Die Transformation der Lager: Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen [1. Aufl.] 9783839411797

Jede Forschung zur Geschichte der nationalsozialistischen Lager, jede Form einer Gedenkpraxis und jeder Beitrag künstler

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Die Transformation der Lager: Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen [1. Aufl.]
 9783839411797

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Soziale Praktiken
Konzentrationslager in der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft. Annäherungen an eine zweifache Ortsbestimmung
Living with the Nazi KZ legacy. A comparative exploration of Western European »locational bystanders« 1944-2005
»Im Raume lesen wir die Zeit«? Zumkomplexen Verhältnis von Geschichte, Ort und Gedächtnis (nicht nur) in KZ-Gedenkstätten
Repräsentationen
Die Bibliothèque Nationale de France und das Phantasma eines Lagers
Kulturbaracken. Kreative Räume in südfranzösischen Lagern
Interpretationen
Abstraction & Figuration in the AuschwitzMemorial From Consensus to Dissensus
Einen Ort abbilden. Die Präsentationen der Gelände ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager in den Fotografien von Christian Herrnbeck
Niemands Orte. Ein fotografisches Projekt über das europaweite System nationalsozialistischen Terrors
Der erzählte Ort. Die Rekonstruktion einer Rüstungsfabrik und ihrer Lager für Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge in zwei Ausstellungen
Materieller Raum – sozialer Raum
Aspekte der baugeschichtlichen Entwicklung des KZ Neuengamme am Beispiel der nicht realisierten Entwurfsplanungen des Schutzhaftlagers
Zur baulichen Entwicklung der »Aktion-Reinhard«-Lager
Wandel von Funktion und Nutzung
Das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick in seiner Funktion als frühes Konzentrationslager während der »Köpenicker Blutwoche«
Kurfürstinnensitz, Königliche Strafanstalt, Konzentrationslager, Kreismuseum . . . Wandel von Funktion und Nutzung des Schlosses Lichtenburg
Das nationalsozialistische Polizeihaftlager PavlosMelas in Thessaloniki. Geschichte undWahrnehmung
Autorinnen und Autoren
Abkürzungsverzeichnis

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Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager

Histoire | Band 16

Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.)

Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, der Fondation pour la Mémoire de la Shoah und der Research School der Ruhr-Universität Bochum.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christian Herrnbeck, Natzweiler/Frankreich 2004. Die Gaskammer des ehemaligen Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof Lektorat: Else Rieger, Wien Satz: Jonathan Spiegel, Bochum Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1179-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung A LEXANDRA K LEI , K ATRIN S TOLL , A NNIKA W IENERT

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Soziale Praktiken Konzentrationslager in der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft. Annäherungen an eine zweifache Ortsbestimmung C LAUS K RÖGER UND K ARSTEN W ILKE

25

Living with the Nazi KZ legacy. A comparative exploration of Western European »locational bystanders« 1944-2005 H ELEN W HATMORE

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»Im Raume lesen wir die Zeit«? Zum komplexen Verhältnis von Geschichte, Ort und Gedächtnis (nicht nur) in KZ-Gedenkstätten C ORNELIA S IEBECK

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Repräsentationen Die Bibliothèque Nationale de France und das Phantasma eines Lagers J UDITH K ASPER

101

Kulturbaracken. Kreative Räume in südfranzösischen Lagern C LAUDIA N ICKEL

119

Interpretationen Abstraction & Figuration in the Auschwitz Memorial From Consensus to Dissensus A GATA P IETRASIK

141

Einen Ort abbilden. Die Präsentationen der Gelände ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager in den Fotografien von Christian Herrnbeck A LEXANDRA K LEI

155

Niemands Orte. Ein fotografisches Projekt über das europaweite System nationalsozialistischen Terrors C HRISTIAN H ERRNBECK

175

Der erzählte Ort. Die Rekonstruktion einer Rüstungsfabrik und ihrer Lager für Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge in zwei Ausstellungen A NGELA M ARTIN UND H ANNA S JÖBERG

187

Materieller Raum – sozialer Raum Aspekte der baugeschichtlichen Entwicklung des KZ Neuengamme am Beispiel der nicht realisierten Entwurfsplanungen des Schutzhaftlagers A NDREAS E HRESMANN

205

Zur baulichen Entwicklung der »Aktion-Reinhard«-Lager A NNIKA W IENERT

229

Wandel von Funktion und Nutzung Das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick in seiner Funktion als frühes Konzentrationslager während der »Köpenicker Blutwoche« I RIS H ELBING

247

Kurfürstinnensitz, Königliche Strafanstalt, Konzentrationslager, Kreismuseum . . . Wandel von Funktion und Nutzung des Schlosses Lichtenburg S TEFAN H ÖRDLER

261

Das nationalsozialistische Polizeihaftlager Pavlos Melas in Thessaloniki. Geschichte und Wahrnehmung VAIOS K ALOGRIAS UND S TRATOS N. D ORDANAS

289

Autorinnen und Autoren

309

Abkürzungsverzeichnis

311

Einleitung A LEXANDRA K LEI , K ATRIN S TOLL , A NNIKA W IENERT

Die Lager waren ein Signum des Nationalsozialismus. Der vorliegende Band handelt von den nationalsozialistischen Lagern, die an vielen Orten im deutschen Herrschaftsbereich als Mittel von Ausgrenzung, Unterdrückung, Ausbeutung, Zwang und massenhaftem Mord existierten. Ort und Ereignis stehen dabei in einem komplexen Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung. Jede Forschung zur Geschichte der Lager, jede Form einer Gedenkpraxis und künstlerischen Auseinandersetzung nimmt implizit oder explizit auf den jeweiligen Ort Bezug. Als Claude Lanzmann für seinen Film Shoah die Orte der ehemaligen Vernichtungslager besuchte, kam er zu der Erkenntnis: »One must know and see, and one must see, in order to know. These two aspects can’t be separated. If you go to Auschwitz without knowing anything about Auschwitz and the history of the camp, you will see nothing. In the same way, if you know without having been there, you will also not understand anything. It therefore requires a combination of the two. That is why the issue of the site is so important.«1

Ort und Raum Die Beiträge des Sammelbandes Die Transformation der Lager. Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen wählen den Ort zum Referenz- und Ausgangspunkt: Die historischen Ereignisse und Entwicklungen werden im Zusammenhang mit den räumlichmateriellen Gegebenheiten untersucht. Was ist ein Ort? »Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geografisch markiert.«2 Orte sind innerhalb eines Raums durch Grenzen definiert, um sie voneinander sowie von der Umgebung unterscheiden zu kön-

1

2

Marc Chevrie/Hervé Le Roux, Site and Speech. An interview with Claude Lanzmann about Shoah, in: Stuart Liebman (Hg.), Claude Lanzmann’s Shoah. Key Essays, Oxford 2007, S. 37-49, hier S. 38. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001, S. 224, Kursivierung im Original.

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Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert

nen. »Die Konstitution von Raum bringt [...] systematisch [...] Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen.«3 Daher ist ein Ort notwendig relational zu denken: in seinen Beziehungen nach außen und denen nach innen. Er hat Anteil sowohl an manifesten/konkreten als auch an abstrakten Strukturen und Hierarchien. So ist er zum Beispiel eingebunden in ein Verkehrssystem und in eine Befehlskette. Orte sind vielfach und vielschichtig geprägt: von ihrer materiellen Gestalt und Gestaltung, ihrer Funktion, Nutzung und Umnutzung, der Umgebung, aber auch von Vorstellungen und Erinnerungen verschiedener Individuen und Gruppen; sie können nicht losgelöst von metaphorischen und medialen Bildern betrachtet werden. Im Zentrum der Aufsätze des vorliegenden Bandes steht die Verknüpfung solcher Bilder mit konkreten, materiellen Räumen und Orten. In dieser ortsbezogenen Perspektive lassen sich nicht nur bestimmte Zeitpunkte betrachten, sondern es geraten darüber hinaus Prozesse der Transformation, des »Davor« und »Danach« in den Blick. Auf einem anonymen Gelände entstand ein Lager, nach der Befreiung blieben erinnerte, unter Umständen gestaltete oder öffentlich nicht thematisierte und unkenntlich gemachte Plätze. Der gewählte Ansatz der »Transformation« untersucht daher die Wandlung des Ortes zum Lager, den Ort des Lagers selbst und die Wandlung der Orte der Verbrechen zu Orten der Erinnerung oder des Vergessens. Der Fokus auf die Orte meint explizit nicht die von Aleida Assmann geprägten Begriffe »Gedenkorte« und »traumatische Orte«.4 Gedenkorte sind laut Assmann normativ besetzt und »können für eine persönliche oder kollektive Sinnstiftung in Anspruch genommen werden«.5 Das sei bei traumatischen Orten hingegen nicht möglich, da ihre Geschichte »nicht erzählbar« sei.6 Indes räumt Assmann selbst kollektive Sinnstiftungen ein, wenn auch aus ihrer Sicht nur für die Vergangenheit: »Die Zeit, in der die zuständigen Regierungen versuchten, traumatische Orte wie Auschwitz oder Buchenwald in Gedenkstätten mit einer eindeutigen politischen Botschaft zu verwandeln, scheint

3 4 5 6

Ebd., S. 198. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. Ebd., S. 328. Vgl. ebd., S. 329.

Einleitung

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vorbei zu sein.«7 Ein Ort kann demnach gleichzeitig traumatisch sein und ein Gedenkort. Die Kategorie der traumatischen Orte erweist sich so als eine moralische und nicht als eine analytische. Die Herausgeberinnen plädieren demgegenüber für ein »genaues Hinsehen« , also eine möglichst genaue Rekonstruktion der Geschichte und Nachgeschichte der Lager. Dabei muss klar sein, dass keine Annäherung an die Orte der nationalsozialistischen Lager gänzlich umfassend sein kann. Sie erfolgt immer als Ausschnitt und ist bestimmt von eigenen Vorannahmen, Erfahrungen und Fragestellungen. Jeder Annäherung bleiben Grenzen gesetzt: einer strafrechtlichen Aufarbeitung zum Beispiel durch die Schwierigkeiten justiziabler Erfassung, Formen der Erinnerung durch die unzugänglichen Erfahrungen der Ermordeten, einer historischen Untersuchung durch das Fehlen von Quellen. Das Reflektieren dieser Grenzen darf jedoch nicht in Metaphern einer Undarstellbarkeit münden. Die Beschäftigung mit den konkreten Orten, und weniger mit dem abstrakteren Raum, ist daher bewusst gewählt und meint auch eine Hinwendung zu den Details. Claude Lanzmann hat erklärt, warum für ihn scheinbar nebensächliche Details bei seiner Arbeit an dem Film Shoah so wichtig waren: »[Der polnische Eisenbahner Gawkowski] hat die Waggons nicht gezogen, er hat sie [in das Vernichtungslager Treblinka, die Autorinnen] angeschoben. Ein triviales Detail, mag sein, aber für mich ist es sehr wichtig. [...] Es steckt mehr Wahres in diesem winzigen, trivialen Befund als in jeder allgemeinen Aussage über das Problem des Bösen. [...] Es gäbe keinen Film, wenn diese Details für mich nicht eine so große Rolle spielen würden. Jeder weiß, dass sechs Millionen ermordet wurden, aber das ist eine Abstraktion.«8

Georges Didi-Huberman schreibt in Bezug auf die Rolle der Orte in Lanzmanns Film, dass die Verbindung der Vergangenheit mit einem »Hier« der konkreten, geografisch und topografisch spezifizierbaren Orte eine Mythifizierung und Sakralisierung der Vergangenheit der

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8

Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Hanno Loewy/ Bernhard Moltmann (Hg.), Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt/M./New York 1996, S. 13-27, hier S. 18. Diese Vermutung scheint sich nicht überprüfen zu lassen, jedenfalls äußerte die Autorin sie 2002 erneut im nahezu gleichen Wortlaut: Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte – Authentizität und Gedenken, in: dies. (Hg.), Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort?, Frankfurt/M./New York 2002, S. 197-221. Claude Lanzmann, zitiert nach: Booklet der DVD-Box Shoah, absolut MEDIEN 2007, S. 17.

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Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert

Lager verhindere.9 Mit dem vorliegenden Band soll ein Beitrag dazu geleistet werden, einer Auratisierung der Lager entgegenzuwirken. Die Publikation bezieht zum ersten Mal die Auseinandersetzungen um die Begriffe »Raum« und »Ort«, die seit einigen Jahren in den Geisteswissenschaften unter dem Schlagwort Spatial Turn10 geführt werden, auf das Forschungsfeld der Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Autor/innen des Sammelbandes verstehen die Begriffe Raum und Ort als produktives Werkzeug zur Thesenbildung, wie es unter anderem Judith Miggelbrink vorgeschlagen hat.11 Dadurch wird ein intensiver interdisziplinärer Austausch ermöglicht. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass keinesfalls in allen Disziplinen dasselbe unter diesen Begriffen verstanden wird.12 Die einzelnen Artikel dieses Sammelbandes verbindet jedoch, dass sie Raum als eine materielle Gegebenheit erfassen, deren spezifische Ausprägung als sozial bedingt und sozial wirkmächtig verstanden wird. Bevor die einzelnen Beiträge des Bandes vorgestellt werden, soll zunächst ein kurzer Überblick über den Forschungsstand zu den Themenfeldern Konzentrations- und Vernichtungslager und KZ-Gedenkstätten gegeben werden.

9

Vgl. Georges Didi-Huberman, The Site, Despite Everything, in: Liebman (Hg.), Claude Lanzmann’s Shoah, S. 113-123, hier S. 121 f. 10 Zur Einführung vgl. Doris Bachmann-Medick, Spatial Turn, in: dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 2006, S. 284382; einen Überblick über die Debatte liefern Jörg Döring/Tristan Thielmann, Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; zuletzt: Stephan Günzel, Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010; für den englischsprachigen Raum vgl. Barney Warf, Spatial Turn. Interdisciplinary Perspectives, London 2009. 11 Vgl. Judith Miggelbrink, Die (Un-)Ordnung des Raumes. Bemerkungen zum Wandel geografischer Raumkonzepte im ausgehenden 20. Jahrhundert, in: Alexander C.T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold (Hg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 79-105. 12 Dies zeigte zuletzt der Sammelband »Raumwissenschaften«. Darin stellen 24 Vertreter/innen das je spezifische Verständnis in ihrem Fach vor. Vgl. Stephan Günzel, Raumwissenschaften, Frankfurt/M. 2009.

Einleitung

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Die nationalsozialistischen Konzentrationslager und die deutsche Gesellschaft Die Konzentrationslager13 waren ein zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Herrschaft. Zur Struktur des Systems,14 das in ständigem Wandel begriffen war,15 gehörten nicht nur die Stammlager, sondern auch ein umfangreiches Netz von Außenlagern, das sich während des Krieges immer weiter ausdehnte. Nach Schätzungen von Wolfgang Benz und Barbara Distel existierten etwa 1.000 Außenlager.16 Während die frühe Phase des Systems der Konzentrationslager17 und die politische Organisationsgeschichte als gut erforscht gelten können,18 fehlen noch immer Monographien zur Geschichte und Struktur großer Lager19 und zur Schlussphase des KZ-Systems.20 Auch

13 Mit dem Begriff »Konzentrationslager« werden in der Forschung – und folglich auch in diesem Band – die Lager bezeichnet, die der Inspektion der Konzentrationslager (seit 1942 Amtsgruppe D des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes) unterstanden. 14 Vgl. Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, 2 Bde., Göttingen 1998. 15 Nikolaus Wachsmann schreibt dazu: »Looking at the overall development of the concentration camp system between 1933 and 1945, it is striking how often and how profoundly it changed, in little more than a decade. Change was built into the system. Born as a weapon against political opponents, the camps later became instruments of social, economic and racial policy, multiple functions which often overlapped. The prisoner population was transformed, too. Before the war, the vast majority of inmates had been German men. By 1945, German nationals had become a small minority as prisoners now came from all across Europe. And many of them were women: by January 1945, some 28 per cent of prisoners were female (there were also thousands of children).« Nikolaus Wachsmann, The dynamics of destruction: the development of the concentration camps, 1933-1945, in: Caplan/Wachsmann (Hg.), Concentration Camps in Nazi Germany, S. 17-43, hier S. 35 f. 16 Vgl. Wolfgang Benz/Barbara Distel, Vorwort, in: dies. (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, München 2005, S. 7-9, hier S. 7. 17 Vgl. Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der »Inspektion« der Konzentrationslager 1934-1938, Boppard 1991; Ulrich Herbert, Von der Gegnerbekämpfung zur »rassischen« Schutzhaft. »Schutzhaft« und Konzentrationslager in der Konzeption der Gestapo-Führung 1933 bis 1939, in: ders./Orth/Dieckmann, Konzentrationslager, Bd. 1, S. 60-81. 18 Vgl. Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999. 19 So gibt es keine Monographien zu den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald. Zu Mauthausen, Ravensbrück, Neuengamme, Groß-Rosen, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen, Stutthof, Auschwitz, Majdanek und Warschau liegen Studien vor. Vgl. Karin Orth, Die Historiografie der Konzentrationslager und die neuere KZ-Forschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 579-598, hier S. 588 f. mit Literaturangaben und weiteren Hinweisen zum Forschungsstand. 20 Das Thema ist Gegenstand der Dissertation von Stefan Hördler.

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viele Außenlager sind bisher nicht erforscht.21 Einen ersten Versuch, diese Lücken zu schließen, stellt die von Benz und Distel herausgegebene Reihe zur Geschichte der Konzentrationslager dar.22 Der erste Band führt in zentrale Themenfelder und Fragestellungen ein, die Bände 2 bis 7 enthalten Beiträge zu den KZ-Hauptlagern und den Außenlagern, Band 8 umfasst Aufsätze zu Konzentrations- und Vernichtungslagern im besetzten Osteuropa und in Band 9 sind Artikel zu anderen nationalsozialsozialistischen Zwangslagern23 versammelt. Die Kurzstudien zu den KZ-Haupt- und Nebenlagern geben Informationen zur Entwicklung und zum Funktionswandel der Lager sowie zu den Themenfeldern Zwangsarbeit, Täterinnen und Täter, Häftlinge und Häftlingsgruppen, medizinische Experimente, Todesmärsche und Befreiung. Auch die Nachgeschichte der Lager wird in der Regel thematisiert. Mittlerweile sind alle Bände der Reihe »Der Ort des Terrors« erschienen. Ein noch umfangreicheres Enzyklopädie-Projekt zu den nationalsozialistischen Lagern entsteht derzeit am United States Holocaust Memorial Museum.24 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der neueren KZ-Forschung empirische Detailstudien dominieren. Vergleichende Studien und Synthesen fehlen hingegen. Jane Caplan und Nikolaus Wachsmann konstatieren treffend, dass »the new histories of the Nazi camps have been far more encyclopaedic than analytic, far more empirical than critical. As a result, scholarship has become highly fragmented: for all the mass of details, it has become increasingly difficult to discern broader themes, developments and debates.«25

21 Wegweisend für die zukünftige Forschung ist in diesem Zusammenhang die hervorragende Arbeit Marc Buggelns zu den Außenlagern des Konzentrationslagers Neuengamme. Vgl. Marc Buggeln, Arbeit und Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009. 22 Vgl. Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bde. 1-9, München 2009. 23 Benz bezeichnet damit »alle Orte, in denen Menschen gegen ihren Willen unter Bewachung leben mussten und in denen Tätigkeiten und Verhaltensweisen erzwungen wurden, die nicht von ihrem eigenen Willen und auch nicht von rechtsstaatlichen Normen bestimmt waren.« Wolfgang Benz, Nationalsozialistische Zwangslager. Ein Überblick, in: ders./Distel (Hg.), Ort des Terrors, Bd. 1, S. 11-29, hier S. 12. 24 In dem Projekt werden alle NS-Zwangslager berücksichtigt. Vgl. Marc Buggeln: Rezension zu: Geoffrey P. Megargee (Hg.), The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945. Volume I, Bloomington 2009, in: H-Sozu-Kult, 24.3.2010, . 25 Jane Caplan/Nikolaus Wachsmann, Introduction, in: dies. (Hg.), Concentration Camps in Nazi Germany. The New Histories, London/New York 2010, S. 1-16, hier S. 6.

Einleitung

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Caplan und Wachsmann wollen mit ihrem Sammelband englischsprachigen Leser/innen die neuesten Forschungsergebnisse zugänglich machen.26 Bisher liegen nur wenige Studien vor, die sich mit Hilfe eines theoretischen Bezugsrahmens dem System der Konzentrationslager annähern. Der Soziologe Wolfgang Sofsky interpretiert »das Konzentrationslager« als »einen spezifisch neuen Typus moderner Macht- und Sozialorganisation«.27 Die »Ordnung des Raums« im Lager gilt ihm als »eine bevorzugte Technologie absoluter Macht, mit der sie sich permanente Gewalt« erspare.28 Nach Sofsky wies »das Konzentrationslager« eine »institutionelle Kernstruktur« auf, die folgende Elemente umfasste: »den Antagonismus zwischen Personal und Insassen, eine funktional differenzierte Administration mit einem hohen Grad an dezentraler Verfügungsmacht, einen hochgradig standardisierten Lagerbetrieb, den Arbeitszwang, die Klassenhierarchie der Häftlingsgesellschaft, eine Funktionselite, schließlich das Regime terroristischer Gewalt.«29

26 Die Autor/innen des Bandes behandeln folgende Fragestellungen: »How did the camps change between 1933 und 1945 (Wachsmann)? By whom and how were they administered and guarded, and with what purpose (Orth)? What governed the daily lives of different groups of inmates; is it possible to speak of a camp ›society‹, or is that a misnomer (Pingel)? To what extent is recent work on women and gender relevant to the history of the camps (Caplan?) What did ›ordinary Germans‹ know about the camps scattered across their own territory and parts of occupied Europe (Fings)? In a system designed ostensibly to re-educate recalcitrants by hard labour, what was the actual function of work in the camps (Wagner)? As racial exclusion became the dominant principle of Nazi terror, what was the relationship between economic and ideological rationales, between exploitation and extermination, concentration camps and the Holocaust (Pohl)? How are we to understand the last phase of the camps, when mass evacuations launched tens of thousands of men and women onto the infamous death marches (Blatman)? And what was the fate of these thousands of sites that scarred the face of Europe in 1945: to what extent has their history been forgotten or commemorated in the decades since the end of the war (Marcuse)?« Ebd., S. 6 f. 27 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1997, S. 29. 28 Zuletzt hat Kiran Klaus Patel Sofskys Analysekategorien »Raum und Zeit« für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung der nationalsozialistischen Lager fruchtbar gemacht. Patel unterscheidet Lager für »Volksgenossen« von Lagern für »Gemeinschaftsfremde«. V.a. in Bezug auf die Ordnung des Raums habe es Parallelen zwischen den beiden Lagertypen gegeben, die bisher kaum beachtet worden seien. Vgl. Kiran Klaus Patel, »Auslese« und »Ausmerze«. Das Janusgesicht der nationalsozialistischen Lager, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 339-365, S. 354 und S. 356. 29 Wolfgang Sofsky, An der Grenze des Sozialen. Perspektiven der KZ-Forschung, in: Herbert/Orth/Diekmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 2, S. 1141-1169, hier S. 1142.

