Die Vergnügungskultur der Großstadt: Orte - Inszenierungen - Netzwerke (1880-1930) 9783412223830, 3412223832

Die Wahrnehmung der Großstädte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist lange Zeit geprägt gewesen durch Industria

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Die Vergnügungskultur der Großstadt: Orte - Inszenierungen - Netzwerke (1880-1930)
 9783412223830, 3412223832

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¨ DTEFORSCHUNG STA Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster begru¨ndet von Heinz Stoob in Verbindung mit

U. Braasch-Schwersmann, M. Kintzinger, B. Krug-Richter, A. Lampen, E. Mu¨hle, J. Oberste, M. Scheutz, G. Schwerhoff und C. Zimmermann herausgegeben von

We r n e r F r e i t a g Reihe A: Darstellungen Band 93

¨ GUNGSKULTUR DIE VERGNU DER GROSSSTADT ORTE – INSZENIERUNGEN – NETZWERKE (1880–1930)

herausgegeben von Paul Nolte

2016 ¨ HLAU VERLAG KO ¨ LN WEIMAR WIEN BO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Berlin – Friedrichstraße mit Blick auf das Panoptikum in der Kaisergalerie, Ullstein Bild (Bildnr. 00801336)

c 2016 by Bo¨hlau Verlag GmbH & Cie, Ko¨ln Weimar Wien  Ursulaplatz 1, D-50668 Ko¨ln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzula¨ssig. Redaktion: Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte, Mu¨nster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Layout und Satz: Peter Kramer Buch & Satz, Mu¨nster Druck und Bindung: Strauss, Mo¨rlenbach Gesetzt aus der Linotype Stempel Garamond 10pt. Gedruckt auf chlor- und sa¨urefreiem Papier. Printed in the EU ISBN 978-3-412-22383-0

INHALT

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Verzeichnis der Abku¨rzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VIII

Paul Nolte Verdoppelte Modernita¨t – Metropolen und Netzwerke der Vergnu¨gungskultur um 1900. Eine Einfu¨hrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Tobias Becker Theater auf Reisen. Metropolen als Zentren kultureller Globalisierung um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Henning Holsten Neues Bauen – Neues Wohnen – Neue Feste. Vision und Wirklichkeit urbaner Gemeinschaftsrituale am Beispiel der Hufeisensiedlung in Berlin-Britz . . .

29

Sylke Kirschnick Vom Rand ins Zentrum und zuru¨ck. Moderner Zirkus und moderne Metropole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Kerstin Lange „Les danses nouvelles“ in der alten Welt. Transatlantische Ta¨nze in Paris und Berlin um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Kaspar Maase „Quellen o¨ffentlicher Sinnenerregung und Geistesverwirrung“. Metropolenkultur und Sichtbarkeit des Wissens vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . .

81

Peter W. Marx Großkapitalistin im Bu¨hnenreich: Jenny Groß . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Sven Oliver Mu¨ller Das Publikum als Metropole. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

VI

Inhalt

Johanna Niedbalski und Hanno Hochmuth Kiez und Kneipe. Gastgewerbe und Vergnu¨gungskultur im Berliner Osten um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Matthias Warstat Milieu und Metropole. Theatrale Passagen der deutschen Arbeiterbewegung nach 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

Dr. Tobias Becker, German Historical Institute London E-Mail: [email protected] Hanno Hochmuth, Zentrum fu¨r Zeithistorische Forschung Potsdam E-Mail: [email protected] Henning Holsten, Freie Universita¨t Berlin E-Mail: [email protected] Dr. Sylke Kirschnick, Gießen/Berlin E-Mail: [email protected] Kerstin Lange, Freie Universita¨t Berlin E-Mail: [email protected] Prof. i. R. Dr. Kaspar Maase, Eberhard Karls Universita¨t Tu¨bingen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Peter Marx, Universita¨t zu Ko¨ln E-Mail: [email protected] PD Dr. Sven Oliver Mu¨ller, Max-Planck-Institut fu¨r Bildungsforschung Berlin E-Mail: [email protected] Johanna Niedbalski, Freie Universita¨t Berlin E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universita¨t Berlin E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Matthias Warstat, Freie Universita¨t Berlin E-Mail: [email protected]

¨ RZUNGEN UND SIGLEN VERZEICHNIS DER ABKU

ADTZ AHRC ArchSozG DFG EZA GuG HStA LAB LHA SAG StaatsA StadtA

Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Zeitung Arts & Humanities Research Council Archiv fu¨r Sozialgeschichte Deutsche Forschungsgemeinschaft Evangelisches Zentralarchiv in Berlin Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift fu¨r historische Sozialwissenschaft Hauptstaatsarchiv Landesarchiv Berlin Landeshauptarchiv Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost Staatsarchiv Stadtarchiv

VERDOPPELTE MODERNITA¨T – METROPOLEN UND ¨ GUNGSKULTUR UM 1900 NETZWERKE DER VERGNU Eine Einfu¨hrung von Paul Nolte

Vergnu¨gungskultur der Großstadt? Dabei mo¨gen sich allerlei Assoziationen gegenwa¨rtiger und allta¨glicher Erfahrung einstellen, aber der historische Blick auf Großsta¨dte und Metropolen der Moderne war bisher eher dunkel als hell und freudig geto¨nt. Forschungen zur klassischen Urbanisierungsphase des mittleren 19. bis fru¨hen 20. Jahrhunderts konzentrierten sich seit den 1960er Jahren auf den Zusammenhang von Industrialisierung und Sta¨dtewachstum: auf die Großstadt als den Standort von Fabriken und kapitalistischer Produktion, damit auch auf die großsta¨dtische Klassengesellschaft und nicht zuletzt auf deren proletarische Seite. Preka¨re Wohnverha¨ltnisse und Infrastrukturen, gefahrvolle und riskante Arbeitsplatzsituationen, instabile soziale Konfigurationen standen gerade in der deutschen Stadtgeschichte lange Zeit – und mit guten Gru¨nden – im Zentrum der Aufmerksamkeit, einschließlich der Reaktionen in Reformbemu¨hungen: sei es der Selbsthilfe der Arbeiterschaft, eines reformerischen Bu¨rgertums oder kommunaler und staatlicher Instanzen. In dem du¨steren, von materieller Not, harter Arbeit und moralischer Gefa¨hrdung gepra¨gten Bild des Lebens in der europa¨ischen und nordamerikanischen Großstadt wa¨hrend der Industrialisierung und Hochurbanisierung bis zum Ersten Weltkrieg wirkten auch zeitgeno¨ssische, kultur- und großstadtkritische, agrarromantische und konservative Wahrnehmungsmuster fort,1 einschließlich der großen kulturellen Verunsicherung im Zeitalter der hochkapitalistischen Beschleunigung um die vorletzte Jahrhundertwende, des „Zeitalters der Nervosita¨t“ (Joachim Radkau) und der von Georg Simmel schon 1903 eindrucksvoll beschriebenen „Reizu¨berflutung“ ¨ ngsten, der modernen Großstadt.2 Die Großstadt wurde zur Projektionsfla¨che von A

1 Vgl. klassisch z. B. Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970;

Andrew Lees, Cities Perceived: Urban Society in European and American Thought, 1820–1940, Manchester 1985; ders., Cities, Sin, and Social Reform in Imperial Germany, Ann Arbor 2002. 2 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosita¨t. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Mu¨nchen 1998; Georg Simmel, Die Großsta¨dte und das Geistesleben (1903), wieder z. B. in: ders., Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt a. M. 1993, S. 192–204; u. in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, S. 116–131. – Vgl., auch zum Folgenden, Paul Nolte, Georg Simmels Histori-

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aber auch zur Avantgarde und zum Katalysator eines fundamentalen Erfahrungswandels, der bis in unsere Tage andauert. Die englische und amerikanische Forschung hat sich seit den 1980er Jahren der Kulturgeschichte der modernen Großstadt fru¨her zugewandt, als das in Deutschland der Fall war, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens mit einem methodischen Schwenk von der sozialo¨konomisch gepra¨gten Strukturgeschichte der Urbanisierung3 zu einer Erfahrungsgeschichte urbaner großsta¨dtischer Lebensformen, und zweitens sachlich und thematisch, mit dem Blick u¨ber Industrie, Arbeit und Klassengesellschaft hinaus auf Konsum und Freizeit, Massenkultur und Unterhaltung. Die Großstadt war damit nicht nur Sta¨tte der Produktion, sondern auch der Reproduktion; sie war Konsumentenstadt ebenso wie Produzentenstadt, und in sozialgeschichtlicher Hinsicht ru¨ckten, neben der industriellen Arbeiterschaft (und teilweise der bu¨rgerlichen Oberschicht), die um 1900 stark expandierenden neuen Mittelschichten in Handel, Verwaltung und Dienstleistung in den Mittelpunkt. Als Konsumentinnen oder Verka¨uferinnen im Warenhaus, aber auch als Prostituierte, als Ta¨nzerinnen oder Schauspielerinnen gewannen weibliche Akteure damit eine neue Sichtbarkeit auf der großsta¨dtischen „Bu¨hne“. Gleichwohl warf die „dunkle Stadt“ ihre Schatten auch auf die neu entdeckten Handlungsra¨ume der kommerzialisierten Unterhaltung und des Freizeitvergnu¨gens, wie es schon im Titel von Judith Walkowitz’ klassisch gewordener Studie u¨ber die „City of Dreadful Delight“ zum Ausdruck kommt.4 Obwohl deren Erscheinen mehr als zwei Jahrzehnte zuru¨ckliegt, sind viele Felder der großsta¨dtischen Massen-, Vergnu¨gungs- und Freizeitkultur in der klassischen Periode der langen Jahrhundertwende immer noch nur bruchstu¨ckhaft erschlossen. Wenn in diesem Band die „Vergnu¨gungskultur der Großstadt“ in verschiedenen Facetten beleuchtet wird, dann geschieht das gewiss nicht, um der dunklen Seite der Urbanisierung eine hell strahlende gegenu¨berzustellen. Der Begriff der „Vergnu¨gungskultur“, der auch einem Forschungsprojekt an der Freien Universita¨t Berlin zugrunde lag,5 zielt vielmehr zuerst auf bestimmte Handlungsfelder und Institutio-

sche Anthropologie der Moderne. Rekonstruktion eines Forschungsprogramms, in: GuG 24 (1998), S. 225–247. 3 Vgl. z. B. Horst Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1815–1914, Stuttgart 1985; Heinz Reif, Die verspa¨tete Stadt. Industrialisierung, sta¨dtischer Raum und Politik in Oberhausen 1846–1929, Bonn 1993. 4 Judith R. Walkowitz, City of Dreadful Delight: Narratives of Sexual Danger in late-Victorian London, Chicago 1992; sowie dies., Nights Out: Life in Cosmopolitan London, New Haven 2012. – In der deutschen Rezeption weniger beachtet: Lewis A. Erenberg, Steppin’ Out: New York Nightlife and the Transformation of American Culture, 1890–1930, Chicago 1981. 5 DFG-Projekt „Metropole und Vergnu¨gungskultur. Berlin im transnationalen Vergleich 1880–1930“ (Leitung: Daniel Morat und Paul Nolte); sowie DFG/AHRC-Projekt „West End und Friedrichstraße. Eine vergleichende Studie des popula¨ren Theaters in London und Berlin 1880–1930“. – Vgl. in diesem Kontext u. a.: Die tausend Freuden der Metropole. Vergnu¨gungskultur um 1900, hg. v. Tobias Becker u. a., Berlin 2011; Popular Musical Theatre in London and Berlin 1890–1939, hg. v. dems. u. a., Cambridge 2014. – Kaspar Maase hat bereits gezeigt, dass der zuna¨chst sehr alltagssprachlich wirkende Begriff des „Vergnu¨gens“ auch analytisch-historisch eingesetzt werden kann; siehe v. a.: Ders., Grenzenloses Vergnu¨gen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M. 1997.

Verdoppelte Modernita¨t – Metropolen und Netzwerke der Vergnu¨gungskultur um 1900

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nen, die sich in der modernen Großstadt am Ende des 19. Jahrhunderts herausbildeten und verdichteten mit dem prima¨ren Zweck der Unterhaltung, der Belustigung, des Vergnu¨gens ihrer Kunden bzw. ihres Publikums; ha¨ufig oder sogar typischerweise in kommerzialisierten Formen. Der Begriff der „Massenkultur“ ist dafu¨r zu weit und zu unspezifisch, denn er schließt Pha¨nomene wie die Massenpresse oder neue Formen des Einzelhandels wie das Warenhaus ein, bei denen Unterhaltung und Vergnu¨gen zwar ebenfalls eine Rolle spielten, aber meist nicht geradezu als der Zweck des Unternehmens gelten ko¨nnen. Zudem geho¨ren die Massenpresse und das Warenhaus zu den seit la¨ngerem besser erforschten Gegensta¨nden in der Stadtgeschichte wie der allgemeinen Kulturgeschichte. Umgekehrt musste die metropolitane Vergnu¨gungskultur nicht „Massen“Kultur im sozialen Sinne sein, also als „popular culture“ im Gegensatz zu einer Kultur der Eliten. Obwohl die großsta¨dtische Vergnu¨gungskultur um 1900, wie die Beitra¨ge dieses Bandes zeigen, nicht selten auf ein Massenpublikum zielte, das zugleich nicht mehr nur ein „Klassenpublikum“ (etwa im Sinne der industriellen Arbeiterschaft, des proletarischen Milieus) war, geho¨rten zu ihr auch traditionelle und avantgardistische Kulturpraktiken, die – wie die Oper – eine Doma¨ne der Oberschichten und gehobenen Mittelschichten blieben, oder sogar versta¨rkt so konnotiert wurden.6 Außerdem liegt der Akzent der hier fokussierten „Vergnu¨gungskultur“, einem allgemeinen Interesse der neueren Kulturgeschichte folgend, auf Performanz und Theatralita¨t:7 auf dem praktischen und ha¨ufig o¨ffentlich sichtbaren Handlungsvollzug, auf dem „acting out“ des Vergnu¨gens, das sich zugleich als eine kulturelle Spiegelung großsta¨dtischer Lebenserfahrungen, als ein „acting out“ der modernen Großstadt selber, interpretieren la¨sst. Damit ist eine zentrale These der Mu¨nsteraner Tagung von 2010 und dieses Bandes angesprochen. In allgemeinster Form lautet sie: Die Vergnu¨gungskultur der Großstadt ist nicht ihr Sahneha¨ubchen, nicht die Zugabe auf die von anderen Faktoren und sozialen Kra¨ften bestimmte Substanz der großsta¨dtischen Lebensform, sondern ein wichtiges, ja ein konstitutives Element von ihr. Entsprechend ist ihre Erforschung nicht eine Spielwiese fu¨r den Feierabend von Historikern und Historikerinnen, sondern eine zentrale Aufgabe der modernen Stadtgeschichte und der Frage nach einer spezifischen Kultur der Moderne bzw. der Modernita¨t u¨berhaupt. Nicht zufa¨llig ist, nach einer gewissen Flaute der Forschung in den 1990er Jahren, das Interesse an Stadtgeschichte, Stadtkultur und interdisziplina¨rer Metropolenforschung in den letzten Jahren wieder stark gewachsen. Die Gru¨nde dafu¨r liegen in Gegenwartserfahrungen des fru¨hen 21. Jahrhunderts, im globalen Boom der Metropolen, in der Wachs-

6 Vgl. zu dieser Problematik, grundlegend und exemplarisch, Lawrence W. Levine, Highbrow/Low-

brow: The Emergence of Cultural Hierarchy in America, Cambridge, Mass. 1988.

7 Vgl. z. B. Erika Fischer-Lichte, A ¨ sthetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; Diskurse des

Theatralen, hg. v. Ders. u. a., Tu¨bingen 2005. Die interdisziplina¨re Kooperation mit Theaterwissenschaftlern spielte auch in unseren Berliner Projekten zur Großstadtkultur und fu¨r die Mu¨nsteraner Tagung eine wichtige Rolle; vgl. in diesem Band die Beitra¨ge von Matthias Warstat und Peter Marx. – Vgl. Peter Marx, Ein theatralisches Zeitalter. Bu¨rgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tu¨bingen 2008.

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tumsdynamik von Sta¨dten außerhalb Europas, und in der Anziehungskraft der „Global Cities“ ebenso wie in neuen Fragen der Kultur- und Sozialgeschichte, die sich auf Orte und ra¨umliche Prozesse in der Konstitution sozialer Wirklichkeit richten.8 Es geht also um transnationale Verflechtungen jenseits einer nationalgeschichtlichen, aber auch einer bloß sta¨dtevergleichenden Perspektive, sowie um die Verdoppelung sozialer Wirklichkeit in erfahrener Kultur und inszenierter sozialer Praxis. Eben das bringen die drei Begriffe im Untertitel des Bandes zum Ausdruck: Orte – Inszenierungen – Netzwerke. Solche sozialen und kulturellen Prozesse entfalten sich auch heute nicht in jeder „Großstadt“, egal ob man diesem Begriff die statistische Definition einer Stadt von mindestens 100 000 Einwohnern, 1881 festgesetzt und immer noch vielfach benutzt, zugrunde legt oder einen etwas weiteren und qualitativen Begriff der Großstadt bevorzugt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete sich, mit London und Paris als globalen Pionieren, ein neuer Typus der „sehr großen Stadt“ heraus, der neuerdings in der historischen Forschung meist als „Metropole“ bezeichnet wird und sich mit dem soziologischen Begriff der „Global City“ u¨berschneidet.9 Nach den vergnu¨gungskulturellen Formen und Verflechtungen solcher Metropolen, mit der deutschen Reichshauptstadt Berlin im Zentrum vieler Studien, in den Jahrzehnten um 1900 wird in diesem Band vor allem gefragt. Ein statistischer Schwellenwert fu¨r den Status der Metropole la¨sst sich kaum festlegen, aber die landla¨ufige deutsche Bezeichnung „Millionenstadt“ traf den Sachverhalt schon damals, und trifft ihn teilweise bis heute, ganz gut. ¨ ber die Einwohnerzahl hinaus konstituierten weitere demographische Faktoren U die Realita¨t und Erfahrung der Metropole. Dazu geho¨ren die Dynamik und Beschleunigung des Wachstums und die extreme Verdichtung der Bevo¨lkerung in der Kernstadt, wobei dieser Begriff einen viel weiteren ra¨umlichen Bereich bezeichnet als die „City“ (die sich ja von Wohnbevo¨lkerung eher entleerte) – man kann an die administrativen Grenzen der Stadt Paris denken oder an den sogenannten „Wilhelminischen Ring“ Berlins vor dem Ersten Weltkrieg. Zahl und Dichte der Bevo¨lkerung produzierten nicht nur soziale Probleme, etwa in den u¨berfu¨llten Wohnquartieren der Unterschichten, sondern bildeten auch, was man fru¨her weniger gesehen hat, eine Voraussetzung fu¨r Heterogenita¨t und kulturelle Kreativita¨t.10 Diese wiederum speisten sich zusa¨tzlich aus Migration, und zwar nicht nur aus nationaler Land-StadtBinnenwanderung, sondern aus Migration u¨ber nationale, sprachliche und ethnische Grenzen hinweg, mindestens zum Teil auch in imperialen und kolonialen Kontexten. Die postkoloniale (Ru¨ck-)Wanderung in die europa¨ischen Metropolen setzt diesen

8 Vgl. Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001. 9 Vgl. z. B. Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwick-

lung, Frankfurt a. M. 1996; und jetzt v. a. Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europa¨ische Stadtgeschichte seit 1850, Mu¨nchen 2013. – Saskia Sassen, The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton 1991; Dies., Metropolen des Marktes. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt a. M. 1996. 10 Vgl. dazu: Creative Urban Milieus: Historical Perspectives on Culture, Economy, and the City, hg. v. Martina Hessler/Clemens Zimmermann, Frankfurt a. M. 2008.

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Prozess in der ju¨ngsten Geschichte fort und besta¨tigt den kosmopolitischen Nexus von Migration und metropolitaner Kultur, der von vielfa¨ltigen Ungleichheitsdynamiken gepra¨gt war und bleibt. Etwas anderes trat in der ra¨umlichen Ausdifferenzierung der Metropolen hinzu: Die „sehr großen Sta¨dte“ entfalteten eine komplexe und weitra¨umige Stadt-Landschaft, welche den verdichteten menschlichen Siedlungsraum der „natu¨rlichen“ Landschaft der Umgebung entriss und entfremdete.11 Die Metropole der vorletzten Jahrhundertwende u¨bersteigerte den historischen Stadt-Land-Gegensatz und erfand ihn sozial und kulturell neu – zu einer Zeit, als die scharfe rechtliche Unterscheidung von Land und Stadt im deutschen Sprachraum gerade gefallen war, die Stadtmauern vielerorts endgu¨ltig geschleift worden waren. Im 18. Jahrhundert vom Land in die Stadt, vom Dorf in die Bezirks- oder gar nationale Hauptstadt zu reisen, bedeutete einen erheblichen Kontrast der Erfahrungswelt. Um 1900 hatte sich dieser Kontrast, da sich die la¨ndliche Lebenswelt noch wenig gea¨ndert hatte, verscha¨rft, wozu technologische Innovationen wie elektrische Straßen- und Untergrundbahnen nicht wenig beitrugen. Zugleich wurde die Stadtlandschaft ihren Bewohnern zur „zweiten Natur“, was auch in charakteristischen Metaphern wie der vom „Ha¨usermeer“ oder den „Straßenschluchten“ zum Ausdruck kam. Angesichts der erheblich gewachsenen ra¨umlichen Ausdehnung konnte man nicht nur zu Fuß, sondern sogar mit elektrischen Bahnen eine halbe Stunde, gar eine ganze Stunde durch die Stadt reisen, ohne sie u¨berhaupt zu verlassen. Umgekehrt erfolgte nun eine ku¨nstliche Re-Naturierung der Großstadt, etwa mit der Anlage von sta¨dtischen Parks (aus monarchischer oder aus bu¨rgerlicher Wurzel), von Botanischen und Zoologischen Ga¨rten, die ganz bewusst der Erholung und dem Freizeitvergnu¨gen dienen sollten. So ist ein Ursprung der großsta¨dtischen Vergnu¨gungskultur in der Kompensation la¨ndlicher bzw. nicht-urbaner „Natur“-Ra¨ume zu sehen. In den um 1900 prosperierenden Vergnu¨gungsparks und den Weltausstellungen kam der Import fremder, auch „exotischer“ – kolonialer, orientalischer – Landschaften hinzu, die eine dezidierte Gegenwelt zur metropolitanen und westlichen Erfahrung inszenierten und zugleich einen konstitutiven Teil dieser ausdifferenzierten und verdichteten, auf Kontrast und Heterogenita¨t beruhenden Stadtlandschaft bildeten. Eine der wichtigsten qualitativen Voraussetzungen der großsta¨dtischen Vergnu¨gungskultur fu¨hrt geradezu auf eine klassische Definition der Stadt selbst zuru¨ck: als einer Zone der Herrschaft des Geldes, modern gesprochen: des Kapitalismus. Die Stadt sei zuerst und vor allem Ort des Marktes, hat Max Weber festgestellt.12 Auch das unterstreicht, dass die Kulturen und sozialen Institutionen des Vergnu¨gens den elementaren sta¨dtischen Funktionsprinzipien nicht fremd, sondern in sie verflochten waren. Kultur, Freizeit und Vergnu¨gen wurden in den Metropolen am Ende des 11 Die folgenden U ¨ berlegungen verdanken viel den Anregungen von William Cronon, Nature’s Metro-

polis: Chicago and the Great West, New York 1991, die in der europa¨ischen Stadtgeschichte immer noch kaum aufgegriffen worden sind. 12 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tu¨bingen 1972, S. 728: „Aber die Stadt (im hier gebrauchten Sinne des Wortes) ist Marktansiedlung“.

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19. Jahrhunderts zur Ware. Neben den Industrieunternehmern traten Kulturunternehmer auf, die Unterhaltung fu¨r breite Massen der Bevo¨lkerung oder auch fu¨r eine sehr spezielle Klientel als Gescha¨ft betrieben; manchmal lokal sehr begrenzt, aber nicht selten auch im großen Maßstab, ja in internationaler Verflechtung. In der angelsa¨chsischen Forschung ist diese Blickrichtung seit langem viel selbstversta¨ndlicher als in Deutschland: einerseits, weil der idealistische deutsche Kultur- und Bildungsbegriff gerne eine scharfe Trennlinie zum „bloß“ Kommerziellen zog; andererseits, weil der deutsche Kultur-„Betrieb“ im 20. Jahrhundert, genauer gesagt seit der Zeit der Weimarer Republik, mehr in die o¨ffentliche Hand u¨berging und die Erinnerung an seine privatkapitalistische Phase in der Zeit des Kaiserreichs nach 1945 immer mehr verblasste. Erst in letzter Zeit wird sie wiederentdeckt, und mehrere Beitra¨ge auch in diesem Band liefern Material dazu.13 Auf diese Weise verflu¨ssigen sich Unterscheidungen, an denen die deutsche Forschung lange festgehalten hat, etwa der zwischen einer „Hochkultur“ des Bu¨rgertums und popula¨ren Kulturformen der Arbeiterschaft oder der neuen sta¨dtischen Mittelschichten. Gewiss blieb der soziale Raum der großsta¨dtischen Kultur vielfa¨ltig differenziert und konnte auch neue Unterscheidungen produzieren, zum Beispiel jenseits (bzw. „unterhalb“) der bu¨rgerlichen Hochkultur zwischen der proletarischen Vergnu¨gungskultur und Vergnu¨gungsra¨umen der angestellten Mittelschichten. Die Entstehung einer „middlebrow culture“, die sich zwischen Eliten- und Volkskultur schob,14 ist nicht gleichbedeutend mit dem Aufstieg einer sozial nivellierten Massenkultur. Aber auch Institutionen des bu¨rgerlichen Kulturlebens wie das Theater und die Oper wurden in den Kommerzialisierungssog gezogen und konnten sich kaum auf eine Markt- und Zweckfreiheit berufen, die vermeintlich nur der ho¨heren Bildung diente.15 An diesem Punkt beru¨hrt sich die neue Geschichte von Oper, Theater und „Kunstmusik“16 eng mit den neuen Ansa¨tzen der Metropolengeschichte. Schließlich lohnt ein kurzer Blick auf einen weiteren klassischen Begriff der Stadt¨ ffentlichkeit. In ihr ist verund Kultursoziologie, na¨mlich auf die Kategorie der O schiedentlich das zentrale Merkmal der Stadt und des modernen großsta¨dtischen Soziallebens gesehen worden.17 Die Straße wird zu einem Raum der o¨ffentlichen Begegnung und Aushandlung – und zwar nicht die Dorfstraße, sondern die großsta¨dtische, ja die zentralsta¨dtische Straße und mehr noch der (Straßen-)Platz. Hier u¨berlappen sich Kommerz, Politik und Freizeit, individuelles und kollektives Agieren auf engstem Raum. Vornehmlich in großsta¨dtischen Ra¨umen traten Frauen seit ¨ ffentlichder Mitte des 19. Jahrhunderts in eine zuvor weithin ma¨nnlich dominierte O

13 Vgl. dazu jetzt Tobias Becker, Inszenierte Moderne. Popula¨res Theater in Berlin und London,

1880–1930, Mu¨nchen 2014.

14 Vgl. Joan Shelley Rubin, The Making of Middlebrow Culture, Chapel Hill 1992; Lawrence Napper,

British Cinema and Middlebrow Culture in the Interwar Years, Exeter 2009.

15 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Sven Oliver Mu¨ller. 16 Vgl. hier nur Musikalische Kommunikation, hg. v. Sven Oliver Mu ¨ ller/Ju¨rgen Osterhammel (GuG,

Jg. 38, Heft 1), Go¨ttingen 2012.

17 Vgl. bes. Hans-Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische U ¨ berlegungen zum Sta¨dtebau,

Reinbek 1961.

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keit ein.18 Wa¨hrend auf diese Weise die Politisierung des Stadtraums zunahm und vielerorts, jedenfalls in Deutschland, in den 1920er und 1930er Jahren einen Ho¨hepunkt erreichte, entzog sich die moderne Metropolenkultur in anderer Hinsicht einer politischen Vereinnahmung. Die Vergnu¨gungskultur gewann eine relative Autonomie gegenu¨ber der Politik; sie emanzipierte sich von der Funktion der Repra¨sentation einer herrschenden Ordnung, gerade weil hier die Gesetze des Marktes und des Individualismus regierten. Aber es blieb ein ambivalentes Verha¨ltnis, denn diese Befreiung konnte auch in die Entpolitisierung des Publikums fu¨hren, ebenso wie die politische Inanspruchnahme der Stadto¨ffentlichkeit im 20. Jahrhundert, unter dem Vorzeichen einer Nationalisierung und Ideologisierung der Massen, typisch großsta¨dtische Freiheitsgewinne in ihr Gegenteil verkehren konnte.19 Besonders aufschlussreich sind deshalb diejenigen Formen der sta¨dtischen Vergnu¨gungskultur, die mit „karnevalesken“ Elementen politische Herrschaft oder soziale Ordnung ironisierten und auf den Kopf stellten: im Theater oder im Zirkus, auf Straßenfesten, Umzu¨gen oder Paraden. Auch die Entwicklung von „Gegenkulturen“ der Geschlechteridentita¨t und Sexualita¨t in den Metropolen um 1900 la¨sst sich in diesem Kontext verstehen.20 Damit ist der zweite Leitbegriff dieses Bandes angesprochen: Die stadtra¨umlichen Verflechtungen, die Ausdifferenzierung einer sta¨dtischen Landschaft einschließlich der Topographien des Vergnu¨gens gewinnen in ihrer inszenatorischen Reflexion eine zweite Dimension. Die Erfahrung der neuen, metropolitanen Moderne wird in einer Re-Inszenierung der Welt verarbeitet und verdoppelt. Dabei spielten neue Formen ¨ sthetisierung der Großder sinnlichen Erfahrung eine wichtige Rolle, die in eine A ¨ stadt mu¨ndeten, die wiederum stellvertretend fu¨r eine Asthetik der Moderne um 1900 stand. Licht und Farbe wirkten als dramatische visuelle Reize; technische Innovationen wie Gasbeleuchtung und, vor allem und wenig spa¨ter, die Allgegenwart der Elektrizita¨t machten die Großstadt zur Metapher des Lichts und der Helligkeit.21 Licht und Glanz u¨berlagerten den a¨lteren Topos der „dunklen“ oder „grauen“ Großstadt, und zugleich versta¨rkte der Kontrast zwischen beidem den Eindruck von der Radikalita¨t und Heterogenita¨t der modernen Sinneserfahrungen. Helligkeit und Freude, Licht und Vergnu¨gen verschmolzen und standen gegen die einto¨nige Stumpfheit der la¨ndlichen Sinneseindru¨cke, aber auch gegen die dunklen Grauto¨ne des Fabriklebens oder der lichtlosen Wohnungen in den Arbeiterquartieren.22 ¨ sthetisierung der Lebens- und Alltagswelt brach Ein neuartiger Anspruch auf A sich Bahn. Er betraf die Gestaltung von Dingen in den Fru¨hformen des modernen 18 Vgl. Mary P. Ryan, Women in Public: Between Banners and Ballots, 1825–1880, Baltimore 1990. 19 Vgl. klassisch George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massen-

bewegungen in Deutschland von dem Napoleonischen Krieg bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1976. 20 Vgl. z. B. George Chauncey, Gay New York: Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890–1940, New York 1994. 21 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke: Zur Geschichte der ku¨nstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Mu¨nchen 1983. 22 Vgl. z. B. David Nasaw, Cities of Light, Landscapes of Pleasure, in: The Landscape of Modernity: New York City, 1900–1940, hg. v. David Ward/Olivier Zunz, Baltimore 1992, S. 273–286.

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Designs, etwa im Umkreis des 1907 gegru¨ndeten „Deutschen Werkbunds“ und spa¨¨ sthetisierung des Menschen durch Ko¨rperter des „Bauhauses“; mehr aber noch die A kult, Mode und Kosmetik.23 Zu den visuellen Reizen traten, von der Forschung erst seit kurzem erschlossen, die akustischen Reize, die „Klanglandschaften“ der Großstadt hinzu: der Industrie- und der Verkehrsla¨rm, u¨berhaupt die neuartigen, technisch induzierten Gera¨usche, aber auch Formen der akustischen Kommunikation ¨ ffentlichkeit zwischen Politisierung und Kommerzialisierung: das Ausrufen in der O von Neuigkeiten durch Zeitungsjungen auf der Straße, u¨ber Lautsprecher verbreitete „Reklame“-Botschaften, schließlich die politische Propaganda und die Beschallung mit Musik in ganz unterschiedlichen Funktionskontexten. Auf den Straßen oder im Gedra¨nge der o¨ffentlichen Verkehrsmittel mischten sich die Sprachen und Sprachmelodien der verschiedenen Einwanderergruppen.24 Es waren nicht zuletzt die Orte des Vergnu¨gens, an denen sinnliche Erfahrung, ¨ sthetisierung von den Bewohnern ebenso wie von den touReizu¨berflutung und A ristischen Ga¨sten der Metropole erprobt und erlernt werden konnten. Vergnu¨gungsparks oder Weltausstellungen, ein Variete´, eine Theater- oder Opernauffu¨hrung, der Zirkus: In ihnen konzentrierte sich die Sinnesverdichtung der modernen Großstadt noch einmal wie in einem Brennglas. Der Sinnesschock solcher Orte bildete fu¨r ihre Besucher eine befristete Gegenwelt zum Alltag. Im Sinne Michel Foucaults lassen sich metropolitane Vergnu¨gungsviertel deshalb als „heterotopische Ra¨ume“ verstehen.25 Aber in ihnen bu¨ndelte sich zugleich die Essenz modernita¨tsspezifischer Alltagserfahrungen: Licht und Farbe der Großstadt in ho¨chster Konzentration; Ko¨rperinszenierung und Mode in kostu¨mierter Gestalt. Sogar die technischen Innovationen der Großstadt: Elektrizita¨t, Motorkraft, ku¨nstliche Bewegung und Beschleunigung wurden – wie im Berliner „Lunapark“26 und seinen globalen Geschwistern – hier aus der Realita¨t in eine Art Meta-Realita¨t u¨berfu¨hrt. Auch am popula¨ren Theater der Jahrhundertwende la¨sst sich diese Re-Inszenierung, dieses Reenactment der großsta¨dtischen Wirklichkeit in vielen Facetten, von der Technik u¨ber die Geschlechterverha¨ltnisse bis zur Politik, sehr gut nachvollziehen.27 Die Kultur der Metropole war Kultur der Modernita¨t, indem sie die moderne Welt in der Inszenierung verdoppelte. Sie bot die Mo¨glichkeit, die neuartigen Sinneserfahrungen durch ein „zweites Erlebnis“ zu verarbeiten, mit dem die Großstadtmenschen zugleich zu Zuschauern ihrer eigenen Lebensumwelt wurden.

23 Vgl. z. B. Annelie Ramsbrock, Korrigierte Ko¨rper. Eine Geschichte ku¨nstlicher Scho¨nheit in der

Moderne, Go¨ttingen 2011; Maren Mo¨hring, Marmorleiber. Ko¨rperbilder in der deutschen Nacktkultur, Ko¨ln 2004. 24 Vgl. Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert, hg. v. Daniel Morat u. a., Go¨ttingen 2012; Ders., Die Stadt und die Sinne. Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf Urbanisierung und Großstadterfahrung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 43 (2012), S. 23–28; Habilitationsprojekt von Daniel Morat im Rahmen eines Dilthey-Fellowship: Die Klanglandschaft der Großstadt. Kulturen des Auditiven in Berlin und New York 1880–1930. 25 Vgl. Tobias Becker, Das Vergnu¨gungsviertel. Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende, in: Die tausend Freuden (wie Anm. 5), S. 137–167, hier bes. S. 139f. 26 Zum „Lunapark“ in Berlin-Halensee vgl. demna¨chst die Dissertation von Johanna Niedbalski. 27 Vgl. Becker, Inszenierte Moderne (wie Anm. 13).

Verdoppelte Modernita¨t – Metropolen und Netzwerke der Vergnu¨gungskultur um 1900

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Bei der metropolitanen Vergnu¨gungskultur handelte es sich, und damit sind wir beim dritten Leitkonzept, um ein transnationales Pha¨nomen. Ihre Institutionen und die grundlegenden Wahrnehmungsmuster a¨hnelten sich in den Jahrzehnten um 1900, egal ob man auf Berlin oder London, New York oder Chicago, Paris oder ¨ hnlichSt. Petersburg blickt. Der Grund dafu¨r liegt zuna¨chst in der fundamentalen A keit von Basisprozessen der demographischen Entwicklung und der Urbanisierung, der Industrialisierung und der technologischen Entwicklung: Die Wirkungen dieser und a¨hnlicher Prozesse auf die Metropolenbildung, einschließlich ihrer kulturellen Manifestationen, la¨sst sich bis heute, nicht zuletzt in Asien, studieren. Jedenfalls la¨sst sich in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts keine einzelne Großstadt als Geburtsort der Metropolenkultur und als Ausgangspunkt ihrer globalen Diffusion identifizieren – vermutlich zu dieser Zeit sogar weniger, als das im 20. Jahrhundert und auf dem Ho¨hepunkt der soziokulturellen Amerikanisierung fu¨r New York galt. Aber diese Plurilokalita¨t konstituierte sich gleichzeitig in dichten Netzwerken der wechselseitigen Wahrnehmung und Beobachtung, des Austauschs und auch der strukturellen, z. B. unternehmerischen Verflechtung. Fu¨r die transatlantische Kommunalpolitik und kommunale Sozialreform ist dieses großsta¨dtische Netzwerk von Akteuren, Ideen und Institutionen schon seit la¨ngerem erforscht worden.28 Nun tritt immer deutlicher hervor, dass auch urbane Freizeit und Unterhaltung, Massen- und Vergnu¨gungskultur mindestens in europa¨isch-transnationalen und teilweise globalen Verflechtungen standen. Ihre Akteure waren Unternehmer von Vergnu¨gungsparks und Theatern, Schauspieler und u¨berhaupt Ku¨nstler und Ku¨nstlerinnen, aber auch eine wachsende Zahl von Reisenden, von Sta¨dtetouristen, von Besuchern der Weltausstellungen, die auf der Suche nach fremden Orten teils zielstrebig und strategisch, teils unbewusst ihren Beitrag zur Assimilation metropolitaner Erfahrungswelten leisteten. Der zeitliche Bogen spannt sich von den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis etwa 1930. Das steht im Einklang mit zahlreichen deutschen, aber auch internationalen Forschungen zur Entstehung einer in den großen Sta¨dten konzentrierten Kultur der Moderne, die ihren Ho¨hepunkt zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg und dann noch einmal in den 1920er Jahren gefunden hat.29 Danach markierten Weltwirtschaftskrise und Große Depression ebenso eine Za¨sur wie die politischen Entwicklungen der 1930er Jahre: der Aufstieg autorita¨rer Regime in Europa, die Herrschaft des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schon zuvor, teils bereits vor dem Ersten Weltkrieg, hatte die demographische Dynamik des explosiven Sta¨dtewachstums nachgelassen. Auch die technologische Entwicklung 28 Vgl. v. a. Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, Mass.

1998; siehe auch Paul Nolte, Effizienz oder „self-government“? Amerikanische Wahrnehmungen deutscher Sta¨dte und das Problem der Demokratie 1900–1930, in: Die alte Stadt 15 (1988), S. 261–288. 29 Immer noch wichtige Anregung fu¨r die deutsche Debatte: August Nitschke u. a., Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., Reinbek 1990; aus der amerikanischen Literatur z. B.: William Leach, Land of Desire: Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture, New York 1993; Christine Stansell, American Moderns: Bohemian New York and the Creation of a New Century, New York 2000; Lynn Dumenil, The Modern Temper: American Culture and Society in the 1920s, New York 1995.

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erreichte am Ende der 1920er Jahre eine Plateauphase, die – wenn man einmal vom Kraftfahrzeug, vor allem dem Siegeszug des privaten PKW absieht – erst mit der digitalen Revolution am Ende des 20. Jahrhunderts eine ganz neue Schwelle u¨berschritt. Es ist eine schwierige Frage, ob auch die kulturelle Innovationsdynamik, die kulturelle Kreativita¨t um 1930 nachließ, als die Moderne in aller Radikalita¨t und als „Avantgarde“ erfunden war.30 Jedenfalls blieben die o¨konomischen und politischen Krisen nicht ohne Wirkung auf die kulturellen Mo¨glichkeiten, und viele transnationale Verbindungen wurden auf lange Zeit gekappt. So geriet ein Teil der metropolitanen Vergnu¨gungskultur aus der Zeit der „klassischen Moderne“31 in eine Krise, die sich auch in der Nachkriegszeit noch fortsetzte. Das private Automobil und die Zersto¨rung europa¨ischer Sta¨dte sowie die Flucht der Mittelschichten an die großsta¨dtische Peripherie im Zuge der beginnenden Suburbanisierung waren wichtige Determinanten dafu¨r. Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung von Vergnu¨gungsparks, die in ihrer klassischen urbanen Form, wie sie der Lunapark oder Coney Island repra¨sentiert hatten, nahezu verschwanden. Stattdessen entstand ein neuer, suburbaner oder exurbaner Typus des Vergnu¨gungsparks, der amerikanische „Theme Park“, mit dem 1955 ero¨ffneten „Disneyland“ im kalifornischen Orange County, einer geradezu prototypisch suburbanen Siedlungslandschaft also, als Pionier. In Deutschland ero¨ffnete 1967 das „Phantasialand“ in Bru¨hl bei Ko¨ln und brachte neues Amu¨sement in die Wirtschaftswundergesellschaft. Doch die große Zeit des kommerzialisierten und globalisierten Massenvergnu¨gens begann in vieler Hinsicht erst wieder in den 1980er und 1990er Jahren. Dafu¨r steht die globale Expansion der Disney-Parks (Disneyland Paris 1992), die Neuerfindung von Las Vegas jenseits der schmuddeligen Spielerstadt als Metropole der familia¨ren Unterhaltung, der Show und des Konsums, oder die Popularita¨t neuer sta¨dtischer Festkultur, von millionenfach frequentierten und global attraktiven Umzu¨gen und Sportveranstaltungen, von „Love Parades“ und sta¨dtischen Marathonla¨ufen. Auch die Popularita¨t und globale Verflechtung der „Musical“-Kultur geho¨rt dazu. Vergnu¨gungskultur hat sich damit in die Sta¨dte, in die Metropolen, in die „Global Cities“ zuru¨ckverlagert, die ihre Attraktivita¨t, ihr kulturelles und symbolisches Kapital sogar nicht unwesentlich aus dieser gewinnen. Das gilt gerade fu¨r die „alten“ Metropolen des Westens wie New York, London oder Berlin, trotz des Aufstiegs der asiatischen Metropolen. Das beginnende 21. Jahrhundert ist, im globalen Maßstab, erneut ein Zeitalter der Hochurbanisierung geworden und ein Zeitalter der Metropolen, ein Zeitalter der Beschleunigung, des Kommerzes, des massenhaften Vergnu¨gens.32 Auch deshalb kann der Blick in die Geschichte, gut einhundert Jahre zuru¨ck, aufschlussreich sein.

30 Vgl. Corona Hepp, Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahr-

hundertwende; Thomas Nipperdey, Wie das Bu¨rgertum die Moderne fand, Berlin 1988; Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, Mu¨nchen 2005. 31 In dem von Detlev Peukert gepra¨gten, historiographisch sehr einflussreich gewordenen Sinne des Begriffes: Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. 32 Vgl. dazu u. a. Metropolen. Laboratorien der Moderne, hg. v. Dirk Matejovski, Frankfurt a. M. 2000.

Verdoppelte Modernita¨t – Metropolen und Netzwerke der Vergnu¨gungskultur um 1900

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u Der Band geht auf eine Tagung zuru¨ck, die im Ma¨rz 2010 unter etwas anderem Titel am Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster stattfinden konnte. Dafu¨r ist dem Institut und dem Kuratorium fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte e. V. sehr zu danken, namentlich Prof. Dr. Werner Freitag, auch fu¨r die Mischung aus Geduld und Dra¨ngen angesichts der aus verschiedenen Gru¨nden verzo¨gerten Fertigstellung dieses Buches. Nicht alle Vortra¨ge der Tagung konnten aufgenommen werden; andere Texte sind zusa¨tzlich gewonnen worden. Am Arbeitsbereich Zeitgeschichte der Freien Universita¨t Berlin haben wir uns seit vielen Jahren in mehreren Projekten mit Aspekten der Urbanisierungs- und Metropolengeschichte bescha¨ftigt, und ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Projekten wa¨re auch dieser Band nicht zustande gekommen. Viele von ihnen haben zudem die Mu¨nsteraner Tagung und diese Publikation unterstu¨tzt – ich nenne Daniel Morat, Tobias Becker, Johanna Niedbalski und Kerstin Lange. Fu¨r die redaktionelle Betreuung der Texte ist Mechthild Siekmann und Ria Ha¨nisch in Mu¨nster großer Dank zu sagen, fu¨r die entsprechende Unterstu¨tzung in Berlin Kathrin Kliss. Hoffentlich bieten die Einblicke in Vergnu¨gungskultur neue Erkenntnisse – und dabei gelegentlich auch Lesevergnu¨gen.

THEATER AUF REISEN Metropolen als Zentren kultureller Globalisierung um 1900 von Tobias Becker

Theater und Globalisierung sind zwei Dinge, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben. Theater wurzelt im Lokalen, jede Auffu¨hrung besitzt eine spezifische Ra¨umlichkeit – den Raum der Bu¨hne und den Raum der Stadt, in der sich das Theater befindet.1 Als Live-Medium eignet sich das Theater nur bedingt zur Standardisierung: Jede Inszenierung eines Stu¨ckes unterscheidet sich von Auffu¨hrung zu Auffu¨hrung, von Theater zu Theater und von Stadt zu Stadt. Globalisierung hingegen wird oft gleichgesetzt mit kultureller Standardisierung und Homogenisierung, so im gern benutzten Schlagwort von der „McDonaldisierung der Welt“.2 Und als Prozess der ra¨umlichen Verdichtung erschien sie Paul Virilio sogar als eine „Vernichtung des Raumes“.3 Auf den zweiten Blick hingegen gibt es durchaus Beru¨hrungspunkte zwischen Theater und Globalisierung. Wie der Begriff der „Glokalisierung“ unterstreicht, vernichtet die Globalisierung den Raum keineswegs. Vielmehr hat sie Fragen nach Raum und Ra¨umlichkeit eine neue Valenz verliehen.4 Umgekehrt findet sich im Theater der Gegenwart durchaus eine Tendenz zur Homogenisierung und zur Globalisierung. Ablesbar vor allem an Musicals wie „Das Phantom der Oper“, das seit 1986 im Londoner West End und seit 1988 am Broadway la¨uft und bei Auffu¨hrungen in 149 Sta¨dten weltweit ein Publikum von u¨ber 100 Millionen erreichte und mehr als 5 Milliarden Dollar einspielte.5 „Les Mise´rables“ und „Das Phantom der Oper“ markierten in den 1980er Jahren den Beginn eines neuen Genres: des „Megamusicals“. 1 Vgl. Marvin Carlson, Places of Performance. The Semiotics of Theatre Architecture, Ithaca u. a. 1989. 2 Boike Rehbein/Hermann Schwengel, Theorien der Globalisierung, Konstanz 2008, S. 107. 3 Paul Virilio, Fluchtgeschwindigkeiten. Essay. Aus dem Franzo¨sischen von Bernd Wilczek, Mu¨nchen/

Wien 1996, S. 185–186; siehe auch ders., Revolutionen der Geschwindigkeit. Aus dem Franzo¨sischen von Marianne Karbe, Berlin 1993, S. 52, 57–59. 4 Vgl. Roland Robertson, Glokalisierung. Homogenita¨t und Heterogenita¨t in Raum und Zeit, in: Perspektiven der Weltgesellschaft, hg. v. Ulrich Beck, Frankfurt a. M. 1998; zum ‚Spatial Turn‘ siehe ¨ ber Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, FrankKarl Schlo¨gel, Im Raume lesen wir die Zeit. U furt a. M. 2006, insbes. S. 60–71; Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jo¨rn Weinhold, Verra¨umlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840–1930, in: Ortsgespra¨che. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. dens., Bielefeld 2005, S. 15–49. 5 Vgl. Alistair Smith, Dates and cast confirmed for Love Never Dies, Phantom of the Opera sequel, in: The Stage, 8. October 2009, http://www.thestage.co.uk/news/newsstory.php/25817/dates-and-castconfirmed-for-love-never-dies [12. 7. 2010].

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Dem Theaterwissenschaftler Jonathan Burston zufolge unterscheiden sich Megamusicals von den vorhergehenden Musicals einerseits aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihrer ra¨umlichen Reichweite (als a¨ußerst kostenintensive Produkte zielen sie auf einen internationalen Markt ab) und andererseits durch eine umfassende Standardisierung auf a¨sthetischer Ebene.6 Obwohl dies eine gleichbleibend hohe Qualita¨t des Produkts garantiert, sehen viele Kritiker dadurch die Spontaneita¨t des Theaters gefa¨hrdet. Fu¨r den Theaterwissenschaftler Dan Rebellato sind Megamusicals „McTheatre“, weil sie wie bei McDonalds im Franchise-Verfahren vertrieben und u¨berall nach denselben Standards reproduziert werden, auf Kosten dessen, was in seinen Augen den eigentlichen Reiz des Theaters ausmacht: Lebendigkeit, Einzigartigkeit und Unmittelbarkeit.7 Ebenso kritisch sieht es die Journalistin Nosheen Iqbal: „Should we really be clapping the ubiquity of a homogenised theatre culture across the planet, where your musical adventure, from Seoul to Sa˜o Paulo, can take on the same uniformity as your cup of Starbucks coffee?“8 Theater ist folglich la¨ngst im Zeitalter der Globalisierung angekommen, ist Teil einer globalisierten Kultur und tra¨gt selbst bei zur kulturellen Globalisierung. Burston und Rebellato datieren die Anfa¨nge des Megamusicals auf die 1980er Jahre. Michael Billington, langja¨hriger Theaterkritiker des Guardian, versteht es ¨ ra Thatcher und als Antwort auf die Maßsogar als ein spezifisches Produkt der A gabe nicht auf Subventionen zu bauen, sondern Theater privatkapitalistisch zu betreiben. Fu¨r ihn sind die Megamusicals deshalb „Thatcherism in action“.9 Alle drei blenden dabei allerdings die Vorgeschichte aus. Denn obwohl Megamusicals wie „Les Mise´rables“ und „Das Phantom der Oper“ in vielerlei Hinsicht revolutiona¨r waren, markierten sie doch weniger etwas vo¨llig Neues, als vielmehr eine neue Stufe in der Geschichte des kommerziellen Unterhaltungstheaters. Bereits die Vorla¨ufer des Megamusicals, die kontinentale Operette ebenso wie die britische Musical Comedy, erschlossen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert globale Ma¨rkte, wie im Folgenden gezeigt wird. Eine Geschichte der Globalisierung des popula¨ren Musiktheaters mu¨sste deshalb nicht erst in den 1980er, sondern bereits in den 1880er Jahren ansetzen, einer Periode, die die Geschichtswissenschaft la¨ngst als „first age of globalization“ ausgemacht hat.10 Schon zu dieser Zeit war Globalisierung mehr als 6 Jonathan Burston, Theatre Space as Virtual Place. Audio Technology, the Reconfigured Singing Body,

and the Megamusical, in: Popular Music 17 (1998), S. 205–218, hier S. 205–206; siehe auch ders., Spectacle, Synergy and Megamusicals. The Global-Industrialisation of the Live-Entertainment Economy, in: Media Organisations in Society, hg. v. James Curran, London 2000, S. 69–83; siehe auch Jessica Sternfeld, The Megamusical, Bloomington/IN 2006. 7 Dan Rebellato, Theatre & Globalization, Basingstoke 2009, S. 39–40. 8 Nosheen Iqbal, Globalised Theatre and the Rise of the Monster Musical, in: The Guardian vom 8. 9. 2010, http://www.guardian.co.uk/stage/theatreblog/2010/sep/08/global-theatre-musical [13. 6. 2011]. 9 Michael Billington, State of the Nation. British Theatre since 1945, London 2009, S. 284–285. 10 Vgl. Kevin H. O’Rourke/Jeffrey G. Williamson, When did globalisation begin?, in: European Review of Economic History 6 (2002), S. 23–50; Martin Geyer/Johannes Paulmann, Introduction. The Mechanics of Internationalism, in: The Mechanics of Internationalism. Culture, Society and Politics from the 1840s to the First World War, hg. v. dens., Oxford 2001, S. 1–25; Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, Mu¨nchen 2006, bes. S. 32–73.

Theater auf Reisen

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wirtschaftliche Vernetzung, als Handelsstro¨me und Arbeitsmigration, Transport und Kommunikation. Wenn der Handel der Flagge folgte, so folgte dem Handel die Kultur. Diese fru¨he Phase der kulturellen Globalisierung wird hier anhand von Gastspielen und Tourneen, dem Austausch von Personal, von Stu¨cken und von ganzen Produktionen sowie anhand der zeitgeno¨ssischen Wahrnehmung dieses Austauschs untersucht.11 Dabei ru¨cken unweigerlich die Metropolen in den Blickpunkt. Als „Knotenpunkte von Beziehungen und Verflechtungen“ waren sie die Orte und Tra¨ger des grenzu¨berschreitenden Austauschs.12 Hier waren die großen Theater angesiedelt, von hier aus wurden die weltumspannenden Gastspiele und Tourneen organisiert. Wa¨hrend die politischen Spannungen zwischen den Nationen seit Ende des 19. Jahrhunderts zunahmen, blieben „die ganz großen Sta¨dte in internationale Netze [...] eingebunden“, die sie zugleich mitgestalteten.13

I. Gastspiele und Tourneen

Zwei der fru¨hesten Formen der Internationalisierung im Bereich des Theaters waren Gastspiele und Tourneen. Beide lassen sich bis in die fru¨he Neuzeit zuru¨ckverfolgen, als bereits einzelne Virtuosen oder wandernde Ensembles von Fu¨rstenhof zu Fu¨rstenhof und von Stadt zu Stadt zogen. Die Werke Shakespeares beispielsweise wurden schon im spa¨ten 16. Jahrhundert durch umherziehende britische Theatertruppen, die sogenannten englischen Komo¨dianten erstmals auf dem Kontinent aufgefu¨hrt.14 Bis zur Verkehrsrevolution im Zeichen des Dampfes blieb das Reisen, zumal mit gro¨ßeren Ensembles und Requisiten, jedoch a¨ußerst beschwerlich und kostenaufwa¨ndig. Erst mit der Eisenbahn und dem Dampfschiff nahmen Gastspiele und Tourneen einen bedeutenden Aufschwung, bis sie gegen „Ende des 19. Jahrhunderts [...] beinahe zur Selbstversta¨ndlichkeit geworden“ waren.15 Im deutschsprachigen Raum, wo fast jede Stadt u¨ber ein eigenes Stadttheater mit zugeho¨rigem Ensemble verfu¨gte, waren Tourneen, abgesehen von kleineren Wandertheatertruppen, eine Seltenheit. Das Ensemble des Meininger Hoftheaters allerdings, das von einer besonderen a¨sthetischen Mission erfu¨llt war, reiste in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts nicht nur nach Berlin, Hamburg Mu¨nchen, Straßburg, Breslau und Wien, sondern spielte auch in Amsterdam, London, Kopenhagen und St. Petersburg.16 In Großbritannien hingegen wur11 Der Austausch reichte natu¨rlich noch weiter, umfasste bzw. beeinflusste beispielsweise die Art und

Weise, wie Stu¨cke inszeniert wurden – ein Aspekt, auf den hier nur am Rande eingegangen werden kann, siehe dazu jedoch Erika Fischer-Lichte, Das eigene und das andere Theater, Tu¨bingen 1999. 12 Ju¨rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mu¨nchen 2009, S. 357. 13 Ebd., S. 382. 14 Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tu¨bingen 1993, S. 62–63; M. A. Katritzky, English Troupes in Early Modern Germany. The Women, in: Transnational Exchange in Early Modern Theater, hg. v. Robert Henke/Eric Nicholson, Aldershot 2008, S. 35–47. 15 Ulrich Berns, Das Virtuosengastspiel auf der deutschen Bu¨hne, Phil. Diss. Berlin 1959, S. 143. 16 Vgl. John Osborne, The Meiningen Court Theatre, 1866–1890, Cambridge 1988, S. 79–81; Volker

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den viele vorsta¨dtische und regionale Theater fast ausschließlich von umherziehenden touring companies bespielt.17 Als organisatorische und gescha¨ftliche Basis diente diesen Tourneen jedoch fast immer ein Theater in der Metropole. Dies war auch aus Prestigegru¨nden wichtig, denn nur wer es in der Metropole geschafft hatte, konnte auf ein internationales Publikum hoffen, wie umgekehrt Gastspiele im Ausland das Prestige eines Ku¨nstlers in der Heimat steigerten. Das popula¨re Musiktheater partizipierte und profitierte von Anfang an vom internationalen Austausch. So begann die Karriere von Jacques Offenbach (1819–1880) als Komponist und Theaterdirektor mit der Pariser Weltausstellung von 1855. Sie fu¨hrte ein kosmopolitisches Publikum nach Paris, das wiederum Offenbachs Werke fru¨h außerhalb Frankreichs bekannt machte. Kaum hatte dieser sich mit seinem The´aˆtre des Bouffes-Parisiens etabliert, brach er auch schon mit einem Ensemble von 50 Schauspielern nach London auf. Und Hortense Schneider (1833–1920), Offenbachs Star, gastierte zwischen 1858 bis 1860 mehrfach am Gaiety Theatre, das sich zu einer Heimsta¨tte der Offenbachschen Operette in London entwickelte. Nicht zufa¨llig kam an eben diesem Theater 1871 „Thespis“ heraus, die erste Comic Opera von W. S. Gilbert 1836–1911) und Arthur Sullivan (1842–1900).18 Noch wichtiger als London war fu¨r Offenbach Wien, wo er 1861 mit den Bouffes-Parisiens gastierte und das sich in der Folge zu „seiner zweiten Hauptstadt“ entwickelte.19 So la¨sst sich daru¨ber spekulieren, ob es ohne diese Gastspielreisen die Wiener Operette von Johann Strauß und die Operetten Gilberts und Sullivans u¨berhaupt gegeben ha¨tte. Mit Letzteren erreichte die Reiseta¨tigkeit der Theaterkompanien eine neue Qualita¨t. Richard D’Oyly Carte (1844–1901), der nahezu alle Werke von Gilbert und Sullivan produzierte, schickte bis zu sechs Ensembles gleichzeitig auf Reisen, die neben Großbritannien auch die USA und Su¨dafrika ansteuerten.20 Auf diesem Weg gelangte auch zum ersten Mal ein Stu¨ck von Gilbert und Sullivan in Berlin zur Auffu¨hrung, wo sich aufgrund des großen Triumphes des „Mikado“ die deutsche Presse veranlasst sah, das verbreitete Klischee von Großbritannien als dem ‚Land ohne Musik‘ zu hinterfragen.21 An den Berliner Erfolg schlossen sich Auftritte in Hamburg, Leipzig, Dresden,

Kern, Die Meininger kommen! Hoftheater und Hofkapelle zwischen 1874 und 1914 unterwegs in Deutschland und Europa, Meiningen 1999, S. 7–33. 17 Michael R. Booth, Theatre in the Victorian Age, Cambridge 1991, S. 18–21; Anselm Heinrich, Entertainment, Propaganda, Education. Regional Theatre in Germany and Britain between 1918 and 1945, Hatfield 2007, S. 30, 50, 140. 18 Vgl. Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 167; Andrew Lamb, How Offenbach Conquered London, in: Opera 20 (1969), Nr. 11, S. 932–938; ders., Offenbach in London, in: Offenbach und die Schaupla¨tze seines Musiktheaters, hg. v. Rainer Franke, Laaber 1999, S. 183–193. 19 Vgl. Kracauer, Offenbach (wie Anm. 18), S. 232; siehe auch Walter Obermaier, Offenbach in Wien. Seine Werke auf den Vorstadtbu¨hnen und ihr Einfluß auf das Volkstheater, in: Offenbach, hg. v. Franke (wie Anm. 18), S. 11–30; Mathias Spohr, Inwieweit haben Offenbachs Operetten die Wiener Operette aus der Taufe gehoben?, in: ebd., S. 31–67. 20 Vgl. Cyril Rolling/Rowdon Witts, The D’Oyly Carte Opera Company in Gilbert and Sullivan Operas. A Record of Productions, 1875–1961, London 1962. 21 Oscar A. Schmitz, Das Land ohne Musik. Englische Gesellschaftsprobleme, Mu¨nchen 1914; zum Mikado in Berlin siehe The ‚Mikado‘ at Berlin, in: The Times 3. 6. 1886, S. 6; Karl Borinski, Engli-

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Breslau, Wien und vielen anderen Sta¨dten im deutschsprachigen Raum an, so dass der „Mikado“ binnen eines Jahres spektakula¨re 8954 Auffu¨hrungen erlebte.22 Obschon dabei zweite und dritte Besetzungen auf der Bu¨hne standen, oft Schauspielerinnen und Schauspieler am Beginn ihrer Karriere, legte D’Oyly Carte gro¨ßten Wert darauf, dass auf den Tourneen mo¨glichst exakte Reproduktionen der Londoner Inszenierung gezeigt wurden.23 Die Operetten Gilberts und Sullivans gerieten um 1900 allma¨hlich aus der Mode. An ihre Stelle trat das aus Music Hall und Operette hervorgegangene Genre der Musical Comedy, das noch umfangreichere Tourneen erlebte. Gleich eine der ersten Musical Comedies, „A Gaiety Girl“ von 1894, ging von London aus auf eine Tournee, die die von D’Oyly Carte organisierten mu¨helos in den Schatten stellte: Sie dauerte 431 Tage und fu¨hrte u¨ber New York und die amerikanische Ostku¨ste nach San Francisco und von dort bis nach Australien.24 Noch erfolgreicher war „Our Miss Gibbs“ von 1909, deren geradezu globale Verbreitung sich dank genauer Auflistung der Tantiemen im Gaiety Royalties Book im Victoria and Albert Museum recht genau rekonstruieren la¨sst. Ihm zufolge wurde das Stu¨ck allein zwischen 1910 und 1911 in mehr als 150 Sta¨dten auf den britischen Inseln aufgefu¨hrt, von Bornemouth bis Glasgow und von Llandudno bis Scarborough. Parallel dazu spielten touring companies es in allen Teilen des Britischen Empire: 1910 beispielsweise in Johannesburg, Bulawayo, Kimberly, Kapstadt, Pretoria, Bloemfontein, Lucknow und Allahabad; 1911 in Kalkutta, Kairo, Alexandria, Singapur, Hong Kong, Sydney, Shanghai, Yokohama und Tientsin; 1912 in Melbourne, Brisbane, Toowoomba und in vielen Sta¨dten Neuseelands, sowie in Manila, Rangoon und Bombay.25 ¨ hnliche Wege legten die meisten Musi„Our Miss Gibbs“ war keine Ausnahme. A cal Comedies zuru¨ck. Ein Stu¨ck das im West End erfolgreich war, wurde in die ganze Welt verschifft. Dieser Export wirft eine Fu¨lle von Fragen auf, angefangen bei der Organisation solcher Tourneen u¨ber die beteiligten Ku¨nstler bis hin zu Publikum und Rezeption. Fragen, die sich aufgrund fehlender Forschung noch nicht beantworten lassen. Denn bislang wurde zwar ausgiebig die Repra¨sentation kolonialer Identita¨ten auf der Bu¨hne des europa¨ischen Theaters untersucht, kaum jedoch das Theater in den Kolonien.26 Es liegt nahe, dass die Tourneen sich prima¨r an die britische

sche Oper in Berlin, in: Die Grenzboten 45 (1886), Bd. 2, Nr. 26, S. 619–626; Karl Frenzl, Die Berliner Theater, in: Deutsche Rundschau 51 (1887), S. 457–468; Percy M. Young, Sir Arthur Sullivan, London 1971, S. 143–145; Sven Oliver Mu¨ller, Friction, Fiction and Fashion. German Perceptions of Music Life in Britain in the ‚Long Nineteenth Century“, in: Britain as a Model of Modern Society? German Views, hg. v. Arnd Bauerka¨mper/Christiane Eisenberg, Augsburg 2006, S. 224–243, hier S. 235–236. 22 Vgl. Eduard Hanslick, Der Mikado von Sullivan, in: Musikalisches Skizzenbuch, IV, Moderne Oper, Berlin, 1888, S. 288–295. 23 Tony Joseph, The D’Oyly Carte Opera Company, 1875–1982. An Unofficial History, Bristol 1994, S. 86–92. 24 Vgl. Granville Bantock/F. G. Aflalo, Round the World with ‚A Gaiety Girl‘, London 1896. 25 Gaiety Royalties Book, No. 2 in der Theatersammlung des Victoria & Albert Museums (nicht katalogisiert). Siehe auch Tobias Becker, Entertaining the Empire. Theatrical Touring Companies and Amateur Dramatics in Colonial India, in: The Historical Journal 57 (2014), Nr. 3, S. 699–725. 26 Vgl. Jacqueline S. Bratton, Acts of supremacy. The British Empire and the stage, 1790–1930, Manchester u. a. 1991; J. Ellen Gainor, Imperialism and Theatre. Essays on World Theatre, Drama and

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Bevo¨lkerung an den Peripherien des Empire richtete, die sich nach den Annehmlichkeiten der Metropole zuru¨cksehnten. Indem sie an deren Kultur teilhatten, halfen sie, das Empire in sich zusammenzuschließen. Dennoch partizipierte wohl zumindest die Elite der einheimischen Bevo¨lkerung an der europa¨ischen Theaterunterhaltung. Jedenfalls beklagte der indische Theaterhistoriker Ramanlal Kanaiyalal Yajnik (1895–1960) 1931, dass vor allem die von ihm (wie von vielen britischen Intellektuellen) abscha¨tzig beurteilte Musical Comedy im indischen Theater tiefe Wurzeln geschlagen habe.27

II. Ku¨nstler auf Reisen

Einige Schauspielerinnen und Schauspieler reisten nicht nur fu¨r Gastspiele oder Tourneen ins Ausland, sondern machten dort Karriere. Am einfachsten war dies, wenn in diesem Land die gleiche Sprache gesprochen wurde. So kamen viele der ¨ sterreich, wie Max Reinhardt Berliner Theatergro¨ßen der Jahrhundertwende aus O (1873–1943) oder Fritzi Massary (1882–1969), und ebenso herrschte zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten ein reger Austausch von Talenten.28 Bei Stars wie Sarah Bernhardt spielte es ohnehin keine Rolle, welche Sprache sie auf der Bu¨hne sprachen. Andererseits scheiterte selbst ein so renommierter Ku¨nstler wie Herbert Beerbohm Tree 1909 in Berlin, weil er es gewagt hatte, vor einem deutschen Publi¨ hnliches widerfuhr der Schauspielerin kum Shakespeare auf Englisch zu spielen.29 A Mizzi Gu¨nther (1879–1961), die in Wien die Rolle der lustigen Witwe in Franz Leha´rs (1870–1948) gleichnamiger Operette kreiert hatte. Als der Direktor des Gaiety Theatres, George Edwardes (1855–1915), die Rechte zur Auffu¨hrung der Operette kaufte, engagierte er Mizzi Gu¨nther gleich mit, nur um sie nach wenigen Tagen in London durch die britische Schauspielerin Lily Elsie (1886–1962) zu ersetzen, da Gu¨nther in seinen Augen nicht dem britischen Scho¨nheitsideal entsprach.30 Performance, London 1995; Jeffrey Richards, Imperialism and Music. Britain, 1876–1953, Manchester/New York 2001; Len Platt, Musical Comedy on the West End Stage, 1890–1939, Basingstoke/ New York 2004, S. 59–82; siehe hingegen Lata Singh, Theatre in Colonial India. Play-House of Power, Oxford 2010. 27 Vgl. Ramanlal Kanaiyalal Yajnik, The Indian Theatre. Its Origins and its Later Developments under European Influence. With Special Reference to Western India, London 1933, S. 254. 28 Zum Austausch zwischen Berlin und Wien siehe Julius Bab/Willi Handl, Deutsche Schauspieler. Portra¨ts aus Berlin und Wien. Mit 16 Vollbildern, Berlin 1908; dies., Wien und Berlin. Vergleichendes zur Kulturgeschichte der beiden Hauptsta¨dte Mitteleuropas, Berlin 1918; Wien – Berlin. Stationen einer kulturellen Beziehung, hg. v. Hartmut Grimm, Saarbru¨cken 2000; Vienna Meets Berlin. Cultural Interaction, 1918–1933, hg. v. John Warren, Oxford 2005. 29 Vgl. Tobias Becker, Londoner Theater in Berlin. Deutsch-britische Kulturtransfers und die Anfa¨nge auswa¨rtiger Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identita¨t und Gemeinschaft, hg. v. Erika Fischer-Lichte/Anna Littmann/Matthias Warstat, Tu¨bingen 2012, S. 369–393. 30 Vgl. D. Forbes-Winslow, Daly’s. The Biography of a Theatre, London 1944, S. 77–80; Alan Hyman, The Gaiety Years, London 1975, S. 144–147, 155–156.

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Und doch gibt es durchaus Beispiele fu¨r Schauspieler, die im Ausland langfristig erfolgreich waren. Die in Mannheim geborene Schauspielerin Emmy Wehlen (1887–1977) etablierte sich 1909 mit der aus dem Deutschen u¨bersetzten Musical Comedy „The Dollar Princess“ in London und das obwohl, wie das Theatermagazin Play Pictorial erkla¨rte, ein deutscher Akzent beim britischen Publikum nicht eben beliebt war: „It is seldom that the German accent is wholly acceptable on the English-speaking stage – Miss Emmy Wehlen, however, is a pleasing exception to the general rule. But her personality is so delightful, she has such a piquant method of acting, and she sings so charmingly, that she has already established herself in the good opinion of English playgoers.“31 Außer Wehlen gab es noch eine ganze Reihe von Musical Comedy-Darstellerinnen mit internationalem Hintergrund: Camille Clifford (1885–1971) stammte aus Belgien, Sylvia Grey (1866–1958) aus der Schweiz und Gaby Deslys (1881–1920) aus Tschechien, von wo aus sie mit Stationen in Marseille und Paris nach London gekommen war.32 Der Austausch zwischen dem Kontinent und Großbritannien war auch keine Einbahnstraße. Madge Lessing (1866–1932) beispielsweise ging den umgekehrten Weg. Nachdem sie an verschiedenen Londoner Theatern, unter ihnen das Gaiety Theatre, aufgetreten war, spielte sie 1909 in der aus dem Amerikanischen adaptierten Tanzoperette „Die oberen Zehntausend“ im Metropol-Theater. Richard Schultz (1863–1927), der Direktor des Metropol-Theaters, hatte sie zusammen mit ihrem Kollegen Fred Wright (1871–1936) in einer Operette in der Pariser Music Hall Olympia gesehen und die beiden daraufhin fu¨r die folgende Saison nach Berlin engagiert.33 Fu¨r jene schließlich, die das Esperanto der Musik und des Tanzes beherrschten, war ohnehin einerlei, woher sie stammten. Mehr noch: fu¨r Komponisten, Dirigenten, Musiker und Choreographen, war es bereits um 1900 selbstversta¨ndlich, dass sie eine Zeit im Ausland verbrachten. Siegfried Kracauer bezeichnete die Operette gar als „ein Pha¨nomen der Emigration“, da sowohl Jacques Offenbach als auch seine Hauptdarstellerin Hortense Schneider aus Deutschland stammten.34 Arthur Sullivan studierte von 1858 bis 1861 am Leipziger Konservatorium, wo er in enge Beru¨hrung mit der deutschen Musiktradition kam.35 Wilhelm Meyer Lutz (1829–1903), der langja¨hrige Dirigent und Hauskomponist des Gaiety Theatres, war mit 19 Jahren aus 31 The Play Pictorial 15 (1909), Nr. 88 (The Dollar Princess), S. 16. 32 Zu Clifford siehe Kurt Ga¨nzl, Encyclopedia of the Musical Theatre, Oxford 1994, 1. Bd., S. 283; zu

Grey: Erskine Reid/Herbert Compton, The Dramatic Peerage. Personal Notes and Professional Sketches of the Actors and Actresses of the London Stage, London 1892, S. 95; zu Deslys Ga¨nzl, Encyclopedia (wie oben), 1. Bd., S. 352. 33 „The Drama in Berlin“, in: The Era 10. 4. 1909, S. 21; Vossische Zeitung 25. 4. 1909; Berliner Morgenpost 18. 9. 1910; Das Kleine Journal 1. 5. 1911; siehe auch Walter Freund, Aus der Fru¨hzeit des Berliner Metropoltheaters, in: Kleine Schriften der Gesellschaft fu¨r Theatergeschichte, Heft 19, Berlin 1962; Who was Who in the Theatre, Bd. 4, S. 2628. 34 Kracauer, Offenbach (wie Anm. 18), S. 152. 35 Vgl. Young, Sir Arthur Sullivan (wie Anm. 21), S. 15–31; Meinhard Saremba, Arthur Sullivan. Ein Komponistenleben im viktorianischen England, Wilhelmshaven 1993, S. 35–40.

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Bayern nach England ausgewandert.36 Sein Kollege Ivan Caryll (1861–1921), Autor einiger der erfolgreichsten Musical Comedy-Melodien, stammte aus Belgien.37 Die Mitglieder des Orchesters des Gaiety Theatres stammten aus Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien, der Schweiz und Russland.38 Ebenso hatten die Dirigenten und Hauskomponisten des Metropol-Theaters einen internationalen Hintergrund: Julius Eino¨dshofer (1863–1930) war Wiener und hatte an verschiedenen o¨sterreichischen Theatern gearbeitet, bevor er 1892 nach Berlin gekommen war; Victor Hollaender (1866–1940) stammte aus Schlesien und kam u¨ber Anstellungen in Hamburg, Budapest, Marienbad, Milwaukee, Berlin, Chicago und der Londoner Dependance des amerikanischen Zirkus Barnum & Bailey an das Metropol-Theater.39 Selbst ein so zutiefst mit Berlin verwachsener Komponist wie Paul Lincke (1866–1946) zog nach seinen ersten Erfolgen fu¨r zwei Jahre nach Paris, um dort das Orchester der Folies Berge`re zu leiten.40 Dieser besta¨ndige Austausch von Personen bezeugt nicht nur den Kosmopolitismus des popula¨ren Musiktheaters um 1900, sondern initiierte seinerseits kulturelle Transfers und trug dazu bei, dass die Theaterunterhaltung in den einzelnen Metropolen sich zunehmend anglich.

III. Austausch von Stu¨cken und Inszenierungen

Wa¨hrend Gastspielreisen und Tourneen erhebliche Mittel verschlangen und mit einem großen organisatorischen und logistischen Aufwand verbunden waren, reisten Kompositionen und Libretti am einfachsten. Die Notwendigkeit, immer wieder neue Stu¨cke zu inszenieren, generierte einen konstanten Austausch zwischen den Metropolen, zumal ein Stu¨ck, das bereits irgendwo erfolgreich aufgefu¨hrt worden war, die Hoffnung auf Wiederholung des Erfolgs weckte. Der Dramatiker J. B. Priestley 1894–1984) parodierte diese Praxis in seinem Theaterroman „The Good Companions“ anhand der fiktiven Musical Comedy „The Mascot Girl“, die mu¨helos die Grenzen zwischen den Nationalstaaten u¨berwindet und dabei fortwa¨hrend ihr Genre vera¨ndert: „He had in hand, it seemed, a splendid new musical comedy, that bore the provisional title The Mascot Girl. It had begun as a French farce, but had

36 Hyman, Gaiety (wie Anm. 30), S. 8. 37 Vgl. Ga¨nzl, Encyclopedia (wie Anm. 32), S. 327–328. 38 Vgl. James Jupp, The Gaiety Stage Door. Thirty Years’ of Reminiscences of the Theatre, London 1923,

S. 279–280.

39 Vgl. Friedrich Hollaender, Von Kopf bis Fuß. Mein Leben mit Text und Musik, Mu¨nchen 1965,

bes. S. 7–9, 30f., 43–44; siehe auch Volker Ku¨hn, Victor Hollaender, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 8, Kassel 2002, Sp. 210–212. 40 Vgl. Franz Born, Berliner Luft. Eine Weltstadt und ihr Komponist Paul Lincke, Berlin 1966, S. 73–80; Otto Schneidereit, Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette, Berlin (Ost) 31981, S. 38, 46.

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been taken to Vienna, where it was transformed into an operetta, which was entirely rewritten in New York as a song-and-dance show; and now, the last vestiges of the original plot having been removed, new words and music were being introduced so that it could blossom out again as an English comedy.“41 Priestley u¨bertrieb nur geringfu¨gig. Die Geschichte von Operette und Musical Comedy kennt viele Werke, die a¨hnlich verschlungene Wege zuru¨cklegten wie „The Mascot Girl“. So etwa G. B. Shaws (1856–1950) Komo¨die „Arms and the Man“, die 1894 in London und zehn Jahre spa¨ter in Wien und Berlin Premiere feierte. 1908 entlehnten die Bu¨hnenschriftsteller Rudolf Bernauer (1880–1953) und Leopold Jacobson (1878–1942) den Plot des Stu¨cks fu¨r das Textbuch der Operette „Der tapfere Soldat“ – ohne allerdings Autor oder Verleger in Kenntnis zu setzen. Als Shaw davon erfuhr, verbat er sich die von ihm nicht autorisierte Adaptation. Nur gegen die Versicherung, dass weder die Namen der Originalfiguren noch Teile des Originaldialogs verwendet worden waren, ließ er sich u¨berzeugen, die beiden Autoren nicht zu verklagen. Zur deren Erleichterung konnte die Operette wie geplant im November 1908 in Wien und im darauffolgenden Monat in Berlin uraufgefu¨hrt werden. Da „Der tapfere Soldat“ in beiden Sta¨dten volle Ha¨user bescherte, interessierte sich alsbald das Ausland fu¨r das Stu¨ck. Ein amerikanischer Theaterdirektor kaufte es, ließ es ins Englische u¨bersetzen und brachte es 1909 als Musical Comedy unter dem Titel „The Chocolate Soldier“ am Broadway heraus, wo es einer der gro¨ßten Erfolge des Jahres war. Der Kreis schloss sich, als ein britischer Unternehmer die Rechte erwarb und das Stu¨ck im West End produzierte, wo es 500 Auffu¨hrungen erlebte. 1911 folgten Produktionen in Sydney und Paris, sowie 1912 in Budapest.42 Wie das fiktive The Mascot Girl so ist Der tapfere Soldat ein Beispiel fu¨r grenzu¨berschreitenden Austausch im Theater und die damit einhergehende kulturelle Anpassung. Stu¨cke wurden nicht lediglich u¨bersetzt, Genrebezeichnung, Plots und Charaktere wurden vera¨ndert und auch die Musik u¨berarbeitet, weshalb ihnen ihre Herkunft oft kaum noch anzumerken war. ¨ bersetzung eines Stu¨cks kam es vor dem Zweiten Weltkrieg bereits, Neben der U wenn auch erst selten, zur Verpflanzung vollsta¨ndiger Inszenierungen von einer Metropole in die andere. Das eindrucksvollste Beispiel dafu¨r ist „Im weißen Ro¨ssl“. Erik Charell (1894–1874),Direktor des Großen Schauspielhauses in Berlin, grub 1930 dieses Erfolgsstu¨ck der Kaiserzeit, das die Urlaubserlebnisse einiger Berliner im Salzkammergut zum Gegenstand hatte, wieder aus, und brachte es in einer von Ralph Benatzky (1884–1957) grundlegend u¨berarbeiteten Version auf die Bu¨hne. Vielleicht war es die Sehnsucht nach der guten alten Vorkriegszeit, vielleicht war es die opulente 41 J. B. Priestley, The Good Companions, New York 1929, S. 591. 42 Vgl. Rudolf Bernauer/Leopold Jacobson, Der tapfere Soldat. Soufflierbuch mit sa¨mtlichen Regie-

bemerkungen. Operette in 3 Akten. Mit Benu¨tzung von Motiven aus Bernhard Shaws Helden, Wien 1908; Bernard Shaw, Advice to a Young Critic, and Other Letters. Notes and Introduction by E. J. West, New York 1955, S. 204–205; Rudolf Bernauer, Das Theater meines Lebens, Berlin 1955, S. 296–270; siehe auch Archibald Henderson, George Bernard Shaw. Man of the Century, New York 1956, S. 540–543; Ga¨nzl, Encyclopedia, Bd. 2 (wie Anm. 32), S. 2014–2015.

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Inszenierung Charells, in jedem Fall entwickelte sich „Im weißen Ro¨ssl“ zu einer der national wie international erfolgreichsten Operettenproduktionen der dreißiger Jahre.43 In Berlin erlebte es weit u¨ber 400, im Wiener Stadttheater sogar 700 Auffu¨hrungen.44 Dann kaufte der britische Impressario Oswald Stoll (1866–1942) die Produktion fu¨r das Londoner Coliseum Theatre – und zwar nicht lediglich das Stu¨ck, sondern die gesamte Inszenierung, die Erik Charell perso¨nlich nach dem Berliner Vorbild gestaltete. Der Erfolg gab ihnen recht: das Stu¨ck ging 651 Mal u¨ber die Bu¨hne und danach auf Tournee nach Manchester, Birmingham und in viele weitere Sta¨dte.45 1932 kam es dann im Pariser The´aˆtre Mogador als „L’Auberge du Cheval Blanc“ heraus, wiederum in der Inszenierung von Charell und wiederum a¨ußerst erfolgreich mit 700 Auffu¨hrungen.46 Inzwischen verhandelte Charell bereits mit Theatermanagern aus New York, wo „The White Horse Inn“ 1936 Premiere feierte. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits in zwo¨lf anderen Sta¨dten zu sehen gewesen.47 Indem Charell seine Inszenierung nur als Paket verkaufte, u¨ber das er stets die Kontrolle behielt, trieb er die Standardisierung des Theaters voran und nahm ein Schlu¨sselprinzip der spa¨teren Megamusicals vorweg.48

IV. Wahrnehmung des Austauschs

Der wachsende internationale Austausch im Bereich des popula¨ren Musiktheaters war ein Lieblingsthema vieler Kritiker. Nur die wenigsten freuten sich daru¨ber, ver¨ berwiegend schlugen mehrt Stu¨cke aus anderen La¨ndern zu sehen zu bekommen. U sie kritische To¨ne an, wobei nicht selten ein geradezu kriegerischer Jargon auffa¨llt. So galt die Adaption einiger Pariser Lustspiele und Possen dem Theaterkritiker Heinrich Stu¨mcke (1872–1923) als „friedliche franzo¨sische Invasion“, wenn nicht gar als „Franzosenherrschaft auf der Bu¨hne“.49 Und als die Wiener und Berliner Operette

43 Vgl. Marita Berg, ‚Det Jescha¨ft ist richtig!‘. Die Revueoperetten des Erik Charell, in: Im weißen Ro¨ssl.

Zwischen Kunst und Kommerz, hg. v. Ulrich Tadday, Mu¨nchen 2006, S. 59–79, hier S. 74–75.

