Kloster der Arrepentidas, der Sammelstelle der schönsten Büßerinnen aus An­ dalusien. Da ich mit seinem Kardinal eng befreundet bin, glaubte er, mich ein wenig unterhalten zu müssen." „Und ich dachte,' aus dem Leuchten Ihrer Augen schließen zu müssen, er verkündete Ihnen — oder auch Sie ihm — neue Heils­ lehren " „Vielleicht auch das! Es war vielleicht wirklich eine Heils­ lehre." „Nun?" „Das Fleisch ist schwach," sagte der kleine Herr mit der Miene eines echten alten Sünders. „Ist das etwa keine Heilswahrheit? Wohlan denn; mein männlicher Kanonikus sprach von der Schwach­ heit des Fleisches, besonders des seinigen " „Und Sie schienen erleuchte!, als hätte Sie ein Strahl des Göttlichen von oben getroffen!" „Das ist immer so, wenn das Leben in seiner schönen Nackt­ heit an mich herantritt!" Von der Hitze geplagt, zog Ernst den Rock aus, und Philipp folgte seinem Beispiel. Dazwischen sprachen die beiden in bezug auf die Flaschen immer noch feindlichen Brüder eifrig dem Jerez zu. Mit einem Male stieß der erhabene Mann einen Seufzer der Be­ friedigung aus: „Ich fühle mich erleichtert, ich fühle mich leicht! Ich lasse die Welt schon unter mir. Hinan, hinan! Sehen Sie, das macht der Wein. Er überwältigt die Schwere. Die müssen wir alle über­ wältigen, um frei zu werden! Freiheit, darauf kommt es an. Was aber Freiheit ist, das brauchen Sie nicht erst mühsam im Kant nachzulesen, denn «Sie verstehen es doch nicht. Zudem habe ich es für Sie getan, wenn es mir auch einige Mühe gekostet hat. Aber trinken Sie aus. Das ist besser, als läsen Sie das dickleibigste Kompendium über die Freiheit! Der Schwere aber müssen wir mit allen Mitteln zu entgehen suchen. Sie ist antitrickisch, denn sie kommt vom Ballast her, wie ich Ihnen schon vorhin auseinander­ setzte; vom Ballast des Wissens, aber mehr noch von dem schrecklich­ sten aller Ballaste, dem Gemüte!"

er Zug hielt mit einem plötzlichen Rucke an. „Las Cabezas!" rief jemand mit schnarrender Stimme den Namen der Station aus. Ernst lehnte sich zum Fenster hinaus. „Holla, Don Policarpo!" „Holla, Don Ernesto!"

S

Ein andalusischer Bauer mit kurzer Jacke und breitrandigem sogenannten Eordoveser Hute, erklomm das Abteil. Sein leicht graumeliertes Haar verriet den Fünfziger, während das glatte, sonnenverbrannte Gesicht einem viel jüngeren Lebensalter zu ent­ sprechen schien. Policarpo und Ernst tätschelten sich freundschaftlich auf die breiten Rücken. Sie waren trotz aller Unterschiede der sozialen Stellung seit Jahren befreundet, indem der Jerez das gemeinsame Bindeglied bildete. Sie hatten sich seit längerer Zeit nicht gesehen. Da gab es denn viel zu erzählen, von der Wein- und Olivenernte, von dem Wetter während des ganzen Jahres und besonders dieses glühenden Julimorgens. Darüber wurden denn auch bald, dank der tatkräftigen Mitwirkung des Andalusiers, die beiden Flaschen ge­ leert, und unsere Freunde konnten die aus diesem Grunde ge­ schwungene Streitaxt begraben. Da aber öffnete Don Policarpo seine Tasche und zog zwei Flaschen heraus.

„Selbstverständlich müssen Sie jetzt auch meine Wegzehrung mit mir teilen. Ihr Jerez war nicht schlecht, aber mein Manzanilla — nun, vielleicht wird er Ihnen zusagen. Vielleicht ist es auch ein wenig Affenliebe von meiner Seite. Er ist ja, wie Sie wissen, auf meinem Weinberg gewachsen!"

Er füllte das Glas, ein kleines Röhrchen, das gerade zwri Schluck enthielt. Auf Philipps Frage erklärte der Bauer, daß das Maß genau bestimmt sei, um in einem Zuge g»trunken zu werden. „Alle fünf Minuten eines dieser Röhrchen, und, Sir leben lange auf Erden!" sagte er. Man probierte und schlürfte und probierte wieder und schlürfte noch einmal, und das Röhrchen kreiste in der Runde.

„Ihre Manzanilla scheint gottlob weniger Alkohol 511 haben, als der Wein, den wir vorhin tranken," bemerkte Philipp, der in allen Dingen haushälterisch oorzugehen liebte. Policarpo er­ widerte:

„Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß nicht recht, was Alkohol ist. Wenn es etwas Schlimmes ist, dann, ich gebe Ihnen mein Ehren­ wort darauf, dann ist kein Tropfen davon in meinem Weine; ist es aber etwas Gutes, und ich habe nach allem, was ich darüber ge­ hört habe, keinen Zweifel daran, daß es etwas sehr Gutes ist. dann ist mein Weinchen der reinste Alkohol. Ganz reiner Alkohol, das will ich meinen!"

Er leerte wieder sein Röhrchen und fuhr fort: „Mit diesem Weine ist es fast unmöglich, zu sterben. Mein Vater wurde neunzig Jahre auf dem Weinberge, mein Großvuter — wie alt der wurde, vermag ich nicht zu sagen, aber auf jeden Fall wurde er uralt. Und wie gesund sind wir alle, meine Frau, meine Kinder und gottlob auch ich! Aber wir leben auch danach! Gleich am Morgen zu unserem Weißbrot ein Schöppchen; dann, wenn die Hitze am größ­ ten und der Durst brennend wird, wieder eins. Aber dann warten wir, bis es kühler und man der Stärkung bedürftig wird." „Und dazwischen ein paar kräftige Mahlzeiten," unterbrach ihn Philipp lachend.

„Wie man es nehmen will," erwiderte Policarpo bedächtig. „Wir leben nur von dem, was unser kleines Gut heroorbringt. Oel und Weizen außer dem Wein, das ist alles. Aber was für ein herrliches Brot gibt das! Unsere Oliven, davon brauche ich über­ haupt nichts zu sagen, die kennt ja ein jeder hier in der Umgegend. Es sind nur etwas über tausend Bäume, aber uralt und reich! Selbstverständlich mahlen wir uns den Weizen und die Oliven selbst: so wissen wir, was wir haben!" „Aber von Brot, Oel und Wein allein kann man doch nicht leben, dächte ich." „Gewiß, wir haben auch Zwiebeln und zuweilen, im ersten Frühling, einen Salat. Und wenn wir einmal Gäste haben oder eine Kindtaufe, dann gibt es auch ein Hähnchen, ein oder zweimal im Jahre. Und zu Ostern ein Lamm, weil es die Sitte so will.

Aber das ist alles; im Grunde sind diese Dinge auch gar nicht nötig. Was uns die Lebenskraft erhält, das ist der Wein!"

„Geben Sie ihm nicht vielleicht zuviel Wichtigkeit? Die Aerzte würden vermutlich das größere Verdienst dem frugalen Leben zu­ schreiben."

„Die Aerzte? Ach, bleiben Sie mir mit den Aerzten vom Leibe! hier sehen Sie," und damit wies er auf die Flasche, „das ist der Arzt, der einzige, an den ich glaube! Wenn ich erzählen wollte — ich könnte Wunder von ihm berichten! Mehr Wunder noch, wenn nicht alle, die den Wein im richtigen Maße trinken, so urgesund blieben! Auf das Maß kommt es natürlich an; zwei Liter im Tag, nicht mehr, noch weniger. Im Dorfe hatten wir eine Frau, die litt entsetzlich an Steinen. Mein Gott, was hat die Aermste nicht alles ausgestanden! Sie lag schon im Sterben; da sandte ich ihr einen Krug von meinem Weinchen; gleich wurde sie besser; und ich ließ ein ganzes Faß nachfolgen, damit die Kur auch anhalten möge; nie wieder haben sie die Steine gedrückt!" „Erstaunlich, ganz erstaunlich," rief Philipp belustigt. „Das ist aber noch gar nichts! Da weiß ich noch ganz andere Fälle. Einer meiner Oheime hat im Carlistenkriege ein Bein ver­ loren -------- " „Das ihm nach Ihrer Weinkur wieder gewachsen ist?" „Was lachen Sie?" rief der ehrenwerte Policarpo vorwurfsvoll. „Das wäre weiter gar nichts Erstaunliches gewesen. Der Invalide siechte hin, bis ich ihn zu mir ins Haus nahm, wo ich natürlich mit dem Wein nicht karg war; da wurde es gleich besser. Und in den alten Stumpf kam neues Leben; der brave Veteran sagte uns täg­ lich, er fühle, wie es sich dehne, wie der Knochen im Wachsen sei; des Nachts träume er schon vom neuen Fuße. Allerdings kam es nicht ganz so weit; der Aermste hat Unglück gehabt; wegen eines Frauenzimmers bekam er Streit, und ein Strolch hat dem un­ behilflichen Krüppel das Messer ins herz gestochen!" Ernst bemerkte im trockensten Tone: „Wie schade! sonst ein wirkliches Wunder sehen können!"

Wir hätten

Policarpo war ober gerade im vollen Zuge, seiner glühenden andalusischen Phantasie freien Himmelsflug zu lassen.

„Da war in unserem Dorfe ein kinderloses Ehepaar. Er fcfjon ein bischen bei Jahren; sie ein Bild blühenden Lebens. Ein wahrer Jammer, daß das Haus leer bleiben sollte. Was man nicht alles anstellte — aber selbst das Beten nützte nichts. Bis der Pfarrer, nebenher bemerkt die feinste Weinzunge im Dorfe, sagte, man müßte einmal ein Opfer bringen, eine wirklich fromme Spende, die Gott wohlgefiele. In schwierigen Fällen befragt man mich. Ich nahm na­ türlich heimlich mit dem Padre Rücksprache, und wir dachten, was kann denn Gott wohlgefäl­ liger sein, als ein Fäßlein von dem lieblichen Weine, den er in seiner Gnade auf meinem klei­ nen Weinberge wachsen läßt. Ich sandte ein Fässelein in die Kirche; dorthin ging auch die gute Frau fleißig zum Beten — und siehe da, einige Zeit später kam das Kindlein zur Welt..." Die beiden Freunde bissen sich auf die Lippen, Und selbst der kühne Aufschneider hatte Mühe, sein Vergnügen zu verbergen. „Höchst wunderbar," brachte endlich Philipp mühsam hervor. „Hören Sie, Policarpo," sagte Ernst, „senden Sie mir doch einmal ein Faß von Ihrem Besten zu. Es scheint wirklich ein wunderbares Getränk zu sein." „Wird besorgt, Don Ernesto!" „Um die Rechnung sofort zu- begleichen — wieviel macht es?" „Ich habe keinen Preis. Zahlen Sie, was Sie wollen!" „Machen Sie keine Umschweife. Ich bin etwas vergeßlich und erledige solche Sachen am liebsten sofort. Also wieviel?"

SrinTmann, Wallfahrt

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Er suchte seine Brieftasche, als er bemerkte, daß sie in dem im Gepäcknetz liegenden Rocke steckte. „Donnerwetter, das ist aber leichtsinnig! Lieber Freund, helfen Sie aufpassen, daß ich sie nicht verliere. Es sind doch zu wichtige Papiere drin." Als er glücklich seine Brieftasche wieder an sich genommen hatte, bestand er daraus, den Handel sofort zum Abschluß zu bringen. Policarpo blieb aber fest. „Nein, mein hochgeschätzter Freund, diese Rebe hat keinen Preis. Die ist eine Gabe Gottes und daher nur ein Geschenk für meine Freunde. Sie ist ein Wunder, und mit dem Wunder soll man nicht wuchern. Ich verkaufe nichts, wie ich überhaupt keinen Handel treibe und von Geschäften nichts verstehe. Selbstverständ­ lich, ohne Geld kann man heute nicht leben; man braucht es, und wäre es auch nur, um Steuern zu bezahlen. So nehme ich auch ein Geschenk von dem an, dem ich meinen Wein schenke; eine Gabe, die mich nicht für eine Leistung bezahlt, sondern mit der man mir eine bereitete Freude dankt. Wert und Preis sind auf

meine Reben nicht anwendbar; da muß jeder selbst wissen, was sie ihm wert sind; natürlich gebe ich meinen Wein nur dem zu trinken, der ihn zu würdigen weiß. Wer ihn nicht würdigt — nun, für den ist das nächste Mal mein Keller leer! Doch da fahren wir schon in Jerez de la Frontera ein; auch meine Flaschen sind leer, das Maß war gerade richtig berechnet!" „Dann auf Wiedersehen!" rief Ernst. „Und glauben Sie mir, ich werde Ihr preisloses Gewächs zu würdigen wissen!"

Qf uf dem Bahnhöfe war wiederum eine große Menschenmenge aX versammelt. Diesmal war es nicht die typische andalusische bäurische Bevölkerung, sondern es hatten sich die Städter, be­ sonders zahlreiche Damen in ihrem etwas kleinstädtisch auffallen­ den Staate eingefunden. Als Don Policarpo sich endgültig verabschiedet hatte, meintePhilipp: „Der ist ein ganz schlitzohriger. Der versteht auf Preise zu halten. Anstandshalber bezahlt ihm ein jeder den dreifachen Wert!"

„Fehlgeschossen! Der Mann ist ein Lebenskünstler, wie es keinen zweiten gibt. Ich kenne ihn feit zwanzig Jahren. Ohne Falsch, wenn er natürlich auch grauenhaft lügt, weil dieses Volt seine Phantasie nicht zu bändigen weiß. Da ist etwas Patriarcha­ lisches an ihm, wie es sich nur im Leben auf dem Lande, in enger Verbindung mit der Natur, erhalten har. Es ist mir ganz eigen ums Herz! So wenige Kilometer von Sevilla fort, und ich fühle schon, daß ein anderer Geist mich weht. Gewiß, Don Policarpo und wir auch, wir reden viel Unsinn, aber es unterhält mich, und ich wollte, es bliebe

erst um alle so!"

Philipp nickte beifällig. „Jawohl, es wäre schön, es bliebe alles so!" sagte er. Er dachte aber weniger an die erkünstelte Lustigkeit des Freundes, als wie an die etwas ruhigere Selbst­ besinnung, die aus seinen letzten Worten sprach. Ernst jedoch wechselte schon wieder den Tonfall: „Sehen Sie sich einmal diese wunderschönen Frauenzimmer an!" Er lehnte sich in seiner ganzen hemdärmligen Größe an die Türkante des Abteils und blickte prüfenden Auges über das verlammelte Volk. „Eine seltsame Rasse! Die Väter Engländer, die Mütter Spa­ nierinnen. Der ganze. Jerezhandel liegt in Händen der englischen Kellereien. Ich halte nichts von den Männern; sie sind in ihren Geschäften verknöchert; sie leben hier seit fünfzig Jahren und haben in ihrer britischen Starrheit noch nicht so viel Spanisch gelernt, um Buenos Dias zu sagen! Aber die Töchter — wunder­ bar, wunderbar! Schauen Sie nur! Ich habe übrigens einen glänzenden Einfall! Wir verschieben die Abfahrt von Cadiz auf morgen; jetzt steigen wir hier aus und besuchen einen Freund, einen prächtigen alten Herrn, Engländer allerdings; aber er besitzt einen Keller mit Fässern drin, groß wie Häuser und über hundert Jahre alt! Das müssen Sie einmal kennen lernen! Und wie kühl ist es in solch einem Keller! Bei dieser skandalösen Hitze ist es doch das einzig Vernünftige, sich dahinein zu retten.

Und dann besitzt der Mann noch einen Garten, dessen tropische Pracht in ganz Europa nicht ihres Gleichen hat. Und beim

Abendbrot pflegt sich die ganze Familie zu versammeln; sie ist weit verzweigt und weist alle Schattierungen spanisch - englischer Blutmischung auf. Da werden Sie Musterbilder einer weiblichen Rasse sehen, die ganz das Gegenstück zu ihren männlichen Ver­ wandten ist, und das sagt alles!" Philipp standen die Haare zu Berge.

„Nein! Und wenn dieser Platz das Paradies in seiner Voll­ kommenheit selbst wäre, steige ich hier nicht aus. Ich bin näm­ lich gerade auf einer Reise nach Nordafrika begriffen und wünsche, baldigst an mein Ziel zu gelangen!" „Wir werden immer noch frisch genug dorthin kommen."

„Ihrem Keller können wir auch bei unserer Rückkehr einen Besuch abstatten." „Mein Gott, sind Sie eigensinnig! Aber meinetwegen; der Klügere gibt nach. Unsern erfreulichen Durst können wir uns ja auch für das Mittagbrot aufheben!" Die schönen Damen wanderten den Bahnsteig auf und ab. Ernst schaute ihnen mit dem langen Blicke des erfahrenen Aestheten nach, aber grausam setzte sich der Zug endlich wieder in Be­

wegung. Die Hitze wurde immer drückender. Die Landschaft änderte hier allmählich ihren Charakter. Aus den Weinfeldern und Oli­ venhainen kam man in die dürre Steppe hinaus, die die Nähe des Meeres anzeigte. Schafherden standen unbeweglich in der glühen­ den Mittagssonne auf der endlosen Fläche, und am fernen Hori­ zonte tauchten weiße Pyramiden auf, die hochaufgestapelten Berge Salz, das in kunstvollen Gärten dem Meere abgewonnen wird. Ernst hatte nun auch die Weste ausgezogen und war einer jener weißglühenden Pyramiden nicht unähnlich. Unterdessen kam man der Mündung des Guadalate nahe. Einige, Mühlen, wuchtige Steinkonstruktionen, bauten tief in den

Fluß hinein. „Da sehen Sie, was die alten Araber für Kerle waren", sagte Ernst. „Ich habe Ihnen schon gestern in Itälica bewiesen — aber Sie wollten es ja nicht glauben —, daß unsere Kultur nicht

vorwärts-, sondern zurückgeht. Ich bin gespannt, was wir in Afrika noch erleben werden. Wie eifrig zerbrechen wir uns doch heute die harten Köpfe über Ebbe- und Flutwerke! Und hier sehen Sie solche dutzendweise schon vor tausend Jahren erbaut. Natürlich haben die wackern Kastilianer, das erobernde Volk, alles zerstört und verfallen lassen. Das nenen wir aber den Siegeszug der abendländischen Kultur. Es macht daher heute einige Mühe, sich im Geiste jene maschinellen Einrichtungen zurückzukonstruieren. Aber man sieht noch genug, um zu erkennen, daß hier mit einfachen Mitteln Großes geleistet worden ist. Die Wasserturbinen sind, tausend Jahre vor Francis, nach seinem System gebaut, natürlich aus Holz; es geht aber auch so und hat vielleicht sogar wegen des ständig wechselnden Fluß- und Meer­ wassers. seine Vor­ züge. Allerdings: eine Francisturbine mit schraubenförmig angeordneten Flü­ geln . . Ernst sprach noch manches mehr über die technischen Fer­ tigleiten der Ara­ ber. Dann schlum­ merte er aber all­ mählich ein. Nur einmal erwachte er, blinzelte in die son­ nenglutübergossene Landschaft hinaus, lächelte und sagte seufzend: „Ach, welche Ruhe, end­ lich!" Daraufhin aber schlief er fest, bis der Zug in den Bahnhof von Cädiz

einfuhr.

s dauerte einige Zeit, bis unsere beiden Freunde in einer Uz Droschke saßen. Philipp wünschte gleich zum Schiff zu fahren, um das Gepäck abzugeben, aber Ernst bestand darauf, zunächst das Hotel Paris aufzusuchen.

„Nur nicht nervös wie ein Bantdirektor werden, lieber Freund!" sagte er wohlwollend. „Gerade dort treffen wir einen guten Bekannten, Herrn Herbst, der zufällig unser Schiffsagent ist und alle mit unserer Ueberfahrt verknüpften Probleme zum besten regeln wird."

Man kam an. Herr Herbst erwartete die Reisenden am fest­ lich geschmückten Tische in der kühlen Halle des Restaurants.

Philipp, der die Klarheit der Reisedispositionen seines Freun­ des stets beargwöhnte, erkundigte sich gleich, wann ein Schiff nach Tanger, Larache oder Casablanca, ganz gleich wohin, abginge. Herr Herbst erklärte indessen einigermaßen verwundert, daß der fahrplanmäßige Dampfer gerade gestern, Donnerstag, abgefahren sei und vor einer Woche kein anderes Bovt nach einem der er­ wähnten Häfen führe. Das war Philipp aber doch zu stark. Grimmig fuhr er seinen Freund an: „Ich sehe schon, wenn man Ihren Dispositionen folgt, kommt man überhaupt nicht weiter! Ich bin aber ent­ schlossen, da Sie mich nun einmal bis hierher geschleppt haben, auch wirklich nach Marokko zu fahren. Ich nehme noch heute ein Automobil nach Algeciras. Vielleicht treffen wir uns, wenn es Ihnen recht ist und Ihre lichtvollen Reisevorbereitungen es Ihnen ermöglichen, in einer Woche wieder!" „Es ist schrecklich, mit einem so pedantischen Menschen wie Sie zu tun zu haben! Als wäre es in Cadiz nicht auch ganz nett. Die Stadt ist berühmt für ihre Schönheiten generis feminini. Und ein Seebad in Chipiona oder La Rota ist bei dieser Hitze ebenfalls recht angebracht. Aber wenn Ihnen das alles nicht zusagt, fahren wir nach Algeciras; wir kommen dann in Tanger genau so früh an, als wären wir heute von Cadiz abgesegelt. Nur keine Konfu­ sionen machen! Wenn der eine dahin, der andere dorthin geht, dann kommt aus unserer Reise wirklich nichts Vernünftiges heraus!"

Der Friede wurde wieder hergestellt. Herr Herbst, ebenfalls ein alter Junggeselle, dessen Wohlbehagen nur durch seine Einsam­ keit gestört wurde, war froh, in der vom Strome der Weln recht abgelegenen Hafenstadt einmal Landsleute als Gäste zu haben, die ihm Bescheid tun konnten. Es war ihm daher nicht unangenehm zu hören, daß Ernst an einem namenlosen Durste litt. „Bei einer vierstündigen Bahnfahrt durch die andalusische Julisonne ist das auch kein Wunder", meinte der ahnungslose Gastgeber.

Philipp kannte Cadiz noch nicht; Herr Herbst aber, der vier­ zig Jahre bereits in der Stadt zugebracht hatte, wußte viel von ihrer ruhmreichen Geschichte und ihrem gegenwärtigen Zustande zu erzählen, von den Wechselfällen des Glücks seit der Zeit, da sie das Monopol des Ueberfeehandels nach dem neuentdeckten Indien der Spanier besessen, bis zu dem heutigen Tage, da sie eine tote Stadt ist.

„Aber die schönen Gaditanerinnen sind doch wohl noch am Leben?" fragte Ernst besorgt. „Gewiß, Sie können sich selbst davon überzeugen."

„Wenn es nicht eine Fabel ist," meinte der stets skeptische Philipp. „Wie oft hat man mir schon die angebliche Schönheit der Frauen eines Ortes oder Landes gerühmt; und doch glaube ich, im Durchschnitt genommen ist es überall gleich; überall gibt es schöne, mittelmäßige und häßliche Frauen in der gleichen Pro­ portion!"

„Ganz richtig; auch hier ist das so. Aber wir kümmern uns doch nicht in diesem Zusamenhange um die Gesamtheit der Frauen, sondern ausschließlich um den Teil der weiblichen Bevölkerung, mit dem es auch für den Fremden und Ausländer möglich ist, in Berührung zu kommen. Die weibliche Schönheit ist, ebenfalls im Sinne unseres Gedankenganges — wohlverstanden, ein Kultur­ produkt; wir, die wir keine reinen Aestheten sind, wie vielleicht unser Freund Ernst, verlangen, um ein Weib hübsch zu finden, an ihm eine gewisse Eleganz, Manieren, allgemeine Bildung, Feinheit der körperlichen Bildung."

„Sie wollen also sagen", fiel Ernst hier ein, der über so un­ heiliges Geschwätz tief erbittert war, „daß die Schönheit der Frauen im Portemonnaie oder, modischer gesagt, im Handtäschchen steckt?" „Nein, in der Kultur, die das Wohlleben durch Generationen hindurch erzeugt. Und das einst so mächtige, so blühende Eädiz hat diese Kultur geschaffen. An anderen Orten bleiben nun solche schönen Blüten eng behütet und dem Fremdling unzugänglich; hier aber öffnet die bittere Not, die der Verfall der Stadt und ihres Reichtums mit sich brachte, leichter die Tore. Die Weiber sind schon schwach im besten Glücke, Doch Not verführt selbst der Vestalin Tugend, fingt bereits Shakespeare. Infolgedessen ist eben Cadiz d i e Stadt der schönen Spanierinnen!" Ernst schien mit dieser Deduktion nicht gerade zufrieden zu sein. Aber der köstliche Fisch, den er reichlich zu sich genommen hatte, wollte schwimmen; und so sprach der durstige Wanderer dem Weine eifrig zu, ohne seine Zeit mit Einwendungen zu verlieren. Seine Miene schien aber zum Ausdruck zu bringen, daß er ganz anderer Meinung sei. Nach Tisch machte man trotz der Hitze eine kleine Wagen­ fahrt durch die Stadt, fuhr dann mit der elektrischen Bahn nach San Fernando, verabschiedete sich nach einem kräftigen, rumge­ würzten Kaffee von dem gastfreien Herrn Herbst und zwängte sich gegen fünf Uhr nachmittags in den gewaltigen Motoromnibus, der die Verbindung zwischen San Fernando und Algeciras herstellt.

*7\ ie Landstraße führt in einiger Entfernung vom Meere bis 4*/ in die Nähe des Kaps Trafalgar durch eine weite Ebene. Die Landschaft war von dem glühenden Sonnenbrände ausgedörrt und in den dichten Staublawinen, die den rasselnden Omnibus wie Wolken umhüllten, unsichtbar; ein echt afrikanischer, von Saha­ rasand beschwerter Wüstenwind schien den ganzen Süden Spaniens zu überziehen. Der Wagen selbst war mit zwölf Personen vollgepfropft, die unter der Hitze auf das entsetzlichste litten. Die Fenster mußten daher geöffnet bleiben, wodurch sich alle Sinnesorgane der Reisen­ den bis zur Gebrauchsunfähigkeit mit Staub füllten.

Besonders Philipp befand sich keineswegs in beneidenswerter Lage. Die Bank, auf der er faß, war für drei Menschen be­ stimmt, aber was für Menschen! Allenfalls für Leute, deren ganzes Dasein Krankheit und Entbehrung gewesen ist. Auf der einen Seite'saß Ernst, auf der anderen eine Spanierin, an äußerem Ge­ halt dem Freunde nicht unebenbürtig, so daß Philipp sich den Argonauten gleich durch die zwei im Schwanken des Wagens auf einander zueilenden Felsen von ständiger Zermalmung bedroht sah, abgesehen davon, daß die Kolosse wie die glühenden Wände eines Backofens wirkten. Ihm gegenüber faß ein Matrose; an dem Bande seiner Mütze war seine Zugehörigkeit zur tapferen Be­ satzung des spanischen Panzerschiffes Pelayo angedeutet, das in Algeciras feit mehreren Jahrzehnten verankert liegt, weil es, wie die böse Fama behauptet, infolge Altersschwäche keinen an­ deren Hafen mehr erreichen kann. Dieser brave Seemann rauchte einen Tabak, mit dem verglichen das Kraut unseres Helden, das auch nicht von schlechten Eltern war, einen Duft von Weihrauch und Myrrhen erzeugte. Außerdem spuckte der Matrose nach allen Richtungen, wo er zwischen den sechs Paar Beinen seiner nächsten Umgebung ein leeres Plätzchen am Boden zu finden meinte; meistens irrte er sich aber oder hatte den Schuß falsch berechnet; augenscheinlich versah er keine artilleristischen Dienste an Bord des Pelayo. Rechts neben dem qualmenden Seebären saß ein hageres Männchen mit kohlschwarzem Haare und Barte, die ein olivengrünes Antlitz umrahmten. Er schoß während des ersten Teiles der Fahrt fortwährend giftige Blicke auf den armen Phi­ lipp, der sich nicht bewußt war, dem galligen Manne jemals das geringste Leid angetan zu haben; schließlich stellte sich aber heraus, daß er der liebende Gatte jener fetten Dame war und mit stetig steigender Angst die Schenkeldrücke der beiden von Ernst zusam­ mengepreßten Nachbarn beobachtete. Unserm Helden gegenüber saß ein Dorfpfarrer, ebenfalls von stattlicher Leibesfülle; die da­ durch entstandenen Raumschwierigkeiten wurden indessen noch durch drei Handtaschen vermehrt, von denen er zwei links und rechts von sich zwischen Wagenwand und Nachbarn eingeklemmt hatte, wäh­ rend die dritte unter seinen gefalteten fleischigen Händen auf dem

Schoße ruhte.

Die andere Hälfte des Omnibus war in ähnlicher Weise mit sechs ausgewachsenen Personen gefüllt; aber wegen des Tabak­ qualms und des Staubes war nicht zu erkennen, wie es äußerlich und innerlich mit diesen Menschen aussah. Auf jeden Fall malte sich die bitterste Not auf dem Antlitze sämtlicher erkennbaren Passagiere. Nur Ernst schien dank seiner olympischen Heiterkeit, die ihn wieder erfüllte, seitdem er Sevilla den Rücken gekehrt hatte, über. alle irdische Qual erhaben. Er stützte, nachdem er sich des lästigen Obergewandes entledigt hatte, das Haupt auf den hemdärmelbekleideten Ellenbogen und ließ es durch das Fenster weit in die Landschaft hinausragen, indem er Teufel mit Beelzebub, die Staubwolken mit Tabaksqualm austrieb. Sein Antlitz strahlte in einem rosigen Entzücken, als sei das Ganze nur eine Vergnügungsfahrt. Philipp stöhnte auf: „O Gott, wodurch habe ich das eigentlich verdient?" „Durch Ihren Eigensinn, lieber Freund! Sie wollten doch durchaus heute noch in Algeciras sein. Natürlich, eine solche Fahrt ist viel angenehmer, als in Cadiz in einem schönen, schat­ tigen Patio unter Zitronen- und Palmenbäumen zu sitzen, bei einem kühlen Trünke, ein oder zwei junge Damen als schönes Gegenüber, und die frische, mit Blumenduft gefüllte Seebrise einzuatmen. — Das hat indessen für Sie gar keinen Reiz. Ueber die Geschmäcker soll man aber nicht streiten. Und ich füge mich." „Natürlich habe i ch die Schuld daran!" rief Philipp erbittert. „Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir schon gestern recht­ zeitig in See gegangen!" „Auch keine schlechte Idee. Nun ist es aber zu spät! Im übrigen finde ich diese Fahrt ganz nett. Es fehlt nur eine Flasche Wein — daß Sie das auch in Cadiz vergessen konnten! Aber da waren Sie derartig mit den uns von Freund Herbst so freigebig vorgesetzten Getränken beschäftigt, als gäbe es in ganz Spanien keine staubigen Chausseen mehr!" Philipp erwiderte eine Zeit lang nichts. Dann sagte er: „Sie sind doch ein großer Kenner! Würden Sie nicht einmal den Knaster meines seemännischen Gegenübers probieren? Er muß geradezu sensationelle Gefühle erwecken."

_________________________________________ 27 „Vielleicht später einmal. Vorläufig habe ich nach solchen Ge­ fühlen kein Verlangen." „Wollen wir nicht wenigstens den Sitz tauschen? Ich brauche frische Luft!" „Nein, mein Bester! Wie man sich bettet, so schläft, man. Uebrigens dürfen Sie nicht glauben, daß ich ganz ohne frische Luft weiterleben kann. Und wenn einer von uns beiden ersticken muß....." „Die beiden Engländer, die vorne neben dem Chauffeur sitzen, haben ihre Reise besser als wir vorbereitet. Die haben sich recht­ zeitig die besten Plätze reserviert. Wir hätten ihnen zuvorkommen können, wenn wir unsere Angelegenheiten überlegten und nicht immer nach Ihrer Methode auf gut Glück in die Welt hinein­ führen." „Glauben Sie nur das nicht! Die Engländer haben immer und überall die besten Plätze inne. Das ist Naturgesetz. Der große Glaubenssatz dieser Nation ist, einfach nicht existieren zu können, wenn man ihnen nicht die besten Plätze überläßt. Sehen Sie sich einmal die Weltkarte von Gibraltar bis Singapore an! Die Leute stellen sich borniert und verstehen die Sprache und Wünsche des Restes der Menschheit solange- nicht, bis -sie den. besten Platz okkupiert haben. Und wenn sie wieder heruntergehen sollen, begreifen sie einfach nicht, was man von ihnen will, und halten dem andern entrüstet die Bibel vor die Nase. Diese Mißverständ­ nisse können Jahrhunderte lang dauern; aber sie werden nicht auf­ geklärt; die Engländer bleiben sitzen, wo sie sind!" Unterdessen hatte der arme Philipp wieder von seinem'galligen Gegenüber einen so namenlos giftigen Blick aushalten müssen, daß er glaubte, ein Dumdumgeschoß zerrisse seine Eingeweide. Allerdings war der Fall schlimm genug; ein metertiefes Loch im Straßengraben ließ den Omnibus nach rechts fast hinüber­ fallen; Philipp hatte in rascher Reflexbewegung sich an Ernst anzuklammern gesucht; der aber verlor das Gleichgewicht und wälzte sich auf den selbst hilfsbedürftigen Freund zu. Die doppelte Masse aber zerquetschte fast die fette Dame an der Wand, ähnlich der Maus, die von dem tückischen Ziegelsteine erschlagen wird; ein leiser Angstschrei entfloh ihren vollroten Lippen, und

die abwehrende Hand preßte sie gegen Philipps Brust, bis das Gleichgewicht des Wagens wieder hergestellt war. Ernst hatte sich damit begnügt auszurufen: „Der verfluchte Kazike!" — Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Daß so ein Kazike essen muß, ist leider sicher; daß er aber gleich die ganze Landstraße auffrißt, das geht doch etwas zu weit!"

Und da der Freund ihn erstaunt ansah, erklärte er: „Der Häuptling dieses Distriktes, der in so unverschämter Weise die für die Instandhaltung der Straße bestimmten Gelder unter­ schlägt, muß ein Genie in seinem Fache sein; ein edler Räuber aus der romantischen Epoche Andalusiens. Ich möchte ihm wohl meine Aufwartung machen." Philipp wischte sich nach den Leiden der Quetschung und des vorerwähnten giftigen Blickes den Angstschweiß von der Stirn. Dann sagte er: „Hier hilft nur eins von beiden: entweder wir steigen aus oder aber veranlassen die andern dazu."

„Auf keinen Fall räumen wir das Feld! Wo bleibt Ihr Ziel­ bewußtsein, Ihre Konsequenz? Ich finde diese Fahrt außerordent­ lich schön. Aber unsere Mitreisenden hinauszubefördern, dazu will ich gern helfen, wenn Sie Rat wissen!" „Fangen wir mit dem Pfaffen an. Erzählen Sie mir auf spanisch Schwänke aus Ihrem Leben; das wird ihn vielleicht zum Weichen bringen."

„Glauben Sie nur das nicht; ganz im Gegenteil, er wird an­ dächtig zuhören, wenn er es nicht noch ärger macht. Nein, das einzige Mittel, das ich sehe, ist, die ganze Gesellschaft auszuräuchern, diesen Klapperkasten mit erstickenden Dämpfen zu füllen!" Mit der dem energischen Manne eigenen Tatkraft machte er sich gleich ans Werk, indem er zunächst das Fenster an seiner Seite in die Höhe zog. Auf seinen Wink aprostophierte Philipp die fette Dame: „Sennora, der Staub der Landstraße muß Sie schrecklich belästigen; Ihr schönes Haar ist schon ganz grau ge­ worden; ich nehme an, es ist Ihnen nur lieb, wenn ich das Fenster schließe." Er wartete natürlich nicht die Antwort ab und wich geflissent­ lich den giftigen Blicken des galligen Gegenübers aus; ein

kühner Handgriff am wogenden Busen' der schönen Spanierin vor­ bei, und die Fensterscheibe flog rasselnd in ihren Rahmen. Unter­ dessen hatte Ernst auch die Mitreisenden im vorderen Teil des Wagens veranlaßt, ein Fenster zu schließen; das andere blieb aber offen, da ein breitschultriger andalusischer Bauer mit großer Seelenruhe erklärte, daß ihm der Staub lieber sei als die Hitze. „Schwierigkeiten sind dazu da, um überwunden zu werden", sagte Ernst. „Wir werden um- so mehr qualmen müssen. Ich rechne übrigens stark auf die Mitwirkung unseres Seehelden!" Mit liebenswürdigem Lächeln hielt er ihm seinen Tabaksbeutel hin; der dankbare Matrose stopfte seine Pfeife; als vielgereister Weltmann aber bot er von seinem Kraut an, was Ernst mit freund­ lichen Worten annahm, indem er ohne weitere Förmlichkeit auch Philipp von dem fremden Gute zu kosten gab.

Drei mächtige Rauchwolken stiegen in wenigen'Sekunden zur Decke des Omnibus empor. Als aber die Pfeifen ihre unheilvolle Tätigkeit begannen, lud unser hilfsbereiter Freund auch die an­ dern Reisegefährten ein, sich an einem wohlriechenden Zuge zu er­ laben. Er reichte dem geistlichen Herrn eine Zigarre; derselbe nahm dieselbe mit großer Zufriedenheit an— augenscheinlich nicht etwa wegen des Wertes der Gabe; denn welcher Andalusier kennt nicht die berühmten Taganinas, die für fünf Centimos das Stück erhältlich find, allein in Sevilla, da nur der Andalusier soviel Gift für so wenig Geld vertragen kann?; außerdem ziehen diese teuflichen Rollen nicht, Jo daß man für jede einzelne eine Schachtel Streichhölzer verbraucht, wobei das Tabakmonopol zugleich die Geschäfte des Streichholzmonopols besorgt — fohbern weil er sich des Gott wohlgefälligen werktätigen Sinnes, den der freundliche Geber offenbarte, freute. Auch im vorderen Teil des Wagens wurden auf des kleinen Herrn Drängen einige Taganinas in Brand gesetzt; nur der giftig blickende Ehegatte der fetten Dame lehnte mit verbissener Miene jeden Annäherungsversuch ab; augen­ scheinlich bedurfte er der künstlichen Vergiftung gar nicht.

Unterdessen war es dunkler geworden; die Sonne neigte sich dem Untergange zu. Unsere Reisegefährten konnten jedoch von den Naturerscheinungen außerhalb des Wagens nichts bemerken.

eine unendliche Staubwolke hüllte das rasselnde Gefährt ein; aber die war ein Lichtmeer verglichen mit der Finsternis, die der Tabaks­ qualm im Innern des Wagens erzeugte.

Philipp stand bereits der kalte Schweiß auf der Stirne. Ernst lächelte aber. vergnügt. „Man muß sich rechtzeitig abhärten," sagte er. „Da Sie ja im Begriffe stehen, auf der andern Seite der Meerenge die Wohlgerüche Arabiens einzuatmen, ist so eine kleine Vorbereitung durch­ aus nicht zu verachten. Stellen Sie sich vor, Sie seien im Vor­ saale der Hölle, die Sie jenseits des Wassers erwartet!" Die dicke Dame sank halb ohnmächtig Philipp an die Schulter-. Der kleine gallige Mann stieß unaufhörlich unzusammenhängende Worte, bittere Verwünschungen aus; er delirierte augenscheinlich. Der geistliche Herr faltete ergebungsvoll die Hände über seiner Tasche, seufzte und murmelte Stoßgebete. Der tapfere Seeheld vom Pelayo, der frische Seeluft gewohnt war, erfaßte den Hand­ griff des Fensters. Ernst aber hatte die Ellbogen auf die Fensterle.ste gestützt und rührte sich nicht. „Sie werden nun wohl bald kapitulieren", sagte er mit der Seelenruhe des siegreichen Feldherrn, „und uns allein Weiterreisen lassen!" Da begannen die Leute im anderen Teil des Omnibus aus dem geöffneten Fenster zu schreien: „Der Wagen soll halten!" Der Chauffeur aber rief zurück: „Wir sind gleich am Ziele!" Und wirklich, nach einer letzten raschen Fahri auf einer gewagten Kurve einen Hügel herunter hielt er plötzlich vor ein paar Ge­ bäuden. Alle Reisenden verließen mit den letzten schwachen Resten ihrer Kräfte, so schnell es gehen wollte, das Gefährt. „Verwünscht", rief Ernst ärgerlich. „Noch eine Viertelstunde länger, und die Schlacht wäre gewonnen gewesen. Nun, wir wer­ den auch trotzdem nach Algeciras gelangen!"

'Ytyan trat in das Gasthaus ein, dessen Mauerwerk seine AbZU stammung aus arabischen Zeiten, trotzdem seither schon mehr als ein halbes Jahrtausend ins Land gegangen war, nicht ver­ leugnen konnte. Im Hofe, den der Duft einiger blühender Zitronenbäume und anderer Blumensträucher und das Gezwit­ scher von zahlreichen Singvögeln erfüllte, die in kleinen Holz­ käfigen» an den seitlichen Bogengängen gefangen saßen, waren einige Tische für die mit dem Omnibus erwarteten Reisenden ge-

deckt. Ernst ließ sofort die bereitgestellten Teetassen und Teller mit Gebäck von seinem Tische forträumen und bestellte nahrhaftere Kost: Eier, Schinken und zwei Flaschen Jerez, die der Wirt mit etwas überraschter und verdutzter Miene herbeibrachte. Als sich unsere Freunde durch Speisen und Getränke hindurchgearbeitet hatten, erfüllte sie endlich eine etwas friedlichere Laune, und die Erinnerung an die ägyptischen Plagen der Reise waren bald vergessen. Sie setzten sich schließlich mit qualmender Pfeife auf ehfe steinerne Bank vor dem Hause und warteten geduldig die Weiter­ fahrt ab.

Links vor ihnen lag auf dem Gipfel eines ziemlich steil auf­ ragenden Berges ein Dorf, das von hohen Mauern umgeben war, Vie ebenfalls noch aus der Zeit der Araber stammen mochten. Deutlich hoben sich die Zinnen der Umwallung und der Turm der Kirche von dem Horizonte ab, der in dem Untergange der Sonne purpurrot gefärbt war. Etwas weiter dahinter ragte der breite Bergrücken des Kap Trafalgar empor.

„Dieses Dorf da oben weiß sicher nichts oder nur sehr wenig von der übrigen Welt," sagte Ernst, der mit einem Male wieder melancholisch geworden war. „Ich glaube, wir brauchen gar nicht so weit zu reisen, wie wir es vorhaben, um den Frieden des Mittelalters zu finden." „Werden Sie jetzt schon reisemüde?" bemerkte Philipp etwas ironisch.

„Das gerade nicht! Aber warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt. Dort hinter jenen Mauern werden wir von dem, was wir fliehen, so weit entfernt sein, wie wir es uns nur wünschen können. Wenn wir den Frieden allein woll­ ten, ständen wir bereits am Ziele." „Nun, so gehen wir dort hinauf," sagte Philipp unmutig, „es gibt ja nichts, was uns zum Weiterreisen zwingt. Ich dachte nur, Sie wollten etwas mehr als Frieden!" „„Ich will auch etwas mehr!" „Und das wäre?" Ernst schwieg einen Augenblick, als dächte er tief nach. Dann sagte er mit einem boshaften Lächeln:

„Sie: werden es zunächst nicht verstehen. Ich will Rache nehmen. Ich will einen überzeugten Verfechter unserer überaus herrlichen Kultur, wie Sie es find, einmal Schiffbruch erleiden sehen. Ich will sehen, was daraus wird, wenn ein Kind der neuen Zeit und ein Apostel unserer technischen Ideale auf das Mittelalter losgelassen wird. Kommen Sie nur mit mir nach Marokko, und das Mindeste, was ich dort zu erleben hoffe, ist, daß ich mich über Ihre Weltbeglückungssucht totlachen werde."

„Also deshalb haben Sie mich zu dieser Reise aufgefordert?" fragte der andere sichtlich beleidigt. „Genau deshalb. Ich will sehen, was eine Gemütsbeschaffen­ heit wie die Ihrige aus den Verhältnissen da drüben machen wird. Ich bin wirklich neugierig, wie Ihre erhabenen Gedanken, die Sie ständig im Kopfe mit sich herumtragen, sich dort aus­ nehmen werden."

„Woher wissen Sie denn, daß ich solche Gedanken habe? jetzt ist mir selbst nichts davon bewußt gewesen!"

Bis

„Man kennt einen Menschen nicht umsonst zehn Jahre. Wenn Sie auch nicht wollen, Sie werden gar nicht anders können als Ihren Träumen nachzuhängen, um die Welk durch wirtschaftliche Projekte umzugestalten; und, wie gesagt, ich freue mich schon auf das Gelächter des Morgenlandes." Philipp machte sich gerade im Geiste eine besonders ingrim­ mige Widerlegung zurecht, als die Mitreisenden den Omriibus be­ stiegen und man die Weiterfahrt antrat. Ernst beobachtete mit heimlichem Lächeln, wie der kleine gallige Herr alle Fenster des Omnibus vorsorglich geöffnet hatte.

„Nun sind unsere Taganinas ja doch zwecklos," bemerkte er; „also können wir, um uns nicht selbst zu peinigen, uns auch ein etwas besseres Kraut gestatten." Die Fahrt wurde nun viel angenehmer. Ein frischer Wind, der nach der Hitze des Tages beinahe kühl empfunden wurde, wehte von der 'nahen See herein. Auch erhoben sich nicht mehr, wie bisher, die undurchdringlich dichten Staubwolken. JnfolgeBrinkrnann, Wallfahrt

ein Platze nur noch einige entartete Araber von der nahen afrika­ nischen Küste und einige heldenmütige britische Soldaten der Gar­ nison Gibraltar herum, die mit jenen fraternisierten. „In solchen Lebenslagen ist und bleibt es doch immer das einzige Richtige, man setzt sich zu einem guten Abendessen in ein Restaurant. Ich glaube, das ist schon das dritte Mal heute, aber was ist da zu machen," meinte Ernst.

Wie gesagt, so getan. Mit Hilfe eines Polizisten wurde denn auch ein geeignetes Lokal festgestellt, und Ernst schwelgte alsbald in seinen Lieblingsspeisen: Seefischen in allen Arten der Zu­ bereitung und spanischen Weißweinen der verschiedensten Her­ kunft. Philipp wunderte sich fast, den Freund bald wieder so auf­ geräumt zu finden. Dieser erzählte allerlei Scherzhaftes aus seinem Leben, aber dennoch vermied er ängstlich den einzigen Gegen­ stand, über den Philipp gern etwas Genaueres erfahren hätte. Er machte verschiedene feine Versuche, Ernst zum Plaudern zu bringen; aber so oft er auf das Thema Frauenliebe und -Leben

tarn, wich der andere geschickt aus und schien aus Politik lieber über Politik zu sprechen. Doch als man sich gerade am behaglichsten fühlte, griff das Schicksal mit täppischer Hand in den Seelenfrieden unserer Freunde

ein, indem die beiden verschlafenen Kellner plötzlich resolut die Stühle auf die Tische stellten und durch langsames Ausschalten der Lampen zu verstehen gaben, daß ihnen an dem weiteren Ver­ weilen der beiden letzten Gäste nicht mehr recht gelegen war. „Es ist doch schauderhaft!" rief Ernst. „Da wird man wie ein Hund auf die Straße geworfen; und es ist doch erst knapp drei Uhr. Gut! Machen wir also einen kleinen Morgenspaziergang." ie Freunde verließen wieder die Stadt und wanderten an der Bucht entlang auf die Gärten des Hotels Maria Christina zu. Da sie es indessen nicht besonders eilig hatten, setzten sie sich in der Palmenallee auf einer Ruhebank nieder und genossen die

S

Stille der Nacht. Vor ihnen glitzerte das Meer; dahinter ragte wuchtig der Felsen von Gibraltar auf, dessen Konturen sich tief­ schwarz von dem schwachgrauen Nachthimmel abhoben. Auf einmal ächzte Ernst auf. „Was ich gefürchtet habe! y, hören Sie nur!" Philipp spitzte die Ohren, hörte aber nichts als das Läuten einer Glocke fern von Gibraltar herüber. „Ja gewiß," sagte Ernst, „aber hören Sie nicht den falschen Ton in dem Glockenspiel? Mensch, Sie müssen von einer Rohheit des Gefühles sein, die einem Sohne Albions alle Ehre machen würde. Seit zweihundert Jahren ertönt zu jeder Stunde einmal der Choral von dem Glockenturm da drüben, und seit ebenso langen zweihundert Jahren lebt das edle Volk der Briten um jene Kirche herum und hat bis heute noch nicht gehört, daß der eine Ton falsch ist. Entweder hat es der Glockengießer selbst nicht gemerkt, oder es ist eine Glocke gesprungen, und ein Stümper mit Pech in den Ohren hat sie durch eine falsche ersetzt. Selt acht Jahre»! habe ich Algeciras gemieden, nur um den falschen Glockenton nicht zu hören, der mir damals, ganz abgesehen von den andern Greueln der Konferenz, das Herz im Leibe umdrehte. Aber nie­ mand scheint seinem Schicksal entgehen zu können. Wenn mir damals etwas feinfühligere Nerven gehabt hätten, so wäre schon aus diesem Grunde die Schmach von Algeciras vermieden wor­ den. Wir hätten sofort herausgewittert, daß ein falscher Ton da­ bei mitklang, als wir unter den Kanonen von Gibraltar beim scheinbar so harmlosen Palaver saßen. Aber man hat nicht hören und sehen wollen." „Nun, das Unglück der Konferenz ist vielleicht nicht gar so schlimm gewesen," sagte Philipp beschwichtigend, als er merkte, daß der Freund wieder ziemlich erregt wurde. „Nicht so schlimm? Sie reden in den Tag, oder noch schlim­ mer, in die Nacht hinein. Das Schlimme daran ist ja nicht der einzelne Fall, sondern das Typische an der ganzen Geschichte. Wir laden die Nationen zu einer Konferenz ein, weil wir in unserer Ehrlichkeit das Bedürfnis haben, unsere Streitfragen vor einen-, Aeropag höchster Ehrenhaftigkeit, nämlich die Regierungen der vereinigten Großmächte, zu bringen. Die Lenker der Nationen

sind aber, abgesehen vielleicht von der unsrigen, keineswegs un­ parteiische Richter, sondern nur Revolverpolitiker Eine solche Stimmenmehrheit bestätigt nicht die Richtigkeit einer Auffassung, sondern nur die Gemeinschaft von Interessen. Selbstverständlich mußten wir dabei hereinfallen, da die Stimmen damals meist­ bietend versteigert wurden. Italien ist durch Tripolis, Spanien durch leere Versprechungen gekauft worden. Und das Aergste ist, daß wir das bis heute noch nicht begriffen haben und immer noch, um Recht zu finden, von einer Konferenz und einem Kon­ gresse zum anderen laufen. Ich aber sage euch: Hütet euch vor den Völkerareopagen! Wir sehen und wir hören eben nichts! Ueberall lassen wir uns durch jenes Volk einseifen und sehen ruhig dabei zu, ohne zu bedenken, daß, wo sie einmal sind, sie auch festsitzen, wie Läufe im Schafspelz, und durch kein menschliches Mittel auszuräuchern sind. Das haben auch die Spanier seit mehr als zweihundert Jahren an jenem Felsen da drüben erfahren müssen!" Ernst schwieg plötzlich, als ersticke er an seinen eigenen Worten. Ein kühler Wind wehte über das Ufer, daß die hohen Palmenbäume sich rauschend hin- und herwiegten, und erregte auf dem Meere bei dem schwachen Lichte der Nacht ein mattes, silbergraues Seegekräufel. Dann begann er wieder: „Sie haben keine Ohren zu hören und keine Augen zu sehen. Es rauscht in den Schachtelhalmen, und verdächtig leuchtet das Meer. Nur sie zu Hause merken nichts davon, merken nicht, daß das Ringen um das Szepter der Welt bereits feit mehr als einem Jahrzehnte begonnen hat. Die auf dem Felsen da drüben haben das längst eingesehen, haben längst begriffen, daß man sie nicht mehr allein den Erdball aus­ beuten lassen will, daß auch wir ein Stück und womöglich das größere Stück von der Beute haben wollen. Auf die Ausbeutung, darauf kommt es an; wir wollen uns darüber nicht gegenseitig etwas weißmachen. O, es war bislang ja so schön gewesen, un­ angreifbar in seinem Raubneste auf der Insel zu leben und sich ungestört von dem Schweiße von anderthalb Milliarden Menschen flu nähren! Der Krieg muß mit Naturnotwendigkeit kommen; der "Entfcheidungskampf zwischen Sparta und Athen und Rom und

Carthago wird sich wiederholen; das Schicksal hat uns auferlegt, das Vermächtnis des zweiten Philipp und des ersten Napoleon zu übernehmen. Seitdem der siebente Eduard den Thron be­ stiegen hat, sind die Briten sich darüber klar geworden, daß die schicksalsvolle Stunde geschlagen hat; seitdem wird unverdrossen an dem Garne gewebt, in dem wir gefangen, und an dem Stricke gedreht, mit dem wir gehängt werden sollen. Wir dagegen glau­ ben immer noch an einen ehrlichen Areopag der Völker und be­ schicken seine Kongresse und Konferenzen; wir verlassen uns ganz auf den Gott der Heerscharen, der uns beschützen wird, weil wir immer brav und ehrlich gewesen sind; wir ahnen nichts davon, daß uns ein Rudel Wölfe umschleicht, die bereits zum Sprunge an­ gesetzt haben, um das gute, blöde Schaf, das ihnen angeblich das Wasser trübt, zu zerreißen und zu verschlingen!" Ernst konnte es in seiner Erregung nicht mehr auf der Bant aushalten und lehnte sich an das Gitter, das den Fahrdamm vom Strande trennte. „Es ist grauenhaft, ganz grauenhaft," zischte er ein paar Mal durch die Zähne. „Nun, wir stehen ja nicht allein in der Welt," sagte Philipp, mehr um ihn zu beschwichtigen, als aus reiner objektiver Er­ kenntnis der Sachlage heraus. „Jawohl, wir haben Freunde, das haben wir hier in Algeciras gesehen! Aber bei uns zu Hause glaubt man trotzdem noch an diese welsche Freundschaft und fördert das Gesindel von Lazzaronis in seinen atavistischen Weltmachtsträumen! Und wenn wir wirklich einmal einen Freund haben, so lassen wir ihn im Stiche und sehen ruhig zu, wie italienische Straßenräuber und bal­ kanische Schafdiebe ihn ausplündern! Aber lassen wir das. Es ist nur so entsetzlich, wie Kassandra den Untergang Ilions vorauszusehen, ohne es ändern zu können, weil niemand ihr glaubt!" Philipp begann etwas zu frösteln und schlug vor, den Spazier­ gang in die Stadt zurückzumachen. „Ein politisch Lied ist und bleibt doch immer ein garstig Lied," sagte er. „Sie haben Recht," sagte Ernst, der plötzlich wieder ganz ruhig geworden war. „Ich glaube auch, es ist an der Zeit, einen Früh-

schoppen einzunehmen. Wir wollen einmal sehen, ob in dieser Großstadt noch irgend ein Lokal gastlich geöffnet ist." Sie gingen ein paar, ber ganz menschenleeren Straßen auf und ab, ohne eine offene Tür, die zu. einem Ausschank führen könnte, zu finden. Schließlich aber erschien ihnen ein rettender Engel in Gestalt eines Nachtwächters, der sie bereitwilligst im engsten und winkligsten Teil der Stadt zu einer Schenke am Hafen führte. Hier war wirklich noch etwas Leben. In dem Raume saßen einige Matrosen, die es für unpraktisch hielten, die letzten Stunden ihres Landurlaubs in der Hängematte zu verbringen, und einige Last­ träger, die fid) auf ihre schwere Arbeit mit einigen kräftigen Ge­ tränken vorbereiteten; dazwischen ein paar ältliche Frauenzimmer, die noch immer nicht die Hoffnung aufgeben wollten, trotz der sehr vorgerückten Stunde einen positiven Erwerb zu finden. Selbst­ verständlich blickten alle diese Gäste erstaunt auf, als unsere beiden Freunde sich in einem Winkel des muffig riechenden Lokales an einem Tische niedersetzten und einige Schnäpse kommen ließen. Die eine oder andere der besagten älteren Jungfrauen suchte zwar Ernst in ein unterhaltsames Gespräch hineinzuziehen; er wehrte sich aber energisch dagegen.