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Die Häftlinge lebten unter Bedingungen, die »die meiste Zeit durch chronische Unterversorgung, dürftige hygienische Verhältnisse und periodisch ausbrechende Seuchen« bestimmt waren.30 Hinzu kamen, wie aus den Zeugnissen der Opfer hervorgeht, die Allgegenwart des Todes und die Erfahrung, den Bewacher/innen sowie den Funktionshäftlingen vollständig ausgeliefert zu sein. Während Sofskys Konzept der »institutionellen Kernstruktur« überzeugt, ist seine Interpretation des Konzentrationslagers als abgeschlossener Ort des Terrors nicht haltbar. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass die Konzentrationslager nicht hermetisch von der Außenwelt abgeschnitten, sondern vielmehr in die benachbarten Gemeinschaften eingebunden waren: »All camps were embedded in their environment, and their physical borders could in no way completely separate camp society from local society.«31 Die lokale Gesellschaft spielte eine zentrale Rolle für die Aufrechterhaltung und das Funktionieren der Konzentrationslager, denn: »erst die verwaltungstechnischen, infrastrukturellen, wirtschaftlichen und sozialen Kontakte zur unmittelbaren Umgebung sicherten ihre Existenz.«32 Zu den Beziehungen zwischen den Lagern und der benachbarten Bevölkerung sind bisher einige Arbeiten erschienen. Jens Schley beleuchtet am Beispiel Weimar–Buchenwald die Einbettung der Konzentrationslager in die Gesellschaft,33 Karola Fings zeigt in ihrer Studie über die SS-Baubrigaden, »wie fest die Lager in der Gesellschaft verankert waren und welche zentrale Stellung in der rassistisch formierten ›Volksgemeinschaft‹ Ausbeutung und Vernichtung einnahmen«.34 Auch die Lager Mittelbau-Doras »diffundierten«, wie Jens-Christian Wagner ausführt, »förmlich in die Gesellschaft hinein«.35 Sybille Steinbacher analysiert in einem Kapitel ihrer Studie »Musterstadt Auschwitz« das Beziehungsgeflecht zwischen der Stadt und dem Konzentrationslager. Das Konzentrationslager sei von »zuziehenden deutschen

30 Vgl. ebd., S. 1142. 31 Vgl. Karola Fings, The public face of the camps, in: Caplan/Wachsmann (Hg.), Concentration Camps in Nazi Germany, S. 108-126, hier S. 120. 32 Sybille Steinbacher, »Musterstadt« Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000, S. 181. 33 Vgl. Jens Schley, Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager, Köln 1999. 34 Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ: Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn 2005, S. 310. 35 Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001, S. 501.

Einleitung

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Zivilisten und Funktionären« im Sinne »der Sicherung der ›ethnischen Neuordnung‹ in die eigene Lebenswelt eingebunden« worden: »Das KL Auschwitz war ein Garant der ›völkischen‹ Zukunft im eroberten ›Lebensraum‹.« Nach Erkenntnissen Steinbachers prägten »Akzeptanz und Unbefangenheit, ja Selbstverständlichkeit das Verhältnis der deutschen und deutschstämmigen Stadtbewohner zum Lager«. In »territorialer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und administrativinstitutioneller Hinsicht« bestanden »intensive Beziehungen«.36

Die Transformation der Lager Viele ehemalige Konzentrationslager auf deutschem Territorium wurden nach der Befreiung jahrelang als Kasernen, Internierungs-, Flüchtlings- oder Wohnlager benutzt, bevor sie in eine Gedenkstätte umgewandelt wurden. Harold Marcuse unterscheidet fünf grundlegende Nutzungen der ehemaligen Konzentrationslager nach 1945: Strafpädagogik (»punitive pedagogy«); Nutzung als medizinische Betreuungsund Genesungseinrichtungen für die Überlebenden (»use as a medical and recuperation facility«); Strafeinrichtungen (»penal facilities«); Bewahrung von Teilen des früheren Lagergeländes und Umwandlung in Gedenkstätten (»preservation and conversion to memorial sites«); Aufgabe und Vernachlässigung. Marcuse führt dazu aus: »Chronologically, the first use was to educate the local populace about the conditions in the camp as they were found at liberation. [...] In addition to this punitive pedagogy, in those camps whose inmates had not been murdered or completely evacuated prior to liberation, such forced tours overlapped with the second use: nursing the hundreds, thousands, and even tens of thousands of survivors back to health. [...] The third use was most common in occupied Germany, where the victorious Allies used larger camps, especially those close to urban centres, to imprison larger numbers of Germans who fell into the ›automatic arrest‹ categories, until their trials or denazification hearings could be held. [...] The fourth use harks back to the first, education, but with two differences: commemoration of the heroism or suffering of the victims became an important component, and this next phase of education was also what one might term retrospectively prospective – looking back to select and preserve certain aspects of a camp’s history for the future. [...] The fifth fate tended to befall the more remote concentration camps and extermination centres, as well as the vast majority of the satellite camps, some of which were

36 Steinbacher, »Musterstadt« Auschwitz, S. 181 f.

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huge facilities for tens of thousands of inmates. They were simply abandoned and ignored for decades, often until the 1980s or 1990s, many of them until today.«37

Möglich war auch – dieser Aspekt fehlt in Marcuses Typologie – die Nutzung einiger ehemaliger Lager als Wohnstätten. In Wewelsburg beispielsweise wohnten die in den ehemaligen Baracken des KZ Niederhagen einquartierten Flüchtlinge noch Jahrzehnte später »oben im Lager«. Gedenkstätten, die an die Opfer der NS-Verbrechen erinnern, befinden sich in der Regel an den Orten, an denen die Verbrechen verübt wurden. Konstatierte Jörg Skribeleit für den Gedenkdiskurs seit den 1980ern eine »Aura-« und »Authentizitäts-« Renaissance,38 wird in neueren Studien vielfach betont, dass die Erinnerung an die Verbrechen den historischen Orten keineswegs »eingeschrieben« ist, sondern vielmehr von verschiedenen Akteur/innen durch soziale Praktiken erst hergestellt wird. Dabei wird vor allem die Rede von den »authentischen Orten« kritisch hinterfragt. Eine ausführliche Begriffsuntersuchung findet sich bei Detlef Hoffmann, der das Konzept einer »authentischen Erinnerung« als »zählebigen Mythos« bezeichnet.39 Gedenkstätten sind einem konstanten Wandel unterworfen: Umnutzungen und Umbauten von Gebäuden, Erhaltungs- und Restaurierungsmaßnahmen, räumliche Ausdehnungen oder Verkleinerungen des Geländes, Denkmal- und Mahnmalsetzungen, Ausstellungen, Gedenkpraktiken und -zeremonien prägen Deutungen und Umdeutungen der historischen Orte. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von Gedenkstätten gehört auch der Umgang mit der Bausubstanz aus der Entstehungszeit der Lager.40 Die materiellen Erinnerungsträger an den Orten Neuengamme und Buchenwald stehen

37 Harold Marcuse, The afterlife of the camps, in: Caplan/Wachsmann (Hg.), Concentration Camps in Nazi Germany, S. 186-211, hier S. 186 f. 38 Vgl. Jörg Skribeleit, »Orte des Schreckens«. Dimensionen verräumlichter Erinnerung, in: Petra Fank/Stefan Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses, Berlin 2005, S. 205-220, hier S. 214. 39 Vgl. Detlef Hoffmann, Authentische Erinnerungsorte, in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben, Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000, S. 31-45, hier S. 31. 40 Vgl. nur Insa Eschebach/Andreas Ehresmann, »Zeitschaften«. Zum Umgang mit baulichen Relikten ehemaliger Konzentrationslager, in: Fank/Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus, S. 111-120, hier S. 115.

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im Zentrum der Dissertation von Alexandra Klei.41 Die Arbeit geht den Fragen nach, mit welchen Mitteln ein topografisch bezeichnetes Gelände in seiner baulichen Substanz präsentiert wird, welche Inszenierungen angewandt und welche Aussagen getroffen werden, um ein historisches Geschehen mit dem Areal zu verbinden, und in welchem Verhältnis die heutige Gestalt des Ortes zum historischen Ereignis steht. Während zur Nachgeschichte einzelner Lager und zur Geschichte der Gedenkstätten – vor allem bis 1990 – inzwischen einige Arbeiten vorliegen,42 gibt es bisher kaum Studien, die sich auf vergleichender Ebene mit den Transformationsprozessen der historischen Lagergelände befassen. Neben der »Frage nach dem Verhältnis von Relikten und Erinnerungsmalen«43 beschäftigt sich die Forschung neuerdings auch mit den Aktivitäten der Überlebenden in Bezug auf die Lagerorte. Nach der Befreiung schlossen sich in fast allen europäischen Ländern ehemalige Häftlinge in Verbänden, Lagergemeinschaften oder Komitees zusammen, um an die Gefangenschaft in den Konzentrationslagern zu erinnern, die Verbrechen zu dokumentieren und der Opfer zu

41 Alexandra Klei, Der erinnerte Ort. Funktion und Bedeutung der Architektur nationalsozialistischer Konzentrationslager für die Abbildung und Präsentation von Geschichte, BTU Cottbus, unveröffentl. Dissertation 2009. Ein umfassender Überblick zum Umgang mit den historischen Orten und ihrer Bausubstanz in Europa ist von dem Forschungsprojekt »Preservation Policies. Der Umgang mit den materiellen Überresten der Konzentrationslager. Mauthausen im internationalen Vergleich« zu erwarten, das derzeit von Ralph Gabriel am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Projekts »Mauthausen Seminar: Geschichte ausstellen/darstellen in KZ-Gedenkstätten« durchgeführt wird , 31.8.2010. 42 Vgl. Jörg Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder, Göttingen 2009; Zofia Wóycicka, Przerwana z˙ ałoba. Polskie spory wokół pamieci ˛ nazistowskich obozów koncentracyjnych i zagłady 1944-1950, Warszawa 2009; Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006, S. 15; Harold Marcuse, Das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Der mühevolle Weg zur Gedenkstätte 1945-1968, in: Dachauer Hefte 6 (1990), S. 182-205; James E. Young, The Texture of Memory. Holocaust, Memorials and Meaning, New Haven/London 1993, S. 61 f.; Detlef Hoffmann, Dachau, in: ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945-1995, Frankfurt/M./New York 1998, S. 36-91; Günter Morsch (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Oranienburg 1996; Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Susanne Lanwerd (Hg.), Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1995, Berlin 1999; Volkhard Knigge, Buchenwald, in: Hoffmann (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge, S. 93-173. 43 Detlef Hoffmann, Das Gedächtnis der Dinge, in: ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge, S. 6-35, hier S. 10.

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gedenken. Fallstudien zu den von Überlebenden gegründeten Organisationen liegen für Buchenwald, Auschwitz und Ravensbrück vor.44

Zu den einzelnen Beiträgen Vom 3. bis 5. Dezember 2009 fand an der Ruhr-Universität Bochum ein von den Herausgeberinnen konzipiertes und organisiertes internationales Symposium unter dem Titel »Die Transformation der Orte. Annäherungen an die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager« statt, das sich explizit den aufgezeigten Forschungslücken widmete. Ermöglicht wurde es durch die finanzielle Unterstützung der Fondation pour la Mémoire de la Shoah, der Gerda Henkel Stiftung, der Research School Bochum, der FAZIT-STIFTUNG und der Dr. Hildegard Hansche Stiftung. Die Beiträge des Symposiums bilden die Grundlage des vorliegenden Bandes. Er gliedert sich in fünf Kapitel, die unterschiedliche Zugriffe auf die Orte der ehemaligen Zwangs-, Konzentrations- und Vernichtungslager darstellen. Die Aufsätze widmen sich dem Thema aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Romanistik, Literaturwissenschaften, Architektur, Kulturwissenschaften, Philosophie und der bildenden Kunst. Die ersten Beiträge betonen die soziale Dimension des Räumlichen. Karsten Wilke und Claus Kröger (beide Bielefeld) schlagen eine Erweiterung des von Wolfgang Sofsky entwickelten Raumbegriffs vor. Am Beispiel des KZ Niederhagen und dessen Verhältnis zum Dorf Wewelsburg stellen sie dem »Raum des Lagers« einen »Raum der Lagerabläufe« zur Seite. Helen Whatmore (London) nimmt eine bislang im Kontext der Erinnerung kaum beachtete Personengruppe in den Blick. Sie untersucht die Einflussnahme der vormaligen »KZ bystanders« auf die Etablierung von Denkmalen und Erinnerungszeichen auf den Geländen der ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme, Natzweiler-Struthof und Herzogenbusch. Cornelia Siebeck (Berlin) 44 Philipp Neumann, »... eine Sprachregelung zu finden« Zur Kanonisierung des kommunistischen Buchenwald-Gedächtnisses in der Dokumentation Mahnung und Verpflichtung, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt/M./New York 2008, S. 151-167; Katharina Stengel, Auschwitz zwischen Ost und West. Das Internationale Auschwitz-Komitee und die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, in: ebd., S. 174-196; Susan Hogervorst, Erinnerungskulturen und Geschichtsschreibung. Das Beispiel Ravensbrück, in: ebd., S. 197-215.

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wendet sich mit ihrem Beitrag einer theoretischen Auseinandersetzung um die Gedächtnisorte zu. Ausgehend von einer Kritik an den gedächtnis- und raumtheoretischen Konzepten Pierre Noras, Aleida und Jan Assmanns sowie Karl Schlögels plädiert die Autorin für eine radikale Entmystifizierung der Orte ehemaliger Konzentrationslager. Der Teil Repräsentationen beginnt mit einem Aufsatz von Judith Kasper (Venedig/München). Sie untersucht aus psychoanalytischer Perspektive das »Phantasma eines Lagers« anhand des Diskurses über die Bibliothèque Nationale de France in Paris, auf deren Gelände sich ein Außenlager von Drancy, das Camp d’Austerlitz, befand. Daran anschließend befasst sich Claudia Nickel (Berlin) mit »kreativen Räumen« am Beispiel der Kulturbaracken und den literarischen Repräsentationen der Internierten in südfranzösischen Lagern. In der dritten Sektion Interpretationen untersucht Agata Pietrasik (Warschau) den internationalen Wettbewerb für ein Denkmal in Auschwitz-Birkenau. Dabei geht sie besonders auf die bislang nicht erforschten polnischen Diskussionen um ein angemessenes Gedenken von Kriegsende bis zur Einweihung des Mahnmals im Jahr 1967 ein. Alexandra Klei (Berlin) stellt das fotografische Projekt »Niemands Orte.« vor, das im Rahmen des Symposiums präsentiert wurde und ordnet es in zeitgenössische Arbeiten zu Fotografien an den Orten ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager ein. Ihr Text wird begleitet von einem Beitrag des Berliner Künstlers Christian Herrnbeck, in dem dieser seine Arbeit und das Projekt erläutert. Angela Martin und Hanna Sjöberg (beide Berlin) beschreiben von ihnen konzipierte Ausstellungen zu Zwangsarbeit und KZ-Gefangenschaft in der Rüstungsfabrik der Firma Bosch in Kleinmachnow bei Berlin. In der vierten Sektion zum materiellen und sozialen Raum befasst sich Andreas Ehresmann (Hamburg) mit dem »planerischen Dauerprovisorium« des KZ Neuengamme und erläutert anhand der Baupläne und Skizzen die Intentionen der SS und der Architekten. Dabei kontrastiert er die planerischen Absichten mit den tatsächlich realisierten Bauten. Gegenstand des Aufsatzes von Annika Wienert (Bochum) ist die Architektur der Vernichtungslager. Sie stellt das Vernichtungslager Treblinka in den Mittelpunkt und zeigt auf, dass sich der Ort einerseits in einem permanenten baulichen Wandel befand, und dass andererseits die baulichen Maßnahmen, die häufig als Tarnung zur Täuschung der Opfer angesehen wurden, kaum geeignet sein konnten, das Geschehen zu verdecken.

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Die Beiträge des letzten Teils beschäftigen sich mit dem Wandel von Funktionen und Nutzungen. Stefan Hördler (Berlin) untersucht das Konzentrationslager Lichtenburg in seiner bislang von der Forschung nicht beachteten Funktion als SS-Kaderschmiede. Für viele SS-Männer war Lichtenburg, das von Anfang an von der SS bewacht wurde, »Ort der Bewährung und Karrieresprungbrett« zugleich. Hördler stellt die unterschiedlichen Nutzungen des Gebäudes vor und widmet sich außerdem den Beziehungen zur benachbarten Kleinstadt Prettin. Iris Helbing (Berlin) zeichnet die Entwicklung des Amtsgerichtsgefängnisses im Berliner Ortsteil Köpenick in seiner Bedeutung als Konzentrationslager der SA 1933 – und hier besonders während der »Köpenicker Blutwoche« – zur Gedenkstätte nach. Vaios Kalogrias (Königstein) und Stratos N. Dordanas (Thessaloniki) beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem nationalsozialistischen Polizeihaftlager »Pavlos Melas« in Thessaloniki, zu dem bislang nur vereinzelte Studien auf Griechisch vorliegen. Sie konzentrieren sich auf zwei Aspekte: Neben der Geschichte des Lagers thematisieren sie die fehlende Auseinandersetzung und Wahrnehmung des Ortes, die dazu führten, dass keine materiellen Erinnerungszeichen existieren und er in der heutigen griechischen Gesellschaft keine Rolle spielt. Die Publikation wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, der Fondation pour la Mémoire de la Shoah und der Research School Bochum. Ihnen sei dafür an dieser Stelle herzlich gedankt.

Soziale Praktiken

Konzentrationslager in der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft Annäherungen an eine zweifache Ortsbestimmung C LAUS K RÖGER UND K ARSTEN W ILKE

»Wie die Darstellung des Forschungsstandes zeigt, besteht ein großer Mangel an Kenntnissen sowohl über das System der nationalsozialistischen Lager als auch über die Anzahl der Lager bzw. Typen von Lagern. Genaue Untersuchungen [...] gibt es innerhalb der bundesrepublikanischen Forschung [...] immer noch nicht«, schrieb Gudrun Schwarz 1990.1 Zwei Jahrzehnte später ist ihre Feststellung weitgehend überholt. Bereits seit etlichen Jahren wächst die Literatur zu den nationalsozialistischen Lagern stetig an.2 Insgesamt ist inzwischen zweifelsfrei ein enormer Kenntnisfortschritt zu konstatieren. Doch bringt dies auch neue Herausforderungen mit sich. Wie lassen sich die ausdifferenzierten Forschungsresultate integrieren? Und: Verändern sie unser Bild des Nationalsozialismus? Denn weitet man den Blick, so kann man feststellen: In den vergangenen Jahrzehnten haben Einzelstudien immer wieder auch Interpretationen des Nationalsozialismus im Ganzen versucht. Ian Kershaws monumentale, über ihren eigentlichen Gegenstand deutlich hinausgreifende Hitlerbiographie sieht den NS beispielsweise wesentlich als spezifische Form charismatischer Herrschaft.3 Götz Alys Hitlers Volksstaat entwirft das nationalsozialistische Deutschland hingegen als kühl kalkulierende, amoralische Zugewinngesellschaft und als Zustimmungsdiktatur,4 und Michael Wildts Arbeit über Volksgemeinschaft als Selbstermäch1 2

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Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager [1990], Frankfurt/M. 1996, S. 9. Vgl. hier nur die Sammelwerke von Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, 2 Bde., Göttingen 1998; von Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bde. 1-9, München 2005-2009 sowie den Literaturbericht von Karin Orth, Die Historiografie der Konzentrationslager und die neuere KZ-Forschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 579-598. Ian Kershaw, Hitler, 1889-1936, Stuttgart 1998; ders., Hitler, 1936-1945, Stuttgart 2000. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005.

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tigung versteht den NS, nur wenig überspitzt gesprochen, als völlig entgrenzte und pervertierte Version des Paradigmas »Alle Gewalt geht vom Volke aus.«5 Es fällt auf, dass die Forschungen zu den nationalsozialistischen Zwangslagern6 sich bislang eher damit zurückgehalten haben, derlei übergreifende Aussagen zu treffen. Das von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebene Sammelwerk Der Ort des Terrors beispielsweise spart auf der konzeptionellen Ebene das gesellschaftliche Umfeld der Lager aus – wenngleich einzelne Beiträge durchaus darauf eingehen.7 Im Großen und Ganzen gewinnt man bei der Literatur zu den nationalsozialistischen Zwangslagern jedoch den Eindruck einer gewissen Abstinenz über die empirischen historischen Befunde hinausgehender Überlegungen. Ad fontes lautet die Maxime, die theoretische Orientierung hingegen ist nur schwach ausgeprägt. Vergleicht man diesen Zustand mit den Kontroversen der achtziger Jahre, die allesamt auf einer eher schmalen Quellenbasis geführt wurden, so ist das solide empirische Fundament fraglos ein Fortschritt.8 Und dennoch muss die Frage lauten, ob nicht das Pendel ein wenig zu sehr in die rein empirische Richtung ausgeschlagen hat, wenn die Neigung, den Untersuchungsgegenstand »Zwangslager« für weiterführende Thesen fruchtbar zu machen, nur selten zu finden ist. Zwar hat Gudrun Schwarz bereits 1990 kritisiert, »daß die Verflechtung des Lager-Systems mit dem gesamten politischen und gesellschaftlichen

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Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. Zum Begriff der nationalsozialistischen Zwangslager vgl. Wolfgang Benz, Nationalsozialistische Zwangslager. Ein Überblick, in: ders./Distel (Hg.), Ort des Terrors, Bd. 1, München 2005, S. 11-29. Benz fasst darunter »alle Orte, in denen Menschen gegen ihren Willen unter Bewachung leben mussten und in denen Tätigkeiten und Verhaltensweisen erzwungen wurden, die nicht von ihrem eigenen Willen und auch nicht von rechtsstaatlichen Normen bestimmt waren.« Ebd., S. 12. Vgl. nur Christine Glauning, Bisingen und das Unternehmen »Wüste«, in: Benz/Distel (Hg.), Ort des Terrors, Bd. 6, München 2007, S. 55-63, v.a. S. 61; Jens-Christian Wagner, Konzentrationslager Mittelbau-Dora, in: Benz/Distel (Hg.), Ort des Terrors, Bd. 7, München 2008, S. 221-289, v.a. S. 268 ff. Dass die Herausgeber/innen Wolfgang Benz und Barbara Distel das gesellschaftliche Umfeld der Lager aussparen, ist bereits nach dem Erscheinen der ersten Bände des Sammelwerkes moniert worden. Vgl. die Besprechung der Bände 1-3 durch Sybille Steinbacher in: H-Soz-u-Kult, 12.12.2006, . Erinnert sei hier nur an die Kontroversen um »Intentionalismus« versus »Funktionalismus« und um die »Singularität« des Holocaust. Vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Neuausgabe, Reinbek b. Hamburg 2002.