44 Christian Glanz, Wien und Berlin als ‚wechselseitige Exilorte‘ der Musik, in: Vienna Meets Berlin (wie

Anm. 28), S. 229–242, hier S. 237.

45 Vgl. Felix Barker, The House that Stoll Built. The Story of the Coliseum Theatre, London 1957,

S. 205–207; Richard Traubner, Operetta. A Theatrical History, New York 2003, S. 327; Richard Norton, ‚So this is Broadway‘. Die abenteuerliche Reise des Ro¨ssl durch die englischsprachige Welt, in: Im weißen Ro¨ssl (wie Anm. 43), S. 151–170, hier 152–156. 46 Vgl. Florian Bruyas, Histoire de l’ope´rette en France, 1855–1965, Lyon 1974, S. 520f., 531; Berg, ‚Det Jescha¨ft ist richtig!‘ (wie Anm. 43), S. 75. 47 Vgl. Erik Charell, Under the American Plan, in: New York Times 21. 2. 1937; Traubner, Operetta (wie Anm. 45), S. 327f.; Berg, ‚Det Jescha¨ft is richtig!‘ (wie Anm. 43), S. 76; Norton, ‚So this is Broadway‘ (wie Anm. 45), S. 156–166. 48 Vgl. Rebellato, Theatre & Globalization, S. 41 (wie Anm. 7). 49 Heinrich Stu¨mcke, Von den Berliner Theatern 1899/1900. Teil 3, in: Bu¨hne und Welt 2 (1899/1900), 1. Bd., S. 124–126, hier S. 124; ders., Von den Berliner Theatern. Teil 3, in: Bu¨hne und Welt 5 (1903/04), 1. Bd., S. 122–124, hier S. 124.

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international in Mode kam, war in London und Paris von einer „Austro-German invasion“ bzw. einer „invasion austro-hongroise“ die Rede.50 Nur in einem war man sich u¨ber die Grenzen hinweg einig: dass die gro¨ßte Gefahr fu¨r die Kultur des eigenen Landes von Amerika ausging und das bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Ernst von Wolzogen (1855–1934), Gru¨nder des ersten deutschen Kabaretts, sah 1906 in der „Abwehr des Amerikanismus eines der ernsthaftesten Probleme fu¨r unser Theater¨ belwesen“.51 Der Theaterkritiker Hermann Kienzl (1865–1928) fu¨hrte 1907 die „U sta¨nde des großsta¨dtischen Theaterbetriebes [...] auf den Amerikanismus der deutschen Reichsmetropole“ zuru¨ck.52 Im gleichen Jahr sprachen zwei Londoner Theaterkritiker von einer „American invasion“, die das britische Theater in seinen Grundfesten bedrohe.53 Nach dem Ersten Weltkrieg spitzte sich diese Kritik noch weiter zu. Auch in Berlin und Paris wurde nun immer ha¨ufiger die „Amerikanisierung des Theaters“ und die „amerikanische Invasion“ beklagt.54 Nicht selten war dieser Antiamerikanismus rassistisch konnotiert, wie beispielsweise bei dem franzo¨sischen Diplomaten Octave Homberg (1876–1941), der in „L’impe´rialisme ame´ricain“ das Moulin Rouge einer „bande de me´tis ne´gro-new-yorkais“ zum Opfer fallen sah.55 Dieser Antiamerikanismus bezog sich vor allem auf zwei Pha¨nomene: auf die Pra¨senz amerikanischer Stars, Ensembles und Stu¨cke in Europa und auf die Kommerzialisierung des Theaters. Franzo¨sische Theaterautoren empfanden die neue Situation als „a strange reversal of the day when Paris not only wrote its own plays, but largely supplied those of Europe and America“.56 Tatsa¨chlich kann von einer Umkehrung aber nicht gesprochen werden. Der transatlantische Austausch ho¨rte lediglich auf, eine Einbahnstraße zu sein. Die englische Schriftstellerin Daphne du Maurier (1907–1989), selbst Tochter eines Schauspielers, gab der „American invasion“ die Schuld daran, dass im Theater nur noch der Gewinn za¨hlte.57 Wie viele andere empfand sie dessen Kommerzialisierung als ‚Amerikanisierung‘, weil sie sich in den USA am umfassendsten vollzogen hatte. Tausende von u¨ber das ganze Land verstreuten Theatern befanden sich hier im Besitz einer Handvoll Konzernen und Syndikaten. Dass sich a¨hnliche Tendenzen nun auch in Europa beobachten ließen, war aber vielmehr strukturellen Faktoren geschuldet, als dem Umstand, dass einige amerikanische

50 Leslie Rees, Hold Fast to Dreams. Fifty Years in Theater, Radio, Television, and Books, Sydney 1982,

S. 86; Bruyas, Histoire de l’ope´rette (wie Anm. 46), S. 383.

51 Ernst von Wolzogen, Theatralische Probleme [1906], in: ders., Ansichten und Aussichten. Ein Ern-

tebuch. Gesammelte Studien u¨ber Musik, Literatur und Theater, Berlin 1908, S. 298–342, hier S. 314.

52 Hermann Kienzl, Die Bu¨hne ein Echo der Zeit, 1905–1907, Berlin 1907, S. 84. 53 William Archer/H. Granville Barker, A National Theatre. Scheme and Estimates, London 1907,

S. vi.

54 Friedrich Wallisch, Amerikanisierung des Theaters, in: Neue Schaubu¨hne 3 (1921), Heft 6,

S. 135–136; Rudolf Pechel, Berliner Theater, in: Deutsche Rundschau 221 (1929), 4. Bd., S. 268–270, hier S. 269; fu¨r Paris siehe French Playwrights Resent American Invasion, in: Literary Digest 104 (1930), Nr. 5, S. 27. 55 Octave Homberg, L’impe´rialisme ame´ricain, Paris 1929, S. 19–20, zit. n. Egbert Klautke, Unbegrenzte Mo¨glichkeiten. ‚Amerikanisierung‘ in Deutschland und Frankreich (1900–1933), Stuttgart 2003, S. 267. 56 French Playwrights Resent American Invasion (wie Anm. 54). 57 Daphne du Maurier, Gerald. A Portrait, London 1934, S. 206.

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Theatermanager ihre Fu¨hler u¨ber den Atlantik ausstreckten. Denn gerade das Londoner Theater war schon seit der Epoche Shakespeares kommerziell organisiert. Das wechselseitige Ausrufen kultureller Invasion verweist auf die sich besta¨ndig vera¨ndernden Konjunkturen in der Theaterproduktion. Obwohl mal die eine, mal die andere Metropole den Ton angab, bedeutete dies keineswegs, dass alle anderen in deren Abha¨ngigkeit gerieten oder dass nur noch ausla¨ndische Stu¨cke inszeniert wurden. Ebenso wenig wie die Amerikaner vor 1900 aufgrund franzo¨sischer Vaudevilles und britische Shakespeare-Interpreten zu Libertins oder treuen Untertanen ihrer Majesta¨t geworden waren, verwandelten sich die Europa¨er nun dank Jazz und Josephine Baker in Amerikaner. Und amerikanische Unternehmer engagierten weiterhin europa¨ische Stars und kauften europa¨ische Stu¨cke wie „Im weißem Ro¨ssl“. Doch die vielen Stu¨cke, die ins Ausland exportiert wurden, fielen einheimischen Beobachtern sehr viel weniger auf als die von dort importierten: So oft in Berlin von Amerikanisierung die Rede war, so unbemerkt blieb der kurzzeitige, globale Siegeszug der Berliner Operette. Und schließlich verdra¨ngte der ausla¨ndische Einfluss nicht einfach die einheimische Produktion, wie viele befu¨rchteten, sondern spornte diese vielmehr an. So ha¨tten ohne Offenbach vielleicht weder Gilbert und Sullivan noch Johann Strauß damit begonnen, Operetten zu schreiben. Wie die Ressentiments gegen Theaterimporte aus anderen La¨ndern zeigen, trugt der Austausch kaum zu einem besseren Versta¨ndnis zwischen den Nationen bei. ¨ berfremStattdessen lo¨ste er immer wieder Debatten u¨ber Invasion und kulturelle U dung aus. Der Journalist Harry Kahn (1883–1970) erkannte dies schon 1922. In einem Artikel u¨ber „Austauschtheater“ schrieb er: „Vo¨lkerversta¨ndigung ist eine scho¨ne Sache. Aber es ist keine so leichte Sache, wie viele Leute sich einbilden.“ Der „Modemeinung“, Anna¨herung sei durch Austausch zu erreichen, erteilte er eine Absage: „Man darf meist noch von Glu¨ck sagen, wenn das Ergebnis all dieser vordringlichen und nicht immer billigen Mitmacherei gleich Null bleibt und sich nicht direkt ins Negative auswa¨chst, indem sie, statt zum Abbau, zur Besta¨tigung oder gar Versta¨rkung alter Vorurteile der Vo¨lker gegeneinander beitra¨gt.“58 Damit nahm Kahn ein Ergebnis der Kulturtransfer-Forschung vorweg, die immer wieder aufgezeigt hat, dass erfolgreiche Austauschprozesse keineswegs zu Anna¨herungen fu¨hrten, sondern im Gegenteil Entfremdung und Abgrenzungsbestrebungen bewirken konnten.59

58 Harry Kahn, Austauschtheater, in: Die Weltbu¨hne 24 (1922), S. 987–990, hier S. 987. 59 Fu¨r die Zeit der Jahrhundertwende siehe Christiane Eisenberg, ‚English sports‘ und deutsche Bu¨rger.

Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn 1999; sowie die Beitra¨ge in Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Affinity, hg. v. Dominik Geppert/Robert Gerwarth, Oxford 2008.

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V. Schlussfolgerungen

Die Internationalita¨t des popula¨ren Musiktheaters um 1900 wird noch deutlicher im Vergleich mit der Oper. Wie Historiker neuerdings gezeigt haben, ging die Oper im 19. Jahrhundert u¨berall in Europa eine enge Allianz mit den jeweiligen Nationalbewegungen ein. Jede Nation legte Wert auf eine eigene, nationale Spielart der Oper und betrachtete den Bau repra¨sentativer Opernha¨user als eine nationale Aufgabe.60 Natu¨rlich bedeutet dies nicht, dass im Bereich der Oper kein Austausch stattfand, war es doch gerade die Dominanz der italienischen und franzo¨sischen Oper, die Carl Maria von Weber (1786–1826) und Richard Wagner (1813–1883) zu ihren Werken anspornte, bzw. die Wagner-Begeisterung in Großbritannien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Rufe nach einer genuin britischen Musikkultur laut werden ließ.61 Im Vergleich zu der nationalen Bedeutung, die der Oper beigemessen wurde, nimmt sich die vereinzelte Kritik am Import ausla¨ndischer Operetten sehr gema¨ßigt aus. Operette und Musical Comedy waren zugleich lokaler und urbaner, wie auch internationaler als die Oper. Ein Operettentheater auf dem gru¨nen Hu¨gel, wie Wagners Festspielhaus in Bayreuth, wa¨re undenkbar gewesen. Operettenkultur war Metropolenkultur. Ihre jeweiligen Spielarten waren stark mit einzelnen Metropolen verbunden. Ohne die Infrastruktur und die Atmospha¨re der Weltstadt Paris ist die Karriere von Jacques Offenbach undenkbar, der umgekehrt seiner Wahlheimat in „La vie parisienne“ ein Denkmal setzte. Es war diese Verbindung zwischen Stadt und Komponist, derentwegen Siegfried Kracauer Offenbach als Folie fu¨r seine „Stadtbiographie“ von Paris unter dem Zweiten Kaiserreich wa¨hlte.62 Gilbert und Sullivan waren so eng mit dem viktorianischen London verbunden, dass sich ihr Wirken entlang von Orten und Geba¨uden in dieser Stadt nacherza¨hlen la¨sst.63 Und die Wiener und Berliner Operette schließlich tragen ebenso wie die West End Musical Comedy oder das Broadway Musical den lokalen Bezug schon im Namen.64 Die Folge dieser Ortsverbundenheit war nun nicht Provinzialita¨t, sondern im Gegenteil Kosmopolitismus, handelte es sich bei den genannten Orten doch um die

60 Vgl. Music and German National Identity, hg. v. Celia Applegate/Pamela Maxine Potter, Chicago

2002; Philipp Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien u. a. 2006; ders., Das Europa der Nationalkulturen. Die Nationalisierung und Europa¨isierung der Oper im „langen“ 19. Jahrhundert, in: Journal of Modern European History 5 (2007), Nr. 1, S. 39–66; Sven Oliver Mu¨ller, Einleitung. Musik als nationale und transnationale Praxis im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 22–38. 61 Vgl. Sven Oliver Mu ¨ ller, A musical clash of civilisations? Musical Transfers and Rivalries in the 20th Century, in: Wilhelmine Germany and Edwardian Britain (wie Anm. 59), S. 305–329. 62 Vgl. Kracauer, Offenbach (wie Anm. 18), S. 10. 63 Vgl. Andrew Goodman, Gilbert and Sullivan’s London. Edited by Robert Hardcastle, London 2000. 64 Zur Verbindung von Theatergenres mit urbanen Ra¨umen siehe Marvin A. Carlson, The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor 2003, S. 140; ders., Places of Performance (wie Anm. 1), bes. S. 14–37.

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Weltsta¨dte der Zeit. Wie Siegfried Kracauer aufgezeigt hat, fielen die ersten Erfolge ¨ ra“ zusammen, namentlich mit Offenbachs mit „dem Beginn der internationalen A der Pariser Weltausstellung von 1855. Den vielen damals nach Paris „Zugereisten“ habe Offenbach eine Musik geboten, „die jeder unmittelbar verstehen konnte“: kein „schwer durchdringliches Lokalkolorit“, sondern „eine Art Esperanto“.65 Ganz ohne Lokalkolorit kam allerdings kaum eine Operette, kaum ein fru¨hes Musical aus. Vielmehr waren es gerade Anspielungen auf lokale, aber zugleich international bekannte Eigenarten, die einen Teil des Reizes ausmachten. Wo Anspielungen auf o¨rtliche Eigenheiten dem Publikum unversta¨ndlich bleiben mussten, wurden diese ¨ bersetzung und Adaption eines Stu¨ckes mit lokalen Bezu¨gen der im Rahmen der U neuen Umgebung u¨berschrieben. So wurden die Berliner Charaktere „Im Weißen Ro¨ssl“ in London zu Briten und in Paris zu Franzosen. Im Megamusical gibt es diese Anpassung an den lokalen Kontext nicht mehr, aber selbst hier wird dem Lokalen eine Nische eingera¨umt: „During a light moment in Disney’s „The Lion King“, Zazu the bird is supposed to sing a cheerful but trite tune [...] On Broadway, that song is „Supercalifragilisticexpialidocious“. In Australia, it’s the country’s familiar „Tie Me Kangaroo Down, Sport“. On a Shanghai stint, it was a ubiquitous Chinese ad jingle. In Germany, the bird sings the „Heidi“ theme song, then yodels.“66 Dies ist nun weniger ein Beispiel fu¨r Glokalisierung als ein Beleg dafu¨r, dass im globalen Produkt des Megamusicals das Lokale nur noch als drollige Einlage dient, die an passender Stelle eingefu¨gt wird, ohne die Gesamtstruktur des Produktes zu vera¨ndern, wa¨hrend es um 1900 immer noch eine zentrale Rolle spielte. Jenseits der Frage nach Ortsverbundenheit und Lokalkolorit fand das popula¨re Musiktheater in den Metropolen seine materiellen Voraussetzungen. Nur in Sta¨dten wie London, Paris, Berlin, Wien und New York gab es ein ausreichend großes Publikum, gab es viele miteinander konkurrierende Theater, die sta¨ndig auf der Suche nach neuen Stu¨cken und Attraktionen waren, gab es die notwendige Infrastruktur, angefangenen bei Schauspielschulen und Konservatorien u¨ber Bu¨hnenausstatter, Theateragenturen und Verlagen bis hin zu Bahnho¨fen und Ha¨fen. Die Metropole war Talentmagnet und Trendsetter zugleich: „Jeder ehrgeizige Bu¨hnenku¨nstler bemu¨hte sich um einen Ruf nach Berlin, denn ein erfolgreiches Gastspiel in Berlin galt als beste Empfehlung bei Bewerbungen um ein Engagement.“67 Doch lockte die Metropole nicht nur ambitionierte Ku¨nstlerinnen und Ku¨nstler an, ihr Beispiel diente u¨berdies der Provinz als Vorbild. Schon vor 1900 kritisierten besorgte Stimmen, die „große Mehrzahl“ der deutschen Theater habe sich „in ein Abha¨ngigkeitsverha¨ltnis zu Berlin

65 Kracauer, Offenbach (wie Anm. 18), S. 151. 66 Ellen Gamermann, Exporting Broadway, in: The Wall Street Journal 23. 6. 2010, http://

online.wsj.com/article/SB10001424052748704220704575367132050234118.html [25. 2. 2011]. 67 Berns, Das Virtuosengastspiel (wie Anm. 15), S. 142.

Theater auf Reisen

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begeben[,] das durchaus zu beklagen ist. Es giebt bedeutende Theater, die kein Stu¨ck auffu¨hren, ehe es die Feuerprobe in Berlin bestanden hat.“68 Diese kulturelle Vorbildfunktion war der eine Faktor, durch den sich die Metropole von der bloß großen Stadt unterschied. Der andere war die ebenso von Austausch wie von Konkurrenz bestimmte Vernetzung mit anderen Metropolen. Berlin, London, Paris, Wien und New York waren Teil eines Metropolenetzwerkes und boten den „‚transnationalen‘ Beziehungen eine Existenzgrundlage“.69 Und schließlich bildete sich aufgrund vergleichbarer soziokultureller Entwicklungen in den verschiedenen Metropolen, des Austausches zwischen ihnen und gestiegener Reiseta¨tigkeit ein „homogenes Weltstadt-Publikum“ heraus, dessen Geschmack sich u¨ber die nationalen Grenzen hinweg auffallend glich.70 Wie la¨sst sich nun die hier in Umrissen nachgezeichnete rapide Internationalisierung des Theaters um 1900 erkla¨ren? Ein zentraler Faktor war zweifelsohne die Revolution in Transport und Kommunikation, die den Austausch zwischen den Nationen und Metropolen kontinuierlich vereinfachte, beschleunigte und gu¨nstiger machte. Reisende brachten Trends und Moden aus anderen La¨ndern mit nach Hause, wie die Wiener und Londoner Besucher der Pariser Ausstellungen die Operetten Offenbachs. Umgekehrt ließen sich nun ganze Ensembles und Theaterproduktionen u¨ber den Atlantik oder in die Kolonien schicken, ohne dass allein schon die Transportkosten den Gewinn aufsogen. Damit ist bereits der zweite wichtige Faktor genannt: die Kommerzialisierung des Theaters. Mit dem rapiden Bevo¨lkerungswachstum der Metropolen im 19. Jahrhundert stieg die Nachfrage nach Unterhaltung, die ihrerseits wiederum zur Gru¨ndung immer neuer Theater fu¨hrte. Diese Theater konkurrierten nun um eine nicht im gleichen Maße wachsende Zahl von Autoren und Stu¨cken. Vor diesem Hintergrund war es nur versta¨ndlich, dass Theaterunternehmer und -direktoren zunehmend in anderen Sta¨dten und La¨ndern nach Stu¨cken suchten, zumal ein Stu¨ck, das bereits irgendwo beim Publikum auf Zuspruch gestoßen war, Hoffnungen weckte, dass sich dieser Erfolg wiederholte. So la¨sst sich also festhalten, dass sich viele der von Jonathan Burston und Dan Rebellato fu¨r das Megamusical herausgearbeiteten Merkmale bereits im popula¨ren Musiktheater der Jahrhundertwende beobachten lassen. Zwar erreichte keines seiner Produkte jenen Grad von Standardisierung und Stromlinienfo¨rmigkeit, wie er aktuelle Megamusicals auszeichnet, ganz zu schweigen von der Gro¨ße des Publikums oder der Ho¨he der Einspielergebnisse. Dennoch nahm es viele der heute u¨blichen Produktions- und Distributionsmethoden vorweg. Hinsichtlich ihrer globalen Reichweite schließlich konnten es manche der betrachteten Operetten und fru¨hen Musicals durchaus mit den heutigen Megamusicals aufnehmen. Obwohl diese

68 Das Theatermonopol Berlins, in: Der Kunstwart 5 (1891/92), Nr. 10, S. 148–149, hier S. 149. 69 Vgl. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 12), S. 382, dort auch zum Netzwerk,

S. 382–385.

70 Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung. U ¨ ber Berliner Lichtspielha¨user [1926], in: ders., Das

Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt a. M. 1977, S. 311–317, hier S. 313.

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fraglos eine neue Stufe in der Entwicklung des kommerziellen Unterhaltungstheaters markieren, stehen sie doch zugleich in einer bis ins 19. Jahrhundert zuru¨ckreichenden Tradition. Ob Gastspiel, Tournee oder Festspiel, ob Adaption eines Stu¨cks oder Transfer einer vollsta¨ndigen Inszenierung, all diese Elemente des internationalen Austauschs im Bereich des Theaters lassen sich schon um 1900 finden. Neue Formen sind seitdem nicht hinzugekommen.

NEUES BAUEN – NEUES WOHNEN – NEUE FESTE Vision und Wirklichkeit urbaner Gemeinschaftsrituale am Beispiel der Hufeisensiedlung in Berlin-Britz von Henning Holsten

„Großstadtprobleme“ lautete der Untertitel der Zeitschrift Das neue Berlin, die Anfang 1929 erstmals an den Kiosken der Reichshauptstadt auslag. Herausgeber war der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner, Schriftleiter war der Architektur- und Kunstkritiker Adolf Behne.1 Ihre selbst gestellte Aufgabe: die Neugestaltung Berlins im Sinne eines „Weltbu¨rgergeistes, der u¨ber den lokalpatriotischen Bu¨rgergeist des alten Schlages hinauswachsen muß. Dieser Weltbu¨rgergeist wird sich auch seinen Stadtko¨rper nach Inhalt und Form zu schaffen haben“.2 Auf der Suche nach einer „weltsta¨dtischen Form“ fu¨r das neue Berlin pra¨sentierten Wagner und Behne in den folgenden Ausgaben reich illustrierte Pla¨ne zur architektonischen Umgestaltung des Alexanderplatzes und zur Umwandlung des Ko¨nigsplatzes in einen Platz der Republik.3 Das „Formproblem der werdenden Weltstadt Berlin“, attestierte der preußische Ministerialrat Walter C. Behrendt, bestand auch in einem radikal vera¨nderten Repra¨sentationsanspruch der Republik gegenu¨ber der Monarchie. Eine moderne Metropole brauche keine Prachtalleen fu¨r Truppenparaden und monumentale Herrschaftsbauten, sondern „eine Form, die auf dem funktionell gegliederten Grundplan ganze Stadtteile zu einer permanenten Ausstellung der gesamten wirtschaftlichen, geistigen und ku¨nstlerischen Leistungen des Landes werden la¨ßt, deren Kapitale sie ist“.4 Diese Visionen des Neuen Berlin spiegeln die Aufbruchstimmung einer jungen Generation von Stadtplanern und Architekten, die sich nach dem Ersten Weltkrieg 1 Siehe zu Wagner: Ludovica Scarpa, Martin Wagner und Berlin. Architektur und Sta¨dtebau in der Wei-

marer Republik, Braunschweig 1986, und zu Behne: Adolf Behne. Essays zu seiner Kunst- und Architektur-Kritik, hg. v. Magdalena Bushart, Berlin 2000. 2 Martin Wagner, Das neue Berlin – die Weltstadt Berlin, in: Das neue Berlin 1 (1929), S. 5. Vorbild war die Zeitschrift Das neue Frankfurt, die Wagners Frankfurter Kollege Ernest May seit 1926 herausgab. Zu den Autoren des Neuen Berlin za¨hlten neben fu¨hrenden Stadtplanern und Architekten auch Großstadtliteraten wie Gottfried Benn und Alfred Do¨blin. Der einzige Jahrgang der Zeitschrift wurde 1988 als Reprint erneut aufgelegt. 3 Martin Wagner, Das Formproblem eines Weltstadtplatzes, in: Das neue Berlin 1 (1929), S. 33–35, und ders., Hugo Ha¨ring und Erich Mendelsohn: Der Platz der Republik, in: ebd., S. 69–72 u. 145f. 4 Walter Curt Behrendt, Berlin wird Weltstadt – Metropolis im Herzen Europas, in: Das neue Berlin 1 (1929), S. 100.

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anschickten, der Hauptstadt eines neuen, modernen, republikanischen Deutschland ein Gesicht zu geben.5 Durch die Verwaltungsreform von 1920 war Groß-Berlin zur drittgro¨ßten Stadt der Welt geworden. Neben London, Paris und New York befand sich die brandenburgische „Kolonialstadt“ jedoch architekturgeschichtlich noch immer in der „kla¨glichen Rolle des Emporko¨mmlings“, wie Bruno Taut im zweiten Heft der Zeitschrift beklagte.6 Statt andere Metropolen zu kopieren, empfahl der beru¨hmte Architekt, charakteristische Eigentu¨mlichkeiten wie den ausgepra¨gten „Landcharakter“ des weitla¨ufigen Berliner Stadtgebietes zum Ausgangspunkt einer beispielhaften Neugestaltung zu machen: „Berlins Mission kann vielleicht darin liegen, den Umwandlungsprozeß zu einem neuen Menschentum zu beschleunigen, na¨mlich die Durchdringung des Stadtelements mit dem la¨ndlichen und ebenso umgekehrt, die Aufhebung des Gegensatzes Bauer und Sta¨dter und die Synthese daraus“.7

Abb. 1: Postkarte der Großsiedlung Britz um 1930 Quelle: Museum Neuko¨lln

5 Vgl. Martin Wagner 1885–1957. Wohnungsbau und Weltstadtplanung. Die Rationalisierung des

Glu¨cks, hg. v. d. Akademie der Ku¨nste, Berlin 1985; Harald Bodenschatz, Platz frei fu¨r das neue Berlin! Geschichte der Stadterneuerung in der „gro¨ßten Mietskasernenstadt der Welt“ seit 1871, Berlin 1987, und Sabine Hake, Topographies of Class. Modern Architecture and Mass Society in Weimar Berlin, Ann Arbor 2008. 6 Bruno Taut, Via London – Paris – New York – Neu-Berlin, in: Das neue Berlin 1 (1929), S. 25. Vgl. zur Definition Berlins als „Kolonialstadt“ bereits Karl Scheffler, Berlin. Ein Stadtschicksal, Berlin 1910. 7 Taut, Via London (wie Anm. 6), S. 30.

Neues Bauen – Neues Wohnen – Neue Feste

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Den ersten Baustein fu¨r diese Stadt-Land-Verschmelzung in weltbu¨rgerlicher Absicht hatten Wagner und Taut wenige Jahre zuvor selbst gelegt. Die von ihnen entworfenen Großsiedlungen in Zehlendorf und Britz wurden ausdru¨cklich als „Auftakt“ fu¨r die sta¨dtebauliche Neugestaltung Berlins von der Peripherie aus angeku¨ndigt: „Von hier aus allein weht frische Luft und sie wird auch das Innere Berlins durchwehen“.8 Obwohl der frische Reformwind schon bald von den wirtschaftlichen und politischen Stu¨rmen der Endphase der Weimarer Republik weggeblasen wurde, entstanden bis Anfang der 1930er Jahre weitere Großsiedlungen im Stil des „Neuen Bauens“, die als „Siedlungen der Berliner Moderne“ heute Weltkulturerbestatus besitzen.9 Unter diesen kommt der ab 1925 erbauten Britzer Hufeisensiedlung eine besondere Modellfunktion als Ausha¨ngeschild und Ikone des „Neuen Wohnens“ zu. Wa¨hrend die architekturgeschichtliche Bedeutung der Siedlung heute unbestritten ist, ist sie als Schauplatz einer avantgardistischen Festkultur nahezu unbekannt.10 Die Zeitschrift Das neue Berlin existierte nur ein einziges Jahr. Die Bauwerke ihrer Gru¨nderva¨ter faszinieren bis heute. Das Schicksal der von ihnen entworfenen und gestalteten konkreten Gemeinschaftsutopien ist dagegen weitgehend vergessen. Im Folgenden soll zuna¨chst geschildert werden, wie sich die neue Architektursprache in den Vorstellungen ihrer Vordenker mit einer neuen Wohnkultur im Zeichen der „Gemeinschaft“ verband. Konkretisiert wurde dieses Gemeinschaftsideal in einem korrespondierenden Konzept „proletarischer Festkultur“, das dem der Architektur eingeschriebenen „Kollektivgeist“ in einem spezifischen Festritual Ausdruck verleihen sollte. Dem „funktionalistischen Totalitarismus“ der Theoretiker und Planer wird dann der Blick auf die konkreten Praktiken der Britzer Siedlungsbewohner entgegengestellt.11 Eine detaillierte Beschreibung der Institutionen und Konflikte der Akteure vor Ort soll es ermo¨glichen, insbesondere die politischen Interessen und Strategien hinter der Festinszenierung aufzuzeigen. Durch die Beru¨cksichtigung von Kritik und Konkurrenzveranstaltungen der politischen Gegner soll das von den zeitgeno¨ssischen Medien vermittelte Bild einer im Fest vereinten homogenen Siedlungsgemeinschaft in Frage gestellt werden. Ein kurzer Abriss der Entwicklung der Britzer Festkultur u¨ber die politische Epochenschwelle 1933/45 hinaus, fu¨hrt schließlich zuru¨ck zu der Ausgangsfrage, inwieweit die Bewohner der Hufeisensiedlung den in sie gestellten Erwartungen der Planer und Architekten gerecht werden konnten.12

8 Ebd., sowie Wagner, Das neue Berlin – die Weltstadt Berlin (wie Anm. 2), S. 4. 9 Jo¨rg Haspel/Annemarie Jaeggi, Siedlungen der Berliner Moderne, Mu¨nchen 2007. 10 Vgl. als einzige Ausnahme Thilo Hilpert, Hufeisensiedlung Britz 1926–1980. Ein alternativer Sied-

lungsbau der 20er Jahre als Studienobjekt, Berlin 1980, S. 91f.

11 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 202. 12 Der Aufsatz basiert auf den Ergebnissen einer mikrohistorischen Studie, die das Museum Neuko¨lln

2013 im Rahmen der Ausstellung „Das Ende der Idylle? Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933“ pra¨sentiert hat. Vgl. Henning Holsten, Britzer Festkultur 1926 bis 1939, im gleichnamigen Katalogband, hg. v. Udo Go¨sswald/Barbara Hoffmann, Berlin 2013, S. 104–148.

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I. Taut und Tautz: Gemeinschaftsvisionen in Architektur und Festkultur

„Licht, Luft und Sonne!“ das waren die Schlagworte der Wohnreformer, die bereits seit der Jahrhundertwende den beru¨chtigten Berliner Mietskasernen den Krieg erkla¨rten. Mit der Britzer Gartensiedlung „Ideal“, errichtet von der gleichnamigen gewerkschaftseigenen Baugenossenschaft, entstand im spa¨teren Arbeiterbezirk Neuko¨lln bereits 1912 eine wegweisende Synthese von Gartenstadt- und Genossenschaftsidee. Auch Bruno Taut sammelte als Architekt der Falkenberger Gartenstadt noch in der Spa¨tphase des Kaiserreiches erste Erfahrungen im Siedlungsbau.13 Nach der Revolution wirkte Martin Wagner als wichtigster Organisator der Gemeinwirtschaft im Berliner Wohnungsbau: Mit der Gru¨ndung der gewerkschaftseigenen Arbeiterbank, der Bauhu¨tten und der Baugesellschaft GEHAG schuf er 1924/25 die institutionellen Voraussetzungen fu¨r den sozialen Wohnungsbau, den er ab 1925 als Stadtbaurat maßgeblich vorantrieb. Unter seiner Regie traten die Freien Gewerkschaften erstmals im großen Maßstab in unternehmerische Konkurrenz zu den privatkapitalistischen Bau- und Wohnungsgesellschaften.14 Mit der Großsiedlung Britz schufen die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen schon fru¨h ein reichsweit und international viel beachtetes Modellprojekt. Zwischen 1925 und 1933 entstanden auf den gru¨nen Wiesen eines ehemaligen Rittergutes etwa 2300 kostengu¨nstige Kleinwohnungen im Stil der neuen Sachlichkeit, mit funktional geschnittenen Grundrissen, modernen Sanita¨reinrichtungen, Balkonen und Außenga¨rten.15 Die architektonischen Wahrzeichen der Siedlung, das Namensgebende Hufeisen-Rondell und die festungswallartige „Rote Front“, die in bewusster Konfrontation zur zeitgleich im traditionellen Stil gebauten DEGEWO-Siedlung des Deutschen Beamtenbundes auf der anderen Seite der Fritz-Reuter-Allee hochgezogen wurde, wurden rasch zu Emblemen des „Neuen Bauens“, die zahllose Schaulustige aus Nah und Fern anlockten. Unter ihnen war auch der Großstadtflaneur Franz Hessel, der in diesem „Vorstoß in das Chaos der Zwischenwelt, die Stadt und Land trennt“, die wichtigste Vorhut des „neuen, werdenden Berlin“ erkannte.16 Verbunden damit war die Propagierung einer neuen Wohnkultur, die auch innerhalb der eigenen vier Wa¨nde ein Bekenntnis zum modernen Zeitgeist forderte. „Zeige mir, wie du wohnst, und ich werde dir sagen, wie es um dich steht“, postulierte Taut

13 Kristina Hartmann, Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform, Mu¨n-

chen 1976; Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin, hg. v. Lothar Juckel, Berlin 1999, und Wolfram Rauch, Ideale einer 100-Ja¨hrigen: gemeinsam sicher wohnen. Chronik zum 100-ja¨hrigen Bestehen der Baugenossenschaft Ideal, Berlin 2007. 14 Klaus Novy/Michael Prinz, Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft, Berlin/Bonn 1985, und Wilhelm Kaltenborn, Genossenschaften zwischen Sozialisierung und Gemeinwirtschaft, Berlin 2008. 15 Zur Baugeschichte siehe Annemarie Jaeggi, Die Berliner Hufeisensiedlung von Bruno Taut. Architektur im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft, in: Festschrift fu¨r Johannes Langner, hg. v. ders./ Klaus Gereon Beuckes, Mu¨nster 1997, S. 273–296, und Katrin Lesser, Die Hufeisensiedlung – ein Wohnungsbauprojekt der Moderne, in: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 14–31. 16 Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Leipzig 1929, neu hg. v. Moritz Reininghaus, Berlin 2011, S. 158.

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1927 in der sozialistischen Neuko¨llner Kulturzeitschrift Die Kunstgemeinde.17 Die Wohnung sei der „Spiegel des Charakters, der Lebensauffassung und der Gesinnung“ und eine „neue Art zu Denken und zu Fu¨hlen“ mu¨sse sich deshalb auch in der Einrichtung der ha¨uslichen Privatspha¨re ausdru¨cken.18 Speziell von der modernen Hausfrau forderte Taut: „Klarheit und Sauberkeit“ statt „Kitsch und Kleinkram“ – „Frohsinn und Mut“ zum Neuanfang statt der „alten ‚Gemu¨tlichkeit‘“ und „sentimentalen Romantik“.19 Unterstu¨tzt wurde er dabei von der dem Werkbund nahe stehenden Bestsellerautorin Erna Meyer, die eine Emanzipation der Frau durch rationelle Haushaltsfu¨hrung propagierte.20 Bauhaus-Mo¨bel, Werkbund-Geschirr und Frankfurter Ku¨che geho¨rten zum „Neuen Wohnen“ wie Flachdach, stuckfreie Fassade und serielle Bauweise zum „Neuen Bauen“. ¨ sthetik der „Neuen Sachlichkeit“ war fu¨r ihre PioMit der betont modernen A niere wie Bruno Taut auch ein konkretes Gemeinschaftsideal verbunden, das die Verschmelzung von „Individualismus und Kollektivismus“ erstrebte.21 In den Revolutionsjahren hatte Taut als Wortfu¨hrer des Arbeitsrates fu¨r Kunst bereits den Bru¨ckenschlag zwischen Architektur und Arbeiterbewegung unternommen und gefordert: „Kunst und Volk mu¨ssen eine Einheit bilden. Die Kunst soll nicht mehr Genuß weniger, sondern Glu¨ck und Leben der Masse sein“.22 Baukunstwerke sollten „Kristallisationspunkte des Gemeinschaftsgefu¨hls“ werden und Ausdruck einer „aufs Ganze gerichteten, im kulturellen Sinne sozialistischen Gesinnung“ sein.23 Mitstreiter wie Fred Forbat attestierten Taut spa¨ter, der „kollektive Geist“ seiner Architektur befo¨rdere das Wachsen „einer menschlichen und Klassensolidarita¨t“ innerhalb der Siedlungsgemeinschaft, und Alfred Do¨blin postulierte 1929 gar, diese „großartigen Bauwerke“ wirkten auf ihre Bewohner „langsam erzieherisch wie eine stumme ta¨gliche Predigt“.24 Die Hufeisensiedlung lo¨ste damit exemplarisch ein, was Adolf Behne von der neuen Wohnkultur forderte: Wohnungen fu¨r „den neuen Menschen“, den „Menschen der sozialen Gemeinschaftsgesinnung“ zu erschaffen.25 17 Bruno Taut, Zeige mir, wie du wohnst ..., in: Kunstgemeinde 3 (1927), S. 103. 18 Ebd., S. 103f. 19 Bruno Taut, Die neue Wohnung. Die Frau als Scho¨pferin, Leipzig 41926, S. 124. 20 Erna Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Haushaltsfu¨hrung, Stuttgart

1926/411931. Vgl. Gu¨nther Uhlig, Kollektivmodell „Einku¨chenhaus“. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus 1900–1930, Gießen 1981. 21 Taut, Die neue Wohnung (wie Anm. 19), S. 104. 22 Bruno Taut, Arbeitsrat fu¨r Kunst in Berlin, in: Mitteilungen des deutschen Werkbundes 4 (1918), S. 14. Vgl. Ian B. Whyte, Bruno Taut, Baumeister einer neuen Welt. Architektur und Aktivismus 1914–1920, Stuttgart 1981. 23 Bruno Taut, Architektur der Gemeinschaft, in: Erhebung 2 (1920), S. 270, und ders., Zeige mir, wie du wohnst (wie Anm. 17), S. 104. Vgl. Manfred Speidel, Bruno Taut als Architekt des genossenschaftlichen Wohnungsbaus und der Orte der Gemeinschaft, in: Bruno Taut Retrospektive 1880–1938. Natur und Fantasie, hg. v. dems., Berlin 1995, S. 209–240 u. 242–250. 24 Fred Forbat, Wohnform und Gemeinschaftsidee, in: Wohnungswirtschaft 6 (1929), S. 143, und Alfred Do¨blin, Geleitwort, in: Mario von Bucovich, Berlin, Berlin 1928, S. x. Fu¨r eine kritische Wu¨rdigung der kollektivistischen Gemeinschaftsarchitektur von Wagner, Taut und Forbat siehe Ian B. Whyte, Berlin 1870–1945. An Introduction framed by Architecture, in: The divided Heritage. Themes and Problems in German Modernism, hg. v. Irit Rogoff, Cambridge u. a. 1991, S. 236–242. 25 Adolf Behne, Wege zu einer besseren Wohnkultur, in: Sozialistische Monatshefte 33 (1927), S. 121. Vgl. ders., Neues Wohnen, neues Bauen, Leipzig 1927.

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Taut selbst sprach bereits 1924 von einem neuen „Genossenschaftsgeist“, der besonders sinnfa¨llig in einer besonderen Festkultur zum Ausdruck kommen ko¨nne.26 Als Vorbild schwebten ihm dabei die stadtbekannten Volksfeste der Gartenstadt Falkenberg vor. Spiritus rector dieser von den Bewohnern selbst organisierten karnevalesken Umzu¨ge war sein Freund und Weggefa¨hrte Robert Tautz, der als lokaler Genossenschaftsaktivist und leitender Gewerkschaftspublizist eine wichtige Rolle bei der Ausformulierung und Umsetzung eines spezifischen Festkonzeptes fu¨r die Berliner Siedlungsbewegung in den 1920er Jahren spielte.27 „Nichts fu¨hrt die Menschen inniger und freudiger zusammen als gemeinsames festliches Erleben“, erkannte Tautz und leitete daraus den Anspruch ab: „Sage mir, wie du deine Feste feierst, und ich will dir sagen, wer du bist“.28 Fu¨r das von ihm propagierte Festmodell, das traditionelle Elemente der Arbeiter- und Volksfestkultur mit avantgardistischen Formen des Agitprop und Dada zu einem a¨sthetischen Gesamtkonzept zusammenfu¨hrte, pra¨gte er die einga¨ngige Formel: „Aus dem Volke heraus geboren, vom Volke fu¨r das Volk geschaffen“.29 Der große Erfolg der Falkenberger Sommerfeste, zu denen jedes Jahr tausende ¨ berlegungen in schaulustige Besucher stro¨mten, fu¨hrte bereits 1925 zu ersten U Gewerkschaftskreisen, diese neuartige „Gemeinschaftsfestkultur“ auf andere Berliner Genossenschaftssiedlungen auszudehnen.30 In den folgenden Jahren u¨bernahm Tautz auch die ku¨nstlerische Leitung der Bauhu¨ttenfeste der gewerkschaftseigenen Berliner Baubetriebe. Exemplarisch sah er hier vorweggenommen, was ihm als utopisches Ideal sozialistischer Festkultur vorschwebte: „Unsere Feste mu¨ssen erlo¨sen. [...] Nur Zusammenfassung aller seelischen Kra¨fte und ihre restlose Opferung bringt das Gemeinschaftsfest, das wir wu¨nschen. [...] Wenn es erreicht werden ko¨nnte, daß alle Festteilnehmer den alten Menschen auszo¨gen, um einen neuen Menschen dafu¨r anzuziehen, der den alten mitleidig bela¨chelt und verspottet – das wa¨re eine Tat! Das wa¨re ein Fest!“31 Damit schuf Tautz ein Modell, das auf die Theoriedebatten der Arbeiterkulturbewegung betra¨chtlichen Einfluss ausu¨bte und zum Vorbild der

26 Bruno Taut, Wie sich Gemeinschaftsgeist in einem Bau verwirklichen kann, in: Wohnungswirtschaft 1

(1924), S. 105.

27 Siehe Hartmann, Deutsche Gartenstadtbewegung (wie Anm. 13), S. 116–119. Tautz war 1902 Gru¨n-

dungsmitglied der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, vermittelte 1910 den Kontakt zu Bruno Taut, dem Architekten der Falkenberger Siedlung, und geho¨rte spa¨ter zu den Gru¨ndern der Bauhu¨ttenbewegung. In den 1920er Jahren schrieb er regelma¨ßig fu¨r Zeitschriften wie Wohnungswirtschaft und Soziale Bauwirtschaft und andere Gewerkschaftsbla¨tter und leitete die Siedlungszeitschrift Der Falkenberger. 28 Robert Tautz, Das zweite Berliner Bauhu¨ttenfest, in: Soziale Bauwirtschaft 7 (1927), S. 229. 29 U ¨ ber Volksfeste im allgemeinen und das Chammerfest der Falkenberger Pfahlbauern im besonderen, in: Wohnungswirtschaft 7 (1924), S. 107. Vgl. auch ders., Volksfeste. Durch das Volk und fu¨r das Volk, in: Kulturwille 6 (1929), S. 170f. 30 Ein großes Volksfest fu¨r Berlin, in: Wohnungswirtschaft 2 (1925), S. 84. Zur Festkultur in a¨lteren Berliner Genossenschaftssiedlungen siehe Renate Amann/Barbara von Neumann-Cosel, Freie Scholle – Ein Name wird Programm, Berlin 1995, S. 74ff., und dies., Genossenschaftlich Wohnen im ‚Paradies‘, Berlin 2002, S. 33f. 31 Robert Tautz, Das zweite Berliner Bauhu¨ttenfest, in: Soziale Bauwirtschaft 7 (1927), S. 229. Vgl. Das erste Berliner Bauhu¨ttenfest, in: Soziale Bauwirtschaft 6 (1926), S. 205f., und Jubila¨umsfeier des Verbandes sozialer Baubetriebe, in: Soziale Bauwirtschaft 10 (1930), S. 537–540.

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großen Sommerfeste in der Britzer Großsiedlung in den folgenden Jahren werden sollte.32

Abb. 2: Richtfest des ersten Bauabschnittes der GEHAG-Siedlung 1926 Quelle: GEHAG-Archiv/Deutsche Wohnen AG

II. Volksfest fu¨r Alle: Das Fritz-Reuter-Fest 1928

Unter dem Motto „Wir schaffen den Geist der neuen Zeit“ feierte die GEHAG im Februar 1926 das Richtfest der ersten 120 Rohbauten der ku¨nftigen Britzer Großsiedlung.33 Es herrschte Aufbruchstimmung. Nicht nur Martin Wagner und Bruno Taut sahen die Fru¨chte jahrelanger Arbeit endlich reifen. Auch GEHAG-Gescha¨ftsfu¨hrer Franz Gutschmidt, der fu¨r den Siedlungsbau zusta¨ndige Stadtrat Emil Wutzky

32 Siehe exemplarisch die Themenhefte „Proletarische Festgestaltung“ (Oktober 1928) und „Feste

der Arbeit“ (September 1929) der Zeitschrift Kulturwille des Leipziger Arbeiter-Bildungsinstitutes. Vgl. allgemein Matthias Warstat, Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918–1933, Tu¨bingen 2005. 33 Wir schaffen an dem Geist der neuen Zeit, in: Soziale Bauwirtschaft 6 (1926), S. 73, und Eine Großsiedlung in Britz, in: Vorwa¨rts vom 12. 2. 1926.

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und Alois Groß, dem als Leiter der GEHAG-Tochtergesellschaft EINFA die Verwaltung der Wohnungen oblag, waren altgediente Gewerkschafter und Sozialdemokraten, die als fru¨here oder amtierende Vorsta¨nde der Neuko¨llner Ideal-Baugenossenschaft zu den lokalen Pionieren des sozialen Wohnungsbaus za¨hlten.34 Und da „zur genossenschaftlichen Wohnungsbewirtschaftung Genossen geho¨ren“, achtete man trotz staatlicher Vergaberichtlinien darauf, dass u¨berwiegend Gewerkschaftsmitglieder die begehrten Wohnungen bezogen.35 Dem Selbstversta¨ndnis ihrer Gru¨nder nach war die Britzer GEHAG-Siedlung ein Werk, das von Arbeitern fu¨r Arbeiter geschaffen wurde, um dem Proletariat den Weg in eine gla¨nzende Zukunft zu weisen. Tatsa¨chlich war die Bewohnerschaft der angeblichen Arbeitersiedlung jedoch weitaus heterogener, als es ihrem o¨ffentlichen Image entsprach. Die GEHAG selbst publizierte 1928 eine Statistik, nach der nicht einmal 15 % ihrer Mieter Arbeiter, hingegen knapp 50 % Beamte und Angestellte waren. Auch Freiberufler, Ladenbesitzer und Unternehmer waren stark vertreten.36 Unter ihnen befanden sich allerdings viele soziale Aufsteiger aus der Arbeiterschaft, die sich auch weiterhin dem Milieu der „sozialdemokratischen Solidargemeinschaft“ zugeho¨rig fu¨hlten.37 Besonderes Aufsehen erregten die Ku¨nstler, allen voran die avantgardistischen Maler Heinrich Vogeler und Stanislaw Kubicki, sowie der Anarchistenzirkel um Erich Mu¨hsam, Leon Hirsch und Rudolf Rocker.38 Diese kleine, aber prominente Siedlungsbohe`me, die in Worpswede, Schwabing und anderswo bereits alternative Lebensformen erprobt hatte, geriet mit den „Spießern“ ihrer neuen Nachbarschaft durchaus ha¨ufig aneinander.39 Allta¨glichen Konflikten u¨ber streunende Katzen, das „Lichtbaden“ im Garten oder das Wa¨schetrocknen an Feiertagen zum Trotz herrschte unter den Erstsiedlern dennoch anfangs ein betra¨chtlicher Zusammenhalt, der sich an den Institutionen einer funktionierenden Mieterselbstverwaltung und der gemeinsamen Festkultur ablesen la¨sst. Mit Unterstu¨tzung der Wohnungsgesellschaft etablierte sich bereits ein Jahr nach dem Einzug der ersten Siedler ein „Bewohnerausschuß der Gehag-Siedlung Britz“,

34 Zur personellen und o¨konomischen Verflechtung von GEHAG, EINFA und Ideal-Genossenschaft

siehe Rauch, Ideale einer 100-Ja¨hrigen (wie Anm. 13), S. 87f. Zu den modernen Erweiterungsbauten, die Bruno Taut als GEHAG-Architekt ab 1927 fu¨r die Ideal-Gartensiedlung in Britz entwarf, siehe ebd., S. 89–96. 35 GEHAG-Gescha¨ftsbericht von 1926, zitiert nach GEHAG. Gemeinnu¨tzige Heimsta¨tten-Aktiengesellschaft 1924–1957, Berlin 1957, S. 12. Siehe zur Wohnungsvergabe und Mieterstruktur auch Hilpert, Hufeisensiedlung Britz (wie Anm. 10), S. 85–87, und Markus Steffens, Die Wohnungsgesellschaften GEHAG und DeGeWo in Britz 1925 bis 1952, in: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 44–47. 36 Wer bewohnt die GEHAG-Ha¨user?, in: Wohnungswirtschaft (1928), S. 74. 37 Zum Begriff siehe Peter Lo ¨ sche/Franz Walter, Zur Organisationskultur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Niedergang der Klassenkultur oder solidargemeinschaftlicher Ho¨hepunkt?, in: GuG 15 (1989), S. 511–536. 38 Zur Literaten- und Ku¨nstlerkolonie in der Hufeisensiedlung siehe Ruth Orli Mosser, Die Großsiedlung Britz – ein Eldorado der Ku¨nste?, in: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 182–197. 39 Barbara Hoffmann, Leben in der Großsiedlung Britz – eine bru¨chige Idylle, in: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 69f.

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der sich aus von den Mietern direkt gewa¨hlten Vertrauensleuten zusammensetzte.40 Ein publizistisches Forum bot ihnen die wo¨chentlich erscheinende Siedlungszeitschrift Die Wohngemeinschaft.41 Ihr Redakteur war Arno Scholz, der Sohn des Neuko¨llner Bezirksbu¨rgermeisters und – wie auch seine regesten Beitra¨ger, die Mieteraktivisten Erich Koch, Artur Reder und Willy Grigat – Sozialdemokrat.42 Gleiches galt fu¨r die wichtigsten „lokalen Autorita¨ten“ vor Ort, den GEHAG-Gescha¨ftsfu¨hrer Franz Gutschmidt, gleichzeitig SPD-Stadtverordneter und Neuko¨llner Reichsbanner-Vorsitzender, und den legenda¨ren EINFA-Verwalter Erich Grashoff, in der ganzen Siedlung spa¨ter bekannt als „Kaiser von Britz“.43 An allen Schaltstellen der internen Siedlungsorganisation saßen somit Parteigenossen, die sich bemu¨hten, den viel beschworenen „Gemeinschaftsgedanken“ mit konkretem Leben zu erfu¨llen. Programmatische Leitartikel und alltagspraktische Hilfestellungen erla¨uterten den Lesern der Wohngemeinschaft die Theorie und Praxis von Genossenschaftsidee und neuer Wohnkultur.44 Gleichzeitig bot das Blatt ein Forum fu¨r unterschiedliche Auffassungen, wenn es beispielsweise um die heftig umstrittene Frage der Tapezierung der in grellen Farben vorgestrichenen Innenra¨ume ging.45 Durch Fragebogenaktionen wurden die Mieter auch direkt in die Weiterentwicklung der hochgelobten und oft kopierten GEHAG-Grundrisse eingebunden. Die Ergebnisse der Umfragen wurden von Taut beim weiteren Ausbau der Siedlung beru¨cksichtigt und propagandistisch als Beleg fu¨r die praktische Funktionalita¨t seiner Wohnraumaufteilung genutzt.46 Die enge Zusammenarbeit zwischen Mieterrat, Wohnungsgesellschaft und

40 Zur Mietervertretung der Britzer Siedlung siehe Adelheid von Saldern, Die Neubausiedlungen der

Zwanziger Jahre, in: Neubausiedlungen der 20er und 60er Jahre. Ein historisch-soziologischer Vergleich, hg. v. ders./Ulfert Herlyn/Thomas Dietrich, Frankfurt a. M. 1987, S. 66, und Ronald Kunze, Konzepte der Mieterbeteiligung in der Weimarer Republik, in: Sozial Wohnen. Kommunale Wohnungspolitik zwischen Eigentu¨mer und Mieterinteressen, hg. v. Dirk Schubert, Darmstadt 1992, S. 44f. 41 Die Wohngemeinschaft erschien von Anfang 1927 bis Anfang 1930 jeden Donnerstag. Sie wurde in einer Auflage von 2000 Exemplaren zuna¨chst gratis an alle Siedlungshaushalte verteilt und finanzierte sich durch Anzeigen lokaler Unternehmen und Spenden. Die Abonnementzahlungen bildeten auch die Haupteinnahmequelle des Bewohnerausschusses. 42 Siehe zur Biographie des Vorwa¨rts-Redakteurs, der nach 1945 zum fu¨hrenden Kopf der Westberliner Parteipresse werden sollte, Walther G. Oschilewski, Begegnungen. Arno Scholz – 60 Jahre alt, Berlin 1964. 43 Siehe die Kurzbiographien von Grashoff und Gutschmidt in: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 275 u. 283. 44 Siehe bspw. Robert Tautz, Genossenschaftsleben, in: Wohngemeinschaft 1 (6. 10. 1927), S. 1; Takt als Voraussetzung gemeinsamen Wirkens, und: Neue Wohnkultur, in: Wohngemeinschaft 2 (13. 4. 1928), S. 1, sowie Bruno Taut, Wohnungen in Licht und Sonne, in: Wohngemeinschaft 2 (17. 10. 1928), S. 1. 45 Oskar Hu ¨ ttel, Der Schrei nach der Tapete, in: Wohngemeinschaft 3 (11. 1. 1929), S. 1; Friedrich Melzer, Tapete oder Wandanstrich?, in: Wohngemeinschaft 3 (15. 2. 1929), S. 1, und E. Zander, Die Hausfrau will Tapete, in: Wohngemeinschaft 3 (8. 3. 1929), S. 1. Vgl. Bettina Zo¨ller-Stock, Bruno Taut. Die Innenraumentwu¨rfe des Berliner Architekten, Stuttgart 1993. 46 Siehe Wie wird die Neubauwohnung bewohnt?, in: Wohngemeinschaft 2 (30. 11. 1928), S. 1; Bruno Taut, Bilanz, in: Wohngemeinschaft 3 (4. 1. 1929), S. 1, und Arno Scholz, Wie wohnt der GehagMieter?, in: Wohngemeinschaft 3 (25. 1. 1929), S. 1. Vgl. Annemarie Jaeggi, Die Planungs- und Baugeschichte der vier Siedlungen, in: Siedlungen der 20er Jahre – heute. Vier Berliner Großsiedlungen 1924–1984, hg. v. Norbert Huse, Berlin 1984, S. 114f.

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Partei ermo¨glichte zudem eine effektive Interessenvertretung, wenn es um Anliegen ging, die die gesamte Siedlungsgemeinschaft betrafen – z. B. die Verhinderung eines Flughafenbaus in unmittelbarer Nachbarschaft der Siedlung, die Verbesserung der Verkehrsanbindung oder die Einrichtung einer weltlichen Reformschule.47 In diesen Fragen zogen oft auch die bu¨rgerlichen und linksoppositionellen Mietervertreter an einem Strang mit ihren mehrheitlich sozialdemokratischen „Wohngenossen“. Gleiches galt anfangs auch fu¨r die Festkultur. Bereits im Juni 1927 konnte die Wohngemeinschaft u¨ber zwei zeitgleich stattfindende Sommerfeste im unmittelbaren Umfeld der Siedlung berichten. Wa¨hrend in Mu¨llers Festsa¨len in der Chausseestraße zwei alteingesessene Britzer Gesangsvereine ihr traditionelles „Rosenfest“ mit Preisschießen, bengalischem Fackelzug und abendlichem Tanzvergnu¨gen feierten, veranstaltete die lokale Reichsbanner-Kameradschaft gemeinsam mit der SPDAbteilung Britz ein paar Hausnummern weiter im Restaurant Lindenpark ein Sommerfest, an dem auch sozialistische Jugendorganisationen wie die „Kinderfreunde“ und die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) mitwirkten.48 Offenbar konnten diese beiden konkurrierenden Alternativen das Bedu¨rfnis der Neusiedler nach Gemeinschaftserlebnissen jedoch nicht befriedigen. So wurde im Juli 1927 in der Siedlungszeitschrift erstmals der Wunsch nach einem Sommerfest nach Falkenberger Vorbild laut.49 Ein Artikel von Robert Tautz ermunterte zur „gemeinsamen Arbeit“ an einem großen Siedlungsfest, um „unserem Ideal einer Lebensgemeinschaft an Stelle einer bloßen Wohngemeinschaft“ na¨her zu kommen.50 Nach la¨ngeren Diskussionen gru¨ndete der Bewohnerausschuss im Juli 1928 ein Festkomitee unter dem Vorsitzenden Erich Koch, dem neben einer Mehrheit von Sozialdemokraten auch der KPD-Stadtverordnete Hermann Rintorf und ein Vertreter des Britzer Bu¨rgervereins angeho¨rten.51 In den folgenden Wochen sammelte man Spenden, verkaufte Eintrittskarten, bastelte und schneiderte mit den Kindern Kostu¨me fu¨r den Festumzug, organisierte die Verpflegung, eine Tombola und den Ordnungsdienst fu¨r den großen Festtag. Parteipolitische Differenzen spielten offenkundig keine Rolle: Der Kommunist Heinrich Vogeler u¨bernahm die ku¨nstlerische Gestaltung des Festumzuges und die Frau des radikalen KPD-Reichstagsabgeordneten Konrad Blenkle organisierte die Kaffeetafel; zu den Spendern geho¨rten neben

47 Arno Scholz, Gegen die Verlegung des Flughafens nach Britz, in: Wohngemeinschaft 1 (23. 6. 1927),

S. 1, und Der Kampf gegen den Flughafen Britz, in: Wohngemeinschaft 1 (13. 10. 1927), S. 1f., sowie Der erste Schultag. Eine weltliche Schule in der Siedlung Britz ero¨ffnet, in: Wohngemeinschaft 2 (20. 4. 1928), S. 1, und Der U-Bahnbau in Neuko¨lln, in: Wohngemeinschaft 2 (21. 9. 1928), S. 1. 48 Siehe Reichsbanner und Gemischter Chor Berlin-Britz, in: Wohngemeinschaft 1 (16. 9. 1927), S. 5. Vgl. zum Reichsbannerfest auch Parteinachrichten, in: Vorwa¨rts vom 18. 6. 1927, und Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, in: Vossische Zeitung vom 19. 6. 1927, sowie zum Rosenfest: Aus den Vereinen, in: Mitteilungsblatt des Bu¨rgervereins Britz 4 (Juni 1927), S. 40 (im Folgenden zitiert als Mitteilungsblatt). 49 Siehe Kinderfest im Hufeisen, in: Wohngemeinschaft 1 (21. 7. 1927), S. 3. 50 Robert Tautz, Genossenschaftsleben, in: Wohngemeinschaft 1 (6. 10. 1927), S. 1. 51 Artur Reder, Fu¨r die Zusammenarbeit der Britzer Siedler, in: Wohngemeinschaft 2 (25. 5. 1928), S. 2f.; ders., Unser Sommerfest, in: Wohngemeinschaft 2 (13. 7. 1928), S. 2f., und Willy Grigat, Das Kinderfest in unserer Siedlung, in: Wohngemeinschaft 2 (20. 7. 1928), S. 2f.

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zahlreichen alteingesessenen Britzer Ladenbesitzern und Gescha¨ftsleuten auch die AWO-Vorsitzende Elfriede Ryneck und der Anarchist Erich Mu¨hsam.52 Im Mittelpunkt des ersten großen Siedlungsfestes am 19. August 1928 stand der Festumzug der Kinder, die sich zu Ehren des Namensgebers der meisten Straßen und Pla¨tze ihres Quartiers nach Figuren aus den literarischen Werken Fritz Reuters ¨ berall wehten rote und schwarz-rot-goldene Fahnen, auch Balkone kostu¨mierten.53 U und Fenster wurden festlich dekoriert. Weil sich statt der angemeldeten 800 bis zu 1500 Kinder dem Zug durch die Siedlung anschlossen, kam es bei der folgenden Kaffeetafel im Akazienwa¨ldchen zu kleineren Tumulten, da die Kuchen nicht fu¨r alle reichten. Am Nachmittag veranstaltete man allerlei Spiele und Gesangsdarbietungen, Tanz- und Sportwettbewerbe wurden mit von den Mietern oder ortsansa¨ssigen Ladenbesitzern gestifteten Preisen pra¨miert. Abends verlagerte sich das Geschehen ins aufwendig mit Lampions und großen Feuerschalen illuminierte Hufeisenrund, wo mehr als 8000 Zuschauer die einziehenden Reuter-Gruppen begru¨ßten. Nach der Festrede Erich Kochs, die u¨ber eine Lautsprecheranlage des Arbeiter-Radio-Bundes versta¨rkt wurde, brachte ein Arbeiterchor „alte Kampflieder“ und der Sprechchor der Proletarischen Feierstunden Richard Dehmels aufru¨ttelnde Dichtung „Mu¨hle, Mu¨hle, mahle“ zum Vortrag. Zum Abschluss stimmte die Festgemeinschaft gemeinsam die „Internationale“ an.54 Die tiefe Verwurzelung des großen Britzer Fritz-Reuter-Festes in den Traditionen und Werten der Arbeiterbewegung kam auch in der Ansprache des Mietervertreters Erich Koch zum Ausdruck. Nachdem er allen „Kopf- und Handarbeitern, die die Siedlung geschaffen haben“, seinen Dank abgestattet hatte, ermahnte er die Jugend zur Fortfu¨hrung des Kampfes fu¨r eine gerechtere Zukunft: „Fu¨r die Kinder, die durch das Werk der Arbeiterschaft eine sonnige Jugend verbringen ko¨nnen, erwa¨chst die Verpflichtung, sich spa¨ter in die Reihen der Ka¨mpfer mit einzureihen. Noch leben hunderttausende in lichtlosen Wohnlo¨chern, all denen kann nur Hilfe kommen, wenn die Arbeiterschaft im solidarischen Schaffen ihnen hilft.“55 Ganz praktische Solidarita¨t bewies der Bewohnerausschuss schließlich, indem er einen Großteil des finanziel¨ berschusses des Festkomitees zum Weihnachtsfest 1928 vierzehn Not leidenden len U Siedlungsfamilien spendete.56 Nicht nur finanziell konnten die Festorganisatoren zufrieden sein. Die gelungene Mischung von Freizeitvergnu¨gen und Agitation, von sportlichen, ku¨nstlerischen und

52 Siehe Kinderfest der Großsiedlung Britz, in: Wohngemeinschaft 2 (3. 8. 1928), S. 1; Fahnen raus zum

Kinderfest!, in: Wohngemeinschaft 2 (17. 8. 1928), S. 1, und Die Spendenliste vom Kinderfest, in: Wohngemeinschaft 2 (7. 9. 1928), S. 3. 53 Zum literarischen und politischen Hintergrund dieser Benennung siehe Willy Grigat, Britz einst und jetzt. Vom Bauern- und Kossa¨tendorf zur Fritz-Reuter-Stadt, Berlin-Britz 1932, S. 144–172, und Nikolaus Scholvin, Die Moses-Lo¨wenthal-Straße in Berlin, Berlin 2008, S. 16–21. 54 Siehe Volksfest in Britz, in: Vorwa¨rts vom 20. 8. 1928; Fest der Kinder. Italienische Nacht in Britz, in: Berliner Volkszeitung vom 21. 8. 1928; Kinderfest in der Großsiedlung Britz, in: Neuko¨llner Tageblatt vom 21. 8. 1928, und Der Tag der Kinder, in: Wohngemeinschaft 2 (24. 8. 1928), S. 1. 55 Ebd. 56 Mitteilungen des Bewohner-Ausschusses der Gehagsiedlung Britz, in: Wohngemeinschaft 2 (5. 10. 1928), S. 1, und Gehagsiedlung Britz, in: Wohngemeinschaft 2 (21. 12. 1928), S. 2.

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politischen Festelementen hatte die Siedlungsbewohner u¨ber Partei- und Generationsgrenzen hinweg zu einer großen gemeinsamen Inszenierung zusammengefu¨hrt, und daru¨ber hinaus zahlreiche Zuschauer aus der na¨heren und weiteren Nachbarschaft angelockt. Nebenbei hatte man den Kinderkostu¨mumzug genutzt, um Forderungen nach Spielpla¨tzen und dem Bau einer weltlichen Siedlungsschule Nachdruck zu verleihen.57 Wer wollte, konnte das karnevaleske Spektakel zudem zwei Wochen spa¨ter auf der Leinwand des o¨rtlichen Lichtspielhauses noch einmal nacherleben.58 Aus dem Stand heraus hatten die Britzer Siedler das Vorbild der Falkenberger Festpioniere in den Schatten gestellt. Doch bereits das na¨chste Sommerfest sollte unter ganz anderen politischen Vorzeichen stattfinden.

III. Klassenkampf und Parteipropaganda: Feste der Arbeit 1929–1931

Die Radikalisierung der parteipolitischen Konflikte erfasste 1929 auch die Festkultur der Reichshauptstadt.59 Die Ereignisse um den Berliner „Blutmai“ wirkten als entscheidende Beschleuniger der sich abzeichnenden Spaltung der Arbeiterbewegung. Nach der brutalen Unterdru¨ckung der illegalen kommunistischen Maifeiern, die in Neuko¨lln und im Wedding Dutzende Todesopfer forderte, vollzog die KPD den letzten Schritt zu ihrer Stalinisierung, adaptierte die „Sozialfaschismus“-Theorie der Komintern und erkla¨rte die Sozialdemokratie zum Hauptfeind der Arbeiterklasse.60 Auf der anderen Seite feierte die radikale Rechte im Referendumskampf um den Young-Plan ungeahnte Mobilisierungserfolge. Die zehnja¨hrigen Jahrestage des Versailler Friedensvertrages und der Weimarer Verfassungsversammlung im Juli und August boten Feinden wie Verteidigern der Republik Gelegenheit zu Massenaufma¨rschen und Propagandakampagnen. In dieser aufgeheizten Atmospha¨re setzte im Herbst der Berliner Kommunalwahlkampf ein, der, zusa¨tzlich angefeuert durch die Aufdeckung des Sklarek-Skandals, zu einer wahren Schlammschlacht der Parteipresse eskalierte.61

57 Siehe Der Tag der Kinder, in: Wohngemeinschaft 2 (24. 8. 1928), S. 1, und Kinderfest in der Großsied-

lung Britz, in: Neuko¨llner Tageblatt vom 21. 8. 1928. 58 Siehe Unser Kinderfest im Film, in: Wohngemeinschaft 2 (31. 8. 1928), S. 3. Die Online-Datenbank

www.filmportal.de verzeichnet einen Kurz-Dokumentarfilm „Die Großsiedlung Britz im Festgewande“, Deutschland 1928, der leider nicht mehr erha¨ltlich ist. 59 Zur politischen Festkultur der Weimarer Republik siehe allgemein Politische Identita¨t und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, hg. v. Detlef Lehnert/Klaus Megerle, Opladen 1989. 60 Thomas Kurz, Blutmai. Sozialdemokraten und Kommunisten im Brennpunkt der Berliner Ereignisse von 1929, Berlin/Bonn 1988, und Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identita¨t. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001, S. 252–262. 61 Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fa¨lle Barmat und Sklarek im Kalku¨l der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch fu¨r Antisemitismusforschung 5 (1996),

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Wa¨hrend die Republikfeinde von links und rechts auf die angeblich korrupten „Systemparteien“ einschlugen, bemu¨hten sich die Sozialdemokraten, die materiellen Erfolge ihrer langja¨hrigen „kommunalsozialistischen“ Praxis herauszustellen.62 Dazu za¨hlten an vorderster Stelle die mittlerweile weltberu¨hmten GEHAG-Siedlungen.63 Insbesondere das Britzer Hufeisen wurde auf Flugbla¨ttern, in Broschu¨ren und sogar in einem von der Partei produzierten Werbefilm als Symbol sozialdemokratischer Errungenschaften gepriesen.64 Auch Volksfeste und Feiern, insbesondere solche nach Falkenberger Vorbild, wurden als Medien moderner „Großstadtpropaganda“ entdeckt und genutzt.65 Am Beispiel der Britzer Siedlungsfeste la¨sst sich nachvollziehen, wie sich Hand in Hand mit der parteipolitischen Instrumentalisierung auch Inhalt und Formensprache der „proletarischen Festkultur“ vera¨nderten. Bemerkenswert ist dabei nicht nur der betriebene Aufwand der Festgestaltung, sondern auch die geradezu lehrbuchma¨ßige Umsetzung der Vorgaben, die von den Vordenkern der Arbeiterkulturbewegung zeitgleich entwickelt wurden.66 Die „Feste der Arbeit“, die im Spa¨tsommer 1929, 1930 und 1931 in der Großsiedlung Britz gefeiert wurden, verdeutlichen schon durch ihre Namensgebung ihren dezidiert klassenka¨mpferischen Charakter. Nicht allen Klassen offene Volks- oder Kinderfeste, sondern reine Arbeiterfeste sollten den Gemeinschaftsgeist der Siedler zum Ausdruck bringen. Anders als beim Fritz-Reuter-Fest 1928 waren bei der Organisation und Durchfu¨hrung der Feiern die Sozialdemokraten und Freigewerkschafter nicht nur in der Mehrheit – sie blieben ga¨nzlich unter sich. Nicht weniger als 17 Arbeitervereine und -verba¨nde von den Kinderfreunden bis zum Reichsbanner, von den Bauhu¨tten bis zum Arbeiter-Schachklub beteiligten sich 1929 am ersten „Fest der Arbeit“.67 Schon der Blick auf die beteiligten, sa¨mtlich parteinahen teilnehmenden Organisationen besta¨tigt das Diktum des Festaufrufes im Vorwa¨rts: „Hier feiert die Sozialdemokratie!“68 Nach dem Fest bilanzierte die Parteizeitung die Veranstaltung S. 46–64. Vgl. zu den politischen Hintergru¨nden auch des Folgenden Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 111–114. 62 Siehe zur sozialdemokratischen Verteidigungsstrategie gegen den Zweifrontenangriff von Bu¨rgerblock und KPD Paul Robinson, Der Kampf um Berlin, in: Unser Weg 3 (September 1929), S. 201–204. Vgl. Detlef Lehnert, Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919–1932, Berlin 1991. 63 Siehe Franz Gutschmid, Die Arbeit der Gehag, in: Unser Weg 3 (August 1929), S. 187–192; ders., Unser Werk, in: Wohngemeinschaft 2 (25. 10. 1929), S. 1, und Unser Kampf gegen Wohnungsnot und Wohnungselend, in: Vorwa¨rts vom 16. 11. 1929. 64 Siehe Unser Weg. Bilder aus der kommunalen Arbeit der SPD. Ausgabe fu¨r den Verwaltungsbezirk Neuko¨lln, Berlin 1929, und Die Sozialdemokratie baut Wohnungen, in: Vorwa¨rts vom 25. 10. 1929. Vgl. Lehnert, Kommunale Politik (wie Anm. 61), S. 184. 65 Karl Birnbaum, Großstadtpropaganda fu¨r die Partei, in: Unser Weg 2 (Juli 1928), S. 187. 66 Siehe neben den in Anm. 32 angefu¨hrten Kulturwille-Themenheften auch die regelma¨ßige Rubrik „Feste und Feiern“ der Zeitschrift des Reichsausschusses fu¨r sozialistische Bildungsarbeit, der 1931 sogar eine Beratungsstelle fu¨r sozialistische Festgestaltung einrichtete, die Schulungen und Material fu¨r Veranstalter proletarischer Feiern anbot – siehe Einfu¨hrungskursus in die Festkultur und Material fu¨r Spiel- und Kabarettgruppen, in: Sozialistische Bildung (1931), S. 127f., 351, sowie Kurt Heilbut, Neue Formen proletarischer Festkultur, in: Sozialistische Bildung (1931), S. 205–210 und 243–248. 67 Ein „Fest der Arbeit“ in der Großsiedlung, in: Wohngemeinschaft 2 (30. 8. 1929), S. 1. 68 Fest der Arbeit in Britz, in: Vorwa¨rts vom 4. 9. 1929.

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Abb. 3: Festprogramm der SPD-Britz 1931 Quelle: Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin

der „Britzer Parteigenossen“ mit den Worten: „Es war wirksame Werbung, Appell an Alle, bei der kommenden Stadtverordnetenwahl der Sozialdemokratie zum Sieg zu verhelfen“.69 69 Das Fest der Arbeit. Wahlkampfero¨ffnung in der Großsiedlung Britz, in: Vorwa¨rts vom 9. 9. 1929.

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In ihrem Verlauf folgten die „Feste der Arbeit“ zwar weitgehend dem bewa¨hrten Muster des Fritz-Reuter-Festes: Dem ku¨nstlerisch gestalteten Festumzug folgte nachmittags das Kinderfest im Akazienwa¨ldchen, das sich abends mit einem Fackelzug ins Hufeisen bewegte, wo in mahnenden Reden und ku¨nstlerischen Darbietungen der Gemeinschaftsgeist der Festteilnehmer beschworen wurde. Den Schlussakkord jeder Feier bildete das gemeinsame Singen der „Internationale“. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Elemente der Festgestaltung zeigt jedoch die Tendenz zunehmender Professionalisierung und Politisierung. Durch die versta¨rkte Pra¨senz uniformierter Abteilungen der SAJ und des Reichsbanners verlor bereits der Festumzug seinen karnevalesken Charakter. Der Eindruck ¨ bernahme eines politischen Demonstrationszuges wurde noch versta¨rkt durch die U neuartiger Inszenierungstechniken staatlicher Gedenkfeiern oder sozialdemokratischer Parteitage.70 So bildete 1929 ein tempora¨r errichteter, zehn Meter hoher „Turm der Arbeit“ das Ziel des „Festzugs der Tausend“, um den herum sich die Fahnen schwenkende Partei- und Gewerkschaftsjugend zu einer Massenchoreografie mit dem Sprechchor „Wir Werkleute all“ vereinte.71 Von derartig rhythmisierten Massenbewegungen versprachen sich Vordenker wie Adolf Johannesson die intensivsten Gemeinschaftserlebnisse und forderten deshalb: „Auf die kollektivistischen Ku¨nste [...] des Sprech- und Bewegungschores muß sich die neue sozialistische Festkultur in erster Linie stu¨tzen“.72 Eine andere innovative Form, Unterhaltung und Agitation in einer gemeinsamen Aktion zu verbinden, war das Laienschauspiel.73 1931 pra¨sentierte der Arbeiter-Laienspiel-Verband eine „politische Revue“ auf der Britzer Festwiese, wo auch der Berliner Volkschor und der Sprechchor der Neuko¨llner SAJ, das Musikkorps des FDGB und ein Reichsbanner-Spielmannszug fu¨r Stimmung sorgten, bevor man sich gemeinsam zu den Kla¨ngen des „Sozialistenmarsches“ auf den Weg ins Hufeisen machte.74 Bei aller Traditionsgebundenheit war man bemu¨ht, auch moderne Aspekte urbaner Freizeitgestaltung in die Festgestaltung einzubinden. So durften die Arbeiterschachspieler ein Simultanschachturnier auf der Hufeisentreppe veranstal¨ bunten. Schwimmer, Turner, Naturfreunde und Volkstanzgruppen pra¨sentierten U gen, Spiele und Ta¨nze. In den Ra¨umen der Wohnungsverwaltung wurde die Ausstellung „Das politische Plakat“ gezeigt.75 1929 filmten „Kamera-Amateure“ der Natur-

70 Vgl. Feier der Reichsregierung, in: Vorwa¨rts vom 12. 8. 1929, und Johannes Kretzen, Das Fest am See,

in: Kulturwille 6 (September 1929), S. 168f.

71 Emil Steinke, Wir Werkleute all!, in: Wohngemeinschaft 2 (6. 9. 1929), S. 1, und Fest der Arbeit, in:

Wohngemeinschaft 2 (13. 9. 1929), S. 1.

72 Adolf Johannesson, Sozialistische Festkultur, in: Kulturwille 5 (Oktober 1928), S. 184. Zu Werk

und Wirkung der beiden wichtigsten Vorka¨mpfer der Arbeitersprechchorbewegung siehe Jon Clark, Bruno Scho¨nlank und die Arbeitersprechchorbewegung, Ko¨ln 1984, und Leo Kestenberg. Musikpa¨dagoge und Musikpolitiker in Berlin, Prag und Tel Aviv, hg. v. Susanne Fontaine u. a., Freiburg 2005. 73 Uwe Hornauer, Laienspiel und Massenchor. Das Arbeitertheater der Kultursozialisten in der Weimarer Republik, Ko¨ln 1985. 74 Siehe das Programmheft Fest der Arbeit der SPD Berlin-Britz am 12. Juli 1931, DHM: D2Z17376. 75 Siehe ebd., und ‚Fest der Arbeit‘ in Britz, in: Vorwa¨rts vom 13. 7. 1931.

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freunde das Festgeschehen und der proletarische Fliegerverein „Sturmvogel“ organisierte vom Tempelhofer Flugfeld aus Rundflu¨ge u¨ber die Siedlung.76 Boten die „Feste der Arbeit“ nachmittags der in der Siedlung besonders stark verankerten Arbeiterkulturbewegung Gelegenheit, ein großes Spektrum ihrer Kulturbestrebungen zu pra¨sentieren, so standen die Abendveranstaltungen ganz im Zeichen des politischen Bekenntnisses.77 Davon zeugen nicht nur die immer anspruchsvolleren musikalischen Darbietungen, fu¨r die Profis der Volksbu¨hne und einige der besten Arbeitercho¨re und -orchester Berlins gewonnen wurden.78 Vor allem zeigt die Liste der Festredner, welch herausgehobenen Status die Britzer Siedlungsfeste fu¨r die Sozialdemokratie besaßen. 1929 war es der Berliner Stadtverordnetenvorsteher Johannes Hass, der die Festgemeinde fu¨r die bevorstehenden Kommunalwahlen mobilisierte.79 1930 erinnerte der Parteivorsitzende Arthur Crispien die Siedlungsbewohner im Vorfeld der Reichstagswahlen daran, „daß nur in der Republik die Errichtung dieser modernen Wohnanlagen mo¨glich war“ und warnte eindringlich vor den „Putschisten von rechts und links“.80 Und im Folgejahr war es Crispiens Vorstandskollege Hans Vogel, der die Britzer Genossen zum gemeinsamen Widerstand gegen den Sozialabbau der bu¨rgerlichen Notstandsregierung und die drohende Machtu¨bernahme „der Nazibewegung“ aufrief.81 Der Erfolg der offensiven parteipolitischen Instrumentalisierung der Britzer Siedlungsfeste war unbestreitbar – und doch zwiespa¨ltig. Auf der einen Seite waren ¨ ußerungen einer neuartiGewerkschafts- und Parteipresse voll des Lobes fu¨r die A 82 gen „Gemeinschaftskultur“. Selbstbewusst proklamierte der Vorwa¨rts 1930: „Britz wird die neue Hochburg der Sozialdemokratie!“83 Diese Hoffnung war wohlbegru¨ndet, wie ein Blick auf die lokalen Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen der SPD zeigt: 1928 und 1929 erhielt die Partei in den Wahllokalen der Siedlung u¨ber 50 % der abgegebenen Stimmen.84 Bis Ende 1929 hatte die SPD-Abteilung 99 „Buckow-Britz“ durch den Zustrom aus der GEHAG-Siedlung ihre Mitgliederzahl mehr als verdoppelt und war mit fast 2000 Genossen zur mit Abstand gro¨ßten der Reichshauptstadt 76 Siehe Anm. 54. 77 Vgl. Hartmann Wunderer, Arbeitervereine und Arbeiterparteien. Kultur- und Massenorganisatio-

nen in der Arbeiterbewegung (1890–1933), Frankfurt a. M. 1980, und Solidargemeinschaft und Milieu. Sozialistische Kultur- und Freizeitorganisationen in der Weimarer Republik, 4 Bde., hg. v. Peter Lo¨sche, Bonn 1990–1993. 78 So wurde 1931 die dramatische Komposition „Erlo¨se dich“ des ju¨dischen Pioniers der Arbeiterchorbewegung Erwin Lendvai vorgetragen. Zu Lendvai, der 1933 aus Nazideutschland fliehen musste, siehe Hubert Kolland, Lendvai, Erwin, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 202f. 79 ‚Fest der Arbeit‘, in: Vorwa¨rts vom 9. 9. 1929. 80 ‚Fest der Arbeit‘, in: Vorwa¨rts vom 8. 9. 1930. Crispien war bereits im Oktober 1928 im Rahmen einer Werbewoche der Partei in Britz aufgetreten – siehe Vorwa¨rts vom 23. 10. 1928. Bemerkenswert ist die Beteiligung eines derart prominenten Parteipolitikers besonders deshalb, weil am selben Abend im Berliner Sportpalast die große Abschlusskundgebung der SPD im Reichstagswahlkampf stattfand – siehe Die Wahlkundgebung der Partei, in: Vorwa¨rts vom 8. 9. 1930. 81 ‚Fest der Arbeit‘ (wie Anm. 75). 82 Festkultur: Eine Wohnungsfrage?, in: Wohnungswirtschaft 7 (15. 9. 1930), S. 354. 83 ‚Fest der Arbeit‘, in: Vorwa¨rts vom 8. 9. 1930. 84 Siehe Wahlresultate der Großsiedlungen, in: Wohngemeinschaft 2 (25. 5. 1928), S. 2, und Das Wahlergebnis in der Groß-Siedlung Britz, in: GEHAG Nachrichten 1 (Januar 1930), o. S.

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geworden.85 Nach Teilung der Abteilung lag die neue Sektion 99a „Britz-Siedlung“ Ende 1931 mit 1149 Mitgliedern noch immer weit u¨ber dem Berliner Durchschnitt.86 Auf der anderen Seite bedeutete dies aber auch, dass entgegen der Parteipropaganda selbst in der Blu¨tezeit der sozialdemokratischen Hegemonie knapp die Ha¨lfte der „glu¨cklichen Bewohner der Siedlung“ nicht die Partei wa¨hlten, der „sie ihre pra¨chtigen Heime danken“.87 Bevor wir zu einer abschließenden Bewertung der Siedlungsfestkultur kommen, soll deshalb versucht werden, den Blick dieser anderen Ha¨lfte der Britzer „Wohngenossen“ auf die Selbstinszenierungen der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft zu rekonstruieren.