„Gott, wie hat sich hier alles seit acht Jahren geändert!" rief er. „Das waren doch andere Zeiten, als die Konferenz noch tagte. Nie hat Algeciras in größerem Glanze gestrahlt als damals. Die schönsten Mädchen aus Paris, Nizza und anderen bedeutenden Kulturstätten Europas waren dem Schwarme der arg geplagten Herren Diplomaten gefolgt, um ihnen die schweren Amtssorgen von der umdüsterten Stirn durch die liebenswürdigste Kunst hin­ wegzuscheuchen. Warum hat sich die Konferenz nicht für perma­ nent erklärt! Dann wäre Marokko heute nicht französisch, und wir könnten jetzt wenigstens unsere Augen an etwas Holdem er­ götzen." Es war unterdessen fast sechs Uhr morgens geworden.

„Wir können doch unmöglich noch weitere zwei Stunden hier sitzen und Schnaps trinken," sagte Ernst gähnend; „und uns wiederum auf die Wanderung zu machen, dazu habe ich wirklich keine Lust mehr."

Philipp, dem es ähnlich wie seinem Freunde erging, hatte den guten Gedanken, den Wirt dieses vornehmen Restaurants, der schlafend hinter seinem Schenktische saß, um Rat anzugehen; und was er nur halb zu hoffen wagte, zeigte sich wirklich durch­ führbar; der praktische Mann rief einen der Lastträger herbei; der erbot sich dann nach einigem Beraten, das Gepäck unserer Freunde abzuholen, sie zum Dampfer hinüberzurudern und dem Obersteward, der mit dem erwähnten Wirte in freundschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen stand, dringend zu empfehlen. Das natürlich alles gegen das Versprechen eines erheblichen Trink­ geldes. Es dauerte nicht lange, so fuhren unsere* Freunde auf einem schaukelnden Nachen in die See hinaus, über der ein feiner Nebel lag, während der Tag gerade graute. Dank der wirklich nützlichen Empfehlung des Wirtes gelangten sie auch ohne weiteres in eine Kabine, wo sie sich gleich zu Bett begaben. „Ich glaube, ich bin doch etwas müde geworden," sagte Ernst und versank sofort in tiefen Schlaf. Es war ja auch ein an­ strengender Tag gewesen.

ie beiden Freunde wurden durch ein hef­ tiges Klopfen an der Kabinentür geweckt. „Das Schiff ist immer noch nicht ab­ gefahren," sagte Philipp, der vergeblich nach dem Stampfen der Maschine horchte. Er war aber sehr überrascht, als der Störenfried draußen von ihnen verlangte, sie möchten sich eilens an­ kleiden. Zu ihren Häupten erdröhnte das Getrampel von zahl­ reichen Personen, die hastig hin- und herliefen. Die un­ erwünschte Unterbrechung seines süßen Schlummers ver­ fluchend, schaute er aus dem Ochsenauge heraus; zu seiner höchsten Ueberraschung sah er, daß es heller lichter Tag geworden war, und auf einem nicht allzufernen Ufer bauten sich weiße, von schlanken Gebettürmen überragte Häuserreihen terrassenförmig auf.

„Ich glaube, wir sind schon in Tanger!" rief er. „Dann haben wir einen langen Schlaf getan," bemerkte Ernst gähnend.

Als die Freunde auf das Deck gelangten, machten sie eine Reihe von Beobachtungen, die sie etwas überraschten. Das Meer war sehr bewegt; die Wellen trugen weiße Schaumköpfe: was Wunder, daß die große Schar von Passagieren, die sich gerade zum Landen bereit machte, in ihren Mienen die ganze traurige Ver­ wüstung der Seekrankheit zeigte. Unsere beiden Reisenden be­ glückwünschten sich daher, alle diese Rot ganz im Unbewußten glücklich überstanden zu haben. „Ich habe schon längst in meinem Leben die Beobachtung ge­ macht," sagte Ernst, „daß es bei weitem das Geratenste ist, die Nächte nicht im Bett zuzubringen. Aus verschiedenen Gründen; und heute hat sich dieser gute Brauch wieder einmal bewährt, indem wir dadurch den Freuden und Leiden der Seekrankheit glücklich entgangen sind!" Nachdem nachträglich die Fahrscheine und sonstigen Spesen be­ glichen waren, brachte eine Motorschaluppe die Freunde zum Landungssteg hinüber. Dort überfiel sie ein Heuschreckenschwarm

von buntgekleideten Eingeborenen, die in sämtlichen Zungen dex Erde sinnbetäubend auf sie einsprachen. Einige dunkelbraune Kerle rissen ihnen das Gepäck aus der Hand. Von diesem Augen­ blicke an waren sie nicht mehr Herren ihres Schicksals; als willen­ lose Werkzeuge in der Faust ihrer Vergewaltiger, die sich nur in unverständlichen Lauten äußerten und jeden Versuch eines Pro­ testes mit einem überlegenen Grinsen und verächtlichen Achselzucken beantworteten, wurden sie durch das Zollamt, das Hafentor, die engen und winkligen Gassen der Stadt geschoben, bis man sie im Hotel Cecil absetzte. Fast ebenso wider ihren Willen führte man dort die Reisenden in zwei anstoßende Zimmer, wo man sie end­ lich allein ließ. Die kleinen Toilettenangelegenheiten waren rasch erledigt, ob­ gleich Philipp es sich nicht nehmen ließ, einen seiner weißen Leinenanzüge einzuweihen. „Da tun Sie recht," sagte Ernst. „Es wird gleich zu regnen anfangen!" Aber Philipp ließ sich nicht stören. „Wir sind nun einmal in Afrika!" Der andere konsultierte seine Uhr, ein unförmliches, mit einem Weckwerke versehenes Gebilde, das stets zu den unpassendsten Gelegenheiten sein klingendes Geräusch vernehmen ließ, „Halb zwölf; zum Frühstücken zu spät und zum Mittagessen zu früh. Es bleibt also nichts übrig, als daß wir uns nach etwas Trinkbarem umsehen!" Die beiden Reisegefährten traten auf die enge Straße der Stadt hinaus, in deren wirrem Volksgewimmel sich das ganze geschäftliche Leben abzuspielen schien. Die Sonne brannte in Vor­ verkündigung des Regens stechend heiß auf das durcheinander­ schreiende Chaos hernieder. Da vor dem Cafö des Hotels gerade ein Tischlein frei wurde, wollte Ernst die schöne Gelegenheit be­ nutzen, um sofort in aller Bequemlichkeit das Morgenland auf sich einwirken zu lassen. Bezüglich der Getränke half der Aperitif wie so oft auch diesmal über die Qual der Entscheidung hinweg. Das tolle Durcheinander von Volkstypen: Europäern, Negern, Arabern, Juden in allen Farben und Schattierungen; dazu die Mannigfaltigkeit der Reit- und Lasttiere, Esel, Pferde, Kamele Brinkmann, Wallfahrt

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und Maultiere, die mit ihrem Wiehern und Schreien die Luft er­ schütterten, daß es fast das Sprachengewirr des Französischen, Spa­ nischen und Arabischen übertönte; die Buntheit der Trachten, von

den Hellen Leinenanzügen der Europäer zu den schwarzen Kaftans der Juden, den grellgrüngefärbten Heiks der Landaraber zu den weißen flatternden Burnussen der maurischen großen Herren; das Durcheinander von Gerüchen, das sich überhaupt nicht unter­ scheiden ließ, aber die Nasen unserer Reisenden gewaltig belästigte; das durchdringende Licht der Sonne, die auf den weißen Wänden

der Häuser tanzende Lichtreflexe erzeugte; schwindlig zu machen.

all

das

schien Ernst

„Wir müssen etwas tun! Es ist doch unerträglich, sich von diesen aufdringlichen Affen fortwährend anglotzen zu lassen. Sehen Sie nur den Nigger da, wie stupide der uns aus seinen vierund­ sechzig Zähnen heraus angrinst!" „Gut, sehen wir uns die Stadt an!"

„Beginnen wir Lieber mit dem Unangenehmsten. Ich habe einen Brief an den Gesandten, den ich, um mir die Nachrede der Vaterlandsgleichgültigkeit zu ersparen, zunächst abgeben möchte!" „Wir sind aber heute wirklich nicht zu hohen Staatsvisiten vor­ bereitet." „Sie in Ihrem blütenweißen Gewände sind bildschön! Und ich habe überhaupt kein zweites Kleid bei mir. Im übrigen sind wir nicht in dieses Land gekommen, um zu Hofe zu gehen. Das wird auch Seine Exzellenz verstehen!"

Ein junger arabischer Tagedieb hatte die beiden Herren schon längst durch seine in gebrochenem Französisch vorgebrachten Aner­ bietungen, sie zu den interessantesten Sehenswürdigkeiten Tangers zu führen, belästigt. So nahmen sie ihn jetzt in ihre Dienste.

ie Freunde folgten ihrem Führer zum Soko, demMarkte von ^/Tanger, wo die Gesandtschaft ihr stolzes Heim aufgeschlagen

hatte. Sie traten in den Torgang ein, der eine Art Wachstube bildete. An den Wänden waren Gewehrständer befestigt; aber es waren keine Waffen zu sehen; und auf den Strohmatten am Boden, auf denen sich sonst martialisch die Schar tapferer Soldaten zum Schutze des Reiches gelagert hatte, hockten jetzt ein paar weiß­ bärtige Araber, augenscheinlich in tiefsinnige Gespräche über den Wechsel und den Niedergang der Zeiten versunken, so daß sie von den Eintretenden nur mit einem müden Augenblinzeln Notiz zu nehmen vermochten.

Nach einigen energischen Aufmunterungen und Auseinander­ setzungen wurden die beiden Herren endlich durch den prächtigen Garten in die Amtsräume der Gesandtschaft geführt. Es empfing

sie der Sekretär, Dr. Krügel, ein kleiner Herr mit einer mäch­ tigen Glatze, und setzte eine höchst nachdenkliche Miene auf: „Hm, ich weiß nicht, Seine Exzel­ lenz sind so beschäf­ tigt — so ganz außerordentlich be­ schäftigt — natür­ lich, auf jeden Fall will ich Sie melden lassen . . ." „Bei der so ge­ waltigen Arbeitslast, die mifSeiner Exzellenz lastet, be­ greifen wir die Un­ erwünschtheit der Störung durchaus. Aber da auch mor­ gen die Schwierig­ keit und die Ungelegenheit die gleiche wäre, ganz abgesehen davon, daß es Sonntag ist, so gedulden wir uns lieber heute ein wenig.. Ernst blickte bei seinen Worten Philipp mit einem bedeutungsvollen Seitenblicke an.

„Bitte wollen Sie Platz nehmen," sagte matt und ein wenig ärgerlich der kahlköpfige Sekretär und wies auf ein fernstehendes Holzbänklein. Sichtlich eingeschüchtert ließen sich die beiden Welt­ reisenden auf der harten Sitzgelegenheit nieder. Der Beamte aber schien zu empfinden, daß es mit seiner Muße vorbei sei und packte die Zeitung, in der er gerade gelesen hatte, zusammen. Dann sah er gelangweilt zum Fenster hinaus. Es wurde ganz still im Zimmer; nur ein paar dickleibige Fliegen surrten behaglich durch den Raum; eins der unverschämten In­ sekten ließ sich einmal auf dem kahlen Schädel des Bureaugewalti­ gen nieder, der empört mit seiner zusamengefalteten Zeitung nach ihr schlug. Und dann kehrte wieder der Frieden in diese heiligen

Amtshallen ein, in denen man die Rache wirklich nicht zu kennen schien. Ernst flüsterte dem Freunde ins Ohr: „Ich berste vor Sar­ kasmen!" Aber sein erschrockener Gefährte wollte nichts von Sar­ kasmen wissen und brachte warnend den Zeigefinger an die Lippen. Da ertönte ein leises, seltsames Geräusch rechts von den Har­ renden durch die Wand her, wie das sanfte Schnurren eines fernen Katers; aber allmählich ging das ursprünglich milde Säuseln in das Krächzen und Rasseln eines Sägewerkes mit mechanischem An­ triebe über. Die beiden Wanderer spitzen die Ohren. Schließlich rief Ernst mit der Eureka-Miene des Archimedes: „Ein Baß-Baritvn! Wahrhaftig, von dem möchte ich den Hol­ länder hören!" „Wie meinen Sie?" fragte Dr. Krügel verwundert. „Ich bewundere nur in Ehrfurcht das gesegnete Organ des Schnarchenden!" Eine purpurne Röte übergoß die gewaltige Glatze des kleinen Mannes. Er stand ein wenig entrüstet auf, schritt zur Wand an der linken Seite, des Arme-Sünderbänkchens und schloß die Tür. „Bei der Hitze kein Wunder," sagte er. „Die Dragomane und Hilfsarbeiter haben auch gar zu viel zu tun. Das geht in diesem Klima über die Nerven, kann ich Ihnen versichern!" „Ich dachte, die Harmonie der Sphären dränge aus dem Zimmer Seiner Exzellenz," bemerkte Ernst mit fast feierlicher Miene.

Ein angstvoller Schauder erfüllte die weite Halle mit Schwei­ gen; es war, als ließe das Bewußtsein der Blasphemie alle Her­ zen in Grauen erstarren. Schließlich brach Ernst, als sei gar nichts geschehen, — und "nur die erstaunliche Gemütsruhe dieses wirklich großen Mannes vermochte die gewitterhafte Schwüle des Augenblickes durch die frische Seebrise seiner olympischen Heiterkeit zu zerstreuen — das Schweigen, indem er auf seine Beobachtungen im Portale der Ge­ sandtschaft hinwies.

„Als wir noch auf dem Boden des fuoeränen Sultans stan­ ken," erklärte Dr. Krügel, „da freilich hatten unsere Soldaten Gewehre: überhaupt, da herrschte noch Leben in diesem

Hause. Nun aber, da das Gebiet um Tanger internationali­ siert ist, da nicht der Sultan hier herrscht, sondern die sechs euro­ päischen Großmächte, da hat man uns die Gewehre und auch son­ stigen Glanz genommen; denn das haben wir ausdrücklich so in Algeciras festgelegt und zugestanden. Waffen führen hier nur noch die Franzosen und Engländer."

„Also, was international ist, wird von den Franzosen und Engländern beherrscht?"

„Nicht beherrscht! Das keineswegs. Wohl aber geschützt. Und das ist der Angelpunkt, um den sich unsere deutsche Politik, die eine Politik des Friedens ist, dreht. Wir wollen die offene Tür, den freien Markt, die friedliche Durchdringung und wirtschaftliche Er­ oberung der Welt; die ist unserer Kultur allein würdig und bringt Segen. Die politische Eroberung, die militärische Befestigung, die Polizeigewalt, die nur Geld kostet und Haß erntet, die überlassen wir andern. Dieser Grundsatz ist eine Errungenschaft des zwanzig­ sten Jahrhunderts, auf die wir mit Recht stolz sind, da sie den allgemeinen Weltfrieden einleitet; sie ist zu unserer Monroedoktrin geworden, deren tieferer Sinn erst dadurch klar wird!"

„Erstaunlich, erstaunlich," sagte Ernst fast beschämt unter dem Eindrücke dieses gewaltigen Tiefsinnes, den er nicht verstand. Dann fuhr er bedächtig fort: „Ium wenigsten ist, nach unserer Entwaffnung, der Zustand dieser Provinz gesichert worden, nicht wahr? Wir beabsichtigen nänllich — und damit komme ich auf den eigentlichen Zweck unseres Besuches zu sprechen — eine Karawane auszurüsten, um von hier auf dem Landwege nach Fes zu reisen." Der kahlköpfige Gesandtschaftssekretär sank in seinen Sessel zu­ rück. Wehe Verzweiflung malte sich auf seinen rosigen Wangen.

„Sie wollen also ermordet werden? Sehr rücksichtsvoll scheinen Sie wirklich nicht zu sein — nein, wahrlich nicht! — Verzeihen Sie meinen Unmut, aber man hat doch schließlich die Würde und Erhabenheit seines Amtes zu wahren. Diese Scherereien, Schreibe­ reien, Verhandlungen, Verwicklungen, wenn hier ein Untertan des Reiches ermordet wird! Sie können sich das natürlich nicht vorstellen. Wir aber werden uns dagegen zu schützen wissen!"

. Ernst schien offenbar von den Blitzstrahlen, die aus den Augen des Bureougewaltigen zuckten, erschlagen zu sein: „Ich dachte wirklich nicht . . ." stammelte er verlegen; „ich glaubte gerade, daß die Nordküste Afrikas dank dem Schutze der sechs Großmächte ..." Der Gesandschaftssekretär wurde durch den Anblick dieser Nie­ dergeschlagenheit sichtlich gerühr^ Er sagte daher in etwas mil­ derer, fast heiterer Laune: „Früher, vor acht Jahren noch, war es gang und gäbe, von Tanger nach Fes auf der großen Karawanenstraße zu ziehen; denn die Räuber der Berge fürchteten den Sultan mehr als die Büchsen spanischer oder französischer Soldaten. Seitdem aber die internationale Intervention dem grauenvollen Treiben der Sul­ tane in weiser Einsicht ein Ziel gesetzt hat, wagen sich die Rifkabylen wieder hervor und machen die Straßen unsicher und brin­ gen jedem Europäer den Tod, der in ihre Hände fällt." „Trotzdem haben die europäischen Mächte der Zivilisation einen erheblichen Dienst erwiesen," murmelte Ernst gedankenvoll. „Das will ich meinen! Man arbeitet schließlich doch nicht um­ sonst unter diesem verwünscht heißem Himmelsstriche. Wir brachen dem Raubtiere die Zähne aus . . ." „Aber man kann nicht mehr nach Fes wandern!" „Von hier aus nicht. Aber was wollen Sie? -Von Casablanca aus reisen Sie bequemer und rascher. Da befinden Sie sich auch gänzlich auf französischem Gebiete, und wir bekommen keine Sche­ rereien, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte, weil dort die franzö­ sische-Regierung allein verantwortlich ist. O der würde ich gerne einen solchen Zwischenfall durch die Ermordung europäischer Rei­ sender gönnen! Dann bekommen die Kollegen von der andern Fakultät auch einmal etwas zu tun!" Die beiden Reisegefährten hatten keine Zeit mehr, über die menschenfreundliche Vorsicht einer hohen Behörde nachzudenken, denn die Türe an der rechten Wand öffnete sich. Seine Exzellenz betrat den Raum, den Tropenhelm auf dem edlen Haupte, das Monokel in die Augenfalten geklemmt, ein Paket Zeitungen unter dem Arme, um zur wohlverdienten Mittagsruhe das im präch­ tigen Garten gelegene Heim aufzusuchen. Er warf einen fragen-

den Blick auf den Sekretär, als er die beiden Freunde erblickte, die sich ehrerbietig erhoben hatten. Der Sekretär meldete: „Die beiden Leute, die sich vor einer Stunde ^anmelden ließen!" Seine Exzellenz schnarrte: „Unterstützungsbedürftige? Das find Angelegenheiten des Konsulats." Dr. Krügel rettete aber die Ehre unserer Freunde. „Verzeihung! Die beiden Herren beabsichtigen, eine Reise nach Fes zu unternehmen. Sie sprachen davon, eine Karawane auszurttsten, um auf dem Landwege von Tanger aus

„Wollen Sie dafür sorgen, daß man sie, sobald sie das Weich­ bild der Stadt verlassen, verhaftet!" sagte der Wirklich Geheime Rat in gemessener Form, die aber den Ernst und Nachdruck der wichtigen Staatsaktion sehr wohl erkennen ließ. „Exzellenz, wir haben unseren Entschluß schon geändert," warf jetzt unser Freund ein. „Wir versteifen uns nicht auf Kleinig­ keiten; uns ist es gleichgültig, wie wir nach Fes kommen, wenn wir nur dorthin gelangen!" „Ein vernünftiger Standpunkt," sagte der Gesandte. „Wir erlaubten uns nur, unsere Aufwartung zu machen, da wir uns ja gewissermaßen für einige Zeit in Eurer Exzellenz Schutz zu stellen haben. Wir beabsichtigen, eine Spritzfahrt durch Marokko zu machen . . .

„So so? Und darf man vielleicht wissen, zu welchem Zwecke?" Diese Frage machte Ernst etwas verlegen. Er liebte es nicht, nach seinen Zwecken und Plänen gefragt zu werden, besonders wenn er, wie in diesem Falle, sich selbst nicht klar darüber war. Um aber nicht ganz mit leeren Händen oder leerem Kopfe dazu­ stehen, sagte er: „Exzellenz wissen vielleicht, daß wir Industrielle sind. Da gibt es immer Gelegenheit zur Arbeit. Wir — das heißt eigentlich mein Freund hier — gedenken in Fes einige Fragen zu studieren, die die Möglichkeit größerer wirtschaftlicher Unternehmungen be­ treffen . . . ."

„In Fes ist ganz allein der französische Generalresident zu­ ständig. Was soll denn i ch dabei tun?"

„Da solche Dinge der Kontrolle sämtlicher am Marokkoabkommen beteiligten Großmächte unterliegen ..." „Gewiß, gewiß! Darüber wachen wir schon. Das Abkommen muß in allen Punkten eingehalten werden. Das wäre ja noch schöner!" „Da, wie gesagt, die Vergebung der öffentlichen Arbeiten, und darauf läuft ja jedes technische Unternehmen in Marokko heraus, von einer allen Nationen zugänglichen Ausschreibung abhängig gemacht werden muß, so . . . ." „Aha, ich verstehe! Sie reden von öffentlichen Arbeiten. Nun — ehrlich gestanden — das liegt uns nicht sehr. Was die öffent­ lichen Arbeiten anlangt, da wollen und können wir uns auch gar nicht einmischen, das würde viel zu weit führen." „Aber es war doch wohl gerade der Sinn des bedeutungsvollen Abkommens vom Jahre 1911, daß die Interessen unseres Handels und unserer Industrie nicht nur geschützt, sondern auch gefördert würden!" Der Gesandte zuckte die Achsel und ließ das Monokel dabei aus dem Auge fallen, das einige Male, von der schwarzen Schnur ge­ halten, auf dem behäbigem Leibe hin- und hertanzte. „Ach was! Der Kaufmann muß sich selbst schützen. Die hohen Interessen des Reiches, die wir allein vertreten, dürfen nicht durch elende Pfennigfuchsereien kompromittiert werden." „Aber ist diese Kulturarbeit nicht die allerwichtigste? Die wirt­ schaftliche Erschließung einer Stadt wie Fes zum Beispiel — Exzellenz kennen es doch " „Ich bin nie dagewesen!" „Oder Rabat oder Marakesch . . . ." „Kenne ich auch nicht! Und ihre Erschließung geht mich gar nichts an. Das sollen die Franzosen mit sich selbst ausmachen. Sie tun ja doch, was sie wollen. Unsere Pflicht ist, möglichst ohne Reibung mit ihnen auszukommen. Im übrigen — ich werde Ihnen Briefe für unsere Konsuln in Casablanca und Fes mitgeben. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Herr Doktor Krügel, Sie haben die Güte, dieselben auszustellen. Na — und?" Ernst drückte durch fein Mienenspiel das höchste Erstaunen aus. Er war tief in Gedanken versunken und schien gar nicht

zu empfinden, daß der hohe Herr die Audienz für beendigt ansah. Um über den peinlichen Augenblick hinwegzukommen, sagte Phi­ lipp etwas von Dank für das außerordentlich liebenswürdige Ent­ gegenkommen, das sie bei Seiner Exzellenz in ihrem schwierigen Vorhaben gefunden hätten. Da unterbrach Ernst ihn: „Ich hätte es fast vergessen! Ich habe für Euer Exzellenz einen Brief!" Er zog ihn aus seiner Rocktasche und überreichte ihn. Der Gesandte brach ihn rasch auf.

„Ah — vom Herrn Staatssekretär des Auswärtigen Amtes," sagte er. „Das ist aber schön. Aber bitte, meine Herren, doch

etwas Platz zu nehmen . . ." „Danke verbindlichst. Ich habe einen fürchterlichen Hunger. Auch Eurer Exzellenz Suppe wird kalt werden." Der Wirklich Geheime Rat nahm den Tropenhelm vom Kopfe und drückte mit einem hörbaren Knacken sein Monokel wieder in das Auge. Aber die beiden Eindringlinge hatten bereits das Zimmer verlassen. Als sie draußen vor dem Gesandschaftsgebäude standen, drehte sich Ernst in bitterer Eregung um:

„Sollen wir da nicht eine Bombe hineinwerfen? Wäre das nicht das Würdigste?--------- Scher' dich zum Teufel, langbeiniger Gauner. Ich habe jetzt schon genug von den Sehenswürdigkeiten dieses verfluchten Himmelsstriches!" Diese letzte Anrede war dem dürren Araberjüngling gewidmet, der irrt Schatten einer weißgetünchten Mauer geduldig auf das Wiedererscheinen seiner beiden Lämmer gewartet hatte, die vdn Allah offenbar ihm zur Schur bestimmt waren. Er schien daher auch von dem Zornesausbruch des älteren Freundes ganz unge­ rührt zu bleiben; denn was vermag der Mensch, Wenn er sich auch noch so ungebärdig stellt, gegen Gottes Ratschluß? Wer ihn nur walten läßt, dem wird das Scheren christlicher Schafe schon nicht entgehen. Er meinte also treuherzig: „Hotel? Suivre!" „Zischt die Natter auch noch französisch mit uns?" rief Ernst im höchsten Zorne aus.

m fliegenerfüllten Gastzimmer des Hotels Cecil setzten sich etwas später die Freunde zu Tisch. Ernst war schweigsam. Die afri­ kanische Julisonne und der Wüstenstaub der Sabara hatten seinen Gaumen ausgedörrt. Er stürzte eine halbe Flasche Rotwein, den er vorsichtig mit ein wenig Selterwasser gemischt hatte, hinunter. Dann schlug er wütend nach den Fliegen, die sich nicht von seiner Stirne fortscheuchen lassen wollten. Und die Anstrengung belohnte er sich mit einer zweiten halben Flasche Rotwein, diesmal ohne Selterwasser. Da begrüßte die Freunde, die über die Störung zunächst keines­ wegs erbaut waren, ein Herr Meyer, Kaufmann und Bodenspeku­ lant in Tanger, mit dem Ernst von einigen Geschäften in Ävilla

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her bekannt war. „Ich lese soeben die überraschende Nachricht von Ihrer An­ kunft in der Depeche Marocaine und habe Sie gesucht, bis ich Sie fand! Aber warum haben Sie mir nicht geschrieben?" „O ich wollte Sie nicht um die Freude der Ueberraschung brin­ gen," sagte Ernst mit einer leichten Ironie. Durch diese Unterbrechung jedoch schien er ein wenig auf an­ dere Gedanken zu kommen; er wurde wieder der heitere,

klare Denker, dem das gemeine Irdische abgrundtief unter seinen Füßen liegt. Vielleicht hatte er auch eme dunkle Vorahnung, daß Herr Meyer von Grundstücken sprechen wollte, was unter allen Umständen zu vermeiden war. Er berichtete ihm also mit klassi­ scher Einfachheit und Deutlichkeit die Eindrücke und Stimmungen, die der Besuch beim Gesandten hinterlassen hatte. Philipp fragte ihn: „Warum in aller Welt dichteten Sie mir große industrielle Pläne an, die ich doch gar nicht besitze, die aber den guten Mann so zu reizen schienen?" „Eine Ablenkung, um größeres Unglück zu verhüten. Ich hielt ihm das rote Tuch hin. Soviel werden Sie doch beim Stier­ kampfe gelernt haben. Ich fühlte schon, wegen meiner Kara­ wanenidee, die Hörner im Leibe. Sie werden zugeben, es war eine geschickte Wendung von mir!" Im Verlaufe der Unterhaltung über die politischen Zustände des Landes sagte Herr Meyer: „Seitdem die Großmächte das Marokkoabkommen geschlossen haben, geht natürlich dieses Reich kulturell zurück. Die französische Regierung ist gezwungen, zu den öffentlichen Arbeiten den inter­ nationalen Wettbewerb heranzuziehen; aber lieber macht sie über­ haupt keine Ausschreibung und hält die wichtigsten Arbeiten hintan, nur damit sie nicht tüchtigen ausländischen, namentlich deutschen Firmen in die Hände fallen. Die Mittel dazu sind ja nicht schwierig zu finden. Es läuft alles auf mehr oder weniger schöne Tricks hinaus. „Tehen Sie," rief Ernst erfreut, „Herr Meyer ist auch An­ hänger meiner Philosophie, die auf dem Riesensystem der Tricks gegründet ist. Oder richtiger vielleicht, die Franzosen sind meine Gläubigen. Deshalb geht es ihnen auch so wohl auf Erden." Der Grundstückhändler wußte nicht recht, was er mit dieser Bemerkung anfangen sollte. Er fuhr indessen fort: „Resultat: es wird nichts gemacht; nicht der Hafen von Tan­ ger, noch die Bahn nach Fes. Selbstverständlich sind wir Kaufleute die Leidtragenden!" „Ja, ja, das internationale Abkommen," seufzte Ernst. „Gewiß! Es war der härteste Schlag, den wir in unserer an Unannehmlichkeiten so reichen Geschichte hier erlebt haben. Uns

wäre freilich besser gewesen, wir hätten, anstelle des Abkommens mit all dem Unsinn von der ,offenen Tür' und ,der Gleichberechti­ gung der Nationen' unter französischer Oberaufsicht, eine klipp und klare französische Kolonie bekommen; dann wüßten wir wenig­ stens, wo wir dran wären, und hätten nicht tagaus, tagein gegen die Chikane zu kämpfen!" „Sie find also, wie ich höre, mit der allgemeinen Lage nicht sonderlich zufrieden," sagte Ernst. „Ist das die Grundstimmung aller Kaufleute in Marokko oder nur die der in Tanger ansässigen?" „Selbstverständlich ist eine solche Frage nie ganz leicht zu ent­ scheiden," erwiderte Herr Meyer. „Geklagt wird überall; das ist einmal unter Kaufleuten so Sitte. Indessen stelle ich mir vor, daß die im französischen Protektorat lebenden Geschäftsleute es schließ­ lich doch leichter haben, da nur e i n Herr über ihnen schaltet, der sie chikaniert. Wir dagegen in der internationalen Zone werden von sechs Großmächten gepeinigt, und das will etwas heißen". „Dann wollen wir aber machen, daß wir so schnell wie möglich aus dieser internationalen Zone herauskommen," rief Ernst mit komischer Leidenschaft. „Wann fährt das nächste Schiff nach Easablanca?" „Die Dukala, die Sie vielleicht im Hafen gesehen haben, ist heute Vormittag eingelaufen und fährt gegen Sonnenuntergang wieder weiter. Das nächste Schiff geht erst in drei Tagen," klärte der sachkundige Herr Meyer die beiden Freunde auf. „Sie werden sich also schon solange gedulden müssen." „Das sehe ich nicht ein," sagte Ernst. „Unsere -Reisevorberei­ tungen sind in zehn Minuten erledigt; wir haben also Zeit über­ genug, um auf die Dukala zu gehen." „Aber Sie wollen doch diese interessante Stadt nicht so rasch wieder verlassen? Es gibt hier sehr viel, was nützlich und lehr­ reich zu sehen ist; auch mancherlei, was Sie vom geschäftlichen Standpunkt reizen muß; und der Ausflug zum Kap Spartel, den jeder Reisende hier macht, ist außerordentlich lohnend wegen ter großen landschaftlichen Schönheiten der Nordspitze Afrikas." „Alles das kann mich gar nicht reizen," sagte Ernst; „ich habe nur den einen Wunsch, sobald wie möglich wieder aus Tanger her­ auszukommen!"

Herr Meyer war sichtlich verdrossen, daß unsere beiden Rei­ senden so wenig Interesse für die Schönheiten und sonstigen Vor­ züge der Stadt, die ihm seit etwa einem Jahrzehnt zur Heimat geworden, zeigten. Aber da er fühlte, daß sein Protest nutzlos war, gab er die Hoffnung auf, ein paar herrliche Gelände an den Mann zu bringen, und sagte mit resignierter Miene: „Nun, dann empfehle ich Ihnen, sobald wie möglich auf die Dampferagentur zu gehen, um die Fahrscheine zu nehmen." Da man gerade mit dem Kaffee fertig war, machten sich die Herren auf den Weg. Mit Mühe wanden sie sich durch das ara­ bische Gesindel durch, das das Hotel Cecil belagerte und seine Dienste als Führer anbot oder auch Waren verkaufen wollte, An­ sichtskarten, Stoffe, Lederwaren, kunstvoll verzierte Dolche und so weiter, alles echte Produkte des Landes, die aber natürlich aus Nürnberg oder anderen nordischen Industriezentren stammten. Sie gingen raschen Schrites dem Hafen zu. Als sie das große Tor dort, das Bab el Marsa, passierten hielt Herr Meyer inne. „Ja, das waren andere Zeiten," sagte er, „als hier vor neun Jahren unser Kaiser an der Spitze eines glänzenden Gefolges hin­ durchzog und von einer ebenso glänzenden Vertretung des Sul< tans empfangen wurde, dem er die Unantastbarkeit der marokkani­ schen Suveränität garantierte. Damals atmeten wir alle auf, denen das französisch-englische Geheimabkommen vom Jahre 1904 große und berechtigte Sorgen bereitet hatte. Damals glaubten wir alle, daß nunmehr das Feld unserer Tätigkeit frei und gesichert sei. Ach, wie wenig wußten wir davon, daß sechs Jahre später sich niemand mehr an diesen herrlichen 31. März 1905 erinnern würde." „Wäre es nicht richtiger gewesen, der Einzug hätte einen Tag später, am ersten April, stattgefunden?" fragte Ernst. Philipp stieß seinen Freund vorwurfsvoll in die Seite; Herr Meyer aber brach das Gespräch ab. Als' in der Dampferagentur die Fahrscheine bezahlt waren, erinnerte sich Ernst daran, daß er nur noch wenig bares Geld mehr bei sich hatte, und entschloß sich, zu der Bank zu gehen, auf die sein Kreditbrief lautete. Herr Meyer klärte ihn indessen auf, daß wegen des Sonnabendnachmittags die Banken geschloffen seien.

„Nun, dann können wir ja diesen Besuch in Casablanca nach­

holen."

Die drei Herren setzten ihren Spaziergang fort, allerdings nur unter beträchtlichen Klagen ob der großen Hitze; das regenverhei­ ßende leichte Gewölk war längst verschwunden, und die Sonne versengte die Stadt. Sie kamen wieder auf den großen Soko, auf dem es noch ebenso lebhaft herging, wie am Morgen. Als Ernst

die Menge von Kamelen sah, die dort angepflockt standen, fiel ihm allerdings wieder schmerzlich der zu Wasser gewordene Plan ein, stolz mit einer eigenen Karawane nach Fes zu ziehen; aber da es nicht hatte sein sollen, gab er sich endlich zufrieden. Herr Meyer bemühte sich, unsere Freunde wenigstens zur Be­ sichtigung der wichtigeren Bauwerke der Stadt, die alle in der Nähe lagen, zu veranlassen. „Nein," erwiderte Ernst, „das Einzige, was mich zu reizen ver­ mag, ist, daß wir ein möglichst schattiges und kühles Plätzchen fin­ den. Ich reise nämlich zu meinem Vergnügen und nicht, um mir

irgend etwas anzusehen, besonders wenn das mit Mühe verknüpft ist. Was anders wäre es, wenn durch diese engen und winkligen Gassen Fuhrwerke passieren könnten; dann würde ich mir vielleicht einen Wagen nehmen; aber so verzichte ich auf alles. Was habe ich davon, wenn ich noch ein halbes Dutzend Stadttore mehr oder die Kasbah oder den Sommerpalast des Sultans sehe? Ich werde mir ein paar Ansichtskarten kaufen, dann ist meine Neugierde vollständig befriedigt." Herrn Meyer waren so blasierte Reisende sicher in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. „Wenn Sie nur im Hotel und im Cafe sitzen wollten," sagte er, augenscheinlich in seinem finanziellen Gewissen gekränkt, „ja, dann begreife ich freilich nicht, warum Sie sich überhaupt die er­ heblichen Ausgaben machten, um so weit zu reisen. Das hatten Sie doch alles besser und vor allem billiger in Sevilla." „Da haben Sie recht," erwiderte Ernst, „im Grunde genom­ men ist meine Reise sicherlich ganz zwecklos, und es ist vielleicht schade um das Geld. Ich bin der erste, der das zugibt; aber da es nicht meine Art und Weife ist, mich der Reue über geschehene Dinge hinzugeben, so wollen wir jetzt das Bestmögliche in unserer Lage tun und unsern Durst im Kühlen löschen." Und als sie ein Plätzchen gefunden hatten, das seinem Ruhe­ bedürfnis zu genügen schien, sagte er Herrn Meyer, der immer mißgestimmter wurde: „Wenn man hier wenigstens irgend etwas Echtes sähe, irgend etwas arabisch Mittelalterliches! Das würde mich vielleicht noch interessieren. Aber dieses Nest ist doch wirklich nichts als ein Uebergang zwischen Abendland und Morgenland, und dazu noch ein höchst unschöner Uebergang. Man sieht hier mehr Europäer als Aaraber." Dabei wies er auf einige Leute, die gerade an dem Cafe vorbeizogen. „Das ist nur heute ausnahmsweise so," sagte Herr Meyer, der das Bedürfnis fühlte, seine Adoptivheimat in Schutz zu nehmen. „Heute ist die Stadt voll von Besuchern, die den Aufenthalt der Dukala benutzen, um sich Tanger oberflächlich anzusehen, und wie Sie, selbst aus den Hauptstraßen nicht herauskommen." „Ich mache den Spaziergängern auch keinen Vorwurf, wenn sie vernünftig wären", sagte Ernst; „aber was mich über die Maßen

anekelt, ist dieses Bastardtum zwischen Europa und Afrika. Warum in aller Welt müssen sich diese Leutchen, die sich in Sevilla — trotzdem es dort viel heißer ist — noch ganz verständig benehmen, hier in Tanger so närrisch kleiden, als wären wir im tiefsten in­ nern des Kongo-Urwaldes. Sehen Sie sich doch einmal den Kerl da an!" Und er wies auf einen jungen Herrn, der in einem englisch gelbgrauen Khakianzuge einherstolzierte und einen mäch­ tigen Tropenhelm auf dem Haupte, Ledergamaschen an den Bei­ nen und eine Reitpeitsche in der Hand trug. „Das sind Turistenauswüchse," sagte Herr Meyer entschuldi­ gend. „Freilich ist es wirklich nicht einzusehen, warum man sich, um ein paar Stunden das Schiff zu verlassen, hier in Tanger so kleiden soll. Vielleicht liegt es auch an der schlechten Reiselektüre. Gibt es doch Menschen in Europa, die glauben, daß hier noch Sklavenmärkte abgehalten werden. Unter solchen Eindrücken ist es verständlich, wenn jemand mit der Reitpeitsche bewaffnet hier ans Land geht." „Aber auch das Einheimische ist nicht echt. Schon wie dieses Gesindel sich hausierend oder bettelnd an uns herandrängt und dazu noch mit französischen und englischen Sprachbrocken uns den Magen verdirbt! Der Kontakt zweier verschiedener Kulturen ist sicherlich das Unschönste, was man sich denken kann." Herr Meyer fühlte, daß er auf diese Weise nicht an sein heim­ liches Ziel zu gelangen vermochte. Er versuchte es daher nicht mehr auf die ästhetischen Empfindungen seines Gönners zu wir­ ken, sondern in nüchterner Weise auf dessen geschäftlichen Sinn. Er kam wieder auf die gewaltige Steigerung der Grundstückspreise zu sprechen, erging sich in farbenglühenden Schilderungen, welche Unsummen mit einer derartigen Kapitalanlage schon gewonnen wären und sich noch gewinnen ließen, und wollte gerade, wie unseren Freunden schien, mit recht positiven Vorschlägen heraus­ kommen, als Ernst unvermittelt den Kellner herbeirief, um zu zahlen. „Ich glaube, es ist am besten, wir gehen weiter," sagte er. „Vorhin waren wir noch so schön allein und ungestört hier; jetzt aber sind alle Tische ringsherum besetzt, und es wird Deutsch ge­ sprochen. Sehen Sie hier nebenan das Ehepaar und dahinter Brinkmann, Wallfahrt

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wieder den Mann mit dem Tropenhelm, der, wenn ich nicht irre, sicher ein Pianokünstler ist, wenigstens aus der Länge der gelockten Haare zu schließen. Er setzt ein Gesicht aus, als fühle er das Bedürfnis, sich uns vorzustellen; ich habe aber nun einmal eine Idiosynkrasie gegen Reisebekanntschaften." „Nun, dann können wir ja einmal an dem Grundstück vorbei­ gehen, von dem ich eben sprach," sagte Herr Meyer. „Ach nein," erwiderte Ernst, „auf der Rückreise vielleicht, wenn wir mehr Muße haben. Jetzt wollen wir lieber nach Hause gehen und uns allmählich auf die Weiterfahrt vorbereiten."

Im Hotel Cecil empfing unsere Freunde der Gesandtschafts­ sekretär Dr. Krügel, der ihnen mit säst vorwurfsvollem Tone er­ klärte, er habe sie schon seit ein paar Stunden gesucht und sich schließlich entschlossen, im Hotel auf sie zu warten. Seine Exzellenz nämlich habe geruht, die Herren zu einem Glase Bier heute Abend im Garten der Gesandtschaft einzuladen. Ernst lehnte aber mit dem Ausdruck seines unaussprechlichen Dankes ab. „Es ist wirklich schade," sagte er dann, „aber es geht nicht; ich habe eine Karawane verpflichtet, die morgen früh mit dem ersten Tagesgrauen abgeht, und bis dahin müssen wir etwas ruhen."

Herr Dr. Krügel war sprachlos: „Aber wir haben Ihnen doch so warm ans Herz gelegt, daß das nicht sein kann! Nein wirklich, es geht nicht; die Konsequenzen können wir unter keinen Umstän­ den auf uns nehmen. Ich dächte, wir hätten das klar genug gesagt." Ernst zuckte mit den Achseln. „Gewiß, es ist sehr unüberlegt und riskant, das gebe ich zu; aber es ist nun einmal nicht mehr zu ändern; alle Vorbereitungen sind getroffen." Herr Dr. Krügel verließ in sichtlichem Zorn das Hotel. „Nun müssen wir uns aber schnell auf den Dampfer retten," sagte Ernst lachend, „oder wir werden noch verhaftet. Es ist gut, daß kein deutsches Kriegsschiff im Hasen liegt. Sonst wäre Seine Exzellenz imstande, Truppen landen zu lassen, bloß um sich Schere­ reien zu ersparen. Auf jeden Fall wird man heute in der Ge­ sandtschaft eine schlaflose Nacht verbringen. Indessen, der ver-

säumte Schlummer kann ja wohl während der Geschäftsstunden nachgeholt werden." Die Rechnung kam; trotzdem unsere Freunde nur wenige Stun­ den des Tages ihr Zimmer benutzt hatten, war der Tag doch voll angerechnet. „Es ist gut, daß die Sache in Pfund und Shilling aufgemacht ist", sagte Ernst, „auf diese Weise kommt beim Uebersohrhauen doch mehr heraus als mit der lächerlich kleinen Mark oder gar den Francs. Die große Münzeinheit hat auch ihr Gutes. Ueberdies scheint die britische Okkupation auch der Südseite der Straße von Gibraltar schon aG bestem Wege zu sein!" Etwas später waren unsere Freunde wieder auf der Landungs­ brücke und hatten den Kampf mit dem zahllosen Gesindel, das das Gepäck erst an sich riß, um sich dann nicht weiter darum zu küm­ mern, glücklich überstanden; und endlich saßen sie in einem schau­ kelnden Nachen, um zur Dukala zu gelangen, die weit draußen in der See lag. Auf einmal bemerkte Ernst: „Sehen Sie oben auf der Lan­ dungsbrücke den Kerl da? Ich habe ihn heute mindestens hundert Mal beobachtet; es scheint mir fast, als hätte er uns verfolgt. Mehr als einmal war ich geneigt, ihn mir herbeizuwinken, um ihm an­ zudeuten, daß er sich für Taschendiebstähle ein anderes Opfer aus­ suchen möchte, da ich keine Wertgegenstände bei mir trüge und er mit meinem Kreditbriefe doch nichts anfangen könne." Herr Meyer schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich glaube nicht, daß das ein Dieb ist, sondern es scheint mir eher ein Agent der französischen Geheimpolizei zu sein. Mit diesem Uebel sind wir nämlich ebenfalls seit der Internationalisierung behaftet." „Da wäre ich doch neugierig, weshalb sich ein Geheimpolizist um mich kümmern sollte?" fragte Ernst. „Theoretisch interessieren sich diese Leute für jeden Reisenden. Ueberall werden nämlich politische Intrigen gewittert; wer mit hervorragenden Mauren der Stadt oder gar mit ausländischen Ge­ sandten in Verbindung tritt, wird ausnahmslos sehr scharf über­ wacht." „Auf jeden Fall bedaure ich sehr, die Herren. vergeblich be­ müht zu haben," sagte Ernst.