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Leben übersehen [...] und [...] die ›Lagerisierung des gesamten Lebens‹ nicht in die Analyse des Nationalsozialismus mit einbezogen« werde.9 Dessen ungeachtet hat man die Lager in Anlehnung an Wolfgang Sofsky lange Zeit als »abgeriegelte[n] Kosmos« interpretiert – und dieses Verständnis setzte zugleich dem Erkenntnisinteresse Grenzen.10 Inzwischen hat sich das Bild indes grundlegend gewandelt – zumal mit den Forschungen der letzten Dekade: So gibt es etliche Arbeiten zu den NS-Zwangslagern, die in solider Quellenarbeit Maßstäbe setzen und dennoch buchstäblich über die Grenzen ihres Untersuchungsgegenstandes hinausblicken. Überhaupt ist »Grenzüberschreitung« im Wortsinne die Maxime etlicher neuerer Studien. Hat Falk Pingel die Lager noch 1996 als »gänzlich abgeschlossen von der sie umgebenden Umwelt« charakterisieren können, so weisen neuere Arbeiten diese Sicht entschieden zurück.11 Sie nehmen vielmehr eine bemerkenswerte Transformation ihres Untersuchungsgegenstandes vor, indem sie auf die Entgrenzung des KZ-Systems im Ganzen verweisen, wie auch auf den Umstand, dass die Lagergrenze zwar der totalen Einschließung der Häftlinge, aber weniger der totalen Abschottung des Lagers selbst als vielmehr der Regulation eines vielfältigen Beziehungsgeflechtes mit der Umgebungsgesellschaft diente. Hier setzen die folgenden Überlegungen an, die erstens beabsichtigen, neuere Erkenntnisse und Thesen zur Beziehung zwischen den Lagern und ihrer Umgebung hinsichtlich ihres Erkenntnispotentials für eine Gesamtdeutung des Nationalsozialismus unter Kriegsbedingungen zu würdigen. Eine solche ist noch immer weitgehend ein Desiderat.12 In einem zweiten Schritt soll mit dem »Raum der Lagerabläufe« eine

9 Schwarz, Lager, S. 10. 10 Vgl. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager [1993], Frankfurt/M. 1997, S. 24. Noch 1999 referierte Karin Orth den Forschungsstand zu den Konzentrationslagern, ohne auf deren gesellschaftliche Einbindung einzugehen, vgl. Karin Orth, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Peter Reif-Spirek/Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit«, Berlin 1999, S. 28-61. 11 Vgl. Falk Pingel, Individuelle und kollektive Überlebensstrategien im Konzentrationslager, in: Robert Streibel/Hans Schafranek (Hg.), Strategie des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und Gulag, Wien 1996, S. 92-123, hier S. 116. 12 Vgl. Jörg Echternkamp, Im Kampf an der inneren und äußeren Front. Grundzüge der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, in: ders. (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Bd. 9.1, München 2004, S. 1-92. Echternkamp schreibt: »Eine umfassende, empirisch abgesicherte Gesellschaftsgeschichte des Krieges von 1939 bis 1945 steht noch aus.« Ebd., S. 5. Das gilt auch heute noch.

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Begrifflichkeit vorgestellt werden, mit der die gesellschaftliche Einbettung der Lager theoretisch gefasst werden könnte.

Was die Forschungen zu den NS-Zwangslagern für das Bild von der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft bedeuten könnten. Einige Überlegungen Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die Arbeiten von JensChristian Wagner, Karola Fings, Christine Glauning und Gabriele Lotfi, mithin auf vier Studien, die im Zeitraum der letzten zehn Jahre erschienen sind und sich Aspekten des NS-Lagersystems während des Krieges widmen. Wagner etwa hat nicht nur akribisch die Geschichte des KZ Mittelbau-Dora aufgearbeitet, sondern zugleich deutlich auf die Sichtbarkeit des KZ und seiner Häftlinge hingewiesen und gefolgert, Mittelbau-Dora sei in der regionalen Gesellschaft weitgehend akzeptiert gewesen, mehr noch: Die Bevölkerung sei für eine breite Mittäterschaft verantwortlich.13 Noch darüber hinaus geht Karola Fings in ihrer Untersuchung der SS-Baubrigaden, wenn sie das Resümee zieht, die Konzentrationslager seien das »wahre Gesicht« des nationalsozialistischen Deutschland gewesen, die Umgebungsgesellschaft, längst keine zivile Gesellschaft mehr, habe einen »konstitutiven Teil« des NS-Zwangslagersystems gebildet.14 Ganz ähnlich argumentiert Christine Glauning in ihrer Arbeit über das Lager im südwürttembergischen Bisingen, einem im Sommer 1944 errichteten Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof.15 Neben dem System der Konzentrationslager bestanden während des Krieges im deutschen Machtbereich auch etwa 200 Arbeitserziehungslager (AEL). Gabriele Lotfi geht davon aus, dass deren omnipräsenter, brutaler Zwangscharakter insbesondere in der Endphase wesentlich dazu beigetragen habe, »die fluktuierende ›multinationale‹ NS-Kriegsgesellschaft« zusammenzuhalten.16 Was aber bedeuten diese neueren Arbeiten mit ihren Befunden und Thesen für unser Bild der nationalsozialistischen Herrschaft und 13 Vgl. Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001. 14 Vgl. Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn 2005, hier S. 310 und S. 154. 15 Christine Glauning, Entgrenzung und KZ-System. Das Unternehmen »Wüste« und das Konzentrationslager in Bisingen 1944/45, Berlin 2006. 16 Vgl. Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart 2000, hier S. 16.

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Gesellschaft unter Kriegsbedingungen? Inwieweit vermögen sie unser Verständnis der deutschen Kriegsgesellschaft zu schärfen? Dazu im Folgenden in vier Punkten einige Überlegungen. Zunächst zwei eher theoretischer Art, sodann zwei weitere, die explizit auf das Verhältnis von Lagersystem und Gesamtgesellschaft zielen: 1. Auch wenn Glauning, Fings und Wagner den Begriff der »Volksgemeinschaft« eher meiden, vermitteln sie doch Impulse, die für die weitere Erörterung dieses in letzter Zeit mehr und mehr diskutierten Begriffes fruchtbar sein könnten.17 Bislang war es eher so, dass Historiker/innen entweder die integrativen Aspekte dieser nationalsozialistischen Selbstbeschreibung hervorgehoben haben, also die Inklusion der »Volksgenoss/innen«, oder die exkludierenden Mechanismen gegenüber denjenigen, die als »gemeinschaftsfremd« definiert wurden.18 Michael Wildts Arbeit Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, die die Inklusion der Volksgenoss/innen und die Exklusion der Juden und Jüdinnen im Gewalthandeln als ineinander verschränkt betrachtet, scheint bislang eher eine Ausnahme zu sein. Ein weiterer Punkt: So überzeugend es Wildt auch gelingen mag, dieses Ineinandergreifen von Ein- und Ausschluss zu zeigen, ist es doch wenig plausibel anzunehmen, die »Volksgemeinschaft« habe sich vornehmlich im Modus der Gewalt konstituiert. So sollte man wohl nach alltäglicheren Institutionen Ausschau halten, die die »Volksgemeinschaft« erfahrbar machten. Nun gehört es zum soziologischen Basiswissen, dass wesentlich Erwerbsarbeit und Beruf als Filter und Generator der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Welt fungieren. Dadurch, dass Fings, Glauning und Wagner in ihren Untersuchungen das Verhältnis von Zwangsarbeit zu mehr oder minder freier Arbeit thematisieren, laden sie ein, darüber nachzudenken, ob nicht

17 Norbert Frei, »Volksgemeinschaft«. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit der Hitler-Zeit, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 107-128; Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2009; Tagungsbericht »Volksgemeinschaft«: Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Zwischenbilanz zu einer kontroversen Debatte. 02.10.2009-03.10.2009, Hannover, in: H-Soz-u-Kult, 16.10.2009, . 18 Für die integrativen Aspekte vgl. nur Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, München 2003, S. 684-690, S. 715-767, S. 771-794. Den Fokus auf Exklusion legt beispielsweise Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982.

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die Erwerbsarbeit und deren spezifische Ausgestaltung unter nationalsozialistischen Vorzeichen – vor allem während des Krieges – die Institution gewesen ist, in der die »gemeinen Volksgenoss/innen« zugleich die inkludierenden wie die exkludierenden Momente der Volksgemeinschaft haben erleben können bzw. müssen. Dafür sprechen zum einen die während des Krieges erheblich ausgeweiteten Möglichkeiten einer »Disziplinierung«. War die Sanktionierung unliebsamer Beschäftigter zunächst noch über ein mehrstufiges Verfahren eher kompliziert geregelt,19 stellten die AEL gerade während des Krieges für die Betriebe eine vergleichsweise direkte Möglichkeit der Repression dar. Häufig reichte eine Denunziation aus, um die Gestapo auf den Plan zu rufen.20 Den abhängig Beschäftigten führte die Existenz der AEL somit als konkrete Drohung permanent vor Augen, welche Auswirkungen widerständiges Verhalten am Arbeitsplatz haben konnte. Andererseits erlebten gerade deutsche Zivilarbeiter/innen aber auch, dass sich ihr Status zumindest relational verbessern konnte. So ließ der massenhafte Einsatz verschiedener Formen der Zwangsarbeit in nahezu allen Wirtschaftsbereichen, insbesondere während der zweiten Kriegshälfte, diejenigen in der betrieblichen Hierarchie ein Stück weit aufrücken, die in einem einigermaßen freien Arbeitsverhältnis standen.21 2. Wenn sie nicht, wie Fings und Wagner, entsprechende eigene Vorschläge unterbreiten, laden die vier Studien dazu ein, über das Verhältnis von »Ideologie« einerseits und »Interessen« andererseits nachzudenken. Bekanntlich heißt es bei Max Weber: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.«22 Alle vier Studien fokussieren vor diesem Hintergrund zuvörderst die Ebene der Interessen, ohne indes die Weichenstellerfunktion der 19 Vgl. Lotfi, KZ der Gestapo, S. 83-95. 20 Vgl. ebd., S. 129-132. 21 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im »Dritten Reich«. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933-1945, Göttingen 1989; Hansjörg Siegenthaler, Arbeiter verstehen: Zur Interpretation individuellen Handelns im Nationalsozialismus, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 267-278. 22 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 5. Aufl. 1963, S. 237-573, hier S. 252.

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Ideologie aus dem Blick zu verlieren. Dass sich die Interessen der unterschiedlichen Akteur/innen innerhalb eines zutiefst rassistischen Weltbildes bewegten, wird nirgends bestritten. Dennoch: Wagner geht in seiner differenzierten Untersuchung gar so weit, mindestens in einem Punkt von einer »Erosion des Ideologischen« zu sprechen, Fings, etwas vorsichtiger, betont, wie sich ideologische Motive mit wirtschaftlichen und militärischen Interessen beziehungsweise vermeintlichen Sachzwängen verbanden.23 Aber auch sie geht nicht von einer etwaigen zunehmenden Ideologisierung der Kriegsgesellschaft aus, sondern betont vielmehr, dass es das »Verfolgen von Eigeninteressen – von Behörden, Industrie wie Bevölkerung« gewesen sei, das zu einer stetigen Radikalisierung der Kriegsgesellschaft geführt habe.24 Auch Lotfi macht deutlich, dass die Einrichtung der AEL wesentlich dem Interesse der Unternehmen geschuldet war, ihre Arbeiter/innen gegebenenfalls hart disziplinieren zu können, ohne jedoch dabei das Risiko einzugehen, sie dauerhaft an Himmlers KZ-Imperium zu verlieren.25 Das Verhältnis von Interessen und Ideologie, wie es hier präsentiert wird, lässt sich zudem als implizites Plädoyer für eine praxistheoretisch orientierte Analyse lesen: für eine Untersuchung des Nationalsozialismus, die einen Schwerpunkt auf das Handeln der Akteur/innen legt und sich stets bewusst hält, dass dieses weder voraussetzungslos stattfindet noch durch Rahmenbedingungen determiniert ist.26 Der Fokus läge bei einem solchen Ansatz darauf, zu klären, inwieweit die Praxis der Akteur/innen Strukturen überwiegend reproduziert oder diese variiert und möglicherweise in Teilen auch neue schafft. Eine solche praxeologisch informierte Perspektive kann vermutlich auch dann besonders fruchtbar sein, wenn es gilt, über die Zäsur 1945 hinauszuschauen und beispielsweise zu untersuchen, wie danach mit den Orten der Lager umgegangen wurde. 3. Die Studien betonen des Weiteren die Bedeutung der regionalen oder der kommunalen Ebene – und dies letztlich nicht nur im Hinblick auf das Lagersystem allein, sondern auch für ein angemessenes Verständnis des NS überhaupt. Sie rücken dabei auch eine Institution

23 Vgl. Wagner, Produktion des Todes, S. 578 f. Im Hinblick auf die Tendenz zur »Auflösung der vormals starren Grenzlinien zwischen den Häftlingskategorien«: Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ, S. 317. 24 Vgl. Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ, S. 317. 25 Vgl. Lotfi, KZ der Gestapo, S. 236 f. und S. 314. 26 Vgl. Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004.

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in den Blick, die bislang – vor allem für die Kriegsjahre – noch nicht wirklich als gut erforscht gelten kann, die man aber für das, was Nationalsozialismus »vor Ort« bedeutete, nicht unterschätzen sollte: die Kommunalverwaltungen. Für Augsburg hat beispielsweise Bernhard Gotto herausgearbeitet, dass das Funktionieren der Kriegswirtschaft auf lokaler Ebene wesentlich der Stadtverwaltung zu verdanken war. Es waren nicht zuletzt die kommunalen Amtsträger, die mit ihrer Arbeit Tag für Tag dazu beitrugen, die Legitimität des Regimes aufrechtzuerhalten.27 Um ihren wachsenden Aufgaben angesichts eines eklatanten Personalmangels überhaupt noch nachkommen zu können, setzten die Kommunen in erheblichem Ausmaß auf Zwangsbeschäftigung, traten also selbst aus eigenem Antrieb als »Nachfrager« von KZ-Häftlingen auf. Mehr noch: Die Stadtverwaltungen spielten durchaus eine aktive Rolle bei der Errichtung von KZ-Außenlagern.28 Doch dass die Stadtverwaltungen »eigenständige und wirkungsmächtige Akteure« innerhalb des NS-Regimes gewesen sind, ist erst vor wenigen Jahren in den Fokus der Forschung gelangt.29 4. Last, not least: der Aspekt der Entgrenzung. Alle vier Studien gehen von einer Entgrenzung des Zwangslagersystems während des Kriegs aus – wesentlich bedingt durch die »Ökonomisierung« der Konzentrationslager und die Ausweitung der Zwangsarbeit. Entgrenzung wird dabei auch als quantitative Ausweitung der Lagerstandorte verstanden, vor allem aber als Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Lager und Umgebungsgesellschaft: »Die gesellschaftliche Durchdringung des Lagersystems ging schließlich so weit, daß von einer strikten Trennung von Innen- und Außenwelt der Konzentrationslager kaum noch gesprochen werden kann«, schreibt Wagner.30

27 Vgl. Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945, München 2006. Gotto schreibt im Hinblick auf die frühe Regimephase treffend: »Nicht außernormative, revolutionäre Schritte veralltäglichten die Diktatur, sondern bürokratische Routinen.« Ebd., S. 423. 28 Vgl. Karola Fings, Sklaven für die »Heimatfront«. Kriegsgesellschaft und Konzentrationslager, in: Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Bd. 9.1, S. 195-271; Roland Schlenker, Vom Personalmangel zur Zwangsarbeit. Aufgabenstellung und Beschäftigungssituation rheinischer und westfälischer Kommunen 1936-1945, in: Sabine Mecking/Andreas Wirsching (Hg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005, S. 181-213. 29 Vgl. Sabine Mecking/Andreas Wirsching, Stadtverwaltung als Systemstabilisierung? Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume kommunaler Herrschaft im Nationalsozialismus, in: dies. (Hg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus, S. 1-19, hier S. 6. 30 Vgl. Wagner, Produktion des Todes, S. 575.

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Dies führte aber keineswegs zu einer Destabilisierung des KZ-Systems. Denn die Verflüssigung der Grenzen ist in erster Linie ein aus der Außenperspektive wahrnehmbares Phänomen: Die Sichtbarkeit des KZ-Systems nahm zu. Erleichterungen für die Häftlinge waren damit indes nicht verbunden, sie besaßen kaum je die Möglichkeit, die »Innenwelt« eines KZ zu verlassen, mochten sie sich auch auf einem Außeneinsatz jenseits der eigentlichen Lagergrenzen befinden. Sie waren nun sichtbarer als zuvor, blieben aber exkludiert. Folgt man den vier Studien, so bildete die deutsche Kriegsgesellschaft »einen Teil des Lagerzaunes«.31 Sie hat »den Bestand des KZ-Systems zu keiner Zeit gefährdet, sondern stabilisiert« – ein deutlicher Unterschied etwa zu den Verhältnissen im besetzten Frankreich.32 Geht man davon aus, dass sozialer Raum nicht schlechthin gegeben ist, sondern erst durch konkretes Handeln entsteht, so gilt, abstrakt gesprochen: Der soziale Raum eines KZ reichte über den physischen Ort seiner Baracken, seines Appellplatzes und seiner Folterstätten vor allem in der zweiten Kriegshälfte weit hinaus.33 Oder, wie es Christine Glauning in aller Deutlichkeit formuliert: »In den späten Außenlagern wurden die Straßen im Ort zu öffentlichen Todeszonen«.34

Zum Raumbegriff bei Wolfgang Sofsky Theoretische Annäherungen und bilanzierende Überlegungen zu den Lagern des Nationalsozialismus stellten seit den 1950er Jahren wiederholt das Gewaltpotential der Lager und die Strukturen des Lagersystems in den Mittelpunkt.35 Andere Studien, wie zum Beispiel jene Eugen Kogons, betonten das Destruktive der Interaktion zwi-

31 Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ, S. 313. 32 Vgl. ebd., Zitat S. 181; zu den Verhältnissen in Frankreich vgl. ebd. S. 197-246. 33 Zu dieser Differenzierung zwischen »sozialem« und »physischem« Raum vgl. Markus Schroer, »Bringing space back in« – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 125-148, v.a. S. 132-135. 34 Glauning, Entgrenzung und KZ-System, S. 355. 35 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1998, S. 907-943; Bruno Bettelheim, Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft, München 1960; Zygmunt Bauman, Das Jahrhundert der Lager? in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hg.), Genozid und Moderne, Bd. 1, Opladen 1998, S. 81-99; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Überleben, Frankfurt/M. 2002, S. 175-198.

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schen Wachpersonal und Häftlingen36 sowie diejenige innerhalb der Häftlingsgesellschaft.37 Kogon hatte in seiner stark biografisch geprägten Arbeit Der SS-Staat auf die besondere Bedeutung einer spezifischen Organisation von Raum und Zeit hingewiesen, ohne sich jedoch grundlegender damit auseinanderzusetzen.38 Eine der ambitioniertesten theoretischen Studien zum Thema »Lager des Nationalsozialismus«, 1993 unter dem Titel Die Ordnung des Terrors erschienen, stammt von dem Soziologen Wolfgang Sofsky. Sofsky versucht in dieser Arbeit ein idealtypisches Konzentrationslager zu skizzieren.39 Dort habe sich eine ungeregelte »absolute Macht« entfalten können. Im Gegensatz zu bloßem Terror oder modernen, subtileren Herrschaftsformen mit »erzwungenen Freiwilligkeiten« strebe die »absolute Macht« nicht primär danach, Widerstände zu brechen oder einzuebnen, da sie nicht etwa ein Mittel zum Zweck darstelle, sondern als Selbstzweck existiere.40 Charakteristisch sei daher das Wirken enthemmter und durch Organisation potenzierter Gewalt in einer Atmosphäre völliger Ungewissheit.41 Die spezifische »absolute Macht« des Konzentrationslagers lasse sich über zehn Kriterien erfassen: Organisation, Kennzeichnung, eine gestaffelte Struktur, die Auflösung einer ideologischen Legitimierung, zerstörerische Formen von Arbeit, schiere Gewalt, das Erzeugen absoluter Ohnmacht bei den Betroffenen, die Tilgung der Demarkationslinie zwischen Leben und Tod und eine dem Lager innewohnende Tendenz zur Selbstradikalisierung.42 An anderer Stelle leitet Sofsky daraus eine »institutionelle Kernstruktur« ab: »Die institutionelle Kernstruktur des Konzentrationslagers umfaßte folgende Elemente: den Antagonismus zwischen Personal und Insassen, eine funktional differenzierte Administration mit einem hohen Grad an dezentraler Verfügungsmacht, einen hochgradig standardisierten Lagerbetrieb, den Arbeitszwang, die Klassenhierarchie der Häftlingsgesellschaft, eine Funktions-

36 Vgl. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1946, S. 287-300. 37 Vgl. ebd., S. 301-323. 38 Vgl. ebd., S. 21-27 und S. 47-55. 39 Sofsky, Ordnung des Terrors. 40 Vgl. ebd., S. 33. 41 Vgl. ebd., S. 27 ff. 42 Vgl. ebd., S. 29-39.

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elite, die eine blockweise verdichtete Zwangsmasse zu kontrollieren hatte, schließlich das Regime terroristischer Gewalt.«43

Zentrale Elemente in Sofskys Argumentation sind die Kategorien Raum und Zeit. Die Temporalitätsstruktur des Konzentrationslagers mit einer »Zeit des Lagers« und einer »Zeit des Häftlings« ist dabei zweifach gedacht, da sie sowohl auf der Ebene der Organisation als auch auf der Ebene der Insassen ansetzt. Die Zeit des Lagers zerstöre die Kontinuität der inneren Zeit, kappe die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft und sperre die Häftlinge in einer ewigen Gegenwart ein. Die Zeit des Lagers beherrsche nicht nur die Körper, sondern auch die biografische Zeit und bemächtige sich der Bewegungen des Geistes.44 Die »absolute Macht« zwinge die Betroffenen daher zur Selbstdestruktion ihres Zeithorizontes.45 Zentral sind hier somit Wahrnehmungsvorgänge und Deutungsprozesse. Auch Sofskys Annäherung an den Raum des Konzentrationslagers erfolgt über zwei Komponenten. Es handelt sich um die Abriegelung von der Außenwelt sowie um Zonierung und Verdichtung.46 Sein Hauptaugenmerk liegt auf der inneren Gliederung. Um die Kontakte zu lenken, so der Autor, sei der Lagerraum in Sozial- und Funktionsbezirke zerlegt und in Zonen der Überwachung und Sichtbarkeit eingeteilt worden. Folgerichtig fordert er, eine Analyse habe »nicht nur eine Topografie zu erstellen«, sondern »auch den sozialen Funktionen nachzugehen, die Bewegungen der Menschen nachzuzeichnen und den symbolischen Sinn der Orte verständlich zu machen«.47 Obwohl Sofsky die Bedeutung des Schmuggels für die Versorgung heraushebt und die Kontakte der Arbeitskommandos zur Umgebung benennt, entwirft er das idealtypische Konzentrationslager als abgeschlossene Einheit und betont nachdrücklich dessen Abtrennung von der Außenwelt. Zugleich erscheint auch die Innenwelt eigentümlich statisch. Dieser Entwurf kann somit diachrone und synchrone Entwicklungen innerhalb der Konzentrationslager nicht erfassen. Dass nun die historische Realität dem Idealtypus nicht entspricht, ist kein Einwand, sondern eine Banalität. Mit Idealtypen zu arbeiten, bedeu-

43 Vgl. Wolfgang Sofsky, An der Grenze des Sozialen. Perspektiven der KZ-Forschung, in: Herbert/Orth/Diekmann (Hg.), Konzentrationslager, Bd. 2, S. 1141-1169, hier S. 1144. 44 Vgl. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 88. 45 Vgl. ebd., S. 103. 46 Vgl. ebd., S. 61 und S. 86. 47 Ebd., S. 62.