IV. Kritik und Konkurrenz: Kommunistische Polemik und bu¨rgerliche Rosenfeste

Die Haltung der Kommunisten zur GEHAG-Siedlung war ambivalent. Grundsa¨tzlich befu¨rwortete man den sozialen Wohnungsbau, kritisierte allerdings von Anfang an, dass die scho¨nen modernen Wohnungen zu teuer waren, um den wirklich bedu¨rftigen, minderbemittelten Proletarierfamilien zugute zu kommen.88 Andererseits waren die Wohnungen gerade bei fu¨hrenden KPD-Funktiona¨ren sehr beliebt, so dass sich unter den Erstsiedlern eine ganze Reihe kommunistischer Parlamentarier befand, wa¨hrend ihre Wa¨hlerschaft weiterhin in den Mietskasernen der innersta¨dtischen Elendsquartiere wie dem beru¨chtigten „Barrikadenkiez“ im Neuko¨llner Rollbergviertel lebte.89 Einige revolutiona¨re Linke beteiligten sich, wie gezeigt, anfangs sogar aktiv am Gemeinschaftsleben in der Siedlung, ließen sich in den Mieterbeirat wa¨hlen und halfen tatkra¨ftig bei der Organisation des Fritz-Reuter-Festes 1928. Bereits wenige Wochen nach dem ersten großen Siedlungsfest kam es jedoch schon zum Bruch zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Wohngenossen. Ein Streit um die politische Ausrichtung der von Arno Scholz redigierten Siedlungszeitschrift eskalierte soweit, dass die linke Opposition sich im Herbst 1928 mit der Zeitschrift Die andere Wohngemeinschaft ein eignes Sprachrohr schuf.90 Der internen Spaltung im Bewohnerausschuss folgte im Sommer 1929 der o¨ffentliche Konflikt, als der kommunistische Reichstagsabgeordnete Emil Ho¨llein der

85 Bezirksverband Berlin der SPD, Jahresbericht 1929, Berlin 1930, S. 209. 86 Bezirksverband Berlin der SPD, Jahresbericht 1931, Berlin 1932, S. 206. 87 Siehe Anm. 64. Bei den Kommunalwahlen im November 1929 verteilten sich die nichtsozialdemokra-

tischen Stimmen auf folgende Parteien, KPD 16 %, DNVP 12 %, DDP 6 %, NSDAP 5 %, DVP 4 % und Zentrum 2 % – siehe Das Wahlergebnis in der Groß-Siedlung Britz, in: GEHAG Nachrichten 1 (Januar 1930), o. S. 88 Siehe Eine Großsiedlung in Britz, in: Rote Fahne vom 12. 2. 1926. 89 Siehe fu¨r weitere Beispiele neben den bereits erwa¨hnten Blenkle, Rintorff und Vogeler den biographischen Anhang in: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 243–381. Zur KPD-Hochburg Nordneuko¨lln vgl. zuletzt Bernd Kessinger, Die Nationalsozialisten in Berlin-Neuko¨lln 1925–1933, Berlin 2013, S. 20f. 90 Siehe Sitzung der Vertrauensleute, in: Wohngemeinschaft 2 (17. 10. 1928), S. 1.

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„gemeingefa¨hrlich-gemeinnu¨tzigen“ GEHAG in einer Artikelserie in der Roten Fahne „Bauschwindel“, „Mietwucher“ und eine „zum Himmel schreiende Korruption auf Kosten der Mieterschaft“ vorwarf.91 Ein erneuter publizistischer Angriff folgte nach dem „Fest der Arbeit“ im September 1929, als kommunistische Siedlungskreise der Welt am Abend lancierten, in den angeblich fu¨r die Berliner Arbeiterschaft errichteten Wohnungen lebten tatsa¨chlich nur Kleinbu¨rger – ein Vorwurf, der die sozialdemokratische Siedlungsgemeinschaft im Kern ihres proletarischen Selbstversta¨ndnisses traf. Arno Scholz sah sich umgehend geno¨tigt, derartigen „Anpo¨belungen“ in der Wohngemeinschaft entgegenzutreten, und Franz Gutschmidt warf den Kommunisten vor: „Sie lu¨gen wie die Teufel.“92 In den folgenden Monaten eskalierte der Streit so weit, dass die GEHAG die bisher so eintra¨chtige Zusammenarbeit mit dem vermeintlich kommunistisch unterwanderten Bewohnerausschuss aufku¨ndigte. Gutschmidt rief eine eigene GEHAG-Zeitschrift ins Leben und sein Parteigenosse und Reichsbannerkamerad Scholz wechselte im April 1930 in die Redaktion des ebenfalls neu gegru¨ndeten Einfa Nachrichtenblatts.93 Das damit verbundene Ende der Wohngemeinschaft bedeutete das endgu¨ltige Scheitern des Versuchs, eine von den Bewohnern selbst organisierte, unabha¨ngige und pluralistische Siedlungso¨ffentlichkeit herzustellen. Wa¨hrend die Wohnungsgesellschaft in ihren Verlautbarungsorganen das Bild von der Siedlungsidylle verbreitete, setzten die Kommunisten ihre Angriffe gegen die „korrupte“ GEHAGFu¨hrung vor Ort und in den Parlamenten weiter fort.94 Auf linksradikaler Seite verfestigte sich so schon bald das Bild von der sozialdemokratischen „Bonzen-Siedlung“, in der die selbstzufriedene „Arbeiteraristokratie“ einen behaglich-kleinbu¨rgerlichen Lebensstil pflegte und vollends die Fu¨hlung zum Not leidenden Proletariat verlor.95 Eine Zusammenarbeit zwischen den verfeindeten Arbeiterparteien schien undenkbar. Wa¨hrend die Kommunisten der gemeinwirtschaftlichen Wohnungsgesellschaft das Scheitern an den selbst gesteckten Zielen und den „Verrat“ ihrer sozialistischen Prinzipien vorhielten, war es auf Seiten der bu¨rgerlichen Rechten gerade der Erfolg der „sozialistischen Siedlungsgesellschaft“ und ihrer „roten Elite-Siedlung

91 Emil Ho ¨ llein, Bauwucher- und Bauschwindelkomplott in Berlin, in: Rote Fahne vom 26. bis zum

30. 6. 1929. Vgl. allgemein zur Instrumentalisierung des sozialen Wohnungsbaus im Parteienkampf zwischen SPD und KPD Mark Hobbs, Visual Representations of Working-Class Berlin, 1924–1930, Glasgow 2010, S. 230–284. 92 Arno Scholz, Wer wohnt in den Großsiedlungen, in: Wohngemeinschaft 2 (27. 9. 1929), S. 1, und Franz Gutschmidt, Die Arbeit der Gehag, in: Unser Weg 3 (August 1929), S. 189. 93 Siehe ‚Sachliche‘ Arbeit, in: GEHAG Nachrichten 1 (April 1930), o. S. 94 Siehe zu Versuchen des KPD-Reichstagsabgeordneten, die Vorstandsgeha¨lter der GEHAG zu skandalisieren, Mieterkundgebung, in: Rote Fahne vom 18. 3. 1931, und Reichstagsprotokoll vom 21. 3. 1931, S. 1869. 95 Siehe etwa die pointiert-polemische Schilderung der Siedlungsbewohnerschaft in Gustav Regler, Wasser, Brot und blaue Bohnen, in: Magazin fu¨r Alle 7 (Mai 1932), S. 7–9. Regler war im Winter 1928/29 ha¨ufiger Gast im Hause Heinrich Vogelers, der ihn mit den Kreisen der anarchistischen Bohe`me um Erich Mu¨hsam und seinen Genossen in der Britzer KP-Straßenzelle 29 bekannt machte.

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Britz“, der als Bedrohung empfunden wurde.96 Auf lokaler Ebene formierte sich der Widerstand im deutschnationalen „Bu¨rgerverein Berlin-Britz“, einer alteingesessenen Interessenvertretung des o¨rtlichen Mittelstandes.97 Den gemeinwirtschaftlichen Bestrebungen der GEHAG wie den modernen Bauideen Tauts und Wagners standen der Verein und insbesondere sein Vorsitzender, der Britzer Architekt Hans Tiedt, von Anfang an feindlich gegenu¨ber.98 Der publizistische Kleinkrieg, den der Bu¨rgerverein u¨ber sein Mitteilungsblatt ab Mitte 1927 mit Arno Scholz’ Wohngemeinschaft ausfocht, eskalierte vollends anla¨sslich des „politischen Kinderfestes der Gehag-Freunde“ im August 1928, in dem die Alt-Britzer Bu¨rgervertreter „nichts anderes als eine politisch-einseitig aufgezogene Maßnahme zur Vergiftung der jungen Gemu¨ter“ witterten. Angeprangert wurde von bu¨rgerlicher Seite, dass Erich Koch in seiner Festrede fu¨r eine weltliche Schule in der Siedlung und gegen die Pru¨gelstrafe agitiert habe, dass dem Reuter-Umzug „Plakate mit aufreizenden, dem Klassenhaß dienenden Wortlaut“ vorangetragen worden seien und zum Ho¨hepunkt eines Kinderfestes „die Entrollung einer blutru¨nstigen roten Fahne“ gefeiert wurde.99 Anders als die kommunistische Opposition, die sich zuna¨chst innerhalb der Siedlungsgemeinschaft zu artikulieren und Positionen zu besetzen suchte, agierte der Bu¨rgerverein von vornherein von außen und auf der Grundlage einer grundsa¨tzlich anderen Traditionslinie. Der „proletarischen Festkultur“ der GEHAG-Siedler setzten die Alt-Britzer Bu¨rger ihre eigene lokale Festkultur entgegen: die Britzer Rosenfeste.100 Am 23. Juni 1929 sammelte der Bu¨rgerverein erstmals das lokale Bu¨rgertum vom Grundbesitzer- u¨ber diverse Turn-, Sport- und Gesangsvereine und Handwerksinnungen bis zum Landwehr- und Veteranenverein unter seiner Fahne zu einem gemeinsamen Festzug. Trotz heftigen Regenwetters marschierte man mit Musikkapelle und Blumenwagen durch die Britzer Straßen – auch durch die FritzReuter-Allee im Herzen der Neubausiedlung. Bevor die Veranstaltung am Abend mit

96 U ¨ ber 3 Millionen Mark werden fu¨r die Gehag zum Fenster hinausgeworfen, in: Berliner Bo¨rsenzei-

tung vom 23. 3. 1928. Vgl. fu¨r a¨hnliche Angriffe der rechtsbu¨rgerlichen Presse: Bauen tut not, in: Berliner Lokalanzeiger vom 11. 12. 1927, und Das Gegenu¨ber der Britzer Großsiedlung, in: Neuko¨llner Tageblatt vom 28. 6. 1928. 97 Siehe zur Vereinsgeschichte: Festschrift zum 100ja¨hrigen Jubila¨um des Bu¨rgerverein Berlin-Britz e. V. 1890–1990, Berlin 1990, und allgemein zu dieser bu¨rgerlichen Vereinsform: Frank Bo¨sch, Militante Geselligkeit. Formierungsformen der bu¨rgerlichen Vereinswelt zwischen Revolution und Nationalsozialismus, in: Politische Kultur in der Zwischenkriegszeit 1918–1939, hg. v. Wolfgang Hardtwig, Go¨ttingen 2005, S. 151–182. 98 Siehe etwa Großkampftage um Baugela¨nde, in: Mitteilungsblatt 3 (Ma¨rz 1926), S. 18; Gartenbauliche Arbeiten in Britz, in: Mitteilungsblatt 4 (April 1927), S. 22, und Zur Verlegung des Versuchs-Flugplatzes nach Britz, in: Mitteilungsblatt 4 (September 1927), S. 51–53. 99 Der zartbesaitete Siedlerverein, in: Mitteilungsblatt 5 (September 1928), S. 81. Der Festbericht des ebenfalls rechtsbu¨rgerlichen Neuko¨llner Tageblatts vom 21. 8. 1928 spricht hingegen nur von „bunten Bildern mit ein klein wenig Tendenz“. 100 Die Festtradition ging auf die Deutsche Rosen-Ausstellung in Britz 1911 zuru¨ck und la¨sst sich im Kontext der nationalbu¨rgerlichen „Heimatbewegung“ verorten. Vgl. Dr. Sachrow, Unsere Heimat Britz, in: Mitteilungsblatt 5 (Februar 1928), S. 14f., und allgemein Karl Ditt, Die deutsche Heimatbewegung 1871–1945, in: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bd. 1, hg. v. Will Cremer, Bonn 1990, S. 135–154, und Edeltraud Klueting, Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991.

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patriotischen „Sa¨ngerkriegen“ und einem Festball ausklang, wurde die neue Fahne des Bu¨rgervereins mit dem aufgestickten Motto „Liebe die Heimat, halt ihr die Treu’! Sie vergilt es dir stets auf’s Neu’“ geweiht. In seiner markigen Weiherede erinnerte der Treptower Pfarrer Czopnik wehmu¨tig an die nationale „Begeisterung von 1914“, zitierte aus Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und ermahnte das Britzer Bu¨rgertum als „Mark des Deutschtums“ zur Einigkeit im Kampf „gegen Unglauben, Materialismus, Undeutsches und Bolschewismus“. Die Festversammlung endete mit der feierlichen Enthu¨llung der Vereinsfahne und dem Singen des „Deutschlandliedes“.101 Die mit dem Rosenfest verbundene Vereinswerbung und eine dezidiert antisozialistische Positionierung im Kommunalwahlkampf 1929 halfen dem Britzer Bu¨rgerverein, langsam auch innerhalb der Großsiedlung Fuß zu fassen.102 Anders als bei den „Festen der Arbeit“ ist im Falle der bu¨rgerlichen Konkurrenzveranstaltung allerdings im Folgejahr eine deutliche Entpolitisierung festzustellen. Statt mit markigen Parolen und patriotischen Treueschwu¨ren trumpfte der Bu¨rgerverein im Juni 1930 mit einer betont unpolitischen und u¨ber die Grenzen des eigenen Milieus hinausgreifenden Festinszenierung auf. Bei strahlendem Sonnenschein pra¨sentierte sich das Britzer Bu¨rgertum beim „Rosenfestumzug“ von seiner farbenfrohesten Seite: 44 aufwendig dekorierte Wagen za¨hlte der Blumenkorso, der gemeinsam mit Musikkapellen und Abteilungen der lokalen Vereine und Berufsinnungen den sechs Kilometer langen Weg vom Festlokal in der Chausseestraße zur Siedlung und wieder zuru¨ck marschierte. Ho¨hepunkt des Festes waren die Wahl der Rosenko¨nigin und eine Pra¨mierung der scho¨nsten Blumenwagen. Auch die Festrede des Bu¨rgervereinsvorsitzenden Hans Tiedt vermied den vorliegenden Berichten zufolge politische Kommentare zur Lage der Nation und forderte stattdessen salomonisch, „am Neuen sich zu erfreuen und am guten Alten in Treue festzuhalten“.103 Begeistert sprach die Neuko¨llnische Zeitung von einem „in jeder Beziehung pra¨chtig verlaufenen Volksfest“, das „mit leuchtenden Lettern“ in die Annalen der Britzer Geschichte einzutragen sei.104 Obwohl das Bu¨rgerfest auch innerhalb der sozialdemokratischen Siedlungsgemeinschaft Wirkung zeigte, blieb dieser Eintrag jedoch Episode: Die so schwungvoll wie-

101 Julius Wegner, Fahnenweihe und Rosenfest, in: Mitteilungsblatt 6 (Juni 1929), S. 40–42; Das Britzer

Rosenfest, in: Neuko¨llnische Zeitung vom 24. 6. 1929; Rosen und Regen, in: Neuko¨llner Tageblatt vom 25. 6. 1929; Rosenfest in Britz, in: Berliner Lokalanzeiger vom 25. 6. 1929, und Paul Schulz, Unsere Fahnenweihe, in: Mitteilungsblatt 6 (August 1929), S. 52–55. 102 Hans Tiedt, Wann wird endlich mit der sta¨dtischen Protektions-Wirtschaft aufgera¨umt?, in: Mitteilungsblatt 6 (November 1929), S. 80–82. Laut Mitgliederverzeichnis des Vereins wohnten 1930 von 358 Mitgliedern 24 in der Großsiedlung, von denen 18 erst ab Herbst 1929 dem Verein beigetreten waren. 103 Das Britzer Rosenfest, in: Neuko¨llnische Zeitung vom 23. 6. 1930, und Das Britzer Rosenfest, in: Neuko¨llner Tageblatt vom 24. 6. 1930. Das Tageblatt scha¨tzte die Zahl der Besucher auf 3000. 104 Neuko¨llnische Zeitung (wie Anm. 103). A ¨ hnlich urteilten auch das Neuko¨llner Tageblatt und der Bu¨rgerverein selbst – siehe Jahresbericht fu¨r das Gescha¨ftsjahr 1930, in: Mitteilungsblatt 8 (Februar 1931), S. 14. Die Britzer Kammerspiele produzierten a¨hnlich wie beim Reuter-Fest 1928 sogar eine Filmdokumentation des Festes.

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der belebte Rosenfesttradition konnte in den folgenden Jahren aufgrund der „allgemeinen Notlage und Geldknappheit“ nicht fortgefu¨hrt werden.105

V. Fazit und Ausblick: Britzer Festkultur vor und nach 1933/45

Die erfolgreichen Inszenierungen der bu¨rgerlichen „Rosenfeste“ und der proletarischen „Feste und Arbeit“ zeigen, wie wichtig die Festkultur fu¨r die Mobilisierung und Politisierung der jeweiligen Milieus waren. Trotz gelegentlicher Grenzu¨berschreitungen machen die demonstrativen Abgrenzungen gegenu¨ber Außenstehenden deutlich, wie weit man Anfang der 1930er Jahre auch in der Britzer Modellsiedlung noch von der erhofften „Verschmelzung“ von sta¨dtischer und la¨ndlicher Kultur in einem kollektiven „Gemeinschaftsgeist“ entfernt war. Statt die Bewohnerschaft untereinander und mit ihrem unmittelbaren lokalen Umfeld zusammenzufu¨hren, versta¨rkten die Siedlungsfeste letztlich die um sich greifende Wagenburgmentalita¨t der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft. Die Ausgrenzung der kommunistischen Opposition und die Abwehrhaltung gegenu¨ber der Altbritzer Bu¨rgerschaft fu¨hrten dazu, dass aus der SPD-Hochburg eine Trutzburg, aus dem Pionierprojekt ein Ru¨ckzugsort reformsozialistischer Verfechter einer neuen Wohnkultur wurde. Die Ursachen dieser Entwicklung liegen allerdings weniger in der Siedlungsgemeinschaft selbst, als im allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch der Weimarer Republik. Die milieuu¨bergreifenden Ansa¨tze des Reuterfestes von 1928 und des Rosenfestes von 1930 deuten an, dass die Konkurrenz bu¨rgerlicher und proletarischer Festkultur durchaus Potential fu¨r Anna¨herung und Inklusion barg.106 Die Mo¨glichkeit einer allma¨hlichen Anna¨herung im friedlich-pluralistischen Wettbewerb von Arbeiter- und Bu¨rgerfesten wurde jedoch durch die Entwicklungen der folgenden Jahre abrupt unterbrochen. Die wirtschaftliche Notlage und der zunehmende Straßenterror erzwangen bereits vor 1933 ein Ende der Britzer Sommerfeste.107 ¨ ffentlichkeit des NS-Regimes ließ die totalita¨re IdeoIn der gleichgeschalteten O logie der „Volksgemeinschaft“ eine selbstbewusste Artikulation klassenspezifischer Kollektivrituale nicht mehr zu. Dennoch versuchten die Nationalsozialisten nach ihrer Machtu¨bernahme, beide lokale Festtraditionen fu¨r ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Umwidmung des „Festes der Arbeit“ zu einem „Tag der Volksgemeinschaft“ wurde allerdings bereits nach dem ersten Anlauf im Juni 1934 abgebrochen, da die neue Fu¨hrung der gleichgeschalteten Wohnungsverwaltung die Vergeblichkeit 105 Siehe die Heimatchronik des Sozialdemokraten Willy Grigat, Britz einst und jetzt, Berlin-Britz 1932,

S. 115f. Vgl. Rosenfest oder Dampferfahrt?, in: Mitteilungsblatt 8 (April 1931), S. 28. 106 Dass es an konkreten Vermittlern nicht mangelte, zeigt die Person Willy Grigats, der als sozialdemo-

kratischer Mieterbeirat zugleich Mitglied des Bu¨rgervereins und Autor der erwa¨hnten Heimatchronik war. Siehe zu seiner Biografie: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 277f. 107 Vgl. auch zum Folgenden Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 120ff.

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derartiger „Versuche an untauglichen Objekten“ erkannte.108 Die Resistenz der in ¨ berreste der einstigen Solidargemeinschaft verhinderte der Siedlung verbliebenen U ¨ bernahme der ihr eigentu¨mlichen Festrituale. offenbar die feindliche U

Abb. 4: Blumenwagen beim Britzer Rosenfest 1939 Quelle: Museum Neuko¨lln

Mehr Erfolg hatten die Nationalsozialisten mit der Aneignung der Rosenfest-Tradition. Der Britzer Bu¨rgerverein war nach vollzogener Selbstgleichschaltung eifrig bemu¨ht, sich dem neuen Regime anzudienen. Die Gelegenheit bot sich, als die Neuko¨llner Parteifu¨hrung im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1936 nach lokalen Volksfesttraditionen suchte, mit deren Hilfe die Normalita¨t der NS-Herrschaft auch im einstmals „ro¨testen Arbeiterbezirk“ Berlins demonstriert werden konnte.109 Bis 1939 entwickelte sich das Rosenfest unter der Regie der o¨rtlichen NS-Funktiona¨re zum zuna¨chst bezirksu¨bergreifenden, dann sogar hauptstadtweit gro¨ßten Volks- und Heimatfest nach dem Stralauer Fischzug. Zwar war die Festgestaltung und -rhetorik bemu¨ht, sich einen betont unpolitisch-volkstu¨mlichen Anstrich zu geben; doch war es unu¨bersehbar, dass es den Nationalsozialisten politisch darum ging, dem vermeintlich „wurzellosen Großstadtproletariat“ in der fru¨heren Hochburg der marxistischen 108 Das Zitat des NSBO-Politkommissars Alf Kru¨ger aus Staatsfeinde!, in: Großsiedlung 5 (Septem-

ber 1934), S. 2. Siehe zum Kontext des Volksgemeinschaftstages: Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 132–139. 109 Das Zitat des NSBO-Gru¨nders Reinhold Muchow nach Kessinger, Die Nationalsozialisten (wie Anm. 89), S. 121. Zu den nationalsozialistischen Rosenfesten siehe Holsten, Britzer Festkultur (wie Anm. 12), S. 139–146.

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Arbeiterparteien ein neues Heimatgefu¨hl im Zeichen nationalsozialistischer Vorstellungen von „Blut und Boden“ und „Brauchtum und Sitte“ zu vermitteln. Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft waren es erneut die Sozialdemokraten, die in der Siedlung den Ton angaben und die Festkultur pra¨gten. Wie nach 1933 kam es nach 1945 zu einem umfangreichen Austausch der Mieterschaft, und die zuru¨ckgekehrten Wohngenossen machten sich schon bald daran, ihre alte Festtradition wieder zu beleben. Die Sonnenwendfeiern im Hufeisen wurden ab 1948 zum ja¨hrlichen Ho¨hepunkt des lokalen Festkalenders, zu dem sich auch wie zu Weimarer Zeiten neben tausenden von Zuschauern die Berliner Parteiprominenz von Ernst Reuter bis Willy Brandt einfand.110 Der Britzer Bu¨rgerverein beno¨tigte aufgrund eines wegen seiner NS-Na¨he verha¨ngten alliierten Wiederbeta¨tigungsverbotes dagegen bis 1953, bis er mit dem „Britzer Baumblu¨tenfest“ wieder an die Vorkriegszeit anknu¨pfen konnte. Anders als die SPD-Sonnenwendfeiern konnte das inmitten der Siedlung veranstaltete Baumblu¨tenfest als ga¨nzlich unpolitisches vorsta¨dtisches Rummelplatzvergnu¨gen die tief reichenden Vera¨nderungen des urbanen Freizeitverhaltens bis heute u¨berstehen.111

110 Siehe die Magisterarbeit von Antonia Go ¨ tsch, Sozialdemokratisches Milieu nach 1945. Eine Unter-

suchung am Beispiel der Britzer Hufeisensiedlung, Go¨ttingen 2002, S. 41f.

111 Siehe die Festschrift 600 Jahre Britz 1375–1975, S. 26f. Zur Auflo¨sung der Arbeiterkulturbewegung

seit Ende der 1950er Jahre siehe Klaus Tenfelde, Vom Ende und Erbe der Arbeiterkultur, in: Gesellschaftlicher Wandel – Soziale Demokratie. 125 Jahre SPD, hg. v. Susanne Miller/Malte Ristau, Ko¨ln 1988, S. 155–172.

¨ CK VOM RAND INS ZENTRUM UND ZURU Moderner Zirkus und moderne Metropole von Sylke Kirschnick

Ohne moderne Großstadt ha¨tte es vermutlich auch keinen modernen Zirkus gegeben.1 Sie geho¨rte zu den Bedingungen, die er beno¨tigte, um zu entstehen. Als der Handwerkersohn und Kavallerist Philip Astley das Medium in den 1770er Jahren in London begru¨ndete, lebten in der Stadt Hunderttausende Einwohner.2 Auch Paris, wo Astley 1782 eine Dependance ero¨ffnete, geho¨rte zu den bevo¨lkerungsreichen Sta¨dten Europas. Um wirtschaftlich rentabel zu sein, brauchten die Zirkusunternehmen stets wechselnde Zuschauer. Wegen der unterschiedlichen Eintrittspreise fu¨r Loge, Parkett und Galerie, die am gu¨nstigsten war, sollte das Publikum sozial auch mo¨glichst ausdifferenziert sein. Denn anfangs war der Zirkusbetrieb stationa¨r. Und er spielte, so wollte es Astley, der sich zeitlebens weigerte, sein Unternehmen ‚Zirkus‘ zu nennen, im Amphithe´aˆtre. Noch in den Erza¨hlungen und Romanen von Charles Dickens gingen die Figuren in Astleys Theater, wenn sie eine Zirkusvorstellung besuchten.

I. Vom Rand ins Zentrum der Metropole: Zirkuspala¨ste im Straßenbild

Zirkuszelte, wie man sie heute kennt, kamen in Europa erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf. In Deutschland sollte das Konstanzer Unternehmen von Emil Stromeyer eine der bekanntesten Firmen sein, die Zirkuszelte herstellten. Doch zuerst wurden zirzensische Vorstellungen in festen Geba¨uden aus Holz, spa¨ter aus

1 Zum Folgenden vgl. Sylke Kirschnik, „Manege frei!“, Die Kulturgeschichte des Zirkus, Stuttgart

2012; zu deutsch-ju¨dischen Zirkusunternehmern und -historikern vgl. dies., Deutsch-ju¨discher Zirkusadel: Joseph Halperson, die Familien Blumenfeld und Strassburger, in: Nicht nur Bildung, nicht nur Bu¨rger! Juden in der Popula¨rkultur, hg. v. Klaus Ho¨dl, Innsbruch 2013, S. 103–120. 2 Zu Astley vgl. Janina Hera, Der verzauberte Palast, Aus der Geschichte der Pantomime, Berlin 1981, S. 103–131; ferner den Eintrag „Astley, Philip“ in der digitalisierten Ausgabe von Robert Chambers, erstmals 1864 publiziert „Book of days“ http://www.thebookofdays.com/months/oct/ 20.htm#PHILIP ASTLEY [14. 3. 2011].

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Stein gegeben. Sie lagen anfa¨nglich entweder in den einschla¨gigen Vergnu¨gungsvierteln der Großsta¨dte wie Astleys Amphithe´aˆtre Anglois [!] und spa¨ter der Cirque Olympique der Franconis am Pariser Boulevard du Temple sowie ab 1808 der Circus gymnasticus von Christoph de Bach im Prater in Wien. Oder aber am Rand der Stadt, wie das erste, im Jahre 1821 erbaute Berliner Zirkusgeba¨ude. Es befand sich neben dem Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor. Wa¨hrend der revolutiona¨ren Unruhen in den Ma¨rztagen 1848 brannte es ab.3 Dass Berlin einmal eine Zirkusmetropole wie London und Paris werden sollte, war im 18. Jahrhundert nicht abzusehen. Das Klima in der Residenzstadt Berlin unter Friedrich II. war Akrobaten ganz und gar nicht gewogen: „Ueberhaupt sollen ohne Seiner Ko¨niglichen Majesta¨t Vorwissen keine neue und fremde Spectacles, Seil-Ta¨nzern, Lufft-Springern und andere dergleichen schlechtes Zeugs dorten nicht geduldet werden, wer sich Lust hat, den Halß zu brechen, kann es an anderen Orthen thun, hier im Lande soll es nicht seyn“4 verlautete eine Kabinettsorder vom 4. Ma¨rz 1777. Beinah erscheint es wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade die Hohenzollern ab Mitte des 19. Jahrhunderts den in Berlin ansa¨ssigen Großzirkussen von Ernst Jakob Renz, Paul Busch und Albert Schumann, die alle drei den Titel eines Kommissionsrats verliehen bekamen, einmal in besonderer Weise verbunden sein wu¨rden. Ernst Jakob Renz jedenfalls richtete dem preußischen Monarchenhaus am 14. April 1860 auf allerho¨chsten Befehl eine eigene Galavorstellung fu¨r sa¨mmtliche Ko¨nigliche Prinzen und Prinzessinen aus und gab auch in Zukunft immer wieder Geburtstagsvorstellungen fu¨r das ko¨nigliche, spa¨ter kaiserliche Herrscherpaar.5 In jener Vorstellung vom April 1860 tanzten die Dressurpferde Emir und Negus einen Walzer und trat der Trapezku¨nstler Jules Le´otard auf, der als „erster fliegender Mensch“ in die Artisten- und Zirkusgeschichte eingehen sollte. Wilhelm II. erhielt seine erste Renz-Geburtstagsvorstellung im Alter von neun Jahren auf Wunsch seiner Mutter, Kronprinzessin Viktoria, am 27. Januar 1868. Lange zuvor schon hatten Angeho¨rige des preußischen Ko¨nigshauses allerdings gelegentlich Zirkusvorstellungen besucht. So die des franzo¨sischen Tourneezirkus Cuzent et Le´jars, der mit beho¨rdlicher Genehmigung auf dem Do¨nhoffplatz ein Zirkusgeba¨ude hatte errichten lassen. Mitte der 1840er Jahre lebten in Berlin knapp 400 000 Menschen und das Gescha¨ft hatte sich hier fu¨r die Zirkusunternehmen zu lohnen begonnen.6 Fu¨r den 26. und 29. Dezember 1845 sind in den Akten der Berliner Theaterpolizei, die hierfu¨r eine eigene Rubrik vorsah, zwei Besuche preußischer Prinzen und ihrer Gemahlinnen vermerkt, von denen es u¨ber einen der beiden heißt, der 3 Zu Berlin vgl. Gisela Winkler, Circus Busch, Geschichte einer Manege in Berlin, Berlin 1998, S. 8; zu

Paris vgl. Hera, Palast (wie Anm. 1), S. 108; zu Wien vgl. Ernst Gu¨nther/Dietmar Winkler, Zirkusgeschichte, ein Abriß der Geschichte des deutschen Zirkus, Berlin 1986, S. 25. 4 Zit. nach Gu¨nther/Winkler, Zirkusgeschichten (wie Anm. 2), S. 45. 5 Vgl. Alwill Raeder, Der Circus Renz in Berlin. Eine Denkschrift zur Jubila¨ums-Saison 1896/97, Berlin 1897, S. 96 – die S. 57–263 dokumentieren die Berliner Renz-Vorstellungen von 1846 bis 1896; auch die Gala- und Geburtstagsvorstellungen zu Ehren des preußischen Ko¨nigshauses bzw. spa¨ter der kaiserlichen Familie sind dort vermerkt. 6 Zur Bevo¨lkerungszahl vgl. Christopher Clark, Preußen, Aufstieg und Niedergang 1600–1947, Mu¨nchen 2008, S. 519.

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Zirkus sei „so stark besetzt“ gewesen, „dass die Zuga¨nge gesperrt werden mussten u. vor dem Beginn der Vorstellung niemand mehr eingelassen werden konnte“.7 Im Jahr darauf sollte Renz sein erstes Berliner Gastspiel absolvieren. Außer ihm gastierten in diesem und in den folgenden Jahren unter anderem die Gesellschaften von Eduard Wollschla¨ger, Carl Price, Alexandre Guerra, Hinne´ und Ducrow, Krembser, Ciniselli und Franc¸ois Loisset in der Stadt, bei denen es sich um ausgesprochene Korypha¨en der europa¨ischen Zirkuskunst gehandelt hat. Renz’ vorla¨ufig sta¨rkster Rivale, der Pariser Tourneezirkus von Louis Dejean, machte ihm den ersten Platz in der preußischen Residenzstadt noch in den Jahren 1850/52 streitig, bevor er sich endgu¨ltig zuru¨ckzog. Der Wiener Publizist Joseph Halperson, der 1926 die erste deutschsprachige Zirkusgeschichte vorlegte, bemerkte zu Recht, dass der Konkurrenzkampf zwischen Renz und Dejean in den folgenden Jahrzehnten „zumeist einseitig chauvinistisch gefa¨rbt“ geschildert worden ist.8 Tatsa¨chlich kann von antifranzo¨sischen Ressentiments bei Renz nicht die Rede sein. Er suchte schlicht, sich wirtschaftlich mit seinem Zirkusunternehmen in Berlin zu etablieren. Anfangs zollte er noch dem franzo¨sischen Stil seinen Tribut und annoncierte sich als „Cirque equestre“ und – in Anlehnung an das Pariser Vorbild der Franconis – als „Cirque Olympique“. In der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts sollte er dann seinerseits stilbildend fu¨r die europa¨ische Zirkuskunst sein. In Berlin gab es inzwischen mehrere Zirkusbauten wie den Großkopfschen Zirkus in der Charlottenstraße und das von Dejean erbaute Geba¨ude in der Friedrichstraße, das Renz ab 1852 bespielte. Zirkusgeba¨ude haben den Erfordernissen des Mediums gema¨ß eine ganz eigene Form und Innenausstattung. Hinter einer quadratischen Forderfront erhebt sich in der Regel ein Rundbau mit einer Manege im ¨ ffnungen begrenzt und die einen Durchmesser von Innern, die eine Barriere mit O dreizehn Metern hat, damit sich die Kunstreiter auf dem Ru¨cken des kreisenden Pferdes im Gleichgewicht halten ko¨nnen.9 Pferdedressuren bzw. die Kunst- und Schulreiterei waren das Herzstu¨ck des modernen Zirkus, hinzu kamen die Clownerie, die Akrobaten und die Pantomimen. Fu¨r die opulenten Ausstattungsstu¨cke gab es neben der Manege auch noch eine Bu¨hne mit oft aufwendigen technischen Vorrichtungen. Als in den 1880er Jahren Wasserpantomimen popula¨r wurden, musste auch fu¨r den Zu- und Abfluss von Wassermassen gesorgt werden. Bei Busch konnte ab 1895 ganz mu¨helos die Manege geflutet werden. Waren die Sitzreihen bei Astley noch waagerecht angeordnet wie in den Londoner und Pariser Boulevardtheatern, so nahmen spa¨ter auch sie die Amphitheaterform an, die man heute kennt. Schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts fassten die Geba¨ude mehr als dreitausend Zuschauer. Auch die Fassaden der Zirkusbauten nahmen zunehmend pra¨chtigere Formen an, waren mit Reliefs, Reiterplastiken, Pferdefiguren und Malereien verziert und manchmal –

7 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1521, Bl. 22f. 8 Joseph Halperson, Das Buch vom Zirkus. Beitra¨ge zur Geschichte der Wanderku¨nstlerwelt, Reprint

der Ausgabe von 1926, Leipzig 1990, S. 94.

9 Vgl. Jewgeni Kusnezow, Der Zirkus der Welt, Berlin 1970, S. 7f.

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wie das Wiener Haus des Circus Busch in der Circusgasse – nachts illuminiert.10 Renz, Busch und Schumann betrieben Dependancen in Hamburg, Breslau und Wien. Mit Ernst Jakob Renz, der sich 1852 in der Berliner Friedrichstraße niederließ, Paul Busch, der 1895 sein erstes festes Berliner Haus am damaligen S-Bahnhof Bo¨rse ero¨ffnete und mit Albert Schumann, der 1899 nach Renz’ Konkurs dessen letztes Berliner Geba¨ude bezog, den Markthallenzirkus am Schiffbauerdamm, waren die Zirkusse ins Zentrum der Metropole geru¨ckt.11 „Und durch noch etwas hat sich das Straßenbild vera¨ndert“, befand der Theaterkritiker und Berichterstatter der „Breslauer Zeitung“ nach der Ero¨ffnung des Berliner Busch-Geba¨udes am heutigen Hackeschen Markt: „Aber ein rundes Ungetu¨m in bunten Farben erhebt sich dort; ein massives bemaltes Ziegelgeba¨ude, so exponiert und hart am Wasser vorgelagert, daß man fu¨rchtet, der Circus mit allen Rossen, Balletma¨dchen [!] und Athleten ko¨nnte in die Spree fallen. Daru¨ber ragen, jenseits der schmutzigen schwarzgru¨nen Flut mit den venetianisch kolorierten Bootpfa¨hlen, die schlanken, dunklen Sa¨ulenga¨nge der Nationalgalerie empor, die in vornehmer Melancholie die Insel an jener Seite umfriedigen. Hier liegt alles im Dunkel, und auf der anderen Seite, wo es hell ist, elektrisch-hell, balgen sich die schweißduftenden Bewohner des Nordens um die Galerieeinga¨nge, ein graubrauner Schwarm, Arbeiter und beurlaubte Bierkutscher und Hausdiener, Brieftra¨ger, die ihren Ausgehtag haben, Kanzlisten und kleine Handwerker, auch Heringsverka¨ufer mit ihrem Verha¨ltnis, Friseure mit Gattin, hier und da ein Student, ein Soldat, die Polizisten bru¨llen, die Droschken rasseln, die Pferdebahnen klingeln.“12 In der Tat war das Verkehrsaufkommen vor den Zirkussen hoch, weshalb die Berliner Theaterpolizei „klar geregelt“ hatte, „wo und wie die Hofequipagen, die Privatequipagen, bestellten Droschken und die unbestellten Droschken I. und II. Klasse anzufahren, abzufahren und zu stehen“ hatten.13 Alle großen Berliner Zirkusbauten verfu¨gten u¨ber Hoflogen. Die fu¨r das Zirkusmetier so wesentliche Affinita¨t zum adeligen Publikum verdankte sich – unbesehen

10 Vgl. die Postkartensammlung im Stadtmuseum Berlin/documenta artistica; ferner den noch exis-

tierenden Pariser Cirque d’Hiver unter http://www.cirquedhiver.org/img/img_lecirquedhiver.png [3. 3. 2012). 11 Renz zog infolge von Brandverheerungen und einem gu¨nstigen Verkauf seines Grundstu¨cks, das fu¨r den Bau der Berliner Stadtbahn beno¨tigt wurde, noch mehrfach in Berlin um. Ab 1879 bespielte er dann bis zu seinem Tod im Jahre 1892 das von Albert Salamonsky von einer Markthalle zum Zirkus umgebaute Geba¨ude in der Karlstraße am Schiffbauerdamm. 1897 ging das Zirkusunternehmen unter Renz’ Sohn Franz in Konkurs. Vgl. Halperson, Zirkus (wie Anm. 7), S. 94. 12 Alfred Kerr, Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900, hg. v. Gu¨nther Ru ¨ hle, Berlin 1997, S. 91f. 13 Das Zitat entstammt einem eingeklebten Zeitungsausschnitt mit der Bekanntmachung des Polizei-Pra¨sidenten, Freiherr von Richthofen, u¨ber den Wagenverkehr bei der Anfahrt zum Zirkus [!] Renz vom 18. November 1892, der sich in den Akten der Berliner Theaterpolizei zum Circus Renz findet; LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1526, Renz 1892–1896, Bl. 6.

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der Zuru¨ckweisung von Akrobaten durch den „Alten Fritz“, zu dessen Lebzeiten das Medium ja noch in den Kinderschuhen steckte – dem Konnex von Adel, Reiterei und Milita¨r. Das betraf sowohl die Schulreiterei als auch die Pferdedressuren und die Kunstreiter. Die Theaterpolizei regelte freilich nicht nur den Verkehr von Kutschen und der Pferdebahn, sondern kontrollierte ferner die Einhaltung sowohl von sicherheitstechnischen Auflagen als auch die der guten Sitten. Die Beamten besuchten unangeku¨ndigt und unregelma¨ßig den Zirkus, hielten fest, wie stark der Zulauf war und notierten auch „besondere Vorkommnisse“, wie jenen im Januar 1883, als ein Soldat wa¨hrend der Vorstellung im Circus Renz in Ohnmacht fiel. Mitte der 1920er Jahre sollte sich das Verschwinden der Kavallerie-Regimenter nach dem Zusammenbruch der Monarchie in den Zuschauerra¨ngen des Berliner Busch-Baus deutlich bemerkbar machen.14 Der alte Pferdezirkus hatte seine Blu¨tezeit auch lange hinter sich. Albert Schumann, einer der letzten großen Pferdedresseure, setzte sich nicht grundlos 1918 zur Ruhe. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte sich der Raubtier- und Exotenzirkus endgu¨ltig durchzusetzen begonnen, und mit Pferdenummern bestritten die Direktoren bestenfalls noch ein Drittel der Vorstellungen. Vereinzelt hatte es Wildkatzen, Elefanten oder Giraffen auch zuvor schon in der Manege gegeben. Bei Renz traten 1856 der Dompteur Uhlmann mit einem Lo¨wen und einem Tiger und im Herbst 1863 Thomas Batty mit fu¨nf Lo¨wen auf; ein enger Ka¨figwagen, der von allen Seiten einsehbar war, wurde in die Manege geschoben und die Dompteure sprangen unter Peitschenknallen und Pistolenschu¨ssen in den Ka¨fig, ließen die Tiere durch einen Reifen springen und brachten sich danach geschwind wieder in Sicherheit.15 Fu¨r die Wildkatzen war es ein unba¨ndiges Leid; zirzensisch waren die Nummern belanglos und nicht mehr als eine grausame Machtdemonstration des Dompteurs. Erst mit der humanen oder zahmen Dressurmethode und der Erfindung des großen Zentralka¨figs 1892 durch die Hamburger Tierha¨ndler, Zoo- und Zirkusunternehmer Carl und Wilhelm Hagenbeck ließen sich dramaturgisch sehenswerte und fu¨r die Wildkatzen halbwegs ertra¨gliche Programm-Nummern gestalten.16 Doch damit steuerten auf die Großstadt auch Gefahren zu. II. Großstadt kollidierte mit Savanne Am 19. Oktober 1913 krachten in der Leipziger Innenstadt Schu¨sse. Erst tags zuvor war das Vo¨lkerschlachtdenkmal eingeweiht worden. Das u¨ber neunzig Meter hohe, ganz im Stil wilhelminischer Großmannssucht gehaltene Bauwerk sollte an die einhundert Jahre zuvor nahe der Stadt ausgetragene Schlacht zwischen den napoleo14 So in einem offiziellen Schreiben des Berliner Oberfinanzrats an den preußischen Finanzminister vom

12. Ma¨rz 1926 u¨ber Paula Buschs abschla¨gig beschiedenes Ersuchen um Mietminderung, damit das angeschlagene Unternehmen entlastet werden ko¨nnte; zitiert in Winkler, Circus Busch (wie Anm. 2), S. 52. 15 Raeder, Circus Renz (wie Anm. 4), S. 86, 105. 16 Vgl. Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen, Leipzig 1967, bes. S. 67–99. Es handelt sich um einen Nachdruck von 1926; erstmals erschienen Hagenbecks Memoiren 1908.

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nischen Truppen und den o¨sterreichischen, preußischen, russischen und schwedischen Alliierten erinnern. Die Einweihungsfeiern zogen viel Publikum an. Diesen Umstand hatten sich Helene und Arthur Kreiser, das Direktorenpaar des Circus Kreiser-Barum, zunutze gemacht und ein erfolgreiches Gastspiel gegeben. Nun brach der Zeltzirkus zur Weiterreise auf. Weil der Ka¨figwagen mit den Wildtieren schlecht gesichert war, entwichen ihm acht Lo¨wen.17 Nur zwei der schwer verschreckten Wildtiere u¨berlebten, was man schon bald zynisch in Zeitungsartikeln und Karikaturen – als gewissermaßen sehr spezielle ‚Bilder der Großstadt‘ – die „Leipziger Lo¨wenjagd“ nannte. Sechs Tiere wurden von Polizisten mit Schu¨ssen niedergestreckt und durchsiebt. No¨tig wa¨re all das nicht gewesen. Die Dompteurin Helene Kreiser, die das Unternehmen gemeinsam mit ihrem Mann leitete, war im Begriff, die vera¨ngstigten Tiere wieder zu verwahren. Den spa¨teren Aussagen ihres Mannes zufolge, schoss man Helene Kreiser die Lo¨wen fo¨rmlich in den Armen tot. Es habe an ein Wunder gegrenzt, dass sie selbst dabei keine Kugel traf. „Die Raubtiernatur ist in der Volksmeinung mit Hinterlist, Wildheit und Grausamkeit verbunden“, hatte Hagenbeck in seinen 1908 erschienen Memoiren festgestellt.18 Tatsa¨chlich entwarfen die Zeichnungen auf den Postkarten das Inbild der bo¨sen Bestie. Alle Lo¨wen tragen eine Ma¨hne – tatsa¨chlich hatte keiner eine – und alle attackieren mit weit aufgerissenem Rachen wahllos Mensch und Pferd, springen durch die splitternde Glasfensterfront eines Cafe´hauses oder hocken, zum Angriff bereit, auf einem Hotelsims, wa¨hrend Passanten ihnen mutig mit den Instrumentarien der Gewaltdressur begegnen: mit Messern, Stangen, Mistgabeln, Pistolen, Spaziersto¨cken und Sensen. Bis hinein in ihre Ha¨user, so suggerierte eine andere Postkarte, ha¨tten die Lo¨wen die Menschen verfolgt. Ohne Sexualisierung kam das großsta¨dtische Rencontre von Wildtier und Mensch nicht aus: Ein Ma¨dchen im Nachthemd bekommt einen Schreck als sie vor der Tu¨r statt ihres Geliebten das Za¨hne bleckende Raubtier erblickt. Die Wa¨rter vom Zoo versuchen vergeblich, die Raubkatzen wie Hu¨ndchen mit Kettenwu¨rsten, wie Schmetterlinge mit einem Netz oder wie Ma¨use mit Zucker einzufangen. Erst ihr Versagen, so die Bildergeschichte, macht das Eingreifen der Schutzma¨nner erforderlich. Stolz werfen sich die Polizisten am Ende hinter den wie Jagdtropha¨en arrangierten toten Lo¨wen in die Brust. Allein sie, so die Botschaft, die das rohe Vorgehen offenkundig rechtfertigen sollte, waren imstande, Ordnung und Sicherheit wieder herzustellen. Eine Fotografie, die ebenfalls auf einer Postkarte in Umlauf kam, zeigt die im Leipziger Zoo aufgebahrten und zur Schau gestellten „6 Opfer der Leipziger Lo¨wenjagd“ und hinter ihnen fu¨nf Wa¨rter, darunter auch Ernst Fischer, der gemeinsam mit dem Zoodirektor Johannes Gebbing zwei der geflu¨chteten Wildkatzen in Kistenfallen eingefangen und auf diese Weise gerettet hatte.19 Neben den Kreisers verfu¨g17 Zur folgenden Beschreibung der sogenannten Leipziger Lo¨wenjagd vgl. Mustafa Haikal, Die Lo¨wen-

fabrik. Lebensla¨ufe und Legenden, Leipzig 2006, S. 91ff.; ferner Stephanie Haerdle, Keine Angst haben, das ist unser Beruf! Kunstreiterinnen, Dompteusen und andere Zirkusartistinnen, Berlin 2007, S. 137ff. 18 Hagenbeck, Von Tieren und Menschen (wie Anm. 15), S. 82. 19 Diese sowie die im Folgenden zitierten Postkarten befinden sich in der Stiftung Stadtmuseum Berlin, Sammlung documenta artistica.

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ten nur sie u¨ber die no¨tige Erfahrung im Umgang mit Wildkatzen. Am Ende hatten die Zirkusunternehmer Lo¨wen im Wert einiger zehntausend Mark eingebu¨ßt. Spa¨ter bekamen die Kreisers noch eine Geldstrafe auferlegt. Zu verantworten hatten den Ausbruch der Tiere und seine verheerenden Folgen tatsa¨chlich in erster Linie sie. Wahrscheinlich wa¨re es mo¨glich gewesen, alle Lo¨wen auf unblutige Weise wieder einzufangen; die legenda¨re Lo¨wenjagd ha¨tte dann einen weit weniger spektakula¨ren Verlauf erlebt. Hochriskant ist die Situation ganz zweifellos gewesen. Doch unter den Leipzigern war mit den Lo¨wen blinde Panik ausgebrochen. Ausgeru¨ckte Wildkatzen sollte es in den europa¨ischen Sta¨dten immer wieder geben. Durch die Zeltzirkusunternehmen, die mit ihren Raubtieren fast ununterbrochen reisten, kollidierten gelegentlich Großstadt und Savanne. Auch in der Manege selbst kam es immer wieder zu to¨dlichen Zwischenfa¨llen. Menschen ko¨nnen Raubtiere zwar dressieren, aber nie restlos kontrollieren. Wildtiere bleiben somit immer einen gut Teil unberechenbar. Die Phantasie von der Wildkatze als bo¨ser und grausamer Bestie hatten die Hagenbecks und nach ihnen viele hervorragende Dompteure von Claire Heliot und Tilly Be´be´ u¨ber Mabel Stark und Alex Kerr bis hin zu Damoo Dhotre zwar gru¨ndlich zu widerlegen gewusst, aber werben ließ sich mit ihr im o¨ffentlichen Raum noch immer vorzu¨glich, wie ein Plakat des Circus Busch aus dem Jahre 1923 belegt, das den „Kampf mit der Tiger-Bestie“ anpries.20 Die Hoch-Zeit von Busch war freilich voru¨ber. „Die a¨ltere Generation la¨sst sich’s nun einmal nicht nehmen, daß der Zirkus alter Tradition dahin ist“, resu¨miert spa¨ter Joseph Halperson ein wenig resigniert, „Der moderne Existenzkampf verlangt neue Ma¨nner mit stahlharten Nerven, nie erlahmendem Unternehmungsgeist, der keine Schwierigkeiten und Hemmungen kennt, fordert, wie es scheint, Ma¨nner vom Schlage der Krone und Stosch.“21 Der um 1900 vom ausgebu¨chsten Glasfabrikantensohn Hans Stosch-Sarrasani sen. begru¨ndete Circus Sarrasani und der 1905 aus einer Wandermenagerie hervorgegangene Circus Krone, der bis zum 1. Weltkrieg noch als Circus Charles firmierte, bestimmten tatsa¨chlich von nun an den Ton in der Zirkuswelt. Sarrasani ero¨ffnete 1912 in Dresden, Krone 1919 in Mu¨nchen ein festes Haus. Und Berlin verlor endgu¨ltig seinen Rang als Zirkusmetropole.

III. Plakat-Reklame und Straßenparaden

Machten die Zirkusunternehmen in den Großsta¨dten anfangs noch durch a¨sthetisch anspruchslose Handzettel und Anschla¨ge fu¨r sich Reklame, so warben sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch mit großen Plakaten um die Gunst des Publikums. Das im Jahre 1843 fu¨r Pablo Fanque’s Circus Royal entstandene fru¨he Zirkusplakat, das

20 Vgl. die Abbildung des Plakats in Carl-Albrecht Haenlein/Wolfgang Till, Menschen, Tiere, Sensa-

tionen, Zirkusplakate 1880–1930, Hannover 1978, S. 76.

21 Halperson, Zirkus (wie Anm. 7), S. 202.

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John Lennon 1967 im Song „Being for the Benefit of Mr. Kite!“ auf dem Konzeptalbum „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ verewigte, za¨hlt sicher nicht zuletzt aus diesem Grund heute zu den bekanntesten. Adolph Friedla¨nders Lithographische Anstalt, die 1872 in Hamburg ihre Arbeit aufnahm, za¨hlte bald zu den beru¨hmtesten internationalen Zirkusplakatherstellern. Von Renz, Busch, Schumann u¨ber die Blumenfelds, Strassburgers, Althoffs und Hagenbecks bis hin zu Krone und Sarrasani gaben die Unternehmen in der Hamburger Druckerei Plakate in Auftrag. Friedla¨nder deckte nicht nur den Werbe-Bedarf des Zirkusmetiers ab. Er arbeitete fast fu¨r das gesamte zeitgeno¨ssische Theater- und Schaustellergewerbe, fu¨r Variete´s, Kleinbu¨hnen, Panoptiken, Menagerien, Veranstalter von Vo¨lkerschauen und einzelne Artisten. Seine Zirkusplakate haben heute aus verschiedenen Gru¨nden einen dokumentarischen Wert. Umso mehr, als oft verschollene Fotografien als Vorlagen dienten. Gewiss, die Zeichnungen stilisierten. Deutlich aber wird, wie die Bildwelten beschaffen waren, die Auftraggeber und Lithographen kreierten. Sie zirkulierten im großsta¨dtischen o¨ffentlichen Raum, ihn gleichsam mitgestaltend. Damit bedienten und pra¨gten sie zugleich auch den zeitgeno¨ssischen stereotypen Vorstellungshaushalt u¨ber die Tiere, die Geschlechter und das Fremde, den sie nicht einfach abbildeten, sondern hervorbrachten. Und die „Rhetorik der Bilder“ (Roland Barthes), ihr Vokabular und ihre Argumentationsweisen waren ebenso widerspru¨chlich wie beredt. Der rauchende Affe im Smoking mit Gamaschen, Zylinder und Handschuhen etwa, ein Plakat, das 1910 fu¨r den Circus Albert Carre´ entstand, suggerierte wie so viele Inbilder von Tieren, dass sie all das, was Menschen ko¨nnen, auch beherrschen. Einerseits leugneten die Bilder so die Differenz zwischen Tier und Mensch. Andererseits brachten sie gerade diese und mit ihr die Hierarchie der Lebewesen zum Vorschein. Denn sie suggerierten, dass das, was Menschen tun, erstrebens- und nachahmenswert ist, und sie zeigten zugleich, dass die Dressurleistungen der Tiere in der Manege auf der Dominanzposition beruhte, die der Mensch ihnen gegenu¨ber einnahm. Nichts illustrierte dies deutlicher als die Raubtierdressuren. Haben die Wildkatzen im Zentralka¨fig einerseits die Macht u¨ber Leben und Tod, so ist es andererseits der Mensch, der die Herrschaft u¨ber sie ausu¨bt, weil er eben dieses Potential durch Worte, Gesten und Geba¨rden kontrolliert. Auch die Geschlechterstereotypen kamen nirgends so eindringlich zur Darstellung wie in den Inszenierungen der Dompteurinnen und Dompteure. Indem man sie auf Plakaten und Postkarten, in Reklameanzeigen und Kritiken als Lo¨wen- oder Tigerbraut affichierte, wurde die Beziehung zwischen Dompteurinnen und Wildkatze nahezu ausnahmslos erotisiert. Claire Heliot inszenierte sich mit ihren Lo¨wen auf Plakaten gern als Ehefrau im bu¨rgerlichen Interieur, der sprichwo¨rtliche Salonlo¨we als Gatte auf ihre Sessellehne gestu¨tzt. Und Tilly Be´be´s Aufmachung im kurzen Kittelkleidchen, mit So¨ckchen an den Beinen und Schleife im Haar kolportierte das Stereotyp der sexualisierten Kindfrau. Bereits Miss Senide, die 1883 bei Renz mit ihren Lo¨wen noch im Ka¨figwagen auftrat, wurde entsprechend beworben. In der als verfu¨hrerisch, za¨rtlich, liebenswu¨rdig, fu¨rsorglich, befehlend, drohend und grausam beschriebenen Dompteurin fielen Rollenklischees, Angst- und Wunschfantasien von Kindfrau, Mutter und Femme fatale in eins. In einer Nummer, die als ‚lebender Teppich‘ in die Dressurgeschichte eingegangen ist, breitet sich die Domp-

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teurin lasziv u¨ber ihre friedlich am Boden liegenden Lo¨wen. Ein beliebtes Plakatsujet, das die Dompteurin oder den Dompteur auf einer Liege zeigt, die Lo¨wen auf, u¨ber und um sich thronend, markierte zugleich den Unterschied in der Darstellung der Geschlechter: Dompteurinnen wurden so als ‚Braut‘ inszeniert; bei Dompteu¨ berleren dagegen annoncierte die gleiche Pose Gelassenheit, Kaltblu¨tigkeit und U genheit. Nicht selten wurde die Beziehung zwischen Dompteur und Wildkatze als Konfrontation zweier Rivalen in Szene gesetzt. Hartna¨ckig hielt sich das aus der Zeit der wilden Dressur herru¨hrende verbale und visuelle Vokabular, wie das oben angefu¨hrte Plakat des Circus Busch von 1923 belegt. „Der Kampf mit der Tiger-Bestie“ zeigte einen Dompteur im Cowboy-Look beim Nahkampf mit einem fauchenden Ko¨nigstiger. Zur vollen Gro¨ße aufgerichtet, legt das Tier die Pranke auf die Schulter des Dompteurs und wird, das Maul mit den riesigen, spitzen Za¨hnen weit aufgerissen, durch ein großes Stu¨ck Fleisch zur Ra¨son gebracht. So stereotyp wie die Tiere und Geschlechter gaben sich auch die kolonialen und exotischen Phantasien auf den Plakaten und in den Printmedien. Als Sarrasani im Ma¨rz 1913 in Dresden erstmals Indianer im Programm hatte, folgte er in der Werbung bereits jahrzehntealten Schablonen. Die erste von ihm angeheuerte Indianer-Truppe verfu¨gte u¨ber Erfahrungen im Showgescha¨ft. Ihre Ankunft auf dem Dresdener Hauptbahnhof war ein o¨ffentlichkeitswirksam inszeniertes, gesellschaftliches Großereignis. Die Kinder erhielten schulfrei, „um die leibhaftigen Gestalten ihrer phantastischen Tra¨ume“ in Empfang zu nehmen.22 Minutio¨s informierten die „Dresdner Nachrichten“: „Indianer kommen! [...] Die Polizei hatte eben mit Mu¨he und Not ein wenig Ordnung in die wogenden Massen auf dem Wiener Platz gebracht, die Photographen sich in Positur gesetzt, da kam unter schmetternden Trompetenkla¨ngen die vom Zirkus Sarrasani gestellte Ehreneskorte durch die Prager Straße geritten. Kaum hatte sie in der Na¨he des Fu¨rstensalons Aufstellung genommen, da tauchten schon im Seitenportal der Bahnhofshalle die vertrauten Federbu¨sche auf, die hohe kra¨ftige Menschengestalten zierten. Sie waren in ‚full dress‘, grauenhaft gelb und rot bemalt, genauso, wie sie in der Phantasie eines richtigen Jungen leben. Das Gedra¨nge um die Rotha¨ute wurde geradezu bea¨ngstigend. [...] Die Fenster waren u¨berall dicht besetzt, der Fahr- und Fußverkehr stockte vo¨llig, und mit unnachahmlicher, hoheitsvoller Missachtung blickten die gefeierten Ga¨ste von hohen Rossen auf die indianerbegeisterten Dresdner herab.“23 Dergleichen war im wilhelminischen Kaiserreich beim Eintreffen von Vo¨lkerschaugruppen nicht unu¨blich. Sarrasanis Indianer waren freilich nicht in erster Linie zu Zwecken der Schaustellung engagiert worden, auch wenn sie außerhalb der Manege

22 Hierzu vgl. Ernst Gu¨nther, Sarrasani, wie er wirklich war, Berlin 1984, S. 66ff. 23 Ebd., S. 69f.

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„Parade saßen“. Der umtriebige Dresdner Zirkusdirektor entwarf ein Manegespektakel „Wild-West. Exotisches Schauspiel in vier Bildern mit kinematografischen Zwischenspielen.“ Die Filmaufnahmen entstanden in Dresden. Wa¨hrend der Pausen zwischen den zirzensischen Darbietungen wurden sie dann vorgefu¨hrt. Sarrasani erhob durchaus Anspruch auf eine „naturgetreue, wissenschaftlich nachpru¨fbare Wiedergabe des Lebens und Treibens in der Pra¨rie, echt bis in die a¨ußerste Kleinigkeit hinein“.24 Doch za¨hlten solche Beteuerungen gleichfalls zu den Usancen im Schaustellungsgewerbe. Auch Sarrasanis spa¨tere Wildwest-Shows verliefen erfolgreich und erregten mediales Aufsehen. Nur waren die Indianer, die er 1926 engagierte, im ‚Indianerleben‘ denkbar unerfahren und mussten erst lernen, „was nach Karl May zu einem richtigen Indianer geho¨rt, also: Federschmuck, Perlstickereien, Lederhosen, Tomahawks, Pfeil und Bogen, Zelte, Lagerfeuer. Denn unsere Original-Rotha¨ute hatten keine Ahnung von alledem, sie waren genauso harmlos und unromantisch wie jeder andere Amerikaner. Wenn sie nun endlich da waren, hießen sie in ihren Pa¨ssen Mr. Smith oder Brown oder Miller und wir gaben ihnen erstmal echte Indianernamen. Den, der am a¨ltesten aussah, machten wir zum Ha¨uptling ‚White Eagle‘ oder ‚Big Snake‘ oder ‚Black Horse‘. An ihre Tippies, die kleinen spitzen Zelte, die in unserem Hof aufgebaut wurden, gewo¨hnten sie sich bald. Aber ihnen ein indianisches Betragen beizubringen, war nicht so leicht. Die Ma¨nner mussten im Gebrauch von Pfeil und Bogen unterwiesen werden, die Squaws im Sticken bunter Perlmuster, und den Kindern musste man abgewo¨hnen, immer an unseren Autos herumzuspielen, anstatt primitives Familienleben mitzumachen. Kriegs¨ berfall der Postkutsche studierten ta¨nze, Benehmen am Marterpfahl, U der Oberregisseur und der Clown Magrini ein, der dann in der WildWest-Pantomime immer fu¨r den ‚echtesten‘ Indianer gehalten wurde.“25 Außergewo¨hnlich war nicht Sarrasanis Art und Weise, Indianer zu pra¨sentieren; neu war, dass er mit ihnen u¨ber ein Jahr lang im Zeltzirkus auch kleinere Sta¨dte und Ortschaften bereiste. Sogenannte Straßenparaden waren eine traditionelle Praxis von Zirkusunternehmen seit Bestehen des Mediums, um vor Ort u¨ber das Gastspiel zu informieren und fu¨r sich zu werben. Die Plakatwerbung hat dergleichen keineswegs u¨berflu¨ssig gemacht. Das Ensemble des Circus Straßburger zog gelegentlich auf Elefanten reitend durch die Straßen der Gastspielorte. 1927 suchte der Circus Krone bei seiner Spanientournee mit einem gigantischen Umzug durch Straßen von Barcelona das Publikum anzulocken.26 Und 1930 machten die Hagenbecks vor dem Berliner Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz mit einem von Zebras gezogenen Wagen, dem „Seelo¨wen entstiegen“, auf sich aufmerksam.27 24 Ebd., S. 70f. 25 Ebd., S. 68f. 26 Vgl. die entsprechende Abbildung in: Klaus-Dieter Ku ¨ rschner, Circus Krone. Von der Menagerie

zum gro¨ßten Circus Europas, Berlin 1998, S. 152.

27 Vgl. Winkler, Circus Busch (wie Anm. 2), S. 57.

Vom Rand ins Zentrum und zuru¨ck

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Mit ihrem Fassungsvermo¨gen, ihrer in der Regel ausgezeichneten Akustik und der guten Sicht auf das Geschehen in der Manege, waren Zirkusgeba¨ude wie geschaffen fu¨r Massenveranstaltungen jeglicher Art. Gingen die Zirkusunternehmen auf Tournee oder hatten sie spielfreie Tage, vermieteten sie ihre Ha¨user aus Kostengru¨nden an verschiedenste Veranstalter aus Gesellschaft, Kultur, Sport und Politik. Es gab in Zirkusgeba¨uden Sportwettka¨mpfe, Radrennen, Konzerte, Kongresse und Großveranstaltungen sa¨mtlicher politischer Parteien und Stro¨mungen. Wa¨hrend des Ersten Weltkriegs fand im Berliner Busch-Bau eine Kundgebung zur Zeichnung von Kriegsanleihen statt. Und am Abend des 3. Februar 1921 hielt Adolf Hitler im Mu¨nchner Krone-Geba¨ude eine seiner beru¨chtigten Hetzreden. Die Besucher sollen begeistert gewesen sein.28

IV. Fazit

Moderner Zirkus war als Kind der Großstadt ein Ort des Massenvergnu¨gens, der sa¨mtliche Milieus und Altersgruppen band. Die Zirkuspala¨ste und Zeltzirkusse haben freilich das Großstadtbild nicht einfach nur um eine aparte Facette erga¨nzt und bereichert. Im 19. und in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts war Zirkus ein wichtiger Ort sowohl der Versicherung als auch der Verunsicherung des Menschen u¨ber sich selbst. Das betraf die normativen Ideale des Geschlechts, der Vernunft, der Sprache, der Fa¨higkeiten, des Alters, der Herkunft, der Familie und der Gemeinschaft, die immer mit klaren Trennlinien operieren, die ein Innen und ein Außen erzeugen und dessen Grenzbereiche zu beschreiten und zu bewohnen, to¨dlich im sozialen wie im biologischen Sinne sein kann.29 Diese Grenzbereiche nicht nur ungestraft, sondern geradezu forciert zu inszenieren und zu besiedeln, war ein Vorrecht des zirzensischen Raums. Fu¨r die Dauer einer Vorstellung an einem dafu¨r vorgesehenen Ort, also zeitlich und ra¨umlich begrenzt, wurden die Normen limitiert ausgesetzt, freilich nur, damit sie sich anderswo um so wirkungsvoller behaupteten. Insofern war Zirkus immer auch eine Heterotopie, ein Ort, der „vollkommen anders“ ist als das Außen um ihn herum.30 Zirkus pra¨sentierte phantastische Orte, Wirklichkeiten und Illusionen. Er inszenierte Transgressionen nicht nur im Sinne von Grenzu¨berschreitungen der Differenz von Tier/Mensch, sondern auch im Sinne von Regelverletzungen und Sto¨rungen sozialer Normen. Dabei war der Zirkus immer zugleich ein Raum zur Schau

28 Vgl. Ku ¨ rschner, Circus Krone (wie Anm. 25), S. 126. 29 Zu diesem Abschnitt vgl. Sylke Kirschnick, Versuch, im Bodenlosen Platz zu nehmen – Zirzensische

Transgressionen bei Franz Kafka, Else Lasker-Schu¨ler und Thomas Mann, in: Sto¨rungen im Raum – Raum der Sto¨rungen, hg. v. Carsten Gansel/Paweł Zimniak, Heidelberg 2012, S. 155–182. 30 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Ko¨rper. Zwei Radiovortra¨ge, Frankfurt a. M. 2007, S. 10.

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Sylke Kirschnick

¨ konomisierung ko¨rperlicher Leistungsfa¨higgestellter Ambivalenz. Er zeigte die O keit und zugleich eine ins Extrem gesteigerte Verschwendungs- und Risikobereitschaft. Er zeigte Disziplinierungstechniken, die Fortschrittsutopien der Erziehung und Bildung und zugleich ihre Grenzen und ihr Fehlgehen. Und Zirkus war im 19. und in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts durch seine Reklamepraktiken immer auch ein wichtiger Produzent und Kolporteur kultureller Bilder im o¨ffentlichen, großsta¨dtischen Raum. Von den alten Zirkuspala¨sten hat keiner den Zweiten Weltkrieg u¨berdauert. Lediglich die Krones in Mu¨nchen verfu¨gen heute noch u¨ber ein festes Haus. La¨ngst ist der Zirkus wieder aus dem Zentrum an den Rand der Sta¨dte geru¨ckt. Doch u¨ber etwas mehr als einhundertfu¨nfzig Jahre lang war er eine Art kulturelles Relais im Leben moderner Metropolen.

„LES DANSES NOUVELLES“ IN DER ALTEN WELT Transatlantische Ta¨nze in Paris und Berlin um 1900 von Kerstin Lange

Die Internationalisierung des Unterhaltungsgewerbes war ein zentrales Merkmal bei der Herausbildung einer spezifisch urbanen popula¨ren Kultur in den europa¨ischen Metropolen. Seit der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts entstand dort ein Unterhaltungsangebot, das sich zunehmend kommerzialisierte und ausdifferenzierte. In Berlin in der Friedrichstraße und auf dem Kurfu¨rstendamm und in Paris entlang der großen Boulevards sowie in der Gegend rund um den Montmartre boten sich Einheimischen und Touristen Zentren großsta¨dtischer Unterhaltung.1 Metropolenkultur definierte sich hier u¨ber ein internationales Programm, das mit reisenden Ku¨nstlern und Ku¨nstlerinnen sowie international agierenden Unternehmern zwischen den Sta¨dten zirkulierte.2 Music Halls und Variete´s, Theater und Konzerthallen, Restaurants und Cafe´s und eine große Anzahl von Ballha¨usern bzw. glamouro¨sen Tanzsa¨len pra¨sentierten „die Welt“ in der Stadt und wurden damit fu¨r das Publikum zu Orten der Erfahrung einer zunehmend globalen kulturellen Vernetzung der Metropolen. Diese Entwicklungen wirkten sich auch auf das Repertoire der Gesellschaftsta¨nze aus. Eine ganze Reihe neuer, transatlantischer Ta¨nze wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den europa¨ischen Metropolen popula¨r und erweiterte eine bis dahin vornehmlich von europa¨ischen Traditionen dominierte Tanzkunst. Neben US-amerikanischen Ragtimeta¨nzen war es vor allem der argentinische Tango, der zu einem pra¨genden kulturellen Symbol metropolitaner Kultur in den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs wurde. Ausgehend von diesen Beobachtungen werden im Folgenden erstens die Auseinandersetzungen mit den sogenannten „danses nouvelles“ in den europa¨ischen Metropolen nachgezeichnet. Am Beispiel der Reaktionen der Tanzlehrerschaft in Paris und Berlin wird verdeutlicht, dass die zunehmende Internationalisierung der popula¨ren Unterhaltung grundsa¨tzliche Vera¨nderungen in der Erfahrung und Beurteilung von

1 Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnu¨gen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M.

1997; Dominique Kalifa, La culture de masse en France. 1: 1860–1930, Paris 2001, S. 38–54; JeanYves Mollier, Le parfum de la Belle E´poque, in: La culture de masse en France. De la Belle E´poque a` aujourd’hui, hg. v. Jean-Pierre Rioux/Jean-Franc¸ois Sirinelli, Paris 2002, S. 72–115. 2 Vgl. auch den Beitrag von Tobias Becker in diesem Band.

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Kerstin Lange

Metropolenkultur mit sich brachte. Die Pra¨senz der zuna¨chst als fremd wahrgenommenen neuen Ta¨nze forderte die Akteure in den Sta¨dten heraus und ging mit der Suche nach geeigneten neuen Handlungsstrategien einher. Der Fokus wird im Folgenden besonders auf die Rezeption des Tango gerichtet werden, um die Reaktionen der Tanzlehrerschaft beispielhaft in zwei Sta¨dten, Paris und Berlin, darzustellen. Eine ¨ hnlichkeiten und Untersolche vergleichende Perspektive wird zweitens nicht nur A schiede in der Rezeption der neuen Ta¨nze in Paris und Berlin zeigen, sondern daru¨ber hinaus eine zunehmende Verflechtung der Sta¨dte, die durch Kommunikation und Austausch ebenso gepra¨gt war wie durch Konkurrenz und die Inszenierung von Machtverha¨ltnissen. Ziel des Artikels ist es, Metropolen als Knotenpunkte bei der Entstehung einer internationalen popula¨ren Kultur um 1900 zu begreifen und deren Funktion als Orte des Lernens und des Aushandelns aufzuzeigen.3

I. Metropolenkultur und Tanzvergnu¨gen ¨ bersee, vor allem aus den USA und aus Su¨dameUm 1900 gelangten neue Ta¨nze aus U rika, nach Europa. International ta¨tige Ku¨nstler und Ku¨nstlerinnen sowie die ersten phonographischen Aufnahmen und der internationale Handel mit Noten beschleunigten die Zirkulation von neuen Ta¨nzen und von Tanzmusik und vervielfa¨ltigten damit das Angebot in den Sta¨dten. Die Bu¨hnen der Music Halls und der Weltausstellungen in Paris, Berlin oder London wurden zu den ersten Orten, an denen neue Musik und neue Ta¨nze aus aller Welt fu¨r ein europa¨isches Publikum zuga¨nglich wurden.4 Besonders popula¨r wurde um die Jahrhundertwende die US-amerikanische Tanzmusik, die mit synkopierter Ragtimemusik Neues auf die europa¨ischen Bu¨hnen und in die Tanzlokale brachte. Den neuen Modeta¨nzen aus den USA, wie One Step, Two Step oder Boston war gemeinsam, dass ihre vereinfachten Tanzformen leicht zu erlernen waren.5 In den großen Tanzetablissements verwischten die Grenzen zwischen dem Tanz auf der Bu¨hne und dem tanzenden Publikum zunehmend. Dem Cakewalk, der um 1903 als einer der ersten transatlantischen Ta¨nze besonders erfolgreich war, folgte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine ganze Reihe von Ragtimeta¨nzen, die ha¨ufig skurrile Bu¨hnenvorstellungen mit sich brachten, darunter vor allem die sogenannten Tierta¨nze, wie der Turkey Trot oder der Grizzly Bear, die 3 Matthias Middell, Erinnerung an die Globalisierung? Die Portale der Globalisierung als lieux de

me´moire: Ein Versuch, in: Europa¨ische Erinnerungsra¨ume, hg. v. Kirstin Buchinger/Claire Gantet/ Jakob Vogel, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 296–308, S. 301; Ju¨rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mu¨nchen, 4. durchges. Aufl. 2009. Darin besonders Kapitel VI: Sta¨dte: Europa¨ische Muster und weltweiter Eigensinn, S. 355–464. 4 Anne De´coret-Ahiha, Les danses exotiques en France 1880–1940, Paris 2004, S. 19; Astrid Eichstedt/Bernd Polster, Wie die Wilden. Ta¨nze auf der Ho¨he ihrer Zeit, Berlin 1985, S. 9ff. 5 Fred Ritzel, Synkopen-Ta¨nze. U ¨ ber Importe popula¨rer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in: Schund und Scho¨nheit. Popula¨re Kultur um 1900, hg. v. Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba, Ko¨ln/Weimar/Wien 2001, S. 161–183, S. 165.

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das Publikum mit der humorvollen Imitation von Tierbewegungen und leicht nachzuahmenden Tanzformen u¨berzeugten.6 In Anlehnung an die Darbietungen auf den Bu¨hnen begann das Publikum die neuen Ta¨nze zu imitieren und zu experimentie¨ bergang von der Bu¨hne in den Ballsaal charakterisierte die neuen ren. Der fließende U Ta¨nze, die damit den kontrollierten Raum der Vorfu¨hrung auf der Bu¨hne verließen.7 Zum erfolgreichsten Tanz in den europa¨ischen Metropolen vor dem Ersten Weltkrieg wurde schließlich der argentinische Tango. In den Jahren 1913/14 war in Paris und in Berlin von einer „Tangomanie“ bzw. einem „Tangofieber“ die Rede, Ta¨nzer und Ta¨nzerinnen aus der ganzen Welt nahmen den Tango in ihr Programm auf, die Tanzorchester der Music Halls ru¨hmten sich mit argentinischen Musikern. Bald fanden die ersten internationalen Tanzturniere statt. Im Sommer 1912 beispielsweise veranstaltete die franzo¨sische Ta¨nzerin und Sa¨ngerin Gaby Deslys (1881–1920), die zu dieser Zeit selbst mit der Auffu¨hrung von Ragtimeta¨nzen auf der Bu¨hne international erfolgreich war, im Theaˆtre Fe´mina in Paris ein Tanzturnier, bei dem der argentinische Tanzlehrer Bernabe´ Simarra den 1. Preis in der Kategorie Tango erhielt.8 Kurz darauf fand im Admiralspalast in Berlin das Tanzmatch Paris-Berlin statt, das den hierfu¨r aus Paris eingeladenen brasilianischen Ta¨nzer und Tanzlehrer „Duque“ zum Sieger ku¨rte.9 Der argentinische Tango war ein genuin urbanes Pha¨nomen. Seine Entstehung in Buenos Aires Ende des 19. Jahrhunderts war eng verbunden mit der forcierten Immigrationspolitik Argentiniens und dem damit einhergehenden rapiden Wachstum der neuen Hauptstadt.10 Unter preka¨ren Verha¨ltnissen lebten am Stadtrand von Buenos Aires europa¨ische Einwanderer und Arbeiterfamilien aus den argentinischen Provinzen zusammen, die die Suche nach Erwerbsmo¨glichkeiten in die Stadt gebracht hatte. Hier bildeten sich Tanz und Musik im Zusammenspiel verschiedener kultureller Stile und Traditionen heraus. Der Tango in seiner Entstehungszeit verko¨rperte damit den Heimatverlust der europa¨ischen Auswanderer, die Transformationen der argentinischen Gesellschaft sowie die Lebensbedingungen in der Großstadt. Die regierende Oberschicht Argentiniens, die die Millionenstadt Buenos Aires gerne als das „Paris Lateinamerikas“ sah und sich an Europa orientierte, lehnte

6 Grundlegend siehe Astrid Kusser, Ko¨rper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um

1900, Bielefeld 2012; siehe auch Dies., Cakewalking the Anarchy of Empire around 1900, in: German Colonialism, Visual Culture, and Modern Memory, hg. v. Volker M. Langbehn, New York 2010, S. 87–104; Derek Scott, Sounds of the Metropolis. The 19th-Century Popular Music Revolution in London, New York, Paris, and Vienna, Oxford, Mass. u. a. 2008, S. 144ff.; Ritzel, Synkopen-Ta¨nze (wie Anm. 5), S. 170. 7 Monika Elsner, Das vier-beinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurs des Tango argentino, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 330. 8 (o. A.), Le concours du Pas de l’Ours et du Tango, in: L’Excelsior. Journal illustre´ quotidien, Paris, 12. 7. 1912. 9 Franz Wolfgang Koebner, Tanzmatch Paris-Berlin, in: Elegante Welt 11 (1913), S. 10; zu „Duque“ (Antoˆnio Lopes de Amorim Diniz) siehe auch: Micol Seigel, Uneven Encounters. Making Race and Nation in Brazil and the United States, Durham u. a. 2009, darin: Maxixe’s Travels: Cultural Exchange and Erasure, S. 67ff. 10 Beispielhaft zur Geschichte des Tango: He´ctor und Luis Bates, La Historia del Tango, Buenos Aires 1936; Jose´ Gobello, Cro´nica general del tango, Buenos Aires 1980; Horacio Salas, El Tango, Buenos Aires 1986.

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den Tango als Ausdruck einer argentinischen Nationalkultur ab.11 Aufgrund seiner Verortung im Immigranten- und Arbeitermilieu assoziierte die argentinische Elite vielmehr Armut, Prostitution und Kleinkriminalita¨t mit einem solchen kulturellen Ausdruck der sozialen Realita¨ten der Großstadt. Gleichwohl entwickelte sich der Tango zur popula¨ren Kultur von Buenos Aires, die um die Jahrhundertwende auch dort in den Cafe´s und Tanzlokalen der Stadt u¨berall zu sehen und zu ho¨ren war. Mit Tangomusikern und Tangota¨nzern, die die Mo¨glichkeiten zu Schallplattenaufnahmen und Auftritten in Europa und den USA nutzten, begann bald darauf die Diffusion des Tango außerhalb Argentiniens. Ungeachtet des sozialen Entstehungskontextes in Buenos Aires u¨bernahm man den Tanz als neue Attraktion in das Programm der angesehenen großen Music Halls und Tanzetablissements der Metropolen. Ausgehend von Paris verbreitete sich der Tango rasch in anderen Großsta¨dten, darunter vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in Berlin und London – in den 1920er Jahren auch in den Metropolen Osteuropas und des Nahen Osten.12 Der Tango wurde zu einem pra¨genden Pha¨nomen der Metropolenkultur der Vorkriegsjahre und wurde ru¨ckblickend von vielen Zeitgenossen zu einem Symbol der Belle E´poque stilisiert.

II. Tanzlehrer in Paris und Berlin vor neuen Aufgaben

Die Jahrhundertwende stellte folglich fu¨r den Gesellschaftstanz eine Umbruchphase dar. Die Verbreitung der transatlantischen Ta¨nze in den europa¨ischen Metropolen vera¨nderte das Spektrum und die Wahrnehmung des bu¨rgerlichen Gesellschaftstanzes grundlegend. Der Figur des Tanzlehrers kam vor diesem Hintergrund als Vermittlungsinstanz eine bedeutsame Position zu. Der Gesellschaftstanz des 19. Jahrhunderts war von den Traditionen und Stilen unterschiedlicher europa¨ischer Regionen und einer jahrhundertealten Dominanz der franzo¨sischen ho¨fischen Tanzkunst gepra¨gt.13 Um das eigene Repertoire zu erweitern, importierten Tanzlehrer neue Ta¨nze aus den Nachbarla¨ndern, so dass in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts vor allem eine Reihe osteuropa¨ischer Ta¨nze, wie Polka oder Mazurka, in den bu¨rgerlichen Tanzsa¨len popula¨r wurden. Die Nationalisierung des Gesellschaftstanzes

11 John R. Scobie, The Paris of South America, in: The Argentina Reader. History, Culture, Politics,

hg. v. Gabriela Nouzeilles/Graciela Montaldo, Durham, NC u. a. 2002, S. 172; zum Prozess der Einschreibung des Tangos in eine argentinische Nationalkultur im 20. Jahrhundert vgl. v. a. Marta E. Savigliano, Tango and the Political Economy of Passion, Boulder u. a. 1995. 12 Zur Geschichte des Tangos in Europa: El tango nomade. Ensayos sobre la dia´spora del tango, hg. v. Ramo´n Pelinski, Buenos Aires 2000. Speziell zu Paris: Nardo Zalko, Un sie`cle de Tango. Paris – Buenos Aires, Paris 1998; Be´atrice Humbert, El tango en Parı´s de 1907 a 1920, in: El tango nomade (wie oben), S. 99–162; Remi Hess, Le tango a` Paris, Paris 1996. Vergleichend zu Paris und Berlin: Monika Elsner, Das vier-beinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurs des Tango argentino, Frankfurt a. M. u. a. 2000; zu Berlin: Tango-Melancholie der Vorstadt, hg. v. Ku¨nstlerhaus Bethanien, Berlin 1982. 13 Sybille Dahms u. a., Tanz, in: Die Musik in der Geschichte und Gegenwart (MGG). Allgemeine Enzyklopa¨die der Musik, hg. v. Ludwig Finscher, Kassel u. a. 1998, Bd. 9, S. 228–408, hier S. 279.