Auf der Dukala richteten sich unsere Freunde zunächst in der ihnen zugewiesenen Schlafkabine ein. Herr Meyer ließ sich von ihnen das heilige Versprechen geben, daß sie sich auf ihrer Rück­ fahrt längere Zeit in Tanger aufhalten würden, und verabschie­ dete sich unter wortreichen Aeußerungen seiner Dienstergebenheit. Die beiden Freunde aber ließen sich in Klappstühlen auf dem Deck nieder und sahen zu, wie ein Nachen nach dem andern die Mit­ reisenden zum Schiffe brachte. /z\ er Dampfer setzte sich endlich in Bewegung. Jetzt sahen unsere U Reisenden zum ersten Male das terrassenförmig sich auf­

bauende Tanger in seiner ganzen Pracht vor sich liegen; die milden Strahlen der Abendsonne färbten mit einem Rosenhauche die Zinnen der alten Batterien und die schlanken Gebettürme der Moscheen, während die halbkreisförmige Bucht immer tiefer zu werden, in violetten Schatten zu versinken schien. Ernst war von dem Schauspiel tief ergriffen. „Wie schön sind doch alle Dinge, wenn man sie. erst hinter sich hat!" sagte er mit verklärtem Antlitz. „Jetzt schaut mein Auge die Pracht Indiens und riecht die Rosendüfte von Schiras und hört den Bülbül in Bassorah schluchzen — und als man da noch mitten drin war, konnte man es vor Dreck, Gestank und Geschrei nicht aushalten. Aber so ist das Leben!" Man fuhr an einem veralteten spanischen und einem fast ebenso alten französischen Schlachtschiffe, die vor allem andern die Anknüpfung zwischen arabischer Verkommenheit und europäischer Kultur bilden sollten, und an einer Reihe von kleinen Handels­ fahrzeugen vorbei, bis die Stadt hinter dem hügeligen Vorgebirge des Kaps Spartel versank und die Einsamkeit des Meeres und der fernen Küste, auf der kein Zeichen vom Leben sichtbar war, unsere Wanderer umgab. Während sie sich still und schweigsam dem Genusse der Fahrt und ihrer Zigarren Hingaben, wurde allmählich ihre Aufmerkiamkeit von den Mitreisenden in Anspruch genommen. Es waren zu­ meist französische Offiziere in den schmucken Uniformen der Kolo­ nialregimenter, alle Waffengattungen durcheinander, Zuaven, Tirailleurs, Spahis, Fremdenlegionäre und so weiter. Das lorber-

grün eingefaßte Kreuz der Ehrenlegion prangte auf der Mehrzahl ihrer Heldenbrüste. Zwischen ihnen verschwanden fast die wenigen Reisenden in schmucklosem Zivil. Besonders fiel indessen unsern Freunden der Flor der schick gekleideten Damen auf, die Don der Seereise etwas angegriffen, aber vielleicht gerade deshalb besonders interessant erschienen. Kein Wunder übrigens; man erfuhr, die Ueberfahrt von Marseille sei ziemlich stürmisch gewesen, was unsere Reisenden ja schon bei ihrer Ankunft in Tanger 'gemerkt hatten. Und auch jetzt noch war das Merr keineswegs ruhig. D6L diese Damen mit den sie begattenden Dffizieren ausnahmslos in einem einwandfreien legitimen Verhält..is standen, war den beiden Reisegefährten wohl etwas fraglich, aber erschien ihnen nicht son­ derlich wichtig. Auch die übrigen Passagiere zu beobachten, war ganz unter­ haltend. Die Freunde hatten einen Teil von ihnen bereits in Tanger durch die Straßen wandern oder auch in den verschie­ denen Cafes sitzen sehen; so ein deutsches Ehepaar, das sich unweit von ihnen auf Klappstühlen niedergelassen hatte, und den Locken­ kopf im Tropenhelm, der an die Reeling gelehnt auf die im Abend­ dunste entschwindende Küste schaute. „Es. sieht so aus, als wollte man uns liebenswürdig zu einem kleinen freundschaftlichen Gespräche einladen," brummte Ernst, der sich argwöhnisch umsah. „Gehen wir lieber etwas spazieren!" „Es ist mir recht," erwiderte der Freund, „wenn ich mir auch ihre plötzlich so stark ausgebildete Menschenscheu nicht erklären kann! Sie waren doch früher nicht so!" „Sie wollen hinter Dinge kommen, die Sie nichts angehen, mein feiner Dialektiker!" Philipp fühlte aber deutlich, daß dem Freunde etwas auf der Zunge schwebte und nur die Gelegenheit fehlte, sein Herz auszuschütten. „Ich kann warten," dachte er bei sich. Sie gingen einigemale um das Deck herum. Dabei kamen sie an einer kleinen Grupe von Arabern, in landsüblicher Tracht vor­ bei, die einen Herrn in elegantem Reiseanzug und mit einem roten Fez auf dem Kopse umringten. Er schien gemeßen auf sie einzureden und verabschiedete die Leute dann mit segnender Hand-

bewegung. Die Araber küßten ihm ehrerbietig den Saum seinem Rockes und zogen sich zurück. Unsere Freunde erkannten in dem vornehmen Mauren den frackbekleideten Grandseigneur vom Spiel­ tische zu Algeciras wieder.

„Immer dieselbe Komödie!" sagte Ernst. „Gestern noch ein alter Sünder, tief verstrickt in alle Laster der Ungläubigen, und heute küßt man dem Heiligen den Zipfel seines Gewandes. Abev die Hauptsache ist in allen Ländern und zu allen Zeiten, daß dem Volke die Religion erhalten bleibt!" Auf ihrer weiteren Wanderung gelangten unsere Freunde zum Zwischendeck. Das war dichtgedrängt von Soldaten angefüllt. Man hörte, daß der Dampfer ein Bataillon Tirailleurs nach Casa­ blanca brachte, das wegen der ungünstigen Verbindungen die Reise von seinem Standquartier in Algier über Marseille machen mußte. Die Mannschaften waren, wie immer die Soldaten in der ganzen Welt, heiter und guter Dinge und vollführten mit ihren Schelmen­ stücken einen gewaltigen Lärm. Sie schienen sich sehr wenig darum zu bekümmern, daß die französische Regierung wohl nicht nur, um den Mannschaften eine Vergnügungsreise zu bereiten, von allen Seiten recht beträchtliche Truppenmengen in Marokko vereinigte; ebenso wenig wie sie sich darum Sorge machten, daß das Schiff bereits tüchtig in den Wellen zu stampfen begann. Die Fahrt ver­ sprach etwas unangenehm zu werden; und unsere Freunde hielten es für geratener, sich wieder hinzusetzen.

Von recht zweifelhaften Gefühlen bedrückt, besprachen sie mit gründlichem Ernst ihre Aussichten auf Seekrankheit, deren Ursache and Wirkungen und vor allen Dingen deren Aufgabe im Haus­ halte der Natur.

„Ich kann mir nicht vorstellen, daß es sich dabei lediglich um eine Laune der Schöpfung handelt," sagte Philipp. „Das heimliche Gefühl des Unbehagens will den Körper dagegen protestieren lassen, ihn dauernd der schaukelnden Bewegung auszusetzen, d'e ihm sicher schädlich ist." Ernst rief den vorbeieilenden Kellner an und bestellte eine Flasche Bier, „um wenigstens die schädlichsten Wirkungen des drohenden Uebels zu vermeiden," sagte er erklärend dem Freunde.

„Wir gehen doch gleich zu Tische," bemerkte Philipp miß­ billigend. „Ich bin dessen keineswegs sicher," sagte Ernst. „Der AufentHalt im Speisesaal hat vorläufig noch sehr wenig Verlockendes für mich; denn ach, mir ist höchst seltsam zu Mute!" Das Bier kam. Die beiden Freunde betrachteten vorsichtig die Etikette. Den Geschmack wagte indessen nur Ernst nachzuprüfen; er trank in bedächtig langen Zügen, als würde er alle Herrlichkeiten uralten Rheinweines auskosten. Dabei begann ein gelinder Schweiß auf seiner Stirne zu perlen. Da die beiden Busenfreunde immer einen Grund zum Strei­ ten fanden, lagen sie sich bald über dem Problem in den Haaren, ob man ihnen für einen Franc auf dem zollfreien Boden des Schiffes ein Drittel oder ein Viertel Liter Bier verkauft hätte „Mir kommt es fast wie ein halber Liter vor — es will kein Ende nehmen," stöhnte Ernst, während Phlipp die Dimensionen der Flasche festzustellen und deren Rauminhalt dann rechnerisch abzu­ leiten suchte.

a nahte sich ihnen der junge Herr im Tropenhelm, der seine

aJ Pfeife qualmend unbeweglich an der Bordwand gestanden und, wie es schien, mit Adlerblicken unsere Freunde beobachtet hatte. „Guten Abend," sagte er, indem er salutierend die Rechte an den kriegerischen Kopfschutz legte. Die beiden Reisenden erwiderten den freundlichen Gruß nur flüchtig und setzten ihre Betrachtungen über den Inhalt der Bier­ flasche fort; aber der Mann im.Tropenhelm schien eine Anknüpfung zu suchen. „Well," sagte er mit einem fast englisch anmutenden Gurgel­ laute; dann fuhr er aber mit echt sächsisch singendem Tonfalle fort: „Eine Bierbrauerei fehlt noch in Marokko!" Die Freunde blickten erstaunt auf. „Das mag sein — natürlich — was Sie nicht sagen." „Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Glückt" „Danke sehr — aber wozu?"

„Nun, aber freilich, zu Ihrem Unternehmen, Brauerei; in Casablanca, wie ich annehme!"

der geplanten

Ein vergnügtes Lächeln glitt über die Züge des kleinen Herrn. „Potztausend," sagte er. „Was Sie nicht alles wissen!" „Nun, habe ich Recht?" „Vollkommen," bestätigte Ernst schmunzelnd. „Aber wie sind Sie nur dahinter gekommen? Es ist doch ein Geheimnis — ein Geschäftsgeheimnis!"

„So wichtige Unternehmungen sollten freilich immer Geheim­ nis fein. Aber was sind Geheimnisse? Die gibt es nicht, ebenso wenig wie Wunder. Die bestehen nur für jemanden, der nicht klar

sehen kann. Den Zusammenhang der Einzelwahrnehmungen zu erklären, das ist die Macht des Genies, die jedes Wunder zerstört und jedes Geheimnis zunichte macht!" „Aber hinter unser Geheimnis zu kommen, war doch ver­ flucht nicht so einfach," sagte Ernst. Der Mann mit dem Tropenhelm lächelte seine volle geistige Ueberlegenheit über unsere Wanderer aus. Sie verstummten vor so viel Uebermenschentum, das in diesem Lächeln steckte. Er aber blies aus seiner Tabakspfeife mächtige Rauchwolken in die Luft. Endlich ließ er sich zu einer Erklärung herbei: „Geschäftsleute fahren nicht zum Vergnügen nach Casablanca." „Meinen Sie?" „Freilich!" erwiderte der geniale Jüngling, den der leise Zweifel, der in dieser letzten Frage zum Ausdruck gelangte, zu reizen schien. „Ganz natürlich. Nur Geschäftsleute kommen zum Mittag in Tanger an und fahren vor dem Abendessen wieder fort. Herren, die zu ihrem Vergnügen reisen, tun das doch nicht!" „Da haben Sie ganz recht; es ist unbestreitbar. Aber wie haben Sie die Zeit unseres Aufenthaltes in Tanger so genau be­ obachten können?"

„Mein guter Herr, das sind Kleinigkeiten. Nicht der Rede wert. Well, man steht, wenn man nicht gerade etwas Besseres zu tun hat, am Hafen. Interessantes Treiben. Man sieht seltsame Menschen kommen oder gehen. Oder man fragt den nächsten besten Araberjungen, der neugierig den Touristen auf der Straße nachglotzt, ein wenig aus . . . ." „Dazu muß man Arabisch können."

„Da man stets von seinem Dolmetscher begleitet ist, macht das keine Schwierigkeiten. Ueberhaupt," fügte er mit seinem fatalen Näseln hinzu, „sieht der Laie überall eine endlose Kette von Schwierigkeiten, die der überlegene Geist mit einem Schlage zer­ teilt, indem er sofort am den Grund der Dinge gelangt." „Erstaunlich, erstaunlich," sagte Ernst tief ergriffen. „Aber unterbrechen wir den Herrn doch nicht immer," wandte Philipp vorwurfsvoll ein. „Er kann ja mit keinem einzigen seiner lichtvollen Gedanken zu Ende kommen!"

„Sie haben recht," sagte Ernst, und der Mann mit dem Tropenhelm fuhr sichtlich befriedigt fort: „Also Geschäftsreisende. Nachdem dieser wichtige Clou ge­ wonnen, fehlt nicht mehr viel zur Ausarbeitung der richtigen Theorie. Glauben Sie nicht selbst, daß man jedem Menschen, wenn man nur aufpaßt, das Geschäft, das er betreibt, an der Nase ansehen kann? Blicken Sie sich einmal in Tanger um: obgleich jedermann dort im Turistenkostüm herumläuft, kann man doch sehr bald den spanischen Offizier vom sächsischen Oberlehrer, den deutschen Kaufmann vom englischen Globetrotter unterscheiden." „Also man sieht uns das Bierbrauen wirklich an der Nase an?" unterbrach ihn wiederum Ernst.

„Auch darin hat er recht," rief Philipp. „Sehen Sie nur in den Spiegel: Ihre Nase — ah, Ihre Nase — die rote Verräterin!" „So wörtlich meinte ich es freilich nicht," sagte der Mann im Tropenhelm. „Aber, mein Verehrtester, man braucht Sie nur an­ zusehen — Sie beschäftigen sich zweifellos mit den sogenannten Genußmitteln." „Eine zarte Anspielung auf Ihre unzarte Leibesfülle," rief Philipp. „Das Antlitz, mein gutester Herr, das Antlitz! Das genügt vollkommen! Well, ich kehre zur Feststellung Ihres Berufes zu­ rück. Man gehe im Geiste den marokkanischen Handel durch: Textilwaren, Zucker, Kerzen, Tee, Eisenkurzwaren und so weiter. So sehen Sie aber nicht aus. Außerdem, ich hatte mir die Frei­ heit genommen, einen Blick auf Ihr Gepäck zu werfen, als der braune Nigger es an Bord brachte. Solche Geschäfte betreibt man doch nur mit Musterkoffern. Sie haben aber nichts dergleichen. Also blieb nach den Regeln der logischen Schlußfolgerung der Um­ fang aller Möglichkeiten auf einen sehr engen Kreis zurückgeführt.

Da gaben Sie mir selbst den Fingerzeig! Ja, meine verehrte Herren, wer Geheimnisse hat, muß vorsichtig sein, sehr vorsichtig. Diesmal hat es nichts zu sagen. Ich bin kein Konkurrent; meine Aufgaben liegen auf höheren Gebieten; aber man darf sich nicht, wie Sie es getan haben, mit einer einzigen Flasche Bier hin­ setzen und sie allerhöchstens zu einem Drittel leeren und dabei

mehr als eine Viertelstunde über Herkunft, Geschmack und Qualität diskutieren. Das verrät Kennerschaft; und die zeugt von Interesse — und das Interesse ist die Gründung einer Brauerei in Casa­ blanca." „Erstaunlich, erstaunlich!" wiederholte Ernst. „Höchst einfach," kam es lächelnd unter dem Tropenhelm hervor. „Ich würde vielleicht auf Seekrankheit geschlossen haben," sagte Philipp etwas ironisch.

Doch Ernst verwehrte ihm solche unpassenden Scherze. „Man darf wahre Kunst nicht in den Staub ziehen. Und was Herr - - » hm, darf ich vielleicht um Ihren Namen bitten; mit einem Geist wie dem Ihrigen verkehrt man immer gern; und da wir dasselbe Reiseziel haben, ist es wohl möglich, daß wir noch einmal auf» einanderstoßen!" „Holmscher," erwiderte der Tropenhelm bescheiden.

„Was Herr Holmscher uns gezeigt hat, das ist wahre Kunst!' Lieber Freund, es ist arg um Sie bestellt, daß Ihrer praktischen Vernunft, die aber nur die höchste Unvernunft ist, nichts mehr heilig ist!" Philipp war gebührend zerknirscht. „Doch nun fort mit dem verräterischen Corpus delicti," rief Ernst und schleuderte die Flasche in großem Bogen ins Meer. „Ich habe genug davon! Wie man doch bloßgestellt wird!" „Aber solange Sie es mit Ihrer Nase nicht gerade so machen "

„„Ich hätte nicht übel Lust dazu, vorausgesetzt, daß Sie mit gutem Beispiel vorangehen!" „Werde mich hüten!" „Und nun Herr Holmscher, vielleicht können Sie uns auch etwas über unsere Mitreisenden erzählen," wandte sich (Ernst an den qualmenden Tropenhelm. „Sie haben sicher die hübsche Frau bemerkt, die da im Lehnstuhl sitzt und mit dem Herrn plaudert. Auch Deutsche?" „Ei freilich! der Sprache!"

Das können selbst

Sie

feststellen, nämlich an

„Das kann ich auch. Aber Sie sollten mir das Weitere er­ zählen. Ein Ehepaar?" „Ach nein, mein verehrter Herr." „Ich zweifle bald, ob es überhaupt noch Ehepaare in der Welt gibt," sagte Ernst. „Aber meinetwegen. Ein sehr hübsches Weib, trotzdem!" „Nein, gerade deshalb," sagte Philipp. „Wissen Sie, Lieber, wenn auch S i e in Rätseln reden " „Es gibt keine Rätsel," warf Herr Holmscher ein. „Richtig! Ich vergaß das. Aber werden wir das Glück haben, mit jener Dame, die sich bedauerlicherweise so sehr für mich zu interessieren scheint, noch weiter zu reisen?"

„Sie werden mit ihr Weiterreisen. Aber wenn mich nicht alles trügt, werden Sie die Rückreise getrennt unternehmen." „Wie wäre das?" „Entschuldigen Sie, mein Gutester, aber ich kann Ihnen das im Augenblick nicht weiter erläutern. Ich bin beschäftigt!" Dabei richtete Holmscher sein Adlerauge auf das Paar, das sich von den Sesseln erhoben hatte. Der Herr reichte seiner Dame den Arm und ging mit ihr auf die Verdecktür zu, die ins Innere des Schiffes führte. Er war von hoher, ein wenig magerer Ge­ stalt; ein feiner, blonder Spitzbart verlängerte noch sein schmales Antlitz; im ganzen ein vornehmer, aber etwas nichtssagender Typus. Sie dagegen war eine ausgesprochene Schönheit, trotzdem auch sie aus dem ersten Lenze bereits heraus war. Ein wunder­ volles schwarzes Haar umrahmte das elfenbeinweiße Antlitz der nicht großen, aber ebenmäßig abgerundeten Erscheinung. Die Kleidung der schönen Frau war der nicht gerade bequemen Reise entsprechend, aber doch geschmackvoll gewählt und erbrachte den Beweis, daß eine geschickte Frau auch im Reisekostüm sich zu putzen weiß, ohne geputzt zu erscheinen und das Zweckdienliche außer Acht zu lassen. Auf jeden Fall schien eine Bemerkung un­ seres Freundes, die an sich unverständlich war, darauf abzuzielen. „Konstruktiv schön," sagte er bewundernd.

Das Paar war hinter der Tür verschwunden. starrte gedankenvoll ins Meer hinaus.

Ernst aber

„Ich fürchte, wir werden eine verdrießliche Reise sagte er. „Warum denn nur?" fragte sein Gefährte.

haben,"

„Ich habe Vorahnungen, wie Sie wissen. Jedoch lassen wir das jetzt. Wo ist denn der famose Holmscher geblieben?" „Ich glaube, er ist ebenfalls unter Deck gegangen."

„Komischer Kauz das. Verrückt, vermute ich. Ader bis zu einem gewissen Grade unterhaltsam. Vom Tropenhelm möchte ich auf Tropenkoller schließen. Jedenfalls ist eine Schraube los." „Hoffentlich wird er uns nicht weiter mit seinem Scharfblick, und seiner geistigen Ueberlegenheit verfolgen!"

„Vertrauen wir auf unseren guten Stern!" Der Steward kam vorbei und heischte Bezahlung des Bieres. Dabei sah er sich besorgt in der ganzen Umgebung um. „Aha, er sucht die Flasche," rief Ernst auf deutsch. „Den wer­ den wir schon auf andere Gedanken bringen." Er bestellte zwei Cognacs. „Mir ist immer noch jämmerlich zu Sinn. Aber ich habe eben noch nichts Festes genossen. Man soll nicht mit nüchternem Magen zu Schiff gehen!" Die Cognacs kamen und verschwanden.

war dunkel geworden. Von der Küste konnte man nichts VZ/ mef)r sehen. Dumpf rauschte das Meer an die Schiffswand. Nur die Sterne leuchteten durch die Nacht hindurch. Die Glocke läutete zum zweiten Male. Die beiden Wanderer gingen in hen Speisesaal. Ihr immer noch etwas leidender Zustand verhinderte sie, erst noch eine weitläufige Toilette zu machen; freilich auch, in zweiter Linie der Umstand, daß sie überhaupt keine festlichen Ge­ wänder mit sich führten. Der Oberkellner setzte sie mitten in eine Gruppe von Offizieren hinein, schmucken, martialischen Erscheinungen, die in den licht­ blauen, verschnürten Röcken der Spahis gekleidet waren. Um in­ dessen möglichst jedem Steine des Anstoßes aus dem Wege zu gehen, ließen sich unsere Freunde auf keine Unterhaltung mit ihren Nachbarn ein, sondern führten ein harmloses Gespräch in deutscher Sprache und machten sich eifrig daran, zwischen Suppe und Fisch die erste Flasche Champagner zu leeren. Da richtete Ernst seinen Blick auf das linke Ende der Tafel: „Donnerwetter, sehen Sie sich doch einmal den Kerl an!" Philipp folgte dem Winke und bemerkte einen abnorm kleinen und schmächtigen Franzosen, fast den einzigen Herrn in bürgerlicher Kleidung, von geradezu abschreckender Gesichtsbildung. Die Stirn war niedrig und zurückgebogen; die Kiefer aber in ihrer starken Ausprägung gaben dem ganzen Gesichte etwas Pavian­ haftes, welcher Eindruck durch die schwarzen, struppigen Borsten des Haupt- und Barthaares noch verstärkt wurde.

„Der scheint aus einer anderen Zone zu stammen," sagte Philipp. „Ein starkes fremdrassiges Kolonialreich hat für ein Zeugungsschwaches Mutterland feine Nachteile."

„Mir scheint eher, er ist noch nicht ganz fertig. monatskind . . . ."

Ein Sieben­

Das mißgeborene Französlein aber zerschnitt gleichmütig feine Scheibe unerträglich zähen Roastbeefs, das dem obligaten Fische gefolgt war. Dabei schien es mit seiner Nachbarin, einer üppigen Spanierin, deren braunes Antlitz und dichtes schwarzes Haar wie ein felsiges Waldeiland aus dem weiten Meere eines mit weißem Spitzenschaum bedeckten Busens herausragte, in galantem Ge­ plauder stark beschäftigt zu sein.

Das war nun freilich ein Gegenstand für das Interesse un­ seres Freundes, so sehr es ihm auch sonst widerstrebte, sich mit seinen Mitreisenden zu beschäftigen, die ihm der Zufall wahllos

in den Weg führte. Er griff in die Brusttasche und brachte seine Schießbrille zum Vorschein, mit deren mächtigen, kreisrunden Gläsern er seine Augen verstärkte.

„Wirklich, der reine und echte Typus der Andalusierin," sagte Ernst. Und es klang fast, als bewundere er ein wenig jene spanische Gewichtigkeit. Selbstverständlich entging der stolzen Schönen als echter Süd­ länderin nicht die Sensation, die sie in dem kleinen behäbigen Herrn erregt hatte; sie begann sichtlich die Aufmerksamkeiten des Sietemesinos zu vernachlässigen und ließ das Feuer ihrer pech­ schwarzen Augen auf unsere beiden Wanderer prasseln. Philipp zwinkerte ihr, fast in einer Reflexbewegung, mit dem Augenlide zu; und siehe da, ihm antwortete ein ähnliches, un­ endlich bezeichnendes Zucken des rechten Auges. Freilich schien die dunkle Schöne im gleichen Augenblick das unbedachte Muskelzerren zu bereuen; sie blickte bescheiden in den Teller und lauschte wieder den Bemerkungen des mißgeboreüen Französleins. Aber es ge­ nügte Philipp.

Ernst goß in heiliger Begeisterung ein Glas Wein hinunter.

„Man muß das Weib aus den Klauen jenes Pavians befreien," rief er. Philipp sah seinen Freund höchst verwundert an. Woher auf einmal dieser Umschwung, fragte er sich. Und Ernst schien selbst etwas von dieser Ueberraschung zu verspüren. Fast als entschul­ dige er sich, sagte er: „Sie wissen, von dem sogenannten schönen Geschlechte, von allem, was aus der nur allzu gebogenen und verlogenen Nippe gemacht ist, habe ich genug! — Aber wenn ich eine alleinstehende Reisende von einem solchen Satyr umgarnt sehe . . . ." „Um Gottes Willen, Ernst! Was wissen Sie davon, ob sie sich in dieser Umgarnung vielleicht nicht ganz außerordentlich wohl fühlt. Was wissen Sie überhaupt von jenem Frauenzimmer?" „Ich nehme an, sie ist eine Dame aus guter Familie, die zu den Ihrigen nach Afrika zurückkehrt." „Ich meine, sie wird der Stern eines Tingeltangels in Casa­ blanca sein." „Unsinn, dazu ist der Typus viel zu vornehm." „Wir werden ja, wenn wir Glück haben, sehen." „Auf Deck werden wir wohl eine Anknüpfung finden." „Es wird Ihnen hundert Francs kosten und — auf dem Schiffe — recht unbequem sein. Ueberlassen Sie Ihren feisten Schützling heute lieber jenem Pavian und versuchen Sie morgen Ihr Glück in sicherem Hafen!" „Mensch, Ihre Phantasie ist unrein wie eine Kloake!" „Freilich mag in Ihrem kristallklaren Tugendspiegel gesehen meine Mentalität recht düster erscheinen. Aber nichtsdestoweniger legen Sie Ihr Geld auf dem Lande bester an!" Ernst war sichtlich gekränkt und sprach während des Mahles nicht mehr viel. Er ließ seine Blicke durch die Schießbrille weit im Kreise gleiten; sie blieben aber immer wieder auf dem Busen der schönen Spanierin haften. Philipp wurde recht nachdenklich.

ie Reisenden nahmen aus Deck den Kaffee ein, um die kühle Abendbrise zu genießen, oder gingen spazieren. Die Offiziere hatten ihre zugehörigen Dämchen im Arm eingehakt und schritten

S

Brinkmann, Wallfahrt

6

martialisch um das ganze Verdeck im Kreise herum. An die Bord­ wand gelehnt stand das deutsche Ehepaar in leiser Unterhaltung. Nicht weit davon blickte der Mann im Tropenhelm, der seine kurze Pfeife mit unnachahmlicher Kunstfertigkeit qualmte, kritischen Blickes auf die Passagiere, über die er offenbar scharfsinnige Be­ obachtungen anstellte. Ernst saß mißgestimmt vor seiner Kaffeetasse. Die schöne Spanierin war seinen Blicken entschwunden. Aus dem Zwischendeck erklang Musik. Die Truppen gaben sich ihren Feierabendvergnügen hin. Philipp lehnte sich über das Geländer des oberen Verdecks und sah dem munteren Treiben der Soldaten zu. Sie hatten einen großen Kreis gebildet, in dessen Mitte die Kunstfertigen unter ihnen ihre Meisterstücke zeigten. Akrobaten und Tänzer waren die hervorragendsten Artisten. Und reicher Beifall aus der anspruchslosen Menge lohnte den Künstlern. Dann begab sich Philipp nach unten, um sich das französische Militär etwas näher anzusehen. Ihn interessierte ein Soldat, der auf einem zusammengerollten Schiffstau saß und die Tänzer mit seiner Guitarre begleitete. Nachher, als die Hauptsterne dieses Kommißkunsthimmels müde geworden waren, spielte der Mann allein weiter und begann auf einmal zu singen — in spanischer Sprache. Es war eine Granadina von allerreinstem Wasser, das in Spanien allbekannte Lied: Adios Granada, Granada mia. Ya no volvere verte mäs en la via, Y me da pena Vivir lejos de tu vera, Del sitio donde reposa Et cuerpo de mi morena. Der Tirailleur sang mit guter, klarer Stimme ausdrucksvoll und mit Empfinden. Und die elegische Weise schien, obgleich die Mehrzahl der Soldaten die Sprache nicht verstand, auch den un­ geteilten Beifall der sonst so lustigen Spaßvögel zu finden. Philipp fing, nachdem der melancholische Kriegsmann Gesang und Guitarrenspiel beendigt hatte, ein Gespräch in spanischer Sprache mit ihm an. Er erfuhr, daß Manolo Lopez aus dem Innern von Oran stamme, wohin sein Vater vor Jahrzehnten aus

Spanien eingewandert war und wo er einen kleinen Weinacker pflegte. Er spräche kaum etwas Französisch, und in der Einsamkeit ihres Ledens kämen sie auch mit den Franzosen nicht in Be­ rührung; in ihrem kleinen Dorfe wohnten nur Spanier, Juden und Araber. Aber dann sei er zum Militär ausgehoben worden', natürlich zu den Tirailleurs. Und auf einmal hätte es geheißen, sie müßten nach Frankreich, um ganz gehörig gedrillt zu werden; aber man hätte ihnen etwas vorgemacht: man sei nun auf dem Wege nach Marokko, um dieses Reich zu erobern, also in den Krieg zu ziehen. Philipp fragte, ob er sich denn nicht auf den Feldzug freue. Es gäbe doch da leicht Beförderung und womöglich sogar das Kreuz der Ehrenlegion. Auf alle Fälle sei es aber immer noch lustiger als ein langweiliger Dienst im oranischen Fort. „Valgame Dios, die Ehrenlegion ist nicht für die Tirailleurs bestimmt! Und im Fort — da war man doch wenigstens nahe bei der Heimat, bei Muttern. Und wer weiß, ob man jemals wieder aus dem Kriege zurückkommt. Der Krieg ist etwas Schreck­ liches, und die Marokkaner fechten wie die Leoparden!" Der gute Manolo war offenbar kein Kriegsmann. Und die Sache der Franzosen schien ihn nur wenig zu bekümmern. Er lebte mit allen Fasern seines Herzens im heimischen Dorfe fern im Innern Orans, das seinem Wesen nach ntit Frankreich nur die politische Organisation gemein hat; in Wirklichkeit ist es eine spa­ nische Kolonie auf arabischem Boden. Er besaß keine anderen Lieben als sämtliche Mädchen im Dorfe, den We.inacker seines Vaters und seine Guitarre, zu deren Spiel er die Weisen seines spanischen Vaterlandes sang, seiner wahren Heimat, die er nicht kannte, aber die ihm doch-tief im Blute saß. Philipp reichte ihm schließlich seine Zigarrentasche hin. Be­ scheiden nahm der Soldat sich eine Zigarre heraus; nur mit Mühe konnte er ihn dazu bewegen, sich etwas reichlicher zu versehen. Einer Laune folgend schrieb er in sein Notizbüchlein noch den Namen und Truppenteil des Tirailleurs. Dann wünschte er ihm glückliche Reise und kriegerische Sortiern im Atlasfeldzuge. Als er zurücktrat, stieß er auf das Siebenmonatskind, das hinter ihm stand und seiner Unterhaltung mit dem Soldaten geß*

folgt zu sein schien, sofern es spanisch verstand. Und als Philipp sich später noch einmal umwandte, sah er, wie der kleine mißgeborene Franzose zu Manolo herangetreten war, um ihn augen­ scheinlich auszufragen. Jener machte sich daraufhin einige Auf­ zeichnungen in sein Notizbuch. Philipp ging kopfschüttelnd weiter feines Weges und wunderte sich, wofür sich nicht alles die Leute in­ teressierten. Er begab sich wieder auf das Promenadendeck, uw nach seinem Freunde zu suchen. Der war aber verschwunden. Ueberhaupt war fast niemand mehr von den Passa­ gieren zu sehen; augenscheinlich hatten sich alle, da das Wasser immer unruhiger wurde, in ihre Kabinen geflüchtet. „Er wird nun endlich, trotz seiner Bärennatur, ruhebedürftig geworden sein," dachte Philipp bei sich. „Es sind doch anstrengende Tage gewesen; und wir haben uns nun bereits schon zwei Nächte hintereinander um die Ohren geschlagen, ohne Ruhe zu finden. Der Schlaf während der Ueberfahrt von Algeciras nach Tanger war etwas zu kurz, um zu zählen." Obgleich er selbst sehr müde war, entschloß er sich doch, noch einige Male um das Deck herumzuwandern, um dem Freunde Zeit zu geben, richtig einzuschlafen.

Wie groß war aber seine Ueberraschung, als er nichts Böses ahnend und entfernten Gedankengängen folgend, auf seinem Spa­ ziergang unwillkürlich durch das Fenster in den sogenannten Damensalon blickte und als einzige Insassen in einem Winkel die üppige, weißgekleidete Spanierin sah, die bei Tisch so sehr die Aufmerksamkeit der beiden Freunde erregt hatte, und an ihrer Seite — Ernst! Die Größe des plötzlichen Umschwunges in dessen Stimmung wurde besonders durch die Teetasse klar, die vor ihm stand; denn sonst war der erhabene Mann immer ein abgesagter

Feind von dem „Schlabberwasser", wie er sich ausdrückte, ge­ wesen, wenn es auch durch noch so viel Rum gemildert war. „Gottlob," dachte Philipp bei sich, „so hat der geschworene Misanthrop und besonders Misogyn doch wieder die Anknüpfung an seine Umwelt gefunden und wird bald wieder der Alte sein!" Er beschloß in mitfühlender Menschenfreundlichkeit, das traute Idyll in keiner Weise zu stören, und zog sich in seine Kajüte zurück. Da das Schaukeln immer heftiger wurde, war es keine Kleinig­ keit, mit gesundem Magen ins Bett zu gelangen. Aber die große Müdigkeit verhalf ihm rasch zum heilbringenden Schlummer.

hilipp wurde durch ein Geplätscher beim Waschbecken geweckt. Erstaunt richtete er sich von seinem Lager auf und sah, daß die Morgensonne golden in die Kajüte hinein­ leuchtete und sein Freund bereits mit der Toilette beschäftigt war. „Sie haben nicht geschlafen?" frage er verwundert, als er bemerkte, daß dessen Bett unberührt war. „Wozu denn auch?" erwiderte Ernst; „schon Friedrich der Große sagte, daß das Schlafen eine zeitraubende und nutzlose Beschäf­ tigung sei. Auch Sie tun besser, sich zu erheben; denn ich sah eben von Deck aus die Küste von Casablanca aus dem Meere steigen." „Haben Sie denn wenigstens die Nacht güt angewandt?" fragte

Philipp mit etwas zweideutiger Miene. „Wie man es nehmen will," erwiderte Ernst gedehnt. „Ich glaube, darüber hat man niemals ein ganz richtiges Urteil." „Nun, war es denn wenigstens nett?" „Wenn Sie etwas von mir wissen wollen," sagte der kleine Herr ein wenig gereizt, „so bitte ich, Ihre Fragen genauer zu präzi­ sieren; sonst bin ich nicht in der Lage zu antworten." „Wieviel?" „Was soll das ,wieviel^?" „Ich bin etwas neugierig zu erfahren, wieviel Ihnen denn eigentlich die edle Jungfrau für die Befreiung von dem Pavian ab­ genommen hat." „Bitte, verschonen Sie mich mit Ihren Anzüglichkeiten!" „Sie verlangten doch genaue Fragen." „Und Sie sollen auch eine genaue Antwort erhallen.

Fünf­

hundert Francs." „Für ein paar kurze Nachtstunden bei bewegter See bekommt nicht jede fünfhundert Francs!" „Damit ich endlich Ruhe bekomme, will ich Ihnen beweisen» daß Sie trotz all Ihrem nüchternen Verstandstume diesmal gründ­ lich auf dem Holzwege find. Die Dame ist eine höchst anständige Frau."

„So are we all, all honorable men," glossierte Philipp. Aber Ernst ließ sich nicht stören. „Eine unglückliche Witwe," fügte er hinzu. „Auch das sagen alle." „Und das Schlimmste ist, sie findet keinen Beistand in ihrem Unglück." „Außer bei Ihnen, aber dann gleich in ausgibigstem Maße." Ernst überhörte auch das. „Es müssen doch schauderhafte Zustände in diesem Lande herr­ schen," sagte er. „Irgend so ein Schuft von maurischem Pascha har ihre Tochter entführt, ein junges, unschuldiges Ding von vierzehn Jahren. Trotz allem Bitten und Flehen der trostlosen Mutter tun aber die Machthaber in diesem Lande, die Franzosen, nichts für sie. Wahrscheinlich haben sie politische Gründe, den Kerl nicht zu ver folgen und scharf anzufassen. Alle Schritte, die die unglückliche Frau in ihrer Not getan hat, sind erfolglos geblieben. Sie hat sich nach Tanger begeben, um dort ihr Recht oder doch wenigstens Unter­ stützung zu finden; aber auch das hat nichts genutzt. Nun hat sie mich angegangen, ob ich vielleicht etwas durch Vermittlung der deutschen Behörden tun könnte; aber da Madame Lolita eine Spanierin ist, kann ich ihr selbstverständlich auf diese Weise auch nicht helfen. Ich riet ihr, die Sache einem tüchtigen und womöglich auch einflußreichen Advokaten in die Hand zu geben; aber da rückte die arme, vielgequälte Frau mit dem bittern Geständnis heraus, daß ihre wirtschaftliche Lage ihr nicht dergleichen kostspielige Schritte gestatte. Worauf ich ihr selbstverständlich meine Börse zur Verfügung stellte." Philipp hatte dieses Geständnis der beinahe sträflichen Leicht­ gläubigkeit seines Freundes mit Schrecken angehört. „Glauben Sie denn selbst, daß Sie das glauben, was Ihnen das Frauenzimmer vorgeschwindelt hat?" fragte er. „Ich sehe ein, daß es besser ist, wir unterhalten uns nicht mehr über diesen Gegenstand," erwiderte Ernst bissig; „denn sonst wür­ den wir kaum unsere Reise gemeinsam fortsetzen können. Aber Ihre Gefühllosigkeit setzt mich in Erstaunen." „Es soll mich freuen, wenn es sich wirtlich bestätigt, daß ich in dieser Angelegenheit nur gefühllos bin," erwiderte Philipp.

„Sie haben nicht einmal ein Recht zur Gefühllosigkeit. Bei mir war es etwas anderes. Ich glaubte, allen Grund zu haben, herz­ los zu fein, ja sogar Rache zu nehmen; diese Nacht aber, als ich das unglückselige Schicksal, von dem ich Ihnen erzählte, fast mit­ erlebte, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich sah ein, daß wir in unserer Rache uns doch nur immer an den Unschul­ digen rächen. Es ist eine unglückselige Kette, in der das Unheil von Glied zu Glied weiterfrißt; die Welt erfüllt sich lawinenhaft mit dem Uebel und wird zu einem Iammertale. Ich habe einem Frauenzimmer, das meinem Herzen, weiß Gott, nahestand, meine teuerste Violine auf dem Kopf zerschlagen müssen. Das war nötig. Aber daran müßte ich es mir genug sein lassen. Warum sollen Un­ schuldige darunter leiden!" Philipp horchte gespannt auf. Jetzt kommt endlich die Lösung des Geheimnisses, dachte er. Aber Ernst schwieg beharrlich und be­ endigte seine Toilette.

So blieb Philipp nichts anderes übrig, als leichthin zu be­ merken: „Gottlob, es scheint mir, wir haben Sie der Menschheit wiedergewonnen! Dann sollen mir auch die fünfhundert Francs, zumal es nicht mein Geld ist, nicht weiter leid tun." Ernst sah seinen Freund mit einem sehr verschmitzten Blicke an, sagte aber nichts.

c^/'ls die beiden, etwas verspätet, an Deck der Dukala kamen, hatte AL die Ausschiffung der Truppen bereits begonnen. Zahllose Leichter lagen um den Dampfer herum, zu denen die Soldaten ge­ wandt hinabkletterten. In der Ferne, über dem graugrünen Meere, erhob sich aus der gelbgrauen Wüste ein weißes Mauergewirr, nur von ein paar Minarets und den fernen Wimpeln der europäischen Konsulate überragt. Die matte Märzsonne sandte ihre goldgrauen Strahlen mühsam von dem graublauen Himmel durch den feinen grauen Morgendunst des Meeres. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie," zitierte Ernst beim Anblick dieser zarten, im ersten Eindrücke vielleicht etwas nichts­ sagenden, aber für das empfindliche Auge wundervoll abgeklärten Farbentönung; dann fuhr er hoffnungsvoll fort:

„Doch grün des Lebens goldner Baum! Das wollen wir nicht vergessen. Und siehe da, das Leben packt uns bereits wieder." Da­ bei zeigte er auf einen braunen Kerl, der ihn am Arme zupfte und lebhaft auf ihn einsprach. „Da Sie das Arabische besser beherrschen als ich — wenigstens nehme ich das an, ich habe Ihnen ja das Studium frühzeitig genug angeraten — können Sie die leidige Gepäckangelegenheit mit dem Burschen verhandeln; denn das ist wohl fein Anliegen. Ich werde aus der Ferne die Landungsmanöver überwachen." Philipp wies die Bequemlichkeit des Freundes picht gebührend zurecht, da man ja, wenn man sich auf Ernst verließ, das Gepäck doch nicht ans Land bekommen konnte. Er faßte daher geduldig den braunen Kerl bei der Jacke, zog ihn zur Kabine herab, zeigte ihm die beiden Gepäckstücke, das eine leichte, das Ernst gehörte, und fein eigenes, das etwas schwerer war, und suchte mit ihm durch Gebärden und ein paar französische Brocken, die der Araber aber nicht zu verstehen vorgab, einen Vertrag zu schließen, dessen wich­ tigste Bestimmung der Transport der beiden Koffer von der Schiffskabine bis zum Eingang der Stadt war, alle Nebenspesen und Extraleistungen, zum Beispiel auf dem Zollamte, eingeschlossen, für eine einmalige Zahlung von fünf Francs. Der braune Jüng­ ling tat so, als wäre er einverstanden, allerdings nicht, ohne in längerer und augenscheinlich blumenreicher, wenn auch von Philipp durchaus nicht verstandener Rede auf die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten hinzuweisen, die für ein so beispiellos geringes Geld zu bewältigen wären. Als Philipp endlich wieder an Deck kam, fand er den Freund in einiger Entrüstung vor. „Das kommt davon, wenn man Ihnen etwas anvertraut. Sie entdecken in allem die größten Schwierigkeiten. Wenn ich nicht ein so erstaunlich guter Kamerad wäre, hätte ich Sie samt Ihren Gepäckstücken Ihrem Schicksale überlassen und wäre allein weitergezogen; denn durch Ihre Saumseligkeit haben Sie mich um die Ehre und das Vergnügen gebracht, zusammen mit der be­ klagenswerten Lolita zu fahren — sehen Sie, dort das Boot be­ findet sich schon fast an der Landungsbrücke, und ich sitze noch immer hier und warte auf Sie und das verdammte Gepäck."

Philipp senkte schuldbewußt sein sündiges Haupt, meinte aber

schließlich versöhnlich: „Nun, Casablanca ist keine Millionenstadt. Wir werden wohl sämtliche Passagiere der Dukala im Laufe des Tages wiederfinden, auch Ihre entzückende Freundin!"

„Beschönigen Sie nur noch durch verführerische Vorstellungen Ihre Saumseligkeit!" In einem wilden Gedränge von Passagieren, Koffern, Offizieren und- Gepäckträgern fanden sich unsere beiden Wanderer auf einem

Ruderboote wieder. Die Dampffähren schienen sich um die Nach" zügler der Dukala nicht mehr zu kümmern. Wie langsam regten sich die Ruderschläge der bequemen Schiffsknechte im roten Fez und weißen Turban, die mehr mit Maul und Zunge, als mit den Armen arbeiteten, für Ernstens Ungeduld! Aber die Stadt kam endlich näher; die Schuppen am Hafen, die Laufkrähne der neuen Mole, die sich aus mächtigen Zementblöcken zusammenfügte, wurden immer deutlicher: ein höchst unschöner, chaotischer Anblick, wie etwas Gewaltiges, das gern Form werden möchte und doch nicht Form werden kann, weil es an der ordnenden Geschicklichkeit fehlt.

Und endlich waren sie am Lande. Gepäck zur Zollrevision.

Natürlich schleppte man das

Ernst, der von einer unerklärlichen Eile getrieben war, schimpfte gewaltig.

„Das Leben wird einem durch die satanische Erfindung der Zoll­ quälerei zur Hölle gemacht! Gegen alle Harmlosigkeiten unserer menschlichen Ordnung entfesseln sich Revolutionen und, weiß Gott, oft genug blutiger Natur! Aber daß man diese Natter der Ge­ päckrevision, diesen höhnischen Eingriff in die heiligsten Rechte des Eigentums und der Diskretion und der persönlichen Schamhaftigkeit ernsthaft bekämpft hätte, das ist mir nicht bekannt. Vor den frechen Augen eines dieser erbärmlichen Zöllner, von deren Tugendhaftig­ keit schon die Heilige Schrift ein Lied zu singen weiß, mit vor Auf­ regung zitternder Hand ein schwieriges Schloß öffnen zu müssen, und dazu noch als stände solch ein Kerl mit der Hetzpeitsche hinter einem — das ist menschenunwürdig. Was geht es diese Schufte an, was für Tabak und in welchen Mengen zu rauchen ich für gm befinde? Es ist ein himmelschreiender, ein verbrecherischer Eingriff in unsere heiligsten Menschenrechte. Spätere Jahrhunderte werden sich wundern, wie es denn eigentlich möglich war, daß urifer Ge­ schlecht sich nicht gegen diesen Zwang aufgelehnt hat, daß man nicht die Zöllner aus dem Tempel unserer Einrichtungen hinaustrieb! Den alten ehrlichen Schmugglern aber, die in ungleichem Kampfe gegen diese verhaßte Einrichtung der menschlichen Gesellschaft ihr Blut vergießen und ihr Leben lassen, wird man Ruhmeshallen und Siegesbogen errichten!"

Dann aber hielt Ernst in seinem plötzlichen Zornesausbruch ein; als er sich ein wenig beruhigt hatte, fuhr er weit milder gestimmt fort: „Es ist aber wohl nur eine Tatsache mehr für den Beweis des Antagonismus in unserer Natur, die uns, obgleich wir zur Gesellig­ keit bestimmt sind, so ungesellig macht. Dampfer und Eisenbahnen vermitteln unseren Herdentrieb mit hunderttausend Pferdekräften: es ist, als könnten wir gar nicht genug davon bekommen, um dann aber durch die Gepäckrevision alle Erleichterungen, die die Technik geschaffen, wieder aufzuheben und ins Gegenteil umzukehren. Der Fall liegt genau so wie beim Geselligkeitsdrang zwischen Mann und Weib; sie können es gar nicht erwarten, zueinander zu kommen, bis es endlich gelungen ist, um sich das Leben in der Ehe zur Hölle zu machen — aber laß die Leutchen nur geschieden oder verwitwet fein; sie beginnen das gleiche Spiel sofort wieder von neuem!" „So wie wir eben trotzdem wieder reisen." „Der Antagonismus! Aber trotzdem — meine Nerven halten eine Gepäckrevision nicht mehr aus. Ich kann es leider nicht. Sie nehmen mir doch die Sache ab?" „Quod erat demonstrandum. Sela!" Der Zöllner unterwarf unterdessen Philipp dem üblichen Ver­ hör. Ob er etwas zu deklarieren habe. Natürlich nicht. Dann eine unvorhergesehene Frage: die nach Waffen. Philipp ließ ein strammes „Nein!" dem Gehege seiner Zähne entschlüpfen, da er überhaupt alle Fragen mit „nein" zu beantworten gesonnen war. Aber er dachte doch mit Schrecken an das Patronenkästchen auf dem Boden seiner Reisetasche. Es ging jedoch noch^ einmal gut ab; mit den meisterhaften Griffen eines geübten Zollwächters fuhr der Be­ amte die Wandungen der Tasche entlang bis auf den Grund und kehrte alles von oben nach unten; zufällig entging ihm aber die gefährliche Patronenschachtel: und indem er sein urgeheimnisvolles Pentagramm auf die Gepäckstücke malte, erklärte er diesen wichtigen Akt der ausübenden Staatsgewalt für abgeschlossen. Der Araber­ jüngling, der nun bereits zum zweiten Male erklärte, daß er seine Mission für beendigt und den Kontrakt für erfüllt betrachte, nahm unter dem Ausdrucke des lebhaften Widerwillens das Gepäck wieder auf, und Philipp sah sich nach seinem grollenden Reisegefährten

um. Der hatte sich, wie gesagt, aus Rücksicht auf seine Nerven­ schwäche von dem verhaßten Zollamte möglichst ferngehalten und erfreute sich damit, zunächst eine Schar von Kindern, dann eine Gruppe von grinsenden Arabern, denen der wunderliche kleine Herr die hochwillkommene Gelegenheit gab, ihre Arbeit, die nie im Ernste ausgenommen war, wieder einmal zu unterbrechen, durch seinen Kodak zu verewigen. Dann wandten sich die beiden Freunde der Stadt zu, da ihr Gepäckträger, der fortwährend ebenso lange wie unverständliche Reden hielt, zur Eile drängte. An einem kleinen Wachhäuschen wurde ihnen aber durch einen Schutzmann Halt geboten: die Hafen­ polizei. Entrüstet drängte sich Ernst vor, um den Mann abzu­ fertigen, der sich so unzart in seine Geheimnisse drängen wollte. Philipp traute seinen Ohren nicht. Schon die Feststellung der Namen hatte Ernst" zu einigen weit­ läufigen Auseinandersetzungen mit dem Hüter des Gesetzes ver­ anlaßt; auf die Frage nach der Nationalität erwiderte er be­ scheiden und etwas kleinlaut: „Wir sind nur Deutsche". Dann aber, als er nach dem Alter gefragt wurde, begehrte er auf: „Mein Herr Polizeichef, müssen wir auch das noch angeben? Das find doch gar zu indiskrete Fragen! Das geht doch wirklich etwas zu tief in das Innere der Persönlichkeit!" „Es ist meine Pflicht zu fragen, und die Ihre zu antworten!" „Pflicht? Ich kenne nur den Begriff der sittlichen Pflicht. Es liegt vielleicht eine Verwechslung mit Zwang vor. Und dem Zwange habe ich mich wohl zu fügen. Nun — ich bin fünfund­ zwanzig Jahre alt, und somit unbescholten. Mein Freund ist, wenn mich nicht alles täuscht, hoch in den Dreißigern. Schreiben Sie neununddreißig, Herr Polizeichef; denn darüber geht er sein Lebtag nicht hinaus. Es ist ausgesprochen etwas Feminines in seinem Charakter!" Der brave Beamte schien von einer bewunderungswürdigen Ge­ duld' zu sein. Er griff aus dem Wortschwalle des Reisenden die angegebenen Ziffern heraus, wobei er doch etwas bedenklich mit den Augenbrauen zuckte, als er an der entsprechenden Rubrik die „25" eintrug. „Welchen Zweck verbinden Sie mit Ihrer Reife?"