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tet, Differenzen zu bestimmen zwischen idealtypischer Konstruktion einerseits und historischer Realität andererseits. Wird aber der Abstand zwischen Idealtyp und ›Wirklichkeit‹ zu groß, so büßt dieser seine analytische Kraft ein.48 Auf Sofsky bezogen, bedeutet dies: Eine Theorie des Raumes muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Lager kontinuierlich Um- und Ausbaumaßnahmen unterzogen waren und dass deren Topografie entsprechend veränderter Bestimmungen laufend umstrukturiert wurde. Das idealtypische Konzentrationslager war kein statisches Gebilde, sondern ein prozesshaftes Phänomen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe – in Anlehnung an den spatial turn49 und unter Berücksichtigung längst etablierter pädagogischer Konzepte, die die Einbindung der Lager in ihre Umgebung fokussieren – auch den Raum des Konzentrationslagers theoretisch neu zu denken und zu erweitern.

Plädoyer für eine Erweiterung der analytischen Kategorie »Raum« am Beispiel des KZ Niederhagen Im Folgenden werden anhand des Beispiels des Konzentrationslagers Niederhagen im westfälischen Wewelsburg die räumlichen Beziehungen eines nationalsozialistischen Zwangslagers ausdifferenziert.50 Dabei werden die komplexen Verflechtungen von »innen« und »außen« deutlich. Die Befunde dienen anschließend dazu, Sofskys Überlegungen zu präzisieren: Neben dem »Raum des Lagers« soll ein »Raum der Lagerabläufe« konturiert werden. Im Jahre 1933 wurde die Wewelsburg im gleichnamigen Dorf bei Paderborn über ein Mietverhältnis mit dem damaligen Landkreis Büren in den Besitz der SS überführt. Die Nutzungsabsichten und Umgestaltungspläne wurden mehrfach geändert und erweitert, bis hin zu Überlegungen, ein umfangreiches Bauprojekt zu realisieren.51 Die ausufernden Planungen ließen sich allerdings nur ansatzweise um-

48 Vgl. Dirk Käsler, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M. 1995, S. 229-234. 49 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2005; Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003; Schroer, »Bringing space back in«. 50 Dazu immer noch grundlegend Karl A. Hüser, Wewelsburg 1933 bis 1945. Kult- und Terrorstätte der SS. Eine Dokumentation [1982], Paderborn 1987; jetzt auch Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009. 51 Vgl. Hüser, Wewelsburg, S. 271-296.

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setzen, und im Jahre 1943 mussten alle Bauarbeiten kriegsbedingt eingestellt werden. Ab Mai 1939 verbrachte die SS für den Einsatz auf den Baustellen Häftlinge des KZ Sachsenhausen nach Wewelsburg. Im Januar 1941 erhielt das Arbeitskommando den Status eines Außenlagers, dem zu diesem Zeitpunkt etwa 470 Häftlinge angehörten.52 Mit Wirkung vom 1. Juli wurde das Lager an das Deutsche Reich verkauft, zu einem selbstständigen Konzentrationslager erklärt und administrativ dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) der SS unterstellt sowie von da an unter der offiziellen Bezeichnung »KL Niederhagen« geführt.53 Mit einem Flächenumfang von nicht einmal drei Hektar handelte es sich hierbei zwar um ein vergleichsweise kleines Konzentrationslager; in dem westfälischen Bauern- und Handwerkerdorf bildete es jedoch die größte bauliche Einheit. Ab 1942 vergrößerte sich die Anzahl der Häftlinge rapide und überstieg phasenweise sogar diejenige der Einwohner/innen des Dorfes – zu diesem Zeitpunkt etwa 900 Personen. Hinzu kam das unmittelbar angrenzende SS-Lager mit den dort untergebrachten Angehörigen der Wachmannschaften. Um wie viele Personen es sich dabei genau handelte, ist noch unklar. AlexandraEileen Wenck hat inklusive des Kommandanten Adolf Haas insgesamt 93 SS-Angehörige ermittelt, die nach der Auflösung des Lagers im April 1943 nach Bergen-Belsen überstellt wurden.54 Lediglich ein kleines Restkommando, bestehend aus einer Gruppe Zeugen Jehovas, die von wenigen SS-Leuten bewacht wurden, blieb zurück und wurde am 2. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit.55 a) Lagerstandorte Die Häftlinge wurden zwischen 1939 und 1945 an drei Standorten untergebracht. Von Mai bis August 1939 diente hierzu ein unmittelbar am Fuße der Burg befindliches Zeltlager. Danach existierte für ziemlich genau ein Jahr eine Zwischenlösung: das sogenannte »Kleine Lager« am Kuhkampsweg, für das zwei 8 x 50 Meter große Holzbaracken errichtet wurden.56 Ab August befand sich das Konzentrationslager

52 Vgl. Kirsten John, »Mein Vater wird gesucht ...«. Häftlinge des Konzentrationslagers in Wewelsburg, Essen 2001, S. 49. 53 Vgl. ebd., S. 67. 54 Vgl. Alexandra-Eileen Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Paderborn 2000, S. 118. 55 Zum Restkommando vgl. John, Vater, S. 122-134. 56 Vgl. Hüser, Wewelsburg, S. 75; John, Vater, S. 33 ff.

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auf der Gemarkung Niederhagen.57 Es bestand aus dem Häftlingslager mit etwa 20 Baracken und einem Wirtschaftshof. Damit wechselten die Lagerstandorte im Verlauf von vier Jahren innerhalb der gesamten West-Ost-Ausdehnung des Dorfes, wobei sie zum Teil offen einsehbar waren. So belegt eine Fotografie aus dem Jahre 1939 nicht nur, dass ein erhöhter Standort unterhalb der Wewelsburg einen direkten Blick auf das Zeltlager ermöglichte, sondern auch, dass das Lager Neugier und Interesse erzeugte.58 Die Tatsache, dass der Appellplatz auf der Abbildung deutlich sichtbar ist, lässt den Schluss zu, dass die Vorgänge an diesem Ort mit bloßem Auge zu verfolgen waren. b) Außenkommandos Zwischen 1939 und 1943 sind zehn größere Außenkommandos belegt, auf denen die Häftlinge auch in Kontakt mit zivilen Arbeitskräften kamen, insbesondere beim Ausbau der Burg.59 Die Kommandos waren an mehreren Stellen des Dorfkerns zu finden, darunter unter anderem auch der »Steinbruch Burg«, in dem viele Häftlinge auf Grund der körperlichen Schwerstarbeit und Schikanen zu Tode kamen.60 Bei den Außenkommandos handelte es sich um Baustellen, die zum Teil über mehrere Jahre betrieben wurden. Abgesehen von den wenigen Häftlingen, die im Innenbereich des Lagers tätig waren, ist beinahe die gesamte Belegschaft zweimal am Tag aus- und eingegangen, da das Mittagessen im Lager ausgegeben wurde. Die Standortwechsel des Lagers und die Tätigkeit auf den Baustellen lassen den Schluss zu, dass eine klare Unterscheidung zwischen »innen« und »außen« zwar aus analytischer Absicht sinnvoll sein kann, mit den täglichen Abläufen des Lagers aber nur wenig zu tun hat. Eine Analyse von Zeitzeug/inneninterviews verdeutlicht sowohl den öffentlichen Charakter des Terrors gegen die Häftlinge als auch die daran geknüpften Erinnerungskonstruktionen.61 c) Fluchtversuche Der Befund wird auch anhand von Berichten über Fluchtversuche erhärtet. Bereits am 15. Mai 1939 kam es zu einem ersten Fluchtversuch

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Vgl. Hüser, Wewelsburg, S. 78-89. Vgl. John, Vater, S. 34. Vgl. Abbildung »Grundkarte Wewelsburg«, in: Hüser, Wewelsburg, S. 336. Vgl. Hüser, Wewelsburg, S. 94 und S. 342 f.; John, Vater, S. 110 ff. Vgl. Dana Schlegelmilch, Mittendrin – oder nur dabei? Wewelsburger Blicke auf die SS-Zeit im Dorf, in: Schulte (Hg.), Die SS, S. 395-413, hier S. 413.

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Abb. 1: Das Zeltlager des ersten Häftlingskommandos im Finneckestal unterhalb der Burg, 1939. Quelle: Kreismuseum Wewelsburg.

zweier Häftlinge, dem eine groß angelegte Suchaktion folgte. Mindestens zweimal erschienen daraufhin Berichte in der lokalen Presse, in der vor den »gefährlichen Gewohnheitsverbrechern« im »hiesigen Gefangenenlager« gewarnt wurde.62 Für einen zweifachen Fluchtversuch im Januar 1940 können Verwaltungsabläufe nachgezeichnet werden. Die Stapo Paderborn gab in einem Funkspruch die Flucht bekannt, in schriftlicher Form leitete das Landratsamt diesen an nachgeordnete zivile Behörden weiter. Während einer der Häftlinge nach seiner Ergreifung von der SS erschossen wurde, verstarb der andere in einem Krankenhaus. In einem Eilbrief bat daraufhin die Kommandantur des KL Sachsenhausen um die Fälschung der Sterbeunterlagen.63 Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass Fluchtversuche umfangreiche administrative Prozesse in Gang setzten. Darin waren die örtliche Lager-SS, die Verwaltung des Hauptlagers, die Polizei, verschiedenste zivile Behörden sowie im konkreten Fall eine Krankenhausverwaltung involviert. d) Ver- und Entsorgung Ähnlich stellt sich die Situation bei der Ver- und Entsorgung dar. Das Lager musste aus der näheren Umgebung mit Baumaterial, Brennstoffen, Artikeln des täglichen Bedarfs und Lebensmitteln versorgt

62 Vgl. Hüser, Wewelsburg, S. 75 f. und S. 324. 63 Vgl. ebd., S. 327. Zur Perspektive der Bevölkerung vgl. Schlegelmilch, Wewelsburger Blicke, S. 406 f.

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werden. Das betraf im Höchstfall bis zu 1.600 Häftlinge.64 Damit war das Konzentrationslager Niederhagen ein bedeutsamer lokaler und regionaler Wirtschaftsfaktor. Es ist jedoch immer noch unklar, wer in welchem Ausmaß in geschäftliche Abläufe verwickelt war, und welche Umsätze und Gewinne bei der Versorgung mit Brot, landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Holz oder Treibstoff erzielt wurden. Eines der bedeutendsten logistischen Probleme des Lagers war die Beseitigung der Leichen. Zwischen Mai 1939 und Mai 1943 starben in Wewelsburg mindestens 1.285 Menschen. Das sind monatlich durchschnittlich 27 Tote. Die Leichen wurden bis Oktober 1942 in Dortmund, Bochum und Bielefeld eingeäschert, bevor im Lager selbst ein Krematorium errichtet wurde.65 Die häufigen Transporte erregten bis in die weitere Umgebung hinein erhebliches Aufsehen. Zudem wurden die Todesfälle aktenkundig. Im Juni 1942 forderte das Reichsinnenministerium das Mindener Regierungspräsidium dazu auf, einen neuen Standesamtsbezirk einzurichten, der ausschließlich den Bereich des KZ Niederhagen umfassen sollte. Nach der Klärung verschiedenster verwaltungsrechtlicher Probleme zwischen Kommandantur und Landratsamt konnte ab dem 1. Januar 1943 das Konzentrationslager selbst die Sterbeverwaltung führen.66 Leichenbeseitigung und Verwaltung wurden ab diesem Zeitpunkt direkt vor Ort abgewickelt. Damit diffundierte die staatliche Administration in das System der Konzentrationslager hinein. Fluchtversuche sowie Ver- und Entsorgung zeigen hier deutlich, wie sehr die kommunalen Verwaltungsstellen in die Organisation eines Konzentrationslagers eingebunden waren. e) Die Transformation des Ortes Das im Frühjahr 1943 geschlossene Häftlingslager wurde bereits ab Oktober/November 1943 von der Volksdeutschen Mittelstelle67 als Lager für Umsiedler/innen nachgenutzt,68 und das SS-Lager diente zwischenzeitlich als Wehrertüchtigungslager. Lediglich das Gelände

64 65 66 67

Vgl. Hüser, Wewelsburg, S. 372. Vgl. ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 99; John, Vater, S. 68 f. Zur Volksdeutschen Mittelstelle (VOMI) vgl. Valdis O. Lumans, Himmler‘s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe 1933-1945, Chapel Hill 1993. 68 Vgl. Norbert Ellermann, Erfahrungen im Umsiedlungslager der Volksdeutschen Mittelstelle in Wewelsburg von 1943-1945, in: Schulte (Hg.), Die SS, S. 296-313; Andreas Lüttig, Fremde im Dorf. Flüchtlingsintegration im westfälischen Wewelsburg, Essen 1993, S. 26 f.

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des Lager-Wirtschaftshofs wurde noch für die Unterbringung des Restkommandos gebraucht. Nach der Schließung des Umsiedler/innenlagers und einer Zwischennutzung als DP-Lager und Unterkunft für alliierte Truppen wurden Flüchtlinge in die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers einquartiert. Den mehrheitlich aus Schlesien ins Paderborner Land gekommenen Personen erschwerte nicht nur der Status des »Fremdseins«, sondern auch der Umstand, dass viele von ihnen protestantischen Glaubens waren, die Integration in die Dorfgemeinschaft.69 So wurde den Neubürger/innen in der Folgezeit zwar Bauland zur Verfügung gestellt, allerdings ausschließlich auf dem Areal des früheren Konzentrationslagers. Die Folgen waren eine umfassende Überbauung und eine räumliche Segregation mit entsprechenden Ausgrenzungspraktiken. Die Baracken verschwanden sukzessive bis auf wenige Steingebäude. Lediglich ein noch nicht überbauter Teil des ehemaligen Appellplatzes wurde später unter Denkmalschutz gestellt, und im Jahre 2000 konnte dort ein Mahnmal für die Opfer errichtet werden.

Fazit Das hier skizzierte Beziehungsgeflecht findet sich in vergleichbarer Form bei etlichen Konzentrationslagern, wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat.70 So bleibt festzuhalten, dass der ›Ort des Terrors‹ im Vergleich zu Wolfgang Sofskys Reflexionen einer konzeptionellen Neubeschreibung bedarf. Ein entsprechendes Theoriemodell müsste chronologische Entwicklungen berücksichtigen, zeitgleiche Konstellationen integrieren und über eine rein materielle Verortung hinausgehen. Es erscheint eine Erweiterung um einen zweiten, eher abstrakten Raumbegriff erforderlich. Hierbei handelt es sich um einen »Raum der Lagerabläufe«, der der Verzahnung des eigentlichen (phy-

69 Vgl. ebd., S. 46 und S. 82-85. Allgemein zu den Schwierigkeiten bei der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Nachkriegszeit vgl. Michael Schwartz, »Zwangsheimat Deutschland«. Vertriebene und Kernbevölkerung zwischen Gesellschaftskonflikt und Integrationspolitik, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 114-148. 70 Vgl. nur Sybille Steinbacher, Dachau. Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1994; Jens Schley, Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Köln 1999.

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sischen) Lagers mit seiner unmittelbaren und mittelbaren Umwelt Rechnung trägt. Der »Raum der Lagerabläufe« beinhaltet mit den Entwicklungsphasen des Lagers außerdem eine Zeitdimension und integriert soziale Praktiken, wie zum Beispiel Hilfeleistungen, Schwarzhandel, Schmuggel oder auch Gewalt. Mit einem zweifachen Raumbegriff lässt sich zweifelsohne ein noch besseres Verständnis für die gesellschaftliche Einbindung von Verfolgung und Terror herstellen, da er die Schnittstelle zwischen »innen« und »außen« fokussiert und konkretes Handeln sichtbar macht. Standorte, Häftlingsarbeit, Fluchtversuche, Versorgung und Nachnutzung der Orte verdeutlichen die Einbindung der Lager in das gesellschaftliche Umfeld. Mit dem Aspekt der »Volksgemeinschaft«, dem Verhältnis von Ideologie und Interessen, dem Bereich der Kommunalverwaltungen und dem Aspekt der »Entgrenzung« lassen sich vier Punkte herausstellen, anhand derer die Forschungen zu den Zwangslagern zu Gesamtaussagen über die nationalsozialistische Kriegsgesellschaft beitragen können. Indes: Man sollte eine solche Perspektive nicht gegen die Vielfalt der Einzelforschungen ausspielen. Es ist zu offensichtlich, dass beispielsweise ein ländlich gelegenes Lager unter anderen Bedingungen existierte als ein städtisch verortetes. Auch bei letzteren Lagern bestanden, wie Karola Fings betont, erhebliche Unterschiede. So differierte beispielsweise die Sterberate in den verschiedenen SS-Baubrigaden erheblich.71 Gleichwohl konnte anhand neuerer Forschungsergebnisse gezeigt werden, dass die Radikalisierung der Verfolgung, die Zunahme der Zwangsarbeit und die Entgrenzung der Gewalt weder allein »von oben« ausgingen noch allein aufgrund ideologischer Motive ins Werk gesetzt wurden. Vielmehr amalgamierten »von unten« gesehen materielle und ideelle Interessen unterschiedlicher Provenienz: der Alltagsrassismus weiter Teile der Bevölkerung mit den auf einem reaktionären »Herr-im-Hause«-Standpunkt fußenden Interessen von Unternehmen an der Disziplinierung ihrer Arbeiter/innen und dem Bestreben der Kommunalverwaltungen, ihrerseits Zugriff auf Zwangsarbeiter/innen zu bekommen. All dies trieb die Dynamik des Terrors ebenfalls voran.

71 Vgl. Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ, S. 138 ff.

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Living with the Nazi KZ legacy A comparative exploration of Western European »locational bystanders« 1944-2005 H ELEN W HATMORE

Nazi concentration camps (KZs) were exported to Eastern and Western Europe and host concentration camp communities, along with other civilian communities in the vicinity, were implicated in close relations with the epitome of the terror apparatus. These relations have continued into present times as not only do the communities bear a somewhat »tarnished« association to the camp in name, they have also physically continued to coexist with whatever has become of the burdened earth. In some cases former camps have been put to alternative uses, their former functions transmuted into new purposes. In others they have been left derelict, the significance of their former utilisation suspended in thin air. Increasingly KZ sites, or parts of them, have become objects of memorialisation and local KZ communities have come to coexist with an indelible reminder of the universal horrors of Nazism, and the local memory of particular horrors perpetrated in their vicinity. Conceptually, these communities can be considered as »bystanders«, one of the monolithic categorisations in the triad of Holocaust actors conceived by Raul Hilberg.1 Alternatively, they could be labelled »neighbours«, a term loaded with particular connotations following Jan Gross’s work on the Polish village of Jedwabne.2 Suffice to say, therefore, there is a debate attached to the nominal classification of 1

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»Perpetrators, Victims, Bystanders«. However, this notion is rather murky when used in practice. It has associated, and problematic, implications of passivity and indifference and functions better as an umbrella term that includes a differentiated spectrum of actors, motivations and behaviours. See Raul Hilberg, Perpetrators, Victims, Bystanders. The Jewish Catastrophe 1933-1945, New York 1992. The term »neighbours« acknowledges greater locational specificity but no longer separates the categories of perpetrator, victim and bystander. Indeed, it encapsulates the spectrum of behaviour across the perpetrator-victim-bystander axis (in terms of Jedwabne’s non-Jews massacring their fellow Jewish citizens) and illustrates how a group with a distinctive collective identity can be at the same time a victim and a perpetrator. Cf.

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these local communities and in this paper a local KZ community will be understood as a hybrid type of »locational bystander«. This combines Hilberg’s understanding of »bystanders« as being differentiated from perpetrators and victims with the locational specificity of Gross’s »neighbours«, which invokes the shared nature of a camp’s and a community’s social and spatial immediacy. In line with the theme »the transformation of Nazi sites of terror«, and on the basis that »site« signifies the shared locality of the camp and the local community, I will comparatively examine three case studies of KZs which have metamorphosed into memorials from the perspective of the local community: Natzweiler-Struthof (France),3 Neuengamme (Germany),4 and Vught-Herzogenbusch (or Kamp Vught as it is known in the Netherlands).5 If steeped in different national experiences of Nazism, »ordinary« people in all these cases have inherited a local Nazi legacy that has similarly scarred local topography, history and civic identity and, furthermore, has become emblematic of Nazi memorialisation at the national level. I will thus examine the evolution of a certain type of »national« culture of memory in the light of regional and local dynamics. This will be both in terms of material transformations of the physical site as well as the evolutions in KZ memorialisation. I argue that the study of KZ memory should be more inclusive of local dynamics and the entwined history of these communities; they too constitute a salient memory group and contextualise the changing significance of the KZ site. In the process of knitting the post-war camps and memorials into the physical and social space of their lives, bystanders have performed variously as agents of change

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Jan Gross, Neighbours. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland, 1941, London 2003. The KZ was known to the Germans as KZ Natzweiler, the Germanised name of the nearest village. To the Alsatians, it was known as Le Struthof in accordance with its more precise geographical location near the hamlet of Struthof. The use of Natzweiler in this text will refer to the KZ whereas all references to the local village will use its current French name – Natzwiller. For an overview of the history of the KZ Natzweiler see: Robert Steegmann, Natzweiler – Stammlager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (eds.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, vol. 6, München 2007, pp. 23-47. Cf. Detlef Garbe, Neuengamme – Stammlager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (eds.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, vol. 5, München 2007, pp. 315-346. For an overview of the history of the KZ Herzogenbusch, located in the area of Vught south of the city‘s Herzogenbosch, see Hans de Vries, Herzogenbusch (Vught) – Stammlager, in: Benz/Distel (eds.), Der Ort des Terrors, vol. 7, München 2008, pp. 133-150.

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but in all cases they have proved to be vessels of KZ memory. This can be seen in the ways that local people have responded to wider claims laid to KZ memory and the space associated with it, how bystander memories of the KZ have been asserted and recurred in local discourse, and how they have informed memorial practice.6

Post-war land use: Re-utilisation »away« from the KZ In the immediate post-war period these three KZs all underwent similar transformations into internment centres; their outward image did not change much but the symbolic changes were significant. By reusing the sites under a democratic rationale, investing them with populations that demarcated the »good« from the »bad« within the indigenous populations, and giving them a new »spirit« insofar as inhumane KZ conditions became humane prisons, the KZs were afforded a degree of rehabilitation.7 However, as the post-war administrations stabilised and rebuilding the nation became the prime focus, the need for such internment facilities diminished and they were all closed between 1948 and 1949. The sites of Vught and Neuengamme were pragmatically put to new uses. In February 1951, the Dutch Ministry of Justice temporarily housed a group of South Molukkans in the former KZ Kommandantur and four prisoner barracks, however, this soon expanded to a settlement of twenty-one barracks which housed approximately 3,000 people.8 In spite of the fact that many physical features of the former camp remained the same e.g. the barrack buildings, the barrier at the en-

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James Young, for example, has suggested that local communities have refracted memory through their own blinkered experience. James E. Young, Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning, New Haven/London 1993, p. 54. Cf. for example, Ute Wrocklage, Neuengamme, in: Detlef Hoffmann (ed.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ Relikte und KZ Denkmäler 1945 –1995, Frankfurt/M. 1998, pp. 178-205, here p. 186. The land, on which Kamp Vught was built, belonged to the Ministry of Justice and they made the final decision as to how it should be used. Following Indonesia’s independence, the Republic of the South Molukkas was also proclaimed on April 25 1950 and many South Molukkan soldiers who had previously been members of the colonial Dutch army sympathised with its ideals. (The Molukkans were a Christian, pro-Dutch people with a history of collaboration with Dutch colonists, especially the military.) However, as the Dutch army was to be decommissioned and Indonesia was determined to prevent the soldiers from joining the Molukkan Republic, some 12,500 Molukkan soldiers were temporarily shipped to the Netherlands with their families, pending a more permanent solution.