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folgte den kulturellen Nationalisierungsstrategien des 19. Jahrhunderts.14 Sie u¨berlagerte die Spuren der heterogen verflochtenen Traditionen in Europa und fu¨hrte zu einer zunehmenden Abgrenzung nationaler Repertoires. Die Verwandlung des Gesellschaftstanzes in eine sportliche Disziplin und die Entstehung von Tanzturnieren entsprachen in diesem Sinne einer Inszenierung der Nation.15 Die Tanzlehrer sahen sich zunehmend in der Verantwortung fu¨r die moralisch geistige Erziehung und die physische Ertu¨chtigung besonders der Jugend. Im Tanz, so nunmehr die Auffassung, manifestierten sich nationale Kultur und Zugeho¨rigkeit. Die Tanzlehrer standen also genau an einer Schnittstelle: Sie waren Mittlerfiguren einer kulturellen Praktik und einer nationalen Aufgabe. Sie waren somit verantwortlich dafu¨r, Tanz als nationale Kultur „in die Ko¨rper einzuschreiben“.16 Mit der Ankunft der ersten außereuropa¨ischen Ta¨nze endete eine europa¨isch dominierte Tanzentwicklung.17 Die Veranstaltungsprogramme der großen Music Halls zeigten deutlich, dass die neuen Ta¨nze das alte Repertoire zu verdra¨ngen begannen. La¨ngst war es nicht mehr die Tanzlehrerschaft, die Neuerungen einfu¨hrte und lenkte, sondern ein gewinnorientiertes Unterhaltungsgewerbe, das dem Publikum immer wieder neue Attraktionen pra¨sentierte.18 Die Definition des europa¨ischen Gesellschaftstanzes war bisher in Abgrenzung zum theatralischen Tanz auf der Bu¨hne und auch in Abgrenzung zum Volkstanz der la¨ndlichen Unterschichten erfolgt.19 Professioneller Bu¨hnentanz und Gesellschaftstanz verstanden sich dem¨ berschreiten nach als zwei voneinander getrennte Spha¨ren mit eigenen Regeln. Ein U dieser Grenzziehungen, wie es an den Orten sta¨dtischer Unterhaltung immer o¨fter geschah, stellte solche Ordnungssysteme in Frage. Die neuen Choreographien der ¨ sthetikvorstellungen hertransatlantischen Ta¨nze forderten bestehende Moral- und A aus, und auch die synkopierte Ragtimemusik brach mit tradierten Ho¨rgewohnheiten. Fu¨r die Tanzlehrer bedeutete dies in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung: Zum einen bestand die Gefahr darin, das Monopol in der Deutungshoheit u¨ber das Repertoire der Gesellschaftsta¨nze zu verlieren. Zum anderen fu¨rchteten die Tanzlehrer, in der o¨konomischen Konkurrenz gegenu¨ber neuen Orten und neuen Lehrern in der Großstadt in Nachteil zu geraten. Die Ku¨nstler auf der Bu¨hne und neue, nicht selten selbsternannte Tanzlehrer, nutzten die Popularita¨t der Ta¨nze, um sich

14 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, Mu¨nchen

2000, S. 82ff.; Philipp Ther, Wie national war die Oper? Die Opernkultur des 19. Jahrhunderts zwischen nationaler Ideologie und europa¨ischer Praxis, in: Wie europa¨isch ist die Oper? Die Geschichte des Musiktheaters als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas, hg. v. Peter Stachel/Philipp Ther, Wien/Ko¨ln/Weimar 2009, S. 89–112, hier bes. S. 90ff. 15 Die Entwicklung ist vergleichbar mit der Turnbewegung, durch die das Turnen in Deutschland und Frankreich zur wichtigsten Sportart der Mittelschichten wurde und seit 1870/71 eine immer sta¨rkere nationale Aufladung erfuhr. Vgl. Svenja Goltermann, Ko¨rper der Nation, Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890, Go¨ttingen 1998, bes. S. 61ff.; siehe auch Inge Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. Ko¨rper und Tanzkulturen in der Moderne, Mu¨nchen 2000, S. 179ff. 16 Baxmann, Mythos (wie Anm. 15), S. 181. 17 Dahms, Tanz (wie Anm. 13), S. 290. 18 (o. A.), Le Tango Argentin, in: La Liberte´, 11. 1. 1911. 19 Dahms, Tanz (wie Anm. 13), S. 265.

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einen Bereich zu eigen zu machen, der bis zu diesem Zeitpunkt allein einer organisierten Tanzlehrerschaft vorbehalten gewesen war. Der Gesellschaftstanz galt als eine in strenger Disziplin unter professioneller Anleitung zu erlernende Fa¨higkeit mit einem klaren Reglement. Er war ein performatives Element bu¨rgerlichen Lebens und von grundlegender Bedeutung fu¨r die soziale Kommunikation. Die Tanzschule des 19. Jahrhunderts war ein obligatorisches Lehrinstitut des gesellschaftlichen Lebens. Der Wirkungskreis des Tanzlehrers umfasste daher nicht nur das begrenzte Feld der konkreten Tanzveranstaltungen, sondern war von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung; er war Tra¨ger gesellschaftlicher Normen u¨ber den begrenzten Raum des Balls hinaus.20

III. Machtvolle Aneignung der „danses nouvelles“ in Paris

Im Jahr 1901 wurde in Paris die „Acade´mie Internationale des Auteurs, Professeurs, Maıˆtres de Danse et Maintien“ (A. I. D.) gegru¨ndet. Diese Vereinigung verstand sich als u¨bergreifende Vertretung der Tanzlehrer aus ganz Frankreich und entwickelte sich bald zu einem wichtigen internationalen Dachverband. Ein Jahrzehnt nach der Gru¨ndung za¨hlten an die 200 Tanzlehrer aus der ganzen Welt zu ihren Mitgliedern. Gru¨nder, Pra¨sident und Herausgeber der Vereinszeitschrift Journal de la Danse et du Bon Ton war Euge`ne Giraudet (1861–?), einer der aktivsten und einflussreichsten Personen innerhalb der franzo¨sischen Tanzlehrerschaft.21 Da man die neuen Ta¨nze offensichtlich weder ignorieren noch zuru¨ckdra¨ngen konnte, sahen es die franzo¨sischen Tanzlehrer als ihre vordringliche Aufgabe an, formend in die Entwicklung einzugreifen. Um den Tango unterrichten zu ko¨nnen, bedurfte es zu allererst einer Vereinheitlichung der Bewegungsabfolgen sowie einer verbindlichen Tanznotation. In der Vereinszeitschrift der A. I. D. publizierten verschiedene Autoren solche Tanzanleitungen, so dass Euge`ne Giraudet bald ¨ berbema¨ngelte, es ga¨be ebenso viele Tangos wie Tanzlehrer, weshalb er unter der U schrift „Tango Parisien. De´monstration comple`te“ im Journal de la Danse selbst eine Tanznotation des Tango vero¨ffentlichte, fu¨r die er eine allgemeine Gu¨ltigkeit beanspruchte.22 Obwohl die argentinische Herkunft des Tangos nie geleugnet wurde, fungierten im Journal de la Danse fast ausschließlich anerkannte franzo¨sische Tanzlehrer als Autoren, die mit dem Anspruch auf Autorenschaft versuchten, sich o¨konomische Vorteile zu sichern. Das Publizieren von Tanznotationen in Fachzeitschriften

20 Walter Salmen, Der Tanzmeister. Geschichte und Profil eines Berufes vom 14. bis zum 19. Jahrhun-

dert, Hildesheim 1997, S. 45.

21 Journal de la Danse et du Bon Ton. Journal officiel de L’Acade´mie Internationale des Auteurs, Profes-

seurs, Maıˆtres de Danse et Maintien, Paris 1901–1914 (Im Folgenden Journal de la Danse); zur Person Giraudet siehe auch Remi Hess, Der Walzer. Geschichte eines Skandals, Hamburg 1996, S. 246ff. 22 Tango Parisien. De´monstration comple`te. The´orie d’Euge`ne Giraudet, in: Journal de la Danse 241–250 (1914), S. 4120–4122.

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war zum Erlernen von Ta¨nzen und fu¨r die Kommunikation unter Tanzlehrern u¨blich und notwendig, eine solche Vorgehensweise geho¨rte zu ihrem professionellen Aufgabenspektrum. Mit den neuen Ta¨nzen zeigte sich jedoch eine zunehmende Internationalisierung und Pluralisierung des Repertoires, dessen Vereinheitlichung nun zu einer Herausforderung fu¨r die Tanzlehrer in den Metropolen wurde. Die Suche nach einer Standardisierung ging dementsprechend in sta¨rkerem Maße mit einer institutionalisierten internationalen Zusammenarbeit einher. Auf internationaler Ebene engagierte sich die A. I. D. auf Konferenzen und in Fachperiodika. Bereits 1891 hatte in Paris ein erster internationaler Tanzkongress stattgefunden, auf dem sich delegierte Tanzlehrer aus u¨ber 28 La¨ndern getroffen hatten.23 Bei diesen regelma¨ßigen Ereignissen berichteten Tanzlehrer u¨ber die Entwicklungen in ihren La¨ndern und diskutierten richtungsweisend zuku¨nftige Regelungen. Eine endgu¨ltige Festlegung der Choreographie des Tangos auf europa¨ischer Ebene setzte sich auf diesem Wege jedoch erst in den 1920er Jahren durch.24 Die intensive Bescha¨ftigung der franzo¨sischen Tanzlehrerschaft mit dem Tango wirkte sich jedoch nicht nur auf die Choreographie aus, sondern ging daru¨ber hinaus mit einem grundlegenden Wandel der Bedeutungszuschreibungen einher. Die Herkunft des Tangos sowie seine Zuweisung in das Milieu der Arbeitervororte von Bue¨ ffentlichkeit durchaus auch krinos Aires sorgten dafu¨r, dass in der franzo¨sischen O tische Stimmen laut wurden, die dem Tango eher skeptisch gegenu¨berstanden. In der franzo¨sischen Presse las man diesbezu¨glich: „Le tango, c’est la danse des fameux gauchos, de ces bergers, gardiens de troupeaux de Sud de l’Ame´rique, les cow-boys du Bre´sil et de l’Argentine: ces rudes hommes ne peuvent e´videmment se contenter des manie`res pre´cieuses de nos salons, leur personnage va de la galanterie brutale a` un corps a` corps qui semble une lutte.“25 Solche und a¨hnliche Formulierungen verwiesen auf die soziale Verortung des Tangos und unterwarfen diesen nicht nur exotisierenden Zuschreibungen, sondern suggerierten u¨berdies auch eine Unvereinbarkeit des Tanzes mit einem franzo¨sischen Repertoire. Einigkeit bestand daher auch innerhalb der franzo¨sischen Tanzlehrerschaft daru¨ber, dass der Tango in seiner u¨berlieferten origina¨ren Form nicht fu¨r den franzo¨sischen Salon geeignet sei. Zu diesem Zwecke wurde von den franzo¨sischen Tanzlehrern eine „Reinigung“ gefordert, die den „Vorstadttango“ aufwerten sollte. „Il e´tait indispensable de modifier les pas populaires que l’on danse en Argentine et

23 Vgl. Gustave Desrat, Dictionnaire de la Danse. Historique, the´orique, pratique et bibliographique,

depuis l’origine de la danse jusqu’a` nos jours, Paris 1895, S. 94; seit 1894 erschien in London die erste Tanzzeitschrift mit internationaler Berichterstattung, in der auch ausfu¨hrlich u¨ber die Entwicklungen in Paris berichtet wurde: Dancing Times, London 1894ff. 24 Ende der 1920er Jahre erfolgte nach englischem Vorbild die Festlegung einer Tangochoreographie, die in dieser Form fu¨r die na¨chsten 50 Jahre ihre internationale Gu¨ltigkeit behielt. Vgl. Elsner, Das vierbeinige Tier (wie Anm. 7), S. 393. Siehe auch: Philip J. S. Richardson, A History of English Ballroom Dancing (1910–1945), London [c. 1945]. 25 Andre´ de Fouquie`res, Les Danses Nouvelles: Le Tango, in: Fe´mina, 1. 2. 1913.

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de donner a` la danse un caracte`re moins excessif, plus mondain“26, schrieb der Tanzlehrer Max Rivera hierzu und meinte damit mehr als nur die bloße Anpassung der Choreographie. Selbst Autor eines erfolgreichen Tanzlehrwerkes beschrieb Rivera den Prozess der Formung des Tanzes durch die franzo¨sischen Tanzlehrer als einen ¨ gide einen neuen Modetanz in Paris Akt der Aufwertung, der unter franzo¨sischer A hervorbringen sollte, dem nicht mehr der vermeintliche Makel des Originals, sondern der Glanz der franzo¨sischen Metropole anhaften sollte. Die Formung des Tangos, die in diesem Sinne in Paris vonstattenging, war dann auch bereits 1913 so weit fortgeschritten, dass Max Rivera feststellen konnte: „(...) la danse que l’on pratique en Europe n’a qu’une assez lointaine ressemblance avec les tangos que l’on exe´cute dans l’Ame´rique du Sud.“27 Diese Eingliederung des Tango in ein franzo¨sisches Repertoire und nach franzo¨sischen Maßsta¨ben kann man dem zeitgeno¨ssischen Vokabular folgend als „Franzo¨sierung“ bezeichnen. Eine solche Formulierung wa¨hlte der Schriftsteller und Dramatiker Jean Richepin (1849–1926), der im Oktober 1913 eine Rede mit dem Titel „A propos du Tango“ an der franzo¨sischen Akademie hielt.28 In dieser Rede, die in den folgenden Wochen nicht nur in der franzo¨sischen, sondern auch in der internationalen Presse Beachtung fand, ergriff Jean Richepin Partei fu¨r den Tango und a¨ußerte sich auch allgemein u¨ber die Bedeutung des Tanzes fu¨r die nationale Kultur Frankreichs. Rhetorisch geschickt widerlegte Richepin die Argumente gegen die vermeintlich fremde und einfache Herkunft des Tangos, indem er die jahrhundertealte Tradition franzo¨sischer Gastfreundschaft und die Veredelung fast aller Gesellschaftsta¨nze aus den urspru¨nglich einfachen Volksta¨nzen darlegte. Schließlich formulierte Richepin eindeutig und richtungsweisend: „Et pour conclure, qu’importe, en somme, l’origine e´trange`re et populaire d’une danse? Et qu’importe, meˆme son caracte`re et sa figure. Nous francisons tout, et la danse que nous aimons a` danser devient franc¸aise.“29 „Franzo¨sierung“ bedeutet hierbei einen umfassenden Prozess, der in seiner Wirkung weit u¨ber eine bloße Vera¨nderung der Choreographie hinausging. Die Anpassung des Tangos an ein europa¨isches Repertoire ging mit einem bewussten Verwischen seiner argentinischen Spuren und der Konstruktion neuer Bedeutungszuschreibungen einher, die den Tanz als Pha¨nomen einer modernen europa¨ischen Metropolenkultur erst erschufen. Durch das Einwirken der franzo¨sischen Tanzlehrerschaft, so die Auffassung, ließ sich der Tango in eine moderne Metropolenkultur einschreiben und wurde so zu einer zusa¨tzlichen Attraktion im Programm des exotischen Raffinements von Paris. Die franzo¨sischen Tanzlehrer verhielten sich in dieser Hinsicht im nationalen Interesse und sie handelten in einem imperialen Kontext, der die Verbreitung franzo¨sischer Kultur durch Vorbild und Erziehung zum Ziel hatte. Die Praxis der „Zivilisierung“ des Tangos bildete auf diese Weise politische Machtver-

26 Max Rivera, Le tango et les danses nouvelles, Paris 1913, S. 19. 27 Ebd. 28 Jean Richepin, A propos du Tango, in: Institut de France. Se´ance publique annuelle des cinq acade´-

mies, 25 octobre 1913, Paris 1913, S. 79–89.

29 Ebd., S. 87.

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ha¨ltnisse und damit einhergehende kulturelle Hierarchisierungen auf der sta¨dtischen Bu¨hne ab.30 Durch den Kulturtransfer des Tangos von Buenos Aires nach Paris und den Prozess der Aneignung nahm der Tango schließlich eine spezifisch franzo¨sische Gestalt an. Diese erkla¨rte sich nicht mehr mit Bezug auf ein vermeintlich argentinisches Original, sondern weitgehend in Abha¨ngigkeit von einem franzo¨sischen Rezeptionskontext.31 Gegen die Stimmen derjenigen, die dem Tango und den neuen Ta¨nzen skeptisch gegenu¨berstanden, setzte sich eine solche „bereinigte“ franzo¨sische Form des Tangos durch. Die Tanzlehrer, die eine Integration des Tangos in ein franzo¨sisches Repertoire vorantrieben, entwarfen damit eine neue Linie. Erstens gelang es ihnen, sich schrittweise den Begebenheiten in der Stadt anzupassen und im Interesse ihres eigenen o¨konomischen Vorteils und ihrer moralisch-pa¨dagogischen und nationalen Aufgabe zu handeln. Das Agieren der Tanzlehrer zeigte damit nicht nur das Ringen um ein tradiertes Deutungsmonopol, sondern offenbarte ebenso ein geschicktes Taktieren gegenu¨ber der Konkurrenz innerhalb einer kommerziellen Unterhaltungskultur. Die Aneignung des Tangos war ein bewusster Prozess, den die franzo¨sischen Tanzlehrer zu steuern und zu kontrollieren versuchten. Damit gelang es ihnen, die eigene Tanzkunst durch Importe von außen aufzuwerten und Paris mit der erfolgreichen Eingliederung des Tangos in ein franzo¨sisches Repertoire eine stilbildende Rolle zu sichern.32 Die neuen Ta¨nze waren Bestandteil der Inszenierung von Metropolenkultur, mit der sich symbolische Repra¨sentationen und o¨konomische Interessen der Sta¨dte verbanden. IV. Deutsche Tanzlehrer in der Krise ¨ quivalent der A. I. D. in Deutschland war der 1898 von Max Geißler-Meves Das A gegru¨ndete „Bund Deutscher Tanzlehrer“, der die monatlich erscheinende Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Zeitung als Verbandszeitschrift herausgab.33 Im Jahr

30 Vgl. dazu auch Tom Cooper, ‚Frenchmen in Disguise‘: French Musical Exoticism and Empire in the

Nineteenth Century, in: Empire and Culture. The French Experience, 1830–1940, hg. v. Martin Evans, Basingstoke u. a. 2004, S. 113–127; siehe auch Ju¨rgen Osterhammel, „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, hg. v. Boris Barth/Ju¨rgen Osterhammel, Konstanz 2005, S. 363–425, hier S. 367. 31 Die Formen der Aneignung und die damit einhergehenden Vera¨nderungen des „Originals“ im Zuge kultureller Transferprozesse sind fu¨r die Geschichtswissenschaft insbesondere durch die Kulturtransferforschung untersucht und konzeptualisiert worden. Zur Methodik vgl. Matthias Middell, Kulturtransfer und historische Komparatistik-Thesen zu ihrem Verha¨ltnis, in: Comparativ 10,1 (2001), Leipzig, S. 7–41. Außerdem die grundlegenden Arbeiten von Michel Espagne, Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand, hg. v. Michel Espagne/Michael Werner, Paris 1988; Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999. 32 Zu Paris als „capitale culturelle“ siehe auch Christophe Charle, Introduction, in: Le temps des capitales culturelles XVIIIe-XXe sie`cles, hg. v. dems., Paris 2008, S. 9–26. 33 Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Zeitung. Fachblatt des Bundes deutscher Tanzlehrer, hg. v. Vorstand des Bundes Deutscher Tanzlehrer, Brandenburg a. H. 1898–1935; im Folgenden ADTZ.

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1908 entstand außerdem der „Internationale Verband der Tanzlehrer-Vereine“, dem ¨ sterreich-Ungarn und je ein Verein aus neben fu¨nf deutschen Vereinen, drei aus O Großbritannien, den Vereinigten Staaten und den Niederlanden angeho¨rten. Ein franzo¨sischer Verein war zuna¨chst nicht vertreten, die A. I. D. hatte ihren Beitrag fu¨r 1912 in Aussicht gestellt.34 Anla¨sslich der Gru¨ndung des Internationalen Verbandes fand 1908 eine erste internationale Tanzlehrerkonferenz in Berlin statt. Der folgende zweite internationale Kongress 1911 in Wien war eines der wichtigsten Ereignisse in der kurzen Geschichte einer sich als international begreifenden Tanzlehrerschaft unter deutscher Fu¨hrung, die sich jedoch schon im folgenden Jahr aufgrund interner Unstimmigkeiten auflo¨sen musste. Die Vereinheitlichung des Repertoires auf internationaler Ebene war eines der vorrangigen Ziele auf der Konferenz in Wien. Hierfu¨r war bereits im Vorfeld eine Kommission ins Leben gerufen worden, die die Aufgabe hatte, „einheitliche, fu¨r die ganze Welt geltende Ta¨nze zu schaffen“.35 Wa¨hrend der Konferenz veranstaltete man eine Fachschule, bei der Ta¨nze vorgefu¨hrt und diskutiert wurden. Die auf dieser Grundlage gefassten Beschlu¨sse zu Repertoire und Choreographie galten in der Folge verpflichtend fu¨r alle dem Internationalen Verband angeschlossenen Tanzvereine. Wa¨hrend sich also auch die deutsche Tanzlehrerschaft um Regelungen bemu¨hte, um einer zunehmenden internationalen Erweiterung ihres Wirkungskreises Rechnung zu tragen, ignorierte man die neuen transatlantischen Ta¨nze u¨berraschenderweise weitgehend. Die deutsche Tanzlehrerschaft beschra¨nkte sich weiterhin auf ein bekanntes europa¨isches Repertoire bzw. auf Innovationen der europa¨ischen Verbandsmitglieder. Noch im Dezember 1911 schienen die Berichte u¨ber den Tanzlehrerkongress der A. I. D. in Paris eine solche Haltung zu besta¨tigen. Man teilte den Verbandsmitgliedern mit, „alle exotischen Ta¨nze, mit komplizierten Rumpfbewegungen, alle Schiebeta¨nze und Varianten der Apachenreigen werden in der nun beginnenden Zeit der großen Ba¨lle verpo¨nt sein.“36 Doch diese Meldungen aus Paris ta¨uschten daru¨ber hinweg, dass die neuen Ta¨nze zu diesem Zeitpunkt auf den Bu¨hnen der Music Halls und in den Tanzsa¨len der franzo¨sischen Metropole bereits u¨beraus popula¨r waren und auch in Berlin erste Erfolge zu feiern begannen. Schon bald sollte sich zeigen, dass auch die deutsche Tanzlehrerschaft die Pra¨senz der neuen Ta¨nze nicht mehr ignorieren konnte. Die Tanzlehrer in Berlin sahen sich dabei mit zwei verschiedenen, jedoch eng miteinander verknu¨pften Pha¨nomenen konfrontiert, fu¨r die sich die Bezeichnung „Schiebe- und Wackelta¨nze“ durchsetzte. Unter „Schiebeta¨nzen“ verstand man die einfachen Tanzformen, die auf den Tanzbo¨den und in den Ausflugslokalen der Berliner Arbeiterbevo¨lkerung zu finden waren. Sie zeichneten sich

34 Dem Internationalen Verband der Tanzlehrer-Vereine geho¨rten folgende deutsche Vereine an: Bund

Deutscher Tanzlehrer, Verein Berliner Tanzlehrer, Akademie der Tanzlehrkunst, Allgemeiner Sa¨chsischer Tanzlehrer-Verband, Genossenschaft Deutscher Tanzlehrer. Vgl. Sitzung der Vorsta¨nde und Delegierten der dem Internationalen Verbande der Tanzlehrer-Vereine angeho¨renden fu¨nf deutschen Vereine, in: ADTZ 6 (1912), S. 36. 35 Vgl. XIII. Bundestag des Bundes Deutscher Tanzlehrer in Kassel, in: ADTZ 8/9 (1911), S. 54. 36 (o. A.), Aus aller Welt. Die neuen Gesetze des Ballsaals, in: ADTZ 12 (1911), S. 79.

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durch einen engeren Ko¨rperkontakt und lebhaftere Bewegungsabla¨ufe aus als im bu¨rgerlichen Salon u¨blich und trafen daher auf moralische Vorbehalte.37 Gleichwohl war gerade diese Art zu tanzen und die dazugeho¨renden einfachen Lokale bei vielen Berlinerinnen und Berlinern unabha¨ngig ihres gesellschaftlichen Status besonders popula¨r. Die Durchla¨ssigkeit sozialer Grenzziehungen und die klassenu¨bergreifende Zuga¨nglichkeit der Orte waren zu einem Kennzeichen der sta¨dtischen Kultur geworden.38 Die „Wackelta¨nze“, zu denen vor allem die amerikanischen Ragtimeta¨nze za¨hlten, waren eine weitere Vera¨nderung, mit der sich die Tanzlehrer in Berlin auseinandersetzen mussten. Diese fu¨hlten sich nicht nur von der Konkurrenz der Programme der internationalen Music Halls bevormundet, sondern distanzierten sich vor allem von einem vermeintlich zu starken franzo¨sischen Einfluss auf die Entwicklung des Gesellschaftstanzes. Das deutsche gesellschaftliche Ballleben werde zunehmend „su¨damerikanisiert“ und „pariserisiert“39, kritisierten die Tanzlehrer. Der Entschluss, diese Ta¨nze, die „von Paris nach Amerika kamen und von Amerika ganz Europa u¨berschwemmt haben in Acht und Bann zu tun, da sie sich nicht mit unserer Tanzkunst vereinbaren lassen“40, zeigte deutlich, dass man versuchte, das deutsche Repertoire gegen Einflu¨sse von außen zu schu¨tzen. Die stilbildende Rolle von Paris, das in dieser Hinsicht wie ein Filter zu wirken schien, u¨ber den fremde Ta¨nze ihren Eingang nach Europa fanden, wurde von der deutschen Tanzlehrerschaft kritisch beobachtet. In diesem Sinne richtete sich ein großer Teil der Berliner Tanzlehrerschaft gegen die neuen Ta¨nze und sprach im Gegensatz zu der franzo¨sischen Tanzlehrerschaft von der Unvereinbarkeit des Tangos mit einem deutschen Repertoire. Nur wenige Tanzlehrer in Berlin suchten nach pragmatischen Lo¨sungen und optierten trotz der Vorbehalte dafu¨r, den Tanz in seiner bereinigten franzo¨sischen Form und unter der professionellen Kontrolle der Tanzlehrer zu lehren. Diese Einsicht resultierte auch in Berlin vor allem aus dem drohenden Bedeutungsverlust der eigenen Position. „Tradition ist Schlamperei – nichts weiter“, so brachte es August Schwindowsky, Herausgeber der Tanzlehrer-Zeitung, auf den Punkt.41 Das Publikum lerne den Tango an anderer Stelle und sei am Erhalt der alten Traditionen nicht interessiert. Damit stilisierten sich die Tanzlehrer zu Opfern unlauterer Konkurrenz gegenu¨ber denjenigen, die das alte Monopol la¨ngst nicht mehr achteten, sondern die Mo¨glichkeiten einer stetig wachsenden kommerziellen Unterhaltungskultur nutzten. Es war vor allem eine Person, die diesbezu¨glich in die Kritik geriet: Franz Wolfgang Koebner, Redakteur der monda¨nen Berliner Zeitschrift Elegante Welt und selbsta¨ndiger Tanzlehrer, vero¨ffentlichte regelma¨ßig Artikel, in denen er fu¨r die Integration der neuen Ta¨nze pla¨dierte. Kaum ein Tanzturnier in Berlin kam ohne seine Fachkenntnisse aus, das von ihm und dem Zeichner R. L. Leonard publizierte Tanzbrevier, ein Selbstlehrwerk

37 Eichstedt/Polster, Wie die Wilden (wie Anm. 4), S. 17ff. 38 Maase, Grenzenloses Vergnu¨gen (wie Anm. 1), S. 22; siehe auch Julie Malnig, Two-Stepping to Glory:

Social Dance and the Rhetoric of Social Mobility, in: Moving History/Dancing Cultures. A Dance History Reader, hg. v. Ann Dils/Ann Cooper Albright, Middletown, Conn. 2001, S. 271–287. 39 J. R. Boßhardt-Haab, Ein Zeitbild in der gesellschaftlichen Tanzkunst, in: ADTZ 3 (1914), S. 17. 40 Hugo Florenz Dequine, Fachschule zu Stuttgart, in: ADTZ 8/9 (1912), S. 55. 41 August Schwindowsky, Wo ist der Nutzen der fu¨nf deutschen Verba¨nde?, in: ADTZ 1 (1914), S. 3.

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der neuen Ta¨nze, das 1913 erschien, wurde mehrfach neu aufgelegt.42 Vom „Bund Deutscher Tanzlehrer“ wurde Koebner jedoch scharf kritisiert. Seine Werke galten als unlautere Konkurrenz, sie seien „Abklatsch franzo¨sischer Autoren“, urteilte man gegen ihn.43 Die Reaktionen der Tanzlehrer in Berlin sind in einem breiteren Kontext der deutschen Debatten um „Schmutz und Schund“ zu interpretieren. Unter diese Bezeichnung konnten um die Jahrhundertwende alle Pha¨nomene einer fru¨hen Massenkultur fallen, die als moralisch gefa¨hrdend und a¨sthetisch minderwertig kritisiert wurden. Im Prinzip standen damit beinahe alle Genres der popula¨ren Kultur vom sogenannten Groschenheft, u¨ber die leichte Unterhaltungsmusik bis zum fru¨hen Kino unter Generalverdacht und provozierten soziale Kontrolle und gesellschaftliche Auseinandersetzungen.44 Obwohl eine solche Abwehrhaltung gegenu¨ber popula¨rkulturellen Formen keinesfalls ein deutsches Pha¨nomen war, sondern in vielen Großsta¨dten die Angst vor der sozialen Kraft der Massen spiegelte, organisierte und institutionalisierte sich eine spezifisch deutsche kulturkritische Auspra¨gung dieser Debatten, die sich vor allem im deutsch-franzo¨sischen Vergleich aus den unterschiedlichen Deutungsmustern von Kultur in Deutschland und Frankreich erkla¨rte.45 Daraus resultierten um 1900 auf der einen Seite Ansa¨tze, die versuchten, den Gefahren, die von der popula¨ren Kultur auszugehen schienen, mit bu¨rgerlichen Bildungs- und Erziehungskonzepten entgegenzutreten. Auf der anderen Seite schu¨rten die Vorbehalte gegenu¨ber dem vermeintlich die Gesellschaft gefa¨hrdenden Einfluss der popula¨ren Kultur jedoch in hohem Maße die Forderungen nach staatlicher Zensur und Verboten im Deutschen Kaiserreich.46 Die Entwicklung der fru¨hen Massenkultur wurde von vielen als eine grundsa¨tzliche Bedrohung der inneren Einheit der Nation wahrgenommen.47 Mit ihrer abwehrenden Einstellung gegenu¨ber den neuen Ta¨nzen als Teil einer urbanen Unterhaltungskultur standen die Tanzlehrer also nicht allein. Die Argumentation gegen die popula¨re Kultur der Großstadt ließ sich auch auf die modernen Ta¨nze und vor allem auf deren vermeintlich sittengefa¨hrdendes Potential u¨bertragen. Das rechtliche Vorgehen gegen „unsittliche Ta¨nze“ stellte folglich die konsequente Umsetzung einer solchen moralischen Haltung dar. Im Juli 1913 vero¨ffentlichte die Tanzlehrer-Zeitung ein Schreiben des Berliner Polizeipra¨sidenten Traugott von Jagow an den „Verein Berliner Tanzlehrer“ 1876, in dem darauf hingewiesen wurde, dass ku¨nftig gegen die „Schiebe- und Wackelta¨nze sowie sonstige ansto¨ßige

42 F. W. Koebner/R. L. Leonard, Tanz-Brevier, Berlin 1913. 43 Vgl. Gemeinsame Sitzung der Vorsta¨nde der fu¨nf deutschen Tanzlehrer-Vereine, in: ADTZ 7 (1914),

S. 43.

44 Maase, Grenzenloses Vergnu¨gen (wie Anm. 1), S. 163ff. 45 Stefanie Middendorf, Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernita¨t in Frankreich

1880–1980, Go¨ttingen 2009, S. 87ff.; Maase, Grenzenloses Vergnu¨gen (wie Anm. 1), S. 164f.; grundlegend: Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M./Leipzig 21994, hier v. a. S. 52ff. 46 Mit besonderem Augenmerk auf Reformansa¨tze vgl. Maase, Krisenbewußtsein und Reformorientierung. Zum Deutungshorizont der Gegner der modernen Popula¨rku¨nste 1880–1918, in: Maase/ Kaschuba, Schund und Scho¨nheit (wie Anm. 5), S. 290–342. 47 Ebd., S. 296f.

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Ta¨nze“ und „diejenigen Saalinhaber, die derartige Ta¨nze dulde[te]n“, im Sinne des Strafgesetzbuches vorzugehen sei.48 Immer wieder berichtete die Tanzlehrer-Zeitung ¨ rgernisses daraufhin u¨ber Prozesse, bei denen Ta¨nzer wegen Erregung o¨ffentlichen A zu Geldstrafen verurteilt worden waren. Von der deutschen Tanzlehrerschaft wurden also sowohl die Ta¨nze der eigenen sta¨dtischen Unterschichten als auch die vermeintlich fremden Ta¨nze aus den USA und aus Su¨damerika abgelehnt. Unter dem Oberbegriff „Schiebe- und Wackelta¨nze“ argumentierte man gleichermaßen gegen beide Pha¨nomene und befu¨rchtete einen Niedergang der eigenen Tanzkunst. „Das Fremde“ jedoch, so wurde deutlich, war nicht immer zwangsla¨ufig das exotisch Andere – vielmehr fand es sich in der eigenen Gesellschaft ebenso wie in der kritischen Beobachtung und Abgrenzung der Metropolen untereinander.49 Die deutsche Tanzlehrerschaft befand sich 1913 in einer Krise. Man sah sich u¨berfordert, auf die neuen Herausforderungen ada¨quat zu reagieren und gemeinsame Entschlu¨sse zu fassen, die fortan als Leitlinie fu¨r einen deutschen Gesellschaftstanz gelten konnten. Die Tanzlehrer blieben in der Mehrheit konservativ und verpassten damit ihre Chance, eine eigene Position gegenu¨ber den neuen Rahmenbedingungen zu definieren. So schwankte ihre Argumentation zwischen einer Abwehr gegen die „Tangoseuche“50 und dem Versuch, pragmatische Schadensbegrenzung zu betreiben. Vor dem Ersten Weltkrieg nationalisierte sich der Ton dieser negativen Erfahrungen in zunehmendem Maße. So polemisierte nun auch August Schwindowsky im April 1914: „In solchen Fa¨llen sollte ein Wort unserer maßgebenden Verba¨nde genu¨gen und einem so exotischen Produkt wa¨re ein fu¨r alle Mal der Boden unter den Fu¨ßen fortgezogen. Ich verstehe immer und immer wieder nicht, daß Deutschland, das an der Spitze marschiert oder gehen will, sich eine solche Sache einfach aufbu¨rden la¨ßt, weil es ‚draußen‘ gefallen hat.“51 Diese Formulierung entsprach insgesamt einer gesellschaftlichen Radikalisierung in den Debatten um popula¨re Kultur in Deutschland, deren Gegner im Vorfeld des Krieges die Bedrohung des „Volksko¨rpers“ aus dem Inneren heraus heraufbeschworen.52 Dass dabei auch der Tanz zum Spiegel des politischen Geschehens werden konnte, verdeutlichten die Worte eines Berichterstatters vom Bundestag des Bundes deutscher Tanzlehrer im Juli 1914 in Hamburg, der angesichts des drohenden Weltkriegs an die Worte erinnerte: „Nous dansons sur un volcan!“53

48 Abdruck des Schreibens in: ADTZ 7 (1913), S. 45. 49 Vgl. Die ‚Großstadt‘ und das ‚Primitive‘. Text – Politik – Repra¨sentation, hg. v. Krisitin Kopp/Klaus

Mu¨ller-Richter, Stuttgart 2004, darin Einleitung, S. 5–30, hier bes. S. 12.

50 J. R. Bosshardt-Haab, Ein Zeitbild in der gesellschaftlichen Tanzkunst, in: ADTZ 3 (1914), S. 17. 51 August Schwindowsky, Auf dem Wege zur Sezession, in: ADTZ 4 (1914), S. 23. 52 Maase, Krisenbewußtsein (wie Anm. 46), S. 308. 53 (o. A.), Von neuen Ta¨nzen, in: ADTZ 8/9 (1914), S. 51.

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V. Fazit

Der Beginn des Ersten Weltkrieges beendete das „Tangofieber“ und auch die erste Phase der Pra¨senz der transatlantischen Ta¨nze in den europa¨ischen Metropolen, bevor mit der Jazzmusik der 1920er Jahre neue Ta¨nze wie der Shimmy oder der Charleston popula¨r wurden. Fu¨r die Zeit der Jahrhundertwende fallen im Vergleich ¨ hnlichkeiten und Unterschiede in der Tanzlehrerschaft in Paris und Berlin folgende A der Wahrnehmung der neuen Ta¨nze und den daraus resultierenden Handlungsentwu¨rfen auf: Sowohl die franzo¨sische A. I. D. als auch der „Bund Deutscher Tanzlehrer“ hatten sich eine Organisationsstruktur mit internationaler Reichweite geschaffen. Wa¨hrend mit der A. I. D. einzelne Tanzlehrer aus der ganzen Welt assoziiert waren, beschra¨nkte der „Internationale Verband der Tanzlehrer-Vereine“ seinen Einfluss auf einen regional kleineren Radius, der die traditionelle Pra¨gung des Gesellschaftstanzes durch eine Zirkulation des Repertoires im europa¨ischen Kulturraum spiegelte. Fu¨r den Beruf des Tanzlehrers zeigte sich eine zunehmende Institutionalisierung und Internationalisierung des Wirkungsfeldes, die aus dem Anspruch resultierte, ein standardisiertes Repertoire international einheitlicher Ta¨nze zu schaffen. Die Ta¨nze aus der „neuen Welt“ waren Teil einer Unterhaltungskultur, die sich zunehmend international vernetzte, deren Angebot zwischen den Metropolen zirkulierte und deren Akteure weltweit ta¨tig waren. Der Erfolg der neuen Ta¨nze basierte wesentlich auf einer solchen beschleunigten Entwicklung zwischen den europa¨ischen Metropolen seit der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts, die die Gestalt und die Wahrnehmung der Metropolenkultur grundlegend vera¨nderte. Eine solche globale Dimension der Metropolenkultur stellte fu¨r die Tanzlehrer in Paris und Berlin neue Herausforderungen dar. Traditionelle Ordnungsmuster gerieten innerhalb der Großstadt an ihre Grenzen. Die Tanzlehrer mussten diesbezu¨glich aktiv u¨ber neue notwendige Reglements sowie u¨ber die Mo¨glichkeiten der Integration der neuen Ta¨nze in das eigene Repertoire verhandeln. Die A. I. D. in Paris, so wurde ersichtlich, betrieb eine dominante Politik der Aneignung, die auch zeitgeno¨ssisch als „Franzo¨sierung“ bezeichnet wurde. Relativ bald entstand eine Vielzahl eigener Choreographien unter franzo¨sischer Urheberschaft. Hierbei musste sich die A. I. D. zwar in Konkurrenz zu anderen Tanzlehrern behaupten, konnte ihren Einflussbereich jedoch weitgehend wahren und sicherte Paris damit eine stilbildende Rolle bei der Einfu¨hrung neuer Ta¨nze, an der sich andere Sta¨dte orientierten. In Berlin verhielt man sich hingegen defensiv. Die deutsche Tanzlehrerschaft argumentierte sehr viel konservativer zugunsten eines tradierten Repertoires und versuchte sich dabei auch von einem zu starken franzo¨sischen Einfluss abzugrenzen. Die neuen Ta¨nze wurden hier gleichsam als Bedrohung des eigenen national definierten Repertoires wahrgenommen. Die Abwehr gegenu¨ber kulturellen Einflu¨ssen von außen verband sich in Berlin mit einer Kritik an den Ta¨nzen der unteren Schichten der eigenen Gesellschaft und basierte somit auf einer Haltung, die dem Wandel einer popula¨ren Kultur der Großstadt generell kritisch gegenu¨berstand. Der Bund deutscher Tanzlehrer scheiterte vor dem Ersten Weltkrieg daran, eine eigene Linie zu finden und das o¨konomische und kreative Potential der neuen Ta¨nze zu nutzen.

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Die neuen Ta¨nze, so wurde an der Darstellung der Reaktionen der Tanzlehrerschaft in Paris und Berlin ersichtlich, erforderten eine aktive Auseinandersetzung mit einer neuen Dimension des sta¨dtischen Lebens. Metropolenkultur um 1900 zeichnete sich durch eine qualitativ grundsa¨tzlich neue Erfahrung aus, die gesellschaftlich verhandelt wurde und die den Entwurf neuer Handlungsstrategien notwendig werden ließ. Mit dem Fokus auf die Tanzlehrerschaft in Paris und Berlin konnten solche Aushandlungsprozesse und die divergierenden Beweggru¨nde und Interessen einer konkreten Akteursgruppe verdeutlicht werden. Der vergleichende Blick auf die Rezeption der neuen transatlantischen Ta¨nze in Paris und Berlin hat auf die enge Verflechtung der Metropolen untereinander bei der Herausbildung einer internationalen popula¨ren Kultur um 1900 verwiesen. Metropolen wirkten als Knotenpunkte, an denen sich Entwicklungen beschleunigten und kultureller Austausch verdichtete, und sie standen dabei in einem permanenten Verha¨ltnis der gegenseitigen Beobachtung zueinander.54 Eine transnationale Perspektive auf die popula¨re Kultur der Stadt, die grenzu¨berschreitende Austauschprozesse fokussiert und dabei vor allem die vielfa¨ltigen Bezu¨ge der Metropolen untereinander und „nach außen“ aufzeigt, erlaubt es daher, Metropolenkultur als ein Ringen um Deutungsmacht und als eine Inszenierung der Sta¨dte zu interpretieren und den Fokus auf diejenigen Akteure zu richten, die an einem solchen Projekt mitwirkten.

54 Charle, Le temps des capitales culturelles (wie Anm. 32), S. 12; Osterhammel, Die Verwandlung der

Welt (wie Anm. 3), S. 385.

¨ FFENTLICHER SINNENERREGUNG „QUELLEN O UND GEISTESVERWIRRUNG“ Metropolenkultur und Sichtbarkeit des Wissens vor dem Ersten Weltkrieg von Kaspar Maase

Metropolen haben in der Geschichte immer wieder ein zwiespa¨ltiges Echo gefunden: bei den zeitgeno¨ssischen Kommentatoren von Gesellschaft und Kultur, aber auch bei den (von solchen Kritiken nicht ga¨nzlich unbeeinflussten) Bewohnern der großen Sta¨dte selbst. Dieser Beitrag greift einen Aspekt des Themas heraus; er fragt, inwiefern der Aufstieg metropolitaner Lebensformen in Gestalt einer international offenen ¨ berfordeUnterhaltungs- und Vergnu¨gungskultur vor dem Ersten Weltkrieg als U rung in einem ganz spezifischen Sinn erfahren wurde: als Verlust der Kontrolle u¨ber die Zirkulation von Wissen. Es soll gezeigt werden, dass es sich hier um eine durchaus anregende und keineswegs marginale Perspektive auf den Gegenstand handelt. Dabei wird eine Sichtweise verfolgt, die aus dem disziplina¨ren Ansatz volkskundlicher Kulturwissenschaft hervorgeht: Im Zentrum stehen die Aneignung urbaner Pha¨nomene durch die Sta¨dter und die damalige Kommunikation u¨ber Wandlungen des sta¨dtischen Lebens, an denen die Sprechenden selbst aktiv beteiligt sind. Gefragt wird, wie die Zeitgenossen die Angebote der mit neuen Medien und Verbreitungsformen verbundenen metropolitanen Massenkultur um 1900 wahrnahmen, wie sie sie einordneten und bewerteten. Dahinter steht die Annahme, auf diesem Weg etwas u¨ber „die Sache selbst“ erfahren zu ko¨nnen, u¨ber Zu¨ge der Großstadtkultur, die bisher nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Um die These anzudeuten: Es scheint, als ob in Deutschland Metropolenkultur verbunden wurde mit Vera¨nderungen in der Zuga¨nglichkeit von – problematischem – Wissen, und zwar insbesondere mit einer neuen Sichtbarkeit von Wissen im o¨ffentlichen Raum. Wenn man dieser Vermutung nachgeht, sto¨ßt man allerdings auf ein Abgrenzungsproblem: Wie ist Metropolenkultur am Ende des langen 19. Jahrhunderts von großsta¨dtischer Kultur und von allgemeinen Urbanisierungspha¨nomenen u¨berhaupt zu unterscheiden?1 Es liegt nahe, im Blick auf Unterhaltung und Vergnu¨gung die

1 Zu den Definitionsproblemen der Forschung vgl. Dirk Bronger, Metropolen, Megasta¨dte, global

Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004, S. 28–32.

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Rolle internationaler und auf den Standard anderer Metropolen bezogener „Sensationen“ herauszustellen: Stars, die an prominenten Etablissements in London und Paris ¨ bersee, besonders aufwa¨ndige und spektakula¨re Inszereu¨ssiert hatten; Shows aus U nierungen.2 Damit verbunden, erscheint es sinnvoll, Metropolenkultur wesentlich als ein Pha¨nomen der Selbstzuschreibung zu verstehen: Die kulturelle Selbstfeier ist tragendes Element der sich selbst mythisierenden „eingebildeten Metropole“.3 Berlin unterschied sich von Mu¨nchen oder Leipzig durch den intensiven Selbstthematisierungsprozess in der Presse, aber auch auf Bu¨hnen und in popula¨rer Musik,4 der die metropolitanen Qualita¨ten des lokalen Lebens aufsuchte, beschrieb, verglich, feierte und so ins (Selbst-)Bewusstsein vieler ru¨ckte. ¨ berforderung durch Vera¨nderungen in der sta¨dtischen Das Gefu¨hl einer U Umwelt, die man vorla¨ufig als Eintritt in die moderne Mediengesellschaft fassen kann, war aber nicht auf Berlin und auch nicht auf die deutschen Großsta¨dte beschra¨nkt. Wesentliche Elemente – Kinos, Sichtwerbung, Schaufensterinszenierungen, ubiquita¨res Angebot von Druckerzeugnissen u. a¨. – geho¨rten zum allgemeinen Urbanisierungsmodell dieser Zeit; im Kontext reichsweiter Thematisierung solcher Entwicklungen nahmen auch Bewohner von Mittelsta¨dten das Neue sensibel wahr und reagierten darauf. Allerdings galten Metropolen zu Recht als die Orte, an denen diese Vera¨nderungen besonders schnell und dicht, damit auch besonders herausfordernd voranschritten. Hartmut Ha¨ußermann hat diese „Vorbildfunktion“ von ¨ bergang zur Hochmoderne treffend charakterisiert: Metropolen im U „Sie erfu¨llten Orientierungswu¨nsche in einer von widerstreitenden Stro¨mungen gekennzeichneten Zeit. Sie gaben die Richtung an. Diese Metropolen waren Orte, auf die sich die Sehnsu¨chte, Hoffnungen und Phantasien von vielen richteten – sie waren allerdings auch die Kristallisati¨ ngste gegen die Modernisierung [...] Metropolen sind onspunkte der A der symbolische Gehalt von Mo¨glichkeiten, die ‚die neue Zeit‘ bietet.“5

2 Zum Verha¨ltnis der Metropolen untereinander, zu Vorbild- und Austauschbeziehungen vgl. Christoph

Charle, The´atres en Capitales. Naissance de la socie´te´ du spectacle a` Paris, Berlin, Londres et Vienne 1860–1914, Paris 2008; Astrid Kusser, Ko¨rper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900, Bielefeld 2013, bes. S. 219–247; Tobias Becker, Inszenierte Moderne. Popula¨res Theater in Berlin und London, 1880–1930, Mu¨nchen 2014, bes. S. 396-399. 3 Vgl. Ge´rard Raulet, Die Stadt als Mythologie: Sozio-Mythologie der Metropolen bei Simmel, Kracauer und Bloch, in: Berlin-Paris (1900–1933). Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme im Vergleich, hg. v. Hans Manfred Bock/Ilja Mieck (Convergences 12), Bern 2005, S. 155–183, hier S. 155. 4 Vgl. Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge, Mass. 1996; Peter Jelavich, Modernity, Civic Identity, and Metropolitan Entertainment: Vaudeville, Cabaret, and Revue in Berlin, 1900–1933, in: Berlin – Culture and Metropolis, hg. v. Charles W. Haxthausen/Heidrun Suhr, Minneapolis 1991, S. 95–110; Ders., Berlin Cabaret, Cambridge, Mass. 1993. Jelavich spricht geradezu von der Neuerfindung Berlins als Metropole. Ralf Thies, Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die „Großstadt-Dokumente“ (1904–1908), Ko¨ln u. a. 2006. 5 Hartmut Ha¨ussermann, Es muss nicht immer Metropole sein, in: Metropolen – Laboratorien der Moderne, hg. v. Dirk Matejovski, Frankfurt a. M. 2000, S. 67–79, hier S. 75.

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Was um 1900 teilweise als Metropolenproblem diskutiert wurde, war also, mutatis mutandis, an vielen Orten sta¨dtischen Lebens zu finden; daher werden im Folgenden auch Quellen herangezogen, die sich nicht auf Berlin beziehen, sofern sie zum ¨ berforderungserfahrung beitragen. Versta¨ndnis der U

I. Sinnlichkeit, Wissen, Kommerzialisierung

Im Folgenden wird versucht, an Beispielen aus der Zeit zwischen 1900 und dem Weltkrieg anzudeuten, wie Halbwu¨chsige zwischen acht und sechzehn Jahren – im damaligen Sprachgebrauch Kinder – sich die Mo¨glichkeiten der medialisierten Stadtkultur aneigneten und wie ihre Praktiken von Erwachsenen wahrgenommen und diskutiert wurden.6 Im gewa¨hlten Betrachtungsausschnitt bestimmte ein ho¨chst ambivalentes Erwartungsmuster die Wahrnehmung: Was macht gesellschaftliche Modernisierung mit den Kindern? Im Vordergrund stand die Sorge, dass mit der Vera¨nderung sta¨d¨ ffentlichkeit ma¨chtige und unerwu¨nschte „Miterzieher“ – so ein zentrales tischer O Stichwort – auf den Plan tra¨ten, die Kindheit und Erziehung negativ beeinflussen wu¨rden.7 Darunter la¨sst sich ein Muster erkennen, das drei Deutungslinien miteinander verknu¨pfte: Sinnlichkeit, Wissen und Kommerzialisierung. Welcher Art sind die Quellen, die so vorgehen? Zum einen handelt es sich um Verwaltungs- und Polizeiakten, die – meist im Kontext des Schutzes der o¨ffentlichen Ordnung und der Jugend vor „Schmutz und Schund“ – entsprechende Verknu¨pfungen herstellen. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Als man im Weltkrieg versuchte, der befu¨rchteten Verwahrlosung Jugendlicher zu begegnen, trafen die Einschra¨nkungen Kinos und den Verkauf von Groschenheften, Singspielhallen und Variete´s, o¨ffentliches Rauchen und Trinken, aber gleichermaßen Cafe´s, Konditoreien und Eisdielen, die von Halbwu¨chsigen frequentiert wurden.8 Was Beho¨rden im Krieg als Verwahrlosungsgefahr bezeichneten, fiel vorher in die Rubrik „erziehungswidrige Einflu¨sse“. Da figurierten dann in Ero¨rterungen und Erlassen weitere Medien wie Tageszeitungen und andere Presseerzeugnisse, Postkarten sowie 6 Dabei kommt eine Frage in den Blick, die mit der großsta¨dtischen oder metropolitanen Dimension

der Vera¨nderungen zu tun hat, hier aber nicht systematisch verfolgt werden kann: die Frage nach der Vernetzung von als problematisch wahrgenommenen Neuerungen. Welche Felder von Unterhaltung und Genuss wurden damals in Zusammenhang gebracht – von den Halbwu¨chsigen in der praktischen Nutzung und von erwachsenen Beobachtern in ihren besorgten Interpretationen dessen, was die Kinder taten? Wir erhalten so einen Einblick, was Metropolenkultur fu¨r Zeitgenossen bedeutete – unter anderem bedeutete! –, wie sie als Komplex von Vera¨nderungen erfahren wurde und welche kumulativen Folgen man ihr zuschrieb. Vgl. dazu mit weiteren Belegen Kaspar Maase, Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a. M. u. a. 2012. 7 Vgl. Jakob Loewenberg, Geheime Miterzieher. Studien und Plaudereien fu¨r Eltern und Erzieher, Hamburg, 5. Aufl., o. J. [1905]. 8 Vgl. Albert Hellwig, Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflu¨ssen (Beitra¨ge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Beihefte zur Zeitschrift fu¨r Kinderforschung 151), Langensalza 1919, bes. S. 7–29.

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Schaufenster- und Filmwerbung, aber auch „die sittliche Gefa¨hrdung der Schulkinder durch Zuckerwaren-Automaten“9 und fliegende Ha¨ndler, die im Umfeld von Schulen Erfrischungsgetra¨nke und Eis anboten.10 Schließlich behandelte man im genannten Kontext auch Maßnahmen gegen die Gefahren, die moderne sta¨dtische Einrichtungen dadurch heraufbeschworen, dass sie unkontrollierte Kommunikation und Begegnung der Geschlechter ermo¨glichten: Eislauf- und Rollschuhbahnen ebenso ¨ berwawie die Mo¨glichkeit, postlagernd Briefe zu empfangen und damit elterliche U chung zu unterlaufen. Die zweite Quellensorte bilden Texte aus dem Zusammenhang der Schmutz-undSchund-Debatte.11 Sie verknu¨pften die angefu¨hrten Praktiken und ihre Orte, und sie artikulierten die innere Logik der Verknu¨pfung. Die als Schund stigmatisierte kommerzielle Kunst fu¨rs Volk schien auf blasphemische Weise zu verho¨hnen, was der bildungsbu¨rgerlichen Kunst-Religion heilig war; sie appellierte an den „sinnlichen Menschen“, nicht an das „Unsterbliche in ihm“.12 Als erziehungswidrig galt zum einen der nicht pa¨dagogisch regulierte Zugang zu sinnlichen Genu¨ssen. Im Maße ihrer Verfu¨gung u¨ber Geld konnten Kinder und Jugendliche sich in der Großstadt Befriedigungen verschaffen, ohne diese „verdient“ zu haben; das befo¨rderte in den Augen der Kritiker die Erwartung bequemen, anstrengungslosen Zugangs zu sinnlichen Vergnu¨gen, die jede realita¨tsangemessene Arbeitseinstellung und die Fa¨higkeit zum Verzicht auf kurzfristige Gratifikationen zugunsten langfristigen Erfolgs zersto¨ren musste. Sinnlichkeit konnotierte daru¨ber hinaus stets auch Sexualita¨t, zumindest eine Gefa¨hrdung der Triebkontrolle. An diesem Punkt kommt dann die zweite kritisierte Dimension ins Spiel: die neue, meist visuelle Zuga¨nglichkeit von Wissen.13 Das fu¨r Heranwachsende angeb¨ ffentlichkeit und u¨ber Medien lich scha¨dliche Wissen, das ihnen in der sta¨dtischen O der Popula¨rkultur wie Massenliteratur und Kino zuga¨nglich wurde, war im Kern Wissen u¨ber die Welt der Erwachsenen, das deren Autorita¨t gegenu¨ber Kindern und Untergebenen bescha¨digte; auch hier dominierte fu¨r die Kritiker Wissen u¨ber sexuelle Triebhaftigkeit sowie u¨ber die Bereitschaft zum Verstoß gegen sittliche Normen. Als

9 Ministerium des Inneren und Ministerium fu¨r Handel und Gewerbe an Regierungspra¨sidien, 4. Juni

1900; Beilage: Bericht des Regierungspra¨sidiums Arnsberg v. 18. 2. 1900, Brandenburgisches LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 3B, Regierung Frankfurt (Oder), I Pol Nr. 1405. 10 Ein U ¨ berblick bei Kaspar Maase, Kinderkultur als Unterwelt der Arbeitsgesellschaft, in: Empirische Kulturwissenschaft – Eine Tu¨binger Enzyklopa¨die. Der Reader des Ludwig-Uhland-Instituts, hg. v. Reinhard Johler/Bernhard Tschofen (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts 100), Tu¨bingen 2008, S. 393–407, bes. S. 396–404. 11 Zum U ¨ berblick vgl. Georg Ja¨ger, Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 163–191; Maase, Kinder (wie Anm. 6). 12 Ernst Linde, Wie fu¨hrt man die Jugend vom stofflichen zum ku¨nstlerischen Genießen?, in: Zur Jugendschriftenfrage. Eine Sammlung von Aufsa¨tzen und Kritiken, hg. v. den Vereinigten deutschen Pru¨fungsausschu¨ssen fu¨r Jugendschriften, 2. vermehrte Aufl. Leipzig 1906, S. 7–18, hier S. 18. 13 Der Begriff bedeutet hier im Sinne der grundlegenden wissenssoziologischen Definition „die Gewissheit, dass Pha¨nomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1980, S. 1.

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Promotoren der Zuga¨nglichkeit sinnlicher Genu¨sse wie scha¨dlichen Wissens identifizierte man – drittens – kommerzielle Akteure: Gescha¨ftsleute und Unternehmer, die angeblich die scha¨dlichen Folgen ihres Gewinnstrebens in Kauf nahmen. Der Bericht einer Bremer Lehrerin u¨ber ihre Erlebnisse im Kino verband 1913 die Deutungsdimensionen Sinnlichkeit, Wissen, Kommerzialisierung exemplarisch an einem Ort der großsta¨dtischen Popula¨rkultur. Vermittelt wird eine versto¨rende Erfahrung. „Es ist gerade Pause. Eine schwu¨le, dunstige Luft schla¨gt mir entgegen, trotzdem die Tu¨ren geo¨ffnet sind. Der ganze weite Raum (500 Personen) ist mit Kindern gefu¨llt bis auf den letzten Platz. Ein unbeschreiblicher La¨rm herrscht; Laufen, Rufen, Schreien, Lachen, Plaudern. Knaben balgen sich. Apfelsinenschalen und leere Bonbonschachteln fliegen durch die Luft. Der Fußboden ist u¨bersa¨t mit Na¨schereiabfa¨llen. Auf den Fensterba¨nken und den Heizko¨rpern rangeln Knaben herum. Ma¨dchen und Knaben sitzen dichtgedra¨ngt durcheinander. 14-ja¨hrige Ma¨dchen und 14-ja¨hrige Knaben mit heißen, erregten Gesichtern necken sich in unkindlicher Weise gegenseitig. (Auch wa¨hrend der na¨chsten Vorfu¨hrungen bis zum Schluß). Kinder jeden Alters, sogar 3- und 2-ja¨hrige sitzen da mit glu¨henden Backen. Frauen gehen mit Na¨schereien dazwischen herum und verkaufen. Viele Kinder naschen, trinken Brause; Knaben rauchen heimlich.“14 Noch sind die frivolen, fu¨r Kinder ungeeigneten Ehebruchsgeschichten, die den pa¨dagogischen Kontrollbesuch veranlassten, gar nicht u¨ber die Leinwand geflimmert, da entfaltet sich bereits ein Panorama der Sinnlichkeiten: Naschen, Rauchen, Jungenund Ma¨dchenko¨rper dicht aneinander gedra¨ngt, heiße, erregte Gesichter. Das Kino ist, das wussten die Zeitgenossen, ein Raum kommerzieller Verdichtung. Nicht nur die lockenden Filme zogen den Kindern das Geld aus der Tasche; ebenso taten es die Automaten in den Foyers, die Schokolade und andere Genu¨sse anboten, und das Personal selbst dra¨ngte den Halbwu¨chsigen Na¨schereien geradezu auf.

¨ ffentlichkeit II. „Disziplinlosigkeit des Wissens“ in der sta¨dtischen O

Im Folgenden konzentriere ich mich auf den Komplex Kinder – Großstadtkultur – problematisches Wissen. Zuna¨chst wird die kritische Perspektive eines aufgekla¨rten Beobachters vorgestellt, dann das Spektrum der von Heranwachsenden genutzten sta¨dtischen Informationszuga¨nge knapp umrissen. Abschließend gehe ich auf die besondere Bedeutung ein, die die Zeitgenossen der Sichtbarkeit als Element problematischer Stadtkultur beimaßen, und versuche eine Erkla¨rung anzubieten. Ausgangspunkt ist eine Schrift aus dem Jahr 1915 von Hermann Ha¨fker (1873–1939), damals ein bekannter Kinoreformer. Der war nun gerade kein Kon-

14 Die Bremer Lehrerinnen und die Kinogefahr, in: Die Lehrerin. Organ des Allgemeinen Deutschen

Lehrerinnenvereins 30 (1913), S. 153–156, 161–164, hier S. 155.

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servativer, kein Antimodernist.15 In „Der Kino und die Gebildeten“ ging Ha¨fker gerade auf solche geistigen Angebote ein, denen kein sittlicher Vorwurf zu machen war, die vielmehr Bildungsgut verbreiteten. Hier sah er nun in der Gegenwart das Problem, „daß auch das an sich Klare, Wahre und Erfreuliche ein Bildungshemmnis, eine Verbildungsquelle werden muß, wenn es in zu großer Masse und in falscher Reihenfolge auf die Sinne eindringt.“ Der begru¨ßenswerte Fortschritt der „‚geistigen Verkehrsmittel‘“ habe sich infolge ungehemmter kapitalistischer Nutzung in eine „große Kulturgefahr“ verwandelt. Ha¨fker charakterisierte die modernen Medien – und damit fu¨hrt er uns mitten in die Großstadtkultur – als „Gruppe von ‚wilden‘ Ein¨ ffentlichkeit, jeder geistigen Vorsicht entbehrend, drucksvermittlern, die in voller O vorwa¨rtsgepeitscht ausschließlich von Erwerbsinteressen einer kleinen Minderzahl, Eindru¨cke geistiger Art in außerordentlicher Masse und vollkommen planlos [...] vor eine Besucherschaft aller Lebensalter, Vorbildungsstufen und Eigenbegabungen ausstreut“. Nun gelte es, der damit verbundenen „inneren Disziplinlosigkeit des Wissens“ abzuhelfen.16 Angesichts der Vielzahl von „Quellen o¨ffentlicher Sinnenerregung und Geistesverwirrung“ sei es die „dringendste Kulturaufgabe der Gegenwart [...], die ‚wilden‘ Masseneindrucksvermittler [...] wieder einzufangen und sie [...] zu kanalisieren“.17 Als Maßstab fu¨r die erstrebte Disziplinierung des Wissens nannte der Kinoreformer das „Bestreben, bildende Eindru¨cke auf die Jugend nur in solchem Maße und in solcher Ordnung einwirken zu lassen, daß der Geist durch sie in der Selbstentfaltung gefo¨rdert [...] wird“18 – Selbstentfaltung freilich nach dem Versta¨ndnis berufener Erzieher. Bevor ich auf Ha¨fkers Deutung na¨her eingehe, einige knappe Hinweise auf die Realentwicklung; der historische Betrachter kann na¨mlich das Bild der allgegenwa¨rtigen Sinneserreger durchaus nachvollziehen. Die verschiedensten Medien bewirkten damals „Eindru¨cke geistiger Art“: Straßenverka¨ufer und Zeitungskioske, Bahnhofsbuchhandlungen und Kinos, Reklameplakate und Ansichtskarten, Grammophone und Musikautomaten sowie Groschenhefte und Kolportageromane mit lockenden farbigen Titelbildern u¨berall dort, wo das Stadtvolk seinen Alltagsbedarf deckte. Die meisten dieser Angebote sind den modernen kommerziellen Popula¨rku¨nsten zuzurechnen. Heftroman und Kinofilm, Bildpostkarte und Plakat, Zeitungsfoto und Karikatur, Umschlagbild und Schlager, Erza¨hlung und Witz im Familienblatt – stets handelte es sich um symbolische Repra¨sentation, die, u¨ber Sinneseindru¨cke und Phantasieta¨tigkeit angeeignet, Gegenstand einer a¨sthetischen Erfahrung wurde.

15 Vgl. Thomas Schorr, Die Film- und Kinoreformbewegung und die deutsche Filmwirtschaft. Eine

Analyse des Fachblatts „Der Kinematograph“ (1907–1935) unter pa¨dagogischen und publizistischen Aspekten, Diss. Universita¨t der Bundeswehr, Mu¨nchen 1990, S. 71–79; Herbert Birett/Sabine Lenk, Art. „Hermann Ha¨fker“, in: Handbuch zur „Vo¨lkischen Bewegung“ 1871–1918, hg. v. Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht, Mu¨nchen u. a. 1996, S. 910. 16 Hermann Ha¨fker, Der Kino und die Gebildeten, M.Gladbach 1915, S. 34 (Hervorh. im Orig.). 17 Ebd., S. 35. 18 Ebd., S. 34.

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Um 1905 begann die Ausbreitung ortsfester Kinounternehmen. 1912 za¨hlte man in Berlin ca. 300 Filmtheater, in Hamburg 65, in Stuttgart 31.19 Die meisten wurden regelma¨ßig von Kindern und Jugendlichen besucht; nachmittags stellten sie oft den Großteil des Publikums. In den ersten Jahren gab es keine Alters-Untergrenze; Mu¨tter nahmen Babies und Kleinkinder mit, Gro¨ßere die noch nicht schulpflichtigen Geschwister. Die Angaben u¨ber den Besuch schwanken. Wa¨hrend Volksschullehrer in Berlin und Hamburg schon 1907 behaupteten, fast alle ihre ma¨nnlichen und weiblichen Schutzbefohlenen ha¨tten bereits von dem neuen Medium gekostet,20 erhob Altenloh 1912 fu¨r Mannheim, dass bisher 79 Prozent der Jungen und 33 Prozent der Ma¨dchen das Kino besucht ha¨tten.21 Lesestoffe, illustrierte Zeitschriften und Postkarten wurden in den Sta¨dten auf eine fu¨r die besorgten Volkserzieher nicht u¨berschaubare und faktisch unkontrollierbare Weise vertrieben. Kioske und Bahnhofsbuchhandlungen, fliegende Sta¨nde und Straßenha¨ndler boten sie an; Papier- und Schreibwarenla¨den fu¨hrten sie ebenso wie Lebensmittella¨den, Schuhmacher und Friseure. Es gab Winkel-Leihbu¨chereien und Tro¨dler, bei denen Groschenhefte und Lieferungsromane gebraucht und im Tausch erha¨ltlich waren – und die meisten dieser Kulturvermittler pra¨sentierten ihr Angebot o¨ffentlich sichtbar, in Ladenfenstern, Schauka¨sten und Ausha¨ngen. Bei der Jagd nach unzu¨chtigen Postkarten22 und „Witzbla¨ttern“ (zu denen, v. a. wegen ihrer Illustrationen, auch der Simplicissimus und Die Jugend gerechnet wurden)23 legte die Mu¨nchner Polizei umfangreiche Verzeichnisse der La¨den an, die derartige Druckwerke fu¨hrten; neben Buchhandlungen und Zeitungskiosken wurden Zigarren- und Schreibwarenhandlungen, Kra¨mer, Spezerei-, Milch-, Brot- und Obstla¨den aufgelistet.24 Allein in einem der u¨ber 20 Mu¨nchner Polizeibezirke gab es mehr als 260 solcher Stellen, die Bildpostkarten vertrieben.25 Die „Disziplinlosigkeit des Wissens“ kam fu¨r Volkserzieher und Jugendpfleger auch darin zum Ausdruck, dass die Masse der einfachen Leute und der Heranwachsenden ihre Lesestoffe nicht u¨ber den Sortimentsbuchhandel erwarb; dem 19 Lichtbildbu¨hne 5 (1912) Nr. 48, S. 22. Eine wirklich zuverla¨ssige Bestandsaufnahme liegt nicht vor; die

hier angefu¨hrten Zahlen werden etwas u¨berho¨ht sein, und nicht alle erfassten Kinos spielten ta¨glich. Vgl. auch Maase, Kinder (wie Anm. 6), S. 125f.; Joseph Garncarz, Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896 bis 1914, Frankfurt a. M. u. a. 2010, s. 196. 20 Volkszeitung [Berlin], 1. 9. 1907; Materialien der „Kommission fu¨r ‚Lebende Photographien‘“, Bericht Nr. 6, Lehrer Wendt, StaatsA Hamburg, Gesellschaft der Freunde/Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 488. 21 Emilie Altenloh, Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914, S. 59. 22 Von Oktober 1901 bis einschließlich November 1903 wurden mehr als 1400 Darstellungen beanstandet. 23 Vgl. Hartwig Gebhardt, „Halb kriminalistisch, halb erotisch“: Presse fu¨r die „niederen Instinkte“. Anna¨herungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte, in: Schund und Scho¨nheit. Popula¨re Kultur um 1900, hg. v. Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (alltag & kultur 8), Ko¨ln 2001, S. 184–217, hier S. 198–201; Heinz J. Galle, Volksbu¨cher und Heftromane. Bd. 3: Die Zeit von 1855 bis 1905 – Moritatensa¨nger, Kolporteure und Frauenromane, Lu¨neburg 2006, S. 72–80. 24 „Berichterstattung u¨ber die Handhabung des Versammlungs-, Vereins- und Preßwesens“ (1895–1907), StaatsA Mu¨nchen, Polizeidirektion Mu¨nchen 1110. 25 Ebd., Kriminalwachtmeister Fu¨rst, 6. Bezirk, an Polizeidirektion, 1. 12. 1904. Die Angaben aus den anderen Bezirken schwankten meist zwischen 20 und 70 erfassten Verkaufsstellen.

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schrieb man na¨mlich wenigstens eine gewisse erzieherische Regulierung der Informationsflu¨sse zu. Noch im Ma¨rz 1916, als wegen des Krieges schon viele La¨den hatten schließen mu¨ssen, za¨hlte die Ko¨lner Polizei neben den gelernten Buchha¨ndlern 327 Gescha¨fte, die Bu¨cher und Schriften vertrieben. 85 davon waren auf Lesestoffe spezialisiert, 241 fu¨hrten diese Waren neben anderen. Von insgesamt 185 dieser La¨den nahm die Polizei an, dass sie „Schmutz- und Schundschriften“ fu¨hrten, mehr als 30 verliehen angeblich solche jugendgefa¨hrdenden Produkte.26 Zur „‚inneren‘ Urbanisierung“27, zur Ausbildung von Großstadtkompetenz geho¨rte fu¨r die Halbwu¨chsigen, dass sie sich die Topographie der „Quellen o¨ffentlicher Sinnenerregung“ und der „‚wilden‘ Masseneindrucksvermittler“ erschlossen. Sie kannten die Adressen von Kinos und Groschenheftverka¨ufern, von Buch-Tro¨dlern und La¨den mit interessanten Schaufenstern; und sie suchten diese Orte auf, ha¨ufig in Gruppen. Nicht selten fu¨hrten derartige Streifzu¨ge ins Warenhaus, das meist ebenfalls ein breites Sortiment an Schrift- und Bildwerken pra¨sentierte. Auch hier vermuteten Jugendschu¨tzer eine Quelle von Wissen, das Heranwachsenden nur schaden konnte. Nach Pru¨fung einiger Bildba¨nde mit Fotografien weiblicher Akte sowie von „in Skulpturmanier gestellten weiblichen Personen“ teilte die Mu¨nchner Polizei der Direktion des Kaufhauses Oberpollinger ihre Bedenken mit: Jedermann, auch unreife Jugendliche, habe dort Gelegenheit zur Ansicht und zum Durchbla¨ttern.28 Sorgen bereitete vielen Schulma¨nnern die Zeitungslektu¨re ihrer Zo¨glinge; insbesondere Sensations- und Gerichtsreportagen sowie Fortsetzungsromane galten als gefa¨hrliche Infektionsquellen. Und wirklich ergab 1912 eine Befragung von 160 Jungen der siebten und achten Volksschulklasse in Mu¨nchen eine außerordentliche Vielfalt der Lesestoffe, die den wahrlich wilden, ungeza¨hmten und unza¨hmbaren Charakter der Wissenszuga¨nge und Wissensbesta¨nde von Kindern in der Großstadt veranschaulicht. Gefragt wurde ohne Vorbereitung, was am ha¨ufigsten und am liebsten gelesen werde; und die fu¨r die Schu¨ler glaubhafte Anonymisierung der Ausku¨nfte29 la¨sst ein realistisches Bild davon erwarten, was den Jungen wichtig war. Die insgesamt 2509 genannten Titel von Einzelschriften und Periodika30 ordnete Oberlehrer Kreutzer folgenden Kategorien zu: erza¨hlende Literatur 38 Prozent, belehrende Literatur 26 Bericht des Polizeipra¨sidiums Ko¨ln v. 28. 3. 1916, HStA Du¨sseldorf, Polizeipra¨sidium Ko¨ln 196. 27 Vgl. Gottfried Korff, Mentalita¨t und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur „inne-

ren“ Urbanisierung, in: Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, hg. v. Theodor Kohlmann/ Hermann Bausinger, Berlin 1985, S. 343–361. 28 Polizeidirektion an Direktion des Kaufhauses Oberpollinger, 10. 10. 1910, StaatsA Mu¨nchen, Polizeidirektion 7234. 29 Oberlehrer Kreutzer verwies auf das Wahlgeheimnis und erkla¨rte, die Angaben seien fu¨r Interessenten außerhalb der Schule bestimmt. Jede Kennzeichnung der Angaben, die zur Identifizierung der Schu¨ler ha¨tte fu¨hren ko¨nnen, wurde ausdru¨cklich verboten und empfohlen, die Handschrift zu verstellen, damit auch der Klassenlehrer keinen Anhaltspunkt finden ko¨nne. Die Bo¨gen aus allen Klassen kamen in eine gemeinsame Urne, was ebenfalls die Zuru¨ckhaltung der Probanden mindern sollte. Und die Ergebnisse sind grosso modo auch plausibel; so wurde „Schundliteratur“ keineswegs verschwiegen, vielmehr facettenreich angegeben. Vgl. hierzu und zum Folgenden „Was unsere Kinder lesen“, StadtA Mu¨nchen, Schulamt 2168. 30 Hinzu kamen weitere nicht identifizierbare Angaben. Umgekehrt bedeuten Titelnennungen nicht notwendig vollsta¨ndige, sondern oft bruchstu¨ckhaft „wildernde“ oder auf Bilder konzentrierte Lektu¨re.

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21 Prozent, Gedichte und Dramen 5 Prozent, Zeitungen und Zeitschriften 15 Prozent,31 Schundliteratur 21 Prozent. Er vermutete bei den belehrenden Schriften sowie ¨ berzeichnungen, hielt die sonstigen Angaden Gedichten und Dramen erhebliche U ben jedoch fu¨r glaubhaft; da er selbst eher die Gefahren der Schundlektu¨re dokumentieren wollte, muss man seine Bedenken nicht teilen. Und seine Gesamteinscha¨tzung, dass die Schu¨ler „zu lesen versuchen, was ihnen in die Ha¨nde kommt“, trifft zweifellos zu. Die Schu¨ler schauten regelma¨ßig in die Tageszeitung; als interessante Themen notierten von den 44 Befragten, die genauere Angaben machten, 39 Gerichtsverhandlungen und den „Tripoliskrieg“, 36 „die Morde“, 31 Witze und Ra¨tsel, 19 „das Politische“, 14 Sport, 10 „das unter dem Strich“ und 7 die Romane. Von den 369 erwa¨hnten Periodika waren 150 Zeitungen und 119 Zeitschriften fu¨r Erwachsene, vier Kalender sowie 87 Kinder- und Jugendzeitschriften und 9 Bla¨tter mit Anregungen fu¨r Freizeitta¨tigkeiten. Meistgelesener Autor war der katholische Volksschriftsteller Christoph von Schmid, dessen religio¨s-erbauliche Schriften aus dem Biedermeier 82-mal genannt wurden. Es folgten die Bru¨der Grimm mit Ma¨rchen sowie Defoes „Robinson“ (76). Romane von Jules Verne waren beliebt, ebenso Schwabs Volkssagen, Coopers „Lederstrumpf“ und Karl Mays „Reiseromane“. Ha¨ufig angefu¨hrt wurden aber auch „Ma¨rchen aus Tausendundeiner Nacht“ sowie Ma¨rchen und Erza¨hlungen von Hauff, daneben Rosegger gleichauf mit „Gullivers Reisen“, Beecher Stowe („Onkel Toms Hu¨tte“) und Erza¨hlungen von Gersta¨cker. Unter den belehrenden Bu¨chern fand sich neben historischen Themen und Biographien eine ganze Reihe aktueller abenteuerlicher Reiseberichte, darunter die zeitgeno¨ssischen Autoren Livingstone, Peary, Shackleton, Stanley und Sven Hedin mit insgesamt 44 Nennungen. Die Freude des Lehrers u¨ber die verbreitete Lektu¨re von Ma¨rchen, Sagen, moralisierenden Erza¨hlungen und belehrenden Sachbu¨chern wurde allerdings getru¨bt durch einige „ausgesprochen unkindliche“ Bu¨cher wie Erotika,32 „Faust“ und die „Go¨ttliche Komo¨die“. Wenn die Angaben der Schu¨ler systematisch verzerrt sind, dann gewiss in eine Richtung, die das pa¨dagogisch Fragwu¨rdige herunterspielt. Doch schon das unkorrigierte Bild macht das Urteil von der „Disziplinlosigkeit des Wissens“ absolut nachvollziehbar. Dabei gibt es allenfalls das literarische Wissensmenu¨ der Halbwu¨chsigen wieder. Eine vollsta¨ndigere Auflistung der „‚wilden‘ Eindrucksvermittler“ wu¨rde ein genaueres Eingehen darauf verlangen, was Kindern und Jugendlichen in den Familien zuga¨nglich wurde, partizipierend am Popula¨rkunstkonsum Erwachsener, den ha¨ufig noch Kolporteure und Hausierer lieferten. Im o¨ffentlichen Raum lockten Mu¨nzautomaten mit mutoskopischen und stereoskopischen Bilderserien. Halbwu¨chsige hatten Zugang zu Tingeltangeln, Vergnu¨gungsga¨rten und Rummelpla¨tzen und erlebten dort Programme fu¨r Erwachsene mit.33 In und vor Kinos erto¨nten Musikautomaten und Grammophone mit den neuesten Couplets und Operettenschlagern, die zumeist 31 Kreutzer vermutet, dass die Angaben u¨ber Periodika zu niedrig ausfielen. 32 Um hier eingeordnet zu werden, reichte anscheinend schon das Wort „Liebe“ im Titel. 33 Vgl. Hermann Weimer, Haus und Leben als Erziehungsma¨chte, Mu¨nchen 1911, S. 79–89; Paul Mu ¨ l-

ler, Eine Kindheit und Jugend im alten Frankfurt, Frankfurt a. M. 1984, S. 71f.

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mehr oder minder frivol das „Thema Nr. 1“ behandelten, und auch aus den Gastwirtschaften wird manches dieser Art auf die Straße hinaus geschallt sein. Eine besondere Rolle unter den problematischen Medien spielten Schaufenster. Wie weit sie die Sinne der Betrachter erregten, ist schwer zu sagen; definitiv erregten sie aber regelma¨ßig Proteste. Anlass konnte die Auslage von kulturhistorischen oder vo¨lkerkundlichen Schriften in einer ehrenwerten bu¨rgerlichen Buchhandlung sein – wenn in Bild oder Wort Nacktheit oder Sexuelles angesprochen wurden. Anlass waren Gruppen Jugendlicher, die die neueste Titelzeichnung der Heftserie „Hurrah! Soldatenstreiche in Krieg und Frieden“ diskutierten; weibliche Unterwa¨sche konnte Empo¨rung auslo¨sen oder auch in den Augen der Kritiker allzu verfu¨hrerische Inszenierungen der Warenwelt. Schaufensterpuppen, die Korsagen pra¨sentierten, erregten regelma¨ßig Anstoß.34 Oskar Panizza hat das Thema 1893 zu einer Erza¨hlung verarbeitet, deren Held ob des erotischen Schocks letztlich irrsinnig wird; der Junge kam ¨ ber Jahrzehnte, bis allerdings vom Land, ihm mangelte es an Großstadtkompetenz. U zum Weltkrieg, setzte sich die deutsche Gesellschaft mit der Forderung nach sonnta¨glichem „Blendzwang“ auseinander: Zumindest an diesem Tag sollten Schaufenster verha¨ngt werden, da die Sta¨dter dann am meisten gefa¨hrdet seien, der sinnlichen Verfu¨hrung zum Kauf des Unnu¨tzen zu erliegen.

III. Was Erwachsene tun, wenn sie sich nicht von Kindern beobachtet fu¨hlen

Soweit einige Schlaglichter auf den o¨ffentlichen Raum der Metropole als eher kakophonisches Gesamtkunstwerk. Den To¨nen und Missto¨nen und dem Chaos ihres Zusammenklangs war aus der Sicht vieler Erwachsener eines gemeinsam: die „Disziplinlosigkeit des Wissens“ infolge mangelnder pa¨dagogischer Regulierung. Der verantwortlichen „Kanalisierung“ des Wissens bedurften zwar auch die aus bu¨rgerlicher Perspektive ungebildeten Massen; die alte Metapher vom Volk als Kind war durchaus noch wirksam. Doch die Debatte berief sich vor allem auf das Wohl der Heranwachsenden. Dahinter stand ein spezifisches Versta¨ndnis von Kindheit: (Wahre) Kindheit bedeutete Aufwachsen in einer von Erwachsenen ku¨nstlich, durch pa¨dagogische Auswahl hergestellten Wissensumwelt. Diese Konstruktion, in der die reine Kinderseele mo¨glichst lange vor den schmutzigen Seiten der Realita¨t bewahrt werden sollte, hatte das Bu¨rgertum nach den Ideen der Aufkla¨rungspa¨dagogik installiert.35 Fu¨r die unterbu¨rgerlichen Schichten begann das Modell u¨berhaupt erst im spa¨ten 19. Jahrhundert relevant zu werden – in der urbanen Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts

34 Das Folgende entnehme ich einem unvero¨ffentlichten Papier von Nina Schleif/Christof Windga¨t-

ter, Vor dem Schaufenster. Von Wahn und Sinnen des modernen Subjekts, S. 11–12 (pra¨sentiert auf dem Workshop „Modern Times/Zeiten der Stadt“, Humboldt-Universita¨t zu Berlin, 25. – 27. 2. 2010). 35 Vgl. Ulrich Herrmann, Die Pa¨dagogisierung des Kinder- und Jugendlebens in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Zur Sozialgeschichte der Kindheit, hg. v. Jochen Martin/August Nitschke, Freiburg u. a. 1986, S. 661–683.