„Das war eigentlich ein Geheimnis, Herr Polizeidirektor. Aber da es nun doch einmal Gemeingut der Öffentlichkeit geworden zu sein scheint, so stehen wir nicht an, auch hierin unserer Zeugen­ pflicht zu genügen. Ich möchte indes vorausschicken, daß wir es bis gestern selbst noch nicht wußten!" Der Beamte wurde immer ungeduldiger. „Mein Herr, ich habe keine Zeit überflüssig!" „Sehen Sie, so geht es uns auch. Und doch werden wir auf­ gehalten und ausgefragt und mit Feststellungen belästigt, die nie­ manden etwas angehen!" Der Mann im Wachhäuschen schien sich zu resignieren. „Es. liegt nur an Ihnen, ob Sie rasch oder langsam abgefertigt werden!" „So wollen wir das Verhör schließen. Mir liegt nämlich auch nichts daran." „Ich habe noch den Zweck Ihrer Reise festzustellen." „Nun fangen Sie wieder von vorne an. Gut, mir auch recht. Also der Zweck der Reise: Wir gründen eine Brauerei." „Also Geschäfte!" „Ich weiß nicht, ob das ein Geschäft ist. Aber wenn Sie es uns garantieren " „Danke sehr, ich bin fertig!" Philipp zog seinen Freund am Arme fort. Er machte ihm bittere Vorwürfe: „Es hätte leicht einen recht unangenehmen Zwi­ schenfall geben können! Wozu machen Sie uns künstlich Schwierig­ keiten?" „Lieber Freund — ich bin in das Land gekommen, um Studien zu machen. Und die Spezies Polizei ist überall eines der geeig­ netsten Objekte. Das hätte einmal ein deutscher Schutzmann sein sollen!" . amit waren indessen die Leiden des Eintritts in das französische Protektorat überstanden. Die Reisenden standen als freie Leute im Stadttor; aber ein wenig erschöpft überließen sie sich willenlos dem Portier des Grand Hotel, der ihrem Träger das Ge­ päck aus der Hand nahm und sie in seinem Hause abzusteigen hieß. Unsere Freunde waren mit dem Hotel, das ihnen also gewalt­ sam angewiesen war, nicht unzufrieden. Es war ein großes, ganz

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neues Gebäude, das sich in der Nähe des Meeres aus einer Sand­ wüste erhob. Wenn die Einrichtung auch nicht ganz so üppig war, wie man sie in erstklassigen Hotels der europäischen Metropolen findet, so war doch alles neu und frisch.und machte daher einen wohnlichen Eindruck. Ernst fühlte sich auch gleich wie zu Hause, besonders als er ent­ deckte, daß das Stubenmädchen, das ihm Wasser brachte, aus Triana stammte, also aus seiner nächsten Nachbarschaft. Allerdings wun­ derte es ihn, daß sich Teresita seiner nicht erinnerte, da ihn doch sonst jedes Kind auf der Straße kannte; das Mädchen erklärte das aber damit, daß es bereits seit mehr als fünfzehn Jahren Sevilla verlassen habe und seitdem nicht wieder in die Heimat zurückgekom­ men sei. „Es ist gut, daß ich nicht viel Gepäck bei mir habe," sagte Ernst, „sonst würde ich mich hier wohnlich einrichten und dann nicht mehr so leicht fortkommen." Philipp hatte den heimlichen Verdacht, daß es wohl mehr die Erinnerung an die schöne Lolita sei, die seinen Freund auf einmal so seßhaft zu machen schien; aber er gab seinen Empfindungen keinen Ausdruck. Da es wegen der großen Hitze nicht geraten war, noch vor Tisch einen Spaziergang zu machen, setzten sich unsere Freunde in die Kühle der großen Halle und schmiedeten Pläne, was sie in den nächsten Tagen unternehmen wollten. Philipp schlug vor, zunächst einmal den Brief des Gesandten an den Konsul abzugeben und mit ihm bekannt zu werden; aber Ernst lehnte das ab. „Erstens wer­ den wir den Herrn heute am Sonntag überhaupt nicht frechen tonnen, und zweitens ist mir unser Besuch bei den hohen Be­ hörden in Tanger schon genügend in die Glieder gefahren, daß ich zu einer Wiederholung sobald keine Lust habe!" Zu ihrem Schrecken setzte sich Herr Holmscher zu ihnen, der ebenfalls im Grand Hotel Unterkunft gefunden hatte. Er brachte die Rede sofort wieder auf die zu gründende Bierbrauerei, die ihn gewaltig zu interessieren schien. Als aber Ernst, dem dieser Un­ sinn anfing lästig zu werden, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben suchte, indem er sich nach den Reiseplänen des geschwätzigen Lockenkopfes erkundigte, wurde dieser äußerst geheimnisvoll.

„Well — das hängt von so vielem ab, worauf ich leider gar keinen Einfluß besitze," sagte er; „vielleicht, wenn ich Glück habe, kann ich hier bleiben; vielleicht muß ich aber auch weiter in das Land hinein reisen. Heute jedenfalls habe ich einen Ruhetag, da ja wegen des Sonntags die Geschäftshäuser geschlossen sind." Jetzt kam ein Herr herbei, der unsere Freunde fragte, ob sie so und so hießen, und als ihm das bestätigt wurde, sich als Meyer vorstellte und erklärte, daß er von seinem Bruder aus Tanger ein Telegramm erhalten habe, worin ihm die Ankunft der Herren mit­ geteilt worden sei. Selbstverständlich halte er es für seine Pflicht, sich für alle gewünschten Dienste zur Verfügung zu stellen, sei es nun als Führer durch Stadt und Land oder als Vermittler bei irgendwelchen geschäftlichen Unternehmungen. Ernst fuhr ein mächtiger Schreck durch die Glieder. Nun wer­ den wir wieder mit Grundstücksspekulationen verfolgt werden, dachte er bei sich und sann darüber nach, wie er sich diesem Attentate auf seine Ruhe auf die rascheste und sicherste Weise entziehen könnte. Er war indessen mit seinem Gedankengang noch nicht fertig, als Herr Meyer II auch wirklich von dem Grundstückshandel zu erzählen begann. Allerdings pfiff bei ihm der Wind aus einer anderen Richtung. Während der ältere Bruder in Tanger von den Möglichkeiten dieses Geschäftszweiges mit glücklichstem Optimismus geredet hatte, war bei dem jüngeren Herrn alles Melancholie und Pessimismus. Aber er hatte einen andern, verwandten Geschäfts­ zweig anzupreisen. „Man kann nämlich auch die Grundstücke auf vierzig oder hun­ dert Jahre mieten," sagte er, „wenn man den Mietzins für die ganze Zeit auf einmal vorausbezahlt. Praktisch kommt das natürlich auf einen Kauf heraus, da man in den Vertrag die Klausel hinein­ nimmt, daß nach Ablauf der Mietzeit der Besitzer die auf dem Grundstück aufgeführten Baulichkeiten oder sonstigen Meliorationen in bar zu bezahlen habe, oder der Mietsvertrag stillschweigend weitergehe. Gegen diese Art von Geschäften kann natürlich die französische Chikane nichts machen, und man findet für sein Kapital auch so eine lohnende Anlage." Er vertiefte sich nun in die Einzelheiten dieser schönen Betrieb­ samkeit und schilderte an Hand von praktischen Beispielen die ge-

radezu glänzende Verzinsung, die einige Mieter von Grundstücken für ihr Geld erzielt hatten. Ernst aber ging auf nichts ein, son­ dern stellte plötzlich fest, daß er Hunger habe, und lud Herrn Meyer II zum Essen ein. Herr Holmscher setzte sich ungeniert zu unseren Freunden, in­ dem er harmlos voraussetzte, die Herren werden wohl nichts da­ gegen haben.

Der Speisesaal war sehr gut besetzt; augenscheinlich schien die ganze Haute Volöe von Easablanca dort ihre Mahlzeiten einzu­ nehmen; zudem hatten die Passagiere der ersten Klasse der Dukala ziemlich vollzählig im Hotel Unterkunft gefunden. Auf jeden Fall bemerkten unsere Freunde an einem Tische in der Nähe das deutsche Ehepaar. „Ich fürchte, man wird noch auf der ganzen Reise bis nach Fes zusammenbleiben," sagte Ernst ärgerlich. „Sie meinen also auch, daß das Pärchen in das Innere des Landes geht?" fragte Herr Holmscher lebhaft. „Wie soll ich das wissen?" erwiderte Ernst. Er war im Grunde etwas über dieses lebhafte Interesse des jungen Mannes für Leute, die ihn augenscheinlich nichts angingen, erstaunt. Um den geschäftstüchtigen Herrn Meyer los zu werden, be­ hauptete unser Freund, nachdem die Mahlzeit beendet war, ein unbezwingbares Bedürfnis zu fühlen, sich zur Siesta niederzu­ legen. Er war ja auch infolge der langen schlaflosen Nächte der letzten Zeit und der ungeheuren Hitze, die an diesem Iulitage in Casablanca herrschte, sehr müde.

>V^hilipp erwachte plötzlich. Der wohlbeleibte Freund stand im Nachthemde an seinem Bett. „Hören Sie nur!" sagte er mit allen Zeichen des Schreckens. Als der andere sich ein wenig von seinem Erstaunen über den Anblick des korpulenten Gespenstes erholt hatte, vernahm er, wie aus einem der Nebenzimmer höchst stümper­ hafte Versuche auf einer Geige erklangen. „Ich war in dem schönsten Traume befangen," sagte Ernst; „aber dann wurden mir mit einem Male die Nerven meines Gehöres und die Fasern meiner Seele von dieser Katzenmusik zerrissen. Brink ni «im, Wallfahrt

Wenn das nicht bald aufhört, müssen wir ausziehen! Ich halte es keine Stunde länger aus! O, warum nur werde ich so gestraft?" Philipp schlug vor, sich erst einmal zu erkundigen, wer denn eigentlich der unglückselige Musi­ kant sei. Man rief nach Teresita. Aus ihrer Beschreibung der fraglichen Per­ sönlichkeit ging dann zur größten Ueberraschung un­ serer Freunde her­ vor, daß dieses Stiefkind der Muse niemand, anders als Herr Holmscher sein könne. „Na warte," sagte Ernst, „dem werde ich das schon eintränken!" Die Mittagsruhe war nun doch einmal schnöde unterbrochen worden, und unsere Freunde setzten sich zum Kaffee in die Halle der

Hotels nieder. „Ich habe ein entsetzliches Grauen vor Sonntagnachmittags, fpaziergängen," sagte Ernst, „und wenn der Unglücksrabe von Grundstücksmakler nicht wiederkäme, möchte ich am liebsten zuhause bleiben. Aber es scheint kein Entrinnen zu geben" Kaum war ihm dieses Wort entfahren, als auch der erwähnte Herr diensteifrig erschien. Da Philipp selbst keine Lust hatte, den ganzen Tag ungenützt vorübergehen zu lassen, so muhte sich Ernst fügen; man trat den Spaziergang an. Im Grunde war es auch ganz unterhaltend. Herr Meyer wußte viel von allen Verhältnissen politischer und wirtschaftlicher Natur in Casablanca zu erzählen.

Er schien großes Interesse zu haben, den Fremden die Haupt­ straßen der Stadt zu zeigen, damit sie sich von dem aufblühenden geschäftlichen Leben der Stadt und vermutlich auch dem damit verbundenen Werte der Grundstücke überzeugen könnten. Aber da wegen des Sonntags die mei­ sten Geschäfte ge­ schlossen waren und nur die Cafos eifrig besucht schienen, bat Ernst, diesen Gang auf einen gelegene­ ren Tag zu verschie­ ben. Sie lenkten infolgedessen ihre Schritte dem Hafen zu, weil dort frischere Luft als in den meist recht anrüchigen Gassen Eisenbahngleis führte den ganzen Hafen entlang; zahlreiche Waggons waren mit Steinen, die aus Brüchen im Innern des Landes herbeigeholt wurden, hoch angefüllt. Auf jeden Fall sah man, daß an der neuen Mole lebhaft gearbeitet wurde und Casa­ blanca wirklich ein wichtiger Hafen an der afrikanischen Nordwest­ küste zu werden versprach. Diese Tatsache hob Herr Meyer auch gebührend hervor; nur war er damit unzufrieden, daß eine große Pariser Firma mit dem Hafenbau beauftragt worden war. „Sehen Sie, die öffentlichen Arbeiten dürfen nur auf einen internationalen Wettbewerb hin vergeben werden. So ist man ticnn natürlich auch hier vorgegangen. Die namhaftesten deutschen Firmen haben sich zusammen mit den Franzosen um das Geschäft beworben; aber letztere waren etwas billiger und erhielten den Auftrag." „Was wollen Sie also?" fraate Ernst.

„Das scheint freilich alles in Ordnung zu fein," sagte Herr Meyer; „es hat aber einen Haken. Die französische Firma fing wohlgemut zu bauen an, um schließlich zu erklären, daß sie wegen unvorher­ gesehener Schwierigkeiten . mit dem ausbedungenen Preise von fünfundzwanzig Millionen Francs nicht auskommen könne, worauf bereitwilligst weitere fünf Millionen bewilligt wurden. Merken Sie nun das abgekartete Spiel? Kein Unternehmer der Welt würde von einer Regierung, die eine halbwegs geordnete Finanz­ verwaltung hat, einen Mehrpreis, so gut oder so schlecht begründet er auch sein mag, zu verlangen wagen, geschweige denn erzielen könpen, wenn das nicht vorher bereits verabredet war. So ist es kein Kunststück, daß die französischen Firmen überall im Wett­ bewerb den Preis davontragen; und trotz aller internationaler Ver­ träge werden wir geschäftlich immer mehr in den Hintergrund ge­ drängt." „Run ja," sagte Ernst, „die Sache ist eben in Algeciras von Leuten abgemacht worden, die von Geschäften nichts verstehen oder sich haben tüchtig einseifen lassen. Aber was war anders zu er­ warten, wenn man sich unter den britischen Batterien zu inter­ nationalen Beratungen hinsetzt?" Es wurde dunkel; und man ging wieder in die Stadt hinein, um auf einem Umwege zum Hotel zurückzugelangen. err Meyer folgte natürlich auch der Einladung zum Abendbrot. Als es aber über dem Geplauder beim Kaffee bereits zehn Uhr geworden war und Ernst immer noch nichts von Schlaflust ver­ spürte, schlug der unermüdliche Führer vor, noch einmal einen Bummel durch die Stadt zu unternehmen und ein Vergnügungs­ etablissement aufzusuchen. Man ging also in das weltbedeutende Nouveau Dariets des Folies Bergöres de Casablanca, wo das Kleeblatt gegen Mitter­ nacht eintraf.

Eintrittsgeld wurde nicht unmittelbar, sondern nur durch den Zwang, etwas zu verzehren, erhoben. Das Programm wies auf spanische Tänze, die von ersten Künstlerinnen ausgeführt würden, und auf vortreffliches „Bock" aus Marseille hin.

Der Raum verriet die Jugend, mit der das Nachtleben in diesem afrikanischen Hafen üppig ins Kraut geschossen war; er war eine einfache, flüchtig aus Holz zusammengezimmerte und von Acetylen­ flammen erleuchtete Halle. Aber das Leben und Treiben darin war einer Großstadt würdig. Das Publikum bestand natürlich meist aus Männern, dem Charakter dieses Kunstetablissements und dem allgemeinen Frauenmangel in jedem jungen Kulturlande ent­ sprechend. Kaufleute aller Nationen und Militärs, meist jüngere Offiziere und Unteroffiziere, aber auch Soldaten, saßen bei ihrem Biere, qualmten und lachten. Alle Tische waren besetzt, so daß auf der Suche nach einem freien Plätzchen die beiden Freunde und ihr Führer bis unmittel­ bar an die Bühne herantreten mußten, auf der ein paar Künst­ lerinnen gerade eine groteske Rumba tanzten. Ernst stand stau­ nend da; das helle Rampenlicht umstrahlte sein gelocktes Haupt; er hatte die mächtigen Gläser seiner Schießbrille aufgesetzt, durch die er zu den holdseligen Damen emporblickte. Da hielt die eine t)ir= selben, in schwarzem Trikot, damit das wenige Fleisch des Halses, der Arme und Lenden besser zur Geltung komme, inne und blickte auf den kleinen Mann zu ihren Füßen; der Tanz war gestört. Der mit einem öligen Scheitel stattlich geschmückte Klavierspieler zog die Tatzen von den Tasten; der Kontrabaß blieb stecken, ohne den letz­ ten Strich, auf den er zwei ganze Takte zu verwenden hatte, zu Ende zu führen; nur eine der Violinen, die augenscheinlich irgend welchen angenehmen Erinnerungen aus Groß-Berlin nachhing, quiekte ihre Melodie weiter, bis auch sie, über die akustische Ein­ samkeit erschrocken, plötzlich verstummte. Die Dame im schwarzen Trikot aber klatschte in die Hände und rief vergnügt über die Rampe: „Don Ernesto, Don Ernesto!" Und die anderen Jung­ frauen drängten sich ebenfalls heran und stimmten in den Beifall ihrer Führerin ein. Da erschien auf der Bühne der Star des Kunsttempels, die göttliche Taponera, die gleichzeitig die Jmpresaria der munteren Schar von spanischen Feld-, Wald- und Wiesennymphen war. Augenscheinlich wollte sie nach der Ursache der Störung in der be­ treffenden Programmnummer forschen und nötigenfalls junonisch Zwischen die rebellische Jungfrauenschar fahren.

Das Publikum aber, das schon lange ungeduldig auf das erste Erscheinen der gefeierten Diva gewartet und noch nicht den Zu­ sammenhang dieser Vorgänge und die Ursache der seltsamen Störung erkannt hatte, brach in ein frenetisches Beifallklatschen aus, so daß unter dem stürmischen Jubel das allerdings leichte Gebäude des Theaters erheblich zu wanken anfing. Die Taponera aber lächelte dankbar, nickte freundlich nach Ernst hin und rief ihm einige Worte zu, die in dem allgemeinen Lärmen niemand verstand, auch nicht der also Ausgezeichnete.

Die schöne Tänzerin blieb dann stehen und wartete, daß das Klatschen aufhöre. Stolz wie eine Königin, hochgewachsen, sehr schlank, mit tiefbleichem Antlitz, dem sie durch einen schwarzen Schminkenstrich auf dem Nasenrücken etwas Grausames verliehen hatte, ließ die Andalusierin, die einen Beischlag von granadinischem Zigeunerbtute nicht verleugnen kannte, ihre auffallend grünen Raubtieraugen auf die losende Menge blitzen; nur manchmal wiegte sie sich etwas ungeduldig in den Hüften, daß der weite rotseidene, mit Flitterblättchen bestickte Rock rauschte und dabei Lichtgarben aus den vermutlich falschen Brillanten des hohen Kammes, der zwischen purpurroten Granatblüten aus dem schwarzen Haare her­ vorragte, funkelnd herausschossen. Als es endlich still geworden war, fing sie ganz ungeniert über die Rampe ein Gespräch mit dem kleinen wohlbeleibten Herrn zu ihren Füßen an; und der ganze Nymphenchor drängte sich hinzu und lauschte gespannt. Wesentliches hatten Freund und Freundin nicht zu verhandeln; es kam nur die Freude zum Ausdruck, die die Taponera augenscheinlich ehrlicherweise empfand, den Mann wieder­ zusehen, der in früheren Jahren sich ihr als freigebiger und kunst­ verständiger Mäzen erwiesen hatte. Ernst dagegen schien weniger davon erbaut zu sein, so der Mittel­ punkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu werden. Er riet daher, die Vorstellung nicht zu unterbrechen; man könne sich ja wohl nach­ her noch sehen und sprechen.

Die Darbietungen nahmen denn auch ihren Fortgang. Es kam die Glanznummer des Abends an die Reihe, einige Solotänze, von der Taponera in höchsteigener Person ausgeführt. Es war in der

Tat auch eine künstlerisch hochwertige Leistung, die dem Kennerauge des einstmaligen Protektors alle Ehre machte.

Während sich die große Mehrzahl der Gäste des Variötes zum Ausbruche anschickte, näherte sich unseren Freunden der Wirt des Lokals, der aus der vorhergegangenen Ovation von Seiten der Künstlerinnen wohl auf die Kapitalkraft und vermutliche Betriebs-

freudigkeit ber fremden Herren geschlossen haben mochte, um ihnen zu verstehen zu geben, daß er ihnen, wenn sie mit der berühmten Impresario noch etwas ungestört beieinanderbleiben wollten, ein sehr hübsches Zimmer zur Verfügung stellen könnte, das er nur ganz ausgezeichneten Gästen einräume. Ernst war auch nicht abgeneigt, von diesem freundlichen An­ erbieten Gebrauch zu machen. Während die Freunde aber dem Wirte ein paar lange und ziemlich finstere Gänge hindurch zum hinteren Teile des Gebäudes folgten, sagte er: „Der Kerl scheint uns für höchst willfährige Opfer seines Animierbetriebes zu halten. Nun, so ganz grün sind wir ja auch nicht mehr." Das Zimmer, in das sie hereingeführt wurden, war von einer geradezu unanständigen Nacktheit. Kahle, nur durch ein paar Bleistiftinfchriften geschmückte Wände, ein leerer Tisch, ein paar billige Stühle, das war alles. „Wenn ich der Taponera nicht versprochen hätte, auf sie zu warten, würde mich nichts in diesem Stalle zurückhalten können/ bemerkte Ernst. „Auf jeden Fall werde ich es so kurz wie möglich machen. Eigentlich sollten wir uns über solche Kulturlosigkeit schämen. Außerdem scheint es nebenan ja recht lebhaft zuzugehen," fügte er hinzu und mies auf die dünne Bretterwand, hinter oer laut lachende Männerstimmen und einige quiekende Laute, äugen' scheinlich aus holdem weiblichen Munde, ertönten. Es kamen die beiden bestellten Flaschen Champagner, der übrigens, wie Ernst feststellte, für afrikanische Verhältnisse nicht allzu schlecht war; gleich darauf meldeten sich auch zwei der Nymphen aus dem Chore der Tänzerin, die zuerst mit dem Um­ kleiden und Abschminke^ fertig geworden waren. Während man sich noch mit der etwas stereotypen und daher langweiligen Ein­ leitung zu einer intimeren Unterhaltung abquälte, die sich um Fest­ stellung der Vornamen der Schönen und ihrer andalusischen Hei­ matsdörfer drehte, erschien die Taponera selbst, das Haupt in ein prächtiges schwarzes Spitzentuch gehüllt, aus dem das bleiche Ant­ litz mit den seltsam grünen Panteraugen gespenstig hervorleuchtete. Ernst stellte ihr seine Begleiter vor, denen sie mit königlicher Grazie die Hand reichte. Sie nahm ein Glas Champagner an, weigerte sich aber, sich hinzusetzen.

„Nein, Don Ernesto, solche Sachen passen sich nicht mehr für uns. Ich bin froh, wenn ich wieder einmal mit Ihnen zusammen sein kann; aber dazu haben wir wohl beide den Tag über Zeit genug. Ich wohne im Grand Hotel." „Wir auch." „Schön, das trifft sich ja ausgezeichnet; also befehlen Sie."

„Dann gestatte ich mir, dich morgen Mittag zu Tisch einzuladen; aber selbstverständlich auch diese beiden Damen hier und auch alle andern, die du mitgebracht hast. Du weißt ja, Ros-arito, ich habe immer Sinn für die Kunst gehabt."

„Freilich," sagte die Taponera lachend, „namentlich, wenn es sich um weibliche Künstlerinnen handelt! Aber ich nehme es dankend an und werde meine Kolleginnen benachrichtigen. Nein," fügte sie hinzu, als Ernst Miene machte, sich zu erheben, „ich fahre lieber allein nach Hause; es ist schon besser so." Und damit ver­ schwand sie aus der Tür.

„Nun sieh einmal einer an," sagte Ernst lächelnd zu den beiden Herren auf deutsch, „wie vornehm zurückhaltend man geworden ist'. Das habe ich aber mir selbst zuzuschreiben. Der Umgang mit mir wirkt eben immer so außerordentlich versittlichend." Es kam noch die eine oder andere der Tänzerinnen herbei, aber die Mädchen waren ziemlich einfältig und etwas verschüchtert, so daß die Sitzung recht bald langweilig wurde. Ernst suchte ge­ rade nach einer geschickten Wendung, um aufzubrechen, als sich mit einem Male die Tür zum anstoßenden Gemache öffnete und ein französischer Offizier in Uniform heraustam. Etwas neugierig blickte Ernst in das Nebenzimmer herein, aus dem dicke Wolken von Zigarettenqualm herausdrangen. Da taumelte er plötzlich einen Schritt zurück, als hätte ihn ein Keulenschlag vor die Stirn getroffen „Madame Lolita,"

flüsterte er. Auch Philipp schaute nun in den Raum und sah wirk­ lich die genannte üppige Schönheit zwischen zwei Offizieren Zigarretten rauchend auf dem Sofa sitzen, hinter dem Tisch, der mit zahl­ reichen leeren und halbgefüllten Flaschen und Gläsern bedeckt war; noch zwei oder drei weibliche Gestalten mehr befanden sich zwischen den sehr animierten Herren, unter denen als einzigen

Zivilisten Philipp den abschreckenden Pavian und Sietemesino er­ kannte.

„Habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt?" bemerkte Philipp, ohne ein etwas höhniches Lächeln unterdrücken zu können. Ernst, auf dessen sonst so gelassen heiterem Antlitz eine schwere, purpurrote Gewitterwolke aufgestiegen war, ergriff seinen Hut und verließ das Zimmer, ohne ein weiteres Wort. Seine Be­ gleiter konnten ihm nicht gleich folgen, da sie ja erst den Kellner, der ziemlich lange quf sich warten ließ, herbeiklingeln mußten, um die Rechnung zu bezahlen. Dann aber verabschiedeten sie sich rasch von den einsilbigen Künstlerinnen und gingen zum Hotel zurück

Als Philipp später an dem Zimmer des Freundes vorbeikam, fah er bereits die Stiefel vor der Türe stehen. Er zog es daher vor, ihn nicht zu stören, verabschiedete sich von Herrn Meyer IL der

ihm getreulich bis hierher gefolgt war, und legte sich selbst zur Ruhe nieder.

hilipp öffnete die Läden, erhob den Moskitoschleier von des Freundes Bett und befestigte ihn an der oberen Quer­ stange des Himmelgerüstes. Der edle Schläfer, der über diesen leisen Geräu­ schen, vornehmlich aber durch das Ras­ seln der Messingkugeln, mit denen die Bettstelle im billigen europäischen Massenfabrikationsgeschmacke verziert war, erwachte, fing an, sich'die Augen zu reiben, gähnte einige Male und bemerkte brummend: „Warum lassen Sie mich denn nicht ausschlafen?" „Es ist gleich zehn Uhr! Und ich habe Sehnsucht nach dem Frühstück," erwiderte Philipp.

„Ihre animalischen Bedürfnisse können Sie doch 'wohl ohne mich befriedigen, sollte ich meinen!" „Damit Sie nachher wieder die schuldige Rücksichtnahme an mir vermissen? Sie lieben doch nicht, bei Ihren Mahlzeiten allein zu sein! Wie oft haben Sie mir das nicht gesagt!"

„Wer redet noch von Mahlzeiten. Mich ekelt bei dem Gedanken an Nahrung!" „Gewiß! Das Bier in Afrika ist furchtbar schlecht. Wir hätten gestern abend beim Wein bleiben sollen. Unser spanischer Rioja ist Balsam für alle zerrissenen Herzen, selbst wenn er unter der Marke Bordeaux's durch die unwissenden Kehlen fließt." „Lassen Sie mich mit Späßen! Es sitzt bei mir nicht im Kopfe. Es sitzt tiefer " „Also Leibschmerzen? " Ernst sprang zornentbrannt aus dem Bette. Das Nachthemd umwallte den kleinen dicken Mann wie die weiße Toga einen römischen Cäsaren.

„Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht! Sie denken nur an das Gemeine, weil die polizeiwidrige Länge Ihres Körpers nur für das Leibliche Platz ließ, aber nicht für das Geistige, das ist die Seele, das ist das Erhabene! Sie können sich nur das körperliche Leid vorstellen; das ist das Einzige, was Sie fühlen; daß es auch

seelische Leiden, Katastrophen des Gemütes gibt, das ist dem utilitari­ stischen Flachlande Ihres Busens unverständlich. Und fürwahr, ich leide an der Seele. Mich verzehrt der Gram. Ich habe einen Ekel am Leben . . . ." O Gott, was ist denn?" „Dieses Weib! Dieses gemeine, niederträchtige Weib." „Aber war denn etwas anderes zu erwarten? Ich bin nicht im geringsten überrascht. Berufliche Pflichten." „Ich bin bis in den tiefsten Abgrund meiner Seele angeekelt!" „Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Ist das Ihre Welterfahrenheit, lieber Freund? Oder sollte es tatsächlich tiefer sitzen? Eifersucht? Ich bitte Sie, Eifersucht ist immer eine höchst überflüssige Schwäche, die aus der Eitelkeit stammt. Wegen einer holden Maid, die von der Liebe lebt . . ." „Ach, Unsinn. Wer redet von Eifersucht? Was liegt über­ haupt an jenem Weib? Was liegt an allen Weibern der Welt?" „Recht so! Auch meine Meinung! Warum sich also über das geschäftstüchtige Frauenzimmer so aufregen?"

„Ich sagte doch schon: Was liegt an ihr! Aber es handelt sich um m i ch. Das ist das Entsetzliche!" Philipp wurde über die tiefe Zerknirschung seines Freundes ein wenig besorgt. Um ihn zu trösten, sagte er: „Es geht uns allen so, daß wir betrogen werden. Da brauchen wir uns doch nicht zu schämen. Allerdings — Sie waren viel­ leicht etwas zu leichtgläubig . . . ."

„Welch eine Schlange mit dem Lärvchen eines Engels . . ." „Die Larve haben nur S i e gesehen." „Welch ein übertünchtes Grab!" „Die Tünche kann den Erfahrenen nicht täuschen!"

„Wer sollte da gesehen hätten, die Unglück erzählte! des herben Wehs, hört hätten!"

mißtrauisch sein! Wenn Sie die Hellen Tränen über ihre Wangen rannen, als sie mir von ihrem Wenn Sie die rührende Stimme des Leidens, das ein unschuldiges Frauenherz zermalmt, ge­

„Vermutlich hätte sie selbst habt!"

damit

bei-mir kein Glück ge­

„Wer sagt Ihnen denn eigentlich, daß das Frauenzimmer damit bei mir Glück hatte?" fragte Ernst plötzlich bissig. „Die Liebesgabe van fünfhundert Francs läßt eigentlich darauf schließen." „Flachland, seichtes Gewässer! Was wissen Sie von den Abgründen meiner Seele! Gerade durch das Geldopfer wollte ich den Tatbestand des Betruges, wenn er vorlag, erfüllen lassen. Denn ich gab nicht ihr — sondern Margarita. Das heißt, auch nicht Margarita, sondern dem Geschlechte. Es hat mich versuchen wollen, aber ich habe ihm wieder einmal dabei auf den Zahn ge­ fühlt. Und ihn hohl und faul befunden!" Philipp war im Zweifel, ob er staunen oder lächeln sollte, wie der Freund mit dieser plötzlichen Wendung versuchte, seinen schnö­ den Reinsall zu beschönigen, oder ob das Andenken an die große Künstlerin, die so zerstörend in sein Leben eingegrisfen hatte, wirk­ lich mit diesem törichten Dirnenabenteuer etwas zu tun hatte. Aber er sagte nichts. Ernst hatte schon vorher geklingelt. Als das Zimmermädchen sich meldete rief er schon wieder ganz vergnügt: „Teresita, nifia de mis ojos, entschuldige, daß ich dich im Hemde empfange, aber ich kann meinen. Durst nicht mehr bezähmen. Würdest du uns nicht ein paar Schnäpse besorgen. Mir geht es schlecht, ich brauche etwas zur Stärkung. Das Leben hier in Casa­ blanca ist sehr angreifend!" Das Mädchen lachte und versprach, den Kellner zu schicken. „Der Mensch muß etwas haben, um den Ekel hinunterzuspülen. Wenn er ihm in der Kehle stecken bleibt, gibt es leicht schwierige Komplikationen, die unter Umständen gar zu einer Katastrophe führen können. Ich gebe zu, der Alkohol ist ein ziemlich simpler Trick. Aber die Eleganz einer Lösung besteht sehr häufig in ihrer Einfachheit." Wenn der Freund auch zu scherzen versuchte, indem er auf sein Riesensystem vom Trick zurücktam, das er bei dieser Gelegenheit wieder des längeren ausspann, so merkte Philipp doch deutlich genug, daß das alles nur Galgenhumor war. Der Kellner brachte den Cognac; Ernst befahl ihm, die Flasche gleich stehen zu lassen. Während seiner Toilette, bei der er kaum ein Wort mehr sagte.



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goß er ein Glas nach dem andern herunter. Als Philipp sich über diesen frühzeitigen Durst ein wenig verwunderte, sagte der kleine Herr trocken: „Ich suhle mich etwas verkatert; in solchen Zuständen ist es immer das Beste, man treibt den Teufel mit Beelzebub aus. Wenigstens habe ich das auf Deutschlands Hohen Schulen so ge­ lernt." Als sie beim Kaffee in der Halle des Hotels sahen, sagte Ernst in einem neuen, ganz unbegründeten Umschlag der Stimmung plötzlich: „Ich hätte große Lust nach Hause zu reifen. Machen Sie nur die Fahrt allein weiter, lieber Freund; ich glaube, Sie ver­ lieren gar nichts, wenn Ihnen meine Gesellschaft fehlte Ich fühle, ich habe kein Talent mehr, mich mit Menschen abzugeben." „Aber das ist doch Unsinn," rief Philipp ärgerlich. „Ich hoffte schon, Sie hätten die ganze Geschichte vergessen, und nun fangen Sie wiederum damit an! Lassen Sie sich doch durch das dumme Frauenzimmer nicht noch länger die Laune verderben! Es wäre doch lächerlich, wenn Sie so etwas tragisch nehmen und unsere Reise damit verdürben!" Ernst erwiderte gelassen: „Ich versuchte schon vorhin. Ihnen auseinanderzusetzen, daß es sich hier nicht um den kleinen realen Vorfall handelt, sondern um die transzendente Bedeutung. Ich fühle, daß ich i>m Stadium raschester Dekadenz bin. Ich kann Ihnen in dieser Stunde das nicht im einzelnen erklären, weil es zu weit führen würde und ich genötigt wäre, tiefer auf Dinge ein­ zugehen, die ich am liebsten vergäße. Ich habe in der letzten Zeit vieles durchmachen müssen." „Ich glaube es Ihnen," sagte Philipp; „aber was wollen Sie damit beweisen?" „Ich fühle, mich nimmt niemand mehr ernst. Ich bin nur noch ein Ausbeutungsobjekt, keine Persönlichkeit mehr. Aber Schwamm drüber. Wenn man fünfzig Jahre alt ist, soll man nicht überrascht sein, wenn sich Alterserscheinungen zeigen. Der Philo­ soph wird die Dinge nehmen, wie sie sind, und Lehren aus seinen Erfahrungen ziehen. Ich werde zurückkehren und mich in meinen Bau verkriechen." „Daraus wird nichts," sagte Philipp; „Sie haben mich bis hier­ her gebracht und werden mich auch noch weiter bringen. Ich reife

auf keinen Fall allein und habe auch nicht die geringste Lust, unsere kaum begonnene Fahrt in dieser staubigen Hölle von Casablanca abzuschließen!" Ernst versank in ein tiefes Schweigen; dann sagte er schließliche als schlösse er eine lange Gedankenkette ab: „Im letzten Grunde ist es vielleicht gleichgültig, wo man ist, da ja kein Mensch sich selbst entfliehen kann. Also gut, setzen wir die Reise fort; aber unter der Bedingung, daß wir auf der Stelle dieses verfluchte Nest ver­ lassen." „Mir soll es recht sein, wenn wir eine Fahrgelegenheit finden," sagte Philipp. „Wir können gleich zur Garage gehen und uns erkundigen." „Rasch, ehe es zu heiß wird!"

Die Freunde erinnerten sich, am Tage zuvor von Herrn Meyer den „Garage International" erwähnen gehört zu haben, der täg­ lich Automobile nach Fes fahren läßt. Dieses Institut lag nicht allzu weit entfernt auf dem großen Platze vor dem Tore, das nach der Neuen Stadt führt. Der Inhaber erklärte sich auch bereit, den Reisenden morgen um acht Uhr zwei Plätze reservieren zu wollen. Aber der Ungeduld des kleinen Herrn erschien dies viel zu spät.

„Ich muß unbedingt noch heute fahren! Wenn Ihr regel­ mäßiger Tourenwagen nicht verfügbar ist, so können Sie uns sicher ein kleineres Gefährt stellen^ Es wird ja nicht gleich den Hals kosten-"

Aber es war nicht zu machen. Der Mann erklärte, daß fein letzter Chauffeur heute morgen bereits mit zwei Fremden abge­ fahren fei und er keinen weiteren Wagen besäße. Er hätte auch einem anderen Herrn, der vor etwa einer halben Stunde ebenfalls dringlich ein Automobil verlangte, nicht zu Diensten stehen können. In seiner Unzufriedenheit drohte Ernst, sich nach einer anderen, leistungsfähigeren Garage umzusehen; der Inhaber bedeutete ihm darauf achselzuckend, es stände ihm durchaus frei, zu tun, was ihm beliebe; er glaube indessen nicht, daß hier in Casablanca ein anderer Wagen zu finden sei, da gerade in den letzten Tagen sehr viel Fremde nach Fes, Marrakesch, Rabat oder den Hafenstädten des Südens abgereist seien; vor allen Dingen könne er keine Gewähr dafür leisten, daß die beiden Plätze, die er ihnen eben reserviert habe, noch in einer Stunde frei seien, wenn sich die Herren nicht sofort fest entschlössen. So gab denn Ernst nach, wenn auch unter beträchtlichem Zähneknirschen und zahlreichen Verwünschungen über die rückständigen Verhältnisse an der afrikanischen Küste.

Als die beiden Reisegefährten die Garage verließen, kamen sie an einem Cafe vorbei, vor dem eine Schar von Gästen saß. Ernst stieß seinen Freund an: „Haben Sie nicht eben das Sieben­ monatskind dort sitzen sehen?" „Nein.

Aber wenn schon . . . ."

„Hören Sie, sahen wir den alten Pavian nicht abend — Sie wissen ja — in jener Gesellschaft?"

auch gestern

Philipp erwiderte ärgerlich: „Ich kann mich wirklich nur un­ deutlich an die Einzelheiten erinnern; auf alle Fälle glaube ich, es ist das Beste, auch S i e denken nicht mehr daran."

„Also bis morgen um acht Uhr," sagte Ernst; „und damit ich nichts mehr von der ärgerlichen Welt hier zu sehen und zu hören bekomme, werde ich bis dahin schlafen. Verbringen Sie den Tag, wie Sie wollen; aber rechnen Sie in keiner Weise auf mich." Brinkmann, Wallfahrt

8

„Dem stünde nichts im Wege," sagte Philipp, „wenn Sie nicht heute zum Mittagbrot die große Taponera samt ihrem Nymphen­ chore eingeladen hätten."

„Donnerwetter, das habe ich ganz vergessen! Es scheint mein unglückseliges Schicksal zu sein, nirgends mehr in der Welt Ruhe zu linden!" ie beiden Freunde saßen gerade in Ernsts Hotelzimmer in etwas U trübsinniger Unterhaltung, als Teresita, das hübsche Stuben­ mädchen, erschien und eine Visitenkarte brachte. Aergerlich über die neue Störung ergriff der kleine Herr dieselbe und las:

Dolores Garcia, Viuda de Martinez Casablanca

11 Rue Tesnacre

„Die Dame will wirklich mich sprechen?" fragte Ernst ver­ wundert. „Jawohl, sie nannte ausdrücklich Ihren Namen," erwiderte das Stubenmädchen. „Ist sie denn hübsch?" „Mittelmäßig — aber Sie haben vielleicht einen anderen Ge­ schmack." „Sagen Sie ihr, ich bin für niemanden zu Hause!" Das Mädchen verließ das Zimmer. „Die verfluchten Weiber verfolgen mich noch bis ins Grab hin­ ein," brummte Ernst. „Ich möchte doch wissen, wer diese Witwe Martinez ist und was in aller Welt sie von mir verlangen kann. In Sevilla hätte solch ein unerwarteter Besuch ja noch einen ge­ wissen Sinn; aber hier bin ich doch kaum erst vierundzwanzig Stunden und kann unmöglich schon über so überaus zahlreiche zarte Beziehungen verfügen, daß ich mich nicht einmal mehr an die Namen erinnere."

Teresita kam wieder herein: „Die Dame wünscht Sie unter allen Umständen zu sprechen. Wenn es Ihnen zu lästig sein sollte, sich in die Halle zu bemühen, so würde sie auch, wenn es Ihnen recht ist, zu Ihnen heraufkommen."

„Sagte ich es nicht?" rief Ernst beinahe belustigt. „Ich werde bis in mein Grab verfolgt! Aber ich will, weiß Gott, meine Ruhe haben. Ich werde die Tür verrammeln und mich, wenn es not tut, mit der Waffe in der Hand gegen diese Aufdringlichkeit ver­ teidigen!" Jetzt legte sich der jüngere Freund ins Mittel. „Ich halte es doch für richtiger," sagte er, „Sie sehen, was das Frauenzimmer von Ihnen wünscht. Es kann sich doch um irgend etwas Wich­ tiges handeln." „Wenn Sie sich so für die Witwe interessieren, so empfangen Sie sie doch." „Wenn sie aber nur mit Ihnen sprechen will," sagte Philipp. „Da die etwas sehr aufdringliche Dame mich sicher nicht kennt, so können Sie sich ja meinen Namen zulegen. Ich gebe Ihnen alle Vollmacht, für mich zu verhandeln." „Nun, ich will einmal sehen, was sie will," sagte Philipp und schickte sich zum Gehen an. „Hoffentlich erkennen Sie es wenig­ stens dankbar an, daß ich Ihnen dienstwillig ständig alle Unannehm­ lichkeiten abnehme!" Am Eingänge der Halle trat ihm Herr Holmscher in den Weg. „Haben Sie es schon gehört?", fragte er mit allen Zeichen der Bestürzung." „Was denn?" „Das sogenannte Ehepaar, das mit uns von Tanger ge­ kommen ist und hier im Hotel gewohnt hat, ist heute früh ver­ schwunden!" „Ich fürchte, das ist mir ungeheuer gleichgültig," sagte Philipp ärgerlich. „Aber hören Sie nur, mein Verehrtester, die Leutchen sind auf eine ganz seltsame Weise verschwunden! In aller Frühe wurden sie von einem Automobil abgeholt, dessen Eigentümer niemand vom ganzen Hotelpersonal kennt. Ich habe mich natürlich sofort über das Reiseziel erkundigt, aber nur in Erfahrung gebracht, daß das saubere Pärchen in unbekannter Richtung weitergefahren sei." „Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie mir das alles erzählen. Außerdem sehe ich in der ganzen Sache durchaus nichts Absonder­ liches. Wenn die Herrschaften nicht in Casablanca bleiben wollten,

haben sie wohl oder übel nach einer anderen Stadt des Lande­ weiterreisen müssen." „Well, Sie verstehen eben nicht den Zusammenhang," sagte Herr Holmscher geheimnisvoll. „Wenn Sie den einsähen, würde auch Ihnen das alles höchst verwunderlich erscheinen. Allerdings bin ich nun dadurch in eine ungeheure Verlegenheit gebracht. Und es ist mir in diesem kritischen Augenblicke nicht einmal gelungen, einen Wagen für mich zu finden!" „Das tut mir in der Seele weh." „Ich wollte Sie nun höflichst bitten, wenn Sie zufällig etwas Genaueres über das Automobil und dessen Reiseziel erfahren soll­ ten, mir es ja mitzuteilen. Es handelt sich um eine ungeheuer wichtige Angelegenheit. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, möchte ich Sie, auf Ihre Verschwiegenheit rechnend, mit den wich­ tigeren Tatsachen dieser erstaunlichen Geschichte bekanntmachen."

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe jetzt gar keine Zeit. Ich muß eine Dame empfangen. Wie mir scheint, erwartet sich mich bereits!" Er näherte sich mit raschen Schritten einer Frau in weißem Kleide, die in einem Rohrsessel saß.

Als dieselbe die Schritte in ihrer Nähe hörte, blickte sie auf, und zu seiner größten Ueberraschung sah sich Philipp — Ma­ dame Lolita gegenüber. Er konnte ein leichtes Lächeln nicht unter­ drücken, als er sie fragte: „Sie wünschen meinen Freund zu sprechen? Ich bin beauftragt Ihnen mitzuteilen, daß er zu seinem Bedauern heute nicht in der Lage ist, Besuche zu empfangen. Aber wenn ich etwas an ihn ausrichten kann, will ich es gern besorgen." „Warum will Ihr Freund mich nicht sprechen?" Philipp zuckte mit den Achseln. „Ich kann Ihnen wirklich die Gründe nicht angeben. Vielleicht ist es eine Laune von ihm. Mein Freund ist nämlich sehr launenhaft." „Wollen Sie sich nicht einen Augenblick setzen?" bat die schöne Lolita. Philipp rückte gefällig einen Stuhl herbei. „Ich möchte Ihrem Freund gern ein paar Aufklärungen geben."

„Aber das ist doch wohl gar nicht nötig," unterbrach er sie.

„Doch! Ich bin nur allzusehr davon überzeugt, daß es nötig ist. Ich sah es ihm gestern abend wohl an, daß er äußerst überrascht war und meine Lage durchaus nicht verstanden haben konnte."

„Aber ich glaube, daran war doch eigentlich gar nichts miß-

zuverstehen." „Es ist eben mein unglückseliges Geschick, daß ich immer und überall mißverstanden werde. Ich merke es wohl, auch von Ihnen! Ach, wenn Sie wüßten, wie ich darunter leide! Gewiß, ich bin einer Einladung der Offiziere gefolgt, und sehr zu meinem Bedauern; aber es ging nun einmal nicht anders. Sie sind die Machthaber in diesem Lande, und ich muh mich mit ihnen gut

stellen, wenn ich nur die geringste Hoffnung armes, unglückliches Kind wiederzuerlangen."

hegen will,

mein

„Aber, meine sehr verehrte Frau," sagte-Philipp etwas spöttisch, „es ist doch wohl wirklich nicht angebracht, mit mir Komödie zu spielen. Oder halten Sie mich in der Tat für einen solchen An­ fänger? Meinem Freund gegenüber hatte dieser Versuch wohl etwas mehr Sinn; denn er ist trotz feiner reichen Lebenserfahrung eigentlich immer noch ein unschuldvolles Kind geblieben. Das liegt nun einmal in seiner Natur. Bei mir aber versagen sogar die schön­ sten orientalischen Märchenspiele, selbst wenn sie mit allem Komfort französisch-neuzeitlicher Okkupation aufgeputzt sind. Und wenn ich mir einen Rat erlauben darf, möchte ich Ihnen anempfehlen, auch bei ihm nichts Derartiges mehr zu versuchen, da er endlich trotz all seiner Harmlosigkeit klar genug gesehen hat. Reden wir aufrichtig miteinander: Sie wollen Geld. Gut — Sie können aber vergewissert sein, daß er Ihnen ein zweites Darlehen nicht mehr geben wird. Mein Wort darauf!"

Madame Lolita war tief gekränkt. „Ich bin nicht hierherge­ kommen, um mich, eine arme, unglückliche Frau, von Ihnen veleidigen zu lassen," schluchzte sie tränenden Auges, „sondern mit Ihrem Freunde zu sprechen. Er hat ein so edles, lauteres Gemüt, daß er, wenn ich ihm erst einmal alles erklärt habe, mich gewiß be­ greifen wird. Ich werde solange hier warten, bis er herunter­ kommt." „Sie werden sich vergeblich bemühen, da mein Freund voraus­ sichtlich nicht das Zimmer verlassen wird. Er fühlt sich unpäßlich," log Philipp.

Lolita war einen Augenblick ratlos. Schließlich sagte sie: „Nun, so werde ich morgen mich wieder nach seinem Befinden erkundigen. Aus jeden Fall wünsche ich ihm von ganzem Herzen gute Besse­ rung. Sollte der großmütige Mann sich aber heute Nachmittag schon wieder soweit wohl befinden, daß er ausgehen kann, so sagen Sie ihm bitte, daß ich ihm außerordentlich dankbar wäre, wenn er mich in meiner Wohnung aufsuchen würde. Sie haben ja meine Adresse," und dabei wies sie auf die Visitenkarte, die Philipp noch immer in der Hand hielt.

Diesem wurde die Unterhaltung schon reichlich uninteressant. Er erhob sich rasch und verabschiedete sich von der verfolgten Witwe, indem er ihr erklärte, daß er ihren Auftrag mit Vergnügen ausrichten würde.

Als Philipp die Treppe hinaufgehen wollte, trat ihm Herr Holm­ scher in den Weg. „Hören Sie, mein Bester, auch S i e scheinen mit seltsamen Ge­ schichten zu tun zu haben," sagte der junge Mann mit einer naiven Aufdringlichkeit. „Wie kann man sich nur den Tränen einer bitten­ den Frau gegenüber so gleichmütig und ablehnend verhalten!" „Was wissen Sie denn davon?" fragte Philipp verwundert. „Ich verstehe freilich kein Spanisch; aber für etwas besitzt man ja seine Beobachtungsgabe. Mein Beruf ist, zu beobachten und zu kombinieren."

„Nun, in diesem Falle könnten Sie ja eine andere würdige Aus­ gabe finden," sagte Philipp wieder etwas besser gelaunt und er­ zählte ihm die unglückselige Geschichte der edlen Matrone, so wie er sie von seinem Freunde gehört hatte; allerdings verschwieg er ihm die Auflösung des Knotens durch die Erlebnisse des vergangenen Abends. Herr Holmscher war ganz Ohr: „Well, das wäre freilich eine gute und edle Tat, sich der Not dieser armen Frau zu erbarmen," sagte er, und tiefes Mitleid ließ seine Stimme erbeben. „Das ist ja schön," sagte Philipp. „Hier ist der Name und die Adresse der vielgeplagten Frau. Gehen Sie ruhig hin und sehen Sie, was sich machen läßt." Und damit übergab er ihm die Karte.

1 nter bessert war eine Künstlerin nach der andern aus der Truppe der Taponera gekommen, und Philipp nahm sofort ritterlich die Damen auf. Es dauerte auch nicht lange, bis die berühmte Jmpresaria selbst kam und sich der Vielgeplagte in seinem embarras de richesse genötigt fühlte, durch den Chasseur des Hotels den Freund zu Hilfe rufen zu lassen. Der kam auch, so schnell es ihm seine Behäbigkeit gestattete, die Treppe hinabzusteigen; und die beiden Herren führten ihre fünf Damen zu Tisch.

Ia

Philipp benutzte die erste Gelegenheit, dem Freunde das Nötigste über den B-esuch zu berichten und ihm mitzuteiten, wie er Madame Lolita abgewiesen habe. „Sie soll ruhig so lange warten, bis ich von meiner Unpäßlich­ keit wieder genesen bin," sagte Ernst befriedigt. Der Tisch war festlich hergerichtet, und die Menutarte verhieß außerordentliche Dinge. Als Philipp seine Verwunderung dar­ über ausdrückte, sagte der große Mann lächelnd: „Nun, während Sie unglücklichen Witwen Ritterdienste erwiesen, habe ich die Zeit auch nicht verloren und das Notwendige für ein Frühstück ange­ ordnet, das so erlesener Gäste, wie ich sie heute habe, würdig ist." Das zahlreiche Publikum im Speisesaal schenkte augenscheinlich der seltsamen Gesellschaft, die sich um unsere Freunde geschart hatte, die größte Aufmerksamkeit. Auf jeden Fall fehlte es nicht an zu­ dringlichen Blicken und an heimlich geflüsterten Bemerkungen. Die meisten der Herren mochten ja wohl als Besucher der Folies Bergeres die Tänzerinnen wiedererkennen; aber selbst wenn das nicht der Fall war, bot die etwas auffallende Kleidung der vier Kolleginnen der Taponera, besonders aber sie selbst, trotzdem sie einfach genug angezogen war, dem allgemeinen Interesse aus­ reichenden Anlaß. Denn ihre hohe, schlanke und trotz aller Fein­ heit muskulöse Erscheinung war außergewöhnlich genug; dazu kam das schmale, aber geradezu häßliche Antlitz mit den auffallend grünen Augen, die fraglos einen grausamen, vielleicht perversen Charakter zu verraten schienen. Selbstverständlich war in diesem Falle, wie so oft, das Antlitz keineswegs das Spiegelbild der Seele, denn das Benehmen der Künstlerin bewies nichts weiter als An­ mut, Liebenswürdigkeit und sogar Bescheidenheit, und es war rührend, zu sehen, wie sie zu Ernst mit einer fast töchterlichen Ver­ ehrung aufblickte. Auch die anderen Damen zeigten sich von großer Zurückhaltung. Gewiß entsprach das kaum ihrer innersten Natur, und wenn nicht in straffer Zucht gehalten mochten sie, da all­ gemeine Herzensbildung wohl nicht ihre starke Seite war, leicht über die Stränge schlagen. Aber das sichere und höfliche Auftreten der beiden Herren und das glänzende Beispiel ihrer Meisterin legte ihnen Zügel an. Natürlich verfielen sie infolgedessen in das andere Extrem und betrugen sich wie Backfische, die zum ersten Male an

der Tafel von Erwachsenen zugelassen werden. Es bereitete Philipp die allergrößte Mühe, sie zum Zulangen zu den Speisen und Ge­ tränken zu veranlassen, von denen sie allerdings die meisten wohl nicht einmal dem Namen nach kannten; denn Ernst hatte in fürst­ licher Laune das Erlesenste zur Tafel bringen lassen, was Easablanca aufzubringen vermochte. Auf jeden Fall wurde durch das Vor­ handensein aller dieser Leckerbissen bewiesen, daß gute Zeiten in der aufblühenden Hafenstadt herrschten und Leute genug vorhanden waren, die den Groschen nicht erst dreimal umzudrehen brauchten, um ihn in Genüssen der Tafel anzulegen. So verlief das Früh­ stück ohne jeden störenden Zwischenfall in voller Harmonie; sogar der Oberkellner wurde schließlich höflich, obgleich er ursprünglich gedacht haben mochte, bei einer so zweifelhaften Gesellschaft sich Freiheiten herausnehmen zu dürfen. „Die Leute halten Sie gewiß für unseren Impresario," sagte die Taponera lächelnd zu ihrem Gastgeber und wies mit einem leichten Kopfnicken auf das Publikum hin, das sich die Augen aus dem Kopfe starrte.