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trance and the barbed wire fences, the Molukkans altered the character of the place; they were »living« there. This was made evident by, for example, the former roll call square becoming the sports ground and the Kommandantur a hospital and maternity ward.9 However, given the supposed temporary nature of their stay the Molukkans did not stray much beyond the confines of the camp in the early years and the settlement effectively became self-contained.10 Likewise, the local community did not venture much into the terrain where the »foreigners« now lived. There were, of course, exceptions such as a number of local shoe and textile traders who set up shops in the Molukkan settlement,11 or others who fulfilled more functional roles such as cooking food for young children and the sick.12 But these interactions were limited and the residential settlement remained distinct from the rest of the community. Despite officially being renamed Woonoord Lunetten (Lunetten residential area) it was known in local discourse as the Ambonesenkamp (camp for the people of Ambon).13 In 1953, the former KZ terrain gained two further uses. Firstly, the Ministry of Justice relocated the Nieuw-Vossefeld prison for long-term youth offenders to the rear area of the former KZ, which included the former barracks of the Philip’s kommandos,14 the bunker and the sick bay.15 Secondly, the Royal Engineers of the Dutch Army took over what had previously been part of the SS camp occupied by the Canadian liberation forces.16 By nature, these additional uses strengthened perceptions of the camp as a location »apart«. Access to the military

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Cf. Henk Smeets, Molukkers in Vught, Vughtse Historische Reeks, vol. 4, Vught 1996, p. 20. The Molukkan settlement tried to cater for itself in every domain: self-administration, living quarters, health services, churches, schools, recreational activities. Cf. Smeets, Molukkers in Vught, pp. 34-44. Cf. ibid., p. 53. Cf. author’s interview with A. vd W., Vught, November 2009. In interviews I have conducted »Ambonesenkamp« is the most popular mode of expression. In newspaper sources it is more diplomatically termed Ambonese village or Ambonese residential area, see Smeets, Molukkers in Vught, p. 20 and p. 43. The electro-technical company Philips, based in Eindhoven, set up workshop barracks in Kamp Vught in February 1943 and throughout its 18 month duration used a prisoner labour force of 3,100 men and women including 600 Jewish prisoners. These kommandos benefited from improved working conditions as Philips insisted that they work under civilian leadership and receive sufficient clothing and food. By using the land in this way, the Ministry of Justice was implementing a decision taken in late 1949/early 1950. Cf. Andreas Pflock, Auf vergessenen Spuren. Ein Wegweiser zu Gedenkstätten in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, Bonn 2006, p. 111. Cf. ibid., p. 110-111.

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compound was restricted, local people had very little business with the prison and the entrance to the access road leading to the prison (but also the Molukkan settlement) remained guarded.17 This triple re-usage caused substantial material changes to the landscape. In the mid-Sixties the military extended their premises to take up more of the former KZ terrain,18 and in the late Eighties the prison was structurally remodelled to become a high security unit. In the latter case many of the remaining KZ buildings were demolished to be replaced by new prison facilities hermetically sealed by a four metre high wall.19 In the early Nineties, the Molukkan settlement also underwent regeneration following a contentious debate when they refused to move into housing that had been specially built for them elsewhere in Vught. Local and national government had seen this as the solution to the dilapidated conditions in the original KZ barracks, however, many Molukkans refused to leave the Woonoord Lunetten where they had developed a particular style of communal life in the barracks and where, ultimately, they had made their home in the Netherlands. In 1989 when they won the right to stay, the original KZ barracks were razed and replaced by an all new barrack-style housing estate.20 At Neuengamme, when the internment camp was closed down the site was handed back to the Hamburg Senate.21 The Hamburg State authorities decided to destroy the legacy of the KZ and morph the site into a modern prison representative of a democratic and progressive Hamburg and in September 1948, the Neuengamme Prison for Men was duly opened.22 Initially, much of the existing KZ architecture was reutilised but from 1949 the face of the landscape began to change. The brick buildings constructed during the Nazi period were main-

17 Cf. author’s interview with P. & J. vd K., October 2009. Cf. also Smeets, Molukkers in Vught, p. 52. 18 These included the camp kitchen, the store room, the main entrance building and the former roll call square. Pflock, Auf vergessenen Spuren, p. 111. 19 The two buildings to escape demolition were the bunker and the crematorium. Cf. ibid., p. 111. 20 For more information cf. Smeets, Molukkers in Vught, pp. 95-156. 21 Neither Neuengamme (as part of the Vierlande, a sub-district of Bergedorf), nor indeed the administrative district of Bergedorf (responsible for Neuengamme) had responsibility for the camp. 22 In the much quoted words of Oberlandesgerichtsrat Buhl, Head of the Hamburg Prison Service, in 1947: »The stigma of the past should be erased and Neuengamme should represent to us the duty of atonement [...] henceforth [...] an exemplary humane prison and modern penal system of worldwide repute should be created.« Buhl in a speech to the Hamburg Senate, 21/10/1947, quoted in: Wrocklage, Neuengamme, p. 186.

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tained but the wooden barracks were torn down and replaced by a new square building around a central courtyard. In 1951, all but one of the watch towers were demolished although the electric barbed wire fence remained in place.23 Architectural evolution continued over the decades with additional living quarters for the staff and new cell blocks. However, the biggest material change occurred in 1970 when a second prison, the Vierlande Juvenile Detention Centre, was newly built alongside the first penal complex. Like Vught, it was hermetically sealed with a high concrete wall and watchtowers.24 The pragmatic attitude exhibited by the Hamburg Senate towards KZ Neuengamme was also evident at the local level. In November 1947, for example, locals enquired if former KZ land could be used for commercial gardening,25 and in 1949 the local administrative office wanted to re-open the main road which ran adjacent to the former KZ asserting that »what had been an understandable closure during the period when the KZ was in existence was no longer applicable«.26 Re-opening the road was a locally desired act of normalisation to embed the former camp terrain back into an openly accessible local environment. However, the prison remained a topographical stigma as the prison authorities refused to reinstate it as a public thoroughfare and the local administrative office was still arguing its case in 1951.27 When it came to the huge physical transformations of the Seventies, in spite of the fact that the wall and watchtowers were evocative of the KZ there was neither political nor moral objection to building another prison on the historically significant land. Indeed, the fact that a concentration camp had previously existed on the site did not feature in either political circles or the public sphere.28 At the local level where people were living with the prison on their doorstep, the

23 Cf. Detlef Garbe, »Das Schandmal auslöschen«. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zwischen Gefängnisbau und -rückbau. Geschichte, Ausstellungskonzepte und Perspektiven, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (ed.), Museale und mediale Präsentationen in KZ-Gedenkstätten, Bremen 2002, pp. 51-71, here p. 53. 24 Cf. Wrocklage, Neuengamme, p. 186. 25 Cf. Staatsarchiv Hamburg-Harburg (StHH) 443-2: Ortsamt Vier- und Marschlande, 2: Minutes from the meeting of the advisory committee of the Vier- und Marschlande local authorities 1946-47, 22/11/1947. 26 This historic thoroughfare linked Hamburg, via Bergedorf, to mid and southern Germany. StHH, 443-2: Ortsamt Vier- und Marschlande, 3: Minutes from the meeting of the advisory committee of the Vier- und Marschlande local authorities 1948-1950, 08/07/1949. 27 Cf. StHH, 443-2: Ortsamt Vier- und Marschlande, 6: Minutes from the meeting of the advisory committee of the Vier- und Marschlande local authorities 1950-57, 19/08/1950. 28 Cf. Garbe, »Das Schandmal auslöschen«, p. 56.

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KZ had effectively disappeared off the horizon; its legacy seemed to be silently subsumed into the prison. The decisions for re-utilization of the KZs were thus not informed by local communities but national and regional State authorities. At Vught the legacy of the camp was dealt with in a twofold manner: the physical site was put to three new material uses but this was not, as will be seen, without an acknowledgement of the KZ’s memorial legacy. At Neuengamme, the KZ legacy was treated on a more one dimensional basis where the practical re-use of the physical terrain was intended to erase the legacy of the KZ, that is, to make its memory implicit rather than explicit. The role of the locals in this was to accommodate the new institutions that grew out of the former KZs; by doing so, they anchored the functional and conceptual changes associated with them in society.

Manifestations of KZ memory 1944-196029 In two of the three case studies, the first manifestations of KZ memory materialised alongside the post-war internment facilities and they emanated from various groups of survivors. As they evolved into more formalised expressions of KZ memory, however, different dynamics of local and State memorialisation revealed themselves. At Vught, the bystanding community made an enduring mark on memorialisation as early as September 1944. In an outburst of »rage and distress« Henk van der Pas, the lifeguard at the nearby lake, and his friend Piet van Laarhoven, a local carpenter, erected a wooden cross on the camp execution square (Fusilladeplaats) located in the woods outside the camp. They had found hundreds of empty cartridge cases, the remnants of the Nazi mass executions of Dutch patriots prior to the evacuation of the camp.30 On 4 September 1945, the local community added a flag pole to the site and conducted the first memorial ceremony in honour of the Liberation of the camp and the executions of their fellow Dutchmen.31 This was followed in May 1946 by a na-

29 I have classified manifestations of memory as the immediate post-war commemorative gestures up to and including the inauguration of the first »official« memorials. 30 Cf. Dat beeld raak je niet meer kwijt, in: Brabants Dagblad, Speciale Bijlage, April 1990, p. 12. 31 Cf. Pflock, Auf vergessenen Spuren, p. 112.

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tional commemoration in the presence of Queen Wilhelmina who let it be known that the wooden cross must »remain there forever«.32 At Natzweiler, by contrast, early commemorative gestures came from outside the local communities. In February 1945, General de Lattre, Head of the First French Army, led a funeral service in memory of a fellow officer and other Alsatian patriots who had died at the camp, and in November of that year representatives of the Alliance resistance network invited camp survivors to participate in a »Political Internees and Deportees Day«.33 Like Vught, a formal, religious mark of memorialisation in honour of the dead (a wooden cross) was also erected, but unlike Vught this was not on symbolic terrain external to the KZ, it was on the very grounds of the Natzweiler penitentiary and merely fenced off from the inmates housed in the former KZ barracks. Alongside homage paid to the victims, early memorialisation at both these camps also featured commemorative gestures of gratitude to the local populations. An obelisk at the railway station of Schirmeck, a small town six kilometres from Natzwiller, was dedicated »As a token of gratitude to the inhabitants of the Bruche valley from the internees of the camps of Schirmeck Labroque and Struthof« and inaugurated in September 1946 on a ceremonial »Day of gratitude to the People of the Bruche Valley«.34 In December 1945, the local population at Vught was awarded a charter from Belgian ex-prisoners followed in 1946 by a plaque (displayed at the town hall) dedicated in »homage and gratitude [...] to the local population« as well as the »Gold Medal of Belgian Gratitude«.35 These commemorative references to the local population reveal that initial discourses of KZ memory in France and Holland

32 Cf. Dat beeld raak je niet meer kwijt, in: Brabants Dagblad, Speciale Bijlage, April 1990, p. 12. 33 In an act of Nazi retribution similar to that at Vught, 107 members of the French Alliance resistance group were killed in early September 1944 just before KZ Natzweiler was evacuated. When representatives of this group started to research the victims of the camp in 1945, memorial scope was widened beyond regional patriots to include deportees who had come from 20 different countries. 34 This was organised by the Amicale for Political Internees and Deportees of the Schirmeck and Struthof Camps, supported by the Anciens Combattants (Ministry for Former Fighter and Victims of War) as well as the National Federation of Deportees and Internees, Patriots and Resisters. Cf. Archives du Bas Rhin (ABR) 1175 W 266, Report from the regional director of the penitentiary administration of Alsace-Lorraine to the Ministry of Justice in Paris, 07/10/1946. 35 Cf. Jeroen van den Eijnde/Hanneke Das-Horstmeier, Gedenken in veelvoud. Herrineringstekens aan de Tweede Wereldoorlog in Vught, in: Ottie Thiers (ed.), Vught Onvoltooid Verleden, Vughtse Historische Reeks, vol. 8, Vught 2003, pp. 157-185, here pp. 165-166.

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were not merely about honouring the dead, but also celebrating the solidarity shown to prisoners in life. The KZ experience was thus given wider contextual recognition. After these initial instances of memorialisation, national bodies became officially involved both at Vught and Natzweiler but had to contend with very different local dynamics. Memorial impetus at Vught continued to come from within the local community and in May 1946 the Kamp Vught Monument Committee was established to »rescue from oblivion the names of those executed on the execution square«.36 Local citizens who had actively intervened to help prisoners when the Nazi camp was in operation sat on the committee, and fundraising for a monument began immediately with adverts in many papers and schools throughout the region of Noord-Brabant.37 However, local war monuments had to conform to a centralised expression of national memory and required approval from the Ministry of Education, Arts and Sciences.38 This »national« connection was strengthened further when the National Monuments Commission for War Memorials was set up in late 1946 to coordinate a nationwide fundraising action to sponsor war monuments throughout the Netherlands. In practice, this Commission devolved responsibility to local working committees and some of the people already active on the Kamp Vught Monument Committee became additionally involved in the (local) National Monuments Commission. As Kamp Vught was designated to receive funding from the latter so local and national war memorialisation coincided: on the KZ (ergo resistance) as suitable themes, through engagement of the same dedicated local citizens taking responsibility for fundraising and, lastly, by looking to the locals for financial contributions. However, the memorial instigated by the Kamp Vught Monument Committee and approved by the Ministry of Education, Arts and Sciences would cost 27,860 florins. This was much more than

36 Private collection of Mrs Th. Zinnicq Bergmann-Lefébure (ZB), Nationaal Monument Kamp Vught Archive (NMKV), letter from Mrs E. Timmenga-Hiemstra to Mr J.H. Stohr 07/05/1946 referenced in van den Eijnde/Das-Horsmeier, Gedenken in veelvoud, p. 160. 37 E.g. E. Timmenga-Hiemstra (who had specially coordinated initiatives to provide parcels for the prisoners), Th. van Zinnicq-Bergmann-Lefébure (Red Cross), J. van den Meerendonk (postal deliveryman who regularly smuggled letters out of the camp). Local politicians were represented by the mayor Mr F. Rijckevorsel who was the honorary chairman. Cf. ibid., p. 160. 38 Eleven provincial commissions (answerable to a Central Commission at the Ministry for Education, Arts and Sciences) were set up to provide advice and approval to local committees intending to construct war monuments. Cf. ibid., p. 159.

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the 1,000 florin donation allotted to the project by the National Monuments Commission;39 the locals own fundraising for the realisation of a KZ-war monument was therefore imperative. The official Vught Fusilladeplaats monument was eventually inaugurated in December 1947. The wooden cross remained in place as the original commemorative gesture, and it also gave the monument credibility within the dominant religious discourse of the region (Catholic). To this was added the »nationally approved« monument which consisted of a long wall bearing the names and hometowns of the 318 Dutch Resistance members executed between June and September 1944 together with a line from the National Anthem: »I remain true to the Fatherland until death«. The monument represented a nationalisation of camp memory in several senses: it fused the local experience of the KZ with the national experience of resistance, it subscribed to the national discourse that glorified the resistance,40 and it also conformed to the nationally approved stylistic mode of expression in which this discourse could be articulated. Ultimately, KZ memory was crystallized into one episode and became an implicit feature in the eulogy to national resistance. At Natzweiler, the KZ was likewise conceived as a site for war memorialisation from a very early stage but in this case the impetus came from the French State;41 the local community was rather more ambivalent. In August 1945 when the KZ was designated as an impending historical monument, the Natzwiller municipal council recognised its importance as a »constant witness for future generations of the crimes committed by the SS during the occupation«. However, this admission was not made without asserting that the village had suffered due to its proximity to the camp, had sacrificed 100 hectares of its best pasture land and woods for camp installations, and had not been reimbursed for leasing the land to the camp since February 1944.42 By 1947, the local council had officially approved the impending classification of the KZ as a historical monument, but continued to petition for the rights

39 Cf. van den Eijnde/Das-Horsmeier, Gedenken in veelvoud, p. 161. 40 Cf. Roel Hijink, Het fusillade monument in Vught, in: De Vriendenkring Vught 1 (2004), pp. 48-53, here p. 49, quoted in: Pflock, Auf vergessenen Spuren, p. 112. 41 In June 1945, the Ministry of Education and Architecture proposed to the Prefect of the Bas Rhin Department that the former Struthof KZ be classified as a historical monument, a status which it formally achieved in January 1950. 42 Cf. ABR 335 D 173, Minutes of the Natzwiller Municipal Council Meeting, 01/08/1945.

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to use the surrounding unclassified land as it pleased.43 A measure of commemoration was thus tolerable but not at the expense of the community’s self-interest. The embittered feelings towards the camp associated with land value and money were seemingly resolved when the classified KZ terrain was sold to the Anciens Combattants (Ministry for Former Fighters and Victims of War) in July 1951. Yet money reared its head again in 1954 when the Anciens Combattants wanted to purchase land beyond the barbed wire fence that was also significant for KZ memory. The Municipal Council offered to concede some three hectares of land at the price of one million francs,44 flatly refusing the Anciens Combattants offer of 500,000 francs. For the local council, the land in question was »pasture land with an economic value that can hardly be replaced« and given that 150 million francs would be spent on the KZ monument one million francs compensation was »negligible«.45 Frustrated by these negotiations it was suggested that the Anciens Combattants might want to consider expropriation,46 but one million francs was eventually paid in 1957.47 Money was not the only issue at stake however. The transformation of KZ Natzweiler into a memorial affected the local balance of power and Natzwiller municipal council were concerned at how KZ memorialisation was forever encroaching into their local environment. In 1955, they refused to accept a decree to classify the nearby quarry as a historical monument. Firstly, the quarry belonged to the municipality and they believed permission should have been asked of them rather than having a fait accompli presented to them in the form of a decree. Secondly, by emphasising their own highly intertwined history with the camp, Natzwiller underlined why their tolerance for commemoration was limited to the camp grounds: »The camp itself was the site of the martyrs and the atrocities, the quarry, on the other hand, was merely a work place like many others for the camp kommandos, just as it was for workers from the region who were also obliged to work there. If it would be desirable to classify on the inventory of historical sites of the Lower Rhine, all the work places of the Struthof Camp kommandos,

43 Cf. ABR 545 D 1288, Minutes of the Natzwiller Municipal Council Meeting, 11/04/1947. 44 Cf. ABR 1069 W 158, Minutes of the Natzwiller Municipal Council Meeting, 08/07/1954. 45 Cf. ABR 1069 W 158, letter from the Prefect of the Bas Rhin to the Anciens Combattants, 11/01/1956. 46 Ibid. 47 Cf. ABR 1069 W 158, Minutes of the Natzwiller Municipal Council Meeting, 29/05/1957.

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then, it would also be necessary to include, for example, the various potato stores that the camp set up in Natzwiller [...] and then one would need to include [...] the entirety of the community of Natzwiller.«48

Ultimately, however, by surrendering ownership of the land the local bystanding community surrendered claims to its historical memory. The Anciens Combattants pursued their agenda to construct a National Memorial to the Deportation, the chosen format being a national necropolis for the remaining bodies of resistance deportees, and this was inaugurated by General De Gaulle in 1960. Like Vught, the camp had come to symbolise the national discourse on the war – the Gaullist glorification of nation and resistance – and it was likewise representative of a national stylistic mode of expression suitable for articulating this discourse. At Neuengamme, the first manifestations of KZ memory did not revolve around the physical site of the former KZ, nor did they fit the same constellation of local versus national. They featured as part of the early post-war commemorative ceremonies jointly organised, at the regional level, by the Hamburg Senate and Parliament and various survivor associations. These ceremonies took place at the Ohlsdorf city cemetery of Hamburg yet rather than focusing on the »local« the first memorial ceremony was centred on an urn containing the ashes of an unidentified prisoner from Buchenwald.49 So whilst the site of KZ Neuengamme was being re-used as an internment camp, the memory of its victims was transferred away from the historical terrain and fused into a representative KZ from elsewhere in Germany. In 1949, a monument to the victims of Nazi persecution was inaugurated at the Ohlsdorf cemetery and KZ memory was officially formalised on a European-wide scale. All KZs and sites of terror known at the time (including Neuengamme) were individually acknowledged in name,50 however, the saliency of local memory was lost through synthesis into (inter)national memory. Groups of former prisoners from outside Germany did not find much solace in this, however, as they wanted to commemorate at the tangible site of the KZ. They regularly petitioned the Hamburg Senate

48 Cf. ABR 1069 W 158, Minutes of the Natzwiller Municipal Council Meeting, 06/04/1955. 49 Cf. KZ-Gedenkstätte Neuengamme (ed.), Zeitspuren. KZ Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellungen, Bremen 2005, p. 142. 50 The monument at the Ohlsdorf cemetery contained 105 urns representing the victims of different international places of Nazi terror.

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in order to do so but were often rebuffed, as emphasised in 1951, for example, when former French prisoners were denied access to the crematorium. Not only had the crematorium already been torn down as part of the changes being made to accommodate Neuengamme Prison for Men, but the mayor of Hamburg did not want the former KZ site to become a destination for pilgrimages.51 However, the French drive for memorialisation was strong and it eventually took material form in 1953, when the Hamburg Senate succumbed to international political pressure from the French government. Thus, a modest obelisk dedicated »To the victims 1938-1945« was established on the periphery of the prison complex. In terms of the KZ memorial legacy experienced at the local level, the aspect of a local »dynamic« seems to be missing at Neuengamme. Unlike the engaged citizens of Vught who had championed their KZ memorial, or Natzwiller local council, which had provided some redoubtable opposition to safeguard its own interests in the face of a KZ memorial, at Neuengamme, aside from the fact that the district council were responsible for the upkeep of the first obelisk (before the prison authorities eventually took it over),52 there is little to suggest much more than silence vis-a-vis the former KZ.

»Worthy« memorials 1960 – circa 2005 From the Sixties, »worthy« was a notion regularly invoked with regard to KZ Neuengamme by former internees and it was also picked up on in the press.53 It essentially related to the lack of justice done to KZ memory by the first memorial and the need for something more honourable. However, it is also descriptive of the slow, incremental process through which the unquestioned precedence of KZ memory on the former camp terrain – the ultimate »worthy« memorial – came into being. »Worthy« is also a fitting description of the changing nature and increasing importance of KZ memorialisation at Vught from the Eighties. It does not have the same resonance at Natzweiler, however, as the National Memorial to the Deportation was inaugurated as a Haut Lieu de Memoire (a pre-eminent site of memory). Even so,

51 Cf. Garbe, Das Schandmal auslöschen, p. 56. 52 Cf. Größer, schöner, würdiger, in: Die Zeit, 12/04/1963. 53 For example ibid.