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zerbrach es. Die „Disziplinlosigkeit des Wissens“ in der Großstadtkultur verschob die Kra¨fteverha¨ltnisse zwischen den Klassen, den Geschlechtern und den Generationen unwiderruflich.36 Auch Elternhaus und Schule verloren, so war die verbreitete Empfindung, die Kontrolle u¨ber Informationen und Einflu¨sse, aus denen Heranwachsende ihr Selbstund Weltbild formten. Kommerzielle „Miterzieher“ konkurrierten in den Sta¨dten mit den legitimen Erziehungsma¨chten. Bislang von Erwachsenen monopolisiertes Wissen wurde Kindern und Jugendlichen zuga¨nglich. Dabei ging es – trotz der o¨ffentlichkeitswirksamen Dominanz des Themenfeldes Sex – im Kern keineswegs um Pru¨derie; es ging um das Machtverha¨ltnis zwischen Autorita¨ten und Untergeordneten. Hierarchische Autorita¨t beruht nicht zuletzt auf der Fa¨higkeit, den Hintergrund der „Bu¨hnenauftritte“ (Goffman) im Dunkel zu halten, mit denen man Respekt verlangt und erwirbt.37 Sicher war die Selbstinszenierung der Respektspersonen, der Lehrer, Pfarrer, Polizisten, Honoratioren, Eltern, im 19. Jahrhundert nie perfekt. Aber die neuen popula¨ren Ku¨nste, insbesondere Film, Groschenheft und Karikatur,38 vermittelten Blicke hinter die Kulissen doch in ganz anderer Gro¨ßenordnung als bisher. Sie zeigten, was Erwachsene als die dunklen Seiten des Lebens mo¨glichst lange und mo¨glichst umfassend verstecken wollten: Szenen der Gewaltta¨tigkeit und Triebhaftigkeit, die den Autorita¨tsanspruch – melodramatisch oder komisch, jedenfalls drastisch – unterminierten. Der Hamburger Generalanzeiger zum Beispiel beklagte die unkontrollierte Zuga¨nglichkeit von Filmen, „die den Menschen im Sturm aller Leidenschaften, ja, als Bestie“ zeigten.39 Hier erfuhren Kinder, was Erwachsene taten, wenn sie sich nicht von Kindern beobachtet fu¨hlten. In den Jahren zwischen Jahrhundertwende und Krieg war die lustvolle Destruktion von Autorita¨ts- und Ansta¨ndigkeitsfassaden eines der beim jugendlichen Publikum beliebtesten Film-Genres; nicht zu Unrecht hat Siegfried Kracauer den fru¨hen Film mit einem frechen Gassenjungen verglichen.40 Heftserien wie „Jungensstreiche. Ru¨peleien, Geheimnisse und Abenteuer unserer Jugend“ oder „Backfischstreiche“ erregten den besonderen Zorn der Pa¨dagogen, weil sie menschliche Schwa¨chen von Autorita¨tspersonen vorfu¨hrten und zur Respektlosigkeit ermunterten.41 Wa¨hrend die Kinderbu¨cher der Zeit durchga¨ngig die Bu¨hnen-Ansicht des Erwachsenendaseins pra¨sentierten, entzauberten Unterhaltungswaren den Mythos 36 Fu¨r das Fernsehen entwickelt diesen Gedanken Joshua Meyrowitz, Die Fernsehgesellschaft. Wirk-

lichkeit und Identita¨t im Medienzeitalter, 2 Bde., Weinheim u. a. 1987 (Originalausgabe: No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior, New York u. a. 1985). 37 Vgl. Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, Mu¨nchen 1969, bes. S. 100–128. 38 Borniertheit, Heuchelei und sexuelle Eskapaden von Vertretern der Oberschichten waren beliebter Gegenstand der Karikaturen in jenen „Witzbla¨ttern“, die Polizei und Gerichte mit großer Verbissenheit verfolgten. 39 Generalanzeiger [Hamburg], 7. 8. 1912. 40 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films Frankfurt a. M. 1979, S. 22. 41 Vgl. etwa Karl Will, Schundliteratur fu¨r Ma¨dchen, in: Die Hochwacht 5 (1914/15), S. 30; zu den einschla¨gigen Serien vgl. Galle, Volksbu¨cher (wie Anm. 23), Bd. 2: Vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“ – 40 Jahre popula¨re Lesestoffe, S. 29–35.

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der vorbildlichen Eltern, Lehrer usw. vor einem jugendlichen Publikum, das seine ¨ ffentlichkeit42 ausEindru¨cke in einer eigenen, nicht pa¨dagogisch u¨berwachten O tauschte. Wie Otto Ru¨hle schon sehr fru¨h feststellte, zog der angebliche Schund derart „den Kindern nahestehende Personen ins La¨cherliche, daß die [...] Art und Weise, in der dies geschieht, diesen die ihnen gebu¨hrende Achtung und Ehrfurcht unbedingt ¨ rzten rauben muß.“43 Die Zensur verbot Filme, weil sie angeblich die Autorita¨t von A und Beho¨rden untergruben.44 Den Tenor des verbreiteten Empfindens artikulierte eine Stellungnahme des Katholischen Bezirkslehrerinnenverbandes Mu¨nchen zur Kinofrage: Man mu¨sse verhindern, „daß Kinder Dinge zu beobachten Gelegenheit haben, die fu¨r die Jugend unpassend sind“.45 Ein Pfarrer in Emden wandte sich 1912 per Flugblatt an seine Gemeinde, insbesondere an die Eltern: Ihr gesamtes Erziehungswerk werde zersto¨rt, indem die Kinder im Kino Wissen erwu¨rben, vor dem Schule und Elternhaus sie mit Mu¨he zu bewahren suchten. „[...] studiert die Stu¨cke und ihre unausbleibliche Wirkung auf weiche, unverdorbene Kindergemu¨ter [...] Za¨hlt die Verbrechen einmal zusammen! Ich fand in 250 Stu¨cken 97 Morde, 51 Ehebru¨che, 19 Verfu¨hrungen, 22 Entfu¨hrungen, 45 Selbstmorde, 76 Diebe, 25 Dirnen, 35 Trunkenbolde, ein Heer von Schutzleuten, Detektivs und Gerichtsvollziehern. Nicht wahr? Die Haare stehen Euch zu Berge, denn alles was ihr bisher von Euren Kindern ferngehalten habt, [...] das tritt hier mit brutaler Gewalt an sie heran. Weshalb ru¨gt Ihr sie im Hause wegen kleiner Unarten, weshalb achtet Ihr auf ihre Schularbeiten, weshalb schickt Ihr sie u¨berhaupt in die Schule? Das ist ja Unsinn, denn das Kino reißt alles, was Elternhaus und Schule mu¨hsam aufbauen, wieder ein, seine Bilder lachen Eure Kinder mit verzerrtem, frechem Gesicht an und sagen zu ihnen: Hier ist Wirklichkeit [...] so ist das Leben!“46

42 Zu den mit der Popula¨rkultur verbundenen Kindero¨ffentlichkeiten der Zeit vor dem Ersten Welt-

krieg vgl. Corinna Mu¨ller, Fru¨hes Hamburger Kinderkino. Aspekte der Konstituierung einer ¨ ffentlichkeit im Wandel, hg. v. Werner Faulstich/Knut jugendlichen Kino-Teilo¨ffentlichkeit, in: O ¨ ffentlichkeiHickethier, Bardowick 2000, S. 118–131; Kaspar Maase, Kinderkino. Halbwu¨chsige, O ten und kommerzielle Popula¨rkultur im deutschen Kaiserreich, in: Kinoo¨ffentlichkeit (1895–1920) – Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Cinema’s Public Sphere (1895–1920): Emergence Settlement Differentiation, hg. v. Corinna Mu¨ller/Harro Segeberg, Marburg 2008, S. 126–148. 43 Otto Ru ¨ hle, Die Schund-Litteratur und ihre Beka¨mpfung von seiten des Lehrers, Großenhain i. S. o. J. [1896], S. 11. 44 Gerichtliches – Filmverbot und Oberverwaltungsgericht, in: Der Kinematograph 8 (1914), Nr. 380, [unpaginiert]; Gerichtliches – Beleidigung eines Standes durch Films, ebd. 9 (1915), Nr. 422. 45 Brief des Kath. Bezirkslehrerinnenverbandes an die Lokalschulkommission, 25. Juni 1915, StadtA ¨ berlappung von Kind und Mu¨nchen, Schulamt 2870. – Hier wird die weitgehende semantische U Jugendlichem besonders deutlich. 46 Zit. n. Seelsorger als Wo¨lfe im Schafspelz, in: Licht Bild Bu¨hne 5 (1912), Nr. 38, S. 7–8, Zit. S. 8.

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IV. Sichtbarkeit als Herausforderung

Die skizzierten Debatten und Praktiken weisen vor allem auf einen Zug der neuen Metropolenkultur hin; auffa¨llig ist die Fixierung der Zeitgenossen auf die o¨ffentliche Sichtbarkeit eines nicht mehr volkspa¨dagogisch regulierten Wissens. Die Schaufenster-Situation war exemplarisch: Selbst die u¨ber den Kaufpreis errichtete letzte Schranke zerbrach; Bild gewordene erotische Phantasien (der Ma¨nnerwelt) boten sich den Augen aller dar. Selbstversta¨ndlich versuchte man, Produktion wie Rezeption der angeblich gefa¨hrdenden Produkte zu unterbinden. Aber ebenso dringlich, oft sogar noch dringlicher scheint es gewesen zu sein, ihre Sichtbarkeit – bereits das Wissen um ihre Existenz – aus dem Stadtraum zu tilgen. Als zweifelsfreies Merkmal der Schundliteratur galten grellfarbige und bluttriefende Titelbilder. Von den Ha¨ndlern forderte man oft nur den Verzicht auf Auslage und Aushang, nicht die vo¨llige Einstellung des Verkaufs. Schon die Lockung der Bilder erschien als Gefahr. „Hierher eilt [...] im Sturme die Jugend nach Schulschluß [...] Wie Fliegen an der Fliegentu¨te klebt sie fest am Schaufenster, mit funkelnden Augen, mit lu¨stern gespannten Gesichtern. Schon hier wachsen im jugendlichen Herzen Sumpfblumen empor, entwickeln sich Keime der sittlichen Verwilderung.“47 Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt zur Darstellung der Schaufensterbetrachter als Untermenschen. „Man sehe sich einmal den Gesichtsausdruck der jungen Menschen an, die vor La¨den und Zeitungsbuden die Titelbilder bewundern; hier ist die Grenze zwischen Mensch und Tier verwischt.“48 Konsequenz: 1909 wurden in Bonn „die Namen der an den Schaufenstern betroffenen Schulkinder und jugendlichen Personen polizeilich festgestellt und den Eltern, Lehrern bezw. Lehrherrn mitgeteilt, und zwar wie berichtet wird, mit gutem Erfolge.“ In Flensburg entfernte die Polizei die Schauka¨sten aller Schund fu¨hrenden Gescha¨fte.49 Insbesondere Papierla¨den, in denen der Schulbedarf gekauft wurde, galten als Seuchenherde; dort sehe jeder Schu¨ler, „was er nicht sehen und vollends nicht kau¨ berall stieß der pa¨dagogische Blick auf sexuelle Reize. Ein eher liberaler fen soll“.50 U Jurist warnte: Die Jugend finde „auf allen Straßen in Schaufenstern Gelegenheiten zu neuen geschlechtlichen Anstachelungen [...] Der junge Mann von heute ist von Sinnlichkeit umgeben.“ Die Pra¨sentation „pikanter“ Postkarten und Akt-Reproduktionen kommentierte er: „Es wa¨re interessant, zu wissen, wieviele junge Menschenkinder auf diese Weise der Onanie verfallen sind, wieviele sich ta¨glich an dem Anblicke solcher Bilder neue Anregung zur Onanie verschaffen.“51 47 Robert Gleisberg, Jugendlektu¨re, ein Weg zur geistigen und sittlichen Erstarkung unseres Volkes, in:

Der praktische Schulmann 58 (1909), S. 689–712, Zit. S. 695. 48 Hamburger Nachrichten vom 13. 5. 1908. 49 Maßnahmen zur Beka¨mpfung der Schundliteratur, in: Mitteilungen der Zentralstelle des Deutschen

Sta¨dtetages 2 (1909), S. 176f., Zit. S. 177.

50 Justizrat Magnus, Rechtsfragen auf dem Gebiete der Beka¨mpfung der Schundliteratur, in: Volksbil-

dungsarchiv 4 (1916), S. 3–26, hier S. 19.

51 Erich Wulffen, Psychologie des Verbrechers. Ein Handbuch fu¨r Juristen, A ¨ rzte, Pa¨dagogen und

Gebildete aller Sta¨nde, Bd. 2, Gross-Lichterfelde-Ost 1908, S. 351f., 58.

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Das Medium des Schaufensters als solches schien – insbesondere in den Quartieren der Arbeiterschaft – alles dort Gezeigte zu depravieren. Das galt selbst fu¨r die (durchaus dem Zeitgeist entsprechende) Reproduktion anerkannter Meisterwerke an solchen Orten; die Kritiker der unkontrollierten Sichtbarkeit wandten sich auch dagegen, denn: „Nur dann hat die Beru¨hrung des Kindes mit der Kunst bleibenden und veredelnden Wert, wenn ihm dabei zumute ist: ‚Wie heilig ist diese Sta¨tte!‘“52 ¨ hnlich die geradezu obsessive Erregung u¨ber die Außenwerbung der Kinos. Im A Lauf der Jahre lenkten Volkserzieher und Zensur die jugendliche Schaulust in halbwegs pa¨dagogisch regulierte Bahnen. Den allergro¨ßten Teil der angeblichen Schundfilme bekam kein Jugendlicher unter sechzehn Jahren zu sehen. Doch der Kampf gegen Plakate und Ausha¨nge wurde immer verbissener – bis es im Krieg in einigen Milita¨rbezirken gelang, jede Bildreklame fu¨r das Kino zu verbieten. Aufschlussreich ist hier die Argumentation eines Juristen aus dem Berliner Polizeipra¨sidium. Er forderte ein Gesetz gegen den „o¨ffentlichen Skandal“ „blutru¨nstiger und ansto¨ßiger“ Kinoreklame aus folgendem Grund: „[...] niemand ist imstande, sich dem Anblicke dieser Auswu¨chse des Straßenlebens zu entziehen, wa¨hrend vor dem Besuche schlechter Vorstellungen [...] den Jugendlichen die Sorge von Eltern und Erziehern bewahren kann.“53 Selbst wenn man die Kinder auf dem Weg durch die Stadt von Gouvernante oder Bonne begleiten ließ, man konnte ihnen nicht verbieten, die Augen offen zu halten – und das genu¨gte bereits, damit die „wilden Eindrucksvermittler“ ihr gefa¨hrliches Werk taten. Der ma¨chtige Diskurs u¨ber Schund sah die Kinder hilflos der visuell vermittelten Verderbnis ausgeliefert, wie Fliegen und Mot¨ ther u¨bten schon Titelten, die es zur to¨dlichen Flamme hin zog. Im sta¨dtischen A 54 bilder und Plakate eine „sonderbare Hypnose“ aus; sie allein – so damals ga¨ngige Metaphern – verbreiteten bereits Krankheitskeime, versetzten in Rausch und machten abha¨ngig wie der Alkohol. Kein Wunder, dass es immer wieder einschla¨gige Gesetzesvorsto¨ße gab. Schon im Dezember 1908 hatte der „Volksbund zur Beka¨mpfung des Schmutzes in Wort und Bild“ vom Reichstag in einer Eingabe mit 10 000 Unterschriften verlangt, er solle im Interesse der Jugend vorgehen „gegen die o¨ffentliche Auslegung von Bildern und Schriften, welche [...] lediglich darauf berechnet sind, in schamloser Weise die Sinnlichkeit zu reizen“.55 Der „Volksbund“ fu¨hrte die Kampagne fort und sammelte bis Ende 1911 weitere 40 000 Unterschriften.56 Gleichzeitig beantragte der Hambur¨ nderung der Reichsgewerbeordnung, um „die Sa¨ubeger Senat im Bundesrat eine A rung der Schaufenster und Schaukasten von der sogenannten Schundliteratur [...] zu ermo¨glichen“.57 Im April 1913 legte daraufhin die Reichsregierung einen neuen § 43a 52 Fuhlbru ¨ gge, Die Reklame in ihrem Verha¨ltnis zur Jugendliteratur und Bildkunst, in: Pa¨dagogische

Warte. Zeitschrift fu¨r wissenschaftliche Pa¨dagogik, Lehrerfortbildung, Konferenzwesen, Tagesfragen und pa¨dagogische Kritik 17/9 (1910), S. 475–480, hier S. 477. 53 Reg.-Rat Dr. Lindenau, Kinematograph und Staat, in: Deutsche Juristen-Zeitung 17 (1912), Sp. 720–724, hier Sp. 723. 54 Hamburgischer Correspondent vom 11. 3. 1913, Abendausgabe. 55 Hamburgischer Correspondent vom 4. 5. 1909. 56 Berliner Neueste Nachrichten vom 13. 12. 1911. 57 Mitteilung des Senats an die Bu¨rgerschaft vom 14. 10. 1910, StaatsA Hamburg, Oberschulbeho¨rde V 480a Bd. I.

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der Gewerbeordnung vor: „Schriften, Abbildungen oder Darstellungen du¨rfen in Schaufenstern oder sonstigen Auslagen innerhalb der Verkaufsra¨ume oder an Orten, die dem o¨ffentlichen Verkehre dienen, nicht in einer Weise zur Schau gestellt wer¨ rgernis wegen sittlicher Gefa¨hrdung der Jugend zu geben.“58 den, die geeignet ist, A Man beachte: Nicht die ausgestellten Objekte wurden auf sittliche Gefa¨hrdung hin ¨ rgerbetrachtet, sondern die „Weise [, in der sie] zur Schau gestellt werden“ – das A nis bestand in der Sichtbarkeit! Im Fru¨hjahr 1914 kam der Gesetzentwurf in den Reichstag und lo¨ste unter den Stichworten „Schaufenstergesetz“ beziehungsweise „Schaufensterparagraph“ eine o¨ffentliche Debatte aus.59 Der Krieg verhinderte dann, dass die Regelung, wie allgemein erwartet, beschlossen wurde. Man kann fu¨r die Fixierung auf die sinnliche Außenseite der kommerziellen Popula¨rkultur im Stadtraum durchaus rationale Motive anfu¨hren. Nicht wenigen Zeitgenossen mag klar gewesen sein, dass die Beseitigung von „Schmutz und Schund“ ein unerreichbares Maximalziel darstellte; dann war es pragmatisch sinnvoll, wenigs¨ ffentlichkeit zu verringern. Und tens die Pra¨senz der unerwu¨nschten Werke in der O viele Bu¨rger reagierten nach der Jahrhundertwende mit Empfindungen von Peinlich¨ rger auf die Zunahme erotischer und sexueller Botschafkeit, Unbehagen und auch A ten im urbanen Raum; so geht es ja selbst dem abgebru¨hten Sta¨dter der Gegenwart, wenn er unfreiwillig und massiv mit Bildern erotisch aufgeladener Nacktheit und sexueller Begegnung konfrontiert wird. Doch solche eher pragmatischen Erwa¨gungen ko¨nnen die obsessive Bescha¨ftigung mit der visuellen Erscheinung der Metropolenkultur um 1900 und mit der Sichtbarkeit kommerziell vermittelten Wissens im Stadtraum nicht befriedigend erkla¨ren. Immerhin stand der hier sich artikulierende Widerstand gegen einen allgemeinen kulturellen Trend westeuropa¨ischer Großstadtkultur um die Jahrhundertwende. Kulturhistorische Studien haben seit einiger Zeit auf die Intensivierung sinnlicher Inszenierungen und dynamischer visueller Spektakel im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hingewiesen; ich nenne nur die Arbeiten von Jonathan Crary, Christoph Charle, Vanessa Schwartz, Joachim Fiebach und Nic Leonhardt.60 Laterna magica und Pan58 Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reiches, Session 1913, Nr. 60. 59 Vgl. National-Zeitung, 12. 8. 1913; Generalanzeiger (Hamburg) vom 22. 2. 1914; Volkszeitung (Berlin)

vom 11. 3. 1914. Berichte u¨ber Protestversammlungen und Stellungnahmen: Frankfurter Zeitung vom 12. 3. 1914; Neue Hamburger Zeitung vom 30. 3. 1914, Abendausgabe; Hamburger Nachrichten vom 1. 4. 1914. 60 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002; Charle, The´atres (wie Anm. 2); Vanessa R. Schwartz, Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Sie`cle Paris, Berkeley u. a. 1998; Joachim Fiebach, Audiovisuelle Medien, Warenha¨user und Theateravantgarde, in: TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Ko¨rper – Sprache, hg. v. Erika FischerLichte, Tu¨bingen/Basel 1995, S. 15–57; ders., Anmerkungen zu Ko¨rper und Entko¨rperlichung in den darstellenden Ku¨nsten, in: Schund, hg. v. Maase/Kaschuba (wie Anm. 23), S. 106–113; Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2007; vgl. auch bereits: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, hg. v. d. Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M./Basel 1993, sowie eine Reihe von Beitra¨gen in: Die tausend Freuden der Metropole. Vergnu¨gungskultur um 1900, hg. v. Tobias Becker/Anna Littmann/Johanna Niedblaski, Bielefeld 2011, und Geburt der Massenkultur, hg. v. Roland Pru¨gel, Nu¨rnberg 2014.

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oramen, Wachsfiguren und Gewerbeausstellungen, Theatertechnik, Bildpostkarten und sogar der Sonntagsausflug ins Pariser Leichenschauhaus fu¨gen sich in dieser Perspektive zusammen zu einer neuen Qualita¨t legitimen Vergnu¨gens in einer sinnlich opulenten metropolitanen Kultur des Sehens und der Sichtbarkeit. Der Trend erscheint aus dieser Perspektive als sozialer Mainstream, konsensgetragen und sogar konsensbildend. So resu¨miert Schwartz: „[...] visual representation of reality as spectacle created a common culture and a sense of shared experiences“.61 Nach dem hier Ausgefu¨hrten scheint die Entwicklung zumindest im deutschen Sprachraum komplexer gewesen zu sein.62 Die Freude am Sinnlichen schloss Besorgnisse und Regulierungsbestrebungen nicht aus – und zwar keineswegs vorrangig unter Antimodernen und Verfechtern religio¨s-konservativer Sittlichkeitsideale, sondern durchaus in der fortschrittsorientierten Mitte der bu¨rgerlichen Gesellschaft. Anlass dazu gaben zum einen Wahrnehmungen einer kommerziell und scheinbar ungehemmt vorangetriebenen Kumulation o¨ffentlich zuga¨nglicher Attraktionen im gesamten Spektrum der Sinne; dem schrieb man unter anderem negative Folgen fu¨r Arbeitsamkeit und Leistungsorientierung der nicht bu¨rgerlichen Klassen zu. Zum anderen erschien die gesteigerte visuelle Zuga¨nglichkeit verschiedenster Botschaften unter dem Primat der Massenanziehung und Massenverka¨uflichkeit als bedrohliche Deregulierung von Wissen, die etablierte kulturelle Ordnungen und soziale Machtverha¨ltnisse untergrub. Sichtbarkeit des Wissens stand auch deswegen im Vordergrund, so ko¨nnte man vermuten, weil sie Hierarchien aushebelte, die auf u¨berlegener Sprachkompetenz gru¨ndeten,63 und kulturelle Exklusion u¨ber restringierte Sprachfa¨higkeit ins Leere laufen ließ: Sichtbare Dinge und Handlungen sowie visuelle Repra¨sentationen machten das u¨ber sie vermittelte Wissen, so schien es, noch dem Ungebildetsten und dem schlichtesten Verstand zuga¨nglich. Und die Dynamik des Kulturmarktes wu¨rde dafu¨r sorgen, dass bei der Auswahl dieses Wissens alle Schranken fielen. In der Reaktion hierauf konnte die Einschra¨nkung o¨ffentlicher Sichtbarkeit vom Mittel zum eigensta¨ndigen, gar vorrangigen Ziel werden. Schließlich ist auch ein historisch-anthropologischer Erkla¨rungsansatz zu nennen. Gerhard Beisenherz hat aus Norbert Elias’ Theorie der Zivilisation das Konzept der „Distanzlust“ aufgegriffen, die kompensatorisch an die Stelle des physischen

61 Schwartz, Realities (wie Anm. 60), S. 6. 62 Dass in Frankreich keine dem deutschen „Schundkampf“ vergleichbare Bewegung entstand, zeigt und

begru¨ndet Stefanie Middendorf, Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernita¨t in Frankreich 1880–1980, Go¨ttingen 2009; vgl. auch Sabine Lenk, The´atre contre Cine´ma. Die Diskussion um Kino und Theater vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich, Mu¨nster 1989. Zur Spezifik der deutschen Kritik an der modernen Popula¨rkultur auch Maase, Kinder (wie Anm. 6), S. 316–319, sowie ders., Krisenbewusstsein und Reformorientierung. Zum Deutungshorizont der Gegner der modernen Popula¨rku¨nste 1880–1918, in: Schund (wie Anm. 23), S. 290–342. 63 Zur Konstitution u¨berlegenen bu¨rgerlichen Selbstwerts im Medium der Verfu¨gung u¨ber Sprache vgl. Angelika Linke, Sprachkultur und Bu¨rgertum. Zur Mentalita¨tsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart u. a. 1996. Weiter wa¨re hier auf die protestantische Hochscha¨tzung des Wortes gegenu¨ber dem Bild zu verweisen; vgl. etwa Dietrich Kerlen, Protestantismus und Buchverehrung in Deutschland, in: Jahrbuch fu¨r Kommunikationsgeschichte 1 (1999), S. 1–22.

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Auslebens der Affekte und der Sexual- und Aggressionslust trete. Sie kann das allerdings nur um den Preis der sta¨ndigen sinnlichen Vergegenwa¨rtigung des Verdra¨ngten leisten und muss sozial mit stabilen Tabuisierungen ausbalanciert werden. Laut Beisenherz ging diese Balance im Bu¨rgertum zum Ende des 19. Jahrhunderts verlo¨ ffentren. Immer sta¨rker wurden Wu¨nsche und Probleme des Intimlebens in die O lichkeit getragen, und das Unbehagen mit dieser Entwicklung projizierte man auf die Situation Heranwachsender, die zur Risikozone zivilisatorischer Triebkontrolle erkla¨rt wurde. Halbwu¨chsige hatten angeblich noch nicht die stabilen Selbstzwangmechanismen internalisiert, die zur halbwegs schadlosen Verarbeitung der o¨ffentlichen, medialen Distanzlustangebote verlangt waren. So schien es besonders dringlich, „dass man Kinder und Jugendliche aus diesen Zonen der kulturellen und lebensweltlichen Relativierung der Tabugeltung ausschloss.“64 Jedenfalls weist die unu¨bersehbare Beunruhigung weiter Kreise durch die Ero¨ ffentlichkeiten, die beispielsweise im Zusammenhang mit dem tisierung urbaner O Ko¨lner Sittlichkeitskongress von 1904 offenbar wurde,65 auf Dichte und Kraft derartiger Wahrnehmungen nach 1900 hin. Auch von hier fu¨hrt eine Linie zur geradezu obsessiven Befassung der Zeitgenossen mit der popula¨rkulturellen Sichtbarkeit gefa¨hrlichen Wissens – denn Distanzlust ist vor allem an Bild und Text, mit dem Auge und der Einbildungskraft gewonnene Lust. Und wenn es die Qualita¨t der Metropolen um 1900 ausmacht, dass sich in ihnen Tendenzen der Gegenwart verdichten und geradezu exemplarisch wahrgenommen und bearbeitet werden,66 dann geho¨rt ¨ bergang zur Mediengesellschaft verbundene Besorgnis auch die generell mit dem U wegen „o¨ffentlicher Sinnenerregung und Geistesverwirrung“ ins Zentrum der Befassung mit Metropolenkultur. Wichtig scheint mir abschließend, Faszination und Abwehr nicht statisch und polarisiert gegeneinanderzustellen. Der Prozess der „inneren“ Urbanisierung schritt in diesen Widerspru¨chen voran; die Großsta¨dter lernten, mit der Ambivalenz der Metropolenkultur flexibel, situationsangepasst umzugehen. Man musste die neue Sichtbarkeit des Wissens nicht immer fu¨rchten und unbedingt einschra¨nken – man konnte sie auch fu¨r eigene Interessen einsetzen.67 So wurde denn das Zeitalter der modernen Metropolen auch zum Zeitalter der Massenpropaganda.

64 H. Gerhard Beisenherz, „Damnatur“. Zum Medienschutz in der Vergangenheit und seiner postmo-

dernen Metamorphose, in: Neue Sammlung 34/2 (1994), S. 202–231, hier S. 219. 65 Vgl. Ein kulturgeschichtliches Denkmal fu¨r die deutsche Presse. Zusammengestellt fu¨r den Internatio-

nalen Kongreß zur Beka¨mpfung der unsittlichen Literatur Ko¨ln im Jahre 1904 von Pastor Lic. Bohn, Generalsekreta¨r der deutschen Sittlichkeitsvereine, Berlin 1905. 66 Als „embodiment and expression of a society and a culture“ charakterisiert Metropolen Emrys Jones, Metropolis, Oxford 1990, S. 11. 67 Bereits im Weltkrieg setzte man die vorher abgelehnten „Kinodramen“ breit als Instrumente der Volkserziehung und (zeitgeno¨ssisch positiv verstandenen) „Propaganda“ ein; vgl. Maase, Kinder (wie Anm. 6), S. 230–239.

¨ HNENREICH: JENNY GROSS GROSSKAPITALISTIN IM BU von Peter W. Marx

Als im Jahr 1904 Jenny Groß im Alter von nur 41 Jahren in Berlin zu Grabe getragen wurde, a¨tzte Maximilian Harden: „Das gro¨ßte Vorbild, Fra¨ulein Jenny Groß, ist unter lautem Wehklagen des Pressgesindes eben ins Grab gebettet worden. Die kluge ungarische Ju¨din verstand das Metier. Nicht ein Fu¨nkchen schauspielerischen Talentes. In ihren besten Rollen wie eine Wachspuppe, die eingelernte Reden herplappert und, wenn die rechte Schnur gezogen wird, weint oder la¨chelt. Ein Genie aber in der Kunst, den Frauenreiz zur Mo¨blierung des Lebens auszunu¨tzen.“1 Und selbst wohlwollende Stimmen ließen hinter dem Dekorum der u¨blichen Grabrhetorik erkennen, dass bei dieser Schauspielerin nicht nur die szenische Darstellung, sondern auch andere Qualita¨ten eine den Erfolg begru¨ndende Rolle spielten. So schrieb der Groß an sich sehr zugetane Heinrich Stu¨mcke taktvoll: „Jenny Groß geho¨rte zu jenen Ku¨nstlerinnen, die die Grenzen ihres Ko¨nnens und ihrer Begabung mit kluger Selbstkritik erkennen und von unfruchtbaren Experimenten sich nach Mo¨glichkeit hu¨ten. [...] Obgleich seit Jahren von periodisch wiederkehrenden Anfa¨llen eines ernsthaften Leidens verfolgt, war Jenny Groß a¨ußerlich ein Bild der Gesundheit und unverminderter Eleganz; eine jener Ku¨nstlerinnen, die bei Erwa¨hnung ¨ ffentlichkeit das epitheton orihres Namens in der Presse und in der O nans ‚Die scho¨ne‘ zwei Jahrzehnte hindurch getreulich begleitet hat.“2 Nun wa¨re an sich – außer einem allgemeinen menschlichen Interesse – dieser Fall keiner weiteren Erwa¨hnung wert, wenn Jenny Groß nicht geradezu ein Paradebeispiel jener metropolitanen Wechselwirkungen wa¨re, die fu¨r das Herausbilden von Netzwerken, aber auch Wertvorstellungen in a¨sthetischer wie o¨konomischer Hinsicht entscheidend sind. So werde ich im Folgenden versuchen, die biographischen Zu¨ge jenseits des Anekdotischen als Linien metropolitaner Kultur um 1900 zu lesen.

1 Maximilian Harden, Alfons Ro¨hll, in: Die Zukunft 47 (1904), S. 243–250, hier S. 245f. 2 Heinrich Stu¨mcke, Jenny Groß †, in: Bu¨hne und Welt 6 (1904), S. 694f., hier S. 695.

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Peter W. Marx

Wer also war Jenny Groß? 1863 als Tochter eines ju¨dischen Kaufmanns im ungarischen Szantho geboren, siedelte sie als Kind mit ihrer Familie nach Wien um, wo ihre Bu¨hnenlaufbahn begann. Erste gro¨ßere Erfolge kamen mit ihrem Engagement an die Berliner Hofbu¨hne 1885. Ihr Rollenfach waren heitere Partien, wobei sie oftmals als „Wiener Ma¨del“ vor das Publikum trat. Dass sie ihre Herkunft aus dem K. u. K.-Reich immer wieder gewinnbringend und zum Gefallen des Publikums in Szene zu setzen wusste, la¨sst sich am deutlichsten an der Rolle der Josefa aus dem „Weißen Ro¨ssl“3 von Oscar Blumenthal/Gustav Kadelburg erkennen: Hier verband sich in idealtypischer Weise ihre Neigung zu Dialektrollen mit einer koketten Lustspielhandlung. ¨ berhaupt war die Entscheidung fu¨r einen Wechsel vom Ko¨niglichen SchauspielU haus hin zum eleganten Lessing-Theater, das 1888 durch seinen Begru¨nder Oscar Blumenthal ero¨ffnet wurde, die Garantie fu¨r ihre gro¨ßten Erfolge. Blumenthal, einer der popula¨rsten und meistgespielten Dramatiker seiner Zeit, hatte das Theater als „Bu¨hne der Lebenden“, als Bu¨hne fu¨r das Gegenwartstheater gegru¨ndet, tatsa¨chlich aber war es – wie ein viel kolportiertes Wort der Zeit lautete – ein „Theater der Lebenwollenden“4. Die Eleganz des Theaters, dessen monda¨ne Ausstattung, technische Aufwa¨ndigkeit und programmatische Gro¨ße als eine bewusste Stellung gegen die als verstaubt empfundenen Hofbu¨hnen gedeutet werden ko¨nnen,5 bot den Rahmen, in dem die Groß sich idealtypisch in Szene setzen konnte. Auf dem Ho¨hepunkt ihrer Karriere gelang der Groß ein Husarenstu¨ck: Sie kaufte ¨ bersetzungsrechte fu¨r das 1893 in Paris uraufgefu¨hrte Stu¨ck „Madame Sans die U Geˆne“ von Victorien Sardou. Das Lustspiel schildert den Lebensweg der Katherine Hubscher, die als Ehefrau des spa¨teren Marschalls Franc¸ois Joseph Lefebvre von einer einfachen Wa¨scherin zur Herzogin von Danzig aufsteigt. Dieses Stu¨ck bot der Groß gleich eine doppelte Attraktion: Zum einen erlaubte die Fabel die Thematisierung des sozialen Aufstiegs – ein Pha¨nomen, das auch das Leben der Groß selbst pra¨gte –, zum zweiten gestattete das historische Dekorum des Stu¨cks eine u¨ppige Garderobe. Ein Artikel in Bu¨hne und Welt aus dem Jahr 1900 portra¨tierte diesen Erfolg: „Ueber vierhundertmal ist Jenny Groß als Sans-Geˆne auf der Bu¨hne erschienen, hier wie auf ihren Gastspielreisen, in großen und kleinen Theatern und an Ho¨fen, wie in Dresden und Stuttgart, den gleichen Erfolg einheimsend und den goldenen Lohn.“6 Harden sah in dieser Entwicklung eine neue Dimension der Kommodifizierung des Theaters, wenn er in seinem Nachruf schreibt:

3 Zum Weißen Ro¨ssl vgl. Peter W. Marx, Ein theatralisches Zeitalter. Bu¨rgerliche Selbstinszenierungen

um 1900, Tu¨bingen 2008, S. 238–243.

4 Max Martersteig, Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert. Eine kulturgeschichtliche

Darstellung, Leipzig 1904, S. 675.

5 Vgl. Marx, Ein theatralisches Zeitalter (wie Anm. 3), S. 265–272. 6 Emma Vely, Berliner Bu¨hnenku¨nstler. XI. Jenny Groß, in: Bu¨hne und Welt 2 (1899/1900), S. 375–378,

hier S. 377.

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„[S]ie kaufte als Großkapitalistin im Bu¨hnenreich einfach die Stu¨cke, die ihr Erfolg verhießen, und gewa¨hrte das Auffu¨hrungsrecht nur dem Theater, das bereit war, Jenny als Stern am Leinwandhimmel gla¨nzen zu lassen. Dann ging sie nach Paris oder Wien, guckte der Re´jane, der Schratt die Effekte ab, bestellte bei Paquin oder Drecoll die theuersten Kleider, putzte sie mit den glitzernden Ma¨rchenscha¨tzen aus Tausendundeine Nacht: und wurde wie eine richtige Schauspielerin behandelt.“7 Hardens Bonmot der „Großkapitalistin im Bu¨hnenreich“ reflektiert hierbei einen erstaunlichen Emanzipationsprozess: Durch ihre Eigeninitiative gelang es Jenny Groß, sich aus dem Korsett gesellschaftlich erwarteter, rollentypischer Passivita¨t zu befreien und eine aktive Rolle zu u¨bernehmen. Sie stellte sich nicht einfach als Projektionsfla¨che fu¨r die Phantasien der Theatermacher und -zuschauer zur Verfu¨gung, sondern u¨bernahm einen Part, den sie auch – wer wollte ihr das vorwerfen? – wirtschaftlich zu ihrem Vorteil zu nutzen verstand. Beachtenswert ist hierbei, dass die Groß es zu einer semi-industriellen Produktion in eben jenem gesellschaftlichen Sektor brachte, dessen Fokussierung auf individuelles Talent und perso¨nliche Note solchen wirtschaftlichen Prinzipien diametral entgegenstand. Tatsa¨chlich aber kaufte sie Versatzstu¨cke wie Dramen, Kostu¨me und wohl auch die szenische Haltung. Was sich dem a¨sthetischen Blick als Verlust an darstellerischer Kunstfertigkeit darstellt, offenbart sich aus der Perspektive des metropolitanen Diskurses als Beispiel hochkomplexer Vernetzung: Schon die Re´jane, immer wieder als Rivalin von Sarah Bernhardt gehandelt, stilisierte sich selbst zu einer ‚Marke‘, die nicht nur auf dem franzo¨sischen, sondern auch auf dem englischen und amerikanischen ‚Markt‘ große Erfolge feierte. Vergleicht man die Darstellungen der Re´jane und der Groß in ¨ hnlichkeiten frappant der Figur der Sans-Geˆne, so stechen schon die a¨ußerlichen A ins Auge (vgl. Abb. 1 und 2). ¨ hnlichkeiten nur dem Ehrgeiz von Es wa¨re jedoch zu einfach, wenn man diese A Jenny Groß zuschriebe. Sie sind vielmehr Ausdruck eines komplexen und vielschichtigen Systems, das das Theater gezielt als Schaufenster metropolitaner Lebenswelt definierte: Die Nutzung eines in Paris erfolgreichen Stu¨ckes war nicht einfach nur ein PR-Gag oder ein Weg, an der erfolgreichen Theaterkultur des Nachbarlandes teilzuhaben. Es war Teil einer o¨konomischen Strategie, die sich besonders deutlich am Pha¨nomen der Mode brach. Werner Sombart hat dies die „Urbanisierung des Consums“ genannt. Zum Beleg zitiert er eine Passage aus der Modezeitschrift Confectiona¨r vom 1. Juni 1899, in der es heißt: „Doucet wird versuchen mittelst der Mme Re´jane das Empirekleid wieder zu lancieren usw. usw.“8 Es war mithin also durchaus u¨blich und weit bekannt, dass die großen Pariser Schneider Vertra¨ge mit bekannten Schauspielerinnen abschlossen, durch die sich die Bu¨hne in einen Laufsteg verwandelte.

7 Harden, Alfons Ro¨hll (wie Anm. 1), S. 246. 8 Werner Sombart, Wirthschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung

(Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 12), Wiesbaden 1902, S. 6 bzw. 18.

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Abb. 1: Gabrielle Re´jane als „Madame sans geˆne“ Quelle: Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universita¨t zu Ko¨ln

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Abb. 2: Jenny Groß als „Madame sans geˆne“ Quelle: Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universita¨t zu Ko¨ln

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„Die Bedeutung der Bu¨hne fu¨r die Mode ist in Paris besonders gesteigert, seitdem die Hauptstadt keinen Hof, keine Monarchin besitzt, welche bei o¨ffentlichen Festen die neu erfundenen Toiletten durch ihre Annahme sanctionieren ko¨nnte. [...] Auf dem verlassenen Thron der Mode sitzen also einstweilen die Schauspielerinnen; eine Monarchin muß man haben, entweder Eugenie oder Sara, und vorgefu¨hrt muß die neue siegreiche Toilette werden, entweder im Thronsaal oder bei einer Premiere.“9 Diese Wechselwirkung erzeugte eine vera¨nderte Haltung des Publikums, dessen Interesse nun nicht allein der szenischen Leistung galt, sondern eine weitere, aus a¨sthetischer Sicht natu¨rlich nur sekunda¨re Dimension hinzufu¨gte: „Die Theaterbesucherinnen in Parkett und Logen, die bei der ersten Schneiderin der Stadt arbeiten lassen oder ihre Garderobe wohl gar zum Teil aus Berlin und Paris beziehen, wollen namentlich an der ersten Liebhaberin und der Salondame eine Art von lebendigem Modejournal haben, nach dem sie sich bei ihren Bestellungen richten ko¨nnen.“10 So war die Schauspielerin einem doppelten Begehren ausgesetzt: Auf der einen Seite dem modischen Begehren, das die Schauspielerin als Ausdruck des dernier cri fu¨r sich reklamierte und, wie man aus zahlreichen Briefen weiß, dies gegenu¨ber den Direktoren auch unerbittlich einforderte; zum anderen dem erotisch-begehrenden Blick der ma¨nnlichen Zuschauer. Beides zusammen fu¨hrte zu einer fu¨r weibliche Schauspielerinnen fast unertra¨glichen Situation der Verfu¨gbarkeit: Der ‚Erfolg‘ auf der Bu¨hne verlangte, dass sie sich dem Diskurs der Mode unterordneten und ihre Kostu¨me, die sie selbst zu zahlen hatten, stets nach den neuesten Vorbildern gestalteten; um sich dies aber leisten zu ko¨nnen, war es in vielen Fa¨llen fast unausweichlich, auch ihren Ko¨rper zu verkaufen. „In der That, viele Theaterdirektoren [...] wissen recht gut, daß ihre ‚Kunstinstitute‘ nichts anderes sind als geschickt maskierte Bordelle, sie dulden den Unfug ruhig aus Ru¨cksichten auf ihre Kasse; sie sparen ja am Gagenetat, je mehr Nebeneinnahmen ihre Ku¨nstlerinnen besitzen; die Liebhaber der letzteren sind ihre besten Theaterbesucher, und wenn sie an ihre Ku¨nstlerinnen ho¨here Anforderungen stellen als die blendender Toiletten und leidlichen Memorirens ihrer Rollen, so ist es in der Regel ho¨chstens das Verlangen des jus primae noctis.“11 So la¨sst sich die Bu¨hne durchaus im Sinne Paul Noltes auch als „Gegenwelt“ der Metropole verstehen; eine Dimension, die sichtbar wird, wenn die Aufmerksamkeit auf die der Bu¨hnendarstellung unterliegende ‚Welt der Arbeit‘ gerichtet wird. So

9 Julius Lessing, Der Modeteufel. Vortrag, Berlin 1884, S. 22. 10 Heinrich Stu¨mcke, Die Frau als Schauspielerin, Leipzig 1905, S. 70. 11 Conrad Alberti, Ohne Schminke. Wahrheiten u¨ber das moderne Theater, Dresden/Leipzig 1887,

S. 73.

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amalgamierten in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Schauspielerin die sinnliche Welt der Metropole und ihre Gegenwelt – eine vo¨llige Vereinnahmung durch die herrschenden Arbeitsbedingungen – zu einem symptomatischen Bild: Dem glamouro¨sen Auftritt im Rampenlicht stand die kaum verschleierte Prostitution zur Seite, die als Voraussetzung den Auftritt u¨berhaupt erst ermo¨glichte. So basierte das Vergnu¨gen der Metropole auf einer systematischen und institutionalisierten Ausbeutung von Frauen, deren Scho¨nheit zur Ware wurde. Vor diesem Hintergrund erha¨lt Hardens Bissigkeit gegen die „Großkapitalistin im Bu¨hnenreich“ eine etwas andere Note, weil deutlich wird, dass es der Groß eben auch hier gelungen war, sich – zumindest ein Stu¨ck weit – aus diesem Teufelskreis zu emanzipieren, nicht indem sie ihn durchbrach, sondern indem sie dessen innere Dynamik fu¨r ihre eigenen Zwecke und Interessen ausnutzte: Sie war eine erfolgreiche Unternehmerin ihrer selbst, Produkt und Produzentin in einer Person. Um erfolgreich zu sein, konnte sich diese Inszenierung aber nicht nur auf die Bu¨hne beschra¨nken, sondern musste auch in die ‚Privatspha¨re‘ u¨bergreifen. So wusste die Groß sich umfassend als „Dame von Welt“ in Szene zu setzen. Es ist nur folgerichtig, wenn der Theaterkritiker Heinrich Stu¨mcke in seinem Nachruf auch die private Lebensfu¨hrung in seine Wu¨rdigung einschließt: „Die kluge und anmutige Frau wusste, daß sie einen großen Teil ihrer Erfolge ihrer reizvollen Perso¨nlichkeit verdankte. Mit der gewa¨hltesten Eleganz der Weltdame – wie ihre Toiletten, so war auch ihr Franzo¨sisch von echt pariserischer Distinktion – verband sie, auch im Verkehr mit den Großen dieser Erde, die naive resolute Ungezwungenheit des Tons, die ihre Herzogin von Danzig [i. e. Sans-Geˆne] auszeichnete. Aus ihrem reich und geschmackvoll ausgestatteten Heim, in dem namentlich eine Fu¨lle der apartesten und zierlichsten Gebilde der franzo¨sischen und englischen Kleinkunst das Auge des Beschauers fesselte, machte sie gerne einen Tempel der Gastfreundschaft.“12 Diese Selbstinszenierung im Privaten beweist besonders eindrucksvoll ein Bild, das 1900 erschien, als sie von einer Zeitschrift zur beliebtesten Schauspielerin des Jahres gewa¨hlt wurde: Die Abbildung zeigt sie inmitten ihres Salons, der idealtypisch mit allerlei Kunsthandwerk ausgestattet ist. Ein das Bild kommentierender Zeitschriftenartikel entdeckt die inneren Zusammenha¨nge in vermeintlich naiver Zusammenschau: „Sie ist neben Agnes Sorma diejenige Ku¨nstlerin, die die ho¨chsten Honorare erzielt. [...] Dass unter solchen Umsta¨nden ihre Wohnung von geradezu fabelhaftem Reichthum prangt, ohne den Charakter des Gediegenen und Hocheleganten zu verlieren, bedarf wohl keiner weiteren Versi-

12 Stu¨mcke, Jenny Groß (wie Anm. 2), S. 695.

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cherung. Ihr Riesensalon sowie ihr Boudoir ist ein wahres Museum von Kunstgegensta¨nden und Stoffen.“13 Auf den zweiten Blick wird die fu¨r das Bild charakteristische dialektische Spannung deutlich: Auf der einen Seite ist Jenny Groß als Zentrum dieses kleinen Universums erkennbar, sie ist der Mittelpunkt, um den die Dinge und Ereignisse sich hier drehen. Gleichzeitig aber reiht sie sich auf eine schon fast bedru¨ckende Weise in die Objekte selbst ein, sie wird als Ware, als Kunstgewerbe mit einem bestimmten Preis erkennbar. ¨ ber das – letztlich vielleicht doch anekdotische – Beispiel der Groß hinaus ero¨ffU nen sich hier Perspektiven einer weiterfu¨hrenden theater- bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung zur metropolitanen Kultur, die ich abschließend thesenartig anreißen mo¨chte: 1. Das Beispiel der Mode zeigt, dass die metropolitane Kultur um 1900 vor allem durch die Beschleunigung und Zirkulation von Gu¨tern, Ideen und Emotionen bestimmt wurde. Die Metropolen zeichneten sich nicht nur durch ihre tatsa¨chliche Sinnlichkeit aus, sondern in mindestens ebenso großem Maße durch eine kollektive Imagination der Metropole: Es sind nicht nur die tatsa¨chlichen Bauten, Verkehrs- und Lebensra¨ume, sondern eben besonders auch die die Wahrnehmung orientierenden Vorstellungen und Emotionen, die hier eine entscheidende Rolle spielen. Hierbei aber u¨bernimmt das Theater die Funktion eines Katalysators, der diese Bilder, Emotionen und Gesten nicht nur in Szene setzt, sondern in die Lebenswelt seines Publikums implementiert.14 2. In diesem Zusammenhang sind sowohl Bewegungen zwischen unterschiedlichen Metropolen zu beobachten (Wien – Paris – Berlin), als auch innerhalb von urbanen Zentren: Die von der Groß gezeigten Kleider blieben nicht auf die Bu¨hne beschra¨nkt, sondern zirkulierten u¨ber den a¨sthetischen Rahmen hinaus in die Konsumwelt des Publikums. Dabei spielte das Bewusstsein darum, dass es sich um die Kleider nach Originalentwu¨rfen fu¨r die Re´jane handelte, eine ebenso große Rolle wie der Hinweis, dass das Stu¨ck in Paris bereits sehr erfolgreich gespielt wurde. Hier lo¨st sich das aus der politischen Geschichte antagonistische Verha¨ltnis von nationaler Abgrenzung und internationalem Austausch in der kulturellen Praxis des Konsums von Kunst und Waren auf. In diesem Sinne ko¨nnte man fragen, ob nicht eine begriffliche Differenzierung angebracht wa¨re: Wa¨hrend die Metropole als eine „sehr große Stadt“ tatsa¨chlich ¨ ber-)Steigerung der Großstadt ein physischer, realer Ort ist, zeichnet sich die als (U metropolitane Kultur nicht durch ihre geographische oder physische Fixierbarkeit aus, sondern ist als eine Spha¨re der Zirkulation zu definieren. So zielt der hier verwendete Begriff der metropolitanen Kultur programmatisch u¨ber den Rahmen der ¨ bersetzungs- und TransferproGroßstadt hinaus und versucht gerade auch jene U zesse mitzudenken, die gerade deshalb so interessant sind, weil sie sich nicht nach 13 Zeitschriftenartikel ohne weitere Angaben; Sammlung Hagen; Theaterwissenschaftliche Sammlung,

Universita¨t zu Ko¨ln.

14 Es sei hier nur beispielhaft auf Peter Fritzsches Arbeit zur Bedeutung von Journalismus und Literatur

verwiesen. Vgl. Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge, Mass./London 1998.

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der Logik konzentrischer Kreise vollziehen, sondern im umfassenden Sinne als ¨ ffvielstimmig und mithin widerspru¨chlich zu begreifen sind. Erst eine solche O nung verhinderte eine Wiederholung jenes grand re´cit der Moderne, der in der Adaption eines hegemonialen Gestus Zentren definiert und sie fu¨r den Nukleus des ‚Ganzen‘ ha¨lt. Gerade „Madame Sans-Geˆne“ war zu einem Objekt geworden, das in Paris ebenso zu sehen war wie in London und New York (Re´jane) oder in Berlin und auf den Gastspielen in kleineren deutschen Sta¨dten. Diese Verfu¨gbarkeit metropolitaner Kultur in ihrer ra¨umlichen Ausdehnung macht aber die kulturelle Katalysatorwirkung erst aus. 3. Der Fall der Jenny Groß la¨sst Verengungen und Rahmungen der metropolitanen Kultur in Deutschland um 1900 erkennen: Wa¨hrend Harden in seinem ‚Nachruf‘ Jenny Groß ausdru¨cklich als „ungarische Ju¨din“ bezeichnete, spielte diese religio¨se oder ethnische Identita¨t in ihren eigenen Inszenierungen nie eine Rolle.15 Im Gegenteil, sie trat entweder als das fro¨hliche „Wiener Ma¨del“ auf, mit dem sie ihre Karriere begann, oder in einer ebenso fiktiven Pariser Identita¨t. Interessant ist, wie diese kulturell erworbene Teilhabe dann in der kolportierten Berichterstattung anekdotisch authentifiziert wurde: „Auch Victorien Sardou schrieb seiner Sans-Geˆne hocherfreut daru¨ber, daß sie jenseits des Rheins ihm zu solch durchschlagendem Erfolg verholfen. Gelegentlich einer Anwesenheit von Jenny Groß in Paris lud er sie nach seinem Landsitz ‚Marly le roi‘ ein. Sehr einfach erschien die deutsche Schauspielerin – englisches Kleid, Bubenhu¨tchen; sie spricht elegant franzo¨sisch. Da sagte denn der Dramatiker alsbald pru¨fenden Blicks sie betrachtend mit galanter Verbeugung: ‚Madame, vous eˆtes comme une Parisienne!‘ wohl der ho¨chste Gefu¨hlsausdruck fu¨r einen Franzosen. Und der achtzehnja¨hrige Sohn, der Deutsch studierte, mußte ihr den – ‚Erlko¨nig‘ deklamieren.“16 Die Autorisierung „comme une Parisienne“ schließt den Kreis zwischen Lebenswelt und Bu¨hnenfigur – hier ist die Groß nun endgu¨ltig als Akteurin und als Objekt der metropolitanen Kultur angekommen. Das Beispiel zeigt aber auch, dass es augenscheinlich gute und ‚schlechte‘ Formen der ethnischen Fa¨rbung gab: solche, die sich als Ware in den Imaginationskreislauf einsortieren ließen, und solche, die besser schamhaft verschwiegen wurden,

15 Vgl. hierzu etwa die Problematik der Teilhabe ju¨discher Ku¨nstlerinnen und Ku¨nstler in der Mehrheits-

gesellschaft: z. B. Peter W. Marx, Die drei Gesichter Shylocks. Zu Max Reinhardts Projekt eines metropolitanen, liberalen Theaters vor dem Hintergrund seiner ju¨dischen Herkunft, in: Max Reinhardt und das Deutsche Theater. Texte und Bilder aus Anlass des 100-ja¨hrigen Jubila¨ums seiner Direktion, hg. v. Roland Koberg/Bernd Stegemann/Henrike Thomsen, Berlin 2005, S. 51–59; ders., Arnold Zweig and the Critics: Reconsidering the Jewish ‚Contribution‘ to German Theatre, in: Jews and the Making of Modern German Theatre, hg. v. Jeanette R. Malkin/Freddi Rokem (Studies in Theatre History and Culture), Iowa City 2010, S. 116–131. 16 Vely, Bu¨hnenku¨nstler (wie Anm. 6), S. 377f.

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weil sie in der kollektiven Vorstellungswelt nur unsichtbar geduldet werden konnten. Gleichzeitig kam es zu einer funktional ausdifferenzierten Geographie des metropolitanen Raumes: Paris, Wien, London und New York stehen ebenso wie Berlin fu¨r bestimmte Erfahrungen und Elemente der Lebenswelt. Die Attribuierung eines Gegenstands, Objekts oder einer Person muss nicht authentisch sein, sie kann performativ konstruiert werden, sie ero¨ffnet oder verschließt aber in entscheidender Weise Zirkulationswege und -mo¨glichkeiten. 4. Das Beispiel der Jenny Groß fu¨hrt auch zur Frage nach den Stationen und Bedingungen der Zirkulation, die ihre Karriere bedingten und mo¨glich machten: Tatsa¨chlich ist man auf den ersten Blick versucht, von einem Netzwerk von ‚Lieferanten‘, ‚Dienstleistern‘ und ‚Verka¨ufern‘ zu sprechen. Allerdings suggeriert die Metapher der Netzwerke eine Intentionalita¨t und Stabilita¨t, die diesen Strukturen nachgerade fremd ist. Vielmehr la¨sst sich an diesem Beispiel eine große dialektische Spannung erkennen: Auf der einen Seite waren die Netzwerke oder Stationen, die diese Zirkulationen hervorbrachten, hoch energetisch: Sie konnten das Publikum emotional und o¨konomisch mobilisieren und gleichzeitig Effekte erreichen, die weit u¨ber den Moment der Auffu¨hrung in die Lebenswelt hineinreichten. Gleichzeitig aber waren diese Strukturen hochgradig instabil: Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Instanzen garantierte mitnichten durch eine gewisse Gewo¨hnung den Erfolg, vielmehr erschien dieser immer auch zufa¨llig zu sein. Es gab – auch bei einem noch so ausgeklu¨gelten System – keine Garantie auf den Erfolg, vielmehr spielte das Moment eines glu¨cklichen Augenblicks, in dem die Darstellung der Schauspielerin und ihr Kostu¨m ‚den Nerv der Zeit‘ traf, eine entscheidende Rolle. Nur wer sich der Grenzen dieser Entwicklungen bewusst ist, der kann verstehen, dass die ablehnende Haltung des Berliner Publikums Sarah Bernhardt gegenu¨ber – obgleich hier alle ‚Zutaten‘ stimmten – kein Sto¨rfall, sondern eben auch die Regel im Prozess metropolitaner Kultur war. 5. Zur Frage dieser Netzwerke geho¨rt auch der Aspekt der komplexen vertikalen Verflechtung, der Einbindung unterschiedlichster o¨konomischer Mitspieler. Hierbei kam es zu komplexen Verwicklungen, bei denen mitunter dem Einzelnen/der Einzelnen eine große Handlungsmo¨glichkeit zukam: „Man mag als Dramaturg bedauern, daß die Bu¨hne unter diesem Getriebe leidet, aber fu¨r die franzo¨sische Industrie ist der Erfolg von Sarah Bernards [sic!] Toiletten vollsta¨ndig ebenso wichtig als fu¨r die franzo¨sische Litteratur der Erfolg von Fedora, und wer einigermaßen die Verha¨ltnisse u¨bersehen kann, begreift sehr wohl die Entru¨stung, die in Paris ausbrach, als die Bernard einmal als Pression gegen ihre mahnenden Pariser Schneider verku¨ndete, drei Wiener Toiletten auf die Bu¨hne fu¨hren zu wollen.“17 Hier nutzte Sarah Bernhardt in einem doppelten Sinne den Spielraum, der ihr als Schauspielerin zustand; Theater war also ein entscheidender Katalysator fu¨r die 17 Lessing, Der Modeteufel (wie Anm. 9), S. 21f.

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metropolitane Lebenserfahrung, wobei es eben nicht allein auf die szenische Darbietung, sondern in einem sehr komplexen Sinne auf die spektakula¨re Gesamterfahrung ankam. Das Beispiel Jenny Groß verweist ebenso darauf, dass es nicht allein um das Theatrale ging, sondern dass hier die Bu¨hne in einem komplexen Wechselverha¨ltnis mit einer ganzen Reihe weiterer gesellschaftlicher Akteure kooperierte – dies sind neben den Ausstattern der Bu¨hne vor allem die Zeitungen und Journale, die in einem kongenialen Wechselverha¨ltnis stehen: Theater und Presse bilden eine Koalition, deren Beschleunigung und Zirkulationsspha¨re dazu fu¨hren, dass die Reichweite der metropolitanen Kultur innerhalb ku¨rzester Zeit u¨ber die Grenzen des urbanen Raumes hinweggreifen. Metropolitane Kultur ist historisch und kulturell auch deswegen so erfolgreich, weil sie sich mit Theater und Presse von der Ortsgebundenheit ablo¨st und auch in die Lebenswelt entlegener Regionen dringen kann. In diesem Sinne la¨sst sich auch jene Passage aus Hardens Artikel in einem doppelten Sinne lesen: „Wird in Rennberichten, Ballglossen und Modeplaudereien stets als die eleganteste Frau erwa¨hnt. Wer auf sich ha¨lt, muß sich mit solcher Erinnerung weihen. So kam die Groß zu Gewinn und ward gesegnet. Zwanzig Jahre war sie eine ‚Sehenswu¨rdigkeit‘, war die Dame mit dem werthvollsten Brilliantschmuck.“18 Jenny Groß, so kann man mit Maximilian Harden lesen, ließ sich so sehr auf die innere Dynamik dieses Feldes ein, dass ihre Identita¨t vo¨llig in dem Wechselspiel von Presse und Inszenierung aufging.

18 Harden, Alfons Ro¨hll (wie Anm. 1), S. 247.

DAS PUBLIKUM ALS METROPOLE Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert von Sven Oliver Mu¨ller

Opern- und Konzertha¨user etablierten sich im 19. Jahrhundert als permanente Treffpunkte urbaner Eliten. Sie schufen damit ein institutionalisiertes Forum, das Vertreter unterschiedlicher sozialer und politischer Positionen zur o¨ffentlichen Selbstdarstellung nutzten. Musikalische Auffu¨hrungen beschleunigten die Ausbildung vernetzter Kommunikationsgemeinschaften in den großen Sta¨dten. Selbst die Sta¨dte jenseits der großen Musikzentren London, Paris, Berlin und Wien wurden durch diesen inten¨ hnlichsivierten Kulturtransfer erfasst. Erkla¨rungsbedu¨rftig sind die zunehmende A keit des Repertoires, der a¨sthetischen Pra¨ferenzen und der Auffu¨hrungen selbst, aber auch der gesellschaftlichen Funktion und des Ho¨rverhaltens. Dieser Befund erscheint umso erkla¨rungsbedu¨rftiger, wenn man die deutlichen Unterschiede in der Organisation und der sozialen Zusammensetzung des jeweiligen Konzert- und Opernpublikums in den europa¨ischen Sta¨dten bedenkt. Denn es ist keineswegs selbstversta¨ndlich, dass sich ein preußischer Handwerker und ein englischer Aristokrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Oper a¨hnlich benahmen und u¨beraus a¨hnlichen Auffu¨hrungen ein und derselben Werke lauschten. Hier wird der Blick gelenkt auf die o¨ffentlichen Arenen der Opernha¨user und Konzertha¨user in Berlin, London und Wien, welche die Besucher nutzen konnten um sowohl ihren Beifall als auch ihr Missfallen zu demonstrieren. Um diese Orte als soziale Ra¨ume sichtbar zu machen, kommt es darauf an, sich auf die o¨ffentliche Rezeption von Musik zu konzentrieren. Der historische Blick auf die Oper und das Konzert mag helfen, die immer noch wenig erforschte Rolle des Publikums bei der Bewertung und Erzeugung eigener Pra¨ferenzen im Spiegel von Musik besser zu verstehen. Es wa¨re daher ga¨nzlich irrefu¨hrend, das Publikum lediglich als Beobachter und passiven Rezipienten musikalischer Spektakel zu betrachten. Die Teilnehmer an Opernauffu¨hrungen des 19. Jahrhunderts waren selbst Akteure, die den Charakter eines Abends durch ihre ko¨rperliche Pra¨senz, ihre Bewertung der Musik und ihr Ho¨rverhalten wesentlich pra¨gten. Die Barriere zwischen Ku¨nstlern und Betrachtern bei der Gestaltung einer Auffu¨hrung war daher in gewisser Hinsicht sehr durchla¨ssig. Beide pra¨gten den Charakter eines Abends, so dass oft unklar schien, ob sich das interessantere Spektakel auf dem Podium oder im Zuschauerraum vollzog. Zugespitzt ließe sich argumentieren, dass nur durch das Publikum Musik bedeutungsvoll und relevant wurde. Umgekehrt lenkt die Untersuchung des Publikumsverhaltens,

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die Art und Weise wie Musik geho¨rt und angeeignet wurde, den Blick auf die Entstehung und den Wandel spezifischer Geschmacksnormen und sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft. Zu kla¨ren ist, warum gerade die Kunstmusik in beinahe allen europa¨ischen Metropolen im 19. Jahrhundert von einer privaten zu einer o¨ffentlichen und mithin eminent politischen Angelegenheit avancierte. Welche Folgen hatte diese neue Erwartungshaltung der Eliten in Europa fu¨r die musikalischen Auffu¨hrungen selbst und fu¨r die soziale Funktion der Musik in den europa¨ischen Metropolen? Besonders vielversprechend scheint hier die Frage nach dem Transfer und den Anverwandlungen bestimmter Praktiken, Konventionen und Pra¨ferenzen in den Metropolen zu sein. Die Menschen des 19. Jahrhunderts kamen in die Metropolen um zu leben, und sie blieben, um gut zu leben. Der vielfa¨ltige Umgang mit der Musik dieser Zeit markiert Geschichten, die aus der wachsenden Stadt hervorgehen. Die Faszination vie¨ berangebot an neuen Lebenschancen, die ler Neuanko¨mmlinge beruhte auf dem U sich hier zu ero¨ffnen versprachen: gesteigerte Erwerbsmo¨glichkeiten und Freizu¨gigkeit, Wohlstand und kulturelle Vielfalt. In den urbanen Zentren Europas vera¨nderten der rapide wirtschaftliche und soziale Wandel die gesellschaftlichen Beziehungen und erzwang die Anpassung von Lebensstilen an die neue Umwelt. Innerhalb weniger Dekaden verwandelte sich Europa von einem prima¨r agrarisch in einen zunehmend urban gepra¨gten Raum. Am sta¨rksten war das Bevo¨lkerungswachstum europa¨ischer Sta¨dte im 19. Jahrhundert in den bereits bestehenden Großsta¨dten und in den Hauptsta¨dten. ¨ ffentlichkeit herausUm 1800 hatte sich in West- und in Mitteleuropa eine neue O gebildet. Die Metropolen befo¨rderten diesen Prozess, weil sie die Zuga¨nglichkeit zu Informationen erho¨hten. Die Großsta¨dte schufen Ra¨ume, die die Begegnung und den Austausch einander fremder Menschen mo¨glich machten. Wa¨hrend in der Gesell¨ ffentlichschaft des 18. Jahrhunderts verschiedene sozial und regional abgegrenzte O keitsformen nebeneinander bestanden, bildete sich in den Großsta¨dten nun ein u¨berregionales Beziehungs- und Kommunikationsnetz heraus. Sicher, diese Verkehrskreise waren zahlenma¨ßig und sozial beschra¨nkt: Doch in den Salons und Kaffeeha¨usern, in den fru¨hen literarischen Zirkeln und in den sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert rapide vermehrenden Zeitungen und schließlich durch die Erfindung der Eisenbahn formierten sich reale und mediale Begegnungsra¨ume. Wa¨hrend die baulichen Vera¨nderungen der Sta¨dte den Verkehr von Personen erleichterten, beschleunigten die gedruckten Medien den Transfer von Nachrichten und die intellektuelle Teilnahme von Tausenden perso¨nlich nicht Anwesenden. Der unvermittelte und der vermittelte Austausch der An- und Abwesenden erzeugte ein Gefu¨hl der Zusammengeho¨rigkeit bei denjenigen, die in der Lage waren, sich dieses Kommunikationsstils zu bedienen.1 1 Vgl. Tim C. Blanning, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe

1660–1789, Oxford 2002, bes. S. 106–161; Wolfgang Ruppert, Bu¨rgerlicher Wandel. Die Geburt der modernen deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1981, S. 104–137; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reforma¨ra bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, Mu¨nchen 1987, S. 520–546.

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Gleichzeitig erho¨hte sich so die Aufmerksamkeit fu¨r bestimmte Werte und Geschmacksmuster und deren Austausch. Neu sich herausbildende o¨ffentliche Orte, eine kulturelle Kartierung ist in den europa¨ischen Metropolen zu beobachten. Kulturelles Wissen wurde fu¨r immer mehr Menschen zuga¨nglich: visuell und akustisch, pra¨sent und erfahrbar. Diese kommunikative Verdichtung durch die Metropolen verknu¨pfte nicht nur erfolgreich die Wissensbesta¨nde der Zeitgenossen und die kulturellen Pra¨ferenzen, sie warf auch neue Probleme auf. Aus jeder Perspektive heraus betrachtet war die Metropole eine unfertige Stadt. In ihr vollzogen sich gesellschaftliche Umbru¨che, ein rasantes Bevo¨lkerungswachstum, neue Baumaßnahmen und permanente Neuerfindungen. Die Metropole stimulierte o¨ffentliche Kommunikationsmo¨glichkeiten nicht nur, sie u¨bersteigerte sie. Herausfordernd und anstrengend waren die Eroberungen neuer Ra¨ume, das Leben auf endlosen Straßen und in großen Geba¨uden, die neuen Transportmo¨glichkeiten und politischen Versammlungen.2

Das kulturelle Leben der Metropole

Das Reden und Schreiben u¨ber Kunstwerke im Allgemeinen und u¨ber Musik im Besonderen bildete fu¨r sta¨dtische Eliten einen wesentlichen Bestandteil o¨ffentlicher Kommunikation. Die Metropole befo¨rderte die Kunstmusik durch das Zusammenspiel der im Stadtbild angelegten baulichen Ordnungen und ku¨nstlerischen Vorfu¨hrungen. Da die Oper im Unterschied zu anderen Kunstformen der Auffu¨hrung vor einem Publikum bedarf, stellen musikalische Darbietungen ohnehin o¨ffentliche Ereignisse dar. Literatur und Werke bildender Kunst beispielsweise lassen sich auch im Privaten genießen, Opern und Sinfonien vor der Erfindung der Schallplatte nicht.3 Die entscheidende Vera¨nderung im Unterschied zum Musikleben der Vormoderne aber war nun, dass sich musikalische Auffu¨hrungen zunehmend von ihren ho¨fischen oder religio¨sen Zusammenha¨ngen lo¨sten. Vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatten nur wenige Gelegenheit, Kunstmusik außerhalb der Kirche oder in Gesellschaft von Adeligen zu ho¨ren. Die Mo¨glichkeit, Musikdarbietungen gegen Eintritt zu besuchen, verwandelte Musik nicht nur in eine Ware, sondern in einen o¨ffentlichen Gegenstand. Indem Konzert- und Opernauffu¨hrungen zuga¨nglich wurden und sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu eigenen Institutionen entwi2 Vgl. Ju¨rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mu¨n-

chen 2009, S. 353–401; Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnu¨gen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M. 1997; James Joll, Die Großstadt – Symbol des Fortschritts oder der Dekadenz?, in: Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren, hg. v. Peter Alter, ¨ bergang von der traditionalen zur Go¨ttingen 1993, S. 23–39; Lothar Gall, Stadt und Bu¨rgertum im U ¨ bergang von der traditionalen zur modernen modernen Gesellschaft, in: Stadt und Bu¨rgertum im U Gesellschaft, hg. v. dems., Mu¨nchen 1993, S. 1–12. 3 Vgl. Peter Jelavich, Literature and the Arts, in: Imperial Germany. A historiographical Companion, hg. v. Roger Chickering, Westport, Conn. 1996, S. 377–408.

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ckelten, u¨bten sie die Funktion kommunikativer Ra¨ume aus. Durch die medialen Vermittlungs- und o¨konomischen Marktmechanismen erlangten musikalische Auffu¨hrungen den Wert von Informationen. Musikalische Auffu¨hrungen stimulierten Debatten u¨ber a¨sthetische Pra¨ferenzen und kulturelle Normen. Im Auditorium kommunizierte die Gesellschaft mit sich selbst.4 Stefan Zweig beschrieb in seiner literarischen Ru¨ckschau auf das Kulturleben im Wien des spa¨ten 19. Jahrhunderts eine Gesellschaft, die ihre Freude und ihr Prestige auch dadurch bezog, dass jedermann auf Musiker und Schauspieler, auf ihre Verdienste und Meriten achtete. Oft stiftete ein gemeinsamer kultureller Geschmack unter fremden Menschen kulturelle Beziehungen. „Das kaiserliche Theater [...] war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzige richtige ‚cortigiano‘ des guten Geschmacks. [...] Die Bu¨hne war statt einer bloßen Sta¨tte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwo¨lkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpra¨sident, der reichste Magnat [...] konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber [...] eine Opernsa¨ngerin erkannte jede Verka¨uferin und jeder Fiaker.“5 ¨ ffentlichkeit ist ein wesentliches Kennzeichen moderner KomDer Drang zur O munikation. Die Massenmedialisierung vor allem seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, die Verbreitung ungekannter Stu¨ckzahlen von Zeitungen und Bildern, vera¨nderte auch den gesellschaftlichen Stellenwert des Musikkonsums. Fu¨r musikalische Auffu¨hrungen hieß das: Sie verlangten o¨ffentliche Beobachtung und Teilnahme – zuna¨chst der anwesenden Besucher und dann der breiten Bevo¨lkerung. Die Menschen lasen Berichte u¨ber das Ereignis, betrachteten Bilder in der Presse oder sie spielten und sangen daheim popula¨re Musikstu¨cke. Die Medien reflektierten und kreierten damit den Stellenwert musikalischer Auffu¨hrungen im Mittelpunkt der urbanen Gesellschaft. Berichte u¨ber das Musikleben hatte der interessierte Leser zuna¨chst im Feuilleton zu suchen, wurde nach 1860 aber oft bereits auf dem unteren Ende der ersten Seite der fu¨hrenden Tageszeitungen fu¨ndig. Zeitschriften und Zeitungen schrieben in einer heute unbekannten Ausfu¨hrlichkeit u¨ber jedes nur denkbare Detail des sta¨dtischen Musiklebens: Galaauffu¨hrungen und Gastspiele beru¨hmter Ku¨nstler, Marotten und Erkrankungen von Sa¨ngern, die modische Toilette der Damen und die ju¨ngste Saalschlacht im Auditorium.6

4 Grundlegend hierzu immer noch Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit, Frankfurt

a. M. 41990, bes. S. 86–107. Vgl. Richard Sennet, Verfall und Ende des o¨ffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimita¨t, Frankfurt a. M. 1986, S. 71–91; Anthony La Vopa, Conceiving a Public, Ideas and Society in Eighteenth-Century Europe, in: The Journal of Modern History 64 (1992), S. 79–116. 5 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europa¨ers, Frankfurt a. M. 1995, S. 30; vgl. Kurt Dieman, Musik in Wien, Wien 1970. 6 Vgl. Derek B. Scott, Sounds of the Metropolis. The Nineteenth-Century Popular Music Revolution in London, New York, Paris, and Vienna, Oxford 2008, bes. S. 15–57; Jennifer L. Hall-Witt, Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London, 1780–1880, Durham, NH 2007, S. 23–56.

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¨ ffentlichkeit schufen, erkannten auch die Dass musikalische Auffu¨hrungen O ¨ ber das enthusiastisch gefeierte Gastspiel der Sa¨ngerin Henriette Zeitgenossen. U Sontag an der Berliner Hofoper 1830, das Anlass zu tagelangem Stadtgespra¨ch gab, hieß es in den Erinnerungen des Generalintendanten Friedrich Wilhelm von Redern: „Berlin hatte damals keine Politik, keine Presse, das Theater allein mußte das Bedu¨rf¨ ffentlichkeit befriedigen.“7 Auch die Schriftstellerin Fanny Lewald wunnis nach O derte sich immer wieder u¨ber die intensive Aufmerksamkeit, die das Publikum der Bu¨hne schenkte. In ihren Augen kam dem Berliner Musikleben im Vorma¨rz durchaus der Charakter einer Ersatzo¨ffentlichkeit zu – ein Urteil, das aber die implizierten kulturellen Darstellungsformen von Politik unterscha¨tzt: „Ich war oft ganz erstaunt daru¨ber, welche Wichtigkeit man einer Theaterauffu¨hrung, einem Konzerte beilegte. Ich sah mit Verwunderung, daß Personen, die nicht selber ausu¨bende Ku¨nstler waren, ihren ganzen Sinn auf das Theater oder das Konzert [...] gerichtet hatten. [...] Das Theater ist die heiligste Angelegenheit des Berliner Publikums, der einzige Gegenstand, woru¨ber das ganze Volk Berlins ohne Repra¨sentativverfassung und freie Presse frei denkt, spricht und schreibt [...]. Es ist das gewaltige Triebrad der großen Konversationswalkmu¨hle Berlins, der einzige Mittelpunkt des Berliner o¨ffentlichen Lebens. Der Generalintendant der Schauspiele ist nach dem Ko¨nige der erste Mann in Berlin, und um Schauspieler und Sa¨ngerinnen ku¨mmert man sich mehr als um Minister und Ku¨ster.“8 In London fielen manchem Besucher vor allem der kommerzielle Aspekt musikali¨ ffentlichkeit und die Anzahl ta¨glicher Auffu¨hrungen ins Auge. Hector Berscher O lioz notierte wa¨hrend seines Aufenthaltes im Jahre 1853: „Il n’y a pas de ville au monde, j’en suis convaincu, ou` l’on consomme autant de musique qu’a` Londres.“9 Das Musikleben der Stadt war gekennzeichnet durch ein weltweit einzigartiges Angebot an Opern- und Operettenauffu¨hrungen, Kirchenmusik, sinfonischen und kammermusikalischen Konzerten. Auch der wortgewaltige Wiener Großkritiker Eduard Hanslick staunte u¨ber den Londoner Musikkonsum. In dieser Stadt sei es schwer, aus den Briten „klug zu werden; sie vertilgen unermeßliche Quantita¨ten Musik, von allerverschiedenster Qualita¨t mit derselben Andacht, mit demselben Beifall. An ihrer Musikliebe ist nicht zu zweifeln; ob diese Liebe erwidert wird, mag dahingestellt sein.“10 Nach seinem mehrmonatigen Londoner Aufenthalt im Jahre 1886 urteilte 7 Friedrich Wilhelm von Redern, Unter drei Ko¨nigen. Lebenserinnerungen eines preußischen Ober-

ka¨mmerers und Generalintendanten, aufgezeichnet von Georg Horn, hg. v. Sabine Giesbrecht, Ko¨ln/ Weimar 2003, S. 120. 8 Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, zit. nach Berliner Leben 1806–1847. Erinnerungen und Berichte, hg. v. Ruth Ko¨hler/Wolfgang Richter, o. O. 1954, S. 182f. Auch Julian Chownitz hielt in seinem Reisebericht aus Wien 1843 fest: Das Theater „bildet u¨berhaupt in Wien einen stehenden Artikel der Conversation, welcher sich auf entsetzliche Weise durch alle Klassen zieht. – Theater! Nichts als Theater! Oper, Posse – nichts als Oper und Posse!“, Julian Chownitz, Moderne Wiener Perspektiven, Leipzig 1843, S. 88. 9 Hector Berlioz, Soire´es de l’Orchestre. Vingt-et-unie`me soire´e, Paris 21854. 10 Eduard Hanslick, Aus meinem Leben, 2 Bde., Berlin 1894, S. 372.

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¨ berschwemmung“: „Der Wiener Concertsturm [ist] er u¨ber die dortige „Musik-U gering gegen den Pariser und gar nichts gegen London, wo auf das Feldgeschrei: ‚The season!‘ sich alles erhebt, was in England spielt, geigt und singt, und alles hinzustro¨mt, was musikalisch beru¨hmt ist auf dem Continent.“11 Opern- und Konzerthaus erfu¨llten hinsichtlich des Publikums ganz a¨hnliche gesellschaftliche Funktionen wie die Zentren der Großstadt. Sie waren Teil eines o¨ffentlichen Lebens, ausgelegt auf Sichtbarkeit und Darstellung, auf Begegnung und ¨ ffentlichkeit spielte sich auf den Straßen, in den Parks, in den KaffeeGenuss. Diese O ha¨usern und eben in den Bauwerken fu¨r Musik ab. Hier begegneten sich Privatleute auf der Suche nach dem guten Leben in scho¨ner Umgebung. Ungeachtet zahlloser sichtbarer und unsichtbarer, sozialer und pekunia¨rer Barrieren, von denen noch ausfu¨hrlich zu reden sein wird, standen Opernha¨user und Konzertsa¨le jedenfalls den Eliten weitgehend offen. Bereits ihre reine Gro¨ße und ihr aufwendiger Unterhalt machten den regelma¨ßigen Besuch eines zahlreichen und zahlenden Publikums notwendig. Sie dienten damit nicht nur der Unterhaltung und der Repra¨sentation, sondern za¨hlten zu den wenigen außerha¨uslichen Treffpunkten, in denen sich Bildungsbu¨rger und Wirtschaftsbu¨rger, hoher und niederer Adel in einem institutionalisierten Rahmen begegnen wollten. In Wien waren Opern und Konzerte u¨berhaupt die einzigen Orte, wo die Beho¨rden es der Bevo¨lkerung gestatteten, sich in Gruppen – außer bei kirchlichen und staatlichen Feiern – zu versammeln. Die Musik bildete hier den wichtigsten, aber eben nur einen Anreiz. In den Bauwerken fu¨r Musik traf man Bekannte und Fremde, um Gesellschaft zu finden, Kaffee oder Wein zu trinken, sich u¨ber Musik oder Politik zu unterhalten und gleichzeitig den neuesten Klatsch auszutauschen. Welche Vergnu¨gungen musikalische Auffu¨hrungen auch sonst bereiten konnten, als konstituierender Faktor o¨ffentlichen Lebens waren sie spa¨testens seit dem fru¨hen 19. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken. Der Theaterkritiker Moritz Gottlieb Saphir befand zur Aufwertung des eigenen beruflichen Interesses 1828 lakonisch: „Und was Deutschland ohne Theater und Oper wa¨re? Eine große Langeweile von 11 600 Quadratmeilen mit ungefa¨hr 30 Millionen Einwohnern, da niemand in Gesellschaft ginge, weil niemand wu¨ßte, von was er reden sollte.“12 Der kollektive Konsum von Musik hatte weitreichende Folgen fu¨r Zuschnitt und Zukunft des Publikums. Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg der Musikkultur in Europa und der der bu¨rgerlichen Gesellschaft miteinander verflochten sind. Die permanente o¨ffentliche Dauerinnovation bedurfte der Teilhabe vieler Menschen – „Public“ wurde zum „Publikum“. Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich 11 Eduard Hanslick, Musikalisches Skizzenbuch. Der „Modernen Oper“ IV. Theil. Neue Kritiken und

Schilderungen, Berlin 1888, S. 269. Vgl. Patricia Garside, Das Londonbild in der englischen Literatur und Presse 1840–1940, in: Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europa¨ischer Hauptsta¨dte 1871–1939, hg. v. Gerhard Brunn/Ju¨rgen Reulecke, Bonn 1992, S. 227–269. 12 Zit. n. Marieluise Bitter-Hu¨bscher, Theater unter dem Grafen Bru¨hl (1815–1828), in: Studien zur Musikgeschichte Berlins im fru¨hen 19. Jahrhundert, hg. v. Carl Dahlhaus, Regensburg 1980, S. 415–428. Vgl. Alexander L. Ringer, The Rise of Urban Musical Life between the Revolutions, 1789–1848, in: The Early Romantic Era. Between Revolutions, 1789 and 1848, hg. v. dems., London 1990, S. 1–31.