„Das gerade bin ich wohl nicht," erwiderte Ernst, der völlig umgewandelt war; aller Aerger und Verdruß, der ihn noch vor einer Stunde so bitter gestimmt hatte, schien vergessen. Er war nichts als der liebenswürdige, olympisch heitere Kavalier und genutzerfahrene Beschützer der schönen Künste und schönen Frauen, getreu seinem in ganz Andalusien klingenden Rufe. „Aber viel­ leicht bin ich eine Art director espiritual. Auf jeden Fall erkläre ich mich bereit, euch Kindern die Beichte abzuhören und, wenn es irgend geht, die Absolution zu erteilen. Aber wie kommt ihr eigentlich hierher nach Casablanca?" „Einfach genug.

Von der Luft allein können wir nicht leben."

„Aber vielleicht von der Liebe?" fragte Ernst ein wenig bos­ haft.

„Auch das nicht! Wie Sie genau wissen, arbeiten wir auf diesem Gebiete nicht. Kurz: in den heißen Sommermonaten ist in Spanien doch nichts zu machen; und da uns hier ein lohnendes Engagement für einen Monat geboten wurde, nahmen wir es selbstverständlich cm."

Als nach den Austern ein riesiger Hummer serviert wurde, rief die Künstlerin: „Por Dios, Don Ernesto, warum machen Sie sich nur so viele Umstande? Bei uns ist solcher Luxus doch nicht nötig. Wir verstehen uns auch ohne solche Galanterie!"

„Lang nur ruhig zu, Rosarito! Wenn das Fest des Wieder­ sehens auch gleichzeitig ein Abschiedsfest bedeutet, ist es nicht mehr wie recht und billig, daß es würdig gehalten wird. Dazu bin ich der Ansicht, daß eine Künstlerin, wie du es bist, nur Geschmack an wirklichen Kunstwerken hat, und, wie du weißt, zähle ich die Kochkunst mit unter die schönen Künste." „Jawohl, man sieht das," sagte die Taponera und blickte lachend auf die bauschige Serviette, die des Gastgebers üppigen Leib be­ deckte. „Aber, wer redet denn von Abschiedsfest?" fügte sie hinzu, um die letzte, etwas kecke Bemerkung zu verdecken. „Nun, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und viel­ leicht sehen wir uns auch nicht mehr wieder." „Wie kommen Sie auf diese trübseligen Gedanken? Freilich, wir arbeiten ja überall im Lande; aber wenn mir dieses Wanderleben leid ist, und das wird nicht mehr lange dauern, dann

können Sie sich darauf veklassen, daß ich mich nur n-ach Sevilla zurückziehe. Das ist nun einmal meine Heimat, und da will ich auch bleiben; denü es gibt keinen schöneren Platz auf der Welt als die Stadt der Giralda und der Torre del Oro. Und da auch Sie dort bleiben, werden wir hoffentlich noch viele Jahre als gute Freunde zusammen verleben!" „Ich meinte es vielleicht mit dem Abschied nicht so wörtlich, liebe Rosarito. Ich denke mehr an den Abschied von einer Üebensepoche. Ich fühle, daß ich alt werde; und ich betrachte es fast wie einen wunderbaren Zufall, daß ich noch einmal mit dir zusammen sitze und an die Zeiten zurückdenke, vor zehn Jahren, wo ich tanzte." „Sie hätten getanzt?"

„Seelisch, Rosarito, nicht etwa körperlich. Mit meiner Fülle, die mich soviel Geld gekostet hat, würde ich eine seltsame Figur ge­ macht haben. Aber es tanzte in mir; alles in mir war Frohsinn, Verwegenheit, Leidenschaft, kurz ein Kastagnettentanz. So brachte ich d i ch zum Tanzen, denn schließlich mußte ich ja in irgend einer Weise dem Ausdruck geben, was mich erfüllte." „Und damals, als ich Sie, zu meinem Glücke, kennen lernte," erwiderte die Taponera mit einem innigen Ausdrucke, „damals hätte ich für mein Leben gern gesungen!"

„Du bist eine Zigeunerin und paßt nur für den Tanz. Musik ist für Leute, die traurig sind." „Mir ging es damals traurig genug." „Du hast recht, Rosarito; aber es war nur äußerlich."

Die

Dann wandle sich Ernst seinem Freunde zu und erzählte ihm auf deutsch: „Das gute Mädchen hat wirklich schon allerlei durch­ gemacht. Mit jungen Jahren wurde es von seinen liebenden Eltern in eine Korkenfabrik gesteckt, wo es für zwei Realen täglich zwölf Stunden zu arbeiten hatte und sich keine anderen Güter er­ warb als eine angegriffene Gesundheit, große Fortschritte in der Sittenlehre und den schönen Namen ,Taponerar. so eintönig der Bauplan dieser Häuser anmutet, so lebhafte Abwechselung bringt die überaus reiche, farben­ frohe Ornamentik überall, wo sich Flächen zeigen; es ist, als lebe sich der durch starre Formen gebundene schöpferische Geist in seinem Kampfe gegen die beengenden Schranken des Grundrisses, des Kör­ pers, durch sieghafte Launenhaftigkeit in der Gestaltung der Flächen aus. Dabei hält sich der Meister bei ein und demselben Bauwerk keineswegs an ein einziges, grundlegendes Prinzip der Linienführung und der Farben; ganz im Gegenteil, jede einzelne Toreinfassung, jedes Bogenfeld ist ein selbständiges Gebilde, von denen keines dem andern gleicht; selbst die Fayencebekleidung der Fußböden und Mauern wechselt in übermütiger Laune von Wand zu Wand und Raum zu Raum. Besonders reich waren aber die

hölzernen Decken durchgebildet, bei denen ja durch die Linien der Tragbalken ganz natürlich Felder gebildet werden, die zur deko­ rativen Ausgestaltung der Flächen geradezu herausfordern. Dagegen fehlte, was man Möbel nennt, in den Wohnräumen fast vollständig. Nur hier und da fand man ein zierliches Prunk­ schränkchen oder ein Tischchen, das vor Jahrzehnten von Paris

oder Gott weiß welchem europäischen Fabrikationszentrum von Luxusgegenständen durch eine seltsame Fügung des Schicksals die lange Reise auf dem Rücken eines Kamels hierher gemacht haben mochte. Dagegen war alles, was an Webarbeiten, Teppichen und Kissen die heimische Industrie hervorzubringen vermochte, mit einer an Schwelgerei grenzenden Pracht, die wohl kaum an einem andern Platze der Welt zu finden ist, in diesen Hallen aufgestapelt. Wohl hätte Herr Lohgerber seine Freunde gerne noch zu einem oder anderem Privathaus geführt; aber die Stunde rückte allmäh­ lich gegen Mittag heran, und trotz der Freundlichkeit dieser ho.hgesitteten Mauren durften sich die Fremden nicht erlauben, sie in

ihrer Siesta zu stören. Außerdem war man durch vieles Wandern und Sehen bei der großen Hitze naturgemäß ziemlich ermüdet. So «gab Ernst das Zeichen, mit den Besichtigungen einzuhalten. Als die kleine Gesellschaft eine der engen Gassen schattensuchend entlangzog, drängte sich mit einem Male Holmscher an Herrn Loh­ gerber und Ernst heran, die in einiger Entfernung von den andern friedlich plauderten. Der junge Mann schien etwas niedergeschlaggen zu sein. „Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt," tröstete ihn Herr Loh­ gerber, „daß für Ihre wichtigen Nachforschungen auf diese Weise nichts herauskommen würde. Sie haben bemerkt, wie wir überall m der Vorhalle zu warten aufgefordert wurden, bis alle weib­ lichen Mitglieder des Hauses vor fremden Augen sorgsam in Sicher­ heit gebracht waren. Erst dann war es uns gestattet, in die Räume oder in den Garten einzutreten. Und so wird es uns immer gehen, wenn wir noch soviel Häuser und Paläste in dieser

Stadt aufsuchen."

Die düstere Miene des gelockten jungen Mannes hatte sich unter­ dessen aufgehellt. „Ich bin gewohnt, Schwierigkeiten zu überwin­ den", sagte er stolz. „Haben Sie denn einen Ihrer bewußten Fäden gefunden?"

fragte Ernst boshaft. „Well, ich gebe zu, daß die Methode nicht die richtige war. Ich habe aber doch einen Gewinn davon gehabt: ich habe die geo­ graphischen Verhältnisse genau beobachtet und werde schon die Ge­ legenheit finden, in die Innenräume einzudringen, wenn die Frauen des Hauses sich dessen am wenigsten versehen!" „Das stellen Sie sich leichter vor, als es ist," sagte Herr Loh­ gerber bedenklich. „Ich warne Sie! Unberufene Mauer- und Dachklettereien können hierzulande schlecht bekommen!"

„Ich kenne keine Furcht," erwiderte Holmscher mit dem Selbst­ bewußtsein eines Heroen. „Und wenn das nicht gelingen sollte, so bleibt mir noch der Ausweg, mich als Negersklavin zu ver­ kleiden und als Marktweib in die Häuser einzudringen. Doch das find ja nebensächliche Einzelheiten. Ich werde zu meinem Ziele gelangen."

„Ich fürchte, das einzige, wozu Sie auf diese Weise gelangen werden," meinte der sonst so freundliche Herr Lohgerber ärger­ lich, „ist eine unangenehme Tracht Prügel. Nehmen Sie meinen Rat an; ich kenne dieses Land und weiß, daß es in gewissen Dingen keinen Spaß versteht."

„Ich verstehe auch keinen Spaß, namentlich wenn es sich um einen frechen Menschenraub handelt," sagte der edle Jüngling mit einem gewissen Tone der Gereiztheit, als er ein fatales Lächeln auf den Lippen des kleinen Herrn bemerkte. Und als dieser noch mit wohlwollender Miene hinzufügte: „An Prügel ist Herr Holmscher gewöhnt," da verstummte der junge Idealist gänzlich, über den banalen Sinn der Menschheit tief bekümmert und entsetzt.

Man war unterdes auf die Kaiserin gekommen. Sofort er­ kannten die Kaufleute Ernst und seinen Begleiter wieder; von allen Seiten erhoben sich fröhliche Winke und freundliche Zurufe; ein heiteres Band gegenseitigen Verständnisses schien sich zwischen den einheimischen Kaufleuten und den fremden Reisenden ge­ sponnen zu haben.

Mit einiger Neugier waren unsere Freunde dann zu der Bude des geschwätzigen Pantoffelhändlers getreten. Ernst ließ ihm sagen: „Die Mittagsstunde ist gekommen, und ich bin hier, meinen Kauf abzuholen. Ich hoffe, daß du, o höflicher Babuschenmacher, nun auch deinerseits den Vertrag erfüllt hast!" Aber es bedurfte nicht der Frage. Karibi wies schmunzelnd auf die Reihe von Pantoffeln hin, die er in der ganzen Länge seines Verkaufsstandes hingestellt hatte. Mit feierlicher Miene prüfte der kleine Herr die schmucken Machwerke, ob sie in jeder Beziehung den vorgeschriebenen Bedingungen an Zahl, Gleichmaß und Mannigfaltigkeit genügten, und erklärte sich für befriedigt. Er bat den kunstfertigen Meister, sie ihm in zwei Bündeln zusammen­ zuschnüren und lud sie sich auf, da er nicht gestatten wollte, daß einer seiner Begleiter ihm einen Teil der Last abnähme. „Der Mann hat sich alle Mühe gegeben," sagte Ernst im Fort­ gehen zu Herrn Lohgerber, „und gewiß hat er seine Gesellen die ganze Nacht arbeiten lassen. Aber über das rein Handwerks­ mäßige in der Zusammenstellung der Farben und Auswahl der

Stickmuster ist er doch nicht hinausgekommen. Künstlerische Be­ gabung ist auch hier augenscheinlich eine Seltenheit." Die arme Frau Schröder hatte sich unterdessen die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, was der seltsame Mann wohl mit seinem reichen Vorräte an Pantöffelchen anfangen möchte. „Mir scheint," sagte sie endlich, „daß Sie Ihre Lehre von der Polygamie nicht nur predigen, sondern auch praktisch befolgen — wenigstens nach der Anzahl der Reiseandenken zu schließen, die Sie nach Hause zu bringen beabsichtigen!" „Ach nein, gnädige Frau, ich fürchte, ich werde nichts davon zurückbringen. Und Geschenke zu machen habe ich nicht nötig, da mich zuhause niemand erwartet. Ich trage meinen Harem in meiner Brust." „Wäre das möglich?" fragte Frau Schröder mit zweifelhafter Miene; der kleine Herr war aber bereits Philipp und Herrn Loh­ gerber gefolgt, um geschäftliche Angelegenheiten, besonders einige dringliche Ankäufe von Wäschestücken und dergleichen zu erledigen. Er sah nach der Uhr. „Es wird höchste Zeit, dem Reiche unsere Aufwartung zu machen, denn nun hat niemand mehr die Ent­ schuldigung des Feiertages!" Sein Freund aber hielt es für wichtiger, zunächst einmal die Bank aufzusuchen, bei der sie akkreditiert waren. Ernst jedoch war um einen Ausweg nicht verlegen. „Es genügt ja vorläufig, wenn einer von uns beiden Geld hat. Wir treffen uns nachher beim Konsul!" Er schloß sich darauf der von Herrn Vogel geleiteten Gesell­ schaft an, während der freundliche Herr Lohgerber es übernahm, Philipp zur marokkanischen Staatsbank zu führen, auf die sein Kreditbrief lautete. Die kleine geschäftliche Angelegenheit war denn auch rasch er­ ledigt. Auf dem Rückwege zum Konsulate kamen die beiden Herren an einem Fondak vorbei, neben dessen Toreingang ein überaus prächtiger Brunnen stand. „Dies ist der Fondak Ennedstharin," sagte Herr Lohgerber, „der jetzt als Kaufhaus meinem Geschäftsfreunde Taib Almanfor, dem großen Teppichhändler von Fes, dient. Ich nehme nicht an, daß sich Ihr Freund beim Dr. Bischoff langweilen wird; so emp-

fehle ich Ihnen, da wir nun einmal hier vorbeigekommen sind, sich das Innere anzusehen." Es war Philipp recht, und der Besuch lohnte in der Tat den kleinen Aufenthalt. Das ganze Geviert des alten, prächtigen Ge­ bäudes war zwei Stockwerke hoch mit Teppichen und anderen Webarbeiten ungefüllt, sicherlich dem Erlesensten, das die heimische Industrie hervorzubringen vermochte. Besonders fiel Philipp die große, würdevolle Erscheinung Taib Almansors auf, der zwischen seinen Schätzen mit königlichem Stolze einherschritt und gerne zeigte, was die Neugierde der beiden Besucher erregte. Da nun Herr Lohgerber augenscheinlich die Gelegenheit benutzte, die eine oder andere geschäftliche Angelegenheit mit dem Kaufherrn zu be­ reden, hatte Philipp Muße genug, sich die ausgestellten Waren nach Herzenslust zu betrachten, wobei er bedauerte, den Freund nicht bei sich zu haben, in dem plötzlich ein so starkes Interesse für orientalische Kunst erwacht war.

11 nterdessen war es doch recht spät geworden, und sie ver44 muteten schon, den kleinen Herrn nicht mehr auf dem Kon­ sulate vorzufinden, als sie staubbedeckt und von der großen Hitze ermattet dort eintrafen. Aber Ernst war noch da und schien sich sehr wohl zu befinden. In Hemdsärmeln saßen der Konsul und er bei Whisky und Soda in einer kühlen Ecke des Gartens. Man schien über Politik zu reden; auf jeden Fall hörten Herr Loh­ gerber und Philipp noch die letzten Ausführungen eines augen­ scheinlich längeren Vortrages über afrikanische Verhältnisse. „Ich glaube an die Zahlen," rief Dr. Bischoff; „die haben grö­ ßere Bedeutung für mich als alle in Berlin aufgestellte Theorien. Und wie feststeht, daß im Jahre Siebzig die Franzosen dreißig­ tausend Mann aus Afrika holten, um unseren Landsleuten die Hälse abzuschneiden, so kann ich beweisen, daß sie jetzt dreihundert­ tausend Mann, von denen ein großer Teil in den Waffen ein­ geübt und kriegserfahren ist, gegen den Rhein marschieren lassen könnten, und in weiteren vierzig Jahren drei Millionen! Und dann find wir geliefert; denn mit Rassenhochmut allein bekämpft man keine kriegerischen Bergvölker Marokkos oder Araber der Wüste oder Neger vom Senegal und Kongo! Das sind die Folgen

unserer voraussehenden Politik, die es für ganz ausnehmend klug vermeint, die Franzosen mit kolonialen Abenteuern' zu beschäf­ tigen! Es war für diese ein durchaus gewinnbringendes Abenteuer, das ihnen den ungestörten Besitz ganz Westafrikas von Tunis bis zur Mündung des Kongos brachte!" „Glauben Sie wirklich, daß dieses afrikanische Reich von so großer militärischer Bedeutung ist?"

„Heute ist es zur Not noch erträglich; aber die Franzosen, denen die wirtschaftliche Erschließung so riesiger Gebiete im Grunde zu mühselig und zu langweilig ist, sind mit Feuereifer dabei, aus diesem Erdteil eine Militärkolonie ersten Ranges zu machen. Ich habe Nachrichten von Ansiedlungen, in denen systematisch Menschen zu Soldaten gezüchtet werden, nach dem alten Muster der türkischen Janitscharenkolonien. Wie wir uns dagegen einmal wehren wer­ den, ist mir nicht klar!" „Das einzige Mittel wäre," sagte Ernst nachdenklich, „wenn wir in Zentralafrika ein ähnliches Reich gründeten, das im Kriegs­ fälle militärisch die französische Kolonialarmee beschäftigen und fesseln könnte." „Ja, das wäre möglich! Aber das werden wir nicht fertig be­ kommen, weil wir keine Politiker haben, üderhaupt kein politisch veranlagtes Volk sind. Wir sind und bleiben eben stets, solange es eine Geschichte gibt, Objekt der Politik und werden niemals ihr Subjekt. Und dadurch bleibt die ganze Tüchtigkeit des deutschen Volkes, ebenfalls solange es eine Geschichte gibt, immer im Grunde steril. Doch ich verliere mich hier auf Wegen, die ich als Be­ amter eigentlich nicht betreten darf. Ich bitte, diese Unterhaltung auch nur als rein privat zu betrachten."

Kurz darauf verabschiedeten sich die drei Herren von dem Kon­ sul, denn es war höchste Zeit geworden, daß sie ins Mellah gingen.

„Auch dort können Sie deutsche Politik studieren, wenn Sie wollen," sagte Dr. Bischoff, als er seine Gäste zum Haustor be­ gleitete. „Als in der Soldatenrevolte vor drei Jahren das Ghetto ausgeplündert und niedergebrannt wurde, sammelte das Juden­ tum in ganz Europa Geld zu seinem Wiederaufbau; auch aus Deutschland kamen ganz erhebliche Summen. Was aber machte die

Alliance Jsra4litique, die die Führung in der Angelegenheit über­ nahm? Sie gründete mit diesem Gelde französische Schulen im Mellah; so dient unser deutsches Vermögen unmittelbar dazu, französische Kolonialpolitik zu fördern. Als ich das merkte, habe ich natürlich sofort einen Bericht eingereicht — und ich nehme an, daß mein Protest noch heute sorgsam abgelegt in den Akten des Auswärtigen Amtes zu finden ist. Auf jeden Fall aber ist nie­ mals etwas in der Sache erfolgt!" Während unsere beiden Freunde mit Herrn Lohgerber durch den Sonnenbrand nach Fes el Dfchedid zogen, fragte Philipp interessiert, was der Konsul zu ihren industriellen Plänen gesagt habe. „Gar nichts," sagte Ernst trocken; „unter den Franzosen ist an so etwas nicht zu denken!"

„Das war bis jetzt immer Philipp verstimmt

die amtliche Weisheit,"

erwiderte

„Allerdings. Aber lassen Sie deshalb nicht den Kopf hängen. Wir werden die Sache auch ohne die Unterstützung der hohen Be­ hörden machen. Im übrigen: Dr. Bischoff ist doch eine Aus­ nahme. Politisch freidenkend, also befähigt. Das Beste an ihm ist Ihnen aber entgangen. Er scheint eifriger Forscher auf dem Ge­ biete des alten arabischen Rechtes zu sein; auf jeden Fall ist seine Sammlung von marokkanischen Handschriften höchst beachtens­ wert. Leider verstehe ich nicht viel davon, sonst würde ich ihm gern mehr Zeit widmen." Erhitzt, müde, hungrig und durstig langten die drei Herren ^schließlich beim Hause des Scheichs der Juden im Mellah an.

An der Tür empfingen sie einige junge Männer und geleiteten sie in das erste Stockwerk hinauf.

Als Herr Lohgerber mit unseren Freunden den langgestreckten Festsaal betrat, hatten sie den Eindruck, als wären sie schon seit einiger Zeit mit großer Ungeduld erwartet worden. Der Saal war vollständig mit festlich gekleideten Leuten, natürlich zumeisk Juden, angefüllt, aber sie sahen auch unter ihnen einige beturbante Häupter von wohlhabenden Mauren der Stadt und schließlich auch das Ehe-

paar Schröder und den unvermeidlichen Holmscher, die bereits vor­ her von ihrem weltgewandten und aufopferungsvollen Führer,, Herrn Vogel, hierhergeführt waren. Der Festgeber, der Scheich der Juden, Ben Jehuda, empfing die beiden Herren mit dem Ausdruck aufrichtiger Freude und tiefer Ehrfurcht. Diese waren einen Augenblick im Zweifel, ob solche Ehrfurcht nur eine Formel der Anstandspflicht des höflichen Wirtes war, oder ob Herr Lohgerber bei der Ankündigung des unerwarteten Besuches die gesellschaftliche und finanzielle Be­ deutung unseres Freundes Ernst vielleicht etwas zu blühend ge­ färbt hatte, oder ob gar der neu gewonnene Ruf des erhabenen Mannes unter den Kaufleuten der Kaifaria schon bis in das ge­ schäftskundige Mellah gedrungen war. Genug, Ernst konnte sich über den Empfang nicht beklagen. Nach Abwicklung der umfang­ reichen landesüblichen Begrüßungen unter Anrufung des Höchsten, die man gegenseitig wegen der Sprachfremdheit nicht verstand, wurden unsere Freunde den Festteilnehmern vorgestellt und muß­ ten sämtlichen Juden und Mohammedanern die Hände drücken, wobei sehr viel weitere unverstandene Worte fielen; dem farben­ prangenden Kranze der schönen Jüdinnen aber, die an einem Ende des Saales in mehreren Reihen auf Polstern faßen, machte der kleine, behäbige Herr seine anmutigsten Verbeugungen des europä­ ischen Kavaliers, für welche Ehre die verwunderten Frauen mit einem etwas verlegenen Lächeln dankten. In ihrer Mitte faß die Verwandte des Scheichs, eine junge Dame aus Meknes> deren Besuch zu Ehren der Hausherr das Fest veranstaltet hatte, mit einem Säugling auf dem Schoße, und an ihrer Seite hatte den Ehrenplatz Frau Schröder inne. Noch tiefer wurden die Verbeugungen unseres Freundes, als Herr Lohgerber ihm zuflüsterte, daß die beiden ihm gerade von dem Scheich präsentierten Damen dessen beiden jungen Töchter seien. Es war in der Tat äußerst possierlich anzusehen, wie der kleine behäbige Herr sich in weltgewandten Formen abmühte, obgleich er in jeder Hand ein schweres Bündel Pantoffeln trug, bte in sein Hotel zurückzusenden er immer noch keine Gelegenheit ge­ funden hatte. Besonders possierlich war es aber zu beobachten, wie er, augenscheinlich von den Anstrengungen des Morgenspazier-

ganges erschöpft, sich sofort auf einem Polster an der Wand in unmittelbarer Nähe der schönen Töchter des Hauses niederließ. Offenbar wurde dadurch die Tafelordnung etwas gestört; denn der Scheich selbst wollte es sich nicht nehmen lassen, sich zur Linken des bedeutenden, fernzugereisten Mannes hinzusetzen, und zog Herrn Lohgerber an seiner anderen Seite nieder. Ihnen gegen­ über setzte sich Philipp auf ein freies Polster zwischen den genialen Jüngling Holmscher und Herrn Schröder, und daran an­ schließend nahmen auf den beiden langen Seiten der Halle die zahlreichen männlichen Gäste des Hauses Platz. Ganz am Ende, an der schmalen Seite des Saales, den Frauen gegenüber, saßen die Musikanten, zwei Araber mit lautenähnlichen Instrumenten, den Gimbris, ein Negerjunge mit einer Art Kesselpauke und drei jüdische Mädchen mit Tamburinen. Die Diener des Hauses schoben dann, als alles Platz genommen hatte, kleine niedrige Tischchen vor die Reihe der Tafelnden.

Die Unterhaltung begann sofort äußerst lebhaft zu werben. Alles sprach und lachte durcheinander. Natürlich waren die an­ wesenden Europäer, die außer den Herren Lohgerber und Vogel sich nicht an der allgemeinen Konversation beteiligen konnten, dar­ auf angewiesen, sich gegenseitig mehr oder weniger humoristische Bemerkungen über die ungewohnten Vorgänge des Festes zu­ zurufen, wobei es Ernst öfters passierte, daß er bei seinen leicht­ fertigen Anmerkungen die Anwesenheit oder Sprachkundigkeit der Frau Schröder vergaß. Er hielt sich dann zuweilen verlegen die Hand vor den Mund; die gütige Dame aber schien Spaß zu ver­ stehen und sagte lächelnd: „Bitte, das macht gar nichts; ich ver­ stehe heute nur arabisch." Kleine Mädchen, die Kinder des Hauses oder vielleicht auch Töchter einzelner der Gäste, liefen mit ihren bunten, hellgrünen Röcklein und ihren nackten Beinchen zwischen den Gästen hin und her, zündeten wohlriechende Kerzen an, schwenkten kleine Pfannen mit Weihrauch oder besprengten aus langen, dünnen, bunt bemal­ ten Glasröhrchen die Kleidung der Festteilnehmer, so daß bald der ganze Raum mit den Wohlgerüchen der ätherischen Oele und der verbrennenden Harze erfüllt war.

Frau Schröder bemerkte dazu: „Es ist doch gut, daß wir zu Hause es nicht nötig haben, uns erst zu parfümieren, wenn wir uns wohl fühlen wollen." Worauf Ernst trocken erwiderte: „Ich wollte, Sie hätten recht!" Mit einem Gefühle, halb aus Schrecken, halb aus Bewunderung gemischt, bemerkte er, daß man sein Tischchen unterdessen mit zahl­ losen Gläsern, Schalen und Bechern bedeckt hatte, die mit Ge­ tränke verschiedenster Farbe gefüllt waren. Da ihn ein großer Durst plagte, sagte er: „Wir wollen ganz vorsichtig mit Wasser anfangen;" setzte aber sofort freudig überrascht das Glas hin und rief: „Schnaps!" Der Scheich schien die Betroffenheit unseres Freundes zu miß­ deuten und winkte eins der Mädchen herbei, das dann etwas Rofenwaffer in den Becher goß. Als höflicher Gast leerte daraufhin Ernst das Glas in einem Zuge und rief: „Ufian!" Auf deutsch fügte er aber mit sauersüßer Miene hinzu: „Kümmel mit Eau de Cologne! O, der Gerechte muß viel um seines Glaubens willen

leiden!" Die anderen Festteilnehmer hatten bezüglich der Getränke ähn­ liche Entdeckungen gemacht, die man teils erfreut, teils erbost den Schicksalsgefährten mitteilte. Und so dauerte es nicht lange, bis jeder mit einem seltsamen Gemisch von Flüssigkeiten, Schnäpsen aller Art, sehr süßem Scherbet, der auch irgendwie alkoholisch durchtränkt war, Kaffee, Bier, vor allen Dingen aber einem dem Tokaier ähnlichen Weine, den die Juden bei Fes bauen, angefüllt war. Dazwischen wurden auch Zigaretten verteilt, deren Rauch zusammen mit den wohlriechenden Dämpfen bald den ganzen Raum erfüllte. Dazu spielten die Musikanten bald gemeinsam,

bald einzeln unermüdlich ihre Stücke. Schließlich kamen Diener mit Schüsseln und Platten. „Ra, endlich," rief Ernst erleichtert. Als er aber einen kritischen Blick auf die Schüsseln geworfen hatte, bemerkte er nachdenklich:: „Das ist noch schlimmer als der Turmbau zu Babel! Dort verstanden die Leute nicht, was sie sagten; hier aber weiß man, von der Sprache ganz abgesehen, nicht einmal, was man trinkt, noch was man ißt. Ich sehe, es ist allerlei gekocht, geschmort, gebraten und gebacken, aber was es zu bedeuten hat, das bleibt das Geheimnis

des Kochs unseres Scheichs. Vielleicht ist es auch besser, es bleibt verborgen." Dann griff er resigniert nach einem Holzstöckchen, auf dem kleine braune Fleischstückchen sorgfältig zu einer Perlenschnur aufgespießt waren. Der freundliche Scheich wies einladend auf eine Schüssel, die auf dem Tischchen vor ihm stand und Nahrungsmittel von etwas flüssigerer Beschaffenheit enthielt. Ernst sah sich eine zeitlang hilf­ los und verlegen um; dann aber rief er: „Ich hab's gefunden! Dieses Stäbchen tauch' ich ein!" und begann mit dem eben ab­ genagten Hölzlein einige besonders große in der nahrhaften Sauce herumschwimmenden Stücke zu harpunieren und dem Munde zu­ zuführen. Allerdings boten nicht alle Gerichte dieselben Schwierig­ keiten; namentlich erfreuten sich die Hammelkotelettes der be­ sonderen Vorliebe des kleinen Herrn, weil sie verhältnismäßig leicht und sicher an der Rippe selbst zu fassen waren. Dagegen wagte er sich nicht an die süßen Speisen heran. „Sie müssen die Finger nehmen," rief ihm Herr Lohgerber zu; „wir alle machen es ja so!" Aber Ernst schien sich zu scheuen,«--und als der freundliche Fest­ geber ihn immer wieder auf eine der vor ihm stehenden Schüsseln hinwies, die nach seiner Ansicht wohl Anspruch hatte, das besondere Interesse seines Gastes zu erwecken, rief er ihm auf deutsch zu: „Nein, mein Bester, Milchreis esse ich schon seit vierzig Jahren nicht mehr! Den gib deinen Enkelkindern zu essen, die ihn ver­ mutlich besser zu würdigen wissen!" Der Scheich lachte vergnügt, denn er hielt diese Bemerkung wohl für eine besonders feierliche und ehrfurchtsvolle Dankesbezeugung. Da rutschte einer der in der Nähe sitzenden Mauren auf seinem Kissen zu Ernst hin. Kunstverständig griff er in verschiedene mit Süßigkeiten gefüllte Schüsseln hinein, drehte zwischen den Hand­ flächen eine appetitliche Kugel und steckte sie dann liebenswürdig lächelnd unserm nichts Böses ahnenden Freunde in den Mund. Der suchte sich zu retten, indem er sich an die Wand zurückbeugte; aber Herr Lohgerber rief warnend: „Beleidigen Sie den Mann nicht! Es ist einer von den ganz Großen der Stadt!" So blieb dem Aermsten nichts anderes übrig, als Befriedigung heuchelnd die süße Kugel herunterzuschlucken. „Warte, mein edler Menschen-

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freund, ich werde dir das eintränken," sagte er boshaft und reichte ihm ein volles Glas hin, das mit Machija, einem kirschwäsferähnlichen Getränke, bis zum Rande gefüllt war. Der Maure wies erschrocken mit abwehrender Hand das seinem Glauben verbotene Getränk zurück, aber der racheschnaubende Mann ließ nicht nach: „Ma — Wasser," sagte er verbindlich lächelnd und fügte auf deutsch hinzu: „Tu mir den Gefallen und verschlucke es, ich bitte dich, und vergiß nicht den Satz, wie du mir, so ich dir." Der edle Maure, dem Unhöflichkeit wahrscheinlich eine größere Sünde er­ schien als die Uebertretung eines Speisegebotes, leerte denn auch mit Todesverachtung das Glas.

Zum höchsten Entsetzen des kleinen Herrn wiederholte sich nun das Kugeldrehen fortwährend. Mit Schaudern beobachtete er, mit welcher Fingerfertigkeit die Leute einzelne besonders saftige Bissen aus den Schüsseln fischten und sie den angesehenen Gästen, denen sie eine Ehre erweisen wollten, unter höflichen Redewendungen in den Mund steckten. Allerdings gelang es ihm endlich, die Söhne Mohammeds durch die angedrohte Verabfolgung von Schnaps zu verscheuchen. Leider verfing aber dieses Mittel nicht bei den Juden, die dankbar die erwiesene Höflichkeit annahmen und die geistigen Getränke in vollen Zügen hinabgossen. „Wenn ich nur richtiges Wasser hier hätte," sagte Ernst, „viel­ leicht könnte ich mir dann auch diese Kerle vom Leibe halten, da sie vor dem so heilsamen Gänseweine eine große Scheu zu haben scheinen." Aber so mannigfach.die dargereichten Getränke auch waren, Wasser war nicht dabei zu finden. Da der edle Dulder indessen herausfand, daß bei reichlichem Genusse von geistigen Getränken die dargereichten Kugeln weniger unangenehm waren, fand er sich schließlich in sein Schicksal. Und wie alles einmal ein Ende nimmt, so geschah es auch mit dieser Schmauserei. Schließlich verschwanden die Schüsseln mit den ver­ dächtigen Gerichten, und Ernst atmete auf.

Als er sich eine Zigarre ansteckte, philosophierte er: „Wenn ich jetzt noch eine Tasse Kaffee bekäme, stände ich am Ziele aller meiner irdischen Wünsche; des süßen Weines wenigstens bin ich ja ziemlich voll geworden." Sein leuchtendes Antlitz,

das unterdessen purpurrot geworden war, ließ an der Richtigkeit des letzten Teiles seiner Behauptung keinen Zweifel aufkommen. Da erhob sich aus den Reihen der Frauen die ältere Tochter des Scheichs, die, wie Herr Lohgerber bemerkte, mit einem der anwesenden Juden verheiratet war, ging mit einem Kruge Wein auf Ernst zu, nippte von demselben und reichte ihn dem aus­ gezeichneten Gaste. „Möglichst austrinken," rief Herr Lohgerber belehrend. „Wenn mir der Wein von einer so schönen Hand dargeboten wird, dann braucht mir das nicht zweimal gesagt zu werden," sagte der erhabene Mann feurig und ließ sein Antlitz hinter dem Kruge auf einige Zeit verschwinden. „Doch so anmutig auch diese Dame ist, noch viel lieber wäre mir, wenn die jüngere Tochter unseres freundlichen Wirtes hier zu meiner Seite den Wein kre­ denzt hätte. Ist sie nicht ein vollendetes Musterbild von Schön­ heit?" „Ihr Wunsch wird Ihnen erfüllt werden," sagte Herr Loh­ gerber, „warten Sie es ab. . Es kommen alle an die Reihe!" „Um Gottes willen," rief Ernst entsetzt, „Sie spaßen doch hoffentlich nur; sonst kann die Sache ja * Jetzt drangen auch in den beträcht­ lichen Lärm, der von dem lebhaften Geplauder der Gäste und dem Spiele der Musikanten erzeugt wurde, zum ersten Male die seltsamen, aber nicht mißzuverstehenden Laute hinein, die jedes Festmahl in diesen Himmelsstrichen nbzuschließen pflegen, nämlich ein furcht­ bares Rülpsen aus vollster, tiefer Kehle. Damit wird die grenzenlose Befriedi­ gung über die dargebotnen Genüsse zum Ausdruck gebracht; und nur ein unhöf­ licher Gast, dem die Ehre des Hausherrn wenig am Herzen liegt, unterläßt es, feinen Gefühlen der Dankbarkeit in der angegebenen Weise Ausdruck zu geben. Herr Lohgerber ermunterte daher auch seine deutschen Freunde, dieser schönen Landessitte zu Brinkmann, Wallfahrt

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folgen, aber Ernst meinte abwehrend: „Ich werde mich schwer hüten; denn ich weiß vielleicht, wie ein solcher Versuch anfängt, aber nicht, wie er endigen wird!"

Die kleinen Mädchen, die vorher den Saal beweihräuchert hatten, übernahmen nun auch die Zeremonie des Händewaschens, das natürlich nach einer ohne den Gebrauch irgendwelchen Eß­ besteckes überstandenen Mahlzeit durchaus nötig war. Sie reich­ ten den Gästen kleine messingene Schalen hin und gossen über ihre Hände Wasser aus einem Kruge von gleichem Metalle.

rnst, der in seiner Bescheidenheit kein Bedürfnis mehr fühlte, den immer noch reichlich kredenzten Getränken weiter zuzu­ sprechen, lehnte sich gegen seine Pantoffelbündel an die Wand und sah mit sichtlicher Befriedigung dem frohen Treiben in der Halle zu. Nachdenklich folgte er mit seinen olympischen Augen den Rauchwolken seiner Zigarre, die sich mit den dichten Dämpfen, die den Saal reichlich erfüllten, vereinigten; denn auch einzelne der Juden hatten sich bereits die europäische Sitte des Zigaretten­ rauchens angewöhnt, und die maurischen Herren, die ebenfalls mit nachdenklicher Verdauung beschäftigt waren, schmauchten behaglich ihre Kifpfeifen.

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Da wurde seine Aufmerksamkeit auf ein recht lebhaftes Zwie­ gespräch zwischen der schönen Frau Schröder und dem blond­ gelockten Holmscher gelenkt. „Der reichliche Schmuck dieser Damen hier," sagte der liebens­ würdige Jüngling, „tut doch die gleiche Wirkung, obgleich er aus Tombak und buntem Glas zumeist gefertigt sein mag, als wäre er eitel Gold und echtes Edelgestein. Wenn man mit so kleinen Mitteln dieselbe Wirkung der Gefälligkeit erzielen kann, wozu brauchen sich unsere Damen in Europa mit Kapitalien -zu be­ hängen, die für andere Zwecke weit besser verwendet werden könnten?" „Sie scheinen nicht viel von Juwelen zu verstehen," erwiderte Frau Schröder spitzig, „sonst würden Sie den Unterschied zwischen dem Feuer von Brillanten und dem matten Schimmer dieser Glas­ scherben wohl erkennen."

„Es mag ein Unterschied bestehen; aber der Zweck, die Ver­ zierung des Kopfes und der Arme, wird auch durch diesen ein­ fachen Schmuck vollständig erreicht." „Die Frauen hier dürften wohl nicht Ihrer Ansicht sein. Wenn sie echte Schmucksachen hätten, würden sie sie gewißlich ihrem wert­ losen Tande vorziehen." „Ich vermute, wenn diese Damen wertvollen Schmuck anzulegen wünschten, so könnten sie es sich wohl leisten; denn wenn auch nicht alle, so stammen doch sichek einige von ihnen aus sehr wohl­ habenden Familien. Zudem glauben Sie doch wohl selbst nicht, -aß bei uns zu Hause aller Schmuck echt ist, der auf unseren Festen getragen wird. Sehen Sie einmal diesen prachtvollen Haar­ schmuck der jungen Frau aus Metnes an! Wäre er echt, würde er, ich weiß nicht wieviel, mindestens aber eine halbe Million tosten. Solche Stücke gibt es selbst in Europa höchstens noch in Kron­

schätzen." „Sie haben Begriffe!" rief Frau Schröder lebhaft. „Kommen Sie nur einmal nach Berlin. Sie werden da die Augen öffnen." „Es ist leider so schwer, jetzt den Beweis für unsere Behaup­ tung anzutreten, da wir so weit entfernt von Berlin sind," sagte Herr Holmscher mit einem überlegenen und impertinenten

Lächeln. „Ich selbst könnte Ihnen Aehnliches und vielleicht noch Schöne­ res zeigen," erwiderte Frau Schröder, die nun im Eifer der Dis­

kussion etwas in Flammen geriet. „Jawohl, in Berlin! Aber, wie gesagt, das ist so weit fort." „Warten Sie es nur ab," rief Frau Schröder. „Ist es nicht furchtbar gleichgültig," mischte sich Ernst in das Gespräch, „ob diese Steine hier teuer oder billig oder echt oder unecht sind? Die Hauptsache ist doch, daß die lebenden Schön­ heiten, die sie schmücken sollen, selbst echt sind; und darüber dürfte -och wohl kein Zweifel bestehen. Da ist nichts aus gefärbtem Glas, sondern alles aus edelstem Kristall. Selten werden Sie daheim in einer zufällig zusammengekommenen Gesellschaft so viele wirkliche Schönheiten finden, wie unter diesen Frauen hier." „Ich habe schon alls den Bemerkungen des Herrn Holmscher gehört," erwiderte Frau Schröder, „daß über das, was man schön

nennen will, keine Beweisführung möglich ist. Ich sehe hier gar nichts von Schönheiten; aber das mag vielleicht daran liegen, daß ich das nicht verstehe." Das letzte war mit einem ironischen Akzent gegeben, den aber der gute kleine Herr über­ hörte. „Es ist mir eigentlich erst jetzt der Begriff dieser Art von Schönheit aufgegangen. Die Frauen hier erinnern mich lebhaft an die charakteristischen Erscheinungen meiner südspanischen Heimat. Ich möchte sogar behaupten, daß der Typus der echten Andalusierin derselbe wie der der marokkanischen Jüdin ist. Sicherlich liegt eine Nassenoerwandtschaft vor. Von der Farbe der Haare und Augen und der weißen Haut gar nicht zu reden, ist der Schnitt des Gesichtes und auch die Körperform ganz offenbar identisch. Ich glaube, es lohnt wirklich, darüber genauere Nachforschungen an­ zustellen." Frau Schröder war gerade im Begriffe, ihre gegenteilige Mei­ nung zum Ausdruck zu bringen, als ein neuer musikalischer Vor­ trag sie unterbrach. Einer der arabischen Tonkünstler war in die Mitte des Saales getreten und hatte einige Strophen rezitiert, die unsere Freunde natürlich nicht verstanden. Darauf winkte ihn die durch das Fest gefeierte Dame aus Metnes zu sich und gab ihm einige kleine Münzen, worauf er wieder eine Strophe sang, die diesmal von einem gewaltigen Getöse der übrigen Musikanten be­ gleitet wurde. Herr Lohgerber gab die Erklärung dazu: „Auf diese Weise wird die Schönheit, Tugend und Weisheit jedes der hervorragenderen Gäste gepriesen; und nach Empfang der Bar­ zahlung richtet sich das Lob der Freigebigkeit und ähnlicher ver­ wandter Tugenden des Gefeierten je nach der Höhe des erhaltenen Geschenkes. Hören Sie, jetzt sind Sie an der Reihe!" Er lauschte gespannt und glaubte in dem ihm sonst dunkel ge­ bliebenen Texte das „Sid Ernesto" herauszuhören. „Meine Tugenden scheinen kein Ende zu nehmen," sagte er. „Sie müssen mir das nachher übersetzen, damit ich selbst einmal sie kennen lerne." Mit Befriedigung bemerkte er, daß er auf ganz besondere Weise gefeiert wurde; denn nachdem der Araber dvs Lied beendigt hatte, trat eine der jüdischen Sängerinnen, eine Dschechat, hinzu und

schien ein ergänzendes Loblied auf die gleichen Tugenden des hoch­ bedeutenden Mannes zu singen. Der aber erglühte vor Be­ wunderung, zumal er der Schmeichelei nicht unzugänglich war. „Sehen Sie sich doch das Mädchen an. Können Sie sich etwas Vollkommeneres denken? Diese zarte Linienführung ihrer Er­ scheinung! Ah, sie würde in jedem Palaste Sevillas Aufsehen erregen." „Ich kenne die Ansprüche Sevillas nicht," sagte Frau Schröder unmutig. Was Wunder, daß der kleine Herr den ganzen Inhalt seiner Taschen, einen großen Hausen von Silbermünzen, auf das Becken, das ihm der Musikant reichte, streute, und dementsprechend das blumenreiche Lob seiner Freigebigkeit in endlosen Strophen ge­ feiert wurde! Das Gleiche wiederholte sich noch häufig mit den anderen Gästen, wenn auch die Geldspenden mit der Zeit kleiner und da­ mit auch die Preislieder immer kürzer wurden. Ernst hatte dadurch Gelegenheit genug, sich in Betrachtungen über die arabische Musik zu ergehen. „Diese Kasidas, wie ich glaube, nennt man so die eben gehörte Liedform, ähneln doch außerordentlich unsern spanischen Iotas. Die gleichen Kadenzen in Halbtönen, die gleichen gutturalen Laute und auch die gleichen Musikinstrumente; denn die Gimbris scheinen altertümliche Gui­ tarren zu sein, und die Schellentrommeln haben sich noch heute in den spanischen Panderetas erhalten. Ueberhaupt sehe ich immer mehr ein, wie unsere andalusische Eigenart ein etwas modernisier­ tes arabisches Volksleben ist. Ich hatte ja dieser Tage schon genug Gelegenheit, Sie darauf hinzuweisen, daß zwischen den Rufen der spanischen und der arabischen Eselstreiber kein Unterschied weder in Worten noch im Tonfall zu finden ist. Und wenn ich einen Mueddin vom Turme singen höre, so kann ich nicht umhin, an das Lied des Nachtwächters in unfern heimischen Dörfern zu denken. Wer Spanien kennen lernen will, der muß nach Marokko gehen."

/7\ie Feststimmung wurde immer übermütiger, und die Musikanten waren offenbar sehr zufrieden. Die vorerwähnte Dschechat schien nun scherzhafte Lieder zu singen, wie aus dem vergnügten

Lachen der Gäste zu erkennen war. Und wenn Ernst natürlich auch kein Wort davon verstand, lauschte er doch mit Vergnügen der leichtflüssigen Melodie und der wohlgeschulten Stimme, die in silberhellen Koloraturen zu ätherischen Höhen hinaufstieg. „Ausgezeichnet," rief er und klatschte in die Hände, „das lasse ich mir gefallen! Das kann man auch bei, uns kaum schöner singen!" „Haben Sie jemals eine europäische Koloratursängerin ge­ hört?" fragte Frau Schröder. Ernst sah die Dame mit großen Augen an, erwiderte aber nichts. „Haben Sie jemals eine italienische Sängerin gehört, wie die Beltran de Lis oder gar sie selbst einmal? Erst unnn Sie das

gehört haben, wissen Sie, was Koloratursingen ist!" belehrte ihn Frau Schröder. Er erwiderte immer noch nichts. „Nicht wahr, Sie haben sie noch nicht gehört? Natürlich nicht!" „Ob ich sie gehört habe," sagte er endlich bitter lächelnd; dann brauste er aber empört auf: „Und ich will verflucht sein, wenn ich sie je wieder höre!" Doch er nahm sich rasch wieder zusammen und zog, als wollte er sich künstlich von schmerzlichen Gedanken ablenken, seine Brille aus der Tasche und begann die Gläser lang­ sam und sorgfältig zu putzen. Frau Schröder war überrascht und betroffen und wagte es nicht mehr, bei diesem Gegenstände zu verharren. Da sie aber doch von der Neugierde geplagt wurde, wandte sie sich leise an Philipp: „Ihr Freund ist.plötzlich so stumm geworden. Habe ich vielleicht eine schmerzhafte Saite bei ihm berührt?" „Ich fürchte: ja!" „Wie wäre das möglich?" „Ein andermal vielleicht," wehrte Philipp ab. sgrnft hatte unterdessen seine Schießbrille aufgesetzt und schien feine glotzenden Augen nun nicht mehr von den Füßen der Frauen abwenden zu können, die der Landessitte entsprechend natürlich ohne jedes Schuhzeug aus den faltigen Röcken heraus-

lugten. Es erweckte große Heiterkeit unter seinen europäischen Freunden, als sie bemerkten, daß der künstlerische Sinn des gro­ ßen Mannes augenscheinlich davon fasziniert wurde. „Ganz wundervolle Füße," sagte er, offenbar entschlossen, heute alles schön und entzückend zu finden. „Da merkt man erst den Vorteil, den es hat, kein Schuhzeug oder allenfalls nur ganz leichte Pantoffeln zu tragen. Das muß ich mir doch zum An­

denken festhalten!" Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und begann mit meister­ haften Strichen das ihm zunächst befindliche Futzpaar auf das Blatt zu skizzieren. Selbstverständlich fiel diese seltsame Tätig­ keit auch den übrigen Gästen auf, und namentlich die Frauen, die unterdessen während des langen Festmahles ebenfalls sehr munter geworden waren, fingen zu flüstern und zu kichern an. Die schöne Besitzerin der abkonterfeiten Füße indessen, Fecha, die jüngere Tochter des Scheichs, wurde rot und verlegen und zog den Gegen­ stand der wunderlichen Aufmerksamkeit ganz unter den weilen faltigen Rock zurück. „Es ist zu spät, mein Kind," sagte Ernst, natürlich auf deutsch. „Das Portrait ist fertig; und zum Dank sollst du auch deine Be­ lohnung haben. Ich habe nicht umsonst so bedeutende Einkäufe

auf dem Markte gemacht!" Er versuchte sich zu erheben, was mit außerordentlichen Schwie­ rigkeiten verknüpft war; denn seine Füße waren durch die stundenlange hockende Stellung allmählich eingeschlafen und steif geworden; und die große Anstrengung, den schweren Körper in die Höhe zu wuchten, ließ sein bereits von starken Getränken rot gefärbtes Antlitz in noch glühenderem Purpur erstrahlen, was die Festteilnehmer sämtlich zu einer schadenfrohen Heiterkeit ver­ anlaßte. Das Erstaunen wurde indessen allgemein, als der kleine Herr eines seiner Bündel aufschnürte und ein Paar Babuschen auswählte. Er ging auf Fecha zu, zog ihr züchtig die Füße unter dem Rock hervor, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, und stülpte ihr auf jeden derselben einen der prächtig goldgestickten Pan­ toffeln. „Was fangen Sie da an?" ries Herr Lohgerber mit einigem

Entsetzen.

„Erklären Sie bitte dem Papa, daß dies bei uns so Sitte ist; dann wird er sich schon zufrieden geben." „Aber die Jüdinnen tragen doch nur schwarze Pantoffeln!" „Das ist mir gleichgültig; soll sie doch zum heiligen Islam über­ treten!" „Und die anderen Frauen werden neidisch werden." „0, dafür ist gesorgt; wenigstens soweit der Vorrat reicht."