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KZ memorialisation was here also subject to evolutions in order to enhance the message being communicated. By 1960, the first official monument at Neuengamme was deemed too modest and too generic and former inmates united under the banner of the »Amicale Internationale de Neuengamme« to campaign for a more suitable monument in memory of camp victims. The resultant »International Monument« (Internationales Mahnmal), inaugurated in 1965, represented a more comprehensive expression of KZ memory on behalf of the survivors but nonetheless remained peripheral to the KZ site and, as before, owed little to local involvement.54 In 1981, tension between the divergent approaches to the memory of the KZ (on the one hand the institutionalized repression of memory inherent in the site’s continued usage as a prison complex, and on the other the survivors determination to keep KZ memory alive) was made increasingly evident when the first KZ exhibition was created.55 In line with all other memorial gestures it was located on the periphery of the prison complex, but it signified an important evolution in the significance of the historical terrain: from a site of pilgrimage for former victims to a site of remembrance and learning for the public.56 It was also around this time that the popular appeal of »coming to terms with the past« was expanding and there was a more widespread adoption and diffusion of KZ memory amongst sections of the local population e.g. youth groups, history workshops, Green and Socialist party members and religious groups. Grievances with official policy toward the KZ were increasingly aired and memorial politics became a regular feature in the local press.57 Under mounting pressure the Neu-

54 Locals were involved at the ceremonial level e.g. the chamber choir from nearby Bergedorf sang at the inauguration. An den Gräbern der Ermordeten, in: Abendecho, 08/11/1965. 55 Once again this was an initiative of the former prisoners’ associations who petitioned the Hamburg authorities for a building to be specifically constructed for this purpose (Dokumentenhaus). In a relatively small space, they established a wide-ranging exhibition on KZ Neuengamme, the KZ system, the Nazi regime, the war and the Holocaust. Cf. Garbe, »Das Schandmal auslöschen«, pp. 56-57. See also Michael Grill/Sabine Homann-Engel (eds.), »... das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Die Geschichte eines Überlebendenverbandes, Hamburg 2008, pp. 49-153. 56 Cf. Detlef Garbe, Ein schwieriges Erbe. Hamburg und das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme, in: Peter Reichel (ed.), Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Hamburg 1997, pp. 113-134, here p. 122. 57 In the early Eighties, when the Hamburg Senate proposed to transform or demolish former camp buildings that had fallen into disrepair, a protest campaign was organised by survivors and other concerned citizens. This had an international outreach and by 1984

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engamme Prison for Men was finally closed in 2003, and the terrain and buildings handed to what had become the official KZ memorial body: KZ- Gedenkstätte Neuengamme. On 4 May 2005, the battle for a »worthy« memorial finally received closure when the site of the former prisoner’s camp was inaugurated as the official KZ memorial. This was followed in 2006 by the removal of other residual post war penal institutions on-site – meaning that the entire former KZ terrain had been reclaimed for memorial purposes. These changes also began to have an impact at the local level. According to Jürgen Köhler, former pastor of the Evangelical Church in Neuengamme, the prevailing community mindset post-war had been not to speak about the camp. Indeed, he admits that when he arrived to administer the parish as a newcomer, in the late Sixties, he had no idea that there had been a former concentration camp nearby.58 Lamenting the lack of open discussion concerning what had happened on the doorstep of the community, he set up the group Kirchliche Gedenkstättenarbeit (Church Memorial Work) in the early Eighties with a few members of the local parish. Its aims were to engage in religious pedagogical activity and organise conciliation meetings with survivors, and this established what has since become long-standing parish involvement in KZ memorial work. An off-shoot of this was interest in the local KZ experience per se and, in 1992, a publication illustrated the nature of everyday relations between the camp and the local community.59 Partly compiled from oral history interviews with locals, undertaken by a youth group connected to Kirchliche Gedenkstättenarbeit, it signified a shift away from the silence of previous decades and the prevalence of the »seen and heard nothing« discourse. Thus, with the help of religious filters, people finally began to engage with their local KZ legacy and join the increasing public trend for memorial activism. Furthermore, thanks in large part to a generational change, the dynamic of re-inserting local bystanders back into the KZ narrative came from within the community itself. In 2001, the local community produced its own material form of KZ memorialisation. A series of five informative plaques recalling the

had successfully brought large parts of the former camp grounds under a preservation order. Cf. Garbe, Das Schandmal auslöschen, pp. 59-60. 58 Cf. AGN, Video Archive, 1996/7009, interview with Pastor Köhler. 59 Cf. Thomas Rolle/Wilfried Müller/Ralf Classen (eds.), Verbindungen. Wege in die Umgebung des Konzentrationslagers Neuengamme, Hamburg 1992.

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interwoven history of the camp and the surrounding villages were strategically placed in areas where prisoners had publicly suffered. For example, a plaque at the former station of Curslack-Neuengamme reads: »Station en route to KZ Neuengamme: To remember the KZ prisoners who between 1940 and 1943 were taken from this station through Neuengamme village to the KZ«. The project was initiated and undertaken by a group of local high school pupils and thus reveals the importance of pedagogical activity as a stimulus to historical acknowledgement. But it is finally also evidence of a re-appropriation of local KZ history and a commemorative gesture made on behalf of the local collective. At Natzweiler, the pattern of an awakening in public KZ memory in conjunction with an ever-improving material state of KZ memory was not the same. Following the inauguration of the illustrious National Memorial to the Deportation in 1960, one of the first material evolutions to the site was an exhibition opened by the Anciens Combattants in 1965. This included many objects donated by former prisoners, a few photos but little explanation; as such, it was essentially memorialisation by former victims for former victims.60 Various other monuments were added to the site throughout the Seventies which continued to emphasise the central theme of resistance,61 but it was not until an arson attack destroyed the museum in 1976, followed by further vandalism, that a new reconceptualised museum more suitable for the general public was opened in 1980. This was revamped again in 2005 at the same time as a new museum – the European Centre for Deported Resistance Fighters (CERD) – was also constructed to house an additional exhibition on resistance as a European-wide phenomenon. If the memorial message remained devoted to »resistance« these efforts can nonetheless be seen as attempts to modernise KZ memory and reflect the changes within State steerage of KZ memory,

60 Cf. Diane Gilly, Die ehemaligen und neuen Ausstellungen in der KZ Gedenkstaette Natzweiler: Von der Erinnerung durch die Häftlinge zur Erinnerung an die Häftlinge, presentation given at the 14th Workshop for the History of Concentration Camps, Hamburg 2007. 61 For example the plaques dedicated to the 33 members of the Alsace-Vosges mobile resistance group massacred at the same time as members of the Alliance network (erected in 1973), or the four female members of the Special Operations Executive (SOE) executed on 6 July 1944 (1975). In 1979, a stele surmounted by the cross of Lorraine was dedicated to the memory of prisoners deported under the Night and Fog decree.

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from former victims to historians, as well as a changed understanding of the public visiting the KZ. As for the locals, once the National Memorial was instituted the confrontational dynamics, which had been the hallmark of the transitional period between the KZ and the National Memorial, diminished. The perpetuation of KZ memory was all but left in the hands of the state-sponsored Anciens Combattants.62 It was not until the new exhibition was established in the early Eighties that local involvement in the camp became more common, and this was not in quite the same fashion of »coming to terms with the past« as seen at Neuengamme.63 As for bystanders’ KZ memories it was not until the early Nineties that they became an object of study, but this was not the result of a selfreflective, intra-communal dynamic as seen in Germany, rather, it was in an academic context.64 Indeed, it cannot be suggested that Alsatian bystanders have taken it upon themselves to mould their stories back into the KZ narrative, nor can it be suggested that the State-keepers of KZ memory at the National Memorial have done so either. The once self-acknowledged intertwined history of local bystanders with the camp has faded from the KZ narrative. At Vught the Fusilladeplaats monument fused local camp memory with the memory of national resistance and had a symbolic, commemorative outreach beyond the local community. At the practical level, however, the locals were responsible for the physical upkeep of the monument – the local Kamp Vught Monument Comittee, subsidised by the municipal authorities, saw to the maintenance of the monument well into the Seventies65 – and they were also responsible for leading many of the commemorative acts that took place there. These settled into a yearly pattern of services on the 4 May to honour the war dead and included a silent march to the Fusilladeplaats, cere-

62 The one example of locally initiated commemoration of the KZ is the renaming of the main road from the train station leading to the camp: from Rue de Natzwiller to Rue des Déportes (street of the deportees). Cf. Rothau Town Hall Archive (RTHA), Minutes of the Rothau Municipal Council Meeting, 17/10/1961. 63 According to one of the local villagers who became a guide in 1981, the Director of the Memorial at that time wanted to implement a new policy and recruit all new personnel. In that year, five villagers took up various positions of employment in the camp. Cf. author’s interview with J. F., Natzwiller, October 2008. 64 Cf. Anne Settelen/Nathalie Zisette, Connaissances et sentiments au sujet du camp de concentration du Struthof: essai d’histoire orale, Masters dissertation under the supervision of Pierre Ayçoberry, Strasbourg University 1992. 65 Cf. van den Eijnde/Das-Horsmeier, Gedenken in veelvoud, p. 162.

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monies with local music groups including the Royal Engineers Band and the processing of the Vught guilds.66 In the Sixties, it was decided that these elaborate ceremonies should only take place once every five years and the Vught guilds opted out of participating. This was a significant disassociation between formal representatives of local civic identity and the concentration camp which bore the town’s name, and to maintain ceremonial importance on these solemn occasions guilds were recruited from elsewhere.67 The Fusilladeplaats remained the focus for KZ and war memorialisation until the Eighties. However, in the year of the fortieth anniversary of the Liberation other modes of camp commemoration surfaced and they were all upon local initiative. In October 1984, a memorial plaque commemorating the Jews deported from Vught railway station widened the scope of memorialisation beyond Dutch resistance patriots.68 On that same day an exhibition on »Kamp Vught and the Vughtenar People« was opened in the local museum and was such a success that it eventually became a permanent feature.69 It crystallised local discourses that had been resonating in the community since the end of the war, namely ways in which the local population had actively engaged with the camp to help prisoners.70 To a certain extent, therefore, it could be said that local discourse was styled within the still dominant national paradigm i.e. resistance to the Occupier. However, by asserting their entwined history with the KZ, and expanding the KZ narrative to be inclusive of other groups of victims, locals were

66 Cf. ibid., p. 163. 67 The Sint-Willerbrordusgilde from Heeswijk replaced the Vught guilds although the latter began to participate again from the Eighties. Cf. van den Eijnde/Das-Horsmeier, Gedenken in veelvoud, p. 164. 68 This was an initiative that came from a local Jewish man who had survived Auschwitz and was agitated by the modesty of KZ memorialisation. Cf. Brabants Historisch Informatie Centrum (BHIC) 5131, 2497, Trouw, 23/10/1984, pp. 4-5. 69 Based on the results of an oral history enquiry amongst locals, the camp in local context was a crucial frame of reference. The exhibition received 4000 visitors, ten times more than the most popular exhibition of the previous year. Cf. BHIC 1591, Vudoc 0654: Oudheidkamer Annual Report 1987, pp. 5 and 17. In 1990, a camp exhibition became a permanent feature of the local museum. 70 In a section of the exhibition entitled »Assistance« the cases of eight locals were outlined including, for example, the postman who smuggled letters out of the camp under the saddle of his horse or the electrician who did likewise in his soldering lamp. Other means of assistance included specially-coordinated initiatives to provide food and parcels for prisoners such as those organised by E. Timmenga-Hiemstra and Charlotte van Beuningen.

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challenging the hegemonic national interpretations of »resistance« and starting to promote the diversity of local war experience. These memorial gestures further stimulated the local community to establish the »Foundation for National Monument Camp Vught« in 1986, which was chaired by the town mayor and supported by former prisoners. Its objective was to reclaim part of the former camp terrain for an on-site memorial, and the opportunity arose when the prison was transformed into a high security facility. The Foundation recovered the original KZ crematorium and used it as the centre point of a new »National Monument Kamp Vught« which was inaugurated in 1990. Originally conceived less to inform than to honour the dead, it proved too abstract to communicate effectively about the camp’s history to the general public.71 However, as the stature of the National Monument grew and its modest local origins were overtaken by national importance, it underwent a complete overhaul. In 2002, a newly reconceived National Monument Kamp Vught reopened with the objective of commemorating the dead and informing the public about the history of Kamp Vught. In this transformative phase to »worthy« memorials the former KZs all evolved from sites that commemorated the victims to institutions that commemorated and educated about Nazi KZ history. Bystanders variously took a back seat, were stirred into self-reflection concerning their KZ past or mobilised into making a contribution to mark the memorial significance of the KZs.

Conclusion At Vught, the KZ site accrued multiple uses that remain co-existent today and KZ memory was quickly acknowledged through a bottomup dynamic tempered by national guidelines on expression. Local and national currents of memorialisation synchronised on the themes of Kamp Vught and resistance but local engagement was the driving force. National »resistance« interpretations successfully took hold for several decades but it was locals, again, who drove a second wind of KZ memorialisation in the Eighties, publicly asserting the entwined history of their town and the camp and reclaiming part of the historically important terrain to educate and commemorate. 71 Cf. Pflock, Auf vergessenen Spuren, p. 116.

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At Natzweiler, memorialisation was taken out of local hands by the State very soon after the war. However, the top-down dynamic to transform the camp into a memorial met with stiff opposition from local »bystanders«. They were not shy to confront their entwined history or assert how the camp had a bearing on their communal space in terms of land ownership and money. Ultimately, however, the State stamped its authority and national interpretations of the war took hold on the former KZ site. Local, confrontational dynamics lessened and there is little evidence to suggest a reappropriation of KZ memory at the local level. At Neuengamme, the legacy of the KZ was intentionally wiped out by the Hamburg State authorities and they had to subsequently face memorial dynamism from former prisoners. At the local level of Neuengamme there was seemingly neither a local dynamic in favour of memorialisation, nor against it. Rather, there was a suspended state of silence. In the Eighties, due to a generational change and a wider social movement geared towards »coming to terms with the past«, local dynamics of historical acknowledgement and memorial activism began to appear and feed into wider debates on the camp. From a disinclination to acknowledge the KZ legacy, through resistance to State-sponsored memorialisation to homegrown memorial activism, these cases reveal the different and evolving ways in which salient communities of bystanders have engaged with their local KZ heritage. In so doing, they have highlighted that bystander experiences also have a place within the aggregate of KZ memories.

Works cited An den Gräbern der Ermordeten, in: Abendecho, 08/11/1965. Dat beeld raak je niet meer kwijt, in: Brabants Dagblad, Speciale Bijlage, April 1990, p. 12. Jeroen van den Eijnde/Hanneke Das-Horstmeier, Gedenken in veelvoud. Herrineringstekens aan de Tweede Wereldoorlog in Vught, in: Ottie Thiers (ed.), Vught Onvoltooid Verleden, Vughtse Historische Reeks, vol. 8, Vught 2003, pp. 157-185. Detlef Garbe, Ein schwieriges Erbe. Hamburg und das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme, in: Peter Reichel (ed.), Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Hamburg 1997, pp. 113-134.

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Detlef Garbe, »Das Schandmal auslöschen«. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zwischen Gefängnisbau und -rückbau. Geschichte, Ausstellungskonzepte und Perspektiven, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (ed.), Museale und mediale Präsentationen in KZ-Gedenkstätten, Bremen 2002, pp. 51-71. Detlef Garbe, Neuengamme – Stammlager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (eds.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, vol. 5, München 2007, pp. 315-346. Diane Gilly, Die ehemaligen und neuen Ausstellungen in der KZ Gedenkstaette Natzweiler: Von der Erinnerung durch die Häftlinge zur Erinnerung an die Häftlinge, presentation given at the 14th Workshop for the History of Concentration Camps, Hamburg 2007. Michael Grill/Sabine Homann-Engel (eds.), »... das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Die Geschichte eines Überlebendenverbandes, Hamburg 2008, pp. 49-153. Jan Gross, Neighbours. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland, 1941, London 2003. Größer, schöner, würdiger, in: Die Zeit, Hamburg, 12/04/1963. Raul Hilberg, Perpetrators, Victims, Bystanders. The Jewish Catastrophe 19331945, New York 1992. KZ-Gedenkstätte Neuengamme (ed.), Zeitspuren. KZ Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellungen, Bremen 2005. Andreas Pflock, Auf vergessenen Spuren. Ein Wegweiser zu Gedenkstätten in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, Bonn 2006. Thomas Rolle/Wilfried Müller/Ralf Classen (eds.), Verbindungen. Wege in die Umgebung des Konzentrationslagers Neuengamme, Hamburg 1992. Anne Settelen/Nathalie Zisette, Connaissances et sentiments au sujet du camp de concentration du Struthof: essai d’histoire orale, Masters dissertation under the supervision of Pierre Ayçoberry, Strasbourg University 1992. Henk Smeets, Molukkers in Vught, Vughtse Historische Reeks, vol. 4, Vught 1996. Robert Steegmann, Natzweiler – Stammlager, in: Wolfgang Benz/ Barbara Distel (eds.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, vol. 6, München 2007, pp. 23-47. Hans de Vries, Herzogenbusch (Vught) – Stammlager, in: Wolfgang Benz/ Barbara Distel (eds.), Der Ort des Terrors, vol. 7, München 2008, pp. 133150. Ute Wrocklage, Neuengamme, in: Detlef Hoffmann (ed.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ Relikte und KZ Denkmäler 1945-1995, Frankfurt/M. 1998, pp. 178-205. James E. Young, Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning, New Haven/London 1993.

»Im Raume lesen wir die Zeit«? Zum komplexen Verhältnis von Geschichte, Ort und Gedächtnis (nicht nur) in KZ-Gedenkstätten C ORNELIA S IEBECK

»We all do read the landscape, but we are not all equal in the process of ›authoring‹ it – nor in controlling its meanings.«1

Verschwimmende Grenzen Buchenwald, ein kalter Tag im November. Im Sprühregen stehe ich auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers. Der Nebel wird dichter, bis er alles verschluckt: den Waldrand, die Wachtürme, das Tor, den Schornstein des Krematoriums. Die vertrauten Orientierungspunkte im Gelände, eben noch umrisshaft sichtbar, scheinen verschwunden. Plötzlich bin ich nicht mehr sicher, was der Nebel verbirgt. Frierende, durchnässte Menschen beim Appellstehen? Eine marschierende Häftlingskolonne auf dem Weg zur Arbeit? An den Appellplatz grenzende Baracken? Die Unsichtbarkeit des gegenwärtigen Ortes öffnet den Raum für historische Imagination. Fast meine ich, das Lager zu hören: das Murmeln und Rumoren tausender Menschen, Scheppern von Blechgeschirr, das Hacken und Klopfen unermüdlicher Bauarbeiten, Hundebellen und schnarrende Kommandorufe durch die Lautsprecher ... Als es aufklart, kehrt der gewohnte Ort zurück: eine von Wald umschlossene Leere in verschiedenen Grautönen, die von ausgewählten und sorgsam konservierten Gebäuden markant unterbrochen wird, verstreute Denkmale, Informationstafeln, Besucher/innenordnungen und Verbotsschilder, dezent schlenderndes Aufsichtspersonal, scheinbar ziellos herumspazierende Tourist/innen sowie Besucher/innengruppen, die sich ihre Umgebung von Expert/innen erklären lassen. Zu hören sind an diesem unwirtlichen Tag nur ferne Besu-

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Don Mitchell, Cultural Geography. A Critical Introduction, Malden u.a. 2000, S. 139 f.

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cher/innenstimmen sowie das mahlende Knirschen meiner Schritte auf dem Kies, der den Appellplatz bedeckt. Business as usual an einem Ort, mit dem ich seit 1999 in wechselnden Rollen2 beschäftigt bin.3 Dass man hier den ›Geistern der Vergangenheit‹ begegnen kann, glaube ich schon lange nicht mehr. Trotzdem gibt es gelegentlich Momente, in denen die Grenzen zwischen Gegenwart und historischer Imagination verschwimmen. Es liegt nahe, dass das im Zusammenhang mit intensiveren Sinneswahrnehmungen geschieht: Das physische Empfinden von Kälte und Nässe, ein plötzlicher Eindruck von Orientierungslosigkeit im Nebel werfen die Frage auf, wie sich ein vergleichbarer Moment wohl ›damals‹ angefühlt hat. Das Erleben des ›gleichen‹ Wetters am ›gleichen‹ Ort kann als special effect wirken, als ›unmittelbare‹ Verbindung zur Vergangenheit. Ein Schüler formulierte diesen Zusammenhang wie folgt: »Es war auch sehr kalt da oben auf dem Berg und ich habe, trotz dicker Kleidung, schon gefroren. Aber als die uns das auch noch so anschaulich erzählt haben, wurde mir noch kälter. Man konnte sich richtig vorstellen, wie die Leute früher halb nackt in dieser Kälte dagestanden haben.«4 Zwar sind Desorientierung oder Kälte ›unmittelbare‹ Erfahrungen, die daraus resultierende historische Imagination jedoch ist zweifellos ›vermittelt‹. In meinem Fall basierte sie auf dem Wissensvorrat, über den ich zu Buchenwald verfüge, im Falle des Schülers auf der Erzählung eines Lehrers oder einer Gedenkstättenmitarbeiterin. Und beide stellen wir uns das Leiden der Häftlinge offenbar eher hier vor als etwa auf dem Weimarer Marktplatz oder am Weimarer Bahnhof (obwohl auch dort KZ-Häftlinge

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Als Besucherin, Geschichtsstudentin, Praktikantin der pädagogischen Abteilung, Teilnehmerin an Befreiungsfeiern, in den letzten Jahren als Feldforscherin bei gedächtniskulturellen Praktiken in der Gedenkstätte und temporäre Anwohnerin. Trotz gelegentlich kritischer Distanz zum Gedenkstättenwesen möchte ich betonen, dass ich eben diese Kritikfähigkeit nicht zuletzt innerhalb dieser Institutionen und im Austausch mit den dort arbeitenden, lernenden und gedenkenden Menschen erworben habe. Vgl. essayistisch: Cornelia Siebeck, Humanize the Discourse! Non-Academic Reflections of a Memory Researcher, in: Charlotte Misselwitz/dies. (Hg.), Dissonant Memories – Fragmented Present. Exchanging Young Discourses between Israel and Germany, Bielefeld 2009, S. 75-84. Zit. nach Cornelia Fischer/Hubert Anton, Auswirkungen der Besuche von Gedenkstätten auf Schülerinnen und Schüler. Breitenau – Hadamar – Buchenwald. Bericht über 40 Explorationen in Hessen und Thüringen, Erfurt/Wiesbaden 1992, S. 101, Hervorh. C.S. Fischer/Anton stellen fest, dass die »Wetterverhältnisse bei dem Besuch Buchenwalds eine bedeutende Rolle spielen« (ebd., S. 102). Die Bedeutung sinnlicher Eindrücke für die historische Imaginationsbereitschaft betont auch Bert Pampel, »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt/M. 2007, S. 235 ff.

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gefroren haben) – weil hier ein Ort ›bereitgestellt‹ ist, an dem wir der Vergangenheit gedenken sollen und/oder wollen.