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der Begriff „Publikum“ als Bezeichnung fu¨r eine durch Mitteilung oder Anwesenheit konstituierte Gemeinschaft verbreitet. Zeitgenossen u¨bersetzten „publice´“ mit „o¨ffentlich“, „ero¨ffnen“ oder „offenbar machen“.13 Im Franzo¨sischen und Englischen schwingt bis heute diese Doppelbedeutung des Begriffs „public“ mit, der sowohl die Gemeinschaft anwesender Zuschauer wie das Offenkundige oder das Vero¨ffentlichte bezeichnet. Scheut man die Zuspitzung nicht, dann besuchte das Publikum nicht ein¨ ffentlichkeit. fach nur o¨ffentliche musikalische Veranstaltungen – es war die O ¨ ffentlichkeit durch den Akt des kollektiven Musikkonsums. Genauer: Es wurde zur O Geteilte a¨sthetische Vorlieben und o¨ffentliche Verkehrsformen verbanden Menschen von unterschiedlicher Herkunft und von unterschiedlichem Status. Bestimmte Geschmackspra¨ferenzen brachten bestimmte soziale Gruppen hervor, fu¨r die der amerikanische Historiker William Weber den Begriff „taste publics“ gepra¨gt hat.14 Auf diesen Zusammenhang von kultureller Praxis und sozialer Genese hat Ju¨rgen Habermas als einer der Ersten hingewiesen: „Strenger noch als am neuen Lese- und Zuschauerpublikum la¨ßt sich am Konzertpublikum die Verschiebung kategorial fassen, die nicht eine Umschichtung des Publikums im Gefolge hat, sondern das ‚Publikum‘ als solches u¨berhaupt erst hervorbringt.“15 Die Kunstmusik verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend den Charakter des Privaten, verschwand allma¨hlich aus dem ha¨uslichen Rahmen. Parallel zum Ru¨ckgang des Salonlebens und zum abnehmenden Stellenwert von Musikauffu¨hrungen bei Hofe zeichnete sich eine zunehmende Professionalisierung musikalischer Aktivita¨ten ab. Bereits im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts veranstalteten Musiker immer seltener Konzerte in eigener Regie, wohingegen die Anzahl der regelma¨ßig durchgefu¨hrten Konzertveranstaltungen wuchs. Die Ausdifferenzierung der Gattungen und wachsende Anspru¨che an die Auffu¨hrungen versta¨rkte die Trennung zwischen Amateuren und Experten, zwischen privaten und o¨ffentlichen Darbietungen. Doch trotz wachsender Spezialisierung der Spielsta¨tten und Auffu¨hrungen vollzog sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine klare Trennung zwischen Opern- und Konzertbetrieb. In allen hier betrachteten Metropolen mischten sich noch lange die musikalischen Gattungen und die Publika, fanden Konzerte in Opernha¨usern und szenische Auffu¨hrungen in Konzertsa¨len statt. Bis in die 1850er Jahre hinein blieb es die Regel, dass Instrumentalstu¨cke als Pausenfu¨ller im Opernhaus erklangen und ganze Opernszenen die Programmfolge von Sinfoniekonzerten unterbrachen. Die Allgemeine Musikalische Zeitung etwa lobte 1834 ausdru¨cklich die Verdienste des Ko¨nigsta¨dtischen Theater-Orchesters in Berlin, „welches in neuester Zeit Beethoven’s Pastoral-Symphonie, wie die eroica mit grosser Pra¨cision als

13 Wolfgang Ruppert, Bu¨rgerlicher Wandel. Die Geburt der modernen deutschen Gesellschaft im

18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1981, S. 151; vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), S. 540–546. 14 William Weber, Music and the Middle Class. Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna, London 22004, S. 11f. und passim. 15 Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 4), S. 101. Vgl. Hanns-Werner Heister, Das Konzert. Theorie einer Kulturform, Bd. 1, Wilhelmshaven 1983, S. 100–116.

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Zwischenacte ausgefu¨hrt hat. Dass auch diese schwerer versta¨ndlichen, grossartigen Musikstu¨cke das ziemlich gemischte Publicum lebhaft ansprachen, zeugt von den Fortschritten geistiger Kultur.“16

Musikalische Ra¨ume

Wohin ein Europareisender im 19. Jahrhundert auch kam, allerorten schossen repra¨sentative und meist verblu¨ffend a¨hnliche Opern- und Konzertha¨user aus dem Boden. Kaum eine Großstadt, die in Europa etwas auf sich hielt, wollte auf Ra¨ume musikalischer Vergnu¨gungen und gesellschaftlicher Repra¨sentation verzichten. Wa¨hrend zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine relativ u¨berschaubare Anzahl von Hoftheatern oder Konzertsa¨len existierte, hatten diese Spielsta¨tten an der Wende zum 20. Jahrhundert gleichsam fla¨chendeckend ein musikalisches Netz u¨ber Europa gelegt. Urbane Ra¨ume vera¨nderten den Stellenwert musikalischer Auffu¨hrungen. In ganz Europa nahm die Anzahl der o¨ffentlich zuga¨nglichen Bauwerke fu¨r Musik rapide zu. Architektonisch betrachtet, traten im Laufe des Jahrhunderts etablierte Stilformen wie Klassizismus, Neorenaissance, Neugotik oder Neobarock allesamt neben- und miteinander auf. Gleichzeitig aber waren diese baulichen Muster, ungeachtet vieler lokaler Unterscheidungen in den einzelnen Sta¨dten und Regionen, international verbrei¨ sthetik kann eine weitreichende Eurotet. Auf der Suche nach einer u¨bergreifenden A pa¨isierung architektonischer Geschmackspra¨ferenzen beobachtet werden.17 Dabei ist auch die regionale Vielfalt der musikalischen Landkarte zu bedenken. Denn gerade in den deutschsprachigen La¨ndern formierte sich das neue Musikleben nicht nur in Berlin, sondern auch in Großsta¨dten wie Hamburg und Leipzig oder in Residenzsta¨dten wie Karlsruhe und Meiningen.18 Ob Zentrum oder Peripherie, ob industrialisiert oder agrarisch, im Deutschen Reich und im Habsburgerreich leistete sich fast jede gro¨ßere Stadt prachtvolle Opern- und Konzertha¨user. Allein fu¨r Italien ist die Anzahl der Opern- und Theaterha¨user fu¨r die spa¨ten 1860er Jahre auf unerho¨rte 942 Geba¨ude gescha¨tzt worden, von denen allein zwischen 1861 und 1868 nicht weniger als 198 errichtet wurden.19 Dagegen blieb in Großbritannien und in Frankreich auf Grund der Zentralisierung auch das Musiktheater auf relativ wenige Stand-

16 Allgemeine Musikalische Zeitung 36 (1834), S. 111f. 17 Vgl. Claude Mignon, Architektur des 19. Jahrhunderts, Ko¨ln 1983; und insges. die Beitra¨ge in Capita-

les culturelles, Capitales symboliques. Paris et les expe´riences europe´ennes XVIIIe-XXe sie`cles, hg. v. Christoph Charle/Daniel Roche, Paris 2002. 18 Vgl. Hansjakob Ziemer, Die Moderne ho¨ren. Das Konzert als urbanes Forum 1890–1940, Frankfurt a. M. 2008, S. 9–31; Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Ho¨fe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. 19 Carlotta Sorba, Teatri. L’Italia del melodramma nell’eta` del Risorgimento, Bologna 2001, S. 17–33. Vgl. Michael Forsyth, Bauwerke fu¨r Musik. Konzertsa¨le und Opernha¨user – Musik und Zubeho¨r vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Mu¨nchen 1992, passim.

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orte beschra¨nkt.20 Wenn viele dieser Einrichtungen in Ermangelung finanzieller Ressourcen auch nur saisonal bespielt wurden, verwandelte sich im Laufe des Jahrhunderts insgesamt die Mehrzahl der Spielsta¨tten wegen ihrer Gro¨ße, ihrer Ausstattung und ihrer sozialen Funktionen in zentrale urbane Repra¨sentationsbauten. Nach heutiger Auffassung waren die meisten Geba¨ude fu¨r Musik bea¨ngstigend klein und unu¨bersichtlich angelegt. Konzertsa¨le fassten oft nur wenige Hundert Besucher und allein die namhaften Opernha¨user großer Sta¨dte boten u¨ber 1000 Menschen Platz. Aus Berlin beschwerte sich die Haude- und Spenersche Zeitung 1842 u¨ber die Enge eines sta¨dtischen Konzertsaales: „Die Theilnahme der Musikfreunde hatte sich durch ein zahlreiches Abonnement so u¨ber Erwartung lebhaft gezeigt, daß der, nicht u¨ber 400 Personen fassende, in akustischer Hinsicht gu¨nstige Saal [...] viel zu klein war, und selbst viele Damen nur stehend, oder im Eingange Platz finden konnten. Dabei war der Saal anfangs zu kalt und voll Zugluft an der Thu¨r, nachher ¨ berfu¨llung.“21 ebenso heiß von der U ¨ rger der Opernbesucher lo¨ste das ru¨cksichtslose Gedra¨nge um brauchBlanken A bare Sitzpla¨tze im Parkett oder der Kampf um Stehpla¨tze aus. Auch die Zunahme des Sitzraumes zu Lasten der Stehpla¨tze verringerte die Beweglichkeit der ankommenden ¨ ffHo¨rer. Nach oft stundenlangem Anstehen erlebten die Musikfreunde nach dem O nen der Eingangstu¨ren einen gelegentlich sogar gewaltsamen Kampf um den Eintritt. Das Chaos entstand auch deshalb, weil es in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts nur in Ausnahmefa¨llen fu¨r das Parkett nummerierte Eintrittskarten gab. Ein Besucher beklagte, die ihn begleitende Frau sei bei der Rangelei erheblich am Arm verletzt worden. Fu¨r die Londoner Elite bleibe dieser Zustand untragbar: „The dress and demeanour demanded of an Opera frequenter are strongly at variance with his mode of admission: delicate ladies and gentleman who are not athletes are at a disadvantage to which they ought not to be put in frequenting the theatre where the most refined do congregate.“22 Der bauliche und der institutionelle Wandel musikalischer Spielsta¨tten vom Hoftheater und Salon hin zum sta¨dtischen Opernhaus und Konzertsaal erfu¨llte die Bedu¨rfnisse der immer zahlreicheren Ho¨rer. Das galt zumal fu¨r die sich seit dem fru¨hen 19. Jahrhundert in wichtigen sta¨dtischen Zentren etablierenden Konzertsa¨le. Diese Ra¨ume fu¨r Solisten, Chorwerke oder Sinfoniekonzerte waren zwar in der Regel erheblich kleiner als die Opernha¨user. Der Blick auf die Konzertsa¨le in London oder Berlin zeigte aber einen grundlegend neuen architektonischen Aufbau. Nicht in aufsteigenden Ra¨ngen, sondern in meist ebenerdig angeordneten Reihen fand sich das Publikum dem Orchester gegenu¨ber angeordnet. Diese Sitzpla¨ne verrieten vieles u¨ber die o¨ffentliche Bedeutung des Zuho¨rens. Zu beobachten war eine versta¨rkte Konzentration auf die Auffu¨hrung zu Lasten des Privatlebens in den abgeschotteten

20 Vgl. Donald J. Olsen, Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt a. M. 1986; William

Weber, Musical Culture and the Capital City, The Epoch of the beau monde in London, 1700–1870, in: Concert Life in Eighteenth-Century Britain, hg. v. Simon McVeigh/Susan Wollenberg, Aldershot/ Burlington 2004, S. 71–89. 21 Haude- und Spenersche Zeitung vom 16. 11. 1842. 22 „Pursuit of Pleasure and Difficulties“, Spectator vom 25. 4. 1846.

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Logen und Ra¨ngen. Versuche des Bu¨rgertums nach einer anderen Ordnung im Saal waren hier zu beobachten. In geringerem Ausmaße galten diese Ordnungsregeln auch innerhalb der neu errichteten Opernha¨user, deren Architektur auf leichtere Zuga¨nglichkeit und Bequemlichkeit fu¨r die Ga¨ste zielte. Das nach dem Brand durch Karl Ferdinand Langhans 1844 umgebaute Berliner Opernhaus kennzeichnete eine weit großzu¨gigere Raumaufteilung zwischen Parkett, Tribu¨ne und Logen. Pra¨chtige und bequeme Eingangstu¨ren gaben die Blicke frei auf ein durch moderne Leuchter erhelltes Auditorium, welches durch pra¨chtige Leuchter, große Spiegel und geschmackvolle Bilder auf den Ga¨ngen und den Foyers Eindru¨cke eines kulturellen Palastes hervorzauberte. Treppenha¨user, Galerien, Garderoben und Sitzabsta¨nde erfu¨llten manche Bedu¨rfnisse der Besucher und viele schienen sich gerade an der Pracht des Hauses und der eigenen Beweglichkeit zu erfreuen. Ludwig Rellstab hielt in der „Vossischen Zeitung“ voller Stolz fest, dass sich keiner der Kunsttempel in Europa „an Reichthum und wirklicher Scho¨nheit mit dem unsrigen vergleichen kann. [...] In den Zwischenakten sah man das Publikum vielfa¨ltig die Corridors durchwandern, um sich an der wohlbehaglichen und eleganten Einrichtung auch hier zu erfreuen.“23 Im gleichen Tonfall schwa¨rmten Beobachter aus Wien anla¨sslich der Ero¨ffnung des neuen Opernhauses 1869 u¨ber einen Ort, der, wenigstens auf den besten Pla¨tzen, den Lebensstil und die Unterhaltung der Elite erfu¨lle. „In den Logen kann man den Bedu¨rfnissen der Konversazion und des intimen geselligen Verkehrs in der bequemsten Weise nachkommen, und der Logen gibt es 113 vom Parterre bis zum dritten Stockwerk.“24 Weitreichender als die architektonischen Vera¨nderungen zeichnete sich der Wandel des musikalischen Spielbetriebes ab. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm die Komplexita¨t der Produktionsbedingungen rasant zu. Die Kosten der Inszenierungen, die Ku¨nstlergagen wie die o¨ffentliche Vermarktung und Werbung stiegen rapide an. Die Produzenten, also die Unternehmer, die Ku¨nstler und die Sta¨dte sahen sich einem versta¨rkten Wettbewerb um konkurrierende Veranstaltungen ausgesetzt. Hierin unterschieden sich Metropolen wie London, in denen die Spielsta¨tten im risikoreichen Privatbesitz waren, von den staatlich subventionierten Auffu¨hrungen einer monarchischen Hofkultur wie in Berlin und Wien. Die weitreichende aristokratische Exklusivita¨t gerade der Oper ließ sich aufgrund finanzieller Herausforderungen immer weniger aufrechterhalten. Nicht zuletzt durch ihre kritische Finanzlage o¨ffneten die Hoftheater in Berlin und in Wien ihre Ha¨user, um ein zahlendes Publikum außerhalb der Aristokratie zu gewinnen.25 In den Opern- und Konzertha¨usern bemu¨hten sich adelige und bu¨rgerliche Eliten sowie die neu gegru¨ndeten musikalischen Vereine um o¨konomischen Erfolg. Hierdurch wurden aus staatlichen oder privaten Veranstaltern Unternehmer im modernen Sinne des Wortes. Einige versuchten die Spielsta¨tten selbst zu erwerben, andere 23 Vossische Zeitung vom 9. 12. 1844. 24 Wanderer (A), 26. 5. 1869. 25 Vgl. Jutta Toelle, Oper als Gescha¨ft. Impresari an italienischen Opernha¨usern 1860–1900, Kassel

2007, S. 50–67; Michael Walter, „Die Oper ist ein Irrenhaus“. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997, S. 318–324.

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die Ha¨user und eine Anzahl von Ku¨nstlern fu¨r eine laufende Saison zu pachten. Die Mobilisierung o¨konomischer Mittel fu¨hrte zu einem allma¨hlichen Niedergang etablierter Konsumgewohnheiten und zu einer neuen Strategie der Unternehmer wie den musikalischen Institutionen, die Besucherzahlen zu erho¨hen.26 Im Erwerb, dem Genuss und der Verschwendung musikalischer Waren ist eine Vielfalt moderner Lebensstile zu erkennen. Die Kommerzialisierung des Musiklebens strukturierte Beschra¨nkung und Entgrenzung gleichermaßen, das heißt zum einen den Ausbau einer sozial ungleichen kulturellen Gesellschaft, zum anderen neue Handlungsmo¨glichkeiten von Individuen und Gruppen. Denn nicht nur etablierte soziale Leitvorstellungen, sondern auch experimentelle kulturelle Praktiken und a¨sthetische Pra¨missen kodierten den Musikkonsum des 19. Jahrhunderts. Die Musik war vom Konsum nicht ausschließlich gefesselt, sondern die o¨konomischen Bedingungen setzten sich zugleich auch in soziale Lebensqualita¨t um. Musikalische Ideale und Geschichten von Virtuosen, mediale Werbung und die Bezahlung von Eintrittskarten formierten sich zu einer Assoziationskette, welche Glu¨cksgefu¨hle bei den Musikkonsumenten evozieren konnte. Die Konsumgesellschaft ermo¨glichte es den Ho¨rern durch den Erwerb musikalischer Waren, sozialen Sinn und emotionale Befriedigung zu erhalten. Zugespitzt und vereinfacht formuliert: Ein gelungener Konsum machte viele Musikho¨rer glu¨cklich.27 Der tatsa¨chlich wachsende Bedarf nach aufgefu¨hrter Musik entwickelte sich aus den neuen finanziellen Bedingungen und dem Aufstieg neuer musikalischer Vereine. Allerorten sprachen die Zeitungen von einem Fortschritt in der Musik und einer ¨ ffnung im Reform des musikalischen Spielbetriebes. Vor allem habe die soziale O Theater und im Konzert der Kunst gedient: „We feel that the breaking down of the barriers which had hitherto held the multitude back has been of infinite service to the art.“28 In fortschreitenden modernen Gesellschaften ko¨nne jedermann bezahlbare Karten fu¨r jedwede Vorstellung erwerben. Die so praktizierte Kunst stelle ein „democratic movement“ dar.29 Diese lesenswerte Formulierung ist so faszinierend wie falsch. Denn die Auffassung von manchen bu¨rgerlichen Zeitgenossen wie von Teilen der Forschung, das Musikleben sei nun durch gleichmachende, ja demokratische Tendenzen gepra¨gt worden, wird allein durch die nach wie vor bestehende soziale und politische Ungleichheit des Publikums in Frage gestellt. Der Spott gegen den Geschmack der Adeligen war zwar versta¨rkt zu beobachten, doch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhielten nur diejenigen Musikliebhaber Zutritt, die bezahlen konnten und die einen elita¨ren Lebensstil kultivierten. Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert zeichnete ¨ ffnung des Spielbetriebes ab. sich statt einer vorsichtigen eine umgreifende soziale O Die Premiere der Oper „Ivanhoe“ von Arthur Sullivan 1891 beispielsweise beschrieben Teilnehmer als Charakteristikum eines neuen Zeitalters. Im Unterschied zu den 26 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts (wie Anm. 6), S. 146–184. 27 Vgl. zum Verha¨ltnis von Konsum und Gesellschaft: Heinz-Gerhard Haupt, Konsum und Handel.

Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Go¨ttingen 2003, S. 9–28, 110–116. 28 Musical Times, Oktober 1863, S. 133. 29 Ebd., S. 134.

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traditionellen Spielsta¨tten gebe es hier nur wenige Logen, kein glamouro¨ses Foyer, sondern großzu¨gig geschnittene, leicht zuga¨ngliche Ra¨nge und bezahlbare Parkettpla¨tze, welche fu¨r jede soziale Klasse in der Oper eine gute Sicht bo¨ten.30 ¨ ffnung des Spielbetriebes funktionierte weniger als eine Die vorsichtige soziale O Demokratisierung, sondern eher als eine Professionalisierung der Auffu¨hrungen. Im Zeitalter wachsender Kommerzialisierung, Popularisierung und sich vera¨ndernder Geschmackspra¨ferenzen schwand das Interesse an musikalischen Laien, ad hoc zusammengestellter Ensembles und unzureichend ausgebildeter Solisten. Die gestiegene Nachfrage und die ho¨heren Erwartungen des Publikums befo¨rderten ada¨quate berufliche Leistungen der Ku¨nstler, der Orchester und des Bu¨hnenbildes. Qualita¨t beruhte auf langen und intensiven Vorbereitungen, auf einer minutio¨sen Ausbildung, so dass statt praktizierender Laien nunmehr musikalische Experten erwartet wurden. Damit stiegen auch die Honorare der Musiker. Das ku¨nstlerische Niveau erho¨hte sich zusa¨tzlich durch den Einsatz von Stimmfu¨hrern fu¨r bestimmte Instrumentengruppen innerhalb des Orchesters und durch die Etablierung eines die Auffu¨hrung leitenden Dirigenten. Das Musikleben vera¨nderte sich im Zusammenwirken von neuer ku¨nstlerischer Qualita¨t und neuem Publikumsinteresse, wie beispielsweise die Wiener Presse u¨ber die „Gesellschaft der Musikfreunde“ 1855 feststellte. Die Ausgaben fu¨r die Konzerte ha¨tten sich auch „durch die gestiegenen Anforderungen [erho¨ht], welche das Publikum an die musikalische Exekution stellt und wonach es nicht mehr mo¨glich ist, unbezahlte Dilettanten zu verwenden, sondern die bedeutenden Unkosten fu¨r Besetzung des Orchesters mit Ku¨nstlern vom Fach und fu¨r wiederholte sorgfa¨ltige Proben getragen werden mu¨ssen“.31 Dieser Wandel ist zumal in der Entwicklung des Konzertlebens zwischen 1820 und 1860 zu beobachten. Das Repertoire und die Geschmackspra¨ferenzen von Oper ¨ ffentliche Konzerte mit einer relativ großen und Konzert trennten sich allma¨hlich. O Anzahl von Musikern und einem gemischten Programm ordneten sich meist in drei Gruppen ein: ho¨fisch oder sta¨dtisch gestellte Orchester, Liebhabervereine und Konzertvereinigungen sowie private Konzertunternehmer und namhafte Solisten. Die Mehrzahl dieser o¨konomisch-organisatorischen Veranstaltungen bildeten sogenannte Subskriptionskonzerte. Nur wohlhabende Adelige und Bu¨rger konnten sich daher an der Subskription wichtiger Konzertserien beteiligen, und nur einzelne Benefizkonzerte dienten zur Fo¨rderung gemeinnu¨tziger und wohlta¨tiger Ziele. Institutionell betrachtet, ist eine erhebliche quantitative Zunahme organisierter Abonnementkonzerte zu beobachten. Diese Professionalisierung fu¨hrte unter anderem dazu, dass die Programme immer sta¨rker nach ku¨nstlerischen und a¨sthetischen Gesichtspunkten zusammengestellt wurden. Inhaltlich verschwanden um die Mitte des Jahrhunderts die u¨berwiegend gemischten Konzertprogramme, die aus Ouvertu¨ren, Duetten,

30 Athenaeum, 7. 2. 1891, S. 193. Vgl. Donald Burrows, Victorian England, an Age of Expansion, in: The

late Romantic Era from the mid 19th Century to World War I, hg. v. Jim Samson, London/Basingstoke 1991, S. 266–294; Nicholas Temperley, Musical Nationalism in English Romantic Opera, in: The Lost Chord. Essays on Victorian Music, hg. v. dems., Bloomington/Indianapolis 1989, S. 143–157. 31 Wiener Zeitung (M) vom 30. 9. 1855.

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Chorszenen, Arien, solistischen Einlagen, Sinfonien und Ta¨nzen bestanden, zu Lasten zeitlich verku¨rzter Veranstaltungen mit wenigen Werken. Die Sinfonie ersetzte das Potpourri.32 Die Produzenten der Konzertmusik fo¨rderten in erster Linie diejenigen Stu¨cke, welche sie als Kunstwerke bezeichneten. Dabei etablierten sich Stile a¨lterer und zeitgeno¨ssischer Musik, die Werke bereits verstorbener und noch lebender Komponisten, nebeneinander im Musikleben des 19. Jahrhunderts. Durch Musikliteratur verbreitete das Bu¨rgertum sein Bildungswissen u¨ber den Geschmack und das Repertoire. Das Ho¨rerlebnis im Konzert wuchs nicht allein durch die sta¨ndig wachsende Menge von Musikerbiographien und handbuchartigen Musikfu¨hrern. Die wichtigste Gebrauchsanweisung zur Ausbildung eines Werkkanons waren popula¨rwissenschaftliche Broschu¨ren, die auf wenigen Seiten eine Einfu¨hrung in die gespielten Kompositionen vermittelten. Die bu¨rgerliche Bildung im Musikbetrieb bedurfte der Erkla¨rung von erfolgreichen ‚Ho¨renswu¨rdigkeiten‘.33

Berlin, Wien und London – ein Vergleich

Wien Um die gesellschaftliche Reichweite musikalischer Auffu¨hrungen genauer zu bestimmen, ist ein skizzenhafter Blick auf die drei Hauptsta¨dte, ihre politische Struktur, ihre Gemeinsamkeiten und ihre Unterschiede im Musikleben notwendig. Man kann anhand der Opernha¨user und Konzertsa¨le, die oft ohne Unterbrechungen u¨ber Jahrzehnte hinweg existierten, das Verha¨ltnis von Kunstmusik und Gesellschaft bestimmen. Wien war die Hauptstadt eines dynastischen Reiches, das aus vielen Vo¨lker¨ sterreich in einem schaften und Nationen bestand. Mehr noch als Preußen stand O Verteidigungskrieg gegen zwei der wichtigsten politischen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts, die Demokratie und den Nationalismus. Doch Deutsche und Tschechen, Magyaren und Italiener stellten Anspru¨che, die der Staat immer schwerer einlo¨sen konnte und wollte. Der absolutistisch angelegte Hof mit seiner Regierung um Fu¨rst Metternich klammerte sich oft lernunfa¨hig an die bestehende Ordnung und erschwerte politische und soziale Reformen. Streng genommen gab es keine Regierung, die den Kaiserstaat fu¨hrte, und auch die meist gut organisierte Bu¨rokratie arbeitete langsam und uneffektiv.

32 Bereits in den 1820er Jahren ero¨ffneten die meisten Konzerte der „Gesellschaft der Musikfreunde“ in

Wien mit einer Sinfonie, bevor etwa Cho¨re und Solonummern folgten.

33 Vgl. Rebecca Grotjahn, Die Sinfonie im deutschen Kulturgebiet 1850 bis 1875. Ein Beitrag zur Gat-

tungs- und Institutionengeschichte, Sinzig 1998, S. 88–121; Simon McVeigh, Concert Life in London from Mozart to Haydn, Cambridge 1993, S. 223–229.

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Weder in der Struktur der Habsburgermonarchie noch im Musikleben ist ein „bu¨rgerliches Zeitalter“ zu erkennen. In allen Dienstra¨ngen des o¨sterreichischen Offizierskorps dominierten Adelige. Der Hochadel verfolgte oft familia¨re und habituelle Interessen und achtete auch nach 1848 auf seine Abgrenzung zum aufsteigenden Bildungs- und Wirtschaftsbu¨rgertum. Der alte Geburtsadel begriff sich selbst als „erste Gesellschaft“ und achtete auf soziale Distanz gegenu¨ber der „zweiten Gesellschaft“, etwa den Unternehmern, den Bankiers und den neu Nobilitierten. Etwa bis 1870 lag in Wien die gesellschaftliche Macht in der Hand von etwa 100 Familien fu¨rstlichen und gra¨flichen Ranges.34 Auch als die wirtschaftliche Unabha¨ngigkeit des Wiener Hochadels einbrach, demonstrierte er mit dem Besuch der preistreibenden Logen in der Hofoper augenfa¨llig seinen Rang in der Gesellschaft. Kaiser Franz II. wurde regelma¨ßig bei seinem Besuch mit der Hymne von Haydn „Gott erhalte Franz den Kaiser“ geehrt. Leider war er kein Musikliebhaber und dachte nicht einmal daran, Haydn fu¨r sein beliebtes Werk ein Geschenk anzubieten. Sein Nachfolger Kaiser Ferdinand I. schickte dem erkrankten Donizetti 1846 immerhin einen Arzt ins Sanatorium.35 Auch das Quartettspiel und die Gesangsabende bei Hof verraten den hohen Stellenwert adeliger Musikpflege in Wien. Im Unterschied zum privilegierten Hofadel verfu¨gte der Landadel u¨ber deutlich geringere pekunia¨re und soziale Mittel, um in der Hauptstadt sta¨ndig anwesend sein zu ko¨nnen. Der Landadel erschien in Wien bevorzugt im Rahmen der o¨ffentlichen Opern- und Konzertsaison im Winter und im Fru¨hling eines jeden Jahres und wohnte dann in den Palais befreundeter Aristokraten oder im Hotel. Denn im Sommer blieb die Hofoper fu¨r wenigstens drei Monate geschlossen, weil die sta¨dtische Aristokratie in dieser Zeit nicht in Wien weilte. Der Besuch dieser Spielsta¨tten war entscheidend fu¨r den Erhalt eigener Netzwerke.36 An kirchlichen und staatlichen Feiertagen war in Wien der Besuch des Opernhauses verboten. Das ero¨ffnete den Orchesterkonzerten neue Mo¨glichkeiten – institutionell, stilistisch und sozial: Diese Konzerte ermo¨glichten die Entstehung und die Verbreitung der Gattung der Sinfonie. Nicht nur das: Die Konzertsa¨le waren fu¨r alle Eliten zuga¨nglich, fu¨r den Adel und fu¨r das gehobene Bu¨rgertum gleichermaßen. Das zeigte exemplarisch die erfolgreiche Neugru¨ndung der „Gesellschaft der Musikfreunde“ 1812. Deren Konzertreihe changierte zuna¨chst zwischen aristokratischem Salon und o¨ffentlichen Konzerten, die man auf Einladung hin besuchen konnte. Im Unterschied zu den Kaufleuten und Ha¨ndlern, interessierten sich gerade Beamte und Lehrer fu¨r diese neue musikalische Unterhaltung. Was fu¨r den Hochadel galt, traf auch fu¨r das sta¨dtische Bu¨rgertum zu: Der wachsende Konsum der Konzertmusik war sozial nu¨tzlich. Bereits fu¨r die Saison 1826/27 erlebte Wien 111 Sinfoniekonzerte;

34 Vgl. Hannes Stekl, Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. O ¨ sterreichs Hocharistokratie vom

18. bis ins 20. Jahrhundert, in: Europa¨ischer Adel 1750–1950, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Go¨ttingen 1990, S. 144–165; James J. Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches. Deutschland seit dem Ende des Siebenja¨hrigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution 1763 bis 1850, Berlin 1994, S. 469–486. 35 Henry-Louis de la Grange, Wien. Eine Musikgeschichte, Frankfurt a. M. 1997, S. 107f., 228f. 36 Vgl. Alice M. Hanson, Die zensurierte Muse. Musikleben im Wiener Biedermeier, Wien 1987, S. 100–103; Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, Mu¨nchen 1999, S. 29–39.

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London kam auf einen a¨hnlich hohen Wert (125). Allerdings vera¨nderte sich das Zahlenverha¨ltnis durch das weit dynamischere Wachstum von London drastisch. In der Saison 1845/46 genossen die Wiener 163, die Londoner aber 381 Konzertveranstaltungen.37 Wien mangelte es zuna¨chst an geeigneten Spielsta¨tten und musikalischen Institutionen. Zwar unterhielt Wien bereits im Vorma¨rz fu¨nf Theater, von denen außer der Hofoper, auch zwei Ha¨user in den Vorsta¨dten, das Theater an der Wien und das Josefsta¨dter Theater, regelma¨ßig Opern auf die Bu¨hne brachten. Doch obwohl das Ka¨rntnertortheater als Hofoper bis 1848 direkt aus der kaiserlichen Schatulle bezahlt wurde, waren auch hier die Bedingungen des Spielbetriebs alles andere als ideal. Zwar bot das Haus u¨ber 2000 Zuschauern Raum, doch Akustik und Belu¨ftung ließen zu wu¨nschen u¨brig, das Haus war schwer zu beheizen und schlecht zu beleuchten.38 Vor allem aber verfu¨gte Wien bis 1831, als die „Gesellschaft der Musikfreunde“ ihr erstes Haus mit ca. 700 Pla¨tzen errichtete, u¨ber keinen eigentlichen Konzertsaal. Beethovens IX. Sinfonie war 1824 in der Hofoper aufgefu¨hrt worden, Paganini hatte 1828 seine Konzerte u. a. im großen Redoutensaal der Hofburg, im Burgtheater sowie im Ka¨rntnertortheater gegeben. Die ersten regelma¨ßigeren Subskriptionskonzerte fanden seit 1833 in eben diesem Redoutensaal statt – ein bezeichnendes Indiz dafu¨r, dass gerade in Wien aristokratische und bu¨rgerliche Auffu¨hrungsorte und Pra¨ferenzen ineinanderspielten. Und wa¨hrend London bereits um 1850 ein halbes Dutzend Konzertserien aufweisen konnte, gab es in Wien zu dieser Zeit grade einmal zwei – die der „Gesellschaft der Musikfreunde“ (seit 1812) und die der Philharmoniker (seit 1842).39 Im Zuge einer Professionalisierung der musikalischen Aktivita¨ten zeichnete sich erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung musikalischer Praktiken anhand bestimmter Gattungen und Orte ab. Schneller als das institutionell und a¨sthetisch konservative Wiener Musikleben vera¨nderte sich das sta¨dtische Erscheinungsbild. Im Zuge der Errichtung der Ringstraße erhielt Wien Bauten von hoher repra¨sentativer Qualita¨t. Wie in Paris markierte auch in Wien die Oper den Mittelpunkt der erneuerten Metropole. Die von August Siccard von Siccardsburg und Eduard van der Nu¨ll bis 1869 im Stil der Neorenaissance erbaute Oper (2880 Pla¨tze) war das erste große o¨ffentliche Geba¨ude an der Ringstraße. Auch Theophil Hansens großer Musikvereinssaal von 1870 (1640 Pla¨tze) war ein Werk des architektonischen Historismus und bediente sich antikisierender Formelemente. Eindrucksvoll demonstrierten diese großdimensionierten Bauwerke den gesellschaftlichen Status der Kunstmusik im politischen Zentrum der Hauptstadt des Habsburgerreiches.40 37 Die Angaben folgen Weber, Music (wie Anm. 14), S. 87–98, 159–161. 38 Franz Hadamowsky, Die Wiener Hoftheater (Staatstheater). Ein Verzeichnis der aufgefu¨hrten und

eingereichten Stu¨cke mit Bestandsnachweisen und Auffu¨hrungsdaten. Teil 2: Die Wiener Hofoper (Staatsoper) 1811–1974, Wien 1975; ders., Wien – Theatergeschichte. Von den Anfa¨ngen bis zum ¨ sterreich. Die Oper Ende des Ersten Weltkriegs, Wien 1988; Norbert Tschulik, Musiktheater in O im 20. Jahrhundert, Wien 1984. 39 Vgl. Hanson, Muse (wie Anm. 36), S. 77–80, 117f.; Alfred Planyavsky, Die Vor-Philharmonische Zeit, ¨ sterreichische Musikzeitschrift 22 (1967), S. 74–111. in: O 40 Vgl. Siegfried Wiesmann, Vienna. Bastion of Conservatism, in: The Early Romantic Era (wie Anm. 12), S. 84–108, sowie die Beitra¨ge in Schubert’s Vienna, hg. v. Raymond Erickson, Yale 1997.

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Berlin Preußen begegnete den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts durch seine ausgezeichnete obrigkeitsstaatliche Verwaltung. Die gesetzlichen Verfahren, die Sparpolitik und die unabha¨ngige Justiz unterschieden Preußen von dem weit weniger effizient organisierten Habsburgerreich. In Berlin arbeitete ein Kabinett aus Hochadel, Ministern und hohen Beamten eingebunden in Institutionen und Regeln. Auf der anderen Seite aber war Preußen ein Musterland der Restauration und achtete auf den Bestand der monarchisch-bu¨rokratischen Entscheidungsmacht, indem es die Interessen des Geburtsadels und des Milita¨rs verteidigte und sich nennenswerten politischen Reformen verweigerte. Auf eine verku¨rzte Formel gebracht: Preußen war eher lernfa¨hig als lernwillig. Auch der preußische Adel musste zunehmend als Teil einer Gesellschaft funktionieren, sich auf Feldern der Wirtschaft, der Bildung und der Religion behaupten. Beispielsweise nahm die Zahl derjenigen Landadeligen ab, die genug Boden oder Besitz besaßen, um davon leben zu ko¨nnen. Daher hatten sie ihren gesellschaftlichen Rang durch ein staatliches Amt zu behaupten. Auch wenn Preußen im Unterschied zu Großbritannien das Mittel der Nobilitierung nur sparsam einsetzte, nutzte der effiziente Verwaltungsstaat der Herausbildung des Bu¨rgertums. Was immer die freien Berufe, die Beamten, die Akademiker und die neuen Unternehmer auch voneinander unterschied, sie teilten soziale und kulturelle Interessen. Die Auffu¨hrungen der Kunstmusik im Berliner Opern- und Konzerthaus boten dem Adel und dem Bu¨rgertum aussichtsreiche Mo¨glichkeiten. Der bedeutendste Anteil am Kronkassenetat kam den ko¨niglichen Bu¨hnen und in erster Linie dem Opernhaus zugute. Der Hofadel organisierte lange Zeit den Betrieb und den Besuch dieser Spielsta¨tte. Dabei waren zwei Kategorien zu unterscheiden. Die ha¨ufigen Vorstellungen, die auch fu¨r ein breiteres Publikum gegeben wurden, und die ausgewa¨hlten Veranstaltungen, die nur der Ko¨nig genehmigte. Bei besonderen Anla¨ssen, etwa beim Geburtstag Ko¨nig Friedrich Wilhelms IV., bei der Verma¨hlung eines Kronprinzen oder beim Empfang hochrangiger Diplomaten, lud die Berliner Aristokratie ihre Ga¨ste ein zu halbo¨ffentlichen Operngalas oder zu Hofkonzerten. Die preußischen Monarchen waren Freunde des gesellschaftlich nu¨tzlichen Musiklebens, oft aber keine Freunde der Kunstmusik. Ko¨nig Friedrich Wilhelm III. achtete auf das Opernzeremoniell, langweilte sich hier aber musikalisch. Privat bevorzugte er Marschmusik. Ein Hofbiograph berichtete, dass dem Ko¨nig Don Giovanni, Freischu¨tz und Fidelio zuwider gewesen seien. Auch hier a¨nderte sich manches im Deutschen Kaiserreich. Kaiser Wilhelm I. ging gerne ins Opernhaus um sich zu entspannen. Kaiser Wilhelm II. liebte dagegen die Anspannung und konnte stundenlang u¨ber den musikalischen Rang Richard Wagners monologisieren.41 In den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts vergro¨ßerte sich das Publikum und ¨ rzte und Beamte erkannten, man baute in Berlin neue Spielsta¨tten. Viele Anwa¨lte, A 41 Vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, Der Hof Wilhelms III. von Preußen 1797 bis 1840, in: Hof und

Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, hg. v. Karl Mo¨ckl, Boppard a. R. 1990, S. 307–319; Hans Philippi, Der Hof Kaiser Wilhelms II., in: ebd., S. 386–390.

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dass ihre Lebenschancen in der Gesellschaft auch durch den individuellen Erwerb musikalischer Bildung wuchsen und nicht allein mehr durch Herkunft und materiellen Besitz. Spa¨testens seit den 1830er Jahren erlaubten neue Konzertserien die o¨ffentliche Sichtbarkeit der Bu¨rger. Erfolgreich genossene Kunstmusik nu¨tzte der Herausbildung einer bu¨rgerlichen Elite. Das Repertoire der staatlichen Ko¨niglichen Kapelle war u¨beraus konservativ ausgelegt (Potpourris aus Spa¨tbarock und Fru¨hklassik) und erst die Initiativen privat gegru¨ndeter Orchester bereicherten das Berliner Konzertleben. Im Ergebnis zeichnete sich in Berlin ein gemeinsamer Musikkonsum von Adeligen und Bu¨rgern ab. Auch die ko¨nigliche Familie nahm an den Konzerten der Singakademie teil und erlebte beispielsweise die Wiederauffu¨hrung von Bachs Mattha¨uspassion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy und Carl Friedrich Zelter 1829. Die Tatsache, dass sich Adelige und Bu¨rger immer o¨fter im Konzert begegneten, sich in Gespra¨che u¨ber Sinfonien und Solokonzerte vertieften, zeigt, dass sich Berlin wenigstens in seiner kulturellen Praxis weiter als Wien o¨ffnete.42 Berlin hatte der musikalischen Reputation Wiens lange nichts Vergleichbares entgegenzustellen. Die Residenz der preußischen Ko¨nige hatte trotz ihrer großzu¨gigen Anlage bis zum zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts noch eher das Erscheinungsbild einer mittleren Garnisonsstadt. Felix Mendelssohn-Bartholdy entta¨uschte dieses Missverha¨ltnis zwischen politischen Repra¨sentationsversuchen und den mittelma¨ßigen kulturellen Leistungen – eine Einscha¨tzung, die hinsichtlich des Spielbetriebs der Hofoper und ihres Repertoires zutraf. „Aber da kommt ja schon wieder das Berliner Zwitterwesen; die großen Pla¨ne, die winzigen Ausfu¨hrungen [...] Das Wesentliche ist der Eindruck, den mir die Stadt macht, der ist durchaus ein unerfreulicher, erdru¨ckender und dennoch kleinsta¨dtischer. Es ist hier nicht deutsch und doch nicht ausla¨ndisch, nicht wohltuend und doch sehr gebildet, nicht lebhaft und doch sehr aufgereizt, ich muß an den Frosch denken, der sich aufblasen will, nur daß er hier nicht zerspringt, sondern am Ende wirklich ein Ochse werden wird – aber ich mag nicht blasen helfen.“43 Berlins musikalischer Ruf resultierte vor allem aus der baulichen und ku¨nstlerischen Wirkung seiner Oper. Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff hatte das Theater (1800 Pla¨tze nach dem Umbau 1844) auf Geheiß seines Ko¨nigs 1741–43 direkt im Zentrum Berlins errichtet. Die Berliner Hofoper war das erste bedeutende Theater u¨berhaupt, das als freistehendes Geba¨ude errichtet wurde. Damit wirkte es als ein fru¨hes Element der Urbanita¨t und verlieh dem anderweitig noch wenig konturierten Zentrum 42 Vgl. Christoph-Hellmut Mahling, Zum „Musikbetrieb“ Berlins und seinen Institutionen in der ers-

ten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts, in: Studien zur Musikgeschichte (wie Anm. 12), S. 27–123, Celia Applegate, Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the St. Matthew Passion, Ithaca, NY/London 2005, S. 10–44; Matthew Jefferies, Imperial Culture in Germany, 1871–1918, Houndmills/New York 2003, S. 9–41. 43 Diese Briefstellen Mendelssohns werden zitiert nach Rudolf Elvers, U ¨ ber das „Berlinsche Zwitterwesen“. Felix Mendelssohn Bartholdy in Briefen u¨ber Berlin, in: Berlin. Dein Spree-Athen. Beitra¨ge zu Literatur, Theater und Musik in Berlin, hg. v. Hellmut Ku¨hn, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 173–188, hier S. 178f., 182.

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der Stadt fortan sein Gesicht. Auch in Berlin war die Oper Staatsoper, die regierenden Monarchen von Friedrich II. bis Wilhelm II. finanzierten die Vorstellungen nicht nur aus dem laufenden Etat, sondern mischten sich oft direkt in die Gestaltung des Spielbetriebes ein. Erst nach dem Neubau des ko¨niglichen Schauspielhauses durch Friedrich Schinkel (1821) und der Ero¨ffnung privat betriebener Ha¨user, die eher komische Opern brachten, wie dem Ko¨nigsta¨dtischen Theater (1824) und dem Theater der Familie Kroll (1850), verfu¨gte die Spreemetropole u¨ber mehrere florierende Opernspielsta¨tten.44 Im Jahr 1872 hielt die Neue Berliner Musikzeitung u¨ber das kulturelle Wachstum der Stadt fest: „Berlin wird eben Weltstadt; die Veranstaltungen, welche zur Unterhaltung des Publikums getroffen werden, nehmen von Jahr zu Jahr gro¨ßere Dimensionen an.“45 Dagegen hatte Berlin bis zur Ero¨ffnung der Singakademie in direkter Nachbarschaft zur Hofoper im Jahre 1827 keinen eigenen Konzertsaal – in dieser Hinsicht war es Wien ganz a¨hnlich. Es war u¨blich, dass musikalische Veranstaltungen in Balloder Hotelsa¨len, wie in denen des „Hotel de Russie“ oder des „Stadt Paris“, gegeben wurden. Auch wenn die Eigeninitiative vieler privater Unternehmer das Berliner Konzertleben pra¨gte, bildeten die Konzerte der Ko¨niglichen Kapelle, zumal die Sinfonie-Soireen ab 1842, sein Ru¨ckgrat. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des musikalischen Angebotes und der Etablierung neuer Konzertserien (vor allem der Philharmoniker seit 1882), erhielt Berlin auch ada¨quate Auffu¨hrungsorte. Durch den Umbau einer ehemaligen Rollschuhbahn in Kreuzberg zur Philharmonie 1887/88 durch Franz Heinrich Schwechten verfu¨gte auch Berlin u¨ber ein Auditorium, das mit seinen u¨ber 1600 Pla¨tzen den Maßsta¨ben der großen europa¨ischen Metropolen genu¨gte. Berliner Konzertveranstalter orientierten sich nach 1850 versta¨rkt an den Neubauten in Paris und in London.46

London Großbritannien unterschied sich in seiner politischen und wirtschaftlichen Ordnung nachhaltig von den Bedingungen in der Habsburgermonarchie und in Preußen. Das politische System beruhte auf einer Allianz weniger hundert Familien, die sich im Unterhaus und im Oberhaus oft entlang der Parteilinien der liberalen Whigs und der konservativen Torys zu Bu¨ndnissen zusammenfanden. Der Stellenwert des britischen Unterhauses war allein daran zu erkennen, dass bu¨rgerliche und adelige Eliten gleichermaßen durch Wahlen ihre politische Macht erhielten und dass nicht der Mon¨ mter zu vergeben hatte. Wa¨hrend arch, sondern der Premierminister o¨ffentliche A

44 Vgl. neben Mahling, Musikbetrieb (wie Anm. 42), passim; ders., ‚Berlin Music in the Air‘, in: The

Early Romantic Era (wie Anm. 12), S. 109–140; Gerhard Walther, Das Berliner Theater in der Berliner Tagespresse 1848–1874, Berlin 1968, S. 377–409. 45 Neue Berliner Musikzeitung 26 (1872), S. 293. Vgl. Werner Bollert, Musikleben, in: Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans Herzfeld, Berlin 1968, S. 603–653. 46 Vgl. Ronald Taylor, Berlin and its Culture. A Historical Portrait, New Haven 1997, S. 68–76, 140–152; Ruth Freydank, Theater in Berlin. Von den Anfa¨ngen bis 1945, Berlin 1988, bes. S. 198–253.

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sich der Wiener Hof den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts oft verweigerte und Preußen immerhin die staatliche Verwaltung optimierte, zeichnete sich Großbritannien dadurch aus, dass es politisch, sozial und wirtschaftlich eine Fu¨hrungsposition in Europa besetzte – die ungeheuren sozialen Kosten der Industrialisierung mit eingerechnet. Die o¨ffentlichen Empfa¨nge und die kulturellen Veranstaltungen in London dominierte der Hochadel (nobility) zu Lasten des niederen Adels bzw. des Landadels (gentry). Die gentry hatten es aus Gru¨nden der ra¨umlichen Entfernung und ihrer beschra¨nkten finanziellen Mittel weit schwerer, die musikalische Saison in der Hauptstadt zu besuchen. In dieser Hinsicht galten in London die gleichen Rahmenbedingungen wie in Wien und in Berlin. Um den gesellschaftlichen Rang innerhalb der aristokratischen Elite zu erhalten oder auszubauen, kam es darauf an, die Opernauffu¨hrungen wa¨hrend der Spielzeit zwischen Ma¨rz und Juli zu besuchen. Ein zentraler Unterschied zwischen London und den u¨brigen Metropolen bestand aber in der Organisation des Opernhauses selbst. In Wien und Berlin beherrschten die Hoftheater den Spielplan und das Gesellschaftsleben. In London gab es diese Institution nicht und freie Unternehmer warben mit ihren Ha¨usern um die Gunst des Publikums. Durch die fehlenden staatlichen Subventionen war in London ein eigensta¨ndig erwirtschafteter Umsatz viel wichtiger.47 Die britische Aristokratie besuchte bis 1860 bevorzugt Her Majesty’s Theatre (bis 1840 hieß das Haus King’s Theatre). Denn dieses war seit Jahrzehnten etabliert, bot beru¨hmte Sa¨nger und verlangte die ho¨chsten Eintrittspreise. Gebildete und wohlhabende Musikliebhaber aus der middle class, aber auch Teile der gentry, tendierten zum Royal Italian Opera House in Covent Garden. Denn dieses war preiswerter, bot ein breites Repertoire an und richtete sich dadurch seit den 1840er Jahren als ein innovatives Konkurrenzunternehmen ein. Die fehlende Quellenlage ermo¨glicht es nicht, die genaue Zusammensetzung des Bu¨rgertums nach Berufsgruppen in beiden Ha¨usern zu klassifizieren. Allerdings geben die Besucherlisten der Presse einen Einblick in die Anzahl, den Titel, die regionale Herkunft und die familia¨re Zusammensetzung der Adeligen. Die Bilanz ist wenig u¨berraschend. Das King’s Theatre und Her Majesty’s Theatre besuchten die etablierten peers und die fu¨hrenden adeligen Familien. Ko¨nig Georg IV. ging regelma¨ßig in diese Oper – begleitet von seinem Hofstaat und wa¨hrend der Auffu¨hrung ein opulentes Buffet genießend. Ko¨nig Wilhelm IV. machte sich wenig aus musikalischen Auffu¨hrungen, doch seine Nachfolgerin Ko¨nigin Victoria konnte von o¨ffentlich aufgefu¨hrter Kunstmusik kaum genug bekommen. Gemeinsam mit Prinzgemahl Albert ging sie beinahe wo¨chentlich in die Oper: 1847 beispielsweise erlebte sie 27 Vorstellungen in Her Majesty’s Theatre und neun in Covent Garden.48

47 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts (wie Anm. 6), S. 12–22, 149–172; Norman McCord, British His-

tory 1815–1906, Oxford 1991, S. 90–102; Walter, Oper (wie Anm. 25), S. 71–109. 48 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts (wie Anm. 6), S. 112–122, 180–186; McCord, History (wie

Anm. 47), S. 89f., 145f.

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Etwa bis 1840 waren die Konflikte zwischen Adeligen und Bu¨rgern im Londoner Musikleben weniger auffa¨llig, als die Abgrenzungsversuche innerhalb der adeli¨ rzte, Rechtsanwa¨lte und Verwaltungsfachgen und bu¨rgerlichen Besuchergruppen. A leute, nicht aber das Wirtschaftsbu¨rgertum gru¨ndete neue Konzertreihen, um ehemals private Auffu¨hrungen von Kunstmusik so in den o¨ffentlichen Raum zu u¨berfu¨hren. Ohne die bestehenden musikalischen Institutionen erweiterten sie in eigener Verantwortung die musikalische Praxis. Auffa¨llig war die Neugru¨ndung der „Royal Philharmonic Society“ 1813, einer Konzertreihe, welche nicht nur die neuen musikalischen Ideale der middle class (Sinfonien, Solokonzerte) befriedigte, sondern auch den a¨sthetischen Konservatismus (Barock, Chormusik) der aristokratisch dominierten „Ancient Concerts“ vorfu¨hrte.49 Ganz auf der Ho¨he der o¨konomischen Stellung Großbritanniens u¨bte das Londoner Musikleben eine starke Anziehungskraft auf die Ku¨nstler in Europa aus. Der Londoner Musikbetrieb konnte sich im Hinblick auf Sa¨nger, Dirigenten, Ensembles und Produktionen erlauben einzukaufen, was gut und teuer war. Tatsa¨chlich gab das Publikum nirgendwo so viel Geld fu¨r Musik aus, und nirgendwo ließ sich mit Musik so viel Geld verdienen – und verlieren. Im so genannten Westend der Metropole, in der Na¨he zum Machtzentrum von St. James, warben allein vier Opernha¨user um die Gunst des zahlungskra¨ftigen Publikums. Urspru¨nglich besaß nur das King’s Theatre am Haymarket die Lizenz zur Auffu¨hrung der prestigetra¨chtigen italienischen Opern. In den u¨brigen Ha¨usern gab es entweder Sprechtheater oder englischsprachige Opern. Die letzten staatlichen Beschra¨nkungen fielen mit dem Theatre Act 1843; nun durften auch Covent Garden und Drury Lane italienische Opern, Her Majesty’s Theatre englischsprachige Werke geben. Fortan lieferten sich die beiden fu¨hrenden Londoner Spielsta¨tten – das Her Majesty’s Theatre und das Royal Italian Opera House Covent Garden – einen erbitterten und ruino¨sen Kampf um die Zuschauer der Londoner Elite, den schließlich das letztere Haus fu¨r sich entschied. Doch auch im English Opera House und dem Drury Lane Theatre versuchten Impresari immer wieder, das Opernpublikum zu begeistern. Die Tatsache, dass der Opernbetrieb im Unterschied zu Wien und Berlin ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen blieb, bedeutete, dass Londoner Bu¨hnen weder die Vorzu¨ge noch die Nachteile ho¨fischer Patronage erfuhren.50 Auch die einzigartige Vielfalt des Londoner Konzertlebens reflektierte den wachsenden Unterhaltungsbedarf einer zu ungekanntem Reichtum gekommenen sta¨dtischen Elite. Wie in Wien formierten sich auch in London zuna¨chst private Vereine, deren Orchester aus adeligen bzw. bu¨rgerlichen Amateuren bestanden und fu¨r

49 Vgl. Simon Gunn, The public culture of the Victorian middle class. Ritual and authority in the Eng-

lish industrial city 1840–1914, Manchester 2000, S. 134–162, und insges. die Biographie des zwischen Deutschland und England pendelnden Konzertunternehmers und Dirigenten Carl Halle: Ann Kersting, Carl Halle – Sir Charles Halle´. Ein europa¨ischer Musiker, Hagen 1986. 50 Vgl. Joel Sachs, London, the Professionalization of Music, in: The Early Romantic Era (wie Anm. 12), S. 201–235; Hall-Witt, Fashionable Acts (wie Anm. 6), S. 146–184.

Das Publikum als Metropole

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o¨ffentliche Auffu¨hrungen um wenige Berufsmusiker erga¨nzt wurden. Vor der Gru¨ndung der „Royal Philharmonic Society“ im Jahre 1813 existierte hier kein permanent etabliertes Sinfonieorchester. Diese Konzerte fanden in den Argyll Rooms an John Nashs prestigetra¨chtiger Regent Street statt – mithin in der architektonischen Umgebung eines repra¨sentativen Boulevards. Nach dem Brand der Argyll Rooms 1830 verlagerte sich diese Konzertserie versta¨rkt in die Hanover Square Rooms. Die von der Aristokratie frequentierten „Ancient Concerts“ hatten ihre Spielsta¨tte in der Tottenham Street, gelegentlich auch im Konzertsaal des Her Majesty’s Theatre. Nach heutigen Maßsta¨ben waren im fru¨hen 19. Jahrhundert alle diese Orte Kammermusiksa¨le die lediglich 300 (Argyll Rooms), 500 (Hanover Square Rooms) bzw. 800 (Konzertsaal im Her Majesty’s Theatre) Personen fassten. In London – und auch in Paris – waren Konzertsa¨le zuna¨chst viel kleiner als die bis zu 2000 Zuschauer fassenden Opernha¨user. Bereits die Abmessungen der Bauwerke fu¨r Musik zeigten ihren sozialen Stellenwert.51

Vergleichende Beobachtung Die europa¨ischen Metropolen zeichneten sich nicht allein durch die Zunahme an Spielsta¨tten und durch eine vergleichbare Ausdifferenzierung der musikalischen Genres aus. Der wachsende Stellenwert des Musiklebens ist auch durch den Transfer von Gattungen und Kompositionen, von Musikern und Geschmacksregeln in ganz Europa zu verstehen – jenseits der Spezifika einzelner La¨nder. Franz Joseph Haydns Aufenthalt in London 1791/92 ist ein aussagekra¨ftiges Beispiel dafu¨r, dass die Beobachtung und die Bewertung des Musikkonsums in einer Metropole eine Vorbildfunktion erfu¨llen konnte und mittelfristig zur Nachahmung in vielen Sta¨dten taugte. Haydn freute sich in seinen eigenen Sinfoniekonzerten u¨ber die Pra¨senz und die humorvolle Teilhabe des Londoner Publikums. Kunstmusik entstand fu¨r Haydn vor allem durch begeisterungsfa¨hige Ho¨rer. Zum einen achtete Haydn in seinen Kompositionen sorgfa¨ltig darauf, den selbstbewussten Geschmack des Londoner Publikums zu befriedigen. Zum anderen klagte er u¨ber die Defizite der musikalischen Unterhaltung in Wien. An der Wende zum 19. Jahrhundert glaubte Haydn, dass die Musikfreunde auf dem Kontinent vieles durch den innovativen Musikkonsum der Briten zu erlernen ha¨tten.52 Die Ausweitung des Musiklebens in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts war Teil der massiven Erho¨hung der Anzahl der Konzertserien und der Vergro¨ßerung der Konzertsa¨le. Zwischen der Saison 1826/27 und 1846/47 verdreifachte sich die Anzahl

51 Vgl. Forsyth, Bauwerke (wie Anm. 19), und u¨ber Paris: Gesa zur Nieden, Vom Grand Spectacle zur

Great Season. Das Pariser The´aˆtre du Chaˆtelet als Raum musikalischer Produktion und Rezeption (1862–1914), Wien/Mu¨nchen 2010. 52 Vgl. Thomas Tolley, Comic Readings and Tragic Readings: Haydn’s Observations on London Audience Responses in 1791, in: Studia Musicologica 51 (2010), S. 153–178; Julian Rushton, Introduction. Learning in London, Learning from London, in: Nineteenth-Century British Music Studies, Bd. 3, hg. v. Bennett Zon, Aldershot 1999, S. xv–xxiii.

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der Konzerte in London, und in Paris verfu¨nffachte sie sich.53 Den steigenden Bedarf an Konzertsa¨len fu¨r breitere Ho¨rerschichten befriedigten in der zweiten Jahrhundertha¨lfte die St. James’s Hall (1856), die 2500 Zuho¨rern Platz bot, und die gewaltige Royal Albert Hall (1871), die sogar 8000 Menschen fasste. Am Ende des Jahrhunderts besuchten u¨ber 10 000 Besucher wo¨chentlich die großen Konzerte in London, und selbst in Sta¨dten mittlerer musikalischer Bedeutung wie Manchester etablierten sich neue Konzertserien.54 Keine Stadt in den deutschen Staaten, respektive im Deutschen Kaiserreich, konnte mit London darin konkurrieren. Entsprechend fiel die staunende Bewunderung reisender Deutscher aus. Exemplarisch fu¨r die London-Begeisterung deutscher Musiker und Journalisten war Eduard Hanslick. Nur noch in Superlativen schwa¨rmte er vom gro¨ßten Konzertsaal der Welt, der Royal Albert Hall. „Die grandiose Albert Hall steht auf der Stelle des Weltausstellungsgeba¨udes von 1862 und wurde im Ma¨rz 1871 von der Ko¨nigin perso¨nlich ero¨ffnet. [...] Zwo¨lftausend Personen haben darin Platz, nicht etwa gedra¨ngt, sondern auf bequemen, von allen Seiten amphitheatralisch aufsteigenden Sitzen, zu welchen 26 verschiedene Einga¨nge fu¨hren, nebst einem zu den obersten Pla¨tzen emporragenden Ascenseur, der fortwa¨hrend funktionirt. Und dieser unabsehbare Raum soll hinreichend gefu¨llt, ja ausverkauft sein in einem Concert? Ich habe das Unglaubliche selbst gesehen und kann mir nichts Imposanteres [...] denken.“55

Resume´e

Eine Geschichte Europas kommt ohne die Geschichte der Musikrezeption nicht aus. Der Stellenwert der Musik in der europa¨ischen Kulturgeschichte macht ihre Aneignung und Bewertung zu einem Schlu¨sselthema. Der Blick auf musikalische Auffu¨hrungsorte in den Metropolen des 19. Jahrhunderts offenbart zwei Perspektiven, die einander aber nicht widersprechen. Auf der einen Seite sind zentrale gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte im europa¨ischen Musikleben deutlich zu erkennen. Der Umgang der Eliten miteinander im Opernhaus und im Konzertsaal la¨sst nicht nur Besonderheiten in Berlin, in London und in Wien erkennen, sondern auch manche sozialen und o¨konomischen Differenzen. Auf der anderen Seite aber ist die vergesellschaftende Wirkung in allen Spielsta¨tten nicht zu unterscha¨tzen. Beachtens¨ bereinstimmungen in den drei Metropolen durch die wert sind wichtige kulturelle U 53 Weber, Music (wie Anm. 14), 19f. 54 Vgl. McVeigh, Concert Life (wie Anm. 33), bes. S. 53–69; Cyril Ehrlich, First Philharmonic. A His-

tory of the Royal Philharmonic Society, Oxford 1995; Leanne Langley, Building an Orchestra, Creating an Audience: Robert Newman and the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1926, in: The Proms: a New History, hg. v. Jenny Doctor, London 2007, S. 159–228. 55 Hanslick, Skizzenbuch (wie Anm. 11), S. 269, 278.

Das Publikum als Metropole

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Entstehung neuer Institutionen, eines sich vera¨ndernden Geschmacks und der musikalischen Praxis.56 Der regelma¨ßige Umgang mit der Kunstmusik in o¨ffentlichen Treffpunkten erschuf und versta¨rkte die Kommunikation der Eliten. Nicht die relative soziale Homogenita¨t des Opern- und Konzertpublikums, sondern die Tatsache ihrer permanenten Auseinandersetzung im Auditorium stimulierte somit kulturelle Angleichungsprozesse im Europa des 19. Jahrhunderts. Musikalische Auffu¨hrungen beschleunigten die Ausbildung vernetzter Kommunikationsgemeinschaften in den großen Sta¨dten. Das gemeinsame Erlebnis der Musik bildete damit materielle und immaterielle Kristallisationspunkte kultureller Konventionen in Europa.

56 Vgl. Christoph Charle, Introduction. Pour une histoire culturelle et symbolique des capitales

europe´ennes, in: Capitales culturelles (wie Anm. 17), S. 9–22; ders., Opera and France, 1870–1914: between nationalism and foreign imports, in: Opera and Society in Italy and France from Monteverdi to Bourdieu, hg. v. Victoria Johnson/Jane F. Fulcher/Thomas Ertman, Cambridge 2007, S. 243–266; Johann Hu¨ttner, Vorstadttheater am Weg zur Unterhaltungsindustrie. Produktions- und Konsumverhalten im Umgang mit dem Fremden, in: Exotica. Inszenierung und Konsum des Fremden im 19. Jahrhundert, hg. v. Hans-Peter Bayerdo¨rfer/Eckhart Hellmuth, Mu¨nster 2003, S. 81–102.

KIEZ UND KNEIPE Gastgewerbe und Vergnu¨gungskultur im Berliner Osten um 1900 von Johanna Niedbalski und Hanno Hochmuth

Wer sich vor hundert Jahren in Berlin amu¨sieren wollte, musste hierfu¨r nicht unbedingt in die Friedrichstraße fahren. Auch abseits der einschla¨gigen Vergnu¨gungsviertel in der Innenstadt gab es ein vielfa¨ltiges Unterhaltungsangebot, das sich direkt vor Ort an die Bewohner der kleinbu¨rgerlich-proletarischen Viertel richtete. Dieses „Kiezvergnu¨gen“1 war ein wesentlicher Bestandteil der Metropolenkultur wa¨hrend der „langen Jahrhundertwende“2 von der Gru¨nderzeit bis in die Weimarer Republik. Es pra¨gte die Freizeitgestaltung und das Versta¨ndnis von Unterhaltung und Kultur einer Mehrheit der Berliner Bevo¨lkerung. So wie das Leben im Kiez war auch die Vergnu¨gungskultur nicht allein von großsta¨dtischer Anonymita¨t gekennzeichnet. Ein Großteil der Vergnu¨gungseinrichtungen in den Quartieren der einfachen Leute besaß einen nachbarschaftlich-familia¨ren Charakter und orientierte sich deutlich an den Vorlieben und Bedu¨rfnissen des lokalen Publikums im jeweiligen Kiez.3 Dabei gab es zum einen Vergnu¨gungsorte, die das gesamte soziale Spektrum der Bewohner des jeweiligen Kiezes in seiner sozialen Heterogenita¨t repra¨sentierten. Insbesondere Großkinos und Variete´s waren Orte der sozialen Begegnung und damit Orte eines lokalen, schichtenu¨bergreifenden Massenvergnu¨gens. Zum anderen geho¨rten zum Kiezvergnu¨gen auch Vergnu¨gungssta¨tten, die die sozialen Unterschiede abbildeten und reproduzierten. Hierzu geho¨rten die meisten Kneipen und Flohkinos im Kiez. An diesen Vergnu¨gungsorten blieben die einzelnen Schichten weitgehend unter sich, wobei sich die sozialen Unterschiede der Besucher auch auf

1 Zum Kiezvergnu¨gen vgl. Hanno Hochmuth/Johanna Niedbalski, Kiezvergnu¨gen in der Metro-

pole. Zur sozialen Topographie des Vergnu¨gens im Berliner Osten, in: Die tausend Freuden der Metropole. Vergnu¨gungskultur um 1900, hg. v. Tobias Becker/Anna Littmann/Johanna Niedbalski (1800 | 2000. Kulturgeschichte der Moderne 6), Bielefeld 2011, S. 105–136. 2 Vgl. Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., hg. v. August Nitschke u. a., Reinbek bei Hamburg 1990; Paul Nolte, 1900. Das Ende des 19. Jahrhunderts und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 281–300. 3 Im Gegensatz zu „Quartier“ oder „Viertel“ ist der Begriff „Kiez“ eine nordostdeutsche, vor allem eine Berliner Besonderheit. Wir verwenden diesen Begriff bevorzugt, da er in besonderem Maße auch die nachbarschaftliche Dimension zum Ausdruck bringt und u¨berdies im norddeutschen Raum auch synonym fu¨r Vergnu¨gungsviertel steht.

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Johanna Niedbalski und Hanno Hochmuth

die Rezeptionshaltung und die Aneignungsformen des jeweiligen Vergnu¨gens auswirken konnten. Beide Tendenzen, sowohl die soziale Inklusion durch das lokale Massenvergnu¨gen als auch die soziale Segregation der Bevo¨lkerung an den Vergnu¨gungsorten, existierten in den Berliner Mietskasernenvierteln bis in die 1930er Jahre hinein parallel und zeitgleich.4 Als Teil des Metropolenvergnu¨gens5 um 1900 umfasste das Kiezvergnu¨gen auf lokaler Ebene ein ausgesprochen differenziertes Angebot verschiedener Vergnu¨gungen. Hierzu geho¨rten Restaurants, Cafe´s und Kneipen, Tanzlokale und Bierga¨rten, Kinos und Theater, Variete´s und Konzerte, Zirkusse und Rummelpla¨tze, Straßenumzu¨ge und Hoffeste, Vereins- und Familienfeiern sowie seit Mitte der 1920er Jahre das Radio. Die Mehrzahl dieser Vergnu¨gungen war gekennzeichnet durch eine kommerzielle Ausrichtung und eine starke Multifunktionalita¨t. Charakteristisch hierfu¨r war das Gastgewerbe im Kiez, dessen soziales Profil und vielfa¨ltige Nutzung wir im Folgenden na¨her untersuchen mo¨chten, indem wir den Blick gezielt auf einige typische Einrichtungen wie 1.) Kneipen, 2.) Festsa¨le und 3.) Sommerga¨rten richten. Diese Vergnu¨gungsorte bildeten einen zentralen Bestandteil eines urbanen Kiezvergnu¨gens, das es um 1900 in a¨hnlicher Form in vielen Großstadtquartieren gab. Wa¨hrend die Kneipenkultur anderer Viertel jedoch nur sehr bruchstu¨ckhaft u¨berliefert ist und kaum erforscht wurde, ist das Gastgewerbe des Stralauer Viertels im alten Berliner Osten besonders gut dokumentiert. Das liegt vor allem an den zeitgeno¨ssischen Untersuchungen der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ (SAG), die 1911 von dem evangelischen Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969) gegru¨ndet wurde und mit ihren ethnographischen Studien einen einzigartigen Quellenfundus zur Alltagsgeschichte des Berliner Ostens hinterließ.6 Ziel der SAG war es, christlich-evangelikale Maßsta¨be des Zusammenlebens zu verbreiten und die ungebildeten Arbeiterinnen und Arbeiter des Berliner Ostens zu kultivieren, indem vor allem den jugendlichen proletarischen Bewohnern Angebote gemacht wurden, die ein sittliches Gemeinschaftsleben erlaubten. Um die jungen Proletarier erfolgreich abwerben zu ko¨nnen, ließ sich die SAG direkt vor Ort nieder und erkundete das Leben im Stralauer Viertel.7 Hierfu¨r wurden mehrere Kommissionen gebildet, die sich jeweils mit wichtigen Lebensbereichen der ansa¨ssigen Bevo¨lkerung befassten. 4 Vgl. Hochmuth/Niedbalski, Kiezvergnu¨gen (wie Anm. 1). 5 Vgl. Tobias Becker/Johanna Niedbalski, Die Metropole der tausend Freuden. Stadt und Vergnu¨-

gungskultur um 1900, in: Die tausend Freuden der Metropole (wie Anm. 1), S. 7–20. 6 Zur SAG vgl. v. a. Jens Wietschorke, Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin 1911–1933,

Frankfurt a. M. 2013; ‚Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land‘. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, hg. v. Rolf Lindner, Berlin 1997; Rolf Lindner, Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 97–111; Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969). Begleitbuch zu einer Ausstellung des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin anla¨ßlich seines 100. Geburtstags, bearb. v. Christa Stache, Berlin 1985. 7 Vergleichbare ‚Settlements‘ waren um 1900 auch in den Industriesta¨dten Großbritanniens und der USA verbreitet und bildeten einen Versuch, die ra¨umliche Segregation zu u¨berwinden, durch Bildungsarbeit soziale Spannungen abzubauen und den Klassenkampf durch praktische Na¨chstenliebe zu u¨berwinden. Eine wichtige Strategie hierbei bildete das ‚Slumming‘, das gezielte Verkleiden, um derart getarnt in die sozialen ‚Tiefen‘ der Stadt absteigen zu ko¨nnen. Vgl. Seth Koven, Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton/London 2004.

Kiez und Kneipe

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Einen bemerkenswerten Einblick in das damalige Gastgewerbe gewa¨hren die detaillierten Kneipenenqueten und die Kinostudien der SAG-Vergnu¨gungskommission,8 die im Folgenden um zeitgeno¨ssische Adressbucheintra¨ge, Polizeiakten, Zeitungsartikel, Postkarten und Ego-Dokumente erga¨nzt werden. Dabei ist eine doppelte Fremdheitserfahrung in Rechnung zu stellen. Zum einen war bereits der Blick der u¨berwiegend bu¨rgerlichen Beobachter von einer ebenso kulturkritischen wie paternalistischen und exotisierenden Perspektive auf die sta¨dtischen Unterschichten des Berliner Ostens gepra¨gt.9 Zum anderen ist seit den Zersto¨rungen im Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Fla¨chensanierung nicht nur das alte Stralauer Viertel verschwunden, sondern mit ihm auch das damalige Kiezvergnu¨gen. Dessen Rekonstruktion kommt daher einer Archa¨ologie einer la¨ngst vergangenen Vergnu¨gungskultur gleich, die heute andere Orte und Formen gefunden hat.10

I. Die Kneipen des Stralauer Viertels

Zahllose Eckkneipen und andere gastronomische Einrichtungen pra¨gten das Berliner Stadtbild um die Jahrhundertwende.11 Dies galt insbesondere fu¨r die Mietskasernenviertel im kleinbu¨rgerlich-proletarischen Berliner Osten. Hierzu geho¨rte auch das Stralauer Viertel. Der Stadtteil zwischen der Großen Frankfurter Straße und dem Schlesischen Bahnhof hatte sich seit den 1860er Jahren zu dem am dichtesten bevo¨lkerten Gebiet Berlins entwickelt.12 1920 ging das Stralauer Viertel weitgehend im neu gebildeten Bezirk Friedrichshain auf. Hier lebten auf einer Fla¨che von etwas weniger als 10 km2 etwa 330 000 Menschen.13 Die meisten Bewohner des Ostens waren nicht in Berlin geboren; und wer es sich leisten konnte, zog bald weiter Richtung Westen. Dem Stralauer Viertel hing der Ruf an, das Zentrum der Berliner Unterwelt zu sein, in

8 Die Kneipenenqueten der SAG geho¨ren zum Nachlass von Friedrich Siegmund-Schultze und befinden

sich heute im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin (im Folgenden EZA) 626/II 29/7.

9 Zu quellenkritischen Fragen vgl. Hochmuth/Niedbalski, Kiezvergnu¨gen (wie Anm. 1), hier S. 109;

sowie aus wissenschaftshistorischer Perspektive: Jens Wietschorke, Stadt- und Sozialforschung in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, in: Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969). Ein Leben fu¨r Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit, hg. v. Heinz-Elmar Tenorth u. a., Stuttgart 2007, S. 51–67. 10 Vgl. Hanno Hochmuth, Vergnu¨gen in der Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), Heft 1–3, S. 33–38. 11 In Berlin kamen 1905 auf 100 Familien ungefa¨hr vier Kneipen. Auf eine „Gast- und Schankwirtschaft“ entfielen 129 Einwohner. Vgl. Manfred Hu¨bner, Zwischen Alkohol und Abstinenz. Trinksitten und Alkoholfrage im deutschen Proletariat bis 1914, Berlin 1988, S. 108f. 12 Vgl. Wanja Abramowski, Siedlungsgeschichte des Bezirks Friedrichshain von Berlin bis 1920, Berlin 2000; zur Geschichte des Berliner Ostens immer noch sehr informativ: Willy Gensch/Hans Liesigk/ Hans Michaelis, Der Berliner Osten, Berlin 1930. 13 Vgl. Berliner Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg, hg. v. Hans-Ju¨rgen Mende/Kurt Wernicke, Berlin 2003, S. 46.

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dem kriminelle Ringvereine mehr zu sagen ha¨tten als die Polizei.14 Und doch war das Viertel zugleich ein normaler Wohnbezirk, der nicht nur von großsta¨dtischer Anonymita¨t und fortlaufendem Bevo¨lkerungsaustausch, sondern auch von einer nachbarschaftlichen Kiezstruktur gepra¨gt war. Hierzu geho¨rten das Alltagsleben der einfachen Bevo¨lkerung, aber auch Kriminalita¨t und Alkoholsucht. An der Schnittstelle dieser Spha¨ren befanden sich die zahlreichen Kneipen des Stralauer Viertels. Allein auf der knapp einen Kilometer langen Fruchtstraße 15, die in nord-su¨dlicher Richtung von der Großen Frankfurter Straße bis hinunter zur Spree verlief, gab es nicht weniger als 32 Lokale. Sie befanden sich zumeist im Erdgeschoss gru¨nderzeitlicher Mietskasernen, die in den 1870er Jahren errichtet worden waren, einen sehr einfachen Standard aufwiesen und tiefe Hinterho¨fe mit kleinen Stube- und Ku¨che-Wohnungen und zahlreichen Gewerbebetrieben besaßen.16 Die Fruchtstraße war somit ein typisches Beispiel fu¨r das „steinerne Berlin“.17 Die Kneipen der Fruchtstraße sind besonders gut dokumentiert, weil im Winter 1924/25 proletarisch verkleidete Studenten im Auftrag der SAG nacheinander jedes Lokal aufsuchten und ihre Eindru¨cke in Notizen festhielten.18 Anschließend werteten sie ihre Beobachtungen statistisch aus und kartierten die Straße genau.19 Die Berichte enthalten neben Angaben zur Gro¨ße der Kneipe, zur jeweiligen Biermarke und zum Preis der alkoholfreien Getra¨nke auch Notizen zur Art des Lokals und den jeweiligen Besuchern.20 Aufschlussreich sind vor allem die Hinweise zur sozialen

14 Der Postzustellbezirk O 17, zu dem ein Großteil des Stralauer Viertels geho¨rte, stand auch als Chif-

fre fu¨r das ‚Dunkle Berlin‘. Vgl. Jan Feustel, Raub und Mord im Kiez. Historische Friedrichshainer Kriminalfa¨lle, Begleitmaterial zur Ausstellung im Heimatmuseum Friedrichshain, Berlin 1996. 15 Heute wird die Straße der Pariser Kommune, wie die Fruchtstraße seit 1971 heißt, von vielgeschossigen Plattenbauten aus DDR-Zeiten dominiert. Nur am nordwestlichen Ende haben einige Altbauten den Zweiten Weltkrieg und die Fla¨chensanierung u¨berdauert und erinnern vage an die Zeit, in der fast die ganze Straße mit insgesamt 73 fu¨nfsto¨ckigen Mietskasernen bebaut war. 16 Zur alten Fruchtstraße siehe v. a. Annett Gro ¨ schner/Arwed Messmer, Berlin, Fruchtstraße am 27. Ma¨rz 1952, Ostfildern 2012. 17 Klassisch hierzu: Werner Hegemann, 1930 – Das steinerne Berlin. Geschichte der gro¨ßten Mietskasernenstadt der Welt, Braunschweig 1992. 18 Zum Hintergrund der SAG-Kneipenstudien siehe genauer: Hochmuth/Niedbalski, Kiezvergnu¨gen (wie Anm. 1), S. 112f. 19 Dabei hatten sie sich als einfache Arbeiter verkleidet, was um 1900 eine weit verbreitete Methode war, um unauffa¨llig in die fremde Welt der Anderen (meist der Armen) einzudringen. Hans Ostwald fu¨hrte etwa bei seinen Wanderungen mehrere Kostu¨me mit sich, um sich je nach Anlass maskieren zu ko¨nnen. Ralf Thies, Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die ‚Großstadt-Dokumente‘ (1904–1908), Ko¨ln/Weimar/Wien 2006, S. 49. Vgl. auch Rolf Lindner, „Ganz Unten. Ein Kapitel aus der Geschichte der Stadtforschung“, in: Ganz Unten. Die Entdeckung des Elends Wien, Berlin, London, Paris, New York, Ausstellungskatalog der gleichnamigen Ausstellung, Wien Museum Karlsplatz vom 14. 6. – 28. 10. 2007, hg. v. Werner Michael Schwartz/Margarethe Szeless/Lisa Wo¨genstein, Wien 2007, S. 19–25. 20 Beide Studien zur Fruchtstraße in: EZA 626/II 29,7. Leider entha¨lt nur eine der beiden Kneipenstudien zur Fruchtstraße na¨here Angaben zum Gegenstand der Untersuchung und zum Verfasser: ¨ bersicht u¨ber die Kneipen der FruchtEZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925. Eine U straße, Madaistraße und der Straße „Am Schles. Bahnhof“ mit Plan, Beschreibung und Statistik von Hans Ru¨cker, stud. theol., Heilbron a. N.

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Zusammensetzung der Ga¨ste.21 In acht von insgesamt 16 na¨her klassifizierten Lokalen verkehrten demzufolge ausschließlich Proletarier bzw. Erwerbslose. Demgegenu¨ber wurden nur zwei Lokale als dezidiert bu¨rgerlich charakterisiert. Am bemerkenswertesten ist schließlich die Zahl von sechs Lokalen, die sowohl von Mittelsta¨ndlern als auch von Proletariern besucht wurden. Diese soziale Mischung entsprach genau dem Sozialprofil der Fruchtstraße, das sich durch die Analyse der Berufsangaben in den Berliner Adressbu¨chern rekonstruieren la¨sst.22 Demnach stellten Arbeiterhaushalte mit 55,4 Prozent den gro¨ßten Anteil. Beamte und Angestellte machten 27 Prozent der Bewohner aus, wa¨hrend Selbsta¨ndige auf 15,2 Prozent kamen.23 Damit repra¨sentierte die Fruchtstraße sehr genau das kleinbu¨rgerlich-proletarische Sozialprofil des gesamten Bezirks Friedrichshain.24 Im Vergleich mit den westlichen Bezirken besta¨tigt sich hier das Bild einer stark segregierten Reichshauptstadt, in der Klassenunterschiede manifeste ra¨umliche Gestalt annahmen.25 In der Nahsicht widersprechen die Zahlen dagegen dem Bild von Friedrichshain als einem reinen Arbeiterbezirk. Der Osten Berlins wies durchaus eine soziale Mischung auf, die allerdings vor allem untere und mittlere Schichten umfasste. Vom Lokaltypus her lassen sich die untersuchten Kneipen nicht eindeutig einer sozialen Schicht zuordnen. Beim ha¨ufigsten Lokaltypus, den so genannten „Restaurants und Fru¨hstu¨cksstuben“, handelte es sich sowohl um reine Proletarierkneipen als auch um solche mit einem gemischten Publikum. Dasselbe galt auch fu¨r die acht „Groß-Destillationen“, die sich weder in ihrem Sortiment noch in ihrer Kapazita¨t von den gewo¨hnlichen Kneipen unterschieden. Lediglich die beiden bu¨rgerlichen Lokale, die jeweils in exponierter Lage in Eckha¨usern am Ku¨striner Platz beziehungsweise an der Mu¨hlenstraße lagen, wiesen als „Restaurant-Casino mit Billard“ beziehungsweise als „Restaurant, Bier- und Weinstube“ einen besonderen Charakter auf. Ihr Besuch diente auch der sozialen Distinktion, wa¨hrend andere Kneipen sozial sta¨rker durchmischt waren. 21 Die Studenten der SAG-Vergnu¨gungskommission trafen ihre Urteile zum Sozialprofil der jeweiligen

Vergnu¨gungsorte aus bildungsbu¨rgerlicher Perspektive gewissermaßen von oben herab. Umso mehr muss daher erstaunen, dass die Studenten nicht alle inneren Differenzen nivellierten, die sie im Berliner Osten vorfanden, sondern diese vielmehr systematisch festhielten. Auf diese Weise hinterließ die SAG ein ernst zu nehmendes und differenziertes Bild von der sozialen Mischung und Segregation der Bevo¨lkerung der Fruchtstraße und der dortigen Kneipen. 22 http://adressbuch.zlb.de. Hierbei enthielten nur 1092 der insgesamt 1327 ausgewiesenen Mietparteien eine Berufsangabe, wobei es sich allerdings um Selbstangaben der Bewohner handelte. Fu¨r die aufwa¨ndige Auswertung der Adressbucheintra¨ge der Fruchtstraße sei Frederick Jenkins herzlich gedankt. 23 Zu den ha¨ufigsten Berufen in der Fruchtstraße geho¨rten (ungelernte) Arbeiter und Arbeiterinnen (153), Kaufma¨nner/kaufma¨nnische Angestellte (66), Tischler (41), Na¨herinnen (39), Postbeamte (30) und schließlich die Gastwirte selbst (22). Die gro¨ßte Gruppe markierten allerdings die 176 Witwen ohne Berufsangabe, die das Berliner Adressbuch sieben Jahre nach dem Ersten Weltkrieg fu¨r die Fruchtstraße ausweist. 24 Vgl. Berthold Grzywatz, Arbeit und Bevo¨lkerung im Berlin der Weimarer Zeit. Eine historisch-statistische Untersuchung (Einzelvero¨ffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 63), Berlin 1988, S. 356. 25 Vgl. Hartmut Ha¨ussermann/Andreas Kapphan, Berlin. Von der geteilten Stadt zur gespaltenen Stadt? Sozialra¨umlicher Wandel seit 1990, Opladen 2000, S. 35.