Er schien an dieser neuen Beschäftigung großes Gefallen zu finden und ruhte nicht eher, als bis kein weiblicher Fuß mehr unbekleidet war; und als er dabei zu Frau Schröder kam, sagte er fast bedauernd: „Es tut mir unendlich leid, gnädige Frau, daß Sie bereits beschuht sind. Wie gerne würde ich Ihnen einen ähn­ lichen Liebesdienst erwiesen haben!" „Nun, so geben Sie mir wenigstens ein Paar Pantoffeln zum Andenken an dieses schöne Fest und an Sie selbst," sagte sie mit innigem Augenaufschlage. Natürlich versagte der galante Mann ihr nicht den bescheidenen Wunsch. „Was ist aus Ihrer herrlichen Sammlung geworden?" rief Philipp bedauernd, als er die Reichtümer seines Freundes so da­ hinschwinden sah.

Ernst verschnürte gemächlich das ihm noch verbleibende kleine Bündel und sagte: „Ich halte meinen Kauf für gut angewandt; heißt es doch: machet euch Freunde mit dem ungerechten Mam­ mon. Und sollte es mir leid tun, so wird Iben El Karibi ja wohl kein Bedenken tragen, mir noch mehr von seinen Vorräten ab­ zugeben."

Nun aber ermunterte der ehrwürdige Scheich seine jüngere Tochter, dem ausgezeichneten Gaste aus einem neu gefüllten Pokale zuzutrinken, wie es die ältere Schwester bereits vorher getan hatte; und noch manche andere der Damen und Herren folgten diesem schönen Beispiele. Der also Gefeierte stöhnte ängstlich: „Ich bin nun wie ein Weinschlauch aus Schwsinsleder. Wenn man mit einer Nadel nach mir sticht, spritzt der Rebensaft in dickem Strahle aus der Pore heraus. Mich deucht, es wird Zeit, daß ich von hier fort­ komme, oder ich richte noch Unheil an. Doch in diesen heiligen Hallen scheint dem Glücklichen keine Stunde zu schlagen. Ich sehe da vor mir das kunstvoll gemalte Gehäuse einer Uhr, aber das Werk selbst fehlt. Ist das eine besondere Feinheit und Liebenswürdigkeit unseres Wirtes?"

„Nein," sagte Herr Lohgerber, „es ist nur eine Feinheit und Liebenswürdigkeit der Aster. Als sie vor drei Jahren das Mellah plünderten, haben sie dem Manne auch die Uhr aus dem Kasten genommen; und bis jetzt scheint er keine Gelegenheit gehabt zu haben, den Verlust zu ersetzen." „Es ist wohl nicht das Einzige, was sie ihm geraubt haben?" „Alles, was einigen Wert hatte und nicht niet- und nagelfest war, haben sie mitgehen heißen. Aber diese geduldigen Leute hier sind an dergleichen Unfälle gewöhnt; und auch unser Scheich wird den wertvollsten Teil seiner Habe verborgen haben. Im übrigen bin ich sicher, daß in diesen drei Jahren seine geschäftliche Tüchtig­ keit es wohl verstanden hat, alle Verluste wieder zu ersetzen."

rnst bemerkte Holmscher, der sich ebenfalls erhoben hatte, in der Nähe der Musikanten. „Der edle Jüngling scheint doch mehr Interesse für Musik zu haben, als nach seinem erbarmungswürdigen Violinspiele, das ich

einmal und hoffentlich nie wieder zu hören Gelegenheit hatte, zu vermuten war!" sagte er. Es wurde aber sofort klar, was es mit diesem Musikinterefse auf sich hatte. Der geniale junge Mann mit dem wüsten Lockenkopfe kauerte sich auf ein Polster zu Seiten Herrn Lohgerbers und sagte: „Ich habe Sie in meine Aufgabe und den Plan, den ich zu ihrer Durch­ führung ersonnen habe, eingeweiht. Jetzt ist mir auch dank einem glücklichen Zufall — Sie wissen ja: bei den Leistungen selbst der größten Genies hat der Zufall stets seinen Anteil am Erfolge — die letzte Einzelheit klar geworden. Auch ich bin Tonkünstler; ich spiele nämlich die Violine; ein wenig nur, nicht mit Meister­ schaft", fügte er in übertriebener Bescheidenheit hinzu, „aber es genügt für meine Zwecke; ich werde mich daher einer arabischen Musikantentruppe, natürlich selbst als Eingeborener verkleidet, an­ schließen. Die Vermittlung würde ich Sie natürlich zu übernehmen bitten." „Gewiß, ich stehe ganz zu Diensten; nur — verstehe ich nicht recht, worauf Sie hinauswollen." „Nichts einfacher als das! Auf diese Weise komme ich nämlich mit der Zeit in alle vornehmen arabischen Häuser, nehme, an ihren Geselligkeiten teil und werde sicherlich einmal dem armen unglück­ lichen Mädchen begegnen, dessen Befreiung mir durch den Nus des Schicksals auferlegt ist!" „Der Gedanke scheint mir wirklich nicht übel," sagte Herr Loh­ gerber mit einem versteckten Lächeln. „So wird es gehen! Aller­ dings nehmen bei den Festen der Araber die Damen des Hauses nicht teil. Das ist dort ganz anders, wie hier bei den Juden; aber ich bin überzeugt, es wird Ihrem Scharfsinn und Ihrer Tat­ kraft wohl gelingen, auch diese Schwierigkeit zu überwinden." „Das denke ich auch! Man wird gerne den Frauen des Hauses Gelegenheit geben, gute Musik zu hören. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß der Ruf meiner Kunst sich sehr bald ver­ breiten wird. Ich nehme an, alles wird sich für den jungen, un­ bekannten arabischen Fremdling, der so wunderbar sein Instru­ ment zu meistern versteht, interessieren, und ich überlasse es Ihrer Phantasie, irgend eine rührende Geschichte von meiner seltsamen

Vergangenheit, ganz in Moll gehalten, zu erfinden. So kann es nicht ausbleiben, daß der Tyrann, der das arme, von mir ge­ suchte Christenmädchen in entehrender Gefangenschaft hält, sich von seinen Bitten rühren läßt und dem seltsamen Fremdling Ge­ legenheit gibt, die junge Gattin in ihrer Melancholie und Traurig­ keit zu trösten und womöglich aufzuheitern!"

„Gewiß; das ist alles sehr schön; aber ich sehe immer noch nicht, wie Sie auf diese Weise vorwärts kommen. Die Frauen bleiben hinter ihren Vorhängen verborgen!"

„Lassen Sie mich nur machen! Ich werde mein Saitenspiel mit Gesang begleiten; und da die junge Dame französisch ver­ steht, werde ich im Liede um ein Erkennungszeichen bitten und mitteilen, daß die Rettung nahe. Das Uebrige findet sich dann ganz von selbst!" „Ganz ausgezeichnet!" rief jetzt Herr Lohgerber lachend.. „Ich sehe, Sie haben die Trubadurromane mit Erfolg gelesen. So wird es gemacht! Wir wollen in den nächsten Tagen einmal darüber gründlich reden."

Unterdessen hatten sich die beiden Freunde zum endgültigen Abschiede erhoben. Herr Lohgerber versuchte sie natürlich zu längerem Bleiben zu veranlassen, indem er darauf hinwies, daß ihre Wirte sich um so mehr geehrt fühlten, je später sie an den Aufbruch dächten. Aber der kleine Herr war nicht mehr zu halten. „Mein Zu­ stand erlaubt mir nicht, noch länger dieses Fest fortzusetzen. Im Interesse unser aller ist es das Beste, ich gehe beizeiten, ehe ich noch Gelegenheit habe, irgendwelche Dummheiten zu begehen." Als Lohgerber sah, daß er wirklich nicht länger zurückzuhalten war, führte er ihn zu einem Soldaten des Konsulats, der ihm eine Botschaft zu bringen und so lange geduldig und bescheiden

an der Tür gewartet hatte. „Er will wissen, um wieviel Uhr morgen die Maultiere an Ihrem Hotel , warten sollen," sagte Herr Lohgerber. Ernst sann einen Augenblick nach und sagte dann schließlich: „Ich nehme an, wir dehnen heute unser Abendbrot nicht so lange wie gewöhnlich aus; denn großen Hunger verspürt wohl niemand

von uns mehr. Um neun Uhr treffen wir uns natürlich im Cafs Paris, aber gehen früh heim. Außerdem ist es ja geraten, den Nitt nicht zu spät zu unternehmen und die Mittagsglut zu ver­ meiden. Also sagen Sie ihm, er soll punkt sechs Uhr mit den Tieren auf uns warten." Mit diesem Bescheide wurde der Soldat entlassen. Als letzten Abschiedstrunk ließ der freundliche Scheich dann nochmals die Gläser unserer Freunde mit Bier füllen; der kleine Herr drückte wiederum den kichernden Damen des Hauses die Hand und verabschiedete sich von den übrigen Gästen mit aufgehobenem Arme, indem er den Segen Allahs auf sie alle herabflehte — in

diesem Augenblick war er sich über den Unterschied der Konfes­ sionen sicherlich nicht vollständig klar — und stand bald darauf mit seinem Freunde auf der engen Gasse des Mellahs. Es war vorgerückte Dämmerstunde. Er fühlte sich augen­ scheinlich nicht ganz sicher auf den Füßen, als er die frische und reine Brise des Abends einatmete. „Ach Gott," stöhnte er, „Straße des Ghettos, du siehst wirk­ lich verflucht wunderlich aus! Hören Sie, lieber Freund, sind Sie sich der Richtung, die wir einzuschlagen haben, bewußt?"

„Biegen wir nach links ab; ich glaube, es wird schon stimmen. Natürlich, wer möchte jetzt noch Garantien für die Schärfe seines Ortssinnes übernehmen!" Während sie die Straße entlangzogen, fiel es Philipp auf, daß die Leute ihnen erstaunt und vergnügt nachlächelten. Schließ­ lich entdeckte er auch die Ursache dazu. Ernst trug nämlich unter einem Arm das Bündel mit dem ihm trotz seiner Munifizenz noch gebliebenen Vorräte an Pantoffeln, aus dem sich alle dreißig Schritte etwa einer herauslöste und in den Staub fiel. Als der Freund ihn darauf aufmerksam machte, sagte Ernst: „So komme ich noch auf meine alten Tage zu den Erlebnissen eines Aschen­ brödels. Vielleicht wird es dadurch einer wundersam schönen und verliebten Prinzessin, die durch die vermeintliche Kleinheit meines Füßchens an die äußerste Grenze des Entzückens gerät, ermöglicht, meinen Spuren zu folgen. Hoffen wir das Beste!" Das Grand Hotel de Bordeaux war ja gottlob nicht weit vom Mellah entfernt; und nach einigen nur unwesentlichen Jrrgängen gelangten die Freunde schließlich in ihr bescheidenes Gemach. Der kleine Herr war außerordentlich gut gelaunt: „Ein herr­ licher. Nachmittag, nicht wahr? Ich möchte mich totlachen. Wenn nur die verfluchten Zuckerkugeln nicht gewesen wären!" Und er lachte und lachte und wußte, vielleicht selbst nicht worüber. Dann aber legte er sich der Länge nach auf fein Bett und sagte: „Eine Stunde lang können wir uns ausruhen oder vielleicht auch andert­ halb Stunden. Vergessen wir aber nicht, daß wir versprochen haben, uns um neun Uhr zum Abendbrot einzufinden!" Und immer noch lachend folgte er dem Beispiele Philipps, der bereits eingeschlummert war.

rnst weckte seinen Freund: „Wachen Sie auf! Es ist gleich neun Uhr! Wir müssen gehen, sonst kommen wir zu spät," und er prüfte bei dem flackernden Lichte der Talgkerze mit kritischen Blicken seine Uhr. Der andere sprang vom Bett auf, rieb sich die Augen und öffnete die Tür der Stube. Da flutete mit einem Male das hellste Tageslicht herein. Erstaunt blickte er auf seine eigene Uhr und begann zu lachen: „Sie haben recht; es ist wirklich gleich neun Uhr! Wir wollten zwei Stunden schlafen, es scheint mir aber, es sind vierzehn Stunden darüber vergangen!" „Auch ich dachte, heute ist heute; aber die Welt scheint verkehrt zu sein, und heute ist wirklich schon morgen. O, es ist an der Zeit, daß der heilige Herasem ein durchgreifendes Wunder tut!"

Da kam auch schon die belgische Wirtin über die Galerie des Hauses und brachte auf einem Tablett den schwarzen Kaffee. „Vor dem Tore wartet schon seit drei Stunden ein Mann mit zwei Maultieren." sagte sie.

„Warum haben Sie uns denn nicht geweckt?" rief der kleine

Herr unmutig. „Ich habe es nicht gewagt," erwiderte die würdige Dame be­ scheiden. „Ich nahm an, die Herren wären gestern sehr ermüdet nach Hause gekommen, da sie sich ja so ungewöhnlich früh schlafen

gelegt haben." „Nun ist ja doch nichts mehr zu ändern!

Sagen Sie bitte

dem Mann, wir kämen gleich." Die Freunde wuschen sich, nahmen, auf ihren Betten sitzend, den Kaffee ein und bestiegen die Tiere. Es war unterdessen fast zehn Uhr geworden, und eine gewaltige Hitze lag drückend über

der Stadt. „Es ist vielleicht ganz gut so," bemerkte Ernst tröstend, „bei dieser Temperatur verdampft der Alkohol rascher, den wir ja

immer noch im Blute haben."

Der Maultiertreiber, ein junger Bursche von etwa siebzehn Jahren, beherrschte keine einzige abendländische Sprache; es war daher nicht möglich, sich mit ihm zu verständigen. „Uebernehmen Sie ruhig die Führung," sagte Ernst. „Ich werde Ihnen überallhin nachfolgen. Sie wissen ja, welches Ver­ trauen ich zu Ihrer außerordentlichen Findigkeit habe!" „So? Davon habe ich noch nichts bemerkt. Im Gegenteil: Sie befolgen den Grundsatz, m i ch führen zu lassen, um nachher, wenn nicht alles nach Wunsch geht, eine Befriedigung in der bittersten Kritik zu suchen. O ich durchschaue Sie! Aber mich berührt das nicht!" Philipp trieb also sein Tier an und ritt voraus. Natürlich wußte er vom Wege gar nichts, aber er glaubte sich schon zurecht­ finden zu können. Die Karte hatte er ja einigermaßen im Kopfe und ebenso auch die Beschreibung des Leo Africanus aus dem sech­ zehnten Jahrhundert, was allerdings den ganzen Umfang seiner Kenntnisse der näheren Umgebung von Fes ausmachte. Man zog durch das Tor Sidi Bu Nafa, überquerte den Fes­ fluß und zog auf einer Landstraße die Abhänge der Hügel ent­ lang, die die Stadt von Südosten umgeben. Doch da war kein Baum und kein Strauch, der etwas Schatten gab, und die Hitze wurde unerträglich. Man überschritt ein anderes Flußtal und zog wieder einen Hügel hinauf, von dem aus zum ersten Male sich ein schöner Ausblick über das unendlich weite weiße Häusermeer von Fes el Bali bot. Hinter ihnen, auf der Spitze des Hügels, lag das Bordfch Sud, eine der beiden vom Sultan Almanfor zum Schutze der Stadt gebauten Bastionen. Etwas später kam man zu dem bereits unseren Reisenden bekannten Bab Fetu, dessen schwere Ge­ wölbe mehr als eine Zitadelle zur Beherrschung der Stadt wie als eine Befestigung des Tores gegen äußere Feinde gedacht war. Dann ging es unmittelbar an den endlosen halbverfallenen Mau­ ern im Osten der Stadt weiter. Zu ihrer Rechten auf einer leich­ ten Anhöhe sahen die Freunde wieder das Grabmal Sidi ben Herasems, was Ernst, der unter der schier unerträglichen Glut gelvaltig schwitzte, zu dem ironischen Ausrufe veranlaßte: „Sie haben recht, mein Freund, daß Sie uns zu dem Heiligen der Verrückten führen! Denn wer auf den Gedanken kommen konnte, zur Mittags-

stunde eines unendlich heißen Julitages auf den kahlen Hügeln von Fes volkswirtschaftliche Studien zur Beglückung der Menschheit zu treiben, hat wahrlich dessen Wunder nötig!"

Philipp gab jedoch keine Antwort, sondern trieb sein Tier an, da auch er das Bedürfnis fühlte, möglichst bald in den Schatten zu gelangen. Endlich beim Tore Sidi Bu Dschida, im Norden der Stadt, führte die Straße in einen mächtigen Olivenhain hinein.

Nach einiger Zeit gelangten die Wanderer in die Tiefe, zum Bette des Fesflusses. Hier notierte Philipp die Ablesungen seines Höhen­ barometers. „Ein ganz bedeutendes Gefäll," sagte er zufrieden. „Hier läßt sich sicher etwas machen. Der Fluß bildet einen mäch­ tigen Bogen über einer kurzen Sehne von höchstens einem Kilo­ meter Länge, wenn mich mein Auge nicht trügt." „Mir ist das alles furchtbar gleichgültig," stöhnte der kleine Herr; „für diese Dinge bin ich nur in den Abendstunden zu haben. Machen Sie, daß wir in den Schatten kommen!"

Sie überschritten den Fluß auf einer alten, steinernen Brücke und zogen auf seinem linken Ufer stromaufwärts. Zu ihrer Rech­ ten lagen Ruinen von Häusern. Man rief den Führer herbei, der etwas wie Mellah el Bali sagte. „Sie können daraus, wenn Sie wollen, die alte ,Iudenstadt' entnehmen," sagte Ernst. „Aber halten wir uns nicht damit auf. Nur vorwärts."

Es ging dann ziemlich steil bergan nach Süden, wieder der Stadt zu. Hier befand man sich nun mitten in herrlichen Gärten. Wasser rieselte von allen Seiten die Bergabhänge herab; überall standen schattenspendend fruchtbeladene Bäume, und auf den Beeten blühten prachtvolle Blumen. Links und rechts vom Wege sah man in der Entfernung kleine, weiße Gartenhäuser, in denen augenscheinlich die Reichen der Stadt die kühlen Sommer­ nächte zu verbringen pflegten. Jetzt ereignete sich ein kleiner Unfall. Ernsts Maultier machte beim Ueberschreiten eines kleinen Baches einen unvorhergesehenen Satz, und der kühne Reiter rutschte mit einiger Geschwindigkeit von dem großen roten Sattel in das feuchte Gras. Der Führer sprang sofort herbei und richtete den kleinen dicken Herrn auf. Phi­ lipp, der etwas zurückgeblieben war, kam herbei und wurde von dem Freunde mit den ärgerlichen Worten empfangen:

„Sie werden natürlich diesem Ereignisse ein ganzes Kapitel in der etwaigen Schilderung Ihrer Reiseerlebnisse widmen und aller­ lei unpassende Bemerkungen über mangelnde Sicherheit in der Reitkunst und die allgemeine menschliche Gebrechlichkeit machen. Ich halte es indessen für meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, daß alle Ihre daraufbezüglichen Schlußfolgerungen falsch und trü­ gerisch sind. Ich bin ganz freiwillig abgestiegen, denn mir macht dieses verrückte Herumziehen bei dieser Glut schon längst keinen Spaß mehr; hier bleibe ich daher sitzen."

So lagerten sich denn unsere Freunde friedlich beieinander int Schatten eines Zitronenbaumes und steckten ihre Pfeifen in Brand. Der Araber schien im ersten Augenblick mit diesem unprogramm­ mäßigen Aufenthalte nicht einverstanden zu sein, aber da seine verwunderten Ausrufe kein Verständnis fanden, schlug er sich seiBrink m a n n, Wallfahrt

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nerseits in die Büsche, und man sah ihn nicht mehr. Die Freunde schauten sich behaglich in der Gegend um, und Philipp wies zur Rechten auf einige Höhlen und Grotten hoch oben in der Gebirgs­

wand hin.

„Wenn die Schilderungen des Leo Africanus richtig sind, so ist das die Stadt der Aussätzigen zur Zeit der Meriniden und der ersten Scherifen." „Um Gottes willen, lassen Sie mich mit Ihrer Gelehrsamkeit zufrieden! Erst bringen Sie mich zum Heiligtum der Verrückten und dann in das Spital der Aussätzigen. Können Sie, um mich zu unterhalten, nicht freundlichere Dinge finden?" „Ich kann doch nichts dafür," erwiderte der andere vorwurfsvoll. „Die Realitäten der Welt sind nicht immer freundlicher Natur, und ich fürchte, ich werde Ihre Feinfühligkeit noch öfters verletzen müssen, den jetzt beginnt ja eigentlich erst der wertvolle, wenn auch vielleicht weniger unterhaltende Teil unserer Wanderung." „Machen Sie den wertvollen Teil nur allein ab. Ich begebe mich nachher, wenn ich mich etwas abgekühlt habe, auf dem ge­ radesten Wege in die Stadt zurück!" „Und unsere Aufgabe?" „Aufgabe?" Blicke an.

Ernst sah

den

Freund mit

einem

mitleidigen

Ihr Führer kam zurück und brachte ein paar süße Gurken, die er irgendwo in einem Garten gestohlen haben mochte; aber das hinderte unsere Freunde nicht, sich die Erfrischung schmecken zu lassen, und Ernst streckte sich behaglich kauend im Grase aus. Der Freund mahnte zaghaft daran, nunmehr an die Fortsetzung der Wanderung zu denken; jener aber hatte keine Lust. „Ich bin wirklich froh, hier im Schatten liegen und ungestört durch das Gezweig dieser Bäume in den blauen Himmel hinein­ schauen zu können. Auch tut es wohl, endlich einmal wieder allein zu sein. Wir sind da in eine etwas zu bunte Gesellschaft von aller­ lei höchst närrischen Menschen geraten. Verstand und Narrheit sind ein Geschwisterpaar, und die unterhaltsame Schwester vermag sehr wohl zur Erheiterung unseres Daseins beizutragen; aber wenn sie allzu aufdringlich wird, fällt sie lästig."

qaIs der Freund gar keine Anstalten machte aufzubrechen, fing

2X Philipp

von

seinen

wasserwirtschaftlichen

Problemen

zu

reden an. „Ja, ja! Auch Sie wollen mich mit Ihren Träumen von der Beglückung der Menschheit durch Maschinen daran erinnern, daß Sie zu der großen Gemeinde Herasems gehören!" „Oder Sie, indem Sie so hartnäckig abstreiten, daß das Volk hier sich wirklich wohler fühlen würde, wenn man es ein wenig aus seinem Schmutze, seiner Finsternis und all seiner Mühsal und Last herausholte."

Jetzt sprang Ernst plötzlich auf und redete leidenschaftlich auf den Freund ein, der gemächlich im Grase liegen blieb. „Der Kaufmann, der Ingenieur, jeder sogenannte Kulturträger, ist nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, denn jeder von ihnen sucht nur das Seine. Das werden und müssen auch Sie suchen. Wenn Sie jemals hier etwas Vernünf­ tiges schaffen wollen, müssen Sie damit anfangen, erst einmal sämt­ liche kleinen Betriebe dieser armen Leute tot zu machen. Um die hundert Wasserkräfte dieses Flusses preiswert aufkaufen und sie für größere Zwecke organisieren zu können, bleibt Ihnen nichts an­ deres übrig, als die vorhandenen, alteingesessenen Gewerbe be­ schäftigungslos zu machen, also zunächst einmal eine moderne Mühle zu bauen. Sie schleudern hundert gemächlich lebende Mül­ ler ins Elend und nennen das den ersten Schritt zur Beglückung des Volkes!"

„Das ist nicht nötig! Im Gegenteil, wir werden die Leute för­ dern und damit uns selbst am besten nützen!" „Ein Kulturzustand wie dieser hier erlaubt bei seiner Verknöche­ rung den Fortschritt nur durch Vernichtung des Bestehenden. Glau­ ben Sie, es wird Ihnen möglich sein, Leuten, die seit fünfhundert Jahren oder womöglich noch länger auf derselben Stufe des Wis­ sens und Könnens stehen geblieben sind, irgend eine Neuerung aufzuschwatzen, auch wenn Sie ihnen hundert Mal wirtschaftliche Vor­ teile oder sonstige Gewinne vorrechneten? Die Müller verstehen ja nicht einmal den Begriff der Energieersparnis und sind davon überzeugt, daß das Getreide nur so gemahlen werden kann, wie es.

bereits ihre Urgroßväter taten, und nicht anders. Und wenn Sie ihnen zur stärkeren Beweiskraft anderweitig eingerichtete moderne Betriebe zeigen, wird ihnen niemand das Vorurteil ausreden kön­ nen, daß Dinge, die wo anders gut genug erscheinen, nimmermehr in ihrem Fes ausführbar und nützlich sind." „Ich sehe, daß unser Werk Ihrer Ansicht nach sehr weit ausholen muß," sagte Philipp nachdenklich. „Wenn die Sache richtig gemacht werden soll, gewißlich. Man muß im Namen des Fortschritts und der Zivilisation noch viel mehr Existenzen vernichten. Den Getreidemüllern müssen die Oelmüller folgen, schon um die wertvollen Olivenrückstände zur Energie­ erzeugung auszunützen. Vor allen Dingen heißt es aber, dem wichtigen Erwerbszweige der Karawanenunternehmer zu Leibe zu gehen, soweit das nicht schon durch die neue Eisenbahn, auch einem Ihrer Kulturträger, besorgt wird. Alle Massengüter, die bislang in fünftägiger Kamelreise von der Küste mühsam herbeigeholt wer­ den, müßten hier erzeugt werden. Da hätten Sie zunächst eine Zuckerfabrik zu errichten, wobei Sie die landwirtschaftliche Seite ebenfalls in die Hand zu nehmen gezwungen sind, und eine Zement­ fabrik, deren. Erzeugnis ja in den nächsten Jahren in ungeheuren Mengen hier verbraucht werden wird. Da haben Sie von vornher­ ein mehrere Tausend Pferdestärken nutzbringend verwandt; alles andere ist dann nur Kleinigkeit und ergibt sich von selbst. Die Beleuchtung der Stadt und die sonstigen kleineren Betriebe, die Sie im Laufe der Jahre elektrifizieren können, machen keine Mühe mehr. So baut sich ganz zwanglos aus Schutt und Vernichtung das Leben auf. Natürlich ist das ein ungeheures Unternehmen, aber nur die großen Aufgaben sind des Schweißes der Edlen wert, womit ich natürlich nicht gesagt haben will, daß es mir überhaupt noch, namentlich bei unserm Alter, der Mühe wert erscheint, viel Schweiß zu vergießen. Und wenn ich auch weiß, daß alles eitel ist, könnte mich doch die Größe des Schaffens, die Rücksichts­ losigkeit dieses Eroberns, reizen, Hand mit ans Werk zu legen — nicht aber Ihr Wahn von der Weltbeglückung, der Narrheit ist, wenn nicht etwas Schlimmeres — nämlich Schwindel! Doch verderben wir uns nicht länger -dieses schöne Ruhestündchen durch solche Betrachtungen, die heute über meine Kraft gehen!"

Ihr Führer kam jetzt zum zweiten Male mit einer Hand voll süßer Gurken an; aber Ernst lehnte sie ab. „Saure Gurten wären meinem Zustande mehr angebracht, o mein Freund, denn ganz im Vertrauen gesagt, etwas verkatert fühle ich mich nach dem gestrigen Feste doch."

Man bestieg wieder die Maultiere und setzte die Wanderung fort. Der Weg führte an das Tor El Gissar heran; da man aber nicht durch die ganze Stadt mit ihren engen Gassen und Winkeln rei­ ten wollte, zog man außerhalb der Mauern weiter einen steilen Hügel hinauf, einem Ausläufer des Salachberges, dessen hohe Spitze im Norden die Stadt mächtig überragt. Hier sahen die Wanderer

zahlreiche Ruinen von wuchtigen Steinbauten, die mehr im roma­ nischen als im maurischen Stil aufgeführt waren, die Gräber der Sultane aus dem Hause der Meriniden, wie Philipp erläuternd bemerkte. Gerade die Gewaltigkeit der Ueberreste machte den An­ blick überaus melancholisch, zu einem Memento mori, einer Mah­ nung, daß alle Pracht und Herrlichkeit rasch vorübergeht wie ein kurzer, blühender Sommer, dem eine unendlich lange und trau­ rige Winternacht folgt. „Und Sie haben noch Weltbeglückungspläne?" fragte Ernst seinen Freund. „Sie wollen Bauten aufführen und denken nicht daran, daß in kurzer Zeit auch Ihre Werke genau so in Schutt und Trümmer liegen werden, wie diese Mausoleen. Ja, wahrschein­ lich in viel kürzerer Zeit und in viel kläglicherer Weise, denn unsere heutigen Pappbauten werden noch nicht einmal anständige Reste zurücklassen." „Wenn wir alle so dächten, könnten wir uns ja gleich begraben lassen," erwiderte Philipp ärgerlich. „Ihr Vorschlag ist in der Tat beachtenswert! Indessen brauchen wir uns darüber nicht den Kopf zu zerbrechen; bald wird sich schon irgend jemand finden, der uns diese Mühe abnimmt." Es ging auf dem Rücken des Hügels weiter nach Westen, bisdie Wanderer an den Bordfch Nord kamen, die nördliche Bastion des Sultans Achmed Almanfor. Dieses Gebäude war ganz in europäischem Stil aufgeführt; es war unverkennbar, daß christ­ liche Kriegsgefangene hier unter Seufzern und Flüchen in jahr­ zehntelanger schwerer Frohnde gearbeitet' hatten. Wie bei der südlichen Bastion, so bot sich auch von hier aus ein panoramischer Anblick über die gesamte Stadt. Besonders deutlich erhob sich über den grünen Dächern das Minaret der Moschee El Karujin, auf dessen Spitze der Stab mit den drei vergoldeten Kugeln aufragte, der Sage nach das Schwert des Heiligen Jdris. In den weiten Ausblick versunken, stimmte Ernst in der Weise eines Propheten ein Klagelied an: „Wehe dir, o große Stadt, die du einstmals die Kapitale der westlichen Menschheit warst! Bis­ lang schützest du dich klug durch die Gräben unwirtlicher Wüsten und die Wälle unübersteiglicher Bergländer vor dem unseligen Geiste der Neuerung und dem verheerenden Strome abendlän-

bischer Kultur. Und du warst glücklich dabei! Aber wehe dir, nun scheint auch deine Stunde gekommen zu sein! Deine Gräben und Wälle, deine Wüsten und Berge hat fremde Kunst und Ver­ schlagenheit überschritten; und wer immer in die Klauen der moder­ nen Ingenieure und industriellen Unternehmer fällt, dessen Tage des Friedens haben geendet, der ist in den alles verzehrenden Wirbel der Zivilisation dieser Tage hineingerissen. Siehe, er ist nahe, der dich meistern wird! Du wirst ihm tributpflichtig werden und wirst nach seiner Pfeife tanzen müssen; denn es gibt keinen rücksichtsloseren Herrn, als die Kraft, die nicht im Herzen des Menschen wohnt und an ,Fleisch und Blut gebunden ist, sondern die nach gefühllosen, ehernen Naturgesetzen wirkt, die mechanische Ener­ gie. Sie gibt dir neue Satzungen, die nicht die deinen sind, die du nicht verstehst, die aber desto unerbittlicher auf Gehorsam dringen. Sie erfüllt dich mit dem unersättlichen Drange neuer Bedürfnisse, von denen du bislang nichts wußtest, und die dich härter peinigen werden als die grausamsten Sklaventreiber. Deine alten Meister haben dich mit Geißeln gezüchtigt; mit Skorpionen züchtigen dich aber die Bedürfnisse, deren ständige Neuerfindung in unsern Tagen eines der schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist. Wehe dir! Dein Frieden ist dahin; du mußt dem neuen Heren Frohndienste leisten von früh bis spät, soviel du auch murren magst; erst dann wirst du dich an dein Los gewöhnt haben, wenn Geschlechter über Geschlechter von Kärrnern und Sklaven vergan­ gen sind, und das heute Fremde dir endlich wieder alltäglich ge­ worden ist. Und zum Schaden hast du auch noch den Spott zu tragen; denn dein Peiniger lacht dich aus: Was jammerst du? Ich bringe dir doch das Glück!" Philipp hielt indessen dergleichen Satiren, von denen er wohl wußte, daß sie auf ihn gemünzt waren, für höchst überflüssig und trieb zur Fortsetzung der Wanderung. Nachdem sein Freund der nun mit einem Male gar keine Eile mehr zu haben schien, noch einige Photographien von der Bastion und den in der Nähe liegenden Türmen der funkentelegraphischen Station ausgenommen hatte, gelangten unsere Reisenden bald an das von hohen und un­ endlich langen Mauern umschlossene Rechteck der Kasbah der Scherarda, das sie von der Nord- und Westseite umwandern mußten.

Dieses gewaltige Mauerwerk hatte Sultan Muley Raschid dem Berberoolke der Scherarda als Wohnstätte oder richtiger: Kaserne angewiesen, um über zuverlässige Truppen zu verfügen, da ihm die Bevölkerung von Fes selbst Mißtrauen einflößte. Und endlich zogen sie durch das Tor Segma wieder in die Stadt ein und ge­ langten kurze Zeit darauf todmüde und halbverdurstet bei ihrem Hotel an. Sie erfuhren dort, daß man verschiedentlich nach ihnen gefragt hatte, was Ernst zu der Bemerkung veranlaßte:. „Es ist doch gut, wenn man in die Ferne zieht! So bekommt man wenigstens einmal vor seinen Freunden Ruhe. Gehen wir jetzt zum Essen; zu dieser Stunde sind wir sicher, niemand im Restaurant anzufinden, und wir können weiter uns an uns selbst Genüge sein lassen." Von Herrn Lohgerber war ein kleines Briefchen gekommen, in dem er sich entschuldigte, heute nicht abkömmlich zu fern, da er unerwarteten Besuch von den Vertretern einer Grammophonfabrit erhalten habe, die ihn ganz in Anspruch nähmen.

^Vtz^ährend des Essens behandelte Philipp unaufhörlich technische Probleme. Der andere schien indessen nur halb darauf hinzu­ hören, erklärte sich aber doch bereit, noch die letzten beiden Stunden des Tageslichtes zu benutzen, um ein paar Wassermessungen vorzu­ nehmen, obgleich er sich, wie er vorgab, von dem überaus anstren­ genden Ritt ziemlich matt fühlte. So wanderten die beiden Freunde wieder zum Tore Sidi Rasa hinaus, bogen die Straße ein, die nach Fes el Bali führt, und mach­ ten an dem ersten Bache, den sie zu überschreiten hatten, halt. Es war ein äußerst wasserreicher Zufluß des Fesflusses, der irgendwo in den Gärten des Bu Dschalud entspringen mußte und an dem sich eine Reihe von Mühlen befand. Trotz seines ganz kurzen Laufes war mit dem Barometer ein beträchtlicher Niveauunter­ schied festzustellen. Die Wassermessung selbst war etwas schwieriger. Die Breite des Baches wurde mit einiger Mühe durch Zuckerrohre, die Philipp am Rande des Baches auszog und als Meßstangen benutzte, bestimmt. Bezüglich der Tiefe war man indessen einen Augenblick ratlos. Schließlich aber machte Ernst den Vorschlag, einen der Araber, die faulenzend herumstanden und sich darüber

den Kopf zu zerbrechen schienen, was die beiden Ungläubigen wohl mit dem Zuckerrohre am Bache betrieben, hindurchwaten zu lassen. „Sie brauchen nur achtzugeben, wie weit ihm das Wasser die langen Beine hinaufreicht." Philipp hielt diese Meßmethode für ein wenig allzu primitiv; der Erfolg war aber überraschend. Als der Mann wieder zurück­ kam, war die Wassermarke auf den Millimeter genau sestzustellen. Soweit das reinigende Naß gereicht hatte, waren die Beine im schönsten Hellgelb gefärbt, während sie oberhalb der Wasserlinie schwarzbraun vor Schmutz waren. Die vorsichtige Berechnung ergab, daß allein an diesem Bache sechshundert Pferdestärken sofort verfügbar waren, ein Ergebnis, das selbst Ernst überraschte. Ueberhaupt war er bei dieser Tätig­ keit wie umgewandelt. Müdigkeit und närrische Einfälle waren vergessen. Er arbeitete mit dem ganzen Interesse, das ein an die Lösung schwieriger Probleme gewöhnter Großindustrieller jeder würdigen Aufgabe entgegenbringt, und mit dem Scharfsinn der langjährigen Erfahrung. Er nahm eine Skizze des ganzen Ge­ ländes und auch eine Reihe von Photographien des Baches und seiner Umgebung, besonders in der Nähe der festungartigen Mau­ erwerke beim Tore auf, weil diese Bilder die Höhenunterschiede und die Stelle, wo der Mühlgraben angelegt werden mußte, be­ sonders klar festlegten. Als sie ihre Tätigkeit beendigt hatten, setzten sich die Freunde, um sich auszuruhen, auf die Brüstung der Brücke. „Man ist wieder hinter mir her," sagte der kleine Herr mit einem Male ärgerlich und wies auf Herrn Charnier, der gerade des Weges kam und freundlich grüßend an ihnen vorbeiging. „Ich hoffe, Sie überzeugen sich endlich davon, daß in all dem ein teuf­ lischer Plan steckt, daß es auf mein Verderben abgesehen ist!" „Ach was! Sie ärgert die Visage dieses Scheusals, das ist Ihr ganzes Verderben!" „Es geht etwas vor — es geht hier etwas vor . . ." mur­ melte er. „Gewiß geht etwas hier vor; aber wie mich deucht, nur Er­ freuliches. Ich glaube, unsere Fahrt hierher war ein glücklicher Gedanke und wird uns Gutes und Nützliches bringen. Ich meine

das Werk. Wie weit haben wir es doch in wenigen Tagen ge­ fördert: wichtige Unterlagen gesammelt, wertvolle Beziehungen an­ geknüpft; auf dem Markte und im Mellah sind wir bekannt und gefeiert. Das haben Sie gut gemacht, Don Ernestos Doch das Beste waren die Gedanken, die Sie heute morgen anregten. Ich sehe ein, daß Sie vollkommen recht haben: man muß aufs Ganze gehen. Zehntausend Pferdestärken, das ist es! Aber dann dürfen wir nicht an die hundert kleinen Mühlen, die in der Stadt verstreut sind, denken; das würde zu teuer. Wir brauchen eine große Wasserkraft im Gebirge!"

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„Wohl gesprochen," erwiderte der Freund, der nur mit halbem Ohre hingehört und unterdessen mit menschenfreundlichem Inter­ esse dem Leben und Treiben im Bette des Baches zugeschaut hatte. „Es wäre daher nützlich," fuhr Philipp mit Eifer fort, „wir machten sofort, um einen Einblick in die hydrographischen Ver­ hältnisse zu gewinnen, einen Ausflug ins Gebirge, an den oberen Lauf des Sebu. Er ist ein wasserreicher Strom, und bedeutende Niveauunterschiede müssen da zu finden sein."

„Nein, mein Bester! Zu Bergkraxeleien Hube ich bei dieser Glut keine Lust. Ich bleibe in &s, wo es sicher noch ganz nett wird, sind wir unsere Reisegesellschaft erst einmal losgeworden. So furchtbar interessiert mich Ihr Unternehmen denn doch nicht!" „Aber es ist unbedingt nötig, um alle Unterlagen für unser

Projekt zusammen zu bekommen." „Dann reisen Sie doch allein! Ich werde hier bleiben und auf Sie warten." „Schlimmstenfalls mache ich den Ausflugs auch ohne Sie.

Aber

ich bin überzeugt, wenn es so weit ist, werden Sie mich nicht im Stiche lassen. Dazu sind Sie ein viel zu guter Freund!" „Sie schätzen meine Bequemlichkeit zu gering ein. Doch sehen Sie sich einmal das Gewimmel dort unten an!" Dabei wies er

cuf den Bach zu ihren Füßen. Dort spielten nackte Kinder im Wasser herum, und auf einzelnen Felsblöcken hockten waschende Frauen. Ganz in ihrer Nähe war ein äußerst notdürftig gekleidetes Negerweib mit dieser in jedem Haushalt so wichtigen Tätigkeit begriffen. Ernst konnte sich na­ türlich nicht einige scherzhafte Anmerkungen zu diesem kleinen Kabinettstücke versagen. „Ich glaube fast, Sie verlieben sich gar in das alte häßliche Frauenzimmer," sagte sein Freund. „Es kommt zuweilen vor, daß man auch ein altes Negerweib schön findet," erwiderte Ernst nachdenklich. „Wie lange sind wir

eigentlich schon auf der Reise?" „Noch keine vierzehn Tage, und ich glaube, die Zeit ist etwas zu kurz, um ästhetische Verirrungen zu erklären!" „Diese tropische Glut ist vielleicht von einer ganz besonderen Wirkung auf das Blut." „Dann wollen wir lieber nach Hause gehen," sagte Philipp lachend, „ehe die Leidenschaft zu dieser Schönheit Sie ganz über­

wältigt."

zürnst hatte nichts dagegen einzuwenden, und gemächlich wanderV/ ten die Freunde wieder der Stadt zu. Sie schmiedeten gerade Pläne, wie sie es am besten anstellen konnten, um auch den Abend frei von allen lästigen Bekanntschaften zu verbringen; aber sie

mochten ihren Spaziergang nicht gerade geschickt ausgeprählt haben; denn als sie am Cafe Boulevard vorbeikamen, wurden sie zu ihrer Ueberraschung angerufzn. Es war Herr Lohgerber, der dort mit zwei Herren beim Aperitif saß. Unsere Freunde konnten jetzt nicht ausweichen, und als sie sich näherten, erkannten sie an den übermäßig großen Tropenhelmen die beiden Männer wieder, denen sie einige Tage zuvor in der Gegend von Meknes auf hohen Kamelen begegnet waren. Herr Lohgerber stellte vor: Herr Grün und Herr Grabow von den Deutschen Grammophonwerken. Ernst lachte: „Man sieht so­ fort, daß man es mit einem höchst künstlerischen Institut zu tun hat." Und auf ihre erstaunte Frage erläuterte er: „Welches Unter­ nehmen, wenn es nicht von gar kunstsinnigem Geiste beseelt ist, wählt sich seine Vertreter nach den schönen poetischen Regeln der altdeutschen Alliteration aus?" Es dauerte allerdings einige Zeit, bis man allgemein diesen schlechten Witz verstanden hatte. Im übrigen war Ernst als großer Grammophonkenner sofort mit dem ganzen Feuereifer seiner jeder künstlerischen Begeisterung fähigen Seele bei der Sache, als die fremden Herren erläuterten, daß es ihre Aufgabe sei, wie es ihre Firma in der ganzen Welt tue, jetzt in Marokko volkstümliche Platten aufzunehmen. „Das Grammophon ist nämlich heutzutage der erste Kultur­ faktor der Welt. Welches andere Mittel zur Verbreitung künstle­ rischer Bildung ist so einfach und daher so wirkungsvoll wie der von uns gepflegte Apparat? Selbst der Kinematograph, dessen hohe Bedeutung ich nicht ableugnen will, wirkt nicht halb so packend und eindrucksvoll und daher so volksbildend wie die Grammo­ phonplatte." Dieses und noch vieles andere erläuterte Herr Grün in salbungs­ voller Rede zum Preise seiner Kunst. „Merken Sie etwas," flüsterte Ernst seinem Freunde ins Ohr. „Da haben wir wieder einen Ihrer Kulturträger und Volks­ beglücker. Sie Philipp, machen es durch Technik, diese hier durch die Kunst. O heiliger Herasem!" Dann aber wandte er sich dem Grammophonkünstler zu, gab ihm natürlich in allem Recht und gewann auch sofort das ganze

Vertrauen des weitgereisten Herrn, dem er überdies durch wirtlich gründliche Fachkenntnisse stark imponierte. Als er dann noch er­ klärte, daß er selbst einige seiner Ansicht nach wichtige Verbesserun­ gen dem Apparate hinzugefügt habe, da war der erwähnte Herr Feuer und Flamme für den großen Mann und sagte ihm in welt­ gewandter Weise viel Angenehmes und Schmeichelhaftes. Wahr­ scheinlich erfüllte ihn dabei der Hintergedanke, daß diese ehrenvolle Freundschaft zu pflegen sei, um so den technischen Geheimnissen des seltenen Geistes auf die Spur zu kommen. Die erste Vorstellung von arabischen Musik- und Sprechkünst­ lern, deren Leistungen von der Platte ausgenommen werden soll­ ten, war für den folgenden Nachmittag im Garten des Lohgerberschen Hauses angesetzt, und selbstverständlich wurden unsere Freunde zu diesen Aufführungen eingeladen, wenn sie Gefallen daran hätten, was natürlich gern angenommen wurde. Da aber Herr Lohgerber und seine beiden Kunstindustriellen augenscheinlich noch mancherlei geschäftliche Dinge zu erledigen und unsere beiden Freunde ganz im Gegenteil den Wunsch hatten, den Abend möglichst allein zu verbringen, verabschiedeten sie sich bal­ digst und speisten zu Nacht, ehe noch das Erscheinen ihrer Bekann­ ten zu befürchten war. Dann aber kehrten sie in ihr Hotel zurück, mit dem Vorsatze noch ein wenig zu lesen und zu plaudern, im

ührigen aber früh zu Bett zu gehen. „Wir haben ja die vergangene Nacht nur vierzehn Stunden geschlafen und werden folglich recht müde sein; denn der Appetit fonimt mit dem Essen," sagte Ernst. Q/btr der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, wie Zt die Freunde bald erfahren sollten. Die mitgebrachte Lektüre

schien beiden nicht zu munden, zumal das Lesen nicht ganz leicht und bequem war, weil die Hotelbeleuchtung, die aus zwei Talgkerzen bestand, nicht ausreichte. Für Detektivgeschichten hatte Ernst nun einmal keinen Sinn, nicht einmal dafür, den tieferen Verstand aus ihnen herauszufinden, worin es sein Freund zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte; ebensowenig zeigte er aber Lust, sich mit dessen technischen Projekten zu befassen. Er ließ zwar Philipp ruhig erzählen, während er lang ausgestreckt auf dem Bette lag und^

seine Pfeife dazu raucht-e. Schließlich merkte aber dieser, daß Ernst nicht zuhörte. „An was denken Sie eigentlich?" fragte er ärgerlich. „Wenn Sie es ganz genau wissen wollen: an das alte Neger­ weib, dem wir vorhin vor der Brücke beim Waschen zusahen." „Um Gottes willen! Haben Sie wirklich keinen würdigeren Gegenstand für Ihre stillen Betrachtungen?" „Er erscheint mir würdig genug; denn von dieser Erinnerung ausgehend, umspannen meine Gedanken das ganze weibliche Ge­ schlecht. Seitdem wir Casablanca verlassen haben, haben wir doch kaum den Umgang schöner und edler Weiblichkeit, die wie die Dich­ ter sagen, auf unsere gemeine Maskulinität allein erhebend und be­ freiend zu wirken vermag, genossen, wenn wir unsere gute und gelehrte Freundin Frau Schröder, die blaustrümpfige Gans, aus­ nehmen. Es erscheint mir nun wirklich, daß das auf die Dauer nicht durchzuführen ist, daß wir in einen Zustand geraten, der be­ hoben werden muß, und da wir, wie ich merke, noch nicht so bald einschlafen werden, können wir ja noch einen kleinen Spaziergang machen." Gesagt, getan. Sie wandten ihre Schritte dem benachbarten Mellah zu, in der stillen Hoffnung, dort durch Vermittlung eines ihrer Festgenossen vom vorigen Tage irgend eine zweckdienliche An­ knüpfung zu finden. Aber die Häuser waren schon geschlossen, und da ja doch keine Verständigungsmöglichkeit gegeben war, erschien es wenig aussichtsreich, sich mit einem oder dem anderen Juden, die, um die Kühle der Nacht zu genießen, auf der Straße noch gemächlich entlangzogen, in ein Gespräch einzulassen. Da erinnerte sich Ernst plötzlich des dienstfertigen Kellners Frasquito, der ihm bereits schon einmal aus der Verlegenheit geholfen hatte. Sie kehrten wieder in die Araberstadt zurück, traten in das Petit Cafe Paris ein, ließen sich ein Glas Bier reichen und begannen mit dem Burschen zu plaudern, der natürlich sehr zu­ frieden war, Gelegenheit zu einem Schwätzchen in seiner Mutter­ sprache, und noch dazu mit so vornehmen Herrschaften, zu haben. Mit der Geschicklichkeit eines gewandten Diplomaten lenkte Ernst das Gespräch von allgemeinen Dingen, wie Spanien, Marokko, Fes und so fort schließlich kunstvoll auf das Problem hin, das ihn

heute in den letzten Abendstunden beschäftigt hatte, und der fin­ dige Bursche war denn auch um Erläuterungen und Erklärungen nicht verlegen. Er beschrieb zungenfertig verschiedene Wege und Straßen und gab eine gründliche Schilderung von allen einschlä­ gigen Verhältnissen. „So wollen wir einmal unser Glück versuchen," sagte Ernst, „Wenn auch nicht viel dabei herauskommen wird, irgendwie wer­ den wir uns schon die Zeit vertreiben!" Vor dem Cafe wartete der kleine David, der unsere Freunde hatte hineingehen sehen und dank seiner französischen Sprach­ kenntnisse sich ihnen schon öfters aus reiner Liebe zur Sache und der Peseta wegen, die er dafür empfing, nützlich erwiesen hatte. Der kleine Herr sagte lachend: „Nein, mein Junge, heute können wir dich nicht gebrauchen," und ging weiter. Aber der schlaue David schien vorauszusehen, daß er doch noch nötig werden würde, und folgte ruhig nach. Die Herren gingen durch ein paar Seitenstraßen des Mellahs in der Richtung auf den Fluß zu; aber sie verloren sich sehr bald in dem Gewirr von engen Gassen und dem schier unendlichen Durcheinander von altem Gemäuer, das zwecklos ganze Stadtviertel von Fes ausfüllt. Als sie gar nicht mehr aus und ein wußten, kam der kleine Bursche auf sie zu und rief: „Sie müssen am Friedhofe entlanggehen; ich werde es Ihnen

zeigen." Ernst war ein wenig betroffen, sagte aber gelassen: „Ganz recht! Frasquito sprach auch vorhin etwas vom Friedhofe. Also vorwärts!" Der Weg war holprig und sehr dunkel, denn der Mond schien nicht, und die wohltätige Einrichtung der Straßenbeleuchtung war hier noch weniger als sonstwo in Fes bekannt. So konnte die Wanderung unter den düstern Zypressen, zwischen denen die wei­ ßen Grabsteine mystisch bleich herausleuchteten, wohl den Eindruck

des Unheimlichen machen. „Ich vermisse ganz Ihre tiefsinnigen Betrachtungen," sagte Ernst zu seinem Freunde, „in denen Sie sich sonst bei viel weniger pas­ senden Gelegenheiten zu ergehen pflegen. Wie nahe läge es doch jetzt, die Harfe gedankenschwerer Lyrik änzufchlagen. Links und rechts Zypressen und Grabsteine; dazwischen die beiden von der

Last der Jahre gebeugten und bereits ein wenig ergrauten Männer; die unschuldige Jugend führt sie auf holprigem Pfade, dem man die Pflasterung mit guten Vorsätzen zum höchsten Verdrusse der schmerzenden Hühneraugen wohl anmerkt, zur Hölle oder, was dasselbe ist, zu den Stätten irdischer Lust. So liehe sich noch viel Erhabenes sagen; aber Sie scheinen heute nicht in poetischer Stim­ mung zu sein, und ich tue Ihnen nicht den Gefallen, meine schönen Gedanken auch noch in schöne Worte zu setzen; ich lasse mir daran genügen, sie zu schaffen und zu besitzen." Die Wanderer gelangten zu einer Reihe kleiner Häuser und schlossen aus der Beschreibung Frasquitos, daß sie am Ziele seien. Ernst bezahlte dem kleinen David die gewohnte Belohnung und be­ deutete ihm, nach Hause zu gehen.. Der aber meinte: „O nein, man spricht hier nicht französisch, und so können Sie ohne mich nichts an­ fangen." „Der Junge ist recht vielverheißend," sagte Ernst. „Aber esist doch nötig, ihn loszuwerden. Ich will das Verderben dieser zarten Kinderseele nicht auf mein Gewissen laden, obgleich mir scheint, daß man hierzulande nicht allzu große Rücksicht darauf zn nehmen pflegt." Der kleine David schien indessen die feinfühligen Motive der beiden fremden Herren nicht zu verstehen. Er schritt rüstig aus und begann auf einmal entschlossen an einer Haustüre zu pochen. Es dauerte auch, nicht lange, bis sich eine kleine Luke an der Türe öffnete und eine lebhafte Unterhandlung zwischen einem alten, zahnlosen Judenweib und dem kleinen unschuldigen Engel begann^ die indessen zur vollen Befriedigung der würdigen Dame zu endi­ gen schien; denn schließlich öffnete sie das Tor, und unsere Freunde betraten das Haus und gelangten durch einen kurzen finstern Gang in einen ziemlich großen Raum. Derselbe hatte keine Fenster, und das Dach war auch sehr niedrig; von Mobiliar war gar nichts zu sehen, mit Ausnahme von dicken Teppichen, die auf dem Fußboden lagen, und einer Reihe von Polstern an d»n Wänden. Er war von einer fast undurchdringlichen, süßlichen Atmosphäre gefüllt, einem Gemisch von sogenannten ätherischen Wohlgerüchen und Haschisch- und Opiumdämpfen. Dazu war die Hitze in dieser. Hölle fast unerträglich.