Spiritus loci – Vergangenheitsrepräsentation am ›authentischen Ort‹ Viele Menschen, die Gedenkstätten am historischen Ort aufsuchen, tun das, um mit der dort repräsentierten Vergangenheit in ›direkten‹ Austausch zu treten. Sie wollen sich ›vor Ort‹ bewegen, etwas sehen, spüren, anfassen, riechen5 und hören.6 Sie suchen etwas, das sie in vorrangig kognitiven Auseinandersetzungen mit Geschichte, etwa bei der Lektüre eines Buches oder in einer Ausstellung, offenbar nicht finden: ›Atmosphäre‹.7 Die sinnlich erfahrbare Existenz des historischen Ortes wird dabei nicht nur als »Qualität der Tatsächlichkeit«8 des Vergangenen wahrgenommen, hinzu kommt die mehr oder weniger bewusste Annahme eines auratischen ›Mehrwerts‹, eine diffuse Vorstellung von ›Authentizität‹ und ›Unmittelbarkeit‹ – als habe der Ort die Vergangenheit gespeichert.9

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So äußerten sich etwa Schüler/innen: »Ich habe gedacht, da stehen Baracken, da kann man noch rein gehen, da stinkt’s vielleicht noch« bzw. »Der am meisten prägende Eindruck war, wo wir im Krematorium waren [...]. Es hat ja auch immer noch danach gerochen. Ich glaube, das riecht in 40 Jahren genau noch so. Der geht nicht mehr weg, dieser süßliche Geruch und der Geruch nach Talg.«, zit. nach Fischer/Anton, Auswirkungen, S. 101 und S. 103. Zur menschlichen Wahrnehmung von Orten und Räumen vgl. die Überlegungen von Yi-Fu Tuan, Space and Place. The perspective of experience, Minneapolis 1977, v.a. S. 8-18. Vgl. zu Erwartungen an den Gedenkstättenbesuch ein Forschungsergebnis Pampels: »Erlebnisorientierte Erwartungen, wie Authentizität, Anschaulichkeit und Einfühlung, hatten insgesamt ein stärkeres Gewicht als wissensorientierte Erwartungen.« Ders., »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«, S. 235. Jörn Rüsen, Über den Umgang mit den Orten des Schreckens. Überlegungen zur Symbolisierung des Holocaust, in: Detlef Hoffmann, Das Gedächtnis der Dinge. KZRelikte und KZ-Denkmäler 1945-1995, Frankfurt/M./New York 1998, S. 330-343, hier S. 334. Die Rede ist hier nicht nur vom common sense, sondern auch vom professionellen Diskurs. So stellte etwa der Historiker Bernd Faulenbach 1992 fest: »Zweifellos besitzen die Orte des NS-Terrors, auf denen die Gedenkstätten errichtet worden sind, eine bestimmte ›Aura‹. Hier werden authentische Spuren des historischen Geschehens unmittelbar sinnlich wahrnehmbar und erfahrbar.« Ders., Probleme einer Neukonzeption von Gedenkstätten in Brandenburg. Zur Einführung, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur/Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten für NS-Verfolgte. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche, Berlin 1992, S. 12-20, hier S. 17.

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Diese durchaus esoterisch anmutende Komponente ist der Idee des ›Gedächtnisortes‹ offenbar inhärent. So ist in der Einleitung zu einem sonst eher dokumentarisch gehaltenen Ausstellungskatalog zu Orten des Nationalsozialismus in München zu lesen, dass »Orte eine Kraft zur Erinnerung ausüben und die ›verlorene Zeit‹ wieder in die Gegenwart holen können«, weswegen »reale Orte und Bauten« einen »wesentlich intensiveren und direkteren Zugang als Texte« ermöglichten: »Während die Zeit alle Ereignisse unsichtbar macht, halten Orte das Geschehene fest.« In einem gewissen Widerspruch dazu heißt es jedoch wenige Zeilen später, dass den Orten »selbst kein immanentes Gedächtnis innewohnt«, allerdings seien sie »von hervorragender Bedeutung für die Konstruktion von Erinnerungsräumen«.10 Was nun – halten Orte Geschehenes fest? Oder wird es von definierbaren Akteur/innen in einer Gegenwart und mit bestimmten Absichten (re-)konstruiert, wobei sie – vermutlich zurecht11 – annehmen, dass die Kennzeichnung und gedächtniskulturelle Aufbereitung von Orten aufgrund ihrer sinnlichen Qualitäten ein besonders effektives Medium darstellt?

Heimat ›von unten‹ – Orte ehemaliger Konzentrationslager und die Neue Geschichtsbewegung Primär aufgrund des Engagements ehemaliger Häftlinge12 entstanden in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren erste KZ-Gedenkstätten, die nicht nur als Friedhöfe oder Denkmalpark gestaltet waren, sondern zusätzlich über historische Ausstellungen und pädagogische Ambitionen verfügten.13 Zweifellos war es aber die Neue Geschichtsbewegung, die die Figur des ›Zeitzeugen‹ und der ›Zeitzeugin‹ sowie allerlei

10 Winfried Nerdinger, Ort und Erinnerung, in: ders. (Hg.), Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München, Salzburg/München 2006, S. 7-9. 11 So bemerkt der Kulturgeograph Tim Cresswell aufgrund der Tatsache, dass Menschen »placed beings« sind: »[P]lace itself has a unique and pervasive power. [...] The basic unavoidability of place in human life makes it a very important object of politics«. Ders., Place. A Short Introduction, Malden u.a. 2004, S. 122. 12 Vgl. beispielhaft: Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V. (Hg.), »... das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Geschichte eines Überlebendenverbandes, Hamburg 2008. 13 Zunächst in Dachau (1965) und Bergen-Belsen (1966), vgl. Detlef Garbe, Von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur. Tendenzen der Gedenkstättenentwicklung, in: Bernd Faulenbach (Hg.), »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?« Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Essen 2005, S. 59-84, hier S. 66 f.

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mitten im gesellschaftlichen Alltag befindliche Orte (nicht nur) der NS-Vergangenheit als ›Beweis‹ für öffentlich marginalisierte Geschichte(n) seit den späten 1970er Jahren öffentlichkeitswirksam ›entdeckte‹, auratisierte und popularisierte. ›Spurensuche‹ und ›Spurensicherung‹ dienten damaligen Aktivist/innen dabei nicht nur zur Informationsgewinnung, sondern auch zur affektiven (Selbst-)Erfahrung. So schrieb etwa Detlef Garbe, damals Gedächtnisaktivist in Neuengamme, mit merklicher Emphase: »Die Anschauung, die die Stätten des NS-Terrors mit ihren Lagereinrichtungen hätten vermitteln können, wurde und wird nicht genutzt, um begreifbar zu machen, was sich in den Jahren 1933 bis 1945 in der Mitte Europas zutrug.« Möglich sei hier »entdeckendes Lernen«, das »sowohl zur persönlichen Betroffenheit als auch zu politischen Lernprozessen« führe.14 Auch an den Orten der Emslandlager setzten Aktivist/innen auf »unmittelbare Betroffenheit«: Gedenkstättenarbeit sei »eine spezifisch politische Bildung mit hohem emotionalen Gehalt, den die Informationsträger besitzen.« Im Kontakt mit »lokale[n] Überreste[n] und Zeugnisse[n]« sowie »Bilder[n], Gedichte[n] und Interviews mit ehemaligen Häftlingen« sollten dezidiert »antifaschistische Traditionen« gebildet werden.15 Nicht nur an den Orten ehemaliger Lager wurden in diesem Sinne Konzepte des ortsbezogenen Forschens und Lernens entwickelt, die heute – allerdings in vergleichsweise entpolitisierter Form – zum selbstverständlichen Bestandteil historisch-politischer Bildungsarbeit zählen: vom »alternativen« Stadtrundgang über die »antifaschistische Gedenktafel« im Betrieb16 bis hin zur kollektiven Erschließung einstiger Lager in sommerlichen Workcamps vor Ort. Gemeinsames Lernen sollte dabei einen »radikaldemokratischen«17 oder doch zumindest

14 Detlef Garbe, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983, S. 23-35, hier S. 24 f. und S. 27, Hervorh. i. O. 15 Werner Boldt u.a., Emslandlager – Zur »Kriegsgräberstätte«, zum Bundeswehrdepot, zur Justizvollzugsanstalt, zum Kartoffelacker ..., in: Garbe (Hg.), Die vergessenen KZs?, S. 69-96, hier S. 83 f., Hervorh. i. O. 16 Vgl. den Beitrag von Michael Weisfeld, »Seitdem aber sehen wir unsere Arbeitsstätte mit anderen Augen«. Arbeiter entdecken ein KZ, in: Hannes Heer/Volker Ullrich (Hg.), Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 357-363. 17 Hannes Heer/Volker Ullrich, Die »neue Geschichtsbewegung« in der Bundesrepublik. Antriebskräfte, Selbstverständnis, Perspektiven, in: ebd., S. 9-36, hier S. 12.

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»demokratischen«18 Charakter besitzen, die Bevölkerung sollte politisiert werden: »Es geht nicht darum, ›Bildungslücken‹ zu schließen [...], sondern um eine politisch relevante, handlungsorientierte Bildung für alle. [...] Demokratische Bildung kann nicht aufgesetzt sein, sie vollzieht sich im und mit dem Volk.«19 Wiederholt ist in den Texten der Neuen Geschichtsbewegung außerdem die Rede von »Heimat« und »Identität«. So beschrieb Detlef Garbe »Spurensicherung« als »politisches Verfahren zur Wiederaneignung heimatlicher Umwelt« und plädierte für eine »einfühlsame und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen historischen Identität«.20 Laut Hannes Heer und Volker Ullrich war mithilfe des Gedächtnisaktivismus die Gegenwart im marxistischen Sinne als »Resultat von Kämpfen, von Unterdrückung und Widerstand« darzustellen: »So wie es war, soll es nicht bleiben.« Jedoch: »Sich in diese Traditionslinie stellen, half die eigene Identität klären und das Selbstbewusstsein stärken, es ermöglichte, dem Lebenszusammenhang, für den man sich entschieden hatte, einen alten, durch den Missbrauch der Nazis fast unbrauchbar gewordenen Namen zu geben: ›Heimat‹.«21 Orte und Zeitzeug/innen hatten in diesem Prozess der Selbstvergewisserung auch die Funktion, »antifaschistische Traditionen« und »linke Identität«22 in der Gegenwart zu stützen und zu authentifizieren. Es dürften solcherart Implikationen des damaligen Diskurses um Erhaltung und Erschließung historischer Orte gewesen sein, die der Adorno-Schüler und Publizist Karl Markus Michel 1987 in einem damals viel diskutierten Zeit-Artikel hinterfragte. Unter der Überschrift Die Magie des Ortes interpretierte er den »Wunsch nach authentischen Gedenkstätten und die Liebe zu Ruinen« als »mythische[s] Denken« und »Topolatrie«. Die verlorene Utopie – zumal aufseiten der Linken – werde nun im Gestern gesucht. Man besetze »nicht mehr die Zukunft, sondern die Vergangenheit, oder nicht einmal sie, sondern nur das, was von ihr übrig geblieben, was begehbar und anfassbar ist.« Es sei als Verdienst der Aufklärung zu verstehen, dass sie »die Erinnerung gewissermaßen entwurzelt« und »das Denken und Gedenken verallge-

18 Garbe, Einleitung, S. 28, Hervorh. i. O. 19 Boldt u.a., Emslandlager, S. 83, Hervorh. i. O.; zu »Demokratie als umfassender Lebensform« auch Garbe, Einleitung, S. 32, Hervorh. i. O. 20 Garbe, Einleitung, S. 26 und S. 30, Hervorh. i. O. 21 Heer/Ullrich, Die »neue Geschichtsbewegung«, S. 14 und S. 28, Hervorh. i.O. 22 Ebd., S. 15.

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meinert« habe, »so dass es sich von Orten und Terminen lösen, in der Zeit entfalten« könne. Nun drohe eine erneute »Verkürzung unseres Bewusstseins auf Orte, in denen der Sinn nisten soll.« Der Sinn jedoch, gab Michel zu bedenken, sei »immer der, der ihn stiftet.«23

›Stützpunkte der demokratischen Erinnerungskultur‹ – Verstaatlichung einer ›vielfältigen Gedenkstättenlandschaft‹ Der bundesrepublikanische Gedenkstättendiskurs hat sich seither verändert – zumal mit Blick auf den allzu naiven (aber eben auch »freudigen«24 ) Umgang mit Orten und Objekten. Verloren gegangen ist dabei allerdings auch der explizit gesellschaftskritische Charakter einer linken Gedächtnisarbeit ›von unten‹.25 Stattdessen sind NSGedenkstätten im Laufe der 1990er Jahre zum ›selbstverständlichen‹ und öffentlich finanzierten Teil deutscher Kulturlandschaft geworden. Die geförderten Gedenkstätten durchliefen einen Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung, so dass die etablierte Gedenkstättenarbeit heute trotz mancher personeller Kontinuitäten wenig Gemeinsamkeit mit der einstigen ›Bewegung‹ aufweist. So lobt etwa die »Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V.«, in der Überlebende, deren Nachkommen und Aktivist/innen organisiert sind, die »lang ersehnte Konsolidierung der KZ-Gedenkstätte« in Neuengamme, sieht sich jedoch gleichzeitig mit »einem Behördenapparat« konfrontiert, auf dessen inhaltliche Arbeit man kaum noch Einfluss nehmen könne.26 Dass sich der Bund derzeit unter dem Motto »Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen«27 zur Förderung von Gedenkstätten verpflichtet, dürfte dabei weniger auf einen

23 Karl Markus Michel, Die Magie des Ortes. Über den Wunsch nach authentischen Gedenkstätten und die Liebe zu Ruinen, in: Die Zeit, 11.9.1987. 24 Auf den Abenteuercharakter der »Spurensuche« als »freudige[m] (Freizeit)Erlebnis« machte 1985 der Historiker Bernd Hey aufmerksam, vgl. ders., »Geschichte von unten«? Lokale Geschichtsforschung und die Erkundung des historisch-politischen Alltags, in: Thomas-Morus-Akademie (Hg.), Analyse und Interpretation der Alltagswelt. Lebensweltforschung und ihre Bedeutung für die Geographie, Bensberg 1985, S. 107-126, hier S. 116. 25 Garbe, Einleitung, S. 28. 26 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V. (Hg.), »Spaziergang«, S. 166. 27 Vgl. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes »Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen« vom 19.6.2008, Bundestagsdrucksache 16/9875.

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kollektiven »Lernprozess« in der deutschen Gesellschaft zurückzuführen sein als vielmehr auf einen spezifischen Komplex historischpolitischer Entwicklungen. Das ostentative Bekenntnis zur deutschen ›Verantwortung‹ für die NS-Vergangenheit muss zunächst als Teil des nation building und nation branding 28 im Zuge des Vereinigungsprozesses nach 1989/90 verstanden werden. Größe und Machtzuwachs des vereinten Deutschland wurden im In- und Ausland vielfach mit Skepsis aufgenommen, wobei nicht selten an die Großmachtund Vernichtungspolitik des ›Dritten Reichs‹ erinnert wurde. Auch die krassen Bilder ausländerfeindlicher Pogrome bei Volksfeststimmung evozierten in den frühen 1990er Jahren wiederholt Erinnerungen an NS-Deutschland, während innenpolitisch eine restriktive Asylpolitik (»Asylkompromiss«) durchgesetzt werden sollte, welche von Gegner/innen als Abschied von den »Lehren aus der Geschichte« interpretiert wurde.29 Es gab also durchaus Anlass, dem Eindruck eines deutschen ›Schlussstrichs‹ unter die NS-Vergangenheit symbolisch offensiv entgegenzuwirken. Zugleich bestand praktischer Handlungsbedarf: Die Bundesrepublik hatte die großen staatlichen KZ-Gedenkstätten der DDR ›geerbt‹ und sich im Einigungsvertrag zu deren Erhalt verpflichtet. Allerdings war diesen Gedenkstätten in der DDR eine ›parteiliche‹ und eindeutig staatstragende Funktion zugewiesen worden,30 was sich in einer extrem reduktionistischen Darstellung der Geschichte der Lager niedergeschlagen hatte. Unter veränderten ideologischen Rahmenbedingungen, aber auch mit Blick auf zeitgenössische historiografische

28 »[T]he nation brand is defined as the unique, multi-dimensional blend of elements that provide the nation with culturally grounded differentiation and relevance for all its target audiences.« Keith Dinnie, Nation Branding. Concepts, Issues, Practice, Amsterdam u.a. 2008, S. 15, Hervorh. i.O. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass Nationen im Wettbewerb stehen und daher brand management betreiben müssen, vgl. Simon Anholt, Competitive Identity. The New Brand Management for Nations, Cities and Regions, Basingstoke u.a. 2007. 29 Das Recht auf Asyl wird in der Bundesrepublik traditionell als positives »Ergebnis bitterer geschichtlicher Erfahrungen mit politischer Verfolgung während des Nationalsozialismus« kommuniziert, vgl. z.B. , 20.3.2010. 30 So sah die SED es laut einer Buchenwalder Broschüre von 1978 als ein »Hauptanliegen« an, die »ideologische Arbeit« in Gedenkstätten »entschieden zu verbessern«. Die »Lehren des antifaschistischen Widerstandskampfes« wurden dabei »als Ausgangspunkt selbständigen Handelns verstanden [...], wenn es darum ging, auf der Basis des Marxismus/Leninismus den sozialistischen Aufbau in der DDR fortzusetzen und zu festigen.« Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, 20 Jahre Mahnmal Buchenwald. Eine Dokumentation, o.O. 1978, S. 10.

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und gedenkpädagogische Kriterien, sollten sie daher umfassend neu gestaltet werden, was der Bund bereits seit 1993 anteilig förderte.31 Speziell in Buchenwald und Sachsenhausen stellte sich dabei die Frage nach dem normativen und gedenkpraktischen Umgang mit einer sogenannten ›doppelten Vergangenheit‹, da beide Orte nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone in Internierungslager (»Speziallager«) für Deutsche umgewandelt worden waren.32 Das gedächtnispolitische Problem der Relationierung von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und ›stalinistischen‹ Internierungslagern erwuchs indes nicht nur aus praktischen Erfordernissen, sondern steht im Kontext einer grundsätzlichen Neuorientierung im gedächtnispolitischen Diskurs nach 1989/90: Deutschland, so die nun vorherrschende Lesart, verfügte mit NS- und DDR-Vergangenheit mittlerweile über ›zwei Diktaturvergangenheiten‹, die es in ein ›angemessenes‹ Verhältnis zu bringen galt. Ein offizieller Rahmen für die Erarbeitung normativer Leitlinien33 für den Umgang mit der DDR-Vergangenheit wurde mit den Enquetekommissionen »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland« (1992-1994) und »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (1995-1998) gesteckt. Neben dem primären Ziel, fundiertere Einschätzungen von Staat und Gesellschaft in der DDR zu erarbeiten, standen auch die materielle und symbolische Anerkennung von Opfern der ›SED-Diktatur‹

31 Vgl. Siegfried Vergin, Wende durch die »Wende«. Der lange kurze Weg zur Gedenkstättenkonzeption des Bundes, in: Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 91-100. 32 Diese zu DDR-Zeiten beschwiegenen Lager waren 1989/90 ›entdeckt‹ worden und wurden bald heiß diskutiert, zunächst ohne dass fundierte Informationen über deren historischen Charakter vorgelegen hätten. Vgl. Bodo Ritscher, Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der sowjetischen Speziallager in der SBZ/DDR seit Beginn der 1990er Jahre – Zwischenbilanz und Ausblick, in: Petra Haustein u.a. (Hg.), Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute, Göttingen 2006, S. 172-192; Volkhard Knigge, Zweifacher Schmerz. Speziallagererinnerungen jenseits falscher Analogien und Retrodebatten, in: ebd., S. 250-262. Zum Verlauf der Debatte vgl. Hasko Zimmer, Der Buchenwaldkonflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999, S. 13-25 und S. 123-180; Petra Haustein, Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzung um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006, S. 91-213. Sowohl in Buchenwald als auch in Sachsenhausen räumte man der KZ-Vergangenheit bei der Neugestaltung Priorität ein. 33 Die erste Enquetekommission sah ihre Aufgabe darin, »Beiträge zur historischen Analyse und zur politisch-moralischen Bewertung [der SED-Vergangenheit, C.S.] zu erarbeiten.« Beschlussempfehlung und Bericht der Enquetekommission »Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur«, 14.5.1992, Bundestagsdrucksache 12/2579, S. 4.

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sowie eine DDR-bezogene Gedächtnisarbeit auf der Agenda. Hier stellte sich auch die Frage nach dem staatlichen Umgang mit Gedächtnisorten der NS-Vergangenheit, die in der alten Bundesrepublik (wenn überhaupt) von den Bundesländern gefördert worden waren. Die zweite Enquetekommission wurde daher 1995 beauftragt, »Vorschläge für eine umfassende Gedenkstättenkonzeption«34 zu erarbeiten. Der diesbezügliche Arbeitsprozess gestaltete sich als Konfliktgeschichte par excellence, deren Darstellung hier den Rahmen sprengen würde.35 Resultat waren Überlegungen zu »Gesamtdeutsche[n] Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer« sowie konkrete Empfehlungen zur Gedenkstättenförderung,36 die seither Grundlage für die Gedenkstättenkonzeptionen des Bundes (1999, 2007) sind.37 Fixiert wurden dabei ein »antitotalitärer Konsens« und eine »demokratische Erinnerungskultur der Deutschen«.38 Während der »antitotalitäre Konsens« ein (in seinen Implikationen umstrittenes) Erbe des bundesrepublikanischen Gedächtnisdiskurses im Kalten Krieg weitertradiert,39 signalisiert der Begriff der »demokratischen Erinnerungskultur«, dass Gedächtnisarbeit in der Bundesrepublik (in ostentativem Kontrast zur DDR40 ) nicht »von oben« oktroyiert

34 Einsetzung einer Enquetekommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 31.5.1995, Bundestagsdrucksache 13/1535, S. 3. 35 Vgl. die zahlreichen Stellungnahmen in den Materialien der Enquetekommission, die einen Eindruck von den sehr kontroversen Anliegen und Standpunkten unterschiedlicher (nationaler und internationaler) Akteur/innen und Interessengruppen vermitteln. 36 Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 10.6.1998, Bundestagsdrucksache 13/11000, S. 226-255. 37 Vgl. Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes, 27.7.1999, Bundestagsdrucksache 14/1569; Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes (2008). Auf Details der Förderung kann hier nicht eingegangen werden, allerdings sei darauf hingewiesen, dass diese sich mittlerweile nicht mehr nur auf Berlin und die ›neuen Bundesländer‹, sondern auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt. 38 Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission, S. 227, S. 241, S. 245, S. 257 ff.; »Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes« S. 3; Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, S. 1, S. 2, S. 7 (hier nur »antitotalitärer Konsens«). 39 Vgl. Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, München 1999, S. 118-120; Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München/Wien 1999, v.a. S. 175-182. Unverständlich allerdings Dubiels Fazit, die »antitotalitäre Lehre« sei seit 1989/90 überwunden. Für eine aktuelle Kritik vgl. Moshe Zuckermann, Die Ideologie des Vergleichs. Kurzer Abriss aus philosophisch-methodologischer Sicht, in: antifa 3-4 (2010), S. 13. 40 Vgl. den Rückblick des stellvertretenden Vorsitzenden der Enquetekommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« Siegfried Vergin

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werde, weswegen »ausdrücklich auf die politische Unabhängigkeit der einzelnen Gedenkstätten«41 hingewiesen wird. Wiederholt werden außerdem die »internationale Dimension« und die sich daraus ergebenden »außenpolitische[n] Bezüge« deutscher Gedächtnispolitik betont.42 Zumal der Umgang mit der »doppelten Vergangenheit« werde »international, besonders auch in Israel und Osteuropa, genau beobachtet.«43 Man einigte sich in dieser Frage auf die sogenannte Faulenbach-Formel: »Die NS-Verbrechen dürfen durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus nicht relativiert werden. Die stalinistischen Verbrechen dürfen durch den Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden.«44 In den gedächtnispolitischen Aushandlungsprozessen der Enquetekommissionen bildete sich ein für die Bundesrepublik damals völlig neuartiges Moment der Verstaatlichung und Normierung öffentlichen Gedenkens ab, das im Kontext einer zunehmend offensiven Symbol- und Repräsentationspolitik der ›Berliner Republik‹ steht.45 Kommuniziert wurde letztlich – nach innen und außen – eine Diskontinuität zu den beiden »negativen« Vergangenheiten, welche nicht zuletzt durch die Schaffung und Pflege einer »vielfältige[n] Gedenkstättenlandschaft«46 symbolisch manifestiert wurde. Es ging also auch darum, gegenwärtige politische Realitäten über eine Abgrenzung von ›totalitären Systemen‹ zu affirmieren. Gedenkstätten werden dabei als »Stützpunkte der demokratischen Erinnerungskultur« definiert. Das »in den authentischen Orten angelegte Erinnerungs- und Aufklärungspotential« sei »fruchtbar« zu machen: »In der unmittelbaren Begegnung mit den sichtbaren Spuren der Geschichte lassen die Menschen diese Geschichte näher an sich herankommen und werden

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(SPD): »Ganz wesentlich war auch die politische Zurückhaltung fast aller Mitglieder der Kommission, die sich nicht als Zensor der Gedenkstätten sahen oder an politische Direktiven für die Gedenkstätten dachten. Die spezifische Erfahrung der staatlichen Gedenkstätten der DDR hatte ex negativo eine heilsame Wirkung.« Ders., Wende durch die »Wende«?, S. 94 [Hervorh. C.S.]. Schlussbericht der Enquete-Kommission, S. 227. Vgl. ebd., S. 243 ff. und S. 250. Ebd., S. 240. Ebd. Der Historiker Bernd Faulenbach fungierte als SPD-naher Sachverständiger in den Enquetekommissionen. Vgl. etwa Cornelia Siebeck, Inszenierung von Geschichte in der ›Berliner Republik‹. Der Umgang mit dem historisch-symbolischen Raum zwischen Reichstagsgebäude und Schlossplatz nach 1989, in: WerkstattGeschichte 33 (2002), S. 45-58. Schlussbericht der Enquete-Kommission, S. 232.