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Ha¨ufig trugen die Kneipen den Namen der Biermarke, die jeweils exklusiv ausgeschenkt wurde. Dies diente der Werbung fu¨r das jeweilige Produkt, verdeutlichte aber auch die Abha¨ngigkeit der Wirte von den Berliner Großbrauereien, denn diese stellten in der Regel das gesamte Mobiliar sowie die kostspielige Zapfanlage.26 Obwohl die Wirte ha¨ufig wechselten, blieben die Kneipen meist bestehen. Lediglich wa¨hrend des Ersten Weltkriegs schloss ein großer Teil der Kneipen des Stralauer Viertels und das Mobiliar wurde in den Großbrauereien eingelagert. Doch wa¨hrend die großen Bierpala¨ste den Krieg und die Inflationszeit nicht u¨berstanden und großen Bu¨roha¨usern wichen, erholten sich die kleineren Kneipen wieder und konnten an die Vorkriegszeit anknu¨pfen.27 Den gro¨ßten Zuspruch genossen die unterga¨rigen Biersorten nach bayrisch-bo¨hmischer Brauart, auf die sich die meisten Berliner Brauereien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert spezialisiert hatten. Im Gegensatz zum traditionellen oberga¨rigen Weißbier ließ sich das Pils leichter zapfen, schneller trinken und besser in Flaschen abfu¨llen.28 In der Fruchtstraße dominierten die unterga¨rigen Biermarken der Großbrauereien, die ihre Brauanlagen und Kellergewo¨lbe in der unmittelbaren Umgebung errichtet hatten. Am meisten verbreitet waren das Patzenhofer und das Lo¨wenbra¨uBo¨hmische Brauhaus an der Landsberger Allee sowie das Engelhardt-Bier von der nahen Halbinsel Stralau. Einige Kneipen wiesen allerdings ein breiteres Sortiment an alkoholischen Getra¨nken auf. Hierzu za¨hlten die drei Animierkneipen, die sich in der Fruchtstraße befanden.29 In den Berichten der SAG finden sich vor allem Schilderungen u¨ber die Eldorado-Diele in der Fruchtstraße 52, in der „zwei a¨ltere weibliche Angestellte um Zigaretten und Liko¨r betteln und sehr aufdringlich sind“, um die Ga¨ste zu einem gro¨ßtmo¨glichen Getra¨nkekonsum zu animieren.30 In dieser Wein- und Bierstube beobachteten die Studenten der SAG bei ihrem Besuch vier Mittelsta¨ndler, von denen einer die große Summe von 90 Reichsmark ausgab, aber auch drei jugendliche Proletarier, die offenbar auf der Suche nach ersten sexuellen Erfahrungen waren. Dieser Befund passt zu dem Bild, das Hans Ostwald (1873–1940), der „Ethnograph des

26 Vgl. Magnus Hirschfeld, Die Gurgel Berlins (Großstadtdokumente 41), Berlin/Leipzig o. J.

[ca. 1907/08], S. 37–38.

27 Vgl. Regina Hu ¨ bner/Manfred Hu¨bner, Trink, Bru¨derlein, trink. Illustrierte Kultur- und Sozialge-

schichte deutscher Trinkgewohnheiten, Leipzig 2004, S. 194; Frank Freudenberg, Bier-Metropole Berlin. Biergeschichte, Brauereien und Kneipen der Hauptstadt, Nu¨rnberg 1996. 28 Vgl. Gustav Stresemann, Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschaefts. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwu¨rde, Leipzig 1900, S. 1–4; Jan Feustel, Gebraut und gesoffen. Ausstellung im Heimatmuseum Friedrichshain, in: Berlinische Monatsschrift 8 (1999), H. 3, S. 96–98; Theodor Constantin, Alt-Berliner Kneipen (Berlinerische Reminiszenzen 59), Berlin 1989, S. 16. 29 A ¨ hnlich wie die bu¨rgerlichen Lokale lagen auch die Animierkneipen jeweils in der Na¨he der beiden großen Magistralen Mu¨hlenstraße und Große Frankfurter Straße. Durch diese verkehrsgu¨nstige Lage gewannen die Animierkneipen womo¨glich eine gro¨ßere Attraktivita¨t fu¨r Besucher aus den bu¨rgerlicheren Stadtteilen. 30 EZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925. Bei den Animierkneipen handelte es sich meist um Lokale, in denen auch Wein und Liko¨r ausgeschenkt wurde, da sich hiermit der gro¨ßere Profit erzielen ließ.

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dunklen Berlins“,31 1928 von den Animierkneipen entwarf: „Nicht nur in Kleinbu¨rgerkreisen gab es Ma¨nner, die ab und zu in solche Lokale einkehrten. Alle Kreise, alle Klassen, alle Berufe stellten ihren Teil der Besucher von Animierkneipen.“32 Es ¨ bergang dieser Lokale entlang der gesellschaftlichen Schichgab einen gleitenden U tung. Hier fanden halbo¨ffentlich jene „lustvollen ko¨rperlichen Vermischungsprozesse“ statt, durch welche soziale Distanzen aufgehoben wurden.33 Die Animierkneipen waren damit Teil des demokratischen Wesens der sta¨dtischen Massenvergnu¨gungen.34 Gleichwohl blieben auch hier Unterschiede bestehen. In das so genannte Weinzimmer, in das sich die Kellnerinnen schließlich mit ihren Kunden zuru¨ckziehen konnten, drangen zumeist nur finanzkra¨ftigere bu¨rgerliche Ga¨ste vor. Arbeiter konnten es sich dagegen in der Regel nur auf den obligatorischen Sofas im vorderen Gastraum bequem machen; und auch das meist nur an ihrem Zahltag.35 Doch auch fu¨r sie verband sich der Alkoholgenuss mit sexuellen Freuden. Darin lag das schichtenu¨bergreifende Vergnu¨gen, das die Animierkneipen trotz ra¨umlicher Segregation boten. Jedoch beschra¨nkten sich die sexuellen Dienstleistungen nicht nur auf die Animierkneipen. Das ganze Stralauer Viertel galt als Zentrum der Prostitution. Der Schlesische Bahnhof wurde auch ‚Drei-Groschen-Bahnhof‘ genannt, weil dort und in den umliegenden Kneipen schon sehr preiswert Bekanntschaften gemacht werden konnten.36 Die Kneipen der Fruchtstraße erfu¨llten eine Vielzahl von Funktionen.37 Angesichts der beengten Wohnverha¨ltnisse im Berliner Osten dienten sie als erweitertes Wohnzimmer und als Zufluchtsort vor der tristen Realita¨t.38 Dabei standen die

31 Vgl. Thies, Ethnograph (wie Anm. 19). 32 Hans Ostwald, Das galante Berlin, Berlin-Grunewald, o. J. [1928], o. S. Zu den Animierkneipen vgl.

auch Hirschfeld, Die Gurgel (wie Anm. 26), S. 42–46.

33 Vgl. Ulrich Linse, ‚Animierkneipen‘ um 1900. Arbeitersexualita¨t und bu¨rgerliche Sittenreform, in:

Kirmes, Kneipe, Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850–1904), hg. v. Dagmar Kift, Paderborn 1992, S. 83–118. 34 Ebd., S. 105; sowie auch Paul Thiel, Lokal-Termin in Alt-Berlin. Ein Streifzug durch Kneipen, Kaffeeha¨user und Gartenrestaurants, Berlin 1988, S. 94. 35 Dabei u¨bernahmen die Arbeiter gleichwohl das herablassende ma¨nnliche U ¨ berlegenheitsgefu¨hl der bu¨rgerlichen Kunden, die die Kellnerinnen als moralisch und sozial tiefer stehend betrachteten. Vgl. Linse, Animierkneipen (wie Anm. 33), S. 96–100 sowie 117. 36 Vgl. Willy Proeger (alias „Weka“), Sta¨tten der Berliner Prostitution. Von den Elends-Absteigequartieren am Schlesischen Bahnhof und Alexanderplatz zur Luxus-Prostitution der Friedrichstraße und des Kurfu¨rstendamms. Eine Reportage, Berlin 1930. 37 Zu den allgemeinen Funktionen von Kneipen aus volkskundlicher Sicht vgl. Ueli Gyr, Kneipen als ¨ sterreichische Zeitsta¨dtische Soziotope. Zur Bedeutung und Erforschung von Kneipenkulturen, in: O schrift fu¨r Volkskunde XLV/94 (1991), S. 97–116, hier S. 101. Gyr schreibt der Kneipe folgende Hauptfunktionen zu: 1. als Ort fu¨r die Aufnahme und Stabilisierung eigener Sozialkontakte und Sozialbeziehungen; 2. als Ort fu¨r freizeitliche Entspannung und Ablenkung; 3. als Ort identifikativer und therapeutischer Gruppen- und Selbstorientierung. 38 Deutlich wird dies in Werner Sombarts Beschreibung der Berliner Mietskaserne: „[...] hier ho¨rt Heimlichkeit und Heimischsein auf; hier, wo des Sommers durch die offenen Fenster – denn in den Ra¨umen, in denen zugleich gekocht, gewaschen und gebu¨gelt wird, ist es bei geschlossenen Fenstern nicht auszuhalten – der ganze Klatsch, der ganze Zank, alles Klappern, Schwirren, Surren, Summen der Na¨h- und Schuhmachermaschinen, alles Kindergeschrei, alles Tosen der Maschinerie der Fabrik im Hofraum, aller Dunst und Duft der 40 oder 50 Ku¨chen mit ihrem Talggeruch und ihrer Ranzigkeit eindringt, wo

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Kneipen vor allem den ma¨nnlichen Bewohnern als Refugium zur Verfu¨gung, wie die Kneipenstudien der SAG zeigen. So bildeten erwachsene Ma¨nner den gro¨ßten Anteil der Kneipenbesucher. Erwachsene Frauen machten dagegen nur 18 Prozent aus. Sie mussten neben ihrer Arbeit auch noch den Haushalt und die Kinder versorgen, wa¨hrend die Ma¨nner die Kneipen besuchten, um der ha¨uslichen Enge zu entfliehen.39 Zudem dienten die Kneipen der Fruchtstraße als Anlaufstation fu¨r die zahlreichen Migranten, die in die Gegend kamen. Dies galt nicht nur fu¨r die vielen jungen Ma¨nner und Frauen aus den preußischen Ostprovinzen, die in Berlin ihr bescheidenes Glu¨ck als Fabrikarbeiter oder als Dienstma¨dchen suchten.40 Am Schlesischen Bahnhof traf auch ein Großteil der polnischen Zuwanderer ein, von denen sich viele gleich in der Na¨he ansiedelten, wie die Namen in den Adressbu¨chern verraten.41 Daneben gab es im Viertel um den Schlesischen Bahnhof auch eine chinesische Kolonie, deren Treffpunkt das Schultheiss-Lokal in der Krautstraße war, in dem die Chinesen in einem hinteren Raum Mah-Jongg spielen und traditionelle Speisen zubereiten konnten.42 Fu¨r viele Menschen, insbesondere fu¨r ju¨dische Emigranten aus Osteuropa, war der Schlesische Bahnhof lediglich eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Amerika; er galt seit den 1880er Jahren als der ‚Auswandererbahnhof‘ schlechthin, und die umliegenden Kneipen dienten als Wartesaal. Hier warteten auf die Reisenden ha¨ufig Nepper, Kofferschlepper und Bauernfa¨nger. Zahlreiche Kleinkriminelle bevo¨lkerten die Straßen und Kneipen des Stralauer Viertels. Das Leben im Berliner Osten war gepra¨gt von allta¨glicher Gewalt. Seinen zweifelhaften Ruf, das „Chicago von Berlin“43 zu sein, verdankte die Gegend jedoch vor allem den so genannten Ringvereinen. Diese waren syndikata¨hnliche

keine Tu¨r geo¨ffnet werden kann, ohne daß neugierige, neidische oder schadenfrohe Blicke eindringen, hier muß das Heim als Ho¨lle, die Kneipe oder das Bordell als Himmel erscheinen [...]“. Werner Sombart, Das Proletariat, Frankfurt a. M. 1906, S. 29–30. 39 Vgl. Rosmarie Beier, Leben in der Mietskaserne. Zum Alltag Berliner Unterschichtsfamilien in den Jahren 1900 bis 1920, in: Hinterhof, Keller, Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901–1920, hg. v. Gesine Asmus, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 244–296, hier S. 251. 40 Zu den Dienstma¨dchen siehe v. a. Bettina Hitzer, Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914), Ko¨ln u. a. 2006. 41 Vgl. Annett Gro ¨ schner, „Heute prima rote Ru¨ben“. Auf der Fruchtstraße am 27. Ma¨rz 1952, in: So weit kein Auge reicht. Berliner Panoramafotografien aus den Jahren 1949–1952. Aufgenommen vom Fotografen Tiedemann. Rekonstruiert und interpretiert von Arwed Messmer, hg. v. Florian Ebner/ Ursula Mu¨ller fu¨r die Berlinische Galerie unter Mitarbeit von Benedikt Goebel, Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Berlinischen Galerie vom 2. November 2008 bis 22. Februar 2009, Berlin 2008, S. 128–136, hier S. 130. 42 Das Berliner Chinesenviertel rund um den Schlesischen Bahnhof wurde auch das ‚Gelbe Quartier‘ genannt. Hier lebten in den 1920er und 1930er Jahren etwa 200 Chinesen in einfachsten Verha¨ltnissen. Es waren ehemalige Heizer, Seeleute, Artisten oder Ha¨ndler, die sich nun als Wa¨scher, Hausierer oder Kleinha¨ndler eine bescheidene Existenz aufzubauen suchten, indem sie mit importierten Spezialwaren wie Porzellanvasen, Specksteinfiguren oder Schmuck handelten. Vgl. Dagmar Yu-Dembski, Chinesen in Berlin, Berlin 2007, S. 20–26. 43 Gegen diesen ha¨ufig verwendeten Vergleich verwahrte sich der Friedrichshainer Bezirksbu¨rgermeister Mielitz ganz entschieden. Der Ruf des Ostens als zweites Chicago sei v. a. der Sensationslust der Medien geschuldet. Siehe Paul Mielitz, Eine soziale Studie u¨ber den Osten Berlins. Ein Rundfunkvortrag von Bu¨rgermeister P. Mielitz, in: Heimat-Kalender fu¨r den Bezirk Friedrichshain 1932, Berlin 1932, S. 18–28, hier S. 22.

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Zusammenschlu¨sse von Dieben, Einbrechern, Betru¨gern, Straßenra¨ubern, Zuha¨ltern, Rauschgiftha¨ndlern, Falschspielern und Schutzgelderpressern, die sich als Spar-, Sport- oder Gesangvereine tarnten und große Teile des Vergnu¨gungsgewerbes beherrschten.44 Die Kneipen rund um den Schlesischen Bahnhof bildeten das Zentrum der organisierten Kriminalita¨t. Sie waren zudem Schauplatz von erbitterten Saalschlachten. Besonderes Aufsehen erregte am 29. Dezember 1928 die brutale Auseinandersetzung zwischen zwanzig Hamburger Maurern und Zimmerleuten und 150 schwer bewaffneten Mitgliedern der Ringvereinigung „Immertreu“ im Zunftlokal Nabur in der Breslauer Straße 1, bei der mehrere Personen ums Leben kamen.45 In der politisierten Atmospha¨re des Kaiserreichs und der Weimarer Republik waren die Kneipen nicht zuletzt politische Versammlungsorte. Das galt vor allem fu¨r die Arbeiterbewegung, die sich seit der Zeit des Sozialistengesetzes in Gastha¨usern organisierte.46 In der Kneipe vereinigten sich traditionelle Formen volkstu¨mlicher Freizeitgestaltung mit modernen Formen politischer Organisation.47 Die Arbeiterbewegung fand im Wirtshaus ein dringend beno¨tigtes Zuhause. Auch zahlreiche Vereine und Organisationen, die mit der Sozialdemokratie verbunden waren, hingen stark vom Wirtshaus ab.48 Fu¨r die Wirte bedeutete dies eine kontinuierliche Einnahmequelle, was mitunter jedoch auch politische Konsequenzen nach sich zog. So wurden u¨ber zahlreiche Kneipen so genannte Milita¨rverbote verha¨ngt. In ihnen durfte sich kein Armeeangeho¨riger aufhalten.49 Dies betraf im Berliner Osten bis 1918 vor allem die Zahlstellen des sozialdemokratischen Wahlvereins, in denen der Vorwa¨rts und andere sozialdemokratische Bla¨tter auslagen. Solche Parteilokale wurden regelma¨ßig von verdeckt arbeitenden polizeilichen Ermittlern besucht, die ihre Eindru¨cke schriftlich festhielten.50 Zwar hatten die abgeho¨rten Gespra¨che oft keinen unmittelbaren politischen Gehalt,51 gleichwohl waren die Kneipen ein zentraler Ort der politischen Sozialisation. Die Kneipen und Festsa¨le des Stralauer Viertels waren also multifunktionale Etablissements. Unabha¨ngig von ihrer sozialen, nationalen oder politischen Pra¨gung

44 Zu den Ringvereinen siehe Lothar Uebel, Spreewasser, Fabrikschlote und Dampfloks, Berlin 2009,

S. 84; sowie Feustel, Raub und Mord (wie Anm. 14), S. 17–21.

45 Vgl. ebd.; sowie John Stave, Stube und Ku¨che. Erlebtes und Erlesenes, Berlin 1987, S. 5–13. 46 Vgl. James S. Roberts, Wirtshaus und Politik in der deutschen Arbeiterbewegung, in: Sozialgeschichte

der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, hg. v. Gerhard Huck, Wuppertal 1980, S. 123–139. 47 Vgl. ebd., S. 124. 48 Vgl. ebd., S. 129. Deshalb wandte sich die Mehrheit der Sozialdemokratie auch von der radikalen AntiAlkohol-Bewegung ab. Die Aufgabe des Alkohols ha¨tte den Verlust des zentralen Versammlungsortes bedeutet. 49 Vgl. Jens Dobler, Von anderen Ufern. Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain, Berlin 2003. 50 Landesarchiv Berlin (im Folgenden LAB) A Pr. Br. Rep. 030 Tit. 94 Nr. 13502. Fu¨r Hamburg vgl. Richard J. Evans, Kneipengespra¨che im Kaiserreich. Die Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892–1914, Reinbek bei Hamburg 1989. 51 Nur bei etwa einem Viertel bis einem Drittel der besuchten Kneipen notierten die Vigilanzbeamten politische Gespra¨che im weitesten Sinne. Vgl. Armin Owzar, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaats, Konstanz 2006, S. 335.

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waren sie dabei vor allem Orte des Vergnu¨gens. Wie aus den Kneipenstudien der SAG hervorgeht, dienten sie dem Rausch, der Lustbefriedigung und der Realita¨tsflucht. Um in der großen Konkurrenz bestehen zu ko¨nnen, mussten die Gastwirte ihr Vergnu¨gungsangebot an die Bedu¨rfnisse des u¨berwiegend lokalen Publikums anpassen und ihre Lokale dem sozialen Spektrum der Gegend o¨ffnen. Dabei hatten bestimmte soziale Grenzlinien durchaus Bestand. Zugleich gab es eine ganze Reihe von Kneipen, die einen sozial inklusiven Charakter besaßen und Orte eines schichtenu¨bergreifenden egalita¨ren Vergnu¨gens waren. Die enorme Kneipendichte trug mit dazu bei, dass an diesem Vergnu¨gen fast jeder teilhaben konnte, wobei der Kneipenbesuch allerdings klar ma¨nnlich kodiert war. Die Kneipen boten den schnellsten und einfachsten Weg, sich ein wenig zu amu¨sieren. Damit bildeten sie die Basiseinheit der Vergnu¨gungstopographie im Berliner Osten.

II. Die Festsa¨le des Stralauer Viertels

Neben den zahlreichen kleineren Kneipen, die als allta¨gliche Vergnu¨gungs- und Kommunikationsorte das Kiezvergnu¨gen des Stralauer Viertels pra¨gten, gab es um 1900 auch wesentlich gro¨ßere gastronomische Einrichtungen, Festsa¨le bzw. Saalbauten sowie Sommerga¨rten, die jeweils ein deutlich gro¨ßeres Publikum ansprachen. Die a¨ußere Gestalt und die Funktion der Eck- oder Kellerkneipen der kleinen Leute vera¨nderten sich in den Jahrzehnten um 1900 kaum, vielleicht gerade weil ihre Nutzung so vielfa¨ltig und an den Bedu¨rfnissen ihrer Ga¨ste orientiert war. Die Großgastronomie hingegen unterlag einem sta¨rkeren Wandel. Die Festsa¨le und Sommerga¨rten, die um ein ungleich breiteres Publikum als die Eckkneipen warben, waren stets gezwungen, ihr Angebot an neue Entwicklungen der Vergnu¨gungsbranche anzupassen. Das vom Berliner Architektenverein herausgegebene Standardwerk zur Berliner Architektur „Berlin und seine Bauten“ unterschied 1896 zwei Typen von Saalbauten: Einerseits gab es „eine Gruppe von Bauanlagen, deren Hauptbestandtheil ein großer fu¨r musikalische Auffu¨hrungen bestimmter Saal bildet und die daher als Saalbauten bezeichnet werden ko¨nnen. Gelegentlich o¨ffnen sich diese Ra¨ume auch fu¨r wissenschaftliche Vortra¨ge, fu¨r Versammlungen oder [...] fu¨r gro¨ßere Festlichkeiten mit o¨ffentlicher Betheiligung.“52 Gemeint sind repra¨sentative Bauten vor allem in der Innenstadt, wie z. B. die Sing-Akademie oder die Philharmonie. Fu¨r die Kneipenkultur des Kiezvergnu¨gens war allerdings der zweite Saalbau-Typ wichtiger: „Auf der anderen Seite sind fast sa¨mtliche gera¨umigen, von vornherein fu¨r Festversammlungen oder auch nur fu¨r den sonnta¨glichen Biergenuß einer gro¨ßeren Menge berechneten Saalanlagen mit festen Pla¨tzen fu¨r

52 Berlin und seine Bauten, hg. vom Architekten-Verein zu Berlin und der Vereinigung Berliner Archi-

tekten, Bd. II, Faksimile der 2. Ausgabe von 1896, Berlin 1988, S. 516.

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Musikorchester versehen. Es du¨rfen daher Saalanlagen dieser Art, so verschieden auch ihre Bestimmung und Benutzung sein mag, an die Concertsa¨le angeschlossen werden.“53 Zweierlei wird in dieser Definition deutlich: Zum einen ko¨nnen die Saalbauten bzw. Festsa¨le als Bautyp, aber auch als Orte des urbanen Vergnu¨gens nicht eindeutig einer bestimmten sozialen Schicht zugeordnet werden. Es gab sie in allen Stadtteilen Berlins, im ko¨niglichen Schloss genauso wie in den noblen Hotels, in den bu¨rgerlichen Bezirken, den kleinbu¨rgerlichen Vororten, aber auch in den Hinterha¨usern der großen Mietskasernenblocks im Berliner Osten.54 Zum anderen waren die Festsa¨le multifunktionale Vergnu¨gungsorte, in denen gegessen, getrunken und getanzt wurde, in denen Konzerte oder Theaterstu¨cke aufgefu¨hrt, aber auch Vereinsfeste, Familienfeiern, Ba¨lle, politische Versammlungen oder popula¨re Vortra¨ge veranstaltet werden konnten. Im Stralauer Viertel gab es mehrere Festsa¨le, von denen im Folgenden einige kurz vorgestellt werden, um anschließend ausfu¨hrlicher auf die Nutzung der Festsa¨le, die lokale bzw. u¨berregionale Reichweite, ihre Angebote sowie den Wandel der Nutzung einzugehen. Im Inneren des langgestreckten Ha¨userblocks zwischen der Koppenstraße 29 und der Fruchtstraße 61 befanden sich Kellers Festsa¨le. Benannt wurden sie nach ihrem urspru¨nglichen Betreiber, Louis Keller, wobei die Bezeichnung Kellers Festsa¨le auch noch lange nach dessen Ausscheiden aus dem Betrieb weiter verwendet wurde. Neben einem großen Saal im ersten Stock des Geba¨udes gab es zusa¨tzlich mehrere kleinere Sa¨le, die mit einer eigenen Bu¨hne ausgestattet waren und fu¨r kleinere Festivita¨ten, etwa Familien- oder Vereinsfeste, genutzt werden konnte.55 Außerdem standen den Besuchern ein Garten mit Bewirtschaftung und eine Sommerbu¨hne fu¨r Theaterund Konzertauffu¨hrungen zur Verfu¨gung.56 Angesichts der relativen Enge des Hofes und der Na¨he zu (klein)industriellen Produktionssta¨tten wird der Hof kaum u¨ber die lokalen Grenzen des unmittelbaren Einzugsgebiets hinaus Besucher angelockt haben. Nur ein Block weiter westlich der Kellerschen Festsa¨le befanden sich die Andreas-Festsa¨le, die ihren Eingang in der Andreasstraße 21 hatten.57 Gleich schra¨g gegenu¨ber lagen die Concordia Festsa¨le58 in der Andreasstraße 64. Anla¨sslich ihrer Ero¨ffnung am 1. September 1892 wurde die Presse zur Vorbesichtigung geladen. Die Journalisten schilderten das Innere der Festsa¨le folgendermaßen: Trat man in den

53 Ebd. 54 Hier nur einige wenige Beispiele: Es gab Festsa¨le in Krolls Etablissement im Tiergarten, in der Kai-

sergalerie zwischen Unter den Linden und der Friedrichstraße oder in verschiedenen Hotels, z. B. im Hotel Adlon oder im Esplanade. Es gab sie aber auch in Neuko¨lln (z. B. Kliems Festsa¨le oder die Neue Welt an der Hasenheide), in Reinickendorf (Festsa¨le Reinickendorf), in Scho¨nholz (Thimanns Festsa¨le), in Moabit (Artushof) oder im Bezirk Mitte (Sophien-Festsa¨le). 55 Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1365 oder A Pr. Br. Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15973. U ¨ ber eine Vereinsfeierlichkeit berichtete beispielsweise die Vossische Zeitung vom 3. 3. 1913. 56 Vgl. LAB, A Rep. 010-02 Nr. 3804. 57 Vgl. Julius Straubes U ¨ bersichtsplan von Berlin von 1910. 58 Ihren Namen erhielten sie von der Ba¨ckerinnung Concordia, die ab 1891 im Geba¨ude ihren Sitz hatte. Vgl. http://www.luise-berlin.de/lexikon/frkr/c/concordia_festsaele.htm [7. 5. 2012].

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Innenhof des Geba¨udes, befanden sich links ein „langer Garten“, der durch „herr¨ ber eine liche“ Wandmalereien geschmu¨ckt war, und rechts das Hauptgeba¨ude. U „breite Marmortreppe“ gelangte man in den ersten Stock, in dem sich der Hauptsaal sowie ein weiterer gro¨ßerer Saal, der so genannte Speisesaal mit „acht grossen Wandspiegeln“, befanden. Im zweiten Stock gab es noch einen Theatersaal mit Bu¨hne. Der Hauptsaal war 40 Meter lang und 25 Meter breit und mit einer umlaufenden Galerie ausgestattet. Fu¨nf Kronleuchter sowie Decken- und Wandgema¨lde schmu¨ckten ihn, so dass die Berichterstatter „geradezu erstaunt“ waren „u¨ber all die Pracht, die wir hier sahen“, und zu dem Schluss gelangten, hier wa¨re ein Etablissement geschaffen worden, das „zu den scho¨nsten von Berlin geho¨rt“.59 Um 1900 war der „bekannte Berliner Gastwirt“ Carl Saeger Inhaber der Festsa¨le, der auch einige Jahre lang das Wirtshaus am Halensee betrieb.60 Dieses Ausflugslokal lag am westlichen Rand des damaligen Agglomerationsraums von Berlin, am Ende des in den 1880er Jahren zum Prachtboulevard ausgebauten Kurfu¨rstendamms.61 Als Gastronom legte sich Saeger also nicht auf den Berliner Osten fest, sondern agierte berlinweit. Er erlangte einen gewissen Grad an Beru¨hmtheit und unterschied sich dadurch deutlich von den meisten anderen Gastronomen, deren Etablissements genauso wenig wie ihre Person u¨ber die engsten lokalen Kreise hinaus bekannt waren. Im Abstand von nur zwei Querstraßen gab es also drei große Festsa¨le auf den Hinterho¨fen der Mietsha¨user. Hinzu kamen noch die Festsa¨le und gastronomischen Einrichtungen der zahlreichen Brauereien, die im Stralauer Viertel angesiedelt waren und keineswegs ausschließlich Produktionssta¨tten, sondern auch gastronomische Großeinrichtungen waren. Beispielsweise verfu¨gte auch das 1868 gegru¨ndete Bo¨hmische Brauhaus in der Landsberger Allee 11–13 (seit 1922 Lo¨wenbrauerei-Bo¨hmisches Brauhaus) u¨ber einen großen gastronomischen Betrieb mit Festsa¨len, einem Biergarten und Kegelbahnen. Der „pompo¨s ausgestattete“ Hauptsaal des Bo¨hmischen Brauhauses fasste 1500, der dazugeho¨rige „grosse, schattige Garten“ u¨ber 2000 Personen.62 Die Geschichte der großen Berliner Brauereibetriebe des 19. Jahrhunderts ist eng verbunden mit dem Siegeszug des so genannten bayrischen, unterga¨rigen Biers. Im Zuge des starken Wandels des Bierkonsums vera¨nderte sich auch die Brauereilandschaft Berlins. Neue große Brauereibetriebe entstanden und befo¨rderten ihrerseits den sich wandelnden Bierkonsum, indem sie in eigenen gastronomischen Betrieben („sehr große Bierhallen, im Sommer in den Brauereien vor den Thoren, im Winter

59 Alle Zitate aus: Revue. Internationale Artistenzeitung Nr. 35 vom 27. 8. 1892. 60 Auf dem Gela¨nde des Wirtshauses am Halensee befand sich spa¨ter, von 1910–1933, der Berliner Luna-

park. Aber bereits seit den 1880er Jahren fungierte das Wirtshaus als beliebte Ausflugs- und Vergnu¨gungssta¨tte im Berliner Westen. Zitat aus: Der Lunapark im Jubila¨umsjahr 1929, Berlin 1929, S. 4. 61 Die bekannteste Schilderung des Etablissements stammt von Theodor Fontane, der in seinem 1892 erschienenen Roman „Frau Jenny Treibel“ eine Landpartie des Kommerzienrats Treibel mit Familie und Freunden an den Halensee beschreibt: Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel oder Wo sich Herz zum Herzen findet, Berlin/Weimar 1996, S. 120. 62 Bo¨hmisches Brauhaus K. G. auf Aktien A. Knoblauch, Berlin, Druckschrift Berlin o. J., in: LAB, A Rep. 250-04-01 Nr. 1.

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auch in der Stadt selbst“63) das eigene unterga¨rige Bier ausschenkten. Aber die Funktion der Großgastronomie der Brauereien ging u¨ber den einfachen Bierkonsum hinaus. Die Sa¨le „gewa¨hren den Besuchern [...], namentlich den Schaaren der Sonntagsga¨ste, bei schlechtem Wetter und im Winter Unterkunft“. Außerdem wurde in ihnen „Sonntags und wohl auch an bestimmten Tagen in der Woche getanzt, an anderen Tagen finden mehr oder weniger ‚freie‘ Concerte statt; in manchen wird wohl auch auf provisorischen Bu¨hnen Theater gespielt“.64 Genau wie die anderen Festsa¨le waren die gastronomischen Betriebe der Brauereien Vergnu¨gungsorte und Ausflugsziele, aber auch Vereinslokale und Versammlungsorte. Einige Veranstaltungen der Festsa¨le des Stralauer Viertels sprengten den unmittelbaren lokalen Charakter des Kiezvergnu¨gens. So fanden hier wichtige Versammlungen der Arbeiterbewegung statt, deren Reichweite weit u¨ber das unmittelbare Einzugsgebiet hinausging. Vom 14. bis 21. November 1892 versammelte sich beispielsweise die SPD zu ihrem dritten Parteitag nach dem Ende der Sozialistengesetze in den gerade neu eingeweihten „herrlichen Konkordia-Festsa¨len, den scho¨nsten Sa¨len Berlins“.65 Ero¨ffnet wurde der Parteitag durch Paul Singer (1844–1911), der zusammen mit August Bebel (1840–1913) zum Parteivorsitzenden gewa¨hlt wurde. Lobend wird in der Presseberichterstattung erwa¨hnt, dass die „Genossen [...] fu¨r die wu¨rdige Ausschmu¨ckung des Saales mit bestem Gelingen Sorge getragen“ ha¨tten.66 Im folgenden Jahr, am 22. September 1893, sprach Friedrich Engels (1820–1895) vor mehreren tausend Anha¨ngern auf einer großen Festveranstaltung, die ihm zu Ehren ebenfalls in den Concordia-Festsa¨len von der Sozialdemokratischen Partei organisiert wurde. Der „ohnedies pra¨chtige Saal“ nebst Galerie war bereits eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung voll besetzt und „wie das bei unseren Festen u¨blich, mit rothen Fahnen, Emblemen und Inschriften geschmackvoll dekoriert“,67 notierte der Vorwa¨rts und schildert im Folgenden auch den Ablauf des Festes: Es begann um 8 Uhr abends mit Konzertmusik unter anderem vom Arbeiter-Sa¨ngerbund. Anschließend begru¨ßte Wilhelm Liebknecht (1826–1900) den Gast, der sich zum ersten Mal seit 51 Jahren in Berlin aufhielt. Dann hielt Friedrich Engels selbst eine kurze Rede.68 Sie endete mit einem Hoch auf die internationale Sozialdemokratie, in das alle im Saal Anwesenden einstimmten, um dann gemeinsam die Marseillaise zu singen. Bis zwei Uhr nachts wurden weitere Musikstu¨cke gespielt, Gedichte vorgetragen, lebende Bilder gezeigt und satirisch-politische Vortra¨ge aufgefu¨hrt.69 63 Julius Faucher, Vergleichende Culturbilder aus den vier Europa¨ischen Millionensta¨dten (Berlin –

Wien – Paris – London), Hannover 1877, S. 43. Zu den neuen Brauereibetrieben vgl. auch Hirschfeld, Die Gurgel (wie Anm. 26), S. 36–37 und 40–41. 64 Berlin und seine Bauten (wie Anm. 52), S. 525. 65 Beilage zum Vorwa¨rts vom 15. 11. 1892. Vgl. auch die Onlinepublikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung: http://library.fes.de/parteitage/index-pt-1890.html [15. 11. 2010]. 66 Beilage zum Vorwa¨rts vom 15. 11. 1892. 67 Vgl. Vorwa¨rts vom 24. 9. 1893. 68 In dieser Rede ging er u. a. auf den fundamentalen Wandel der Stadt ein, die sich von einer Residenz zu einer Industriestadt entwickelt habe: „heute ko¨nnten Hof, Adel, Garnison und Beamte sich einen anderen Wohnort suchen, und Berlin bliebe doch Berlin.“ Abdruck der Rede: Vorwa¨rts vom 26. 9. 1893. 69 Vgl. Vorwa¨rts vom 24. 9. 1893.

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Einen anderen Charakter hatte die angeku¨ndigte Protestversammlung der Sozialdemokraten am 11. Februar 1904. In einer ka¨mpferischen Ansprache prangerte Clara Zetkin (1857–1933) in Kellers Festsa¨len die Politik des zaristischen Russlands an.70 Bei dieser Veranstaltung fehlten festliche Elemente, und das Politische stand eindeutig im Vordergrund. Dennoch waren politische Versammlungen und Debatten stets ein Teil der allta¨glichen Freizeitgestaltung zahlreicher Berlinerinnen und Berliner um 1900 und damit – zumindest teilweise – ein Element der Vergnu¨gungskultur. Wer kein Berufspolitiker war, musste sich notgedrungen in seiner freien Zeit mit Politik bescha¨ftigen. Um die politische Freizeitbescha¨ftigung attraktiver zu gestalten, wurden zum einen zahlreiche Aktivita¨ten der Arbeiterbewegung mit ku¨nstlerischen, humoristischen und unterhaltenden Angeboten angereichert.71 Zum anderen waren Treffen in der Kneipe oder anla¨sslich von Versammlungen von Parteien oder Vereinen immer auch Gelegenheit zum geselligen Beisammensein und zum sozialen Austausch; beides diente nicht nur der Weiterentwicklung politischer Anliegen, sondern immer auch dem Vergnu¨gen. Die enge Verbindung zwischen Politik und Kultur zeigt sich auch in einem weiteren Ereignis, das 1890 im Bo¨hmischen Brauhaus stattfand. Am 29. Juli wurde hier die Freie Volksbu¨hne gegru¨ndet. „Ein weiter, dichtgefu¨llter Saal, eine tausendko¨pfige Schar von Ma¨nnern und Frauen, ausharrend bis u¨ber die Mitternacht in hingegebener Aufmerksamkeit, eine enthusiastische Einstimmigkeit in den Zielen – das war das Bild, welches die erste Versammlung zur Begru¨ndung der Freien Volksbu¨hne, [...] im Bo¨hmischen Brauhaus, gewa¨hrte.“72 Von einer Versammlung von „wohl zweitausend Personen“ berichtet das Berliner Tageblatt. Arbeiter, aber auch „einige hundert Frauen und Ma¨dchen und viel Kaufleute und Schriftsteller“ waren gekommen.73 Die Freie Volksbu¨hne, die hier initiiert wurde, wollte in enger Verbindung zur Arbeiterbewegung hochwertigen Theatergenuss zu erschwinglichen Preisen fu¨r diejenigen ermo¨glichen, denen die normalen Bu¨hnen zu teuer waren. Zwar nutzte die Arbeiterbewegung die Festsa¨le des Stralauer Viertels ha¨ufig als Versammlungs- und Festra¨ume, aber deren Veranstaltungsrepertoire war wesentlich breiter und beschra¨nkte sich keineswegs auf politische Versammlungen. So hielt etwa 1893 Sebastian Kneipp (1821–1897) in den Concordia-Festsa¨len einen Vortrag vor angeblich 3000 Besuchern u¨ber die nach ihm benannten Therapieverfahren und Wasserkuren.74 In Kellers Festsa¨len sprach am 4. Ma¨rz 1908 der Direktor der Treptower Sternwarte, Friedrich Simon Archenhold (1861–1939), u¨ber das „Werden und Vergehen im Weltraum unter Beru¨cksichtigung neuster Forschungsergebnisse“. Veranstalter des Vortrags war der „Bildungs-Ausschuss der 5. Filiale Berlin“.75 Auch solche 70 Vgl. Vorwa¨rts vom 11. 2. 1904. 71 Vgl. Roberts, Wirtshaus und Politik (wie Anm. 46), S. 123; Matthias Warstat, Entgrenzung und Spal-

tung. Zur Inszenierung von Arbeiterfesten in der Weimarer Republik, in: Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identita¨t und Gemeinschaft, hg. v. Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat/Anna Littmann (Theatralita¨t 11), Tu¨bingen 2012, S. 420–437. 72 Otto Brahm, Die Freie Volksbu¨hne, hier zitiert nach: Die Berliner Moderne 1885–1914, hg. v. Ju¨rgen Schutte/Peter Sprengel, Stuttgart 1987, S. 408–413, hier S. 408. 73 Berliner Tageblatt vom 30. 7. 1890. Vgl. auch Berliner Tageblatt vom 31. 7. 1890. 74 Vgl. http://kneipp-verein-berlin.de/geschichte.htm [15. 12. 2010]. 75 Zitate aus dem Programmzettel der Veranstaltung, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1364.

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Vortra¨ge prominenter Wissenschaftler zogen sicherlich, a¨hnlich wie die Veranstaltungen der Arbeiterbewegung, interessierte Besucher aus allen Teilen Berlins an. Andere Nutzungen der Festsa¨le konzentrierten sich dagegen eher auf die lokale Wohnbevo¨lkerung der Umgebung. So fand am 22. September 1903 im großen Saal des Bo¨hmischen Brauhauses eine „Große Schu¨ler-Vorstellung verbunden mit geographischer und geschichtlicher physikalisch-wissenschaftlicher Vorstellung“ statt. Gegen ein Eintrittsgeld von zehn bis dreißig Pfennigen konnten Kinder immerhin Friedrich Schillers „Wallensteins Tod“, „Willhelm Tell“ und „Die Ra¨uber“ sehen und anschließend noch zusa¨tzlich „Ha¨nsel und Gretel“, „Schneewittchen“ sowie den „Rattenfa¨nger von Hameln“.76 Auch Veranstaltungen von Kirchengemeinden oder kirchennahen Vereinen fanden ha¨ufig in den Festsa¨len statt. So feierte etwa der Berliner „Zweigverein des Evangelischen Bundes“ am 30. Oktober 1904 den Reformationstag im Bo¨hmischen Brauhaus, und im Ma¨rz 1905 veranstaltete der „St. Marienverein von Ss. Corpus Christi“ eine Wohlta¨tigkeitsvorstellung mit „Lichtbildern aus dem Leben Jesu“.77 Vor allem aber fanden in den Festsa¨len Konzerte und Tanzveranstaltungen statt. „Um das Gera¨usch in denselben zu u¨berto¨nen und zugleich fu¨r Unterhaltung zu sorgen, hat man mit immer wachsendem Eifer die Instrumental-Musik zu Hu¨lfe genommen und es finden auch schon in großen Bierhallen Concerte statt, fu¨r welche keinerlei Eintrittsgeld mehr erhoben wird“.78 Zunehmend wurden auch neue Medien eingesetzt wie beispielsweise ein „mechanisches Harmonion“, um die musikalische Unterhaltung der „großen Volksmassen“79 zu gewa¨hrleisten, die die Bierhallen aufsuchten. Ha¨ufig veranstalteten aber nicht die Brauereien oder Gastwirte der Festsa¨le selbst die Konzerte oder Tanzveranstaltungen, sondern verschiedene Vereine, Cho¨re oder wohlta¨tige Organisationen nutzten nur jeweils die Ra¨umlichkeiten der Festsa¨le.80 Am 28. Juni 1906 wurde etwa im großen Saal von Kellers Festsa¨len das Oratorium „Glaubenssieg“ von Franz Taibach zum „Zwecke des unter dem Protektorat Sr. Ko¨nigl. Hoheit des Prinzen Heinrich von Preussen stehenden Ostdeutschen Ju¨nglingsbundes“ aufgefu¨hrt.81 Im Mai 1905 veranstalteten der Gesangverein „Allegra“ in Kellers Festsa¨len einen Ball und im Oktober 1905 der Gesangsverein Su¨d-Ost ein o¨ffentliches Konzert mit Tanz bis zwei Uhr nachts.82 Wa¨hrend aus verschiedenen Quellen zwar zahlreiche Hinweise u¨ber solche besonderen Veranstaltungen in den jeweiligen Festsa¨len vorliegen, ist es weitaus schwieriger, etwas u¨ber den allta¨glichen Betrieb der Großgastronomie zu erfahren. 76 Vgl. Programmzettel der Veranstaltung in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1368. 77 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1368. 78 Faucher, Vergleichende Culturbilder (wie Anm. 63), S. 43. 79 Ebd. 80 Auch bei Tanzveranstaltungen ko¨nnen Politik und Vergnu¨gen unter Umsta¨nden eng verbunden sein.

So setzte sich etwa der „Bund fu¨r Menschenrechte“ fu¨r das Ende der Diskriminierung von Lesben und Schwulen in der Weimarer Zeit ein und fungierte gleichzeitig als Veranstalter großer Tanz-Events. Vgl. Dobler, Von anderen Ufern (wie Anm. 49), S. 71–84. 81 Der Ma¨nnerchor setzte sich aus Mitgliedern der Berliner Ju¨nglingsvereine, des Christlichen Vereins junger Ma¨nner und der Berliner Stadtmission zusammen. LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1364. 82 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1364.

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Aus mehreren Quellen geht hervor, dass Musik und Tanz neben dem Bierkonsum eine wichtige Rolle spielten, aber leider geben nur wenige Quellen Aufschluss u¨ber den Restaurationsbetrieb, also das Speiseangebot der Festsa¨le. Dabei waren die in den Großsta¨dten seit dem spa¨ten 19. Jahrhundert entstehenden Restaurants mit dem „aufkommenden modernen Kultur- und Freizeitleben symbiotisch verbunden“ und wurden als Bestandteil eines neuen, urbanen Lebensstils angesehen.83 Einer der Wirte des Bo¨hmischen Brauhauses, Heinrich Giesselmann, warb 1909 damit, neben der Bewirtschaftung des Saales auch u¨ber einen Lieferservice zu verfu¨gen. Auf seinem Briefkopf heißt es: „Meine Stadtku¨che liefert Diners, Soupers, sowie kalte Schu¨sseln; gut und preiswert“.84 Offensichtlich hatte die Ku¨che Kapazita¨t u¨ber den allta¨glichen Betrieb hinaus. Dies entspricht der Beobachtung, dass die Grundrissgestaltung der Festsa¨le von vornherein auf Stoßzeiten mit starkem Andrang ausgelegt war; entsprechend rationell war die Anordnung der Ku¨chen und Gastra¨ume.85 Auch aus Schilderung der Concordia-Festsa¨le in der Artistenzeitschrift Revue aus dem Jahre 1892 geht hervor, wie wichtig eine moderne und zweckma¨ßige Ausstattung der Ku¨chen der Großgastronomie war. In den Concordia-Festsa¨len waren die Ku¨chen im Erdgeschoss untergebracht und – wie die Betreiber des Etablissements wissen ließen – „aufs Grossartigste und mit dem neuesten Comfort ausgestattet“.86 Die Professionalisierung des Ku¨chenbetriebs ging einher mit neuen Techniken zum Ku¨hlen, Lagern, Zubereiten und Servieren der Speisen. Essen und Trinken lo¨ste sich in den großsta¨dtischen Gastronomiebetrieben zunehmend von der bloßen Befriedigung physischer Bedu¨rfnisse. In den Restaurants ging es um mehr: Essen und Trinken wurde zum Vergnu¨gen. Sicherlich geho¨rten die Ku¨chen der Festsa¨le des Berliner Ostens nicht zur bu¨rgerlichen Spitzengastronomie. Sie wirkten eher als Multiplikator eines urbanen, bu¨rgerlichen Lebensstils, zu dem es geho¨rte, die Einnahme einer Mahlzeit im Restaurant nicht mehr nur als einfache Nahrungsaufnahme und damit Befriedigung eines Grundbedu¨rfnisses anzusehen, sondern als ein lustvolles Unterfangen, als das Vergnu¨gen, seinen Appetit zu stillen.87 Der gro¨ßte Umsatz aber wurde in den Lokalen des Berliner Ostens u¨ber den Ausschank alkoholischer Getra¨nke, zumeist Bier, erzielt. Denn die Nutzung der Sa¨le durch Organisationen und Vereine beruhte nicht auf einer Saalmiete, die der Wirt bekam, sondern auf einem „stillschweigenden Trinkzwang“88 aller Teilnehmenden. Sogar Vereine der Abstinenzbewegung trafen sich mangels Alternativen in Wirtsha¨usern und Festsa¨len und mussten ihre Raummiete durch den (Alkohol-)Konsum ihrer 83 Hans-Ju¨rgen Teuteberg, Von der alten Schankwirtschaft zum feinen Restaurant. Streifzu¨ge durch die

Geschichte deutscher Gaststa¨ttenkultur, in: Gastha¨user. Geschichte und Kultur hg. v. Herbert May/ Andrea Schilz (Arbeiten und Leben auf dem Lande 9), Petersberg 2004, S. 27–54, hier S. 48. 84 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1368. 85 Baldur Ko¨ster beschreibt dies anhand des Beispiels der Brauerei Ko¨nigstadt in der Scho¨nhauser Allee 10–11. Vgl. Baldur Ko¨ster, Berliner Gaststa¨tten von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, Dissertation zur Erlangung der akademischen Wu¨rde Doktor-Ingenieur an der Technischen Universita¨t Berlin, Berlin 1964, S. 44–45. 86 Revue. Internationale Artistenzeitung Nr. 35 vom 27. 8. 1892. 87 Vgl. Teuteberg, Von der alten Schankwirtschaft zum feinen Restaurant (wie Anm. 83), S. 36 und 48. 88 Roberts, Wirtshaus und Politik (wie Anm. 46), S. 129.

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Mitglieder finanzieren.89 Dieser Widerspruch ließ sich fu¨r die Veranstalter kaum auflo¨sen. Er veranschaulicht aber auch die soziale und politische Beliebigkeit der Wirte, luden sie doch Vereine in ihre Etablissements, die die Einda¨mmung ihrer o¨konomischen Grundlage, des Bierkonsums, forderten. Die funktionale und soziale Offenheit der Festsa¨le als Vergnu¨gungsorte zeigt sich auch in ihrer aufgeschlossenen Hinwendung zu neuen Medien und Genres der Unterhaltungsbranche. Bereits mehrere Jahre bevor in den 1920er Jahren die pra¨chtigen und eigens fu¨r den Konsum dieses neuen Mediums gebauten Lichtspielpala¨ste entstanden, wurden etliche Festsa¨le in Kinos umgewandelt.90 Schon 1912 wurde der große Saal im ersten Stock von Kellers Festsa¨len umgebaut. Er diente von nun an als Kinosaal des Lichtspieltheaters Alhambra, das zuna¨chst im Saal und auf der umlaufenden Galerie u¨ber gut 1000 Sitzpla¨tze verfu¨gte;91 nach einem Umbau 1922 erho¨hte sich die Sitzplatzzahl auf anna¨hernd 1200.92 Auch die Concordia-Festsa¨le wurden um 1918 in ein Kino umgewandelt.93 Der Concordia-Palast konnte sogar rund 1400 Personen aufnehmen.94 Aus der Großgastronomie wurden Großkinos. Zum Publikum der Großkinos gibt es leider nur wenige Hinweise. Eine Kinostudie der SAG berichtet knapp von einem Besuch im Alhambra an einem Freitagabend im Juni 1912. Demnach war der Saal nur etwa zur Ha¨lfte ausgelastet, ca. 700 Personen waren anwesend.95 Ein ga¨nzlich anderes Bild zeichnen aber zwei Quellen aus den 1920er Jahren: Im Januar 1922 beschwerte sich ein Bu¨rger bei der Polizei u¨ber den u¨berfu¨llten Kinosaal des Concordia-Palasts.96 Und einer der im Kino angestellten Musiker klagte im November 1927 u¨ber gefa¨hrliche Zusta¨nde im vollkommen u¨berfu¨llten Saal, dessen Notausga¨nge ha¨ufig verstopft waren. Obwohl bereits alle Pla¨tze besetzt waren, wurden dennoch weitere Eintrittskarten verkauft.97 Auch auf die Kinder der Nachbarschaft u¨bten die neuen kinematographischen Vergnu¨gungsorte des Viertels eine große Faszination aus. Denn obwohl sie sich offenbar nur selten einen Kinobesuch leisten konnten, ließen sie sich als Hilfs-Hausmeister anwerben, um das Flair des Vergnu¨gungsetablissements zumindest indirekt genießen zu ko¨nnen.98 89 Vgl. Hirschfeld, Die Gurgel (wie Anm. 26), S. 191–192. 90 Zu den Kinos im Stralauer Viertel vgl. Esther Sabelus/Jens Wietschorke, Die Welt im Licht. Kino

im Berliner Osten 1900–1930, Berlin 2015.

91 Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1365 oder LAB, A Rep. 010-02 Nr. 3804. 92 Vgl. Reichs Kino Adressbuch. Nach amtlichem Material bearbeitet, Teil II: Theater, Berlin 1925, S. 4.

Vgl. auch: LAB, A Rep. 010-02 Nr. 6108.

93 Jahreszahlen aus: Kinoarchitektur in Berlin 1895–1995, hg. v. Sylvaine Ha¨nsel/Angelika Schmitt,

Berlin 1995, S. 265. Mo¨glicherweise existierte das Kino aber auch schon zuvor, denn ein nicht datiertes Programmheft, das mit dem Slogan „Das gro¨ßte Kino-Variete´ Berlins“ warb, befindet sich in einer Sammlung von Programmzetteln aus den Jahren 1913/14, in: EZA 626/II 29,9. 94 Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1273: Bestuhlungsplan von 1919. Die Platzangaben schwanken bei diesem Kino allerdings erheblich, sie reichen von 1200 bis 2000 Sitzpla¨tzen. Vgl. Kino-Pharus Plan Berlin 1919 bzw. Reichs Kino Adressbuch, S. 5. 95 Vgl. EZA 626/II 29,9: Vorbemerkungen fu¨r die Berichte u¨ber meine Kinematographentheaterbesuche, 1912. 96 Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1273. 97 Ebd. 98 Dies erza¨hlt jedenfalls Waldemar Brust, der in den 1920er und 1930er Jahren in der Koppenstraße seine Kindheit verbrachte und spa¨ter seine Kindheitsmemoiren vero¨ffentlichte. Vgl. Waldemar Brust, Kop-

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Angesichts der Menge von Besuchern, die die Großkinos aufnehmen konnten, ist anzunehmen, dass diese einen Ort darstellten, an dem sich die soziale Mischung des Viertels eher widerspiegelte als in den kleineren Lichtspieltheatern und Flohkinos, die das lokale Kiezvergnu¨gen so nachhaltig pra¨gten.99 Allerdings gab es auch in diesen Großkinos Mo¨glichkeiten zur sozialen Distinktion. Wie in zahlreichen anderen Vergnu¨gungsetablissements, die auf ein Massenpublikum abzielten, wurden auch im Alhambra und im Concordia-Palast so genannte Volkstage eingefu¨hrt, an denen der Eintritt deutlich billiger war als an den u¨brigen Tagen: „Jeden Freitag Volks-Tag, Eintritt auf allen Pla¨tzen 30 Pfennige“100 warb zum Beispiel das Alhambra um 1913. Da einem durchschnittlichen großsta¨dtischen Arbeiterhaushalt in den Jahren 1927/28 monatlich nur 5,68 Reichsmark fu¨r Information, Bildung, kulturelle Bedu¨rfnisse und die geselligen Aktivita¨ten aller Familienmitglieder zur Verfu¨gung standen,101 ermo¨glichte einigen Bewohnern erst eine solche Staffelung der Eintrittspreise den Kinobesuch. Dies fu¨hrte vermutlich zu einer sozialen Segregation des Publikums, je nachdem, wie hoch das Budget fu¨r den elastischen Bedarf des jeweiligen Haushalts war. Trotz der Umwandlung der Festsa¨le in Großkinos ging ihre Multifunktionalita¨t als Vergnu¨gungsorte dadurch nicht verloren: Denn zum einen bestand das Kinoprogramm der fru¨hen Kinos noch nicht aus abendfu¨llenden Langfilmen, sondern setzte sich aus mehreren kurzen Filmen zusammen, die von Orchestermusik begleitet wurden und ha¨ufig durch kleine Theaterstu¨cke, Bu¨hnensketche oder „deklamatorische Vortra¨ge“ erga¨nzt wurden.102 In den fru¨hen Lichtspieltheatern mischten sich also alte und neue Medien und Vergnu¨gungsformen zu einem ganz eigenen Genre, das sich stark vom heutigen Kinoangebot unterschied. Zum anderen war das fru¨he Kino ein „polymorpher Erlebnisort“,103 an dem gegessen, getrunken, geraucht und das Geschehen auf der Leinwand ha¨ufig lautstark kommentiert wurde. In vielem a¨hnelten die Lichtspieltheater den Kneipen: Auch sie waren Ausweichquartiere, verla¨ngerte Wohnzimmer und Fluchtra¨ume fu¨r alle, die der Enge der Wohnungen entkommen oder auch nur in den Abendstunden Heizmaterial und Energie sparen wollten. Die Kinos boten außerdem jungen Paaren Momente von Intimita¨t und ungesto¨rter Zweisamkeit ohne soziale Kontrolle.104 Daru¨ber hinaus waren Lichtspieltheater auch

penstraße 60. Eine Berliner Kindheit in der Weimarer Zeit. Episoden aus dem Berlin der 20er und 30er Jahre, Berlin 1987, S. 102–106. 99 Im unmittelbaren Umfeld der beiden Großkinos gab es mindestens sechs weitere kleine bis mittelgroße Kinos. Gemeint sind neben den beiden bereits erwa¨hnten Kinos: Das Lithauer Theater, Lithauer Str. 27; die Lichtspiele am Ku¨striner Platz, Ko¨nigsberger Str. 4; das Welt-Theater, Gr. Frankfurter Str. 121 und die Passage-Lichtspiele in der Gr. Frankfurter Str. 106. Vgl. Kino-Pharus Plan Berlin, Berlin 1919. Vgl. hierzu auch Hochmuth/Niedbalski, Kiezvergnu¨gen (wie Anm. 1), S. 121–127. 100 EZA 626/II 29,9: Sammlung verschiedener Programmhefte. Das Kino nannte sich zum damaligen Zeitpunkt noch Licht-Schauspielhaus O. 101 Diese Berechnungen gehen auf Erhebungen des Statistischen Reichsamtes von 1927/28 zuru¨ck. Vgl. ¨ ffentlichkeiten 1930–1960 (Forum Karl Christian Fu¨hrer, Medienmetropole Hamburg. Mediale O Zeitgeschichte 20), Mu¨nchen/Hamburg 2008, S. 42. 102 Vgl. z. B. fu¨r den Concordia-Palast: LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1273. 103 Thomas Elsaesser, Filmgeschichte und fru¨hes Kino. Archa¨ologie eines Medienwandels, Mu¨nchen 2002, S. 75. 104 Vgl. etwa EZA 626/II 29,8: Elisabeth Bengler [oder Benzler?], Kino im Osten.

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Orte des a¨sthetischen Erlebens und des Kunstgenusses. Der Kinobesuch ermo¨glichte der breiten Masse die Erfahrung von Scho¨nheit, von Schrecken, von Mitleid, von Komik und Exotik. In diesem neuartigen Massenkonsum lag die demokratisierende Kraft des popula¨ren Vergnu¨gens um 1900.105 Das Programm der Festsa¨le zeigt, dass es bei popula¨rwissenschaftlichen, politischen oder „rein“ vergnu¨glichen Veranstaltungen keine Festlegung auf ein spezielles soziales oder politisches Milieu gab. Kirchliche oder wohlta¨tige Organisationen, Bildungs- oder Gesangsvereine und Cho¨re nutzten die Sa¨le ebenso wie die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Einige Festsa¨le modifizierten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend ihr Vergnu¨gungsangebot und versuchten, am Siegeszug des Kinos teilzuhaben, indem sie ihre gro¨ßten Sa¨le in Lichtspieltheater umgestalteten. Die Mehrzahl der Angebote richtete sich an die lokale Bevo¨lkerung. Allerdings wurden die Festsa¨le des Stralauer Viertels auch fu¨r Veranstaltungen genutzt, deren Bedeutung u¨ber den unmittelbaren lokalen Bezug hinausging und die Besucher aus ganz Berlin anzogen. Die soziale Zusammensetzung des Publikums war dementsprechend unterschiedlich: Je nach Veranstaltung variierte es von der lokalen Mischung des Stralauer Viertels bis hin zu interessierten Besuchern aus verschiedenen sozialen Milieus und Stadtvierteln Berlins.

III. Die Sommerga¨rten des Stralauer Viertels

„Am Eingang zum Gartenlokal der Lo¨wen-Brauerei-Bo¨hmisches Brauhaus Akt.Ges. in der Landsberger Allee 11–13 stand einladend ein Schild: ‚Hier ko¨nnen Familien Kaffee kochen.‘ [...] Mutter nahm ‚Gemischten‘ mit. Zu Hause gab es nur Muckefuck. Eine große Kanne heißes Wasser, einschließlich Leihgebu¨hr fu¨r die Tassen, kostete 30 Pfennig.“106 So erinnert sich Waldemar Brust an sonnta¨gliche Ausflu¨ge mit der gesamten Familie. Die Berliner Tradition, in Ausflugslokalen nur das heiße Wasser zu verkaufen und das Kaffeepulver von den Ga¨sten selbst mitbringen zu lassen, entstand vermutlich in den Ausflugslokalen Treptows. Dort hatten im 18. Jahrhundert sa¨chsische Kolonisten den Berlinerinnen und Berlinern, die entlang der Spree spazieren gingen, Kaffee angeboten, ohne eine entsprechende Schanklizenz zu besitzen. Dies wurde ihnen nach Beschwerden des Pa¨chters und Gastwirts des Treptower Vorwerks, des spa¨teren Ausflugslokals Zenner, vom Magistrat untersagt. Um dieses Verbot des Kaffeeausschanks zu umgehen, verkauften die Kolonisten von nun an heißes Wasser und Milch und „verliehen“ das zum Kaffeekochen beno¨tigte Geschirr.

105 Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnu¨gen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt

a. M. 1997, S. 30–31. 106 Brust, Koppenstraße 60 (wie Anm. 97), S. 19. „Muckefuck“ bedeutet Kaffeesurrogat, also kein ech-

tes Bohnenkaffeepulver, sondern Kaffeeersatz, meist aus verschiedenen Getreidesorten sowie Zichorie. „Gemischter“ war eine Mischung aus echtem Kaffeepulver und Muckefuck, also ein besonderer sonnta¨glicher Luxus.

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Eine Praxis, die sich bald u¨berall in Berlin, auch im Gasthof Zenner, durchsetzte und sich in einigen Lokalen bis in die 1950er Jahre hinein hielt.107 Sie ermo¨glichte der breiten Masse der „kleinen Leute“ um die Jahrhundertwende den Familienausflug „mit Kind und Kegel“ in ein Ausflugslokal, denn das gemeinsame Einkehren ha¨tten sich viele ansonsten nicht leisten ko¨nnen. Der sonnta¨gliche Ausflug „ins Gru¨ne“ hatte im Berlin der Jahrhundertwende einen hohen Stellenwert. Angesichts der Enge der Wohnverha¨ltnisse und der Hitze in den Straßen entflohen bei gutem Wetter tausende Bewohner dem „steinernen Berlin“.108 Das „Gedra¨nge auf der Stadtbahn ist unbeschreiblich und alle Lokale sind u¨berfu¨llt.“109 „Es klingt paradox“, so die Einscha¨tzung eines zeitgeno¨ssischen Beobachters, aber dennoch wage er die Behauptung, „daß die Einwohnerschaft des modernen Berlins, von dessen ‚steinernen Ha¨userbann‘ man so gerne spricht, weit mehr in das Freie kommt, als die Bevo¨lkerung des vor- oder auch nachma¨rzlichen Berlin.“110 Abgesehen von der Flucht aus der aufgeheizten sommerlichen Stadt spielte noch ein weiterer Aspekt eine zentrale Rolle: Sommerga¨rten und Ausflugslokale konnten auch von denjenigen Frauen besucht werden, die bei einem Besuch in sta¨dtischen Kneipen um ihren Ruf fu¨rchteten. „Nur in Gartenlocalen erschien der Berliner mit seiner Familie.“111 Wa¨hrend im Wirtshaus die Ma¨nner bis ins 20. Jahrhundert hinein oftmals unter sich blieben, fanden die Ausflu¨ge mit der gesamten Familie statt und trafen sich junge Paare ha¨ufig auf den Tanzfla¨chen der Sommerlokale. Nicht immer mussten sie dafu¨r bis in die Jungfern- oder Scho¨nholzer Heide, nach Treptow oder in den Grunewald fahren. Auch innerhalb des Stralauer Viertels gab es Freiluftvergnu¨gungen und gastronomische Einrichtungen, die Ziel eines sonnta¨glichen Familienausflugs waren oder einen angenehmen Aufenthalt an einem Sommerabend versprachen. Bereits im 18. und fru¨hen 19. Jahrhundert gab es Ausflugsziele in der damals noch vor den Toren bzw. am o¨stlichen Rand der Stadt gelegenen Stralauer Vorstadt, etwa das Etablissement Neue Welt, das ungefa¨hr dort lag, wo sich heute das Frankfurter Tor befindet.112 Einige alte Straßennamen des Viertels, so z. B. die Blumenstraße oder die Fruchtstraße, erinnerten an die zahlreichen Ga¨rten, die sich im Stralauer Viertel befanden. Die beru¨hmtesten geho¨rten u¨ber mehrere Generationen hinweg der Berliner Ga¨rtnerfamilie Bouche´. In ihren Ga¨rten und in ihren gla¨sernen Gewa¨chsha¨usern unterhielten die Bouche´s bereits seit dem ausgehenden 18. und in der ersten

107 Vgl. Regina Richter/Frauke Rother/Anke Scharnhorst, Hier ko¨nnen Familien Kaffee kochen!

Treptow im Wandel der Geschichte, Berlin 1996, S. 14–17; Wolfgang Bernhagen, Bier- und Kaffeega¨rten sowie Schnellgastronomie im Alten Berlin, Berlin 1987, S. 21–25. 108 Hegemann, Das steinerne Berlin (wie Anm. 17). 109 Berlin fu¨r Kenner. Ein Ba¨renfu¨hrer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, Berlin o. J. [1912], S. 136 und 137. 110 Paul Lindenberg, Berlin in Wort und Bild, Reprint der Originalausgabe von 1895, Leipzig 1985, S. 344–345. 111 Berlin und seine Bauten, Bd. III (wie Anm. 52), S. 2. 112 Dieses Etablissement ist nicht mit dem weit beru¨hmteren in der Hasenheide in Rixdorf bzw. Neuko¨lln zu verwechseln. Zur Neuen Welt in der Stralauer Vorstadt vgl. Bernhagen, Bier- und Kaffeega¨rten (wie Anm. 106), S. 17.

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Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts einen Kaffeeausschank – damals eine Neuheit im gastronomischen Gewerbe.113 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Mo¨glichkeiten des Aufenthalts im Gru¨nen innerhalb des Stralauer Viertels weniger. Mietskasernen ersetzten zunehmend die Ga¨rten der ehemaligen Vorstadt. Die spa¨rlichen Reize der „u¨brig gebliebenen“ Gartenlokale beschrieb J. Trojan 1891: Berlin fehle es keineswegs an Bierga¨rten, denn „eine Gartenwirtschaft ist ja so leicht hergestellt. Wo vordem nichts war als Sand und Schutt, stehen auf einmal vierundzwanzig bis fu¨nfundzwanzig Ba¨ume, die zusammen bisweilen u¨ber hundert Bla¨tter haben. Zu den Ba¨umen kommen einige Laternenpfa¨hle, die sich von ersteren dadurch unterscheiden, daß sie gar keine Bla¨tter entwickeln. [...] Der Berliner ist sehr anspruchslos in manchen Dingen“.114 Einige „echte“ gru¨ne Orte blieben aber bestehen, beispielsweise der bereits erwa¨hnte große Sommergarten des Bo¨hmischen Brauhauses sowie die Ga¨rten der anderen Brauereien des Nordostens, etwa der Brauerei am Friedrichshain in der Straße Am Friedrichshain 16–23 oder der Actienbrauerei Friedrichsho¨he bzw. Patzenhofer in der Landsberger Allee 21–27.115 Der Reisefu¨hrer „Berlin fu¨r Kenner“ schrieb, dass in all diesen „zum Teil sehr großen Bierga¨rten“ mit „Naturbaumbestand“ ta¨glich Konzerte bei einem geringen Eintrittspreis aufgefu¨hrt wurden. „In allen entfaltet sich im Sommer das gute bescheidene Berliner Familienleben mit Kind und Kegel und mitgebrachten Stullen.“116 Neben den Bierga¨rten waren vor dem Ersten Weltkrieg die zahlreichen Sommertheater der Stadt zentrale Orte des sommerlichen Freiluftvergnu¨gens.117 Im Stralauer Viertel ero¨ffnete 1877 das Ostend-Theater, das in typischer Mischung neben dem Theatersaal auch einen Sommergarten mit Bu¨hne unterhielt.118 Das gastronomi113 Zu den Bouche´schen Ga¨rten vgl. Clemens Alexander Wimmer, Die Berliner Ga¨rtnerfamilie Bouche´

1704–1933, in: Garten Kunst Geschichte. Festschrift fu¨r Dieter Hennebo zum 70. Geburtstag, hg. v. Erika Schmidt/Winfried Hansmann/Jo¨rg Gamer, Worms am Rhein 1994, S. 44–50; Gerhard Fischer, Sie brachten Bohnen, Spargel und den Gummibaum. Familie Bouche´ schrieb Ga¨rtnereigeschichte, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1996), o. S.; Bernhagen, Bier- und Kaffeega¨rten (wie Anm. 106), S. 2–4. 114 J. Trojan, Gartenvergnu¨gen, in: Berliner Pflaster. Illustrierte Schilderungen aus dem Berliner Leben, hg. v. Moritz Reymond/Ludwig Manzel, Berlin 1891, S. 161–168, hier S. 164. 115 Vergleichsweise gut erforscht ist die Geschichte der Kreuzberger Brauereien und ihre Rolle in der Berliner Vergnu¨gungskultur. Vgl. Rudolf Lorenzen, Gartenkonzerte, in: Possen, Piefke und Posaunen. Sommertheater und Gartenkonzerte in Berlin, hg. v. Wolfgang Jansen/Rudolf Lorenzen, Berlin 1987, S. 103–173, bes. S. 157–164, oder Lothar Uebel, Viel Vergnu¨gen. Die Geschichte der Vergnu¨gungssta¨tten rund um den Kreuzberg und die Hasenheide (Kreuzberger Hefte VIII), Berlin 1985. Zur Brauerei am Friedrichshain vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1267–69; allgemein zu den Friedrichshainer Brauereien vgl. Feustel, Gebraut und gesoffen (wie Anm. 28). 116 Berlin fu¨r Kenner (wie Anm. 108), S. 142. 117 Allgemein zu den Sommertheatern vgl. Wolfgang Jansen, Sommertheater, in: Possen (wie Anm. 114), S. 9–96, oder Petra Louis, Vom Elysium zum Prater, Berliner Vorstadtbu¨hnen, der Beginn des privaten Theaterbetriebs im 19. Jahrhundert, in: Theater als Gescha¨ft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, hg. v. Ruth Freydank, Berlin 1995, S. 23–38. 118 Vgl. Jansen, Sommertheater (wie Anm. 116), S. 87–89, oder Edith Krull/Hans Rose, Erinnerungen an das Rose-Theater, Berlin 1960, S. 15; Martin Baumeister, Theater und Metropolenkultur. Berlin um 1900, in: Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, hg. v. Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Theatralita¨t 10), Tu¨bingen 2009, S. 193–215, bes. S. 200–205.

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sche Angebot wurde hier durch ein vielseitiges Unterhaltungsprogramm, Musik und Tanz, kleine Theater- und Variete´nummern sowie Feuerwerk, angereichert. Im Jahre 1906 wurde das Theater von der Schauspieler- und Theaterintendanten-Familie Rose u¨bernommen, und obwohl die Sommertheatertradition in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg vielerorts abbrach, blieb die Sommerbu¨hne des Rose-Theaters bis zur endgu¨ltigen Schließung 1944 ein zentrales Element der Vergnu¨gungs- und Erholungskultur des Berliner Ostens. Das Rose-Theater befand sich ganz in der Na¨he der Kellerschen Festsa¨le in dem Ha¨userblock zwischen Großer Frankfurter Straße, Andreas- und Fruchtstraße. Trotz seiner Lage im Hinterhof, umringt von hohen Brandmauern, wurde der Garten von Zeitgenossen als „gru¨ne Oase“ empfunden.119 Der Garten fasste u¨ber 1300 Zuschauer und verfu¨gte u¨ber ein Zeltdach, so dass die Sommerbu¨hne auch bei Regenwetter bespielt werden konnte.120 Hans Rose – Sohn des Gru¨nders und selbst viele Jahre lang Regisseur und Schauspieler im Rose-Theater – beschrieb den Sommergarten des Rose-Theaters folgendermaßen: „Unsere Gartenbu¨hne war immer gut besucht, aber wir haben uns auch bemu¨ht, sie zu einem Anziehungspunkt und Erholungsort fu¨r die Arbeiter zu machen. Fu¨r die Menschen, die dort um unser Theater herum in Hinterho¨fen und Mietskasernen hausten, war unser scho¨ner und gepflegter, mit Blumenrabatten und Springbrunnen ausgestatteter Garten mit seinem herrlichen alten Baumbestand eine Oase, in die sie nachmittags mit Kind und Kegel, mit Stullenpaketen und Kaffeetu¨ten – natu¨rlich konnte hier jeder seinen Kaffee aufbru¨hen – schon von zwei Uhr an einzogen.“121 Nicht nur die Leitung des Theaters lag in der Hand einer Familie,122 auch im Publikum spielte die familia¨re Atmospha¨re, die im Theater vorherrschte, eine bedeutende Rolle. Der Nachmittag im Rose-Theater begann mit Orchester-Musik. Hier blieben – zumindest unter der Woche – die Frauen und Kinder meist noch unter sich. Abends gesellten sich dann die Ehema¨nner hinzu, so dass der Besuch des Sommertheaters zum generationsu¨bergreifenden Familienausflug wurde.123 Auch junge Paare scha¨tzten die Mo¨glichkeit zum Tanz im Rose-Garten: „Als meine Lehrzeit zu Ende war und ich mehr Geld verdiente, saß ich mit meiner Freundin oft im RoseGarten, und wir erfreuten uns der scho¨nen Melodien. Bei herrlichem Rosenduft 119 Vgl. etwa den Artikel in den Dresdner Neusten Nachrichten vom 28. 5. 1938, zitiert nach: Heinz-Die-

ter Heinrichs, Das Rose-Theater. Ein volkstu¨mliches Familientheater in Berlin von 1906 bis 1944 (Theater und Drama 29), Berlin 1965, S. 31–32. 120 Vgl. Heinrichs, Das Rose-Theater (wie Anm. 118), S. 16–20; Baumeister, Theater und Metropolenkultur (wie Anm. 117), S. 211–213. 121 Krull/Rose, Erinnerungen (wie Anm. 117), S. 52. 122 Geleitet wurde das Rose-Theater als Familienbetrieb: Von 1906 bis zu seinem Tod von Bernhard Rose (1865–1927), der bereits auf anderen Berliner Bu¨hnen nebst Sommerbu¨hnen Erfahrungen gesammelt hatte. Anschließend u¨bernahm sein Sohn Paul Rose (1900–1973) das Theater in enger Kooperation mit seinen Bru¨dern Hans (1893–1980) und Willi (1902–1978). Alle drei Bru¨der blieben bis zum Ende des Spielbetriebs zusammen mit ihren Frauen als Schauspieler und Regisseure dem Haus eng verbunden. Vgl. Heinrichs, Das Rose-Theater (wie Anm. 118), S. 16–20; Krull/Rose, Erinnerungen (wie Anm. 117), bes. S. 34–56; Baumeister, Theater und Metropolenkultur (wie Anm. 117), S. 211–213. 123 So jedenfalls beschreibt Wolfgang Jansen die allgemeine Praxis des Familienausflugs in die Sommertheater: Jansen, Sommertheater (wie Anm. 116), S. 81.

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wurde kein Tanz ausgelassen.“124 Zwischen sechs und halb acht traten Artisten auf, bevor gegen acht Uhr abends eine Operette oder Revue auf der Bu¨hne vorgefu¨hrt wurde. In Anlehnung an die Jahresrevuen des Metropol-Theaters wurden beispielsweise drei Berlin-Revuen inszeniert, die große Erfolge feierten: 1911 „Es gibt nur ein Berlin!“125, 1912: „Juhu!!! Es ist erreicht!!!“126 und 1913: „Achtung, es geht los! (Die Reise durch Berlin in 80 Tagen)“127. Hans Rose, der viele der „leichten“ Stu¨cke fu¨r die Sommerbu¨hne inszenierte und auch ha¨ufig selbst mitspielte, betonte aber, dass sie niemals „Klamauk“ gespielt haben, „wir haben dafu¨r gesorgt, daß die Unterhaltung Niveau hatte“.128 Neben dem allta¨glichen Theaterbetrieb lockte der Rose-Garten auch mit ja¨hrlich wiederkehrenden Festen, dem Fru¨hkonzert zu Pfingsten, dem Rosen-Fest im Sommer und dem Winzerfest im Spa¨tsommer. Das Fru¨hkonzert begann bereits um fu¨nf Uhr morgens und war „stets ein richtiges Volksfest. [...] es war immer brechend voll“. Das Programm bestand aus Artistik, Musik und kurzen Theaterstu¨cken. Anla¨sslich des Rosen-Festes wurde der Garten mit Rosen geschmu¨ckt und „es gab Variete´, Tanz, Feuerwerk und Theater“.129 „Berlin von seiner besten Seite“ lautete der Titel eines Artikels in der Berliner Morgenpost vom August 1931: „Bunt und lustig“ sei der Garten dekoriert wenn „Winzerfest ist. Kaum hat sich der Vorhang auf der Bu¨hne geschlossen, da setzt schon die Tanzkapelle ein, und die Tanzfla¨che ist gewimmelt voll. Ehepaare aller Altersstufen sind da, die ein Ta¨nzchen riskieren, junge Ma¨dels mit ihrem mehr oder weniger Zuku¨nftigen. Da tanzt auch eine Mutter mit ihren Jungens [...] und alles ist vergnu¨gt, fro¨hlich, empfa¨nglich und lustig und dabei von einer erstaunlichen Selbstzucht.“130 Die Nachbarschaft des Viertels pra¨gte in hohem Maße das Publikum des Rose-Theaters. Vor allem Kleinbu¨rger und Proletarier, die „kleinen Leute“ des Berliner Ostens, kamen hier her, obwohl gerade sein „volkstu¨mlicher“ Ruf auch zahlreiche Neugierige aus anderen Stadtvierteln und Gesellschaftsschichten anzog. Dennoch – die billigen Eintrittspreise, die Lage des Theaters im Wohngebiet der Zielgruppe, ein treues Stammpublikum, das durch preiswerte Abonnements an das Theater gebunden wurde, der familia¨r-vertraute Umgang der Theatermacher mit ihrem Publikum und der Spielplan, der stets die Bedu¨rfnisse und Wu¨nsche des Publikums ernst nahm – 124 Brust, Koppenstraße 60 (wie Anm. 97), S. 100–101. 125 Text: F. W. Hardt, Musik: Arthur Steinke. Vgl. Anzeige „Auf der Gartenbu¨hne: Zum 50. Male: Es gibt

nur ein Berlin“, in: B. Z. am Mittag vom 22. 7. 1911. 126 Text: F. W. Hardt, Musik: Walter Kollo. Vgl. Anzeige „Auf der Gartenbu¨hne: Zum 50. Male Juhu! Es

ist erreicht!“, in: Berliner Morgenpost vom 14. 7. 1912.

127 Text: Rudolf Schwarz-Reiflingen, Musik: Wilhelm Aletter. Zu allen drei Revuen vgl. auch Michael

Baumgarten, Der Rose-Garten und die Operette, in: Das Rose-Theater. Ein Volkstheater im Berliner Osten 1906–1944, hg. v. Michael Baumgarten/Ruth Freydank, Berlin 1991, S. 100–125, hier S. 105. 128 Krull/Rose, Erinnerungen (wie Anm. 117), S. 53. 129 Beide Zitate und eine kurze Beschreibung der Feste in: Krull/Rose, Erinnerungen (wie Anm. 117), S. 53. 130 „Bei Roses im Garten. Berlin von seiner besten Seite“, in: Berliner Morgenpost vom 5. 8. 1931.

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all diese Faktoren trugen zur starken Verankerung des Rose-Theaters im Kiezvergnu¨gen des Stralauer Viertels bei. In einem zeitgeno¨ssischen Zeitungsartikel werden die Beweggru¨nde fu¨r das Aufsuchen der Vergnu¨gungsangebote durch die lokale Bevo¨lkerung geschildert: „Hier sucht und findet der Bu¨rger, der kleine Mann, der mit dem Pfennig rechnen muß, der am Abend zu mu¨de ist, um noch einmal in die Stadt zu gehen, der zu sparsam ist, um mehr als zwei Mark zu opfern, sein Theatervergnu¨gen.“131 Es muss noch erga¨nzt werden, dass nicht nur der „kleine Mann“, sondern in hohem Maße die Frauen des Viertels das Rose-Theater, den Sommergarten und die zahlreichen geselligen Zusammenku¨nfte, die Feste und Hausfrauentage, die im Theater gefeiert wurden, aufsuchten.132 Der Garten des Rose-Theaters war mehr als eine Sommerbu¨hne. Zwar waren die unterhaltenden theatralen Darbietungen auf der Bu¨hne Publikumsmagneten. Aber das gesellige Beisammensein mit Freunden, Nachbarn und Familie und die gastronomischen Angebote – der Kaffe, die mitgebrachten „Stullenpakete“ und die Wu¨rstchenbuden – waren ebenso Bestandteil des Sommervergnu¨gens wie die Gru¨nanlagen, die Feste, die Musik und die Mo¨glichkeiten zum Tanz. Die großgastronomischen Einrichtungen des Kiezvergnu¨gens waren Orte eines Massenvergnu¨gens – im ganz wo¨rtlichen Sinn. Jede und Jeder konnte sie aufsuchen und zumindest eine Kleinigkeit konsumieren. Allerdings – und das ist wichtig, will man nicht unreflektiert eine sich zunehmend demokratisierende Massenkultur beschwo¨ren – suchten keineswegs alle Bevo¨lkerungsschichten und alle Bevo¨lkerungsgruppen die Vergnu¨gungsorte gleichzeitig auf. Vereinsfeste, Frauenkra¨nzchen, Homosexuellen-Feste, kirchliche Wohlta¨tigkeitsveranstaltungen und Feste der Arbeiterbewegung fanden nicht zur selben Zeit und am selben Ort statt. Ob sich Vertreter der verschiedenen sozialen Gruppen u¨berhaupt jemals in den gastronomischen Einrichtungen trafen, oder ob sie sich bewusst oder aufgrund der mehr oder weniger sichtbaren sozialen Grenzen und Barrieren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik aus dem Weg gingen, kann angesichts der Quellenlage nicht abschließend beantwortet werden. Die Wirte hingegen legten sich offensichtlich keineswegs fest – sie o¨ffneten ihre Lokale fu¨r alle, die profitbringende Veranstaltungen organisieren wollten. So spiegelt das Gesamtangebot der Großgastronomie die Vielfalt sozialer Gruppen und Milieus. Das Vergnu¨gen war generationsu¨bergreifend. Mehrgenerationenfamilien trafen sich hier ebenso wie junge Leute, die erste Kontakte zum anderen Geschlecht knu¨pfen wollten. Auch war es geschlechteru¨bergreifend, Ma¨nner und Frauen vergnu¨gten sich hier gleichermaßen und es war – im Rahmen des jeweiligen Kiezes – schichtu¨bergreifend. Betrachtet man aber die einzelnen Veranstaltungen, so stellten diese oft eine „geschlossene Gesellschaft“ dar, trafen sich hier sozial und politisch homogene Gruppen; viele Veranstaltungen richteten sich an ein sehr ausgewa¨hltes, milieu- oder generationenspezifisches Publikum. Die meisten großgastronomischen Angebote wurden durch die lokale Bevo¨lkerung des Stralauer Viertels und angrenzender Wohngebiete besucht. Obwohl einige 131 Berliner Illustrierte Nachtausgabe 19. 9. 1929, zitiert nach: Baumgarten, Die Roses und ihr Publikum,

in: Das Rose-Theater (wie Anm. 126), S. 31–48, hier S. 33.