„Wollen wir nicht lieber wieder gehen?" fragte Philipp, der gequält nach Luft schnappte. „Lange bleiben wir gewiß nicht! Indessen, mein Auge fängt allmählich an, diese nebelhafte Atmosphäre zu durchdringen, und ich möchte doch gar zu gerne sehen, was hier eigentlich vorgeht."

Sie entdeckten wirklich auch einige menschliche Gestalten. Zwei oder drei Mauren, die nach ihrer reichen Kleidung zu schließen den

wohlhabenden Familien der Stadt angehörten, hockten aus den Pol­ stern und sogen an ihren Pfeifen; wie der betäubende Geruch, der den ganzen Raum erfüllte und die fahlen Mienen und verglasten Augen der Rauchenden verrieten, waren die kunstvoll verzierten tönernen Köpfe mit der ungemein berauschenden Mischung von Kif und Opium gefüllt. Zwischen ihnen kauerte auf einem Polster eine junge Jüdin. Sie war nicht wie gewöhnlich in grelle Farben ge­ kleidet, sondern in ein blütenweißes, seidenes Gewand gehüllt, das blendend von dem tiefschwarzen, ihr in losen Flechten über die nackten Schultern herabfallenden Haare abstach. Das Antlitz des Mädchens war von ebenmäßiger, vollendeter Schönheit, nur überBrinkmann, Wallfahrt

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mäßig bleich; und die großen schwarzen Augen blickten anscheinend müde und melancholisch, in Wahrheit aber gleichgültig und ganz uninteressiert zu den Besuchern herauf. Ernst richtete auf deutsch einige Bemerkungen an das Mädchen, aber es antwortete natürlich nicht. „Die Rätsel dieser Sphinx zu lösen, kann mich wahrlich nicht reizen," sagte er; „aber auf jeden Fall wollen wir uns einmal hin­ setzen; vielleicht gibt es noch andere und hoffentlich ein wenig unter­ haltsamere Sphinxe hier. Wenn nur ein bischen frische Luft her­ einkäme!" Die beiden Freunde setzten sich ebenfalls auf zwei Polster und harrten der Dinge, die da kommen sollten. „Wollen Sie nicht rauchen?" fragte der kleine David, der sich ebenfalls niederhockte. „Jawohl, mein Sohn, aber nur unser eigenes Kraut!" Als sie sich die Zigarren angezündet hatten, erkundigte sich der Junge, der sich offenbar verpflichtet hielt, für die Unterhaltung seiner Schutzbefohlenen zu sorgen, ob ihnen vielleicht Tee gefällig wäre; und um wenigstens etwas zu unternehmen, erklärten sich unsere Freunde einverstanden, zumal ja die Bestellung noch nicht zum Genuß des Getränkes verpflichtete. Zwei kleine Mädchen, die allerhöchstens acht bis neun Jahre alt waren, brachten Tee, Zucker und Taffen auf einem niedrigen Tisch und schenkten den Gästen die Schalen ein. Es war der lan­ desübliche Tee aus Pfeffermünzkraut, der indessen wie immer zur Ungenießbarkeit versüßt war. Da die bleiche Sphinx auf dem Polster und die im Opiumräusche träumenden Herren immer noch schwiegen, fühlte Ernst das Bedürfnis, durch scherzhafte Reden etwas Leben in diese unheimliche Stille zu bringen. Er richtete spaßhafte Bemerkungen an die Kinder, die verlegen lächelnd zu ihm aufsahen und wohl auch ein Wort äußerten, das indessen eben­ falls auf unfruchtbaren Boden fiel, da man sich nicht verstand. Nur der unschuldige David, der sonst so scharfsinnig war, schien sich diesmal in einem Irrtum zu befinden, denn er bemerkte plötzlich in seinem besten auf der Schule der Alliance Jsraölitique gelernten Französisch: „Diese Mädchen hier gehören nicht zum eigentlichen Betriebe, sie sind noch nicht alt genug."

Ernst lachte laut auf: „Höre mal, mein Junge, wird es denn noch nicht Zeit, daß du nach Haufe gehst? Bekommst du keine Prügel von deinem Vater, wenn du dich nachts in zweifelhaften Spelunken herumtreibst? Wirklich, tue mir den Gefallen und geh heim." „Wenn ich geschäftlich tätig bin, kann ich fortbleiben, solange ich will," sagte der kleine David bestimmt und selbstbewußt.

„Wie du willst! Im übrigen kannst du aber versichert sein, daß wir die Novize von der Nonne wohl zu unterscheiden wissen."

/TX er Aufenthalt in dieser Lasterhöhle wurde für Philipp indessen 2J immer unerquicklicher; selbst der ungewohnte Anblick von

Opiumrauchern im höchsten Stadium des Rausches bot auf die Dauer keinen Reiz mehr. Aber sein Freund schien sich mit der Zeit recht behaglich zu fühlett. „Es scheint mir fast so, als ob unsere schwarzäugige Sphinx da drüben nur zum Ansehen da ist, um die keuschen Träume dieser stillen Genießer zu beflügeln. Ich bin wirtlich neugierig, wie die

Sache endigen wird!"

„Wenn ich mich etwas wohler befände, könnte ich vielleicht Ihre Neugierde begreifen," erwiderte Philipp." Aber Sie müssen doch zugeben, daß dies hier eigentlich kein würdiger Aufenthalt für uns ist."

„Warum denn nicht? — Denn so saumäßig übel einem über der Bestialität eines solchen Liebesinstitutes auch werden mag — in etwas kann es uns doch trösten und versöhnen!"

„Das wäre?" „In der rein geschäftlichen Abwicklung der hier gebotenen Liebe." „Ich sehe nur das Geschäft und nicht die Liebe." „Recht so! Auch ich Habe die sogenannte Liebe beim Weibe

noch nicht gesehen." „Sie verstehen absichtlich falsch. Ich rede von diesem Hause und seinen Konkurrenzunternehmungen; nicht im allgemeinen!" „Es stimmt für das Allgemeine, glauben Sie mir! ist die Liebe — die Frau das Geschäft."

Der Mann

„Gott, welche Paradoxen!" „Scheinbare Paradoxen! Aber darum gefällt es mir hier. Hier gibt es keine Flausen, keinen Schwindel, sondern einen festen Preis, den jeder vorher mit sich ins Reine bringen kann. Da wird man reell bedient; es wird nicht mehr versprochen, als gehalten wird." „Es ist aber verflucht wenig, was man hier verspricht und hält." „Auch nicht mögen sie nun Laken bespannt Versprechungen

weniger, als in andern Betten gehalten roirb, stehen, wo sie wollen, und mit noch so köstlichen sein — nur daß es dann mit den überschwänglichen nicht übereinstimmt."

„In andern Worten: Freudenhaus?"

Sie behaupten, die ganze Welt ist ein

„Ein Skeptiker könnte wohl Argumente finden, diese These zu verteidigen; ich will indessen gar nicht so weit gehen. Aber wer sich nüchternen Sinnes genauer in das Wesen der weiblichen Liebe versenkt, den packt das Grauen." „Sie wollen all die millionenfachen Beispiele edelster Frauen­ liebe ableugnen?" „Ich fürchte, ich muh es. Ich kann nur aus Erfahrungen schlie­ ßen, und die sind schrecklich. Die schönen Beispiele sind, wie wohl immer, wenn man uns das Ritterliche, das Edle, das Göttliche, das schlechthin Gute vortäuscht, in das Reich der Fiktion zu verweisen; sind ästhetische Postulate, aber keine Realitäten. Und gar erst die Liebe! Könnte es auch anders sein? Aus Staub ist her Leib gemacht, und zu Staub wird er mit seiner ganzen Brut; warum soll die Hervorbringung dieser Brut denn etwas Sublimeres fern als die Erhaltung des Leibes durch Brot, das ich mir allein durch Barzahlung erwerbe?" Philipp wurde unmutig: „Was hat denn die Liebe mit dem Gelde zu tun?" fragte er gehässig. Ernst kniff die Augen zusammen. „Sie schwatzen wie ein Sekundaner. Wer aber etwas von diesen Dingen versteht, redet andere Was halten Sie von meinem Gutsvorgänger Don Juan als Zeugen? Verstand der sich aus die Weiber? Run — wissen

Sie, wie der seine Erfolge errang, die doch gewiß das Höchste sind, was auf diesem Gebiete geleistet wurde? Sie denken vielleicht, er war der Abgott der Frauen, weil er ein schöner Kerl war oder ein tapferer Mann oder vielleicht gar ein geistreicher Kopf? Ach nein — besonders auf das letztere geben die Weiber gar nichts. Er aber weiß, wem er seine Siege zu verdanken hat. Er sagt es

selbst:

Con oro nada hay que falle. Das ist verdeutschet: Meinem Golde kann nichts widerstehen. Hören Sie: meinem Golde. Selbst ein Don Juan muß den Weibern dieses Armutszeugnis ausstellen. Und da sollen wir ge­ wöhnlichen Sterblichen, wir dicken, fetten, unscheinbaren Gesellen anders von ihnen denken?

Das ist die Wahrheit. Alle Wahrheit ist bitter, besonders aber diejenige Don Juans. Denn wenn ich eine stolze Nacht, einen schönen Landsitz, irgend etwas sehe, das zu besitzen mich reizt, ich mir aber nicht beschaffen kann, weil mir die Mittel dazu fehlen — so macht es mir keine Mühe, mich zu bescheiden. Man kann auch ohne all dem leben. Wenn ich aber ein schönes, liebens­ wertes Weib sehe, das ich mein nennen möchte, das aber niemals mein sein wird, weil ich es nicht bezahlen kann, dann lehnt sich mein Inneres zu heller Empörung auf. Denn ein unbestimmter, sicher atavistischer Instinkt sagt mir, daß hier etwas nicht in Ord­ nung ist, daß Geld und Liebe nicht gegeneinander austauschbar sind, daß es Dinge gibt, für die zu zahlen ein Verbrechen ist. . . ."

„Das Zahlen scheint Sie doch am meisten zu wurmen, da Sie immer wieder darauf zurückkommen!"

„Das sagen Sie wider Ihre Ueberzeugung; Sie wissen, ich bin nicht kleinlich. Und doch haben Sie recht, nur in einem etwas anderen Sinne. Denn das ist das Schreckliche und Aberwitzige an dem ganzen Liebesbetriebe, daß der Mann nicht nur. mit klingender Münze bezahlt, die ja meist schlecht genug angewandt ist, sondern auch mit dem Herzen — und nie etwas dafür bekommt." „Wer Lohn begehrt, hat seinen Lohn dahin!"

„Da denke ich doch etwas realistischer! Aus nichts wird nichts, und wer immer nur gibt und nie empfängt, gibt sich endlich aus. Ich

nehme es ja den Weibern gar nicht übel, daß sie aus der Liebe ein Geschäft machen; der Lauf der Welt mag sie vielleicht dazu zwingen; aller ich nehme es ihnen sehr übel, daß sie das Geschäft ableugnen und Dinge heucheln, die gar nicht bestehen. Und ich lobe mir die Ehrlichkeit, wie sie sich von der reinen Stirn dieser beiden edlen Jungfrauen widerspiegelt."

Es betraten nämlich in jenem Augenblicke zwei weitere Mäd­ chen den Raum, die geradeso wie die Sphinx gekleidet und ihr auch im Typus ähnlich waren, mit dem gleichen müden Ausdruck in den Augen. Sie setzten sich neben unsere Freunde zur Linken und zur Rechten; die beiden Herren aber schmauchten zur großen Verwunderung des kleinen David friedlich ihre Zigarren weiter und nahmen von den jungen Damen keine Notiz. Philipp griff auch sofort das Gespräch wieder auf: „Gottlob kenne ich Sie zur Genüge," sagte Sinn Ihrer Satiren richtig einzuschätzen. brecher! Sie hallen Grund über das weibliche O ich möchte einmal das Urteil der Frauen

er lachend, „um den Sie alter Herzens­ Geschlecht zu klagen! üller Sie hören!"

„Fragen Sie sie doch! Und wenn sie nicht lügen, was freilich kaum anzunehmen ist, so werden sie alle bezeugen: er bewies uns königlichen Anstand; aber selbst das haben wir auf die Dauer nicht aushalten können!" „Auch die Beltran de Lis wird das sagen?" Ernst sah den Freund mit einem etwas mißtrauischen Seiten­ blicke an. „Die Welt hat doch viel Zeit, sich mit allerlei Dingen zu be­ schäftigen." „Die sie nichts angehen, wollen Sie sagen? Ich dachte ab-r unsere alte Freundschaft " „Sie haben recht. Sie hallen Anspruch darauf, daß ich Ihrr Frage beantworte. Also: wenn sie nicht lügt, wird auch sie das Gleiche sagen. Aber sie wird lügen." „Wirtlich das Gleiche? Man erzählt sich so viel!"

„Natürlich! Doch glauben Sie mir: nichts stimmt! Es ist auch gar nicht so einfach, das zu verstehen. Gewiß, Margarita- war meine Freundin. Aber nicht, wie die Leute denken. Es war —

von meiner Seite — nur Seelensreundschast; ganz allein musika­ lische Seelenfreundschaft. Sie ist das schönste musikalische Instru­ ment, das ich kenne. Ich ließ es singen, wenn ich eine schwere Stunde hatte — und wie sang es! Schöner als die köstlichste Violine; den die hat keine Seele. Margarita hat allerdings auch keine Seele; die Weiber haben überhaupt keine Seele; sie kommen daher auch nicht in den Himmel, wie das christliche Mittelalter und heute noch hier die Muslimin glauben; und wahrscheinlich Haber: sie recht: ihre Beobachtungsgabe seelischer Dinge ist scharf und fein. Aber die Weibr haben ein Surrogat für die Seele; das hat auch Margarita, wie feststehen möge, um der Wahrheit die Ehre zu geben. — Und da mir der musikalische Jahrmarktsrummel der Oper ein Greuel ist: Nur immer 'ran, meine Herrschaften, für zwanzig Francs sehen Sie die Riesensingdame, und so weiter, und ich schließlich auch etwas anderes zu tun habe, als meine Zeit auf den elenden Eisen­ bahnen zwischen Sevilla und Mailand mit sechsmaligem Zug­ wechsel und zwei Zollrevisionen auf einer einzigen Fahrt zu ver­ bringen, so ließ ich sie eben im engsten Kreise singen. Das heißt, im Grunde war ich ja es selbst, der auf diesem herrlicl)en Instru­ mente sang, das Gott alle Menschenalter nur einmal hervocbringt — aber vielleicht ist Ihnen das zu hoch------------------" „Ein wenig hoch ist es freilich. Und da ich Ihren Wirklichkeitssinn kenne und weiß, daß Sie auf Ihrem Gute wie ein Ein­ siedler hausten, wenn die schöne Margarita im Hotel Madrid ihre Zimmerflucht bezahlte, die nur ihre Zofe bewohnte — so denke ich auch daran, was Sie die langen, langen Abendstunden ansingen; die Aermste konnte doch nicht immerzu singen. . ." „Es fand sich allerlei Beschäftigung! Zum Beispiel: Ich nahm ihre schönsten Lieder im Apparate auf. Ich habe natürlich mein Ehrenwort geben müssen, daß die Platten nur für den reinsten Privatgebrauch bestimmt sind. Dabei bleibt es auch, selbstverständlich. Ich will für meine alten Tage etwas haben, wenn alles andere mir verschlossen ist. Denn ich fühle wohl: die Flucht in die Musik hin­ ein war meine letzte Rettung vor mir selbst und auch meine letzte Verirrung und große Narrheit, von da an ist alles — sagen wir: geistige Arterienverkalkung " „Und nichts anderes? Wo bleibt die Liebe?"

„Schaum! Selbst Aphrodite ist aus dem Schaum geboren. Die alten Griechen verstanden sich auf Symbolik. Gewiß, ich liebte Margarita nebenbei — aus Pietät. Solche seelischen Vorgänge sind etwas komplex und nicht leicht zu erklären. Und sie dachte, daß ich es so verlangte, und da sie mich so unendlich viel Geld kostete, müßte sie auch ab und zu einen Augenblick stillhalten. Denn darin besteht bei ihr die Liebe. Was weiß dieses Geschlecht von Ge­ fühl, von Seele?" „So wäre also alles in schönster Ordnung gewesen? Und doch der plötzliche Bruch?" „Ich gab Ihnen ja vorhin schon die Erklärung. An meinem königlichen Anstande ist nicht zu zweifeln. Die Leistung, die ich verlangte, war gering, und ich zahlte ihr eine höhere Gage wie die Scala selbst, wobei ich noch alle für eine Diva in Betracht kommenden Nebeneinnahnien berücksichtigte. Und über die Be­ handlung konnte sie sich auch nicht beklagen. Aber sie hat es doch nicht ausgehalten. Sie erfand jeden Tag etwas Neues, nur um einen Konflikt herbeizuführen. Man sagt den Frauen nach, daß sie nicht leben können, wenn sie nicht den Mann ab und zu einmal in Wut bringen. Ein Sexualpsychologe mag sich mit diesem Problem befassen. Auf jeden Fall haben sie bei mir kein Glück damit, und auch Margarita brachte es nur einmal fertig; doch so weit sind wir noch nicht. Kurz, es gelang nicht. Die kleinen Wünsche erfüllte ich ihr; das gab also keinen Konflikt. Dann kam sie damit heraus, sie könne ohne die Öffentlichkeit, ohne Ruhm und Beifall nicht mehr leben; ich erklärte ihr, sie sei durch nichts gebunden und könne jeden Tag nach Mailand zurückkehren. Wohl spielte sie ein wenig die Beleidigte, daß ich mich so leicht von ihr trennen könnte — doch wiederum kein Konflikt. Dann aber ging sie energischer vor. Sie wollte in Madrid ihr eigenes Theater Haben; sie wolle die spanisch-nationale Oper schaffen; sie wolle es nicht länger ertragen, ihr starkes Talent durch launische und begehr­ liche Impresarios, durch neidische Kolleginnen, durch die ganze Artistenmisere beeinträchtigt zu sehen. Ich gab ihr in allem recht, natürlich. Ich gebe, da ich in Frieden leben will, meinen Freun­ dinnen immer recht. Ich sagte ihr, sie solle sich unverzüglich an die Ausführung ihrer schönen Pläne machen. Sie meinte, dazu Geld,

viel Geld nötig zu haben. Auch darin gab ich ihr recht. Da sollte i ch das Geld hergeben. Da wurde ich plötzlich schwerhörig, und der Konflikt und der Anfang vom Ende war glücklich gekommen!" „Das war doch nicht alles? Sie selbst machten einmal eine Andeutung vöst einer etwas gewaltsamen Szene. . „Doch, das ist alles. Denn einmal, während ich gerade in fried­ lichster Weltvergessenheit meine Geige dichten und singen ließ, kam sie in meine Einsamkeit hineingestürzt und rief mir froh­ lockend zu, sie hätte nun den edlen Mann gefunden, der ihr das Theater schafft. Ich kannte den Mäzen wohl; einen reichen Kampf­ stierzüchter, aber ein Ungetüm wie nur eines seiner Zuchtprodukte, einen perfecto bruto; ob er heute weiß, was eine Oper ist, be­ zweifle ich; auf jeden Fall wußte er es damals noch nicht. In einem Worte, ich war gerade ganz wo anders mit meinen Ge­ danken, ganz tief im Musikalischen, und über die unerwünschte Störung so aufgebracht, daß ich auslangte. Schade um die schöne Violine; es war wirklich ein wertvolles Instrument; die Beule an ihrem Kopfe genierte mich weniger. Als die Katze fauchte, öffnete ich den Balkon; der Auftritt fand im Erdgeschoß statt. Da wurde sie still und verschwand, und ich sah sie zum letzten Male. — Ist Ihre Neugierde nun befriedigt?" Philipp war recht verlegen. Der lächerliche Schluß der Ge­ schichte hatte ihn überrascht. „Ich verstehe vielleicht nicht alles," sagte er; „mir scheint aber, so ganz ritterlich, so ganz königlich war Ihr Benehmen nun doch nicht. Eine Störung — das ist doch schließlich kein Kapitalver­ brechen!" „Für mich ist es eines! Trotzdem mag sein, daß das alles schwer verständlich ist. Aber doch folgerichtig. Ich hasse das Triviale. Vielleicht sollte ich aber nicht unerwähnt lassen, daß es zu diesem Nachspiele noch ein kleines Vorspiel gab. Aber das ist so lächerlich, so ekelhast! Schwamm drüber! Sie interessieren sich wirklich nicht für Ihre schöne Nachbarin? Sie schaut schon eine halbe Stunde lang sehnsüchtig zu Ihrer Grau­ samkeit herauf!" „Nein, danke!" sagte Philipp, der wohl fühlte, daß sein Freund durch diese kühne Wendung den schmerzlichen Gegenstand beiseite

UW

schieben wollte. Und er sah ein, ganzen Abenteuer, mehr noch, zu fassung, in der sich Ernst seit ein dale mit der gefeierten Sängerin,

daß er den Schlüssel zu dem der eigenartigen geistigen Ver­ paar Monaten, seit dem Skan­ befand, immer noch nicht in

Händen hielt. Aber der Freund hatte augenscheinlich keine Lust, diese letzte Neugierde seines Gefährten zu befriedigen. Unterdessen war ihnen doch endlich die Atmosphäre zu drückend geworden, und sie sehnten sich nach Freiheit und frischer Luft. Sie legten auf das Teebrett zwei Duros und schickten sich zum Gehen an. Die zahnlose Herrin des Hauses redete lebhaft auf sie ein, indem sie auf die beiden zuletzt gekommenen jungen Damen wies; aber da man sie nicht verstand oder wenigstens nicht zu ver­ stehen vorgab, blieb ihre Rede wirkungslos. Die Freunde genossen mit Behagen den Segen der frischen Abendluft, als sie auf demselben Wege, den sie gekommen waren, wieder zum Mellah Hinanstiegen. David verabschiedete fich von ihnen, nicht ohne weitere Dienste dieser oder ähnlicher Art, wenn sie nötig sein sollten, anzubieten, da er ja, wie er sagte, ganz genau in Fes Bescheid wisse.

ls die beiden Reisegefährten am nächsten Morgen ihren Kaffee einnahmen, wobei sie sich sehr viel Zeit ließen, da sie auf den verabredeten Besuch des Herrn Loh­ gerber warteten, erschien ein arabischer Diener desselben mit einem Brieslein. Er ließ sich entschuldigen, da er den Mor­ gen über mit den Vorbereitungen für die am Nachmittag geplante Grammophonaufführung beschäftigt sei, und bat die Herren, unbesorgt dem ihnen zugesandten Diener zu folgen, der beauftragt sei, sie zu Dr. Maurer hinzuführen. Die Freunde machten sich also auf den Weg nach Fes el Bali, und nachdem sie zahllose Winkel und Gassen durchquert hatten, gelangten sie endlich an eine kleine Pforte, das Haus Dr. Maurers, das in der Nähe der Moschee Karujin lag. Sie traten ein; einige weibliche Personen verhüllten rasch das Antlitz und verschwanden eiligst aus dem Hofe; und die Freunde hatten Zeit, sich umzusehen. Es war ein kleines, einfaches Gebäude, das deutliche Spuren des Verfalles zeigte. Irgend eine ordnende und schmückende Hand schien hier seit Jahrzehnten nicht zugefaßt zu haben. In den Säulengängen an beiden Seiten des Hofes bemerkten sie ein ungeheures Gewirr von tausendfältigen hochaufgestapelten Gegen­ ständen: großen und kleinen Gefäßen, die allen Zeiten der maurischen Vergangenheit zu entstammen schienen; Kacheln und Fliesen, die roh an den Wänden zusummengestellt waren, nicht ohne Lücken zu zeigen, da wo der Besitzer die zusammengehörigen Stücke nicht vollzählig hatte auftreiben können; allerlei Gerümpel, meist aus Holz, in dem Ernst altertümliche Spinnrocken, Webstühle, Wasserräder erkannte, und vieles andere mehr. Während die Freunde sich noch erstaunt einzelne besonders in die Augen fallende Stücke dieser ungeordneten Sammlung an­ sahen, kam der Besitzer herbei, ein kleines Männchen mit schon ergrautem Barte und einem ungeheuren kahlen Schädel, in ara­ bischer einfacher und keineswegs ganz sauberer Tracht. Er redete Sie beiden Eindringlinge gleich auf deutsch an; und Ernst erklärte

ihm unter den üblichen Entschuldigungen, daß er hier zum Be­ suche sei und nicht gerne Fes hätte verlassen mögen, ohne einmal einen Blick auf die ihm gepriesene Sammlung geworfen zu haben, wenn es gestattet sei. Der Hausherr bat ziemlich wortkarg unsere Freunde näherzutreten und führte sie in eine große Halle, die unmittelbar hinter einem der Säulengänge des Hofes lag. Aus seinen Mienen war nicht zu erkennen, ob er über diesen un­ erwarteten Besuch erfreut war oder ihn mehr als Störung em­ pfand; sie deuteten aber an, daß er geneigt wäre, die Neugierde seiner Besucher zu befriedigen. i In dieser Halle herrschte ein gleiches Durcheinander wie auf den Gängen des Hofes. Nur schienen die hier aufgespeicherten kulturgeschichtlichen Dokumente wertvoller zu sein. Auch hier sah man ebenso wie draußen keramische Produkte, aber kleiner und schöner verziert; an den Wänden hingen Waffen aller Art, Dolche, Säbel, alte mit Elfenbein und Silber ausgelegte Steinschloß­ flinten, Sporen, Steigbügel und Teile von Zaumzeug. Auf Regalen lagen ganze Berge von Manuskripten und Büchern, natür­ lich alle mit der Hand geschrieben; und wo sonst noch Raum an den Wänden war, hingen Gewebe und Teppiche herab. Im übri­ gen war von einer europäischen Einrichtung nichts zu sehen, als wie allenfalls in der Nähe der Tür ein Sessel und ein Tisch, auf dem Schreibgeräte lagen: der Studiertisch des Gelehrten. Dr. Maurer lud seine Besucher zum Sitzen ein, indem er sich selbst in arabischer Weise auf ein Polster hinhockte. Diesem Bei­ spiel folgte auch Philipp; sein Freund hingegen schob sich den ein­ zigen vorhandenen europäischen Sessel in die Nähe der beiden am Boden sitzenden Herren, da ihm, wie er sagte, das Hinsetzen sehr leicht, aber das Wiederaufstehen um so schwerer falle.

Er brachte dann vorsichtig das Gespräch auf die Lebensschick­ sale des Sammlers, nachdem er selbst kurz seine eigene Reise bis hierher geschildert hatte. Dr. Maurer, der allmählich etwas zu­ traulicher zu werden schien, hatte denn auch kein Bedenken, von sich zu erzählen. Es fiel unseren Freunden dabei auf, daß seine Redeweise etwas schwerfällig klang, gleichsam als hätte er seine Muttersprache schon ein wenig vergessen und müsse mühsam nach

den richtigen Ausdrücken suchen. Auf jeden Fall war es deutlich, daß er nur selten Gelegenheit hatte oder Lust empfand, deutsch zu reden. Er erzählte, daß er Philologie studiert und sich mit orien­ talischen Forschungen befaßt habe und in seiner Jugend zunächst in Persien, Syrien und Aegypten gereist sei. Dann aber wäre er, nunmehr vor etwa dreißig Jahren, auf seinen Studienfahrten nach Fes gekommen. „Damals war es nicht leicht für einen Europäer, in dieser Siadt zu verweilen. Es war in den Anfangszeiten Muley Has­ sans, der energisch seine Politik der Fremdenfeindschaft betrieb und bei dessen großer Regententüchtigkeit es den europäischen Mäch­ ten nicht leicht war, Erhebliches für den Schutz ihrer Staats­ angehörigen zu tun. Mit dieser Fremdenfeindschaft hatte ich un­ säglich zu kämpfen. Ueberall stieß ich auf Abneigung und Schwie­ rigkeiten; bei der Art meiner Studien bin ich aber auf den guten Willen der Bevölkerung stark angewiesen. Als ich genügend die Sprache beherrschte, begann ich mich nach der Weise der Mauren zu kleiden, um nicht von vornherein als Fremdling aufzufnllen; indessen auch damit kam ich nicht sonderlich weiter. Die mich ein­ zig interessierenden Kulturdokumente sind fast ausschließlich in den Moscheen, den Medresen und der Universität zu finden, also in kirchlichen Einrichtungen und Stiftungen, deren Zugang den Ungläubigen verwehrt ist. Auch stehen die weltlichen Gelehrten des Landes ausnahmslos in irgend einem Zusammenhang mit ihrer Kirche und halten sich daher aus Ueberzeugung oder Politik den Europäer vom Leibe. Da ich nun aus niemand Rücksicht zu nehmen habe und schließlich nur ein einziges Interesse besitze, dem ich den Rest meines Lebens zu widmen entschlossen war, tat ich den logisch sich von selbst ergebenden Schritt, Mohammedaner zu werden, um mir die bis dahin verschlossen gebliebenen Türen und Tore zu öffnen. Allerdings schienen daraufhin meine Landsleute, die lange nach mir vereinzelt hier in das Land einzogen, mich nicht mehr für voll zu nehmen. Ich kann nicht sagen, daß mich das besonders gekränkt hätte, wenn auch diese Erfahrung ein wenig unerwartet kam. Im übrigen fand ich an der Freund­ schaft gebildeter Mauren, an ihrer einfachen, natürlichen Herzlich-

keit vollen Ersatz, zumal mein Geselligteitsbedürfnia nicht über­ mäßig groß ist." Ernst erkundigte sich dann nach den näheren Zielen der For­ schertätigkeit des Gelehrten. „Im Grunde will ich nichts weiter, als das Volk kennen lernen. Ich sage absichtlich Volk; denn ich schließe alles Politische voll­ ständig aus; mich interessiert nicht das Historische. Im Grunde ist es ja auch das durchaus Nebensächliche, und die Leute hier scheinen einen richtigen Blick dafür zu haben; denn mit so vielen großen, kleinen und kleinlichen Dingen sie sich auch in ihren Gelehrten­ schulen befassen: auf das, was wir im europäischen Sinne Geschichte nennen, legen sie gar keinen Wert., Was ist denn Geschichte Ma­ rokkos? Alle hundert Jahre kommt, zumeist aus der Sahara, irgendwo zwischen dem atlantischen Ozean und Aegypten, ein Ara­ berhäuptling mit seinen Stammesgenossen, erschlägt die zur Zeit gerade hier herrschende Familie, plündert die wohlhabenden Leute aus und setzt sich mit seinen Raubgesellen ohne irgend einen an­ deren Rechtstitel als den der augenblicklichen größeren kriege­ rischen Tüchtigkeit an ihre Stelle. Diese militärische Tüchtigkeit aber geht mit dem bequemen Leben auf leicht gewonnener mate­ rieller Grundlage rasch unter; und wenn der ursprünglich gesunde Stamm morsch genug geworden ist, bleibt die Axt nicht aus, die ihn abhaut und verbrennt. Dynastien kommen und gehen wieder; dauernd aber ist das V o l k allein, lebt ruhig sein Schicksal weiter, das natürlich elend genug ist, da es ständig dazu verdammt bleibt, eine faule Herrenkaste durch seinen Fleiß zu ernähren; aber trotz­ dem bleibt und ist es das einzige Ewige und Dauernde. Aber auch dieses Volk hat seine Historie, die in meinen Augen die einzig wirkliche Geschichte ist: die seines Geistes oder besser gesagt, da hierzulande es mit dem Geistigen recht schwach bestellt ist, die seines Herzens. Die Aufeinanderfolge der Dynastien im raschen Wechsel beeinflußte die kulturelle Entwicklung fast gar nicht; denn wie ich schon vorhin sagte, kamen die Herrengeschlechter aus der kulturlosen Wüste und waren zumeist aller geistigen Betätigung durchaus abhold. Auch ihre Religion, die natürlich wie jede Reli­ gion dem Geiste ihrer Verbreiter angepaßt ist, weil sie eben sonst nicht verbreitet werden würde, verbietet die wichtigste künstlerische

Betätigung, die Darstellung des Figürlichen, das Bild. So bleibt sich in geistiger Beziehung dieses Volk selbst überlassen, und es sind nur die ganz großen geschichtlichen Wellen, die einen bestim­ menden Einfluß auf dasselbe ausgeübt haben und sich in seinen Kulturerzeugnissen bemerkbar machen. Die eine Welle kam non Osten, aus Persien und Syrien, und vermittelte durch Handwerker und Künstler — was in jenen Zeiten dasselbe ist — die ästhetischen Werte des Ostens. Die andere, spätere Welle kam aus Spanien, zur Zeit der Almoraviden und der Almohaden, als eine starke Rückwanderung nicht nur der arabischen Herren, sondern auch der von ihnen einstmals unterjochten und zum Islam bekehrten Volts­ massen stattfand. Diese beiden Hauptwellen wirkten nacheinander auf das ziemlich amusische Kulturleben der Berber ein, die es in künstlerischer Beziehung bestenfalls zu einem rohen Zickzackornamente gebracht haben. In den drei Jahrhunderten der Merinidenherrschaft verschmolzen und verarbeiteten sich nun langsam, aber durch äußere Einflüsse ungestört die einheimisch berberischen, die morgenländischen und abendländischen Kulturausdrücke zu einem spezifisch marokkanischen Kunststile, der mit dem Falle der Meriniden erstarrte oder auch in Rohheit ausartete. Das ist das Feld meiner Tätigkeit. Wenn Sie also , mein Forschungsgebiet in eine Formel zu fassen wünschen, so wäre es etwa die: Marokkanische Kultur im Ausgange des Mittelalters." „Wenn ich Sie recht verstehe," fragte Ernst, „studieren Sie, da andere Kulturäußerungen wohl schwerlich erhalten sind, die Ent­ wicklung der Technik zu der fraglichen Zeu an der Hand der von Ihnen gesammelten Gegenstände, Töpfe, Teppiche, Tücher und so fort?" „O nein; um technische Dinge .st et mir gar nicht zu tun. son­ dern nur um das Geistige, wie ich Ihnen fchon sagte. Maschinen und Haushaltungsgegenstände, die allein nach den Gesetzen d^r Nützlichkeit gefertigt werden, haben nichts mit dem allein Wesent­ lichen zu tun. Ich gehe auf das Innerliche aus, also objektiv be­

trachtet, auf das Künstlerische." „Und wo finden Sie in all dem das Künstlerische?" „In einem Wort: im Ornamente. Nirgendwo ist die Kunst

des Ornamentes zu einer derartigen Vollendung gelangt wie hier-

zulande vor etwa fünfhundert Jahren. Ueberall, wo ein Volt eine Seele besitzt, wird es zum Kunstschaffen gedrängt; aber wohl selten ist alle künstlerische Betätigung so rauh durch kunstfeindliche Her­ renrassen unterdrückt worden. Allee Geschriebene ist dem echten Araber, im Gegensatz zu seinen persischen, syrischen, ägyptischen Glaubensgenossen, ein Greuel, wenn es sich nicht um Spitzfindig­ keiten in der Auslegung des Korans handelt. Daher unterbleibt fast von vornherein die poetische Betätigung, wenigstens in ihrer höheren Form, die über die mündliche Ueberlieferung hinausgeht und mehr oder weniger an den Gebrauch von Papier und Tinte gebunden ist. Für das Musikalische scheint der Beduine überhaupt keinen Sinn zu haben. Aber trotzdem drängt es die Unterschicht zur künstlerischen Produktion. Bilder darzustellen, war durch die Religion verboten; aber Linien zu ziehen und Farben anzulegen, dem stand kein höheres Gebot im Wege. So wurden die Motive von Blumen und Pflanzen, die mit der ersten Pölkerwelle aus dem Osten gekommen sein mochten, aus Persien, Aegypten, vtelleicht sogar aus Indien, zum Blumenornament, dessen Abstam­ mung man kaum erkennt, wenn man sich des geschichtlichen Vor­ ganges nicht bewußt ist. Dann aber, als die Welle der europäischen Kultur über das Land brach, kam mit den neuen Motiven genau genommen des Altgotischen, der stilisierten Darstellung von Tie­ ren, dem Löwen und dem Adler namentlich, auch frisches Leben in die Ornamentik, wobei das Reue sich mit dem Alten erst stritt und dann verband. So sehen wir in diesem Ringen um das Orna­ ment den Reflex von historischen Vorgängen, die Sehnsucht un­ sterbliche Gedanken durch sichtbare und sinnliche Farben und Linien­ züge auszudrücken. Wer die zu lesen weiß, erhält auch einen Ein­ blick in die seelischen Vorgänge des schaffenden Künstlers und des

Volkes, für das geschaffen wird." „Kann man denn wirklich abstrakte Dinge durch Linienzüge

avsdrücken?" fragte Ernst etwas skeptisch. „Gewiß, man muß sie nur zu deuten wissen," erwiderte Dr. Maurer. „Ein Beispiel wird Sie vielleicht überzeugen. Was ist schließlich die Handschrift eines Mannes anders als feine Art und Weise, Linien zu ziehen; und doch ist der Glauben kein leerer Wahn, aus der Handschrift Rückschlüsse auf den Charakter des Brinkmann, Wallfahrt

Schreibenden machen zu können. Und wenn das schon von so un­ vollkommenen Federzügen wie die unserer Handschrift gilt, wie­ viel mehr sollte das nicht auf die höchst künstlerische Vollendung eines Ornamentes zutreffen? Warum sollen nicht in tausendfach stärkerem Grade die Empfindungen der Seele, Melancholie oder Sehnsucht, Freude oder Stolz oder Machtgefühl in dieser sublimsten

Handschrift, die erdenkbar ist, zum Ausdruck gelangen? Freilich ist es etwas schwierig, das in Worte zu fassen oder gar beweisen zu wollen. Aber liegen die Dinge nicht ganz ähnlich in der Musik? Auch darin ist alles reine Einwirkung auf die Sinne, ohne des Weges über das Gedankliche zu bedürfen; und doch vermag die Musik wie keine andere Kunst die feinsten Regungen des Seelen­ lebens darzustellen und auszulösen, und zwar so eindeutig, so bestimmt, daß selbst auf das ungeübte Ohr die überall gleiche Wir­ kung nicht ausbleibt. Es bedarf keiner erklärenden Deutung der Musik, um zu verstehen zu geben, daß sie in dem einen Falle Freude

unb Frohsinn, in einem andern Feierlichkeit und Ernst, wieder in einem anderen leidenschaftliche Erregung ausdrückt. Und das Ornament ist nichts anderes als Musik für das Auge. Ich trage daher zusammen, was ich finde. Was ich nicht nach Hause bringen kann, das halte ich durch die Zeichnung fest. Wenn Sie ein ander Mal mit mehr Muße kommen, werde ich Ihnen gern meine Mappen zeigen. Ich mache mich auch daran, ein wenig diese Musik des Auges verstandesmäßig zu deuten, was freilich ein un­ dankbares Geschäft ist, ähnlich wie die Aufgabe, nachträglich die Programme zu Beethovenschen Symphonien zu schreiben; diese Dinge muß man im Ohr oder Auge haben; mit dem Kopf ist da wenig zu machen.

Natürlich suche ich meine Einsicht in das innere Wesen jener Leiten auch auf andere Weise zu ergänzen, besonders durch das Studium alter handschriftlicher Aufzeichnungen und dergleichen, wobei ich freilich bemerken muß, daß diese Sammlerarbeit nicht all zu ergebnisreich ist."

Als Dr. Maurer schwieg, argwöhnten seine beiden Gäste, daß ihm eine noch längere Ausdehnung des Besuches nicht sonderlich rmgenehm wäre; sie erhoben sich also zum Aufbruch. Ernst, der von all dem Gesehenen und Gehörten sichtlich gefesselt war, erkundigte sich noch rasch nach den schriftlichen Arbeiten des Gelehrten, nach Veröffentlichungen und dergleichen. Dieser sagte: „Ich denke vorläufig nicht an Veröffentlichung; die kurzen Jahre, die mir noch gegeben sind, will ich zur Vervollständigung meiner Sammlungen und ihrer Erklärung verwenden. Ich glaube auf diese Weise meine Zeit nützlicher anzuwenden. Dazu stehe ich der europäischen Welt schon so fern, daß es mir unsagbar schwer würde, mich jetzt noch mit der technischen Kleinarbeit, die unver­ meidlich mit jeder derartigen Veröffentlichung verknüpft ist, abzu­ geben. Außerdem würde das größere Mittel erfordern, als ich besitze. Ich bin ein armer Mann und lebe von dem Ertrage einiger Gärten vor der Stadt, die mein ganzes, freilich für meine geringen Bedürfnisse ausreichendes Hab und Gut bilden." „Aber ist da nicht zu fürchten, daß so Ihre wertvolle Lebensorbeit verloren gehen kann? Sind Sie sich eines dieser Aufgabe ge-

wachsenen Erben sicher? Wem wollen Sie Ihre Schätze und Ihre Manuskripte anvertrauen?" „Ich muß gestehen, daß ich mir bislang darüber wenig Gedan­ ken gemacht habe. Früher hatte ich allerdings gehofft, daß ein Stück dieses Landes, der Süden vielleicht, deutsches Protektorat würde; dann wäre ja auch, wie es unserem wissenschaftlichen Eifer Bedürfnis ist, in der Hauptstadt dieses Besitzes vermutlich ein der marokkanischen Kultur gewidmetes Museum entstanden, dem ich meine Sammlungen als Grundstock oder als Beitrag vermacht hätte. Irgend ein intelligenter Gehilfe am Museum würde dann auch wohl die Durchsicht und die letzte Formgebung an meinen Arbeiten vorgenomen haben. Wir haben aber kein deut­ sches Protektorat bekommen, und ich habe daher auch keinen Plan gefaßt. Die Franzosen haben für Arbeiten wie die meine keinen Sinn, und meine Sammlung nach Europa zu schicken, ich glaube, da verlöre sie an ihrem besten Werte, nämlich am historischen Hin­ tergründe. Aber darüber mache ich mir heute noch keine Sorgen; ich werde schon eine Lösung des Problems finden!" Sie waren unterdessen in die Nähe des Haustores gelangt; Ernst hätte zu gerne noch allerlei über das Privatleben des Ge­ lehrten gehört. Bor allen Dingen pikierte ihn etwas die Frage, ob der seltsame Mann, wie es unter den Herren der deutschen Kolo­ nie hieß, sich tatsächlich einen Harem zugelegt hatte, oder wie er es sonst mit den Rechten und Pflichten seines neuen Glaubens hielte. Er konnte es sich schließlich nicht mehr verkneifen, eine entsprechende Frage zu stellen. Der alte Gelehrte aber lächelte fein. „Freilich bin ich Mohammedaner; in diesem Punkte jedoch mache ich keinen Gebrauch davon." Unsere Freunde wanderten durch die Mittagsglut des Tages Fes el Dfchedid zu. Sie unterhielten sich natürlich über den denk­ würdigen Besuch, den sie gerade beendigt hatten, und Ernst stellte die Behauptung auf: „Solange Sie nicht so werden, wie jener alte Mann, stehen Sie dem wahren Glücke noch weltenweit fern." Und als Philipp skeptisch die Achseln zuckte, fuhr er fort: „Ich dachte, ich hätte nun schon alles hinter mir: den Tanz der Seele und die Musik der Seele; aber ich weiß nun, daß mir das Beste noch fehlt: die Ornamentik der Seele."

„Das verstehe, wer kann," sagte der Freund, der gewaltig schwitzte. „Wer so viel Dinge gesehen und erfahren hat wie ich, dem verschlingt sich die Seele zu einem unverständlichen Wirrwarr von barocken Schnörkeln. Es ist die Aufgabe der Ornamentik, auch da­ hinein wieder Form und harmonischen Zusammenklang und damit Sinn zu bringen!" uf dem sonnendurchglühten Platze zwischen den Gärten des Sultans wurden die Freunde plötzlich ^mgerufen. Es kamen Herr und Frau Schröder und der aufopferungsvolle Herr Vogel

A

desselben Weges gegangen.

Ernst machte ein verdrießliches Gesicht. „Komme, was kommen mag," sagte er, „wir scheinen unserm Schicksal nun einmal nicht entgehen zu können." Er richtete es absichtlich so ein, daß er mit den Herren Schröder und Vogel voranging, sein Gefährte also allein mit der Dame nachfolgen mußte. Es war selbstverständlich, daß Philippp die schöne Frau mit dem Berichte von dem, was die Freunde gestern und heute auf dem Spazierritte und dem Besuche

bei dem Gelehrten gesehen hatten, zu unterhalten suchte. Besonders schilderte er mit warmer Begeisterung die ungemein interessanten Stunden bei dem alten Sonderling. Frau Schröder schien sich aber gar nicht zu unterhalten, sondern antwortete nur inu einem Anfluge von Neid: „Sie haben es gut! Sie werden von Ihrem genialen Freunde immer dorthin geführt, wo es etwas Merkwür­ diges und Lohnendes zu beobachten gibt. Ich habe bald sämtliche Moscheen von außen gesehen — hineingehen darf man natürlich nicht — und Herr Vogel scheint nun gar nichts mehr des Inter­ essanten zu wissen. So bleibt mir denn nichts als die Langeweile übrig, während Sie von einer wertvollen Erfahrung zu andern und von Zerstreuung zu Zerstreuung eilen." „Nun, mit Zerstreuungen im wahren Sinne des Wortes sind wir eigentlich auch nicht allzureichlich gesegnet gewesen." „Machen Sie mir nichts weiß! Wir sind ganz genau von jedem Ihrer Schritte unterrichtet. Wir wissen auch, wo Sie gestern Abend waren."

„So?

Und woher wissen Sie das, wenn die Frage erlaubt ist?"

„D hier bleibt nichts verborgen. Aber Sie haben ganz recht, ich würde es auch so machen. Das Einzige, was ich Ihnen übel­ nehme, ist, daß Sie beide uns zu fliehen scheinen. Leugnen Sie es nicht ab, ich bin felsenfest davon überzeugt; Sie suchen uns, wo Sie können, zu entgehen. Was hat es damit auf sich? Wir sind doch nun einmal Reisekameraden und gehören daher zusammen!"

„Aber wirklich, gnädige Frau, Sie sehen Gespenster. Wer flieht denn? Mein Freund und ich erledigen fast programmäßig, frei nach Bädeker, wenn es für Marokko einen gäbe, die Besichti­ gung der Dinge, die uns interessieren. Vielleicht liegt es daran, daß wir jeden Tag etwas spät aufstehen. Mein Freund findet sich nämlich nicht so leicht aus dem Bett heraus, angeblich weil er meinetwegen schlaflose Nächte verbringt; und wenn wir endlich auf die Straße kommen, ist schon niemand mehr zu sehen. Das ist

alles." „Ich lasse mir das nicht einreden. Ich verstehe etwas von Charakteren, und es scheint, als würde Ihr Freund mich hassen Jawohl, er haßt mich! Und ich habe ihm doch nie im Leben etwas

getan, ganz im Gegenteil; meine Gefühle für ihn — doch er versteht mich nicht. . Die schöne Dame brach hierbei in Tranen aus. „Den Haß bilden Sie sich nur ein, gnädige Frau," tröstete Philipp mitleidsvoll. „Offen gesagt, ich werde aus Ihrem Freunde nicht recht fing/' „Diesmal stimme ich mit Ihnen vollkommen überein! Auch ich werde zumeist nicht klug aus ihm; aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, und es fällt mir schon garnicht mehr auf. Wenn Sie ihn länger kennen, wird auch Sie das nicht mehr verwunderns „Ich dachte schon, daß die Antipathie vielleicht daraus ent­ standen oder richtiger: dadurch erhöht ist, daß ich ganz unwissent­ lich eine schmerzliche Wunde berührt habe. Sie erinnern sich viel­ leicht: vorgestern, bei dem Gastmahl des Judenscheichs. Ich er­ wähnte unglücklicherweise die Sängerin. Was mag das damit auf sich haben? Ich bin ja nicht neugierig . . ." „Es ist gut, daß Sie nicht neugierig find, gnädige Frau, denn ich weiß selbst nichts darüber." Unterdessen war man in das Gase Paris gekommen, und Freund Frasquito deckte diensteifrig den Tisch für fünf Personen. „Diesmal aber bitte ich mir aus, daß ich bezahle", sagte Herr Schröder; „ich bin nun schon für einigemale in Ihrer Schuld." „Ich glaube, Frasquito läßt sich eher totschlagen, als daß er von Ihnen Geld nimmt", erwiderte der kleine Herr lächelnd. „Die alten gottgewollten Abhängigkeiten haben ihn so erzogen." Trotzdem Ernst sich keinesfalls in der Gesellschaft behaglich fühlte, verlief das Mittagbrot doch ohne weitere Zwischenfälle. In launiger Weise und vermutlich, um die zarten Empfindungen Frau Schröders zu verletzen, erzählte er von dem Harem des Dr. Maurer; aber feine Darstellung bewegte sich durchaus ,in den Grenzen der poetischen Wahrscheinlichkeit, so daß die Gesellschaft ihm vollen Glauben schenkte. Nur einmal kam es zu einer etwas hitzigeren Auseinander­ setzung. Frau Schröder fühlte sich nämlich bemüßigt, viele schöne und tiefsinnige Betrachtungen über Berliner Kunst und Literatur anzustellen, was Ernst zu der zornigen Aeußerung veranlaßte: „Da es mir nun einmal vom Schicksal bestimmt zu sein scheint, daß ich selbst beim Essen gebildete Gespräche führen muß, so

möchte ich meine Meinung über die aufgeworfene Frage dahin präzisieren: Unsere ganze deutsche Literatur ist vergiftet, verseucht und verpestet durch das Eindringen und Ueberwuchern der Skandi­ navier. Ein wenig Feminismus in der Unterhaltungslektüre ist ja ganz nett, aber das was diese degenerierten Waschlappen aus dem Norden vorbringen, ist ein durchaus morbider Feminismus. Mit Nora und Hedda Gabler fing das süßliche Gewäsch über das unverstandene, aber so wundersam abgrundtiefe innerste Wesen des Weibes an und hat seitdem kein Ende mehr gefunden. In meinen bängsten Träumen sehe ich oft diese ganze verkommene nordische Gesellschaft mit grauen, zottigen Haaren, von Ibsen angefangen bis herab zum letzten elenden Zeilenschinder, um eine trübe Pfütze stehen und Steine hineinwerfen. Da sie den Kiesel unter der schmierigen Oberfläche verschwinden sehen, murmeln sie: ,Wie tief, wie wundervoll tief! O gütiger Gott, wer da hineinfiele, versänke in grauenvollste unendlich schauerliche Tiefen.' Aber keinem fällt es ein, einmal mit einem handfesten Spazierstock in den Schlamm hinabzustoßen, um zu sehen, wo eigentlich das Ende ist."

Als Frau Schröder dies hörte, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Er aber ah ruhig weiter, als sei nichts geschehen.

^v^ach Tisch forderte Herr Schröder unsere beiden Freunde Jl auf, ihn und seine Ehehälfte auf einem Spaziergange zum

neuen Palaste des Sultans zu begleiten, zu dem er durch die fran­ zösischen Militärbehörden Eintrittskarten erhalten hatte. Ernst

lehnte aber dankend unter dem Vorwande ab, daß es ihm zu heiß sei, und setzte sich mit dem Gefährten in den Hintergrund der Veranda in einen Schaukelstuhl, um dort den Kaffee einzunehmen. Da erklärte zu seinem Schrecken auch Frau Schröder ihrem Gatten, daß sie ebenfalls müde vom Sehen und der unerträglichen Hitze sei und hier warten wolle, bis er von der Besichtigung des Palastes zurücktehrte. Die Herren Schröder und Vogel gingen also allein; sie aber setzte sich zu unseren Freunden hin, worauf Ernst schreckens­ bleich flüsterte: „Wenn nicht auf unsere Tugend, so ist es doch zum wenigstens auf unsere Nachmittagsruhe abgesehen!" Wirklich, die schöne, aber etwas allzu beredte Dame begann auch gleich die Unterhaltung mit unserem edlen Dulder aufzunehmen.

„Eigentlich sollte ich Ihnen ganz böse sein; Sie sind ein zu arger Spötter! Doch ich sagte Ihnen ja früher schon, ich nehme Sie nicht ernst; sonst müßte ich mich ja wirklich zu sehr ärgern. Auf jeden Fall scheinen die Frauen nicht besonders gut bei Ihnen angeschrieben zu sein." „Im Gegenteil! Man macht mir den Vorwurf, daß ich ein zu großer Verehrer des schönen Geschlechtes bin", sagte Ernst gelang­ weilt. „Das mag richtig sein, wenigstens bei dem was S i e unter schönem Geschlechte verstehen. Aber Gott sei Dank sind nicht alle Frauen gleich. Schließlich gibt es doch noch etwas in der Welt, das man Moral nennt."

„Ach so, Moral", erwiderte der kleine Herr, der Böses ahnte. „Freilich, Moral! Sie wollen doch nicht etwa abstreiten, daß ein Sittengesetz besteht!" „Ach, gnädige Frau, das ist ein sehr schwieriges Thema, nament­ lich bei dieser Hitze und bei so viel Fliegen!" „Das Thema ist schwierig, weil Sie selbst es sich schwer machen. Ich hingegen finde, es ist etwas ganz Einfaches und Klares; man muß nur ohne Haarspaltereien das, was man eben Moral nennt, anzuertennen und anzunehmen suchen." „Ich glaube, ich habe mir darüber meine Begriffe bereits ge­ bildet, gnädige Frau. Vielleicht hatte ich genug Gelegenheit dazu; denn wenn ich auch in Gesellschaft schöner Damen mich gern etwas

jünger mache, so kann ich doch hier unter Freunden, und weil das Lügen ja doch nichts nützt, gestehen, daß ich fast doppelt so alt bin wie Sie", betonte er boshaft. „Da wäre ich wirklich neugierig, Ihre Begriffe kennen zu lernen." „Gut, es soll mir nicht darauf ankommen", sagte er resigniert und tief aufseufzend. Jetzt machte Philipp einen Versuch, seinen Freund zu retten: „Um Gottes Willen, lassen wir doch diese schwierigen Sachen für ein anderes Mal. Bedenken Sie, theoretische Erörterungen über Ethik bei fünfundvierzig Grad Celsius im Schatten!", „Im Gegenteil, ich bitte Ihren Freund sogar darum", sagte Frau Schröder, „es wäre mir wirklich interessant zu hören." Philipp erhob sich, griff nach einer Zeitung und verzog sich in einige Entfernung von der sauersüßen Miene des Lehrfreude heuchelnden Meisters und seiner wißbegierigen Schülerin. Allere dings blieb er doch nahe genug, um jedes Wort zu hören und sich über die versteckten Bosheiten, die der giftige kleine Herr von sich gab, heimlich zu erfreuen. Er begann dann auch: „Es ist so schwer, wissenschaftlich eine Frage zu behandeln, wenn der andere ganz unwissenschaftlich an das Problem herantritt." „Natürlich! Der Frau gegenüber verschanzt sich der Mann

immer hinter sein tieferes Wissen, weil er sie für geistig arm hält. Aber er irrt sich meistens. Und bei mir nutzt es schon garnichts. Denn ich durchschaue Sie: Sie wollen mir ausweichen! Was hat die Moral mit der Wissenschaft zu tun? Sie ist doch nicht etwa eine Angelegenheit für die Gelehrten?" „Unwissenschaftlich ist es immer," fuhr der kleine Herr fort, ohne sich im geringsten berirren zu lassen, „von der absoluten Moral zu reden. Denn das wahre Wissen beginnt erst mit der Einsicht, daß es so etwas nicht gibt, daß die Moral eine konventio­ nelle Forml ist, ein modus vivendi, wenn sie wollen, möglichst reibungslos durch das Jammertal dieses Lebens zu pilgern, ein ge­ ebneter Weg, den man so oder so anlegen konnte, und den wir nur betreten, weil er einmal angelegt ist. Ein Weg. Merken Sie das. Der Weg ist das Symbol der Moral; das sagt am klarsten die

Terminologie der japanischen Ethik, die den Schinto, den Weg der Götter, von dem Butsudo, dem Wege des Buddha, unterscheidet. Aber worin besteht das absolute Muß, diesen Weg oder einen dieser Wege zu beschreiten? Gewiß, wenn ich ihn verlasse und über Stock und Stein und durch Buschwerk und Gestrüpp mir meinen eigenen Pfad suche, mag ich mich mancherlei Unannehmlichkeiten aussetzen; ich mag schwitzen und mich ermüden, meine Stiefel und Hosen zerreißen, vom Sturme oder von der Nacht ohne Obdach überascht werden und überhaupt an kein Ziel gelangen; aber das ist allein meine Sache. Die andern, die hübsch bequem auf dem .guten' Wege bleiben, bringen es sicherlich weiter. Jedoch ist es nicht das schönste Entzücken für den rüstigen Wanderer, von der allgemeinen, allzu gemeinen Heerstraße abzuweichen und in innige Berührung mit der reinen und wahren Natur zu kommen? Um überhaupt neues Land, neue Wahrheit, neue Schönheit entdecken zu können, ist es nötig, den alten ausgetretenen Pfad zu verlassen und sich ins Unbekannte zu stürzen, zum mindesten zeitweilig, bis wir müde und alt geworden sind und die Bequemlichkeit dem Genusse vorziehen!" „O wie sähe die Welt aus, wenn ein jeder nach seiner unge­ zügelten Laune die Kreuz und Quere durch das Dasein zöge!"

„Sage ich denn ein jeder? Ich meine nicht die vielzuvielen Schwachen und Bequemen; ich sprach nur von dem rüstigen Wanderer, dem Manne, dem freien Mann, vielleicht nur dem Ein­ siedler und Hagestolze ..." Frau Schröder rückte jetzt mit einem Male ihren Schaukelstuhl ganz dicht an den erhabenen Mann heran und sagte mit einem Tonfälle in threr Stimme, der jedem anderen zu Herzen gegangen wäre, nur nicht den Stein erweichen konnte, den Ernst in der ge­ panzerten Brust trug: „Ich will Ihnen etwas sagen, wenn es viel­ leicht auch aufdringlich erscheinen könnte: Sie sollten heiraten! Dann würden Sie gewiß auf andere Gedanken kommen!"

„Das ist möglich," sagte er gelassen; „und ich würde es viel­ leicht auch damit versuchen, wenn ich selbst an die Heilsamkeit des Institutes der Ehe glaubte. Aber bis jetzt habe ich mich nur vom Gegenteil überzeugen können!"

„Sie spaßen natürlich wieder", sagte Frau Schröder bitter. „Niemals sprach ich in größerem Ernst. Denn das Dümmste von allem ist unsere geschlechtliche Moral, so wie sie im moralischen Europa gehandhabt wird. Ein Verbrechen am heiligen Geiste der Aesthetik — die i st absolut, ganz im Gegensatz zur Ethik — und, was schlimmer ist, an der Natur! Da hat man auch solch einen Weg' geschaffen, den der Ehe! Als wenn es etwas an der Sache

ändern würde, ob nun vorher eine Magistratsperson einen Akten­ bogen vollgeschrieben und ein Pfaffe vergoldete Worte dazu geredet hat oder nicht! Ganz im Gegenteil! Mit dem Zwange paart sich der Ekel, das Musterbild aller Ehen, die sich daran angeschlossen haben!" „Sie verwechseln die Form mit dem Inhalte; die Formel drückt doch nur das Wesentliche aus: die Sicherstellung und DauerHaftmachung des Liebesbündnisses."

„Jawohl, die Einbalsamierung, die Mumifizierung der Liebe! Als wäre es kein Verbrechen, das zarteste, flüchtigste, feinste Gebilde der Seele, die Liebesbeziehung, in die Zwangsjacke zu stecken und dann noch umzubringen! Die Liebe lebt überhaupt nur durch den Wechsel; sie stirbt täglich und muß täglich wieder neugeboren werden; ihr Symbol ist von jeher die Flamme gewesen, das heißt kein Körper, kein Materielles, kein Zustand, sondern ein Vorgang, ein ständiges Werden und Vergehen. Die Flamme ist auch nicht den tausendsten Teil einer Sekunde dem Stoffe nach dasselbe, sondern wechselt immer den Körper; und doch, oder gerade dadurch bleibt sie bestehen und wärmt und leuchtet und lebt!" „Mein Gott!", rief Frau Schröder entsetzt; aber gleich fügte sie sanft errötend hinzu: „Es könnte einen fast traurig machen! Sie verstehen so schön von der Liebe zu reden, und im Grunde wissen Sie vielleicht garnicht, was Liebe ist. Wenn ich auch Ihr Leben nicht kenne, so stelle ich mir doch vor, daß Sie an Stelle der warmen und dauernden Leidenschaft nur das Surrogat der Liebe kennen, wie es die Flüchtigkeit vorübergehender und vielleicht unwürdiger Passionen hervorbringen mag. Frauen gibt es ja viele, aber das Ideal edler und echter Weiblichkeit ist sehr selten." „Deshalb ist es auch ein Ideal", sagte der unverbesserliche Skeptiker. „Im übrigen ist es vielleicht meine Schuld, wenn mir die edle und echte Weiblichkeit aus dem Wege geht und ich daher von ihrer Existenz nichts erfahre. Ich mag etwas an mir haben, an dem dieses Ideal keinen Gefallen findet, und hätte in­ folgedessen Ursache, mein böses Schicksal anzuklagen." „Man geht Ihnen nicht aus dem Wege! Sie brauchen das Gute nur zu erkennen und, einmal erkannt, würdigen zu wollen. Es ist ein Jammer, einen Mann von so überragender Bedeutung, wie Sie es sind, auf dem wesentlichsten Gebiete seelischer Kultur mit solchen Unvollkommenheiten behaftet zu sehen!" Der kleine Herr wurde ärgerlich: „Meine sehr verehrte Frau Schröder ..." „Nennen Sie mich nicht bei diesem lächerlichen Namen, lieber Freund", unterbrach ihn die schöne Dame. „Vielleicht liegt darin etwas von dem, was uns bislang trennte. Denn nur unter Seinesgleichen kann wahre Kameradschaft, kann ein noch innigerer

Gefühl entstehen. Es handelt sich dabei um eine Laune meines Mannes, die ich keineswegs billige. Er wollte unbelästigt reisen. Sie wissen ja, daß Personen von Stande überall einen Gegenstand der Neugierde bilden und sich oft nicht so frei bewegen können, wie es ihnen recht ist. Wir haben uns daher einen einfachen bürgerlichen Namen zugelegt, in Wirklichkeit ist aber, was unser Geheimnis bleiben muß, mein Gemahl Graf Martenroth; wir stammen aus dem Oesterreichischen und sind Großgrundbesitzer wie Sie ja auch!" „Mich ehrt Ihr Vertrauen. Aber glauben Sie mir, gnädige Frau, auch hier gilt: Namen sind Schall und Rauch; Gefühl ist alles!" Hatte der kleine Herr vielleicht unbeabsichtigter Weise die letzten drei Worte besonders gefühlvoll betont, oder sah darin Frau Schröder nur das Stichwort für den längst vorbereiteten Einsatz — heute wird das kaum noch zu entscheiden sein. Genug, sie rückte ihren Stuhl noch näher an seinen Sessel heran und sagte flüsternd, damit Philipp nichts verstehen konnte, aber doch voll tiefer Em­ pfindung: „Sie besitzen alles, was den Mann weit über das gemeine Mittelmaß des Alltags heraushebt. Aber Sie bedürfen einer wahren Freundin, die Ihnen die Hand reicht, um Sie auf die höchsten Gipfel der Menschlichkeit hinaufzuführen. Wenn ich Ihnen auch oft böse bin — ich bewundere Sie dennoch, und ich weiß, Sie werden verstehen, was leider Gottes in mir unverstanden schlummert . . ." Er starrte einen Augenblick sprachlos in die Lust, dann rief er seinem Freunde laut zu: „Sehen Sie sich einmal den kleinen Käfer an!" Nun war es an Frau Schröder sprachlos zu werden; ihre Wangen überzogen sich mit einem tiefen Purpurrot. Als der andere überrascht näherkam, sagte Ernst: „Seit einigen Minuten schon beobachte ich diesen Käfer! Sie wollten es mir ja nicht glauben, aber Sie werden sich nun ja wohl selbst überzeugen. Er steht still in der Luft! Schade, daß der Pavian nicht hier ist!" Philipp entdeckte wirklich einen Skarabäus, der mit aus­ gebreiteten Flügeln auf demselben Punkte im Raume schwebte.

„Ich halte das unbedingt für eine elektrische Erscheinung. Durch den Flügelschlag hat er sich mit einer der Erde entgegengesetzten Polarität geladen und überwindet daher die Schwerkraft. Anders ist dies Phänomen nicht zu erklären. Wenn ich ein Elektroskop hier zur Verfügung hätte, würde ich Sie bitten, auf dieses absonder­ liche Vieh sofort Jagd zu machen; mit Gummihandschuhen natürlich." Der Käfer aber, dem das auf ihn gerichtete Interesse nicht zu behagen schien, nahm jetzt wieder seinen Flug auf und zog brum­ mend von der Veranda auf die sonnige Straße hinaus. Ernst wandte sich lächelnd an die Dame zu seiner Seite: „Ent­ schuldigen Sie bitte, gnädige Frau, die Unterbrechung unserer an­ genehmen Unterhaltung: aber die kleinen Käfer sind mir die merk­ würdigsten Tiere der gesamten Schöpfung. Vielleicht interessieren sie mich mehr als die Menschen. Auf jeden Fall sind es die größten Flugkünstler, die die Natur hervorgebracht hat." Da Frau Schröder kein Wort erwiderte, fügte er hinzu, als besänne er sich wieder: „Ach so! Wir sprachen von Liebe und an­ grenzenden Gebieten, bis der verwünschte Käfer dazwischen kam. Ich fürchte aber, ich bin für das wahre Verständnis solcher Dinge bereits zu alt geworden. Ich eigne mich nicht mehr dafür. Ich würde mir vielleicht das eine oder andere von dem, was Sie mir zu sagen die große Liebenswürdigkeit hatten, zu Herzen nehmen, wenn, wie gesagt, es nun einmal nicht zu spät für mich wäre!" Die schöne Frau schwieg noch immer. „Und auch für unfern Besuch bei Herrn Lohgerber dürste es allmählich Zeit werden," fuhr der Unverbesserliche fort, nachdem er nach der Uhr gesehen hatte. „Ich bitte Sie, es nicht als Unhöflich­ keit aufzufaffen; aber Herr Lohhgerber und feine Freunde erwarten mich zu ernsthaften Arbeiten, und man muß das Licht des Tages ausnutzen!" „O bitte, lassen Sie sich nicht im geringsten meinetwegen stören", kam es bitter von beh verächtlich gekräuselten Lippen. „Mein Mann wird ja gleich wieder da fein, und unterdessen unterhalte ich mich ebenso gut mit der Zeitung." Bald darauf wanderten unsere beiden Freunde dem Lohgerber^chen Gartenhause zu.

„Das war das Einzige, was noch gefehlt hat," murmelte Ernst auf dem Wege. Und als fein Gefährte erstaunt fragte, sagte er wie abwesend: „O heiliger Herasem, erbarme dich ihrer. Ich aber muß trotz meines Schmerbauches ein verwünscht hübscher Kerl sein! Ich werde fortan meinem Schneider etwas mehr zu tun geben!" Q/Is sie an dem Tore anklopften, öffnete ein Diener, der sie längst erwartet zu haben schien. Sie durchquerten den sehr weit­ läufigen Garten, der voll von prächtigen Obstbäumen stand, und

gelangten am Ende desselben in eine Art Sommerhaus, wo die künstlerischen Veranstaltungen vor sich gehen sollten. Hier empfing sie Herr Lohgerber selbst und die beiden allitterierenden Herren Grün und Grabow, die sich an dem mächtigen Schallrohre ctnc^ Phonographen zu schaffen machten. In der Nähe standen die aus­ übenden Künstler beieinander. Ernst begrüßte zunächst die schöne

Dschechat, die ihm bereits bei dem Gastmahl des Juden so ange­ nehm aufgefallen war. Dann aber bemerkte er zu seiner größten Ueberraschung den Spaßvogel Iben El Karibi, der offenbar aus Interesse für die Kunst und die klingende Belohnung während dieser Nachmitlagsstunden seinen Pantoffelkram verlassen hatte; kaum er­ blickte er indessen unsere Freunde, als er seine eifrigen Dienste für weitere.Lieferungen von Belras anbot; aber Ernst lehnte vorläufig dankend ab. Ferner waren zwei arabische Musiker mit ihren Gimbris da und seltsamer Weise auch der kunstsinnige Holmscher, der kläglich schwitzend an seiner Violine herumstimmte. „Ah, unser Trubadur", rief Ernst und schüttelte ihm die Hand. „Wo haben Sie denn gesteckt? Wir haben Sie sehr vermißt!" Der gelockte Jüngling schien zu glauben, daß die Anrede etwas spöttisch gemeint sei. Er sagte daher verdrießlich: „Well, ich treibe musikalische Studien mit einer Eingeborenenkapelle, zu der Herr Lohgerber mich geführt hat. — Aber was macht denn die Grün­ dung Ihrer Brauerei?" Diese letzte Frage kam in einem Tone heraus, als wollte er sagen: Kümmern Sie sich doch gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten! „Wir sind fleißig bei der Arbeit", sagte der kleine Herr lachend. „Das will ich meinen. Und arbeiten mit Feuereifer, wenn es auch ein etwas prosaisches Unternehmen ist. Aber es können nicht alle wie Sie sein: Sie streben den Idealen nach; wir Durchschnitts­ menschen aber haften am Irdischen; und Herasemjünger sind wir allzumal!" Herr Lohgerber fügte zur Erklärung hinzu, daß man beabsichtige, auch eine Orchesterausnahme zu machen und dabei die große Kunst Herrn Holmschers nicht gern entbehren wollte. Der Spaßmacher der Kaiseria aber sollte humoristische Erzählungen und gewagte

Schwänke für die Platten zum Besten geben. Man war bereits mitten in der Arbeit drin. Zur Begleitung der beiden Gimbris sang die Dschechat mit ihrer süßen und schmel­ zenden Stimme einige melancholische Lieder, erst zur Probe und dann in das Schallrohr des Apparates hinein. Dasselbe wieder­ holte sich mit einigen Orchesterstücken und einem von den Saiten­ instrumenten und den Schellentrommeln begleiteten Quartette, in dem auch Iben El Karibi mit mächtiger Baßstimme mitwirkte. Brinkmann, Wallfahrt

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Natürlich gingen diese Aufnahmen nicht alle ganz glatt von statten; es mußte oft dieselbe Nummer ein paar Mal wiederholt werden, und es entstanden allerlei störende Zwischenfälle dadurch, daß der komplizierte Apparat, der sich augenscheinlich an das marokka­ nische Klima noch nicht gewöhnt hatte, in Unordnung geriet und wieder in Stand gesetzt werden mußte. Herr Lohgerber hatte in durchaus anzuerkennender Vorsicht reichlich für Getränke gesorgt, denen allseitig, selbst von den anwesenden glaubensstarken Musltmin, eifrig zugesprochen wurde, und so kam es, daß die ganze Gesellschaft bald von einer äußerst heiteren Stimmung erfüllt war, die noch besonders durch die närrischen Einfälle unseres Freundes angeregt wurde. Die häufig die musikalischen Aufführungen unterbrechenden Zwischenfälle benutzte er, um einem Lieblingsstudium nachzu­ hängen, mit dem er sich daheim auf seinen Gütern zu beschäftigen pflegte. Er schnitt sich von einem Strauche einen gegabelten Zweig, eine Wünschelrute, und beobachtete mit großem Ernste den Aus­ schlag, während er die durch den Garten führenden Pfade langsam und gravitätisch entlangschritt. Aber niemand schenkte ihm Glauben, wenn er der ihn lachend begleitenden Gesellschaft nachweisen wollte, wie sich die Gerte hob, sobald er sich einem der Bewässerung dienen­ den Graben oder dem Brunnen näherte.

Da wurde der erhabene Mann ärgerlich und rief: „Dies Ge­ schlecht glaubt nur- was es sieht! Sie denken, das ist Schwindel, und ich lasse die Rute künstlich ausschlagen, wo ich Wasser mit meinen leiblichen Augen sehe. Gehen wir ins Haus hinein."

Man folgte dem Zürnenden, der in der Halle die Gerte beob­ achtend auf und ab schritt. Endlich schlug die Gabel in die Höhe, als er ganz in der Nähe der Wand angelangt war, wo die drei Uraber in friedlichem Geplauder hockten. „Aber hier ist ganz gewiß kein Wasser," sagte Herr Lohgerber, „und wenn Sie noch so tief nachgraben!" „Die Rute lügt nie! Es braucht auch gar kein Wasser zu sein; irgend eine andere Flüssigkeit löst die seltsame Kraft ebenfalls aus." „Hier ist weder Wasser noch irgend eine andere Flüssigkeit zu finden!"

„Halt! Ich hab es! Es ist die Wirkung des Bieres, das unser Freund Karibi in so ungeheuerlichen Mengen in die Höhlung seines Leibes geschüttet. O die Rute ist von gar erstaunlicher Feinheit!" Nach dieser letzten Bezeugung ihrer Wunderkräft schien sie in­ dessen in der fröhlichen Gesellschaft noch weniger Gläubige denn Zuvor zu finden. Im übrigen machte sich der kleine behäbige Herr um das Ge­ lingen der phonographischen Aufnahmen sehr verdient, ja, er erTnöglichte sie geradezu. Denn sachkundig brachte er den kompli­ zierten Apparat immer wieder in Ordnung, wenn sich eine Störung einstellte, was besonders die Bewunderung der Herren Grün und Grabow erregte, und schließlich verblüffte er die Gesellschaft, als er das lästige, schnarrende Geräusch der Platte auf einmal über­ wand, in dem er einen von einer Agave abgeschnitten Dorn als Stift einsetzte. „Ja, meine Herren," sagte er, „solange Sie immer nur mit Blech arbeiten, wird Ihre Musik schnarren; man muß hier wie überall im Leben bestrebt sein, Blech möglichst zu vermeiden. Sie wollten übrigens gern wissen, worin meine Verbesserungen an dem Apparate bestehen. Nun, eine Vorstellung wenigsten werden Sie sich jetzt wohl davon machen können: ich bin bemüht, alle bei der Hervorbringung des Tones verwandten Organe, die bislang aus Metall bestehen, durch andere Materialien zu ersetzen. Herr Grün meinte darauf: „Derartige Bestrebungen sind aber schon alt." „Der gewünschte Erfolg ist indessen ausgeblieben. Außerdem ist das noch nicht alles, was ich glaube, Neues geschaffen zu haben. Meine wertvollste Erfindung ist der phonographische Brief; aber die zu erklären, würde jetzt zu weit führen; es ist wohl auch nicht

die richtige Stunde dazu." Unterdessen war unter den übrigen Anwesenden ein vergnügtes Lachen ausgebrochen. Iben El Karibi hatte eine lustige Erzählung zum Besten gegeben, und aus dem Gelächter der arabisch verstehen­ den Anwesenden war zu schließen, daß er seine Sache gut gemacht hatte. So ordnete denn Herr Lohgerber an, daß er seine Schwänke in das Schallrohr zur Aufnahme hineinspreche. Ernst fragte nach dem Inhalt der spaßhaften Erzählung, und der Hausherr berichtete:

„Es ist eine der vielen humoristischen Lokalgeschichten der Stadt Fes, die übrigens gerade jetzt sehr gut zutrifft, als heute die ToU bas, das heißt die Studenten der Universität Fes, wie alljährlich an diesem Tage durch närrische Umzüge die Wahl und kurze Herr­ schaft des Sultans der Studenten feiern. Sie werden sicher heure und morgen noch genug davon zu sehen bekommen. Den Anlaß zu diesem Fastnachtstreiben bildet eine hübsche Sage: Vor vielen

hundert Jahren hatte sich in Tasa der Jude Ben Meschal zum Sultan aufgeschwungen und verlangte auch von Fes seinen all­ jährlichen Tribut, der unter anderem in dem schönsten Mädchen der Stadt für seinen Harem bestand. Eines Tages traf das Los eine besonders preiswürdige junge Dame aus einer Scherifenfamilie, und als die Unglückliche, in den sinnigsten und anmutigsten Versen — denn in jenem goldenen Zeitalter wurden die tieferen Em­ pfindungen alle in poetischer Form ausgedrückt — ihr hartes Los beklagte, ergrimmte einer der Studenten, der spater der Sultan Muley Raschid wurde, bis an die äußerste Grenze des Grimmes und entschloß sich, diese Schmach von der Stadt abzuwenden. Er

ließ sich als Mädchen verkleiden und gelangte als Tributjungfrau in Begleitung von vierzig Koffern, die angeblich Abgaben und Ge­ schenke der Stadt Fes einschlossen, in Wahrheit aber, ähnlich wie das hölzerne Pferd der Griechen vor Troja, je einen Studenten verbargen, glücklich nach dem Palaste des Sultans Ben Meschal in Tasa. Als dort die feierliche Vermählung stattfinden sollte, öffneten sich die Koffer, die bewaffneten Jünglinge stiegen heraus und er­ schlugen den tyrannischen Wüterich mitsamt seinen Gefolgsleuten. Muley Raschid kehrte darauf im Triumph nach Fes zurück und heiratete selbstverständlich die durch seinen edelmütigen Heroismus gerettete Scherifentochter. Ich kann natürlich", fügte Herr Loh­ gerber hinzu, „jetzt nicht alle Einzelheiten spaßhafter Natur, mit denen Karibi seine Erzählung ausgeschmückt hat, wiederholen. Auf jeden Fall scheint es indessen die Leute immer wieder zu erfreuen, diese alten Geschichten in neuem Aufputz zu hören."

Der kleine Herr wurde plötzlich nachdenklich. „Muley Raschid", sagte er, „ist das nicht der Mann, der sich an der Seite des heiligen Herasem begraben ließ?"

„Freilich! Deshalb ziehen auch heute Nacht die Studenten in feierlichem Umzuge auf jenen Hügel hinauf, um dem Toten die schuldige Ehre zu erweisen!" „Ja, ja! Er muß ein großer Narr gewesen sein! Für ein Weib Kopf und Kragen zu riskieren! Ich möchte nur wissen, wie die Ehe abgelaufen ist. Wahrscheinlich übel genug, da er ja den Narrenheiligen zu seinem Schutzpatron erklärte!"

Die Herren Grün und Grabow schienen nun für heute ge­ nügend Aufnahmen gemacht zu haben und waren dabei, ihren Apparat beiseite zu räumen. Als man sich aber zum Aufbruch an­ schickte, erklärte Herr Lohgerber:

„Wir haben noch eine andere wichtige Aufgabe zu erledigen. Sie wissen, ich habe Herrn Holmscher versprochen, ihn als Mitglied in eine arabische Musikantentruppe aufnehmen zu lassen, mit der er demnächst, ähnlich wie Muley Raschid, zur Lösung seiner höchst edlen und menschenfreundlichen Aufgabe von Hof zu Hof ziehen will. Unser ernsthafter Freund Karibi hat zugesagt, als artistischer Direktor und Kapellmeister die gewissenhafte Führung dieser

Truppe zu übernehmen. Die anderen hier versammelten Künstler sind ebenfalls damit einverstanden, und es fehlt nichts, als daß: nun fleißig Proben gemacht werden, damit nachher die Sache auch klappt. Und da wir gerade beisammen sind, wollen wir gleich damit anfangen." „Ausgezeichnet", rief Ernst, „ich mache mich auf große künstle­ rische Genüsse gefaßt!" Er setzte sich mit einem von neuem ge­ füllten Bierkruge auf eine Kiste und hörte zu. Herr Lohgerber ließ nun die Musikanten eine einfache Melodik spielen und wies Holmscher an, sich dieselbe genau in sein akustisches Gedächtnis einzuprägen, damit er die Künstler richtig begleiten und sogar auch einmal ein Solospiel wagen könne. Aber das musi­ kalische Gehör unseres guten Trubadurs schien nicht besonders aus­ gebildet zu sein. Trotz aller Anstrengungen entquoll dem Reso­ nanzboden seiner Violine nur ein ohrenzerreißendes Gewinsel, das mehr nach Musik aus Timbuktu als nach arabischen Tänzen klang. Vielleicht vollführten auch die einheimischen Künstler das Konzert nicht mit dem nötigen Ernst. Iben El Karibi klopfte verzweifelt den Takt mit einer Bierflasche auf den Steinfliesen des Fußbodens, die Araber zerrten mißtönig an den Saiten ihrer Instrumente, und die kecke Dschechat schien sich vor Lachen nicht halten zu können. Wenn auch der edle Holmscher selbst seine Arbeit mit dem bittern Schweiße und tiefen Ernste betrieb, die seine große Aufgabe im Dienst der Menschlichkeit mit Recht beanspruchte, so schien er schließ­ lich doch etwas davon zu merken, daß sich die Anwesenden über ihn lustig machten. Er wurde aus Verlegenheit oder Unmut immer roter im Gesicht. Endlich aber erbarmte sich seiner Ernsts mitleids­ volles Herz, in dessen Brust sich wie bekannt eine fast übermenschliche Erhabenheit mit sehr menschlichem Gefühle paarten. Er ging auf .den genialen Jüngling zu, drückte ihm innig die Hand und sagte: „Sie sind ein Wunder, Herr Holmscher; nicht nur ein großer Mensch, sondern auch, wenn es möglich ist, ein noch größerer Musiker. Lasserr Sie sich nicht irre machen. Vielleicht liegt Ihnen die arabische Musik nicht. Aber ich bin nach dem, was ich eben zu hören den seltenen Genuß hatte, überzeugt, daß die Negermusik Ihrem künstlerischen Sinne durchaus angemessen ist. Da Sie sich ja nun doch einmal ver­ kleiden müssen, so kommt es ja weiter nicht darauf an, wenn Sie fidy.

auch Gesicht und Hände schwarz färben. Treten Sie ruhig als Sene­ galese auf; als solcher wirken Sie echt-und naturgetreu." „Aber wie erkläre ich dann meine europäische Violine?." fragte Herr Holmscher etwas argwöhnisch. „Das hat nichts auf sich", erwiderte Ernst. „Wer weiß hier etwas von Jnstrumentenkunde? Wenn, Ihre Hand die Violine meistert, wird jeder glauben, es sei eine Kalabasse vom Kongo." „Well, dann werde ich als Neger gehen", sagte augenscheinlich zu­ friedengestellt der Jüngling. „Und nun bitte ich Sie noch um einen großen Gefallen, Herr Holmscher. Ich habe Platten von den größten Künstlern und Künst­ lerinnen Europas zuhause und möchte gerne auch die Ihre haben. Zum Andenken. Nehmen Sie Ihre Geige und spielen Sie etwas in den Schalltrichter hinein. Herr Grün, Sie haben dcch nichts da­ gegen einzuwenden? Selbstverständlich werde ich Ihnen die Platte bezahlen." „Was soll ich denn spielen?" fragte der Lockenkopf. „Was Sie wollen. Was Ihrer künstlerischen Natur am besten entspricht. Mir ist es gleichgültig, ob Bach und Beethoven oder Fall und Lehar. Auf Ihrem göttlichen Instrumente klingt alles schön." Und richtig, eine neue Platte wurde eingesetzt, und der göttliche Maestro spielte und spielte. Die anwesenden Herren verbissen sich mühsam ihr Lachen, und besonders Ernst suchte sein Antlitz, so oft es gehen wollte, in der Oeffnung seines Bierkruges zu verbergen, um nicht aus der Rolle zu fallen. Die Violine schrie und jammerte kläglich, aber Herr Holmscher wiegte sich unerschütterlich mit dem ganzen Körper im Takte und ließ sich durch das flehentlichste Angst­ geheul seines Instrumentes nicht zum Mitleid erweichen. Endlich aber hielt der Apparat still, denn die Platte war abgelaufen. „Wollen Sie nun auch hören, ob die Aufnahme gelungen ist", fragte Herr Grün verbindlich. „O nein," sagte Ernst, „ein zweites Mal hält meine Seele einen so erschütternden Kunstgenuß nicht aus. Wenn ich wieder daheim in Sevilla bin, dann freilich werde ich mich und meine Freunde noch des öfteren daran erfreuen. Heißen Dank, Herr Holmscher! Und nun", fügte er hinzu, „fehlt mir eigentlich zu meinem vollen Glücke nur noch eine einzige Platte; dann ist meine irdische Sehn-

sucht gestillt. Hören Sie, Herr Grün, könnten Sie den Apparat nicht in unser Hotel schaffen?" „Wozu denn? Sie wissen, es ist sehr kompliziert."

„Schade! Ich hätte für mein Leben gern eine Schnarchwalze ausgenommen. Wenn die göttliche Musik Herrn Holmschers der Aus­ druck der zartesten Sentimentalität ist, so bedeutet das Schnarchen meines Freundes Philipp die Musik gewordene Urgewalt des Stur­ mes, der das Chaos noch vor Erschaffung und Gestaltung aller Dinge durchbrauste. Außerdem denke ich mit diesen beiden Glanznummern ein Vermögen zu machen."

'Yj'Von rüstete sich endlich zum Aufbruch. Es war gerade die Abend dabei scheint sich ja leider auch die Violine befunden zu haben." „Gott sei Dank sind die Leute wenigstens wieder in den Besitz ihres Schmuckes gelangt; und da der närrische Kerl ihn ja frei­ willig herausgegeben hat, dürfte er ja wohl bald wieder in Freiheit kommen und der ganze Vorfall auf einen ziemlich nebensächlichen Verdruß hinauslaufen", sagte Herr Lohgerber, dem nun augen­ scheinlich ein Stein von seinem Herzen fiel. „In den Besitz des Schmuckes gelangt?" fragte der Konsul. „I bewahre, den habe i ch in Gewahrsam genommen; denn das sogenannte Ehepaar Schröder ist ja selbstverständlich auch außerordentlich belastet." Ernst stieß seinen Freund vergnügt lächelnd an: „Sagte ich Ihnen nicht", flüsterte er leise, „daß sich die Angelegenheit gar köst­ lich verwickeln und komplizieren wird? So ist es recht; wir werden noch viel Freude daran haben!" „Um Gottes willen," rief Herr Lohgerber, „was soll denn an diesen Leuten verdächtig sein?" Dr. Bischoff erwiderte ernst: „Die Verdachtsgründe sind leider sehr stark. Einmal spricht gegen sie die ungeheuer belastende Aus­ sage des Verhafteten, die, so wenig glaubwürdig derselbe auch sein mag, doch nicht von einem gewissenhaften Untersuchungs­ richter leichthin in den Wind geschlagen werden darf. Dann aber verwickelte sich das Ehepaar selbst, als es heute Vormittag bei mir war, um von dem Diebstahl Anzeige zu machen, in ganz seltsame Widersprüche. Als ich ihm "nämlich die Aussagen Holmschers vor-

hielt, schien die Dame, die augenscheinlich etwa» mehr Geistes­ gegenwart als ihr angeblicher Gatte besitzt, es sehr lächerlich zu finden, daß man ihr einen Diebstahl vorwerfen könnte. Er aber geriet in einen Zornesanfall, der mir erkünstelt zu sein schien: ,Dieses verdammte Diadem,' ries er . scheint geradezu verhext zu sein! Erst wird es uns gestohlen; und dann behauptest du, es sei garnicht gestohlen, sondern du habest es nur in der Eile in dem

Handschuhkasten deines Toilettentisches verlegt und dich nachher nicht mehr daran erinnert, bis du es nach acht Tagen, nachdem wir das ganze Polizeikorps Berlins aufgeboten haben, endlich aus dem sicheren Verstecke wieder herausholtest; und jetzt soll es doch ge­ stohlen sein, und noch dazu von dir selbst! Um all den Aerger endlich los zu werden, Hütte ich die grüßte Lust, es irgendwo ins Meer zu werfen oder auch meinetwegen einem mir besonders ver­ haßten Menschen zu schenken, dem Holmscher selbst oder auch dem von dir so verehrten Don Ernesto, damit der glückliche Besitzer von da an nicht mehr aus dem Aerger herauskommt! Es soll ja an

gewissen Edelsteinen ein Fluch haften, und diese hier gehören sicherlich dazu!' — Sie sehen selbst ein, meine Herren", fügte Dr. Bischoff hinzu, „daß derartige Redensarten doch ziemlich verdächtig sind und man sehr wohl ein böses Gewissen heraushören kann. Aber "noch mehr: als ich ihnen die andere Aussage des Räubers vorhielt, nämlich, daß sie einen falschen Namen angenommen hätten, wurde der angebliche Herr Schröder ziemlich verdutzt und sagte: ,Das ist richtig. Um Unbequemlichkeiten zu vermeiden, die durch unnötiges Aufsehen entstehen könnten, haben wir uns ein kleines Inkognito erlaubt. Da diese harmlose Mystifikation aber ans Tageslicht gekommen ist, gebe ich Ihnen hiermit meinen wahren Namen und die Adresse auf und stelle es Ihnen anheim, sich tele­ graphisch über die Richtigkeit zu erkundigen.' „Das ist alles sehr seltsam", sagte der kleine Herr. „Ich war schon baß erstaunt, daß die Eitelkeit einen Koffer voll Diamanten mit in diese Wildnis brachte. Aber das Wunderbarste ist doch, daß sie sich bei einem Maskenfeste draußen in den Gärten vor Fes mit einem so kostbaren Schmucke behängte. Das heißt doch geradezu das Schicksal und die Diebe herausfordern!" „Die Frage macht Ihrem Scharfsinn alle Ehre", erwiderte der Konsul. „Ich bin nämlich selbst darauf gekommen und erkundigte mich- beim Verhör danach. Und was war die Antwort'? Der Dieb hätte die Dame damals, beim Feste des Judenscheichs, arglistig dazu gereizt, indem er das Vorhandensein so wertvoller Juwelen prinzipiell ableugnete; deshalb hätte sie ihm durch den Augenschein eine Lehre geben wollen!" „Sieht das nicht bald so aus, als steckten die beiden unter einer Decke?" fragte Ernst harmlos. „Gewiß! Und es ist dringend nötig, daß die weitere Unter­ suchung so bald wie möglich Klarheit schafft!" „Der Fall ist prachtvoll verwickelt", rief Ernst jubelnd, „schöner hätte ich es mir gar nicht denken können! Aber warum haben Sie die beiden Schröder nicht ebenfalls verhaftet?" „Ich hatte wohl diesen durchaus naheliegenden Gedanken; aber nach reiflicher Ueberlegung glaubte ich, davon absehen zu müssen. Denn wenn auch in der Art und Weise, wie dieses angebliche Ehe­ paar in den Besitz des Schmuckstückes gelangt ist, sicherlich nicht alles

in Ordnung ist, so liegt offenbar hier kein Vergehen vor, das in meinen Amtsbezirk fällt; außerdem ist ja ein bemerktes Ent­ weichen aus Fes nicht so ganz leicht. Schließlich flößte mir der angegebene Name einigen Respekt ein; durch einen dienstlichen Mißgriff an so hochgestellten Persönlichkeiten könnte ich mir, wenn die Leute tatsächlich die Wahrheit sagten, arge Unannehmlichkeiten zuziehen. Ich habe also mich darauf beschränkt, ein langes Tele­ gramm nach Berlin zu richten, und sehe zunächst der Antwort ent­ gegen." Die anwesenden Herren horchten gespannt zu und fühlten tief­ empfundenes Mitleid mit dem Konsul, der von so schweren Amts­ sorgen bedrückt und einem so unlösbaren Rätsel gepeinigt war. Da schlug wie eine Bombe in die allgemeine Aufregung die Frage des kleinen Herrn ein, dem plötzlich eine Erleuchtung gekommen war: „Hat das Ehepaar Schröder" vielleicht den Namen Graf Martenroth genannt?" Dr. Bischoff blickte überrascht auf: „Mein Herr, Sie scheinen ja mehr von dieser dunklen Angelegenheit zu wissen, als Sie bis jetzt zu erkennen gegeben haben. Nun, Sie werden dieser Tage bei Ihrer Vernehmung Gelegenheit finden, alles das zu Protokoll zu geben, was Ihnen bekannt ist. Ich sagte Ihnen schon vorhin nicht ohne Absicht, daß eine Reihe von anderen Herren in diese mysteri­ öse Angelegenheit verwickelt ist. Jawohl, es gibt noch manche Einzelheiten bei dem tollen Feste von gestern Abend, die dringend der Aufklärung bedürfen. Im übrigen war es nicht recht von Ihnen, diesen Namen, der einen wertvollen Schlüssel zu dem Rätsel liefert, hier anzugeben. In wichtigen Staatsangelegenheiten ist Diskretion

die Hauptsache." „Ich verspreche Ihnen, Herr Konsul", erwiderte Ernst reumütig-, „ich werde von morgen früh an ganz außerordentlich diskret sein. Außerdem möchte ich Ihnen meinen und vermutlich auch der anderen Herren Dank ausdrücken, daß Sie in Milde davon abge­ sehen haben, sämtliche Teilnehmer am gestrigen Tolbafeste trotz so zahlreicher Verdachtsgründe zu verhaften und hinter Schloß und Riegel zu setzen. Da wir hier aber in Freiheit fröhlich und fried­ lich beim Glase sitzen und nur das harmlose Lamm Hotmscher unser aller Schuld trägt, möchte ich mir den Vorschlag erlauben, ihm

wenigstens eine Flasche Whisky und die nötige Quantität Soda­ wasser in seine Zelle zu schicken. Das geschähe nicht nur i n Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit, sondern hätte auch noch den Vorzyg für uns, daß dann der arme Mann infolge der ihm gewiß ange­ nehmeren Beschäftigung mit den Flüssigkeiten davon absähe, sich für all sein Unglück durch seine gottverfluchte Katzenmusik zu rächen." Dr. Bischoff schien die Billigkeit diess Vorschlages einzusehen, und ein Diener brachte die Getränke auf die Zelle des Unter­ suchungsgefangenen. *11 nter diesen Unterhaltungen und noch weiteren Betrachtungen, H die man über den aufregenden Fall anstellte, war die Abend­

stunde herangekommen. Der Himmel färbte sich rosa und dann tief dunkelgrün; und von dem Minaret, das unmittelbar hinter dem Garten des Konsulats aufragte, ertönte der gewohnte Ruf des Mueddins. Als man zu dem Manne hinaufschaute, wies Dr. Bischoff auf das unmittelbar an die hohe Mauer des Gartens anstoßende Dach. „Es sind noch keine drei Jahre her, da ging es dort oben leb­ haft zu! Da faßen Haufen von aufrührerischen Askern, die auf alles Lebendige, Europäer, Araber oder Neger, das war ganz gleich, unentwegt herabschossen. Als mir die Sache schließlich zu bunt wurde, schickte ich meinen alten Diener hinauf und ließ den Kerlen sagen, wenn sie nicht sofort von dem Dache herunterkämen, würde ich auf sie Feuer geben. Daraufhin zogen die Burschen kleinlaut ab, und ich bekam nichts weiter von dem ganzen berüchtigten Auf­ stand zu sehen." „Also im Grunde genommen ein ganz harmloses Scharmützel," bemerkte einer der Herren. „So ganz harmlos war es freilich nicht", erwiderte der Konsul, „indessen hätte es verhältnismäßig harmlos bleiben tonnen, wenn man nicht im Gegenteil ein Interesse gehabt hätte, es zur großen Staatsaffäre zu machen. Der kleine Vorfall, von dem ich Ihnen eben erzählte, beweist zur Genüge, daß, so. mordlustig auch die Ge­ sellen schienen, sie doch im letzten Grunde wie die kleinen Kinder waren, die nicht genau wissen, was sie wollen. Allerdings mochte

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mir. der friedliche Ausgleich dadurch erleichtert werden, daß wir als Deutsche auf einem gewissen vertraulichen Fuße mit allen Arabern stehen und uns nicht eines so ausgesprochenen Hasses wie namentlich die Franzosen erfreuen. Aber mit ein wenig Geschick hätten auch diese leicht fertig werden können. Um was handelte es sich eigentlich? Doch um nichts weiter, als daß die Aster plötzlich auf Betreiben der Franzosen, die dem Sul­ tan die einheimischen Truppen abspenstig machen wollten, mit einem neuen Sold- und Verpflegungssystem beglückt wurden, bei dem sie sich ganz erheblich schlechter standen. Und als ihre Beschwerden nichts nützten, griffen sie schließlich zur Selbsthilfe, indem sie nach großem und bewährten Muster zunächst ihre französischen Offiziere erschlugen und dann raubend und plündernd ins Mellah einbrachen, um sich an den Juden schadlos zu halten. Das hatten sie ja nicht anders von ihren obersten Kriegsherren, den Sultanen, gelernt. Aber für die Franzosen war der große Augenblick gekommen. Sie er­ hoben ein Zetergeschrei, die glorreiche Trikolore sei von den Aster besudelt worden, welche Schmach nur mit Blut abgewaschen werden könnte. Die von französischen Offizieren und Unteroffizieren ge­ führten, zum höchsten Verdruß Muley Hafids treu gebliebenen Truppen mußten auf die Aster einhauen; in ihrer Erbitterung richteten dann die Meuterer ein Gemetzel unter der französischen Kolonie selbst an, und Frankreich fühlte die Notwendigkeit, eine Division nach Fes zu senden und die Stadt unter seinen Schutz zu nehmen, was ja der einzige Zweck des mit der Soldverschlechterung sehr fein eingefädelten und dann noch seiner durchgeführten Manövers war. Hätten die Asker nicht gemeutert, so wären die Franzosen eben aus irgend einem anderen Grunde nach Fes mar­ schiert, und das Deutsche Reich hätte Gelegenheit gehabt, zu irgend einer andern französischen Windbeutelei das Auge zuzudrücken. Auf jeden Fall sind wir hier, wie Sie ja alle selbst erfahren haben, die Leidtragenden bei dem schönen Handel!" „Vor diesem Schicksal hätte uns also auf jeden Fall nur ein Krieg bewahren können", sagte einer der Herren, worauf Herr Lohgerber erwiderte: „Wenn der Krieg sowieso kommen muß, wäre es freilich besser gewesen, er wäre damals ausgebrochen, ehe ganz Marokko ausgeliefert wurdet

„Aber glauben Sie wirklich, Marokko ist für uns die Opfer eines einzigen Schlachttages wert, selbst wenn derselbe siegreich für uns verläuft?" fragte Dr. Bischoff. „Ich weiß schon", sagte Herr Lohgerber, „das ist die amtliche Weisheit. Ich bin selbst der Ansicht, daß die möglichen Resultate eines Krieges niemals die Opfer desselben aufwiegen können. Ich möchte nur meine Meinung feststellen: Wenn es doch und unter allen Umständen zum Kriege kommt, hätten wir freilich die Pflicht gehabt, den Krieg dann zu beginnen, wenn noch möglichst viel dabei für uns herausspringen konnte." „Aber die Vorsicht, Weisheit und Uneigennützigkeit unserer Po­ litik wird den Krieg noch auf unabsehbare Zeit hinaus zu ver­ hindern wissen," erklärte der Konsul feierlich. In diesem Augenblick brachte ein Soldat dem Konsul die neuesten marokkanischen Zeitungen, die gerade aus Rabat gekommen waren. Er schlug sie auseinander und las eine Ueberschrift, die in fetten Lettern gedruckt war: Oesterreichs Ultimatum von Serbien abgelehnt! „Was glauben Sie, was das für Folgen haben wird?", fragte

Ernst. „Was weiß ich?" erwiderte Dr. Bischoff, „um die Balkansachen habe ich mich nie gekümmert. Das liegt uns zu fern. Man wird sich schon auf irgend eine Weise arrangieren." „Sie haben hoffentlich recht", sagte der kleine feiste Herr nach­ denklich. „Man kann aber auch auf andere Weise argumentieren, zum Beispiel: Die Serben haben abgelehnt, weil sie an einer Großmacht, also Rußland, Rückhalt finden. Es kommt also zum Krieg zwischen Oesterreich und Rußland, und durch Bündnisver­ träge werden einerseits Deutschland, andererseits Frankreich mit hineingezogen." Dr. Bischoff lachte ungläubig. „Das glauben Sie ja selbst nicht! Welche Großmacht hat ein Interesse daran, sich wegen Serbien in unvorausberechenbare Gefahren zu stürzen?" „Die Großmacht, die an diesem Weltbrande ein ausreichendes Interesse hätte, wäre England. Welch ein schönes Geschäft für di: edlen Briten, wenn sich die Nationen auf dem Kontinente gegen­ seitig die Hälse abschneiden und sie selbst noch dazu die einträg-

lichen -Kriegslieferungen machen! Das verlohnt wahrlich der Mühe, das Feuer nach Kräften zu schüren!" „Ach, meine Herren, verderben wir uns nicht den schönen Abend mit solch unerfreulichen Gedanken!" sagte Dr. Bischoff. „Was ist uns Serbien?" Er füllte wieder die Gläser; aber es' wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Als nun auch oben aus dem Hause wieder das furchtbare Saitenspiel erklang, das bislang geschwiegen hatte, drängte Ernst zum Aufbruch. Dr. Bischoff ließ beim Ab­ schied nicht unerwähnt, daß er die beiden Freunde in den nächsten Tagen bei der zeugeneidlichen Vernehmung wiederzusehen hoffe. Die plötzliche Mißstimmung hatten unsere Reisegefährten auch mit zum Abendessen ins Eaf