132 Vgl. Heinrichs, Das Rose-Theater (wie Anm. 118), S. 22–23 und 30–32.

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Veranstaltungen von u¨berregionaler Bedeutung waren und Besucher aus anderen Teilen der Stadt anzogen, dominierte bei den allermeisten Veranstaltungen und im allta¨glichen Gastronomiebetrieb der lokale Charakter. Damit war auch die Großgastronomie ein Teil des Kiezvergnu¨gens.

IV. Ausblick

Das Kiezvergnu¨gen des Stralauer Viertels ist ohne sein Gastgewerbe nicht denkbar: Unza¨hlige kleine Kneipen mit und ohne Essensangebot, Restaurants und Fru¨hstu¨cksstuben boten einen allta¨glichen Zugang zu Nahrung und Getra¨nken sowie Geselligkeit, Abwechslung und nicht zuletzt Vergnu¨gen. Die großen gastronomischen Etablissements erga¨nzten das Angebot der kleinen Kneipen durch aufwendigere Gastronomie, durch die Bereitstellung großer Fest- und Versammlungsra¨ume und durch familienzentrierte Bier- und Kaffeega¨rten. Um Missversta¨ndnissen vorzubeugen – mit dem Begriff Kiezvergnu¨gen soll keineswegs eine idyllische Verkla¨rung einer vermeintlich authentischen oder harmonischen Gemeinschaftskultur der a¨rmeren Bevo¨lkerungsschichten betrieben werden. Gerade bei der Betrachtung des Gastronomiegewerbes wird deutlich, dass Streit und Aggression, Elend und Ausbeutung keineswegs vor den Vergnu¨gungsorten des lokalen Kiezvergnu¨gens haltmachten. Sie waren vielmehr Bestandteil und mitunter Ausdruck des Freizeitverhaltens der Bewohnerinnen und Bewohner des Berliner Ostens. Das popula¨re Lied „Bolle reiste ju¨ngst zu Pfingsten“ zeigt dies anschaulich in seinem drastischen Text, vor allem im Refrain, in dem stets versichert wird, dass sich Bolle trotz aller Widrigkeiten und gewaltta¨tigen Auseinandersetzungen „janz ko¨stlich amu¨siert“ habe. In den Orten des Gastronomiegewerbes fanden Kneipenschla¨gereien, Alkoholexzesse, Familienstreitigkeiten, Prostitution, Zuha¨lterei und Saalschlachten zwischen rivalisierenden Parteien und Vereinen statt. Politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen pra¨gten das Kneipenvergnu¨gen und spiegelten sich in der Nutzung der jeweiligen Vergnu¨gungsorte: Die Arbeiterbewegung politisierte und agitierte hier, feierte ihre Feste und unterlief so bis 1891 die Einschra¨nkungen des Sozialistengesetzes. Damit einher gingen Spitzel- und Denunziantentum, Heimlichkeit und Verrat. Anhand der Kneipenkultur wurden gesellschaftliche Konflikte um Alkoholmissbrauch und Ma¨ßigung, um Sittlichkeit und um „richtige“ oder „falsche“ Unterhaltung diskutiert und ausgetragen. Das Kiezvergnu¨gen war also keineswegs unpolitisch oder sozialen Konflikten gegenu¨ber gleichgu¨ltig. Das Gastronomiegewerbe des Kiezvergnu¨gens wies sowohl Kontinuita¨t als auch Wandel auf. Bei den kleinen Kneipen der „langen Jahrhundertwende“ a¨nderten sich weder Angebot noch Funktion grundsa¨tzlich: Wirte kamen und gingen, Biersorten wechselten, es gab mehr oder weniger Essensangebot, einige Lokalita¨ten offerierten Mo¨glichkeiten zum Tanz oder Spiel, andere nicht. Aber die Kneipe als Ort des Konsums von u¨berwiegend alkoholischen Getra¨nken, als Treffpunkt sozial und politisch

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a¨hnlich Gesinnter einer Nachbarschaft oder als Vereinslokal – an diesen Funktionen a¨nderte sich im Laufe des Untersuchungszeitraums wenig. Anders bei den großen gastronomischen Etablissements: Der mediale Wandel der Vergnu¨gungskultur schlug sich hier sta¨rker nieder als in den kleinen Eckkneipen. Den radikalsten Bruch erfuhren die Festsa¨le, die sich von Tanz-, Fest- und Konzertsa¨len in Großkinos verwandelten. Damit vera¨nderten sich nicht nur die Betreiber – vom Großgastronom zum Kinobesitzer – sondern auch die allta¨gliche Nutzung der Geba¨ude. Vereinsversammlungen, Festveranstaltungen, politische Kundgebungen, popula¨re Vortra¨ge oder große Familienfeste konnten hier nicht mehr stattfinden, statt dessen verlagerte sich das Vergnu¨gen hin zum Konsum von Filmen. Auch das Kiezvergnu¨gen unterlag im 20. Jahrhundert dem medialen Wandel. Die wenigen Sommerga¨rten des Stralauer Viertels wiederum blieben ihren jeweiligen Traditionen bewusst treu. Nach dem oft zitierten Motto vieler Sommerga¨rten „Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier ko¨nnen Familien Kaffee kochen“ a¨nderten sie ihre traditionelle Nutzung kaum, sofern sie sich in innersta¨dtischer Lage halten konnten. Hier wurde gegessen, getrunken und, je nach Angebot, getanzt, den Auffu¨hrungen auf den Freiluftbu¨hnen gefolgt oder der Konzertmusik gelauscht. Dabei stellten allenfalls neue Medien der Musikwidergabe bedeutende Innovationen dar. Das Freiluftvergnu¨gen im Stralauer Viertel steht beispielhaft dafu¨r, dass das Kiezvergnu¨gen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein weitgehend o¨ffentliches Vergnu¨gen war. Erst die zunehmende Verbreitung der neuen audiovisuellen Massenmedien, ¨ ffentlichkeit und Privatdie NS-Diktatur mit ihren Folgen fu¨r das Verha¨ltnis von O heit und schließlich die Zersto¨rung des urbanen Ensembles im Zweiten Weltkrieg setzten dem Kiezvergnu¨gen der langen Jahrhundertwende ein Ende. Mit der Wiederentdeckung und Sanierung der alten Berliner Mietskasernenviertel kehrt das Kiezvergnu¨gen inzwischen vielerorts zuru¨ck. Anstelle von Sommerga¨rten und Festsa¨len setzen im alten Stralauer Viertel heute jedoch Strandbars und die O2-World ganz neue Maßsta¨be in der urbanen Vergnu¨gungskultur.

MILIEU UND METROPOLE Theatrale Passagen der deutschen Arbeiterbewegung nach 1900 von Matthias Warstat

Als eine urban ausgerichtete und auf die gewerblichen und industriellen Zentren bezogene Bewegung kam die Sozialdemokratie in den Jahrzehnten um 1900 in Kontakt mit einer entstehenden Metropolenkultur. Es stellt sich die Frage, wie sich die unter dem Metropolenbegriff zu diskutierenden Vera¨nderungen des lokalra¨umlichen Kontextes auf die kulturellen Formen der Arbeiterbewegung auswirkten. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ist insbesondere die theatrale Dimension dieser Formen von Interesse, also die Art und Weise, wie das gesellige Leben der proletarischen Vereine, Parteien und Gewerkschaften in kulturellen Auffu¨hrungen – das heißt in Festen, Ritualen und Versammlungen unterschiedlicher Auspra¨gung – inszeniert und verko¨rpert wurde.1 Eine solche Perspektive richtet sich entsprechend nicht allein auf das Arbeitertheater im engeren Sinne, die zahlreichen Laienspielund Volksbu¨hnenvereine, wenngleich sich an diesen Spezialorganisationen viele Charakteristika der Arbeiterbewegungskultur ablesen lassen. Die Theatralita¨t der Bewegung in umfassenderem Sinne in den Blick zu nehmen, verlangt aber vor allem eine Bescha¨ftigung mit dem weit gro¨ßeren Bereich der Selbst- und Fremdinszenierungen auf jenen allta¨glichen Zusammenku¨nften kleineren und gro¨ßeren Maßstabs, wo sich proletarische Geselligkeit vollzog und bewegungsspezifische kulturelle Diskurse wie auch politische Handlungspotenziale konstituierten.2 Die Unu¨bersichtlichkeit dieses Feldes bringt es mit sich, dass Studien zur Inszenierung proletarischer Feste und 1 Vgl. zu Grundkonzepten und Erkenntnisinteressen der neueren Theatralita¨tsforschung aus theater-

wissenschaftlicher Perspektive vor allem Rudolf Mu¨nz, Theatralita¨t und Theater. Zur Historiographie von Theatralita¨tsgefu¨gen, hg. v. Gisbert Amm, Berlin 1998; Erika Fischer-Lichte, Theatralita¨t und Inszenierung, in: Dies. u. a. (Hg.), Inszenierung von Authentizita¨t, 2. Aufl., Tu¨bingen/Basel 2007, ¨ sthetische Grundbegriffe. S. 11–27; Helmar Schramm, Theatralita¨t, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), A Historisches Wo¨rterbuch in sieben Ba¨nden, Bd. 6, Stuttgart und Weimar 2005, S. 48–73. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive: Herbert Willems (Hg.), Theatralisierung der Gesellschaft, 2 Bde., Wiesbaden 2009. Der Begriff der ‚kulturellen Auffu¨hrung‘ entspricht dem von Singer eingefu¨hrten Konzept der ‚cultural performance‘, vgl. Milton Singer, Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959. 2 Es geht der Theatralita¨tsforschung nicht allein darum, den Inszenierungscharakter von Versammlungen zu konstatieren. Vielmehr kommt es darauf an, die auf den Versammlungen identifizierbaren konkreten theatralen Formen – Gesten, Bewegungsmuster, Raumkonzepte etc. – genauer zu bestimmen und historisch einzuordnen.

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Versammlungen die sozialtopographische Einbettung dieser Zusammenku¨nfte nicht immer hinreichend beleuchten konnten. Von daher wa¨re es vielversprechend, Theatralita¨tsstudien zur Arbeiterbewegung und Metropolenforschung in Zukunft sta¨rker aufeinander zu beziehen. Die theatralita¨tsgeschichtliche Anna¨herung an die moderne Metropole erfolgt in diesem Beitrag ausgehend vom Begriff des Milieus, weil die heranwachsenden Metropolen unter anderem dadurch gekennzeichnet scheinen, dass einander zuvor fern¨ ffentlichkeit versta¨rkt fu¨rliegende Milieus in einer neu strukturierten sta¨dtischen O einander sichtbar werden. In der Metropole, so die Ausgangsvermutung, kommt es nicht unbedingt zu einer Auflo¨sung traditioneller sozialer Milieus und auch nicht zu einer Entscha¨rfung von Klassengegensa¨tzen, aber beobachtbar ist, dass die gegenseitige Wahrnehmbarkeit verschiedener sozialer Gruppen zunimmt, weil zu der Metropole zum Beispiel exponierte Orte geho¨ren wie der Jahrmarkt, das Kaufhaus, das Vergnu¨gungslokal, die Vo¨lkerausstellung oder der Zoologische Garten, wo eine gewisse Begegnungschance zwischen gegensa¨tzlichen sozialen Milieus besteht. Dass es in der Metropole nicht einfach zu einer Verwischung von sozialen und politischen Gegensa¨tzen kommt, wird schon daran deutlich, dass die wichtigen politischen Organisationen und sozialen Bewegungen der Moderne in die gesteigerte Wahrnehmbar¨ ffentlichkeitsstrukturen keit voll einbezogen waren. Fu¨r sie boten die neuartigen O erweiterte Mo¨glichkeiten, das eigene Anliegen und die eigenen Machtressourcen fu¨r Anha¨nger, Konkurrenten und Gegner sichtbar werden zu lassen. Womo¨glich ent¨ berschreitung der angestammten Milieus. stand dabei die Chance zu einer partiellen U Am Beispiel der Arbeiterfestkultur im Deutschland des fru¨hen 20. Jahrhunderts la¨sst sich zeigen, dass diese neuen, gerade in der Metropole realisierbaren Optionen politischer Selbstdarstellung mit dem Begriff der ‚Theatralisierung‘ sinnvoll beschrieben werden ko¨nnen. Was ist gemeint, wenn man fu¨r die Jahrzehnte nach 1900 von einer Theatralisierung der Arbeiterbewegungskultur in Deutschland spricht? Der Blick richtet sich dann auf das stetig wachsende Spektrum an performativen Darbietungen und Vergnu¨gungen, das die Feste der Arbeiterbewegung vor allem seit 1918 boten. Feste wie der Erste Mai, aber auch Gewerkschaftsfeste, Revolutionsgedenkfeiern oder Stiftungsfeste unterlagen einem gesteigerten Inszenierungsaufwand, der nicht zuletzt mit vera¨nderten Darstellungsanspru¨chen im urbanen Kontext erkla¨rt werden kann. Neue Bewegungsformen und Ko¨rperinszenierungen entstanden in Konkurrenz zu, aber zugleich auch in Anlehnung an kommerzielle und ku¨nstlerische Attraktionen der Großstadt. Auf den folgenden Seiten mo¨chte ich der Frage nachgehen, wie sich diese Vera¨nderungen des proletarischen Feierns mit dem Konzept einer ‚Metropolenkultur‘ in Verbindung bringen lassen. Dabei sollen zwei Argumentationslinien verfolgt werden: In einem ersten Schritt werde ich, im Ru¨ckgriff auf eine Theatralita¨tsdefinition der kanadischen Theaterwissenschaftlerin Josette Fe´ral, die auf die Metapher der ‚Passage‘ rekurriert, danach fragen, ob die politische Feierpraxis als eine Art Bru¨cke zwischen den traditionellen Milieus der Arbeiterbewegung und einer milieuu¨bergreifenden urbanen Geselligkeit betrachtet werden kann. Im zweiten Teil soll an einem Beispiel genauer betrachtet werden, wie Festinszenierungen der Arbeiterbewegung den sta¨dtischen Raum fu¨r sich zu vereinnahmen suchten, um im Spannungs-

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feld der Metropole wirkungsvoll sichtbar zu werden. Das Ergebnis dieser Passagen ¨ berschreitungen war zwiespa¨ltig: Einerseits gewannen die Arbeiterorganisaund U tionen in den Metropolen eine Sichtbarkeit, die u¨ber die traditionelle proletarische ¨ ffentlichkeit weit hinausging. Andererseits implizierte die Transgression der angeO stammten Milieugrenzen auch erhebliche Risiken fu¨r einen Zusammenhalt, der sich auf geselligen Familienfesten, gediegenen Vereinssitzungen und gemu¨tlichen Kneipenabenden fast wie von selbst ergeben hatte.

I. Passagen

Der Sozialhistoriker Thomas Welskopp hat in seinem Buch u¨ber die deutsche Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts unter dem Titel „Das Banner der Bru¨derlichkeit“3 herausgearbeitet, wie stark die Feste und Versammlungen der fru¨hen Arbeiterbewegung zur Herausbildung spezifischer, lokaler, kleinra¨umlich beobachtbarer Arbeiterbewegungsmilieus beigetragen haben. In der Konsequenz dieser Entstehungsgeschichte blieben kulturelle Auffu¨hrungen wie Feste und Versammlungen in den fru¨hen Jahrzehnten der Arbeiterbewegung zuna¨chst fest in diesen scharf konturierten Milieus verankert. Erst diese stabile Verankerung macht es mo¨glich, von den fru¨hen Arbeiterorganisationen als einer Vereins- und Versammlungsbewegung zu sprechen. Fu¨r eine genauere Untersuchung des Verha¨ltnisses zwischen den traditionellen Arbeiterbewegungsmilieus und der entstehenden Metropolenkultur ist es wichtig zu rekapitulieren, wie Welskopp den Milieubegriff fu¨r seine Untersuchungen definiert: Unter Milieus versteht er „soziale Kontexte, die sich durch die Bu¨ndelung und Kombination spezifischer sozialer Beziehungen als besonders dicht, geschlossen, selbstbezogen und stabil auszeichnen. Milieus sind soziale Gemeinschaften, die auf der Selbstversta¨ndlichkeit sozialer Na¨he nach innen und sozialer Abgrenzung nach außen basieren. Milieus sind konkrete Personennetzwerke, die sich in den Betrieben, in den Wohnvierteln, aber auch in Organisationen einwurzeln ko¨nnen. Sie ko¨nnen ¨ berlagerung dieser Spha¨ren entsteauch aus einer spezifischen Kombination und U hen. Das Milieu ist eine Beschreibungskategorie, die soziale Beziehungsnetzwerke auf eine eigentu¨mliche, mehr oder minder starke qualitative Fa¨rbung zuru¨ckfu¨hrt. Sie ist kein Gegenbegriff zur Klasse. Vielmehr bilden sich gerade auf der Basis von Klassenbeziehungen ha¨ufig besonders stabile und sozial spezifische milieuartige Zusammenha¨nge.“4 Von dieser Definition ausgehend la¨sst sich zeigen, dass die fru¨he Arbeiterbewegung eine Vielzahl eigener Arbeiterbewegungsmilieus hervorbrachte: Milieus, die sich in den Organisationen der Arbeiterbewegung bildeten und sich um deren Feste

3 Thomas Welskopp, Das Banner der Bru¨derlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vorma¨rz bis

zum Sozialistengesetz, Bonn 2000.

4 Ebd., S. 49.

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und Versammlungen herum konstituierten. Gerade die Feste sorgten aufgrund ihrer rituellen Wiederholungsstruktur, ihrer Exklusivita¨t und ihrer spezifischen, ko¨rperlich-emotionalen Note fu¨r jene Selbstversta¨ndlichkeit sozialer Na¨he nach innen und sozialer Abgrenzung nach außen, fu¨r jene Dichte, Selbstbezogenheit und Stabilita¨t, derer es zur Herausbildung kleinra¨umlicher, in sich geschlossener sozialdemokratischer Milieus bedurfte. Respektabilita¨t und Geselligkeit waren die impliziten Leitwerte der Festkultur der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Zum Streben nach Respektabilita¨t, das viele Aktivita¨ten der Vereine motivierte, geho¨rte das Bemu¨hen, Feiern in kultivierter, serio¨ser Form durchzufu¨hren. Respektable Feste mit klassischer Musik, historisierenden Vortra¨gen und anderen gediegenen Programmpunkten fo¨rderten den Organisationsstolz der Teilnehmer und festigten auf diese Weise die emotionale Bindung an ¨ berschauden veranstaltenden Verein. Geselligkeit verband sich mit einer gewissen U barkeit und einem Klima der Vertrautheit, das die fru¨hen sozialdemokratischen Feste pra¨gte. Vom geselligen Miteinander der Feiernden gingen gemeinschaftsstiftende Effekte aus – Wirkungen also, die prima¨r ‚nach innen‘, auf die Binnenbeziehungen im Verein, gerichtet waren: Zwanglose Kommunikation, gemeinsames Trinken, Tanzen und andere Festhandlungen sta¨rkten bei regelma¨ßiger Wiederholung ein Gefu¨hl der Zusammengeho¨rigkeit unter den Vereinsmitgliedern.5 An der Feierpraxis der Sozialdemokraten fa¨llt im 19. Jahrhundert ein weitgehender Ru¨ckzug in geschlossene Ra¨ume auf. Gerade in Zeiten scharfer staatlicher Repres¨ ra des Sozialistengesetzes, spielte sich das proletarische Festgeschesion, so in der A hen fast ausschließlich in der geschu¨tzten Spha¨re von Arbeiterkneipen und Gasthaussa¨len ab. Von einer expansiven Aneignung des o¨ffentlichen Raumes konnte aber auch in liberaleren Phasen wie den 1860er oder den 1890er Jahren nicht die Rede sein. ¨ berwachung. Das VerFestzu¨ge im Freien blieben stets im Visier der polizeilichen U sammlungsrecht bot der Polizei alle Mo¨glichkeiten, Umzu¨ge unter freiem Himmel zu unterbinden oder mit strengen Auflagen schon im Voraus in ungefa¨hrliche Bahnen zu lenken. In Erfu¨llung solcher Auflagen, manchmal auch in vorauseilendem Gehorsam, gaben die Arbeiterorganisationen ihren o¨ffentlichen Umzu¨gen, sofern sie nicht ganz darauf verzichteten, meist die Form moderater „Massenspazierga¨nge“. Man beanspruchte keine zentralen Pla¨tze in der Stadt, sondern wich auf die Peripherie aus und steuerte nahegelegene Ausflugslokale an.6

5 Zur Bedeutung von „Respektabilita¨t“ fu¨r die Festkultur der fru¨hen Arbeiterbewegung: Welskopp,

Banner der Bru¨derlichkeit (wie Anm. 3), S. 354f. u. 370f.; zur Bedeutung von „Geselligkeit“: ebd., S. 339–345 u. 382f.; Vernon L. Lidtke, The Alternative Culture, Socialist Labor in Imperial Germany, New York/Oxford 1985, S. 100f. Das Ineinander von innen- und außengerichteten Zielen in der sozialdemokratischen Festkultur betont Lynn Abrams, Workers’ Culture in Imperial Germany, London/ New York 1992, S. 54. 6 Ru¨ckzugstendenzen am 1. Mai „im Angesicht der Barrikaden, hinter denen sich das gegnerische Lager verschanzt hatte“, beobachtet Jens Flemming, Der erste Mai und die deutsche Arbeiterbewegung. Politische Demonstration und sozialistische Festtagskultur, in: Uwe Schultz (Hg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Mu¨nchen 1988, S. 341–351, hier S. 346. Nach Edith Lerch fanden im Jahrzehnt von 1890 bis 1900 viele Maifeiern aufgrund polizeilicher Schikanen „hinter geschlossenen Tu¨ren“ statt, siehe dies., Die Maifeiern der Arbeiter im Kaiserreich, in: Die-

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Mit einer Vielzahl an unterhaltsamen Darbietungen und komischen Einlagen waren die Feste der fru¨hen Arbeiterbewegung kaum allein Agitations- oder Bildungsereignisse, sondern fast immer auch darauf angelegt, das Bedu¨rfnis nach entertainment und Zerstreuung zu befriedigen. Davon zeugen gerade auch die in die Feste integrierten Theaterauffu¨hrungen: Es dominierten Darstellungsformen aus der Tradition des bu¨rgerlichen und volkskulturellen Unterhaltungstheaters – Possen, Schwa¨nke, Lieder, Akrobatik –, wa¨hrend sich die ersten politischen Agitationsstu¨cke mit ihren hehren Botschaften nur dann durchsetzen konnten, wenn sie ihr Publikum auch mit humoristischen oder satirischen Qualita¨ten u¨berzeugten. Die im Rahmen von Festen auftretenden Gesangsabteilungen und Theatergruppen der Vereine – spa¨ter die auf diese Aktivita¨ten spezialisierten Kulturvereine – erfu¨llten mithin Funktionen, die in a¨hnlicher Weise auch von der sich herausbildenden kommerziellen Massenkultur u¨bernommen wurden.7 Das Buch von Thomas Welskopp fu¨hrt uns aber zugleich in eine noch eher kleinsta¨dtische und vorsta¨dtische Welt, gepra¨gt von Industriedo¨rfern, handwerklich strukturierten Gewerbegebieten und klar segregierten Arbeitersiedlungen. Es ist eine Welt, in der schon die restriktiven rechtlichen Rahmenbedingungen dafu¨r sorgten, dass die Arbeitervereine nur wenig Mo¨glichkeit erhielten, sich vor anderen sozialen Milieus zu exponieren.

¨ ffentliche Festkultur. Politische Feste von der Aufkla¨rung bis zum Ersten ter Du¨ding u. a. (Hg.), O Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 352–372, hier S. 366. Gerhard Schneider, Politische Feste in Hannover (1866–1918). Teil 1: Politische Feste der Arbeiter, Hannover 1995, S. 291f., unterstreicht die Dominanz von Saalfeiern gegenu¨ber Festzu¨gen in der Festkultur der Hannoveraner Sozialdemokratie bis 1914. Von einer „dichten Abschirmung der Parteimitglieder von ihrer Umwelt“ und einer „Abkapselungstendenz“ spricht Helga Stachow, siehe dies., Gedenkfeier, Herbstvergnu¨gen und literarisch-musikalischer Unterhaltungsabend: Stiftungsfeste der Sozialdemokratischen Partei in Hamburg zwischen 1890 und 1915, in: Albrecht Lehmann (Hg.), Studien zur Arbeiterkultur, Mu¨nster 1984, S. 283–304, hier S. 292 u. 295. Bernd Ju¨rgen Warneken, „Die friedliche Gewalt des Volkswillens“. Muster und Deutungsmuster von Demonstrationen im deutschen Kaiserreich, in: Ders. (Hg.), Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 97–119, betont den defensiven Charakter von Maifestzu¨gen im Vergleich zu den Wahlrechtsdemonstrationen in Preußen 1910. Am Beispiel von Ma¨rzfeiern in der Rheinprovinz im Kaiserreich zeigt Ute Schneider, dass der Verzicht auf o¨ffentliche Umzu¨ge, die Beschra¨nkung auf geschlossene Ra¨ume, tatsa¨chlich eine deut¨ berwachung zur Folge haben konnte, vgl. dies., Politische Festkultur liche Reduktion der staatlichen U im 19. Jahrhundert. Die Rheinprovinz von der franzo¨sischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ¨ berblick u¨ber Demonstrationskulturen des 19. Jahrhun(1806–1918), Essen 1995, bes. S. 279. Einen U derts bietet Wolfgang Kaschuba, Von der „Rotte“ zum „Block“. Zur kulturellen Ikonographie der Demonstration im 19. Jahrhundert, in: Warneken (Hg.), Massenmedium Straße (wie Anm. 5 weiter oben), S. 68–96. 7 Abrams, Workers’ Culture (wie Anm. 4), S. 55f., sieht die Feste der Arbeiterbewegung im Kaiserreich deutlich von Volksfesten beeinflusst und unterstreicht die Entertainment-Qualita¨ten der proletarischen Festkultur. Die lokalen Parteiaktivisten, so Abrams’ Analyse auf der Basis von rheinisch-westfa¨lischen Quellen, ha¨tten bald gemerkt, „that working-class participation on any significant scale could only be achieved if the event was given a popular charakter.“ Stachow, Gedenkfeier, Herbstvergnu¨gen (wie Anm. 5), S. 284 u. 290, unterstreicht die Dominanz von Komo¨dien, Possen und Ru¨hrstu¨cken in den Theaterprogrammen auf Arbeiterfesten vor 1914. Dieselbe Beobachtung findet sich bei Peter von Ru¨den, Sozialdemokratisches Arbeitertheater (1848–1914). Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Theaters, Frankfurt a. M. 1973, S. 87–89. Zum Zusammenhang von Geselligkeit und Gemeinschaftsstiftung in Festen der fru¨hen Arbeiterbewegung: Welskopp, Banner der Bru¨derlichkeit (wie Anm. 3), S. 339f.

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Was passierte nun, wenn diese relativ klar definierten Arbeiterbewegungsmilieus ¨ ffentlichkeit der Metropole gerieten? Es entin die verschachtelte, unu¨bersichtliche O standen dann neue Praktiken des Sich-Versammelns und des Feierns, die verschie¨ berschreitungen der Milieugrenzen ermo¨glichten. Entdene, zumindest tempora¨re U scheidend sind drei Entwicklungen, die in Deutschland um die Jahrhundertwende in der großsta¨dtischen theatralen Feierpraxis einsetzten: 1) Die schon vor 1900 beobachtbare Integration kommerzieller Attraktionen in die Feste der Arbeiterbewegung nahm signifikant zu. Am Rande der großen Gewerkschaftsfeste, die in den Arbeitermetropolen Berlin, Hamburg, Leipzig oder Frankfurt zum Teil mehrere zehntausend Teilnehmer mobilisieren konnten, konkurrierten Hunderte von Kleinunternehmern mit Vergnu¨gungsangeboten um die Gunst der Feiernden. Die Angebotspalette reichte von Schießbuden u¨ber Bierzelte, Schwenkgrills, Fahrgescha¨fte, Kuriosita¨tenkabinette, Kinderbelustigung bis hin zu professionellen Sa¨ngerinnen und Kleindarstellern, die an den Abenden in den Tanzlokalen mit kurzen Auftritten das Programm bereicherten. Die Mehrzahl dieser Kleinanbieter war in ihren Gescha¨ftsaktivita¨ten beileibe nicht auf den Veranstaltungskalender der Arbeiterbewegung beschra¨nkt, sondern beta¨tigte sich genauso auf kommerziellen Rummelpla¨tzen, in Variete´s, auf bu¨rgerlichen Sportfesten und wa¨hrend der Sommermonate in den sta¨dtischen Erholungsarealen. Wenn solche Akteure auf Festen der Arbeiterbewegung in Erscheinung traten, bildeten sie ein verbindendes Element zur kulturellen Praxis anderer Milieus. 2) Spa¨testens wa¨hrend der 1920er-Jahre orientierte sich sowohl die sozialdemokratische als auch die kommunistische Feierpraxis auf je eigene Weise an den neuen ¨ sthetiken der Theateravantgarde, die in den Metropolen beheiperformativen A matet waren. Die Begriffe High culture und Low culture sind eher ungeeignet, diese Prozesse ada¨quat zu beschreiben. So wa¨re es zum Beispiel falsch zu sagen, indem sich die Arbeiterbewegung der Theateravantgarde anna¨herte, habe sie sich ein Stu¨ck bu¨rgerlicher Hochkultur zu eigen gemacht. Die Theateravantgarde ist na¨mlich nicht ohne Weiteres als bu¨rgerliche Hochkultur beschreibbar. Zutreffender ist der Befund, dass die Theaterpraktiker der Avantgarde aus unterschiedlichen kulturellen Ressourcen scho¨pften und zu verschiedensten großsta¨dtischen Milieus Beziehungen anknu¨pften. Die Revueprogramme der Dadaisten, aber auch die politischen Revuen eines Erwin Piscator waren zweifellos von den kommerziellen Nummernprogrammen der Nachtlokale und Cabarets inspiriert. Max Reinhardt war als entscheidender Motor der Theateravantgarde in seinem ku¨nstlerischen Schaffen von Anfang an von kommerzieller Unterhaltungskultur beeinflusst und hatte in der Entwicklung seiner theatralen Ausdrucksformen keinerlei Beru¨hrungsa¨ngste zur Welt des Variete´s, des Zirkus und des fru¨hen Films. Bertolt Brecht, ein von der Theaterszene der Hauptstadt zeitweise sehr geliebter Bu¨rgersohn, entwickelte das Lehrstu¨ck, eine entscheidende Form der politischen Avantgarde, in Kooperation mit proletarischen Gesangs- und Arbeiterbildungsvereinen. Wenn also die Arbeiterfestkultur in der Weimarer Republik zunehmend Formen der Theateravantgarde integrierte, zum Beispiel Sprechcho¨re, Ausdruckstanz, politische Revuen und verschiedene Auspra¨gungen des Festspiels, dann war

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¨ bernahme von bu¨rgerlicher Hochkultur, sondern die Integration einer das keine U ku¨nstlerischen Sprache, die man von vornherein weder als High- noch als Low culture beschreiben sollte. Eine solch dichotomische Einteilung von Kultur ist schon fu¨r das 19. Jahrhundert schwer haltbar und deshalb auch nicht gut geeignet, um neue Entwicklungen der Zeit um 1900 zu beschreiben. ¨ berschreitung des angestammten Arbeiterbewegungsmilieus 3) Eine dritte Art der U vollzog sich durch die theatralen Repra¨sentationen selbst, die in die großsta¨dtischen Arbeiterfestprogramme eingebaut wurden. Auf Festen wie dem Ersten Mai wurden – oft unter der Leitung professioneller Theater- oder Opernregisseure – Masseninszenierungen unter freiem Himmel, in Stadien oder großen Hallen geboten. Solche Auffu¨hrungen integrierten Orchester- und Chormusik, Sprech- und Bewegungscho¨re, Filmeinspielungen, opulente Scheinwerfereffekte und die Mitwirkung gro¨ßerer Gruppen aus dem Zuschauerraum. All diese a¨sthetischen Mittel transformierten das Fest in einen multimedialen Erlebnisraum, in dem alle Feiernden die Erfahrung aktiver Teilnahme an einer starken Gemeinschaft machen konnten. Es lohnt sich, auch auf die Inhaltsebene dieser avantgardistisch beeinflussten Formen zu schauen. Denn was sich die Arbeiter hier selbst vorspielten, waren Visionen einer nicht mehr milieugebundenen Welt, die einerseits gemeinschaftsbetont und weltumspannend, andererseits aber auch hochgradig technisiert, modern und urban skizziert wurde. Das Theater diente als Vehikel, um die Festgemeinde in eine andere, fiktive, aber zugleich unmittelbar sinnlich erfahrbare ¨ berschreitung von Welt zu versetzen. Auch das war eine Art, wie Theater zur U Milieugrenzen beitragen konnte. Die a¨sthetische Erschaffung einer anderen Welt sorgte fu¨r eine besondere Art der Passage, in der die kanadische Performancetheoretikerin Josette Fe´ral eine Grundfunktion theatraler Praktiken erkennt: „Initially, theatricality appears to be an almost fantastical cognitive operation set in motion either by the observer or the observed. It is a performative act creating the virtual space of the other, the transitional space discussed by Winnicott, the threshold (limen) discussed by Turner, or Goffman’s ‚framing‘. It clears a passage, allowing both the performing subject as well as the spectator to pass from ‚here‘ to ‚elsewhere‘.“8 Die großsta¨dtische Festkultur der Arbeiterbewegung partizipierte nach 1900 an Metropolenkultur, indem sie durch neue a¨sthetische Mittel die Ausdrucksformen, aber auch die Alltagswirklichkeit ihrer eigenen, angestammten Milieus teilweise u¨berschritt. Diese neuen a¨sthetischen Mittel wurden aus unterschiedlichen kulturellen Feldern bezogen, aus der kommerziellen Vergnu¨gungskultur genauso wie aus dem Formenrepertoire der ku¨nstlerischen Avantgarden. Unter dem Gesichtspunkt ‚Metropole‘ muss man deshalb neben der expandierenden Konsum- und Vergnu¨gungskultur auch die politische Kultur im Auge behalten – und nicht zuletzt die ku¨nstlerischen Techniken der Avantgarden, die in ihren Urspru¨ngen von massenkulturellen Konsum- und Vergnu¨gungspraktiken oft nur schwer zu trennen sind. 8 Josette Fe´ral Theatricality: The Specificity of Theatrical Language, in: SubStance 31 (2002), no. 2 &

3, S. 94–108, hier S. 98.

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II. Sichtbarkeit

Eine zweite Frage, die durch die Idee der Metropole fu¨r die Erforschung der Arbeiterbewegungskultur aufgeworfen wird, bezieht sich darauf, wie es den Arbeiterorganisationen gelingen konnte, in den gro¨ßeren, pluraleren und unu¨bersichtlicheren Sta¨dten fu¨r Freund und Feind sichtbar zu werden. In diesem Kontext sind Vera¨nderungen in der Rauminszenierung bemerkenswert, die sich im Blick auf sozialdemokratische und kommunistische Feste in der Weimarer Republik erkennen lassen. Dass es hier zu einem neuen Umgang mit urbanen o¨ffentlichen Ra¨umen kam, hat sicher zuvorderst mit den vera¨nderten rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun. Die Weimarer Verfassung und speziell das Weimarer Versammlungsrecht ermo¨glichten eine sehr viel selbstbewusstere Aneignung o¨ffentlicher Straßen und Pla¨tze. Diese Tatsache ist seit langem bekannt, aber sie wirft auch ein Licht auf die fu¨r die Metropolenforschung wichtige Frage, wie es den Milieus der Arbeiterbewegung gelingen konnte, sich in der metropolitan strukturierten Großstadt erfolgreich und u¨berzeugend zu exponieren. Die Festorganisatoren verfolgten dabei eine recht stereotype Strategie, die sich mit der Begriffstrias Inbesitznahme – U¨berfu¨llung – Expansion beschreiben la¨sst. Die Feiernden okkupierten zuna¨chst ein bestimmtes, meist nicht scharf abgegrenztes Areal der Stadt, indem sie es durch Akte demonstrativer Zeichensetzung – etwa durch Dekoration mit Plakaten, Transparenten und roten Fahnen – fu¨r sich beanspruchten. In rascher Folge versammelten sich nun immer mehr Festteilnehmer auf dem markierten Gela¨nde, so dass eine ‚Menge‘ entstand, die stetig an Dichte gewann. Allma¨hlich stellte sich bei Teilnehmern und außenstehenden Beobachtern ein Eindruck von ¨ berfu¨lle ein. Die U ¨ berfu¨llung mu¨ndete schließlich in VerEnge, Fu¨lle und bald auch U suche einer Erweiterung des gegebenen Areals. Es kam zu einer Expansionsbewegung, die in unterschiedlichen Richtungen und Dimensionen verlaufen konnte. Ich mo¨chte diese dreischrittige Strategie des Sich-Exponierens in der Metropole, also den ¨ berfu¨llung und Expansion, abschließend am BeiDreischritt von Inbesitznahme, U spiel der Maifeier der Berliner KPD im Jahr 1931 illustrieren. Den Ort dieser Feier u¨berhaupt genauer zu bestimmen, fa¨llt bei Beru¨cksichtigung des gesamten Festverlaufs schwer. Zwar wird in den Voranku¨ndigungen der kommunistischen Tagespresse als Veranstaltungsort eindeutig der Lustgarten zwischen Schloss und Altem Museum im Zentrum Berlins ausgewiesen. Die dortige Kundgebung war aber nur Teil eines weit umfangreicheren Programms, das ab zwo¨lf Uhr mittags mit einem Sternmarsch in sieben Einzelzu¨gen zum zentralen Festplatz begann und erst am spa¨ten Abend in Versammlungslokalen der verschiedenen Bezirke endete. Meldungen der Berliner Schutzpolizei ist zu entnehmen, dass die Kundgebung am Lustgarten lediglich 50 Minuten dauerte und dass ein nicht unerheblicher Teil der Festteilnehmer den Platz in diesem Zeitraum gar nicht erreichte.9

9 Siehe zum zeitlichen Ablauf die Meldungen der Berliner Polizei zum 1. 5. 1931 in: Brandenburgisches

LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528; darunter bes. folgende Ein-

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Vor diesem Hintergrund kann nicht allein der Lustgarten als Ort oder Raum der Maifeier angesprochen werden. Der Teilnehmerperspektive entspricht es mehr, von einem ambulanten Festplatz auszugehen: Der Ort der Feier war jeweils dort, wo sich der einzelne Feiernde gerade befand. Zu beru¨cksichtigen ist das Verweilen an verschiedenen Sammelpla¨tzen, das Durchqueren diverser, unterschiedlich gepra¨gter Stadtviertel, das Ausharren vor den fu¨r die Menge zu schmalen Zuga¨ngen zum Lustgarten, der (relativ kurze) Aufenthalt am Zielort und der beschleunigte, aber doch auch von Pausen und „Zwischenfa¨llen“ unterbrochene Ru¨ckweg. Die Inbesitznahme des o¨ffentlichen Raumes durch offensive Zeichensetzung hatte sich idealiter auf den gesamten Festparcours zu erstrecken. Bereits in den Na¨chten vor dem 1. Mai entsandten die KPD-Unterbezirke und Straßenzellen sog. „Klebekolonnen“, die entlang der geplanten Wegstrecke und rund um die Sammelpla¨tze Werbeplakate fu¨r die Kundgebung und deren wichtigste Parolen anbrachten.10 In Arbeiterquartieren wie Wedding oder Friedrichshain hingen am Morgen des Festtags aus den Fenstern vieler Wohnungen rote Tu¨cher und Bettlaken, mit denen die Bewohner ihre Sympathie fu¨r die Arbeiterbewegung bekundeten. Ein aufgemalter Sowjetstern signalisierte eindeutige KPD-Pra¨ferenz. Vor einer solchen Kulisse mochte sich die Polizei in der Tat bisweilen, so die Formulierung der Roten Fahne, wie „in Feindesland“ fu¨hlen.11 Die brisantesten Akte symbolischer Okkupation bezogen sich auf exponierte o¨ffentliche Orte und Geba¨ude. Auch hierfu¨r bietet die Berliner KPD-Maifeier von 1931 Beispiele: Auf dem Gela¨nde der Berliner Universita¨t, wo es schon am Vormittag des 1. Mai zu Schla¨gereien zwischen nationalsozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Studenten gekommen war, gelang der KPD am Mittag ein weithin sichtbarer und deshalb besonders provozierender Fall vereinnahmender Zeichensetzung. Kurz nach zwo¨lf Uhr, als sich in den Außenbezirken gerade die ersten KPD-Festzu¨ge formierten, hissten einige Studenten u¨ber dem Universita¨tsportal, direkt an der Prachtmeile „Unter den Linden“ gelegen, eine rote Fahne mit „Hammer und Sichel“-Symbol. Von Anha¨ngern des Roten Studentenbundes, die sich im Vorgarten des Geba¨udes versammelt hatten, wurde die illegale Beflaggung lautstark bejubelt.12

zelmeldungen: 1. 5. 1931, 16:05: „Im Lustgarten zu Zt. etwa 50 000 Teilnehmer. Zuzug [...] dauert an. Kundgebung hat noch nicht begonnen.“ (Bl. 276); 1. 5. 1931, 16:30 Uhr: „Veranstaltung im Lustgarten 16.20 hat begonnen. An [verschiedenen] Stellen sprachen Redner. Zuzug noch im Gange. Scha¨tzungsweise 55 000 Personen anwesend.“ (Bl. 277); 1. 5. 1931, 19:30 Uhr: „Veranstaltung im Lustgarten 16:20 Uhr begonnen. Ende 17:10 Uhr. Scha¨tzungsweise 70 000 Teilnehmer. Im Lustgarten im allgemeinen ruhiger Verlauf.“ (Bl. 301); siehe erga¨nzend: Brandenburgisches LHA Potsdam, Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 95, Sekt. 9 Teil 2 Nr. 100. 10 Von einem Schusswechsel zwischen einem solchen Klebekommando und der Polizei am Vorabend des 1. Mai im Bezirk Friedrichshain berichtet der Artikel: „Blutiger Mai-Beginn“, in: Germania Nr. 201, 61. Jg. vom 1. 5. 1931, S. 4. 11 „Der Wedding streikt und marschiert“, in: Die Rote Fahne Nr. 102, 14. Jg. vom 3. 5. 1931, 2. Beilage. 12 Material zu dem Vorfall bieten folgende Polizeiakten: Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528, Bl. 364–373 u. Bl. 354f. Außerdem Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 95 Sekt. 9 Teil 2 Nr. 100 Bl. 87. Darstellungen in der bu¨rgerlichen Presse: „Ruhiger 1. Mai. Vereinzelte Ausschreitungen“, in: Vossische Zeitung Nr. 205 vom 2. 5. 1931, 5. Beilage; „Sowjetfahne auf der Universita¨t“, in: Berliner Lokal-Anzei-

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Wie in Großsta¨dten u¨blich, wa¨hlte die Berliner KPD fu¨r ihren Mai-Umzug die Form des Sternmarsches, mit der sich ein weiterer okkupatorischer Akzent setzen ließ: Die Stadtmitte wurde von den Arbeiterwohngebieten aus zuna¨chst eingekreist und dann in konzentrischer Bewegung symbolisch ‚eingenommen‘. Wa¨hrend am Lustgarten bereits seit 10 Uhr die separate SPD-Kundgebung stattfand, sammelten sich die KPD-Anha¨nger an 48 Stellpla¨tzen in den fu¨nf Unterbezirken der Stadt. Die von dort startenden kleineren Gruppen vereinigten sich zwischen 14 und 15 Uhr an verschiedenen „Hauptstellpla¨tzen“, um dann in sieben großen Festzu¨gen zum Lustgarten zu gelangen, den die Sozialdemokraten inzwischen wieder gera¨umt hatten.13 Dabei wurden Lieder gesungen, Parolen skandiert und rote Fahnen geschwenkt. Mehr als nur eine Statistenrolle spielten die Spalier stehenden Zuschauer. Ihre Rezeptionshaltung ist schwer einzuscha¨tzen, denn ob es sich ausschließlich um Sympathisanten der KPD handelte, wie die Rote Fahne suggeriert, ist zweifelhaft. Ein gewisser Teil des Randpublikums du¨rfte aber tatsa¨chlich in die Lieder der Vorbeidefilierenden eingestimmt oder sich sogar dem Zug angeschlossen haben. Solche distanzierten oder sympathisierenden Beobachter waren unverzichtbar fu¨r die aktiv Feiernden, deren Zug durch das Spalier eine ermutigende und disziplinierende Rahmung erhielt – ein Publikum, das nicht nur „anfeuerte“, sondern auch eine subtile Kontrolle ausu¨bte: Als Zugteilnehmer konnte man sich von den Zuschauern am Straßenrand beobachtet fu¨hlen, so dass jede Bewegung zu einer Geste fu¨r das Randpublikum wurde.14 Vor dem Lustgarten entstanden bei den Berliner Großdemonstrationen regelma¨ßig Stockungen und Wartezeiten, denn der von zwei Spree-Armen eingefasste Platz hatte nur vier relativ schmale Zuga¨nge (Bru¨derstraße, Breite Straße, KaiserWilhelm-Bru¨cke, Schlossbru¨cke). Trotz oder gerade wegen der verkehrstechnischen Widrigkeiten wurde auf den Lustgarten als Kundgebungsort von Veranstaltern jeglicher politischer Couleur nur ungern verzichtet, handelte es sich bei dem zwischen Schloss, Altem Museum, Zeughaus und Berliner Dom, in unmittelbarer Na¨he zur Universita¨t und in geringer Entfernung zu Reichstag und Kanzleramt gelegenen Platz doch fraglos um ein symbolisches Zentrum der Hauptstadt. Wer diesen Ort okkupierte, besetzte nicht nur einen repra¨sentativen Schau-Platz der Republik, sondern

ger Nr. 205, 49. Jg. vom 2. 5. 1931, Titelseite; „Die Sowjet-Flagge auf der Universita¨t“, in: Germania Nr. 201, 61. Jg. vom 2. 5. 1931, S. 2; „Krawall an der Universita¨t“, ebd., S. 4; „Ruhige Mai-Feiern“, in: Berliner Tageblatt Nr. 205, 60. Jg. vom 2. 5. 1931, S. 4. Fu¨r einen Bericht aus KPD-Perspektive: „Sowjetfahne u¨ber der Universita¨t“, in: Die Rote Fahne Nr. 102, 14. Jg. vom 3. 5. 1931, S. 2. 13 Siehe den Aufmarschplan, den das zentrale Mai-Komitee der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg dem Polizei-Pra¨sidium mit Schreiben vom 14. 4. 1931 zur Kenntnis gab und der seitens der Polizei leicht korrigiert wurde: Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528, Bl. 52–56 (Schreiben des Mai-Komitees), und ebd., Bl. 57–61 (korrigierte Version der Polizei). 14 Elias Canetti, Masse und Macht, 25. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 96f., schla¨gt fu¨r diese Raumstruktur die Metapher der „Einbettung“ bzw. des „Flussbetts“ vor. Die Masse als Fluss hat fu¨r Canetti einen theatralen Grundzug: „Der Fluß ist die Masse in ihrer Eitelkeit, die Masse, die sich darstellt. Das Element des Gesehenwerdens ist nicht weniger bedeutend als die Richtung. Ohne Ufer kein Fluß, das Spalier der Gewa¨chse ist wie das der Menschen. Er hat – man mo¨chte sagen – eine Haut, die gesehen sein will.“

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blockierte nebenbei auch eine von Berlins Hauptverkehrsadern und brachte den Verkehr im Regierungsviertel zum Erliegen.15 Das weite Areal des Lustgartens dicht mit Anha¨ngern zu fu¨llen und nach Mo¨glichkeit zu u¨berfu¨llen, verlangte den Organisatoren erhebliche Mobilisierungsanstrengungen ab. Umso gro¨ßer war der Stolz, wenn dies gelang. Das spiegelt die Berichterstattung u¨ber die Maifeier 1931 in der KPDParteipresse, auf die ich hier aus Zeitgru¨nden nicht na¨her eingehen kann. Der eigent¨ berfu¨llung, das Eintreffen der Festzu¨ge im Lustgarten, liche Akt der Fu¨llung und U vollzog sich in ungeordneter Weise simultan von den vier Zuga¨ngen. In der Reportage der Roten Fahne wird dieser Moment zu einem ebenso plo¨tzlichen wie freudigkommunikativen Ereignis stilisiert: Die Teilnehmer verschiedener Zu¨ge, so wird suggeriert, konnten einander wahrnehmen und aufeinander reagieren. „Jetzt, es ist 1/2 4 Uhr, marschieren schon die ersten Zu¨ge heran. Die Massen lauschen, die Kla¨nge der Musik kommen na¨her und na¨her. Und dann ergießt sich die Flut in den Lustgarten, u¨ber die Schloßbru¨cke, am Bahnhof Bo¨rse vorbei, u¨ber die Kaiser-Wilhelm-Bru¨cke stu¨rzt der reißende Strom der Hunderttausenden vorwa¨rts. Musikkla¨nge kreuzen sich. Rufe erschallen von allen Seiten, die Bezirke begru¨ßen sich mit ‚Rot Front‘. Meldungen laufen ein: [...] Die Schloßfreiheit ist bereits u¨berfu¨llt. Vor dem Schloß stehen die Menschen wie zusammengepreßt. Und noch immer marschieren neue Massen heran.“16 ¨ berfu¨llung werden in dieser wie in vielen anderen ReportaAnwesenheit, Enge und U gen als konstitutiv fu¨r die festliche Raumerfahrung am 1. Mai herausgestellt. Natu¨r¨ berfu¨llung ein stereotypes Stilmittel der Parteipresse, lich waren die Metaphern der U um die raumgreifende Potenz des eigenen politischen Lagers glaubhaft zu machen. Mit einiger Vorsicht ko¨nnen die euphorischen Beschreibungen in diesem Fall aber doch als Hinweis auf tatsa¨chliche Erfahrungen der Festteilnehmer gewertet werden, denn immerhin wird der Eindruck massenhafter Dichte und Enge – in weniger pathetischen Formulierungen – auch von den Reportern bu¨rgerlicher und konservativer Bla¨tter sowie vom Abschlussbericht der Schutzpolizei besta¨tigt.17 15 Zur Bedeutung des Lustgartens: „Der Festtag der Arbeit“, in: Vorwa¨rts Nr. 204/205, 39. Jg. vom

2. 5. 1922, Titelseite. Dort heißt es, auf Schlossplatz und Lustgarten habe sich „so ziemlich alles“ abgespielt, „was fu¨r das Reich bestimmend werden sollte“. Auch in anderen Großsta¨dten gab es jeweils einen Platz, der aufgrund seiner Lage, Gro¨ße, repra¨sentativen Bauten und einer langen historischen Tradition die am meisten gefragte und umka¨mpfte politische Bu¨hne fu¨r Festversammlungen, Kundgebungen etc. abgab – so z. B. in Leipzig der Augustusplatz. Vgl. Pit Lehmann, Feste und Feiern auf Leipzigs gro¨ßtem Stadtplatz, in: Katrin Keller (Hg.), Feste und Feiern. Zum Wandel sta¨dtischer Festkultur in Leipzig, Leipzig 1994, S. 300–312. 16 „Der Lustgarten wird u¨berflutet“, in: Die Rote Fahne Nr. 102, 14. Jg. vom 3. 5. 1931, S. 4. Die Plo¨tz¨ berraschungsmoment, das in Metaphern des Stu¨rzens, Sich-Ergießens und U ¨ berlaufens lichkeit, das U gekleidet wird, klingt auch in einer beru¨hmten Passage bei Canetti, Masse und Macht (wie Anm. 13), S. 14, an: „Eine ebenso ra¨tselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plo¨tzlich da ist, wo vorher nichts war. Einige wenige Leute mo¨gen beisammen gestanden haben, fu¨nf oder zehn oder zwo¨lf, nicht mehr. Nichts ist angeku¨ndigt, nichts erwartet worden. Plo¨tzlich ist alles schwarz vor Menschen. Von allen Seiten stro¨men andere zu, es ist, als ha¨tten die Straßen nur eine Richtung.“ 17 „[...] bei dieser Maidemonstration war der Lustgarten u¨berfu¨llt“, konstatierte etwa das liberalkonservative Berliner Tageblatt, und auch die katholische Germania sah den Festplatz „und seine

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Ein Moment der Expansion lag nicht nur im Ausgreifen der Menge u¨ber die Grenzen des Lustgartens hinaus in benachbarte Straßen, sondern auch in der Art, wie die Menge die Repra¨sentationsbauten und Monumente des Areals fu¨r sich reklamierte. Wie schon am Vormittag die SPD nutzte auch die KPD die Schautreppe des Alten Museums an der Stirnseite des Platzes als Bu¨hne fu¨r den Auftritt eines Chores und einer Musikkapelle, wodurch der Zugang zum Museum blockiert war.18 Zugleich wurde den Ordnungshu¨tern damit eine strategisch wichtige Stellung, von der aus ¨ berblick u¨ber den Platz hatte, streitig gemacht, wie der polizeiman den besten U liche Abschlussbericht negativ vermerkte.19 Weitere beliebte Zielobjekte expansiver Aneignung waren die Domtreppe an der Ostseite und das Reiterdenkmal als markantester Punkt in der Mitte des Platzes. Ha¨ufig kam es bei Maifeiern am Lustgarten vor, dass der reitende Friedrich Wilhelm III., symbolisches Relikt der Monarchie, von jugendlichen Festteilnehmern respektlos erklettert wurde.20 Da wa¨hrend der gesamten Kundgebung weitere Festzu¨ge von vier Seiten aus auf den Platz zu dra¨ngen versuchten, blieb die Menge permanent in Bewegung. Diese Dynamik wurde auch durch den Beginn der Festreden kaum beruhigt, denn nun mussten sich die Versammelten auf verschiedene Rednerpositionen ausrichten: Zeitgleich mit Ernst Tha¨lmann, der auf einem roten Lastwagen mitten im Gedra¨nge stand, sprachen u¨ber den Platz verteilt rund 50 weitere Redner – die einzige Mo¨glichkeit, das große Areal ohne Lautsprecheranlage akustisch zu fu¨llen. So bildeten sich mehrere konzentrische Verdichtungen, und zahlreiche Teilnehmer dra¨ngten sich, auf der Suche nach dem von ihnen bevorzugten Redner, hektisch durch die Menge.21 Die Kundgebung endete mit einem „Kampfgelo¨bnis der Werkta¨tigen“22 und dem gemeinsamen Absingen der Internationale. Anschließend zogen die Teilnehmer, immer noch in organisierten Zu¨gen, zuru¨ck in ihre Heimatbezirke, wo das Fest am Abend in

Zugangsstraßen [...] dicht mit Menschen besetzt.“ Siehe „Ruhige Mai-Feiern“, in: Berliner Tageblatt Nr. 205, 60. Jg. vom 2. 5. 1931, S. 4; „Der Aufmarsch im Lustgarten“, in: Germania Nr. 201, 61. Jg. vom 1. 5. 1931, S. 4. Siehe auch den Erfahrungsbericht der Schutzpolizei zum 1. Mai 1931 fu¨r den Bezirk Mitte, Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528, Bl. 354f. 18 So jedenfalls wurde es der Polizei in einer Vorbesprechung angeku¨ndigt: Vgl. das Protokoll der Besprechung zwischen den KPD-Abgeordneten Casper und Gohlke und den Pol. Hauptma¨nnern Schu¨nemann und Petsch vom Kommando der Schutzpolizei vom 17. 4. 1931, in: Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528, Bl. 69. 19 Erfahrungsbericht der Schutzpolizei zum 1. Mai 1931 fu¨r den Bezirk Mitte, Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528, Bl. 354f. 20 Die fu¨r die Platzaufsicht abgestellten Polizisten hatten zur Maifeier 1931 ausdru¨cklich Anweisung, sol¨ bergriffe auf das Denkmal zu verhindern. Siehe dazu den Einsatzplan der Polizei zum 1. Mai 1931 che U vom 24. 4. 1931, Brandenburgisches LHA Potsdam Rep. 30 Berlin C Polizeipra¨sidium Berlin Tit. 90 Nr. 7528, Bl. 143–149, hier S. 145. 21 Siehe fu¨r eine Beschreibung von Kundgebung und Festansprachen: „Der grandiose Maiaufmarsch der KPD“, in: Die Rote Fahne Nr. 102, 14. Jg. vom 3. 5. 1931, S. 4. Tha¨lmanns Rede im Wortlaut: „Ernst Tha¨lmanns Mai-Kampfrede“, in: ebd., S. 3. 22 „Kampfgelo¨bnis der Werkta¨tigen. Gesprochen von hunderttausenden Berliner Werkta¨tigen“, in: Die Rote Fahne Nr. 102, 14. Jg. vom 3. 5. 1931, S. 4.

Milieu und Metropole

173

19 Lokalen mit „Spieltruppen, Musik, Rezitationen, Ansprachen“ und Vorfu¨hrungen „der roten Sportler“ zu Ende ging.23 Es scheint mir wichtig, die beschriebene Art der inszenatorischen Inbesitznahme von Straßen und Pla¨tzen als einen Aspekt moderner Metropolenkultur zu begreifen. Unser Bild von Metropolen sollte neben der Vergnu¨gungs- und Konsumkultur auch Inszenierungsstrategien beinhalten, die als „Straßenpolitik“ (Thomas Lindenberger) bezeichnet worden sind und mit denen gegensa¨tzliche politische Milieus nicht nur fu¨reinander sichtbar wurden, sondern ha¨ufig auch gewaltsam aufeinanderprallten. Gerade dadurch, dass die verschiedenen Organisationsmilieus dazu tendierten, ihre traditionellen Grenzen zu u¨berschreiten, konnten sie in einen umso offeneren, scha¨rferen und gewaltsameren Gegensatz zu anderen Milieus geraten.

III. Resu¨mee ¨ berschreitung traditioEs war Anliegen dieses Beitrags, verschiedene Formen der U neller Grenzen der im 19. Jahrhundert gewachsenen lokalen Arbeiterbewegungsmi¨ berschreitung konnte sich manifestieren in der Wahl neuer a¨sthelieus anzudeuten: U tischer Mittel, in der Anwendung innovativer Inszenierungsstrategien, in der (oft gewaltsamen) Kontaktaufnahme zu fremden oder sogar feindlichen sozialen Milieus und in der gezielten Inbesitznahme zentraler Areale des urbanen o¨ffentlichen Raums. ¨ berschreitungsformen waren nicht zuletzt der Notwendigkeit geschulAlle diese U det, sich als politische Bewegung in den neu entstandenen Metropolen zu behaupten. Die Metropole hat die Arbeiterfestkultur insofern entscheidend gepra¨gt, hat aber umgekehrt auch durch diese traditionsreichen, klassenbezogenen Praktiken des Feierns eine besondere, dynamische und spannungsgeladene Pra¨gung erhalten. Forschungen zur Theatralita¨t der Arbeiterbewegung mu¨ssen deshalb die Entwicklung einer modernen Metropolenkultur unbedingt beru¨cksichtigen, um die Entwicklungen von kulturellen Auffu¨hrungen der organisierten Arbeiter seit 1900, spa¨testens aber seit dem Ersten Weltkrieg besser erkla¨ren zu ko¨nnen. Umgekehrt stellt sich fu¨r die Metropolenforschung die Frage, in welchem Maße sie die Arbeiterbewegungskultur in ihr Bild des expandierenden urbanen Lebens integrieren kann und mo¨chte. Eine wichtige Bru¨ckenfunktion ko¨nnte – neben anderen Feldern der Vermittlung – die Bescha¨ftigung mit den Avantgarden u¨bernehmen. Denn einerseits sind die Avantgardebewegungen der verschiedenen Ku¨nste – insbesondere von Theater, Tanz und bildender Kunst – ein signifikanter, ho¨chst sichtbarer Teil der modernen Metropole, etwa durch ihre unbestreitbare Pra¨gekraft fu¨r Mode, Werbung, Ko¨rper- und Bewegungskultur, Architektur und Industriedesign. Andererseits ist aber auch die Arbeiterbewegungskultur mit den Avantgarden aufs engste

23 „Abendveranstaltungen am 1. Mai“, in: Die Rote Fahne Nr. 99, 14. Jg. vom 29. 4. 1931, 1. Beilage, und

„Nach dem roten Kampfaufmarsch“, in: Die Rote Fahne Nr. 100, 14. Jg. vom 30. 4. 1931.

174

Matthias Warstat

verstrickt. Markantes Beispiel dafu¨r sind die in den 1920er Jahren weit verbreiteten chorischen Bewegungsformen (Massencho¨re, Sprechcho¨re, Bewegungscho¨re, Tanzcho¨re sowie die verwandten Formen der Massen- und Synchrongymnastik, des Formationstanzes etc.). Diese Formen finden sich in den viel beachteten Berliner, Salzburger und Mu¨nchener Theaterinszenierungen des Avantgardisten Max Reinhardt wie auch in den Tanzkreationen von Rudolf von Laban oder Mary Wigman und ande¨ berwindung der alten Ballett-Traditionen. Auffu¨hrungen dieren Vertretern einer U ser Exponenten von Avantgarde und Lebensreform wurden von pra¨genden Exponenten der Arbeiterkulturbewegung aufmerksam verfolgt. Innovative chorische Formen finden sich aber auch auf Festen und Versammlungen sozialdemokratischer wie kommunistischer Arbeiterorganisationen, von wo aus sie ihren Weg in das politische Theater Bertolt Brechts, Erwin Piscators und der Agitpropbewegungen nahmen.24 Auch diese komplexen Transferprozesse hatten ihren Platz in der modernen Metropole.

24 Zu den Beziehungen zwischen politischer Arbeiterfestkultur und Theateravantgarde in der Weima-

rer Republik: Matthias Warstat, Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918–33, Tu¨bingen/Basel 2005, bes. S. 287–306.

INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN

Albert v. Sachsen-Coburg u. Gotha, Gem. v. Kgn. Victoria v. Großbritannien 129 Alexandria 17 Allahabad 17 Althoff, Fam. 60 Amsterdam 15 Archenhold, Friedrich Simon 148 Astley, Philip 53, 55 Bach, Christoph de 54 Bach, Johann Sebastian 127 Baker, Josephine 24 Barcelona 62 Batty, Thomas 57 Bayreuth 25 Be´be´, Tilly 59, 60 Bebel, August 147 Beecher Stowe, Harriet 89 Beerbohm Tree, Herbert 18 Beethoven, Ludwig van 125 Behne, Adolf 29, 33 Behrendt, Walter C. 29 Benatzky, Ralph 21 Berlin 4, 9–11, 15, 16, 18, 20–22, 24–27, 29, 40, 46, 51, 54–57, 59, 63, 65–79, 82, 87, 94, 99, 100, 104, 106, 107, 111–133, 135–160, 168, 174 Brauereien/Gastha¨user/Festsa¨le Actienbrauerei Friedrichsho¨he 155 Actienbrauerei Patzenhofer 155 Andreas-Festsa¨le 145 Artushof 145 Ausflugslokal/Gasthof Zenner 153 Bahnhof Bo¨rse 171 Bo¨hmisches Brauhaus 146, 148–150, 155 Brauerei am Friedrichshain 155 Brauerei Ko¨nigstadt 150 Concordia Festsa¨le 145, 147, 148, 151 Eldorado-Diele 140 Festsa¨le Reinickendorf 145 Kaisergalerie 145

Kellers Festsa¨le 145, 148, 149, 151, 156 Kliems Festsa¨le 145 Krolls Etablissement 145 Lo¨wenbrauerei-Bo¨hmisches Brauhaus 146, 153 Mu¨llers Festsa¨le 38 Neue Welt an der Hasenheide 145, 154 Restaurant Lindenpark 38 Schultheiss-Lokal 142 Sophien-Festsa¨le 145 Thimanns Festsa¨le 145 Wirtshaus am Halensee 146 Zunftlokal Nabur 143 Hotels Hotel Adlon 145 Hotel de Russie 128 Hotel Esplanade 145 Hotel Stadt Paris 128 o¨ffentliche Geba¨ude Altes Museum 170, 172 Dom 170, 172 Kanzleramt 170 O2-World 160 Reichstag 170 Schlesischer Bahnhof 137, 141–143 Schloss 170, 171 Treptower Sternwarte 148 Universita¨t 170 Zeughaus 170 Parks Lunapark 8, 10, 146 Lustgarten 168, 170–172 Scho¨nholzer Heide 154 Straßen und Pla¨tze Alexanderplatz 29 Am Friedrichshain 155 Andreasstraße 145, 156 Blumenstraße 154 Breite Straße 170 Breslauer Straße 143 Bru¨derstraße 170

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Index der Orts- und Personennamen Charlottenstraße 55 Chausseestraße 38, 48 Frankfurter Tor 154 Friedrichstraße 55, 56, 65, 135 Fritz-Reuter-Allee 32, 47 Fruchtstraße 138–140, 145, 154, 156 Große Frankfurter Straße 137, 138, 152, 156 Hackescher Markt 56 Hasenheide 154 Hermannplatz 62 Jungfernheide 154 Kaiser-Wilhelm-Bru¨cke 170, 171 Karlstraße 56 Ko¨nigsberger Straße 152 Ko¨nigsplatz 29 Koppenstraße 145, 151 Krautstraße 142 Ku¨striner Platz 139 Kurfu¨rstendamm 65 Landsberger Allee 140, 146, 153, 155 Lithauer Straße 152 Mu¨hlenstraße 139 Schiffbauerdamm 56 Schlossplatz 171 Scho¨nhauser Allee 150 Straße der Pariser Kommune 138 Unter den Linden 169 Theater/Kinos/Zirkusse Concordia-Palast 151, 152 Freie Volksbu¨hne 148 Hofoper 115, 127 Ko¨nigliches Schauspielhaus 100 Ko¨nigsta¨dtisches Theater 128 Lessing-Theater 100 Licht-Schauspielhaus O 152 Lichtspiele am Kuestriner Platz 152 Lichtspieltheater Alhambra 151, 152 Lithauer Theater 152 Markthallenzirkus 56 Metropol-Theater 157 Opernhaus 120, 127 Ostend-Theater 155 Passage-Lichtspiele 152 Philharmonie 128, 144 Rose-Theater 156, 157 Schauspielhaus 128 Singakademie 128, 144 Theater Kroll 128 Welt-Theater 152 Zirkus 54 Viertel/Siedlungen Britz 29–51 Friedrichshain 137, 139, 155, 169 Gartenstadt Falkenberg 32, 34, 38, 40, 41

Kreuzberg 155 Mitte 145 Moabit 145 Neuko¨lln 32, 33, 36, 40, 43, 45, 50, 145, 154 Reinickendorf 145 Rixdorf 154 Scho¨nholz 145 Stralau 140 Stralauer Viertel (Stralauer Vorstadt) 136–160 Tempelhof 44 Tiergarten 145 Treptow 48, 153 Wedding 40, 169 Zehlendorf 31 Berlioz, Hector 115 Bernauer, Rudolf 21 Bernhardt, Sarah 18, 101, 108 Birmingham 22 Blenkle, Konrad 38, 45 Bloemfontein 17 Blumenfeld, Fam. 60 Blumenthal, Oscar 100 Bombay 17 Bornemouth 17 Bouche´, Ga¨rtnerfam. in Berlin 154 Brecht, Bertolt 166, 174 Bremen 85 Breslau 15, 17, 56 Brisbane 17 Bru¨hl Phantasialand 10 Brust, Waldemar 153 Budapest 20 Buenos Aires 67, 68, 71, 73 Bulawayo 17 Busch, Paul 54, 55, 57, 60, 63 Busch, Paula 57 Carre´, Albert 60 Caryll, Ivan 20 Casper, NN 172 Charell, Erik 21 Chicago 9, 20 Ciniselli, NN 55 Clifford, Camille 19 Crispien, Arthur 44 Czopnik, NN, Pfarrer in Treptow 48 D’Oyly Carte, Richard 16 Dante Alighieri 89 Defoe, Daniel 89 Dehmel, Richard 39 Dejean, Louis 55 Deslys, Gaby 19, 67

Index der Orts- und Personennamen Dhotre, Damoo 59 Dickens, Charles 53 Do¨blin, Alfred 33 Donizetti, Gaetano 124 Dresden 16, 59, 61, 100 Circus Sarrasani 59 Prager Straße 61 du Maurier, Daphne 23 Ducrow, NN 55 „Duque“ (Antoˆnio Lopes de Amorim Diniz) 67 Edwardes, George 18 Eino¨dshofer, Julius 20 Elsie, Lily 18 Engels, Friedrich 147 Fanque, Pablo 59 ¨ sterreich 124 Ferdinand I., Ks. v. O Fischer, Ernst 58 Flensburg 93 Fontane, Theodor 146 Forbat, Fred 33 Frankfurt a. M. 33 ¨ sterreich Franz II., Ks., als Franz I. Ks. v. O 124 Friedla¨nder, Adolph 60 Friedrich II. d. Gr., Kg. v. Preußen 128 Friedrich Wilhelm III., Kg. v. Preußen 126, 172 Friedrich Wilhelm IV., Kg. v. Preußen 126 Gebbing, Johannes 58 Geißler-Meves, Max 73 Georg IV., Kg. v. Großbritannien 129 Gersta¨cker, Friedrich 89 Giesselmann, Heinrich 150 Gilbert, W. S. (William Schwenck) 16, 25 Giraudet, Euge`ne 70 Glasgow 17 Goethe, Johann Wolfgang v. 89 Goffman, Erving 167 Gohlke, NN 172 Grashoff, Erich 37 Grey, Sylvia 19 Grigat, Willy 37, 49 Grimm, Jakob und Wilhelm 89 Groß, Alois 36 Groß, Jenny 99–109 Großkopf, Friedrich Gottlieb 55 Gu¨nther, Mizzi 18 Guerra, Alexandre 55 Gutschmidt, Franz 35, 37, 46 Ha¨fker, Hermann 85 Hagenbeck, Carl 57–60, 62

177

Hagenbeck, Wilhelm 57–60, 62 Halperson, Joseph 55, 59 Hamburg 15, 16, 20, 56, 60, 77, 87, 118, 143 Hansen, Theophil 125 Hanslick, Eduard 115, 132 Harden, Maximilian 99, 100, 105, 107, 109 Hass, Johannes 44 Hauff, Wilhelm 89 Haydn, Joseph 124, 131 Hedin, Sven 89 Heinrich, Prinz v. Preußen, S. d. dt. Ks. Friedrich III. 149 Heliot, Claire 59, 60 Hessel, Franz 32 Hinne´, NN 55 Hirsch, Leon 36 Hitler, Adolf, dt. Reichskanzler u. „Fu¨hrer“ 63 Ho¨llein, Emil 45 Hollaender, Victor 20 Homberg, Octave 23 Hong Kong 17 Hu¨bscher, Catherine („Madame Sans-Geˆne“), Gem. v. Franc¸ois-Joseph Lefebvre 100 Jacobson, Leopold 21 Jagow, Traugott v. 76 Johannesburg 17 Johannesson, Adolf 43 Kadelburg, Gustav 100 Kahn, Harry 24 Kairo 17 Kalkutta 17 Kapstadt 17 Karlsruhe 118 Keller, Louis 145 Kerr, Alex 59 Kienzl, Hermann 23 Kimberly 17 Kneipp, Sebastian 148 Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus v. 127 Koch, Erich 37–39, 47 Koebner, Franz Wolfgang 75 Ko¨ln 88, 97 Kopenhagen 15 Kreiser, Arthur 58 Kreiser, Helene 58 Krembser, NN 55 Krone, Fam. 60, 64 Kru¨ger, Alf 50 Kubicki, Stanislaw 36 Le´otard, Jules 54 Laban, Rudolf v. 174 Langhans, Karl Ferdinand 120

178

Index der Orts- und Personennamen

Las Vegas 10 Lefebvre, Franc¸ois-Joseph, Hzg. v. Danzig, Marschall v. Frankreich 100 Leha´r, Franz 18 Leipzig 16, 19, 57, 82, 118 Augustusplatz 171 Circus Kreiser-Barum 58 Vo¨lkerschlachtdenkmal 57 Zoo 58 Lendvai, Erwin 44 Lennon, John 60 Leonard, R. L. 75 Lessing, Madge 19 Lewald, Fanny 115 Liebknecht, Wilhelm 147 Lincke, Paul 20 Livingstone 89 Llandudno 17 Loisset, Franc¸ois 55 London 4, 9, 10, 15, 16, 18–21, 23, 25–27, 30, 53–55, 66, 68, 82, 107, 108, 111–133 Argyll Rooms 131 Coliseum Theatre 22 Covent Garden 129, 130 Drury Lane 130 Drury Lane Theatre 130 English Opera House 130 Gaiety Theatre 19 Hanover Square Rooms 131 Haymarket 130 Her Majesty’s Theatre 129, 130 King’s Theatre 129, 130 Metropol-Theater 19, 20 Regent Street 131 Royal Albert Hall 132 Royal Italian Opera House 129, 130 St. James 130 St. James’s Hall 132 Tottenham Street 131 West End 13 Lucknow 17 Manchester 22, 132 Manila 17 Mannheim 87 Marienbad 20 Marseille 19 Massary, Fritzi 18 May, Karl 62, 89 Meiningen 118 Hoftheater 15 Melbourne 17 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 127 Metternich, Klemens Wenzel Lothar Fst. v. 123 Meyer Lutz, Wilhelm 19

Meyer, Erna 33 Mielitz, Paul, Bezirksbgm. v. Berlin-Friedrichshain 142 Milwaukee 20 Muchow, Reinhold 50 Mu¨hsam, Erich 36, 39, 46 Mu¨nchen 15, 59, 82, 87, 88, 174 Circus Charles 59 Circus Krone 59, 64 Oberpollinger, Kaufhaus 88 Schwabing 36 Mu¨nster 11 Nash, John 131 New York 9, 10, 17, 21, 22, 26, 27, 30, 107, 108 Broadway 13 Coney Island 10 Nu¨ll, Eduard van der 125 Offenbach, Jacques 16, 19, 25, 27 Ostwald, Hans 138, 140 Paganini, Niccolo` 125 Panizza, Oskar 90 Paris 4, 9, 16, 19, 22, 23, 25–27, 30, 53–55, 65–79, 82, 100, 101, 104, 106–108, 111, 125, 132 Amphithe´aˆtre Anglois 53, 54 Cirque Olympique 54 Disneyland 10 Montmartre 65 Moulin Rouge 23 Music Hall Olympia 19 The´aˆtre Fe´mina 67 The´aˆtre Mogador 22 Peary 89 Petsch, NN 172 Piscator, Erwin 166, 174 Pretoria 17 Price, Carl 55 Priestley, J. B. (John Boynton) 20, 21 Rangoon 17 Reder, Artur 37 Redern, Friedrich Wilhelm v. 115 Regler, Gustav 46 Reinhardt, Max 18, 166, 174 Re´jane, Gabrielle 101, 102, 106, 107 Rellstab, Ludwig 120 Renz, Ernst Jakob 54–57, 60 Renz, Franz 56 Reuter, Fritz 39 Richepin, Jean 72 Richthofen, Bernhard Frhr. v., Polizeipra¨sident v. Berlin 56

Index der Orts- und Personennamen Rintorf, Hermann 38, 45 Rivera, Max 72 Rocker, Rudolf 36 Rose, Schauspieler- u. Intendanten-Fam. in Berlin 156 Rose, Bernhard 156 Rose, Hans 156, 157 Rose, Paul 156 Rose, Willi 156 Rosegger, Peter 89 Ryneck, Elfriede 39 Saeger, Carl 146 Salamonsky, Albert 56 Salzburg 174 San Francisco 17 Sa˜o Paulo 14 Saphir, Moritz Gottlieb 116 Sardou, Victorien 100, 107 Sarrasani, Fam. 60–62 Scarborough 17 Schiller, Friedrich 149 Schinkel, Friedrich 128 Schmid, Christoph v. 89 Schneider, Hortense 16, 19 Scholz, Arno 37, 45–47 Schratt, Katharina 101 Schu¨nemann, NN 172 Schultz, Richard 19 Schumann, Albert 54, 56, 57, 60 Schwechten, Franz Heinrich 128 Schwindowsky, August 75, 77 Senide, Miss 60 Seoul 14 Shackleton 89 Shakespeare, William 15, 18, 24 Shanghai 17, 26 Shaw, George Bernard 21 Siccard v. Siccardsburg, August 125 Siegmund-Schultze, Friedrich 136, 137 Simarra, Bernabe´ 67 Singapur 17 Singer, Paul 147 Sklarek, Max, Leo und Willi 40 Sontag, Henriette 115 Sorma, Agnes 105 Spengler, Oswald 48 St. Petersburg 9, 15 Stanley 89 Stark, Mabel 59 Stoll, Oswald 22 Stosch-Sarrasani, Hans, sen. 59 Straßburg 15 Strassburger, Fam. 60 Strauß, Johann 16 Stromeyer, Emil 53

179

Stu¨mcke, Heinrich 22, 99, 105 Stuttgart 87, 100 Sullivan, Arthur 16, 19, 25, 121 Swift, Jonathan 89 Sydney 17 Szantho 100 Taibach, Franz 149 Taut, Bruno 30, 32, 33, 35, 37, 47 Tautz, Robert 34, 38 Tha¨lmann, Ernst 172 Thatcher, Margaret 14 Tiedt, Hans 47, 48 Tientsin 17 Toowoomba 17 Trojan, Johannes 155 Turner, John C. 167 Uhlmann, NN 57 Verne, Jules 89 Versaille 40 Victoria, Kgn. v. Großbritannien 129 Viktoria, T. v. Kgn. Victoria v. Großbritannien, Gem. d. dt. Ks. Friedrich (III.) 54 Vogel, Hans 44 Vogeler, Heinrich 36, 38, 45, 46 Wagner, Martin 29, 31, 32, 35, 47 Wagner, Richard 25 Weber, Carl Maria v. 25 Wehlen, Emmy 19 Weimar 6, 40, 51 Wien 15–17, 20–22, 25–27, 56, 74, 100, 101, 106–108, 111–133 Burgtheater 125 Circus Busch 56 Circus gymnasticus 54 Circusgasse 56 Hofburg 125 Hofoper 124, 125 Josefsta¨dter Theater 125 Ka¨rntnertortheater 125 Musikvereinssaal 125 Staatsoper 125 Stadttheater 22 Theater an der Wien 125 Wigman, Mary 174 Wilhelm I., dt. Ks. 126 Wilhelm II., dt. Ks. 54, 126, 128 Wilhelm IV., Kg. v. Großbritannien 129 Winnicott, Donald 167 Wollschla¨ger, Eduard 55 Wolzogen, Ernst v. 23 Worpswede 36 Wright, Fred 19

180 Wutzky, Emil 35 Yokohama 17 Young, Owen 40

Index der Orts- und Personennamen Zelter, Carl Friedrich 127 Zetkin, Clara 148 Zweig, Stefan 114

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RV667/RD676

ISBN 978-3-412-22273-4

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GABRIELE DIETZE, DOROTHEA DORNHOF (HG.)

METROPOLENZAUBER SEXUELLE MODERNE UND URBANER WAHN (KULTUREN DES WAHNSINNS (1870–1930), BAND 2)

Was hat die sexuelle Libertinage der Berliner Bohèmienne mit dem Tropenkoller der Kolonialbeamten zu tun? Wie verhalten sich die diffi zilen Bemühungen vor Gericht, den irren Verbrecher vom verbrecherischen Irren zu unterscheiden, mit den experimentellen Erzählformen von Gottfried Benn, Alfred Döblin oder Ernst Weiss? Was verbindet das Experimentieren mit dem Okkulten in den Berliner Salons des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der Sorge um auffällige Jugendliche oder der Suche nach den ersten Symptomen einer Seelenstörung? Was haben der Regelverstoß, die Anomalie und der Flirt mit dem Paranormalen, der expressionistische Aufschrei oder die neue sexuelle Ethik miteinander zu tun? Diesen Fragen geht die neue Reihe nach. Sie betrachtet die „Kulturen des Wahnsinns“ als Schwellenphänomene einer urbanen Moderne und sucht die Vieldeutigkeiten einer radikalen Alterität in ihren medialen Vernetzungen, institutionellen Verschränkungen, Wissensräumen und performativen Darstellungsformen der modernen Großstadt auszuloten. 2014. 390 S. 52 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78934-5

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GÜNTER ERBE

DAS VORNEHME BERLIN FÜRSTIN MARIE RADZIWILL UND DIE GROSSEN DAMEN DER GESELLSCHAFT 1871–1918

Die großen Damen der Berliner Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs haben durch ihre Salons Kulturgeschichte geschrieben. Sie diktierten den guten Ton und verliehen dem »Highlife« der preußischen Metropole ein kosmopolitisches Flair. Fürstin Marie Radziwill ragte unter den prominenten Salondamen durch ihren Sinn für die Politik hervor und wurde zu einer Institution im diplomatischen Verkehr der Reichshauptstadt. Aber auch weitere bedeutende adlige und großbürgerliche Salons werden in diesem Buch vorgestellt. Sie vermitteln einen repräsentativen Eindruck von der Vielfalt und Lebendigkeit des geselligen Lebens der Oberschichten in Berlin. Ein ergänzender Blick auf die großen Damen in Paris und London schärft das Bewusstsein für das Unvergleichliche dieses Frauentyps. 2015. 329 S. 20 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22457-8

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