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aufnahmebereiter für das, was an diesen Orten und darüber hinaus geschehen ist.«47 Nur selten wurde hinterfragt, ob eine institutionalisierte Territorialisierung des öffentlichen Gedächtnisses überhaupt sinnvoll sei. Eine der wenigen Ausnahmen stellt der Historiker Dan Diner dar, der 1992 auf grundsätzliche Probleme hinwies, die der Fixierung von Geschichte und Gedächtnis auf Orte inhärent seien. Diner warnte vor einer falschen »Überzeugungskraft des visuellen Scheins«. Im Gegensatz zur sprachlich-diskursiven Verständigung bringe eine »örtliche Historisierung« als dauerhafte Fixierung von Vergangenheit allerhand kontraproduktive Zwänge mit sich: Komplexität müsse reduziert, Vergangenheiten müssten ins Verhältnis gesetzt und Opfergruppen hierarchisiert werden: »Wer sollte dies festlegen [...]? Daher sollte man sich mit der symbolischen und öffentlichen Festlegung von Erinnerung eher zurückhalten oder darauf verzichten.«48

»Transparente, diskursive Orte historischer Dokumentation und Bildung« – Selbstreflexivität der Gedenkstättenarbeit (und ihre Grenzen) Diese und andere Ambivalenzen der »Institutionalisierung und Nationalisierung negativen Gedenkens« mit ihrer »Tendenz zum Affirmativen« werden in Gedenkstättenkreisen durchaus skeptisch thematisiert.49 So fragt etwa der Direktor der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit, »ob das Gedenken an den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen durch die erfolgreiche Institutionalisierung

47 Ebd., S. 241 und S. 243. 48 Dan Diner, Nach-Denken über Gedenkstättenpolitik, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche, Berlin 1992, S. 151-155, hier S. 151 f. und S. 155. 49 Vgl. Volkhard Knigge, Statt eines Nachworts: Abschied von der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: ders./Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 443-460, hier S. 444; vgl. auch Garbe, Von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur, v.a. S. 78 ff.; ders., Von den »vergessenen KZs« zu den »staatstragenden Gedenkstätten«?, in: Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 75-82.

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im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik seines irritierenden und aufklärerischen Potentials zunehmend verlustig«50 gehe. Auch das Problem der visuellen, emotionalen und kognitiven Suggestivität der Orte wird reflektiert. So fordert der Direktor der Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora, Volkhard Knigge, dass Gedenkstätten »transparente, diskursive Orte historischer Dokumentation und Bildung« sein und »insbesondere in Bezug auf die Deutung der NSVergangenheit [...] ihre Kriterien [...] offen legen, hinterfragbar machen und zur Debatte stellen«51 müssten. Entsprechend wird allzu großen Authentizitätserwartungen von institutioneller Seite offensiv begegnet. So heißt es in einem Faltblatt zum pädagogischen Angebot der Gedenkstätte Buchenwald ganz explizit: »Buchenwald ist ein veränderter Ort« bzw. »[h]eute ist Buchenwald Gedenkstätte und zeithistorisches Museum«.52 Man bemüht sich, »falsche Authentizität« zu vermeiden.53 Realien will man nicht als »Reliquien«54 behandelt wissen, sondern als Informationsmedien, deren Geschichte rekonstruiert werden soll.55 Man versucht, »Zeitspuren«56 zu markieren: In Ausstellungen zur »Nachgeschichte« der Orte seit 1945 wird deren Historizität – auch als Gedenkstätten – thematisiert (wenn auch aus Perspektive der Ausstellungsmacher). Auch in der Geländegestaltung wird Transparenz angestrebt. So präsentiert sich die neu gestaltete Gedenkstätte Neuengamme als »visuelles Patchwork«, um Besucher/innen »stets

50 Jörg Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder, Göttingen 2009, S. 356. 51 Knigge, Statt eines Nachworts, S. 450 f. 52 Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Pädagogische Angebote, o.O. 2004. In diesem Zusammenhang überrascht allerdings, dass in einem neueren Prospekt wieder prominent vom »authentische[n] Ort« bzw. von »unmittelbaren Zeugnissen« die Rede ist, vgl. dies., Internationale Jugendbegegnungsstätte. Sehen, Begreifen und Reflektieren, Weimar 2008, S. 9. 53 Vgl. Thomas Lutz, Zwischen Vermittlungsanspruch und emotionaler Wahrnehmung. Die Gestaltung neuer Dauerausstellungen in Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland und deren Bildungsanspruch, Berlin 2009, S. 165 ff. 54 Volkhard Knigge, Gedenkstätten und Museen, in: ders./Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, S. 398-409, hier S. 400. Vgl. auch: Interview Gedenkstätte Neuengamme am 18.6.2006 mit Dr. Detlef Garbe, Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, in: Lutz, Vermittlungsanspruch [Anhang], S. 21. 55 Vgl. Ronald Hirte, Offene Befunde. Ausgrabungen in Buchenwald. Zeitgeschichtliche Archäologie und Erinnerungskultur, o.O. o.J. [Weimar-Buchenwald 2000]; Lutz, Vermittlungsanspruch, S. 156 ff. 56 So der Titel der 2005 eröffneten Hauptausstellung in der Gedenkstätte Neuengamme, die die Geschichte des Ortes auch über 1945 hinaus behandelt.

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erneut vor Augen zu führen, dass sie kein Konzentrationslager vor sich sehen, sondern die Überreste verschiedener historischer Prozesse.«57 Es muss dahin gestellt bleiben, wie weit dieser aufklärerische Ansatz im Gedenkstättenalltag trägt. Während die Diskrepanzen zwischen einem immer komplexeren gedenkstättenpädagogischen Anspruch und den tatsächlichen Möglichkeiten und Realitäten vor Ort bekannt sind, gibt es eine qualitative Vermittlungs- und Rezeptionsforschung bislang nur vereinzelt.58 Einer konsequenten Offenlegung und kritischen Hinterfragung der eigenen Arbeits- und Existenzbedingungen scheinen Grenzen auch insofern gesetzt, als dass Gedenkstätten derzeit nun einmal keine basisdemokratisch verfassten, sondern öffentlichrechtlich konstituierte Institutionen sind. Zudem ist den bestehenden Gedenkstätten eine Zukunft mit ausreichenden finanziellen Handlungsspielräumen keineswegs sicher.59 Die Diskussionsbereitschaft wird sich also immer dann in Grenzen halten, wenn institutionelle Interessen auf dem Spiel stehen, politische Rücksichten genommen werden müssen oder eigene normative Ansätze allzu radikal in Frage gestellt werden. Und letztlich müssen jeweilige Akteur/innen den eigenen Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager als ›richtigen‹ Umgang vertreten, was dann häufig doch mit »immanenten« Bedeutungen und der »Aura«60 der Orte begründet wird.

57 Insa Eschebach/Andreas Ehresmann, »Zeitschaften«. Zum Umgang mit baulichen Relikten der Konzentrationslager, in: Petra Fank/Stefan Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens, Berlin 2005, S. 111-220. 58 Vgl. v.a. Pampel, »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist.«; Christian Gudehus, Dem Gedächtnis zuhören. Erzählungen über NS-Verbrechen und ihre Repräsentation in deutschen Gedenkstätten, Essen 2006. Zur Problematik mangelnder Rezeptionsforschung vgl. auch Lutz, Vermittlungsanspruch, S. 87 ff. 59 So äußerte etwa Jörg Skriebeleit Ende 2007 die Erwartung, dass »wenn die Ressourcen knapper werden, wenn’s Konkurrenzen gibt, auch aus [...] einer anderen Zeitsphäre, dass man dann auch eher behandelt wird: So, jetzt ist mal wer anders dran. Das, was man an moralischer und historischer Beißhemmung hatte, uns gegenüber, [...] das wird’s in absehbarer Zeit – meiner Meinung nach – nicht mehr geben.« [Transkription leicht bereinigt]. Zit. nach: Interview zur neuen Dauerausstellung in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 6.12.2007, mit Dr. Jörg Skriebeleit, Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg, in: Lutz, Vermittlungsanspruch [Anhang], S. 37. 60 Der Begriff der »Aura« findet dabei im Gedenkstättendiskurs eine widersprüchliche Verwendung. Wo er gebraucht wird, wird er häufig ebenso affirmiert wie gleich wieder relativiert. Affirmiert im Sinne einer erfahrungsgemäß großen pädagogischen Wirkung dinglicher Objekte, relativiert, weil man sich bewusst ist, dass ›Aura‹ nicht ›unmittelbar‹ den Dingen inhärent ist, sondern vermittelt wird.

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Vielfach überdeterminierte Orte. Zwischenbilanz und Fragen an die Kulturwissenschaft Die Gedächtnisorte ehemaliger Konzentrationslager sind Orte, an denen Menschen meinen, in einen sinnhaften Austausch mit der Vergangenheit treten zu können. Jedoch: Niemand spürt oder lernt an solchen Orten etwas in Bezug auf die Vergangenheit, der von dieser Vergangenheit nicht weiß. Das Wissen wiederum bewahrt und manifestiert sich auch ›vor Ort‹ nicht von selbst, sondern benötigt Akteur/innen, die es objektivieren und verbreiten wollen und dazu in einem jeweiligen historischen Moment auch in der Lage sind. Wenn dann über Fragen ›angemessener‹ Repräsentation diskutiert wird, geht es immer auch um normative Wertungen und politische Interessen, mithin um Deutungs- und Handlungsmacht innerhalb objektiver gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Sobald es fixe Institutionen gibt, sind materielle und ideelle Rahmenbedingungen für alle dort stattfindenden kommunikativen und performativen Vermittlungsund Selbstverständigungspraktiken definiert und reguliert. Besucher/innen wiederum interagieren mit den vor Ort vorgefundenen Bedingungen situativ und grundsätzlich subjektiv, also gemäß ihrer jeweils mitgebrachten kognitiven und affektiven Dispositionen, wobei auch diese selbstverständlich gesellschaftlich geprägt sind.61 Kurz: An diesen Orten ist nichts ›unmittelbar‹ und alles gesellschaftlich vermittelt. Das mag trivial klingen – was wäre so gesehen nicht gesellschaftlich vermittelt? Nun wird aber mit Blick auf ›authentische Orte‹ trotzdem immer wieder von ›unmittelbarer Erfahrung‹ gesprochen, die offenbar im Gegensatz zu ›vermittelter‹ Erfahrung imaginiert wird. Es ist sogar anzunehmen, dass besagte ›Unmittelbarkeit‹ die primäre Existenzberechtigung von Gedenkstätten am historischen Ort darstellt. Schon von daher scheint der explizite Hinweis auf gesellschaftliche Vermitteltheit immer wieder notwendig. Hinzu kommt, dass andere auf ›unmittelbare‹ Erfahrung angelegte Orte wie etwa Legoland® mit Blick auf die ihnen inhärenten hegemonialen Funktionen für Nutzer/innen leichter zu dekodieren sein dürften als zeitgenössische KZ-Gedenkstätten mit ihrer – nach wie

61 Die Bedeutung von Vorerfahrungen und bereits vorhandenen historischen Deutungsmustern für die Wahrnehmung von Gedenkstättenbesuchen betont (allerdings wertend) Pampel, »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«.

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vor – ›selbstverständlichen‹ auratischen Aufladung und einer meist ebenso vagen wie überwältigenden symbolisch-moralischen Dimension. Beides birgt das Potential einer Mystifizierung, die die gesellschaftliche Vermitteltheit und die faktische Fremdbestimmung der Nutzer/innen an einem bereits vorstrukturierten Ort vernebeln kann. Außerdem hat beispielsweise Legoland® nicht den Anspruch, kritischhistorische Aufklärung zu befördern, allerart Gewissheiten zu irritieren und grundsätzliche Fragen menschlicher Vergesellschaftung aufzuwerfen. All das wird aber von zeitgenössischen Gedenkstätten durchaus (und vor dem Hintergrund der Vergangenheit, mit der sie es zu tun haben, völlig zu Recht) beabsichtigt und legitimiert letztlich ihre Institutionalisierung als Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Es liegt auf der Hand, dass zwischen diesem aufklärerischen Anspruch und der ›magischen‹ Vorstellung von immanenten Qualitäten der Orte ein paradoxes Spannungsverhältnis besteht, das im Gedenkstättenalltag nicht leicht aufzulösen sein dürfte – zumal sich der Aufklärungsanspruch ja der vermuteten oder tatsächlichen Wirkungen des ›Auratischen‹ und ›Unmittelbaren‹ in Form einer besonderen Aufnahmebereitschaft der Besucher/innen durchaus bedient und diese daher nicht radikal dekonstruieren kann. Dieses Spannungsverhältnis aufzuzeigen wäre Aufgabe eines analytischen Blicks von außen und damit einer (ideologie-)kritischen kulturwissenschaftlichen Forschung. Diese hätte etwa zu analysieren, warum in Bezug auf welchen Ort welches Gedächtnis produziert wird und aus welchen Gründen sich dabei welche Konzepte durchsetzen (und andere eben nicht) oder auf welche Weise Gedächtnis vor Ort praktisch vermittelt und rezipiert wird. Dabei scheint bisher nur ansatzweise geklärt, was man sich unter dem Phänomen ›Gedenkstätte‹ eigentlich vorzustellen hat. So wird zwar konstatiert, dass man es bei Gedächtnisorten im Allgemeinen und bei Gedenkstätten im Besonderen mit vielfach überdeterminierten Orten zu tun hat.62

62 Vgl. (bei unterschiedlicher analytischer Qualität) u.a: Jonathan Webber, Die Zukunft von Auschwitz. Einige persönliche Betrachtungen, Frankfurt/M. o.J.; James E. Young, Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997, S. 18; Jan-Holger Kirsch, Das öffentliche Bild von Gedenkstätten, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Gedenkstätten und Besucherforschung, Bonn 2004, S. 43-59; Volkhard Knigge, Museum oder Schädelstätte? Gedenkstätten als multiple Institutionen, in: ebd., S. 17-33; Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Hanno Loewy/Bernhard Moltmann (Hg.), Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt/M./New York 1996, S. 13-29.

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Meines Wissens wurde jedoch zumal im deutschsprachigen Raum bisher kaum der Versuch gemacht, theoretisch zu bestimmen, worin diese Überdetermination besteht, sprich: welche gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Prozesse dabei im Spiel sind.63 Die im Zusammenhang Geschichte – Ort – Gedächtnis hierzulande konventionell zitierten kulturtheoretischen Positionen von Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann sowie jüngst der spatial turn Karl Schlögels wiederum scheinen das Problem des »visuellen Scheins« (Dan Diner) in vieler Hinsicht eher zu reproduzieren, als dass sie es erhellen könnten.

Gedächtnis, Ort, Geschichte. Eine Kritik prominenter kulturwissenschaftlicher Positionen Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail operieren etwa Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann bezogen auf gedächtniskulturelle Objektivationen mit der Annahme, dass sich darin »nationale«, »kollektive« oder »kulturelle« Identität »kristallisiere«,64 man sie dort also kulturdiagnostisch auch wieder »ablesen« könne. Nora versteht lieux de mémoire in klassisch-konservativ-kulturpessimistischer Perspektive als Produkte des »Zerfalls« vormoderner »Gemeinschaften« in moderne »Gesellschaften«, die ein nicht mehr existentes »organisches« Gedächtnis gleichsam »künstlich« ersetzen müssten.65 Ansonsten bemüht er eine reichlich mystifizierende Sprache, um den Charakter dieser »Orte«66 zu definieren: »Im Unterschied zu allen Gegenständen der Geschichte haben Gedächtnisorte keine ›Referenten‹ in der Wirklichkeit. [...] Nicht, dass sie ohne Inhalt wären, ohne physische Präsenz und ohne Geschichte, ganz im Gegenteil. Aber just das, was

63 Hilfreiche Ansätze finden sich v.a. bei Pampel: »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«, S. 24 ff. und (allerdings stark normativ) bei Jörn Rüsen, Über den Umgang mit den Orten des Schreckens. In englischer Sprache liegen systematischere Analysen über die gesellschaftliche Konstitution sowie ideologische Implikationen von heritage vor, vgl. z.B. Brian Graham/Gregory J. Ashworth/J.E. Tunbridge, A Geography of Heritage. Power, Culture and Economy, London 2000. 64 Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1998, S. 7; Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9-19, hier S. 12. 65 Vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 11-42. 66 Nora verwendet »Ort« als Metapher, mit der ein topografischer Ort der Vergangenheitsrepräsentation gemeint sein kann, aber auch andere Objektivationen bzw. gedächtniskulturelle Topoi.

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aus ihnen Gedächtnisorte macht, bewirkt, dass sie sich der Geschichte entziehen.«67 Selbstverständlich wird, wie Nora im Anschluss allerdings recht nebulös formuliert, im Zuge der Symbolproduktion ein jeweiliger Gegenstand aus seinem »profanen« Zusammenhang gelöst und semantisch neu aufgeladen. Im Falle eines »Geschichtszeichens«68 handelt es sich dabei um ein historisches Moment, das aus seinem historischen Zusammenhang isoliert und appellativ-prospektiv bedeutet wird. Diese Bedeutungszuschreibung jedoch ist eine ebenso ›wirkliche‹ wie genuin historische Praxis und sollte entsprechend analysiert werden. Rückschlüsse auf ›nationale Identität‹ ließe das zwar nicht zu, vielmehr wäre zu eruieren, wer aus welchen Motiven ein Symbol (re-)produziert. Jan und Aleida Assmann sehen Gedächtnisorte im Gegensatz zu Nora nicht als spezifisch moderne Erscheinung an, vielmehr verstehen sie Objektivierungen des »kollektiven« bzw. »kulturellen Gedächtnisses« und daraus resultierende »kollektive Identitäten« als immer schon konstruiert. Sie dienen ihrer Ansicht nach der Tradierung bestimmter Werte und somit menschlicher »›Arterhaltung‹ im Sinne einer kulturellen ›Pseudo-Speziation‹«69 in unterschiedliche Gruppen. Im Sinne einer anthropologischen Konstante spricht Aleida Assmann von einer »irreduziblen Angewiesenheit des Menschen auf Bilder und kollektive Symbole [...], wenn es darum geht, dass ein Gemeinwesen sich ein Bild von sich selbst schafft.«70 Diese ›Tatsache‹ führt Assmann explizit gegen eine »kritische Rationalität« und »Ideologiekritik« ins Feld, die besagte Repräsentationen partout als »gefährliche falsche Denk- und Wertsysteme« dekonstruieren wolle: Seit den 1980er Jahren habe in der Forschung ein »Paradigmawechsel von der Ideologiekritik zum kollektiven Gedächtnis« stattgefunden.71

67 Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 40. 68 Vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: ders. (Hg.), Geschichtszeichen, Weimar/Wien 1999, S. 81-115. 69 Unter Verweis auf den zurecht umstrittenen Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld: J. Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 9; vgl. auch ders./Aleida Assmann, Schrift, Tradition und Kultur, in: Wolfgang Raible (Hg.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1988, S. 25-50, hier S. 28. 70 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007, S. 30. 71 Ebd., S. 30 f.

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Tatsächlich hat die Vorstellung von ›kollektiven Gedächtnissen‹ und ›kollektiven Identitäten‹ seither im akademischen Diskurs weite Verbreitung gefunden, was sie aber nicht automatisch richtiger macht. Denn die Träger/innen ›kollektiver Gedächtnisse‹ und ›Identitäten‹ werden im assmannschen Paradigma – gemäß einem common sense groupism72 – als Wir-Gruppen ›kultureller‹, nationaler oder ›ethnischer‹ Art hypostasiert: »In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten lässt, sagt etwas darüber aus, was sie ist und worauf sie hinauswill.«73 Auf eine empirische Rekonstruktion vermeintlich konsensualer ›Erinnerungsgemeinschaften‹74 wird dabei jedoch konsequent verzichtet.75 Sicherlich existieren Gruppen oder soziale Bewegungen, die ein normatives und ›identitätskonkretes‹ Gedächtnis entwickeln und in die Öffentlichkeit tragen, ein Beispiel wäre die oben geschilderte Neue Geschichtsbewegung. ›Kulturen‹, Nationen oder ›Ethnien‹ aber können – zumindest jenseits eines identitätspolitischen Jargons – nicht als Wir-Gruppen gelten, sondern sind immer von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie daraus resultierenden Konflikten geprägt. Objektivierte Gedächtnis- und Identitätskonstruktionen repräsentieren daher zunächst einmal nur diejenigen, die diese produziert haben. Kurz: Wer davon ausgeht, dass hegemoniale Gedächtnisorte wie etwa die derzeitige ›Gedenklandschaft‹ in der Bundesrepublik den mentalen oder psychischen Zustand der bundesrepublikanischen Gesellschaft repräsentieren, reproduziert im Zweifelsfall genau den identitätspolitischen Diskurs, der eigentlich zu analysieren wäre.

72 So bezeichnet der Soziologe Roger Brubakers »the tendency to treat ethnic groups, nations and races as substantial entities to which interests and agency can be attributed [...] as if they were internally homogenous, externally bounded groups, even unitary collective actors with common purposes.« Roger Brubakers, Ethnicity without groups, in: Archives européennes de sociologie XLIII, 2 (2002), S. 163-189, hier S. 164. 73 Assmann, Kollektives Gedächtnis, S. 16. 74 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 40. 75 Auf den gravierenden Unterschied zwischen »normierenden« und empirisch fundierten »rekonstruktiven« Thematisierungen von »kollektiver Identität« hat Jürgen Straub hingewiesen. Vgl. Jürgen Straub, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese, Identitäten, Frankfurt/M. 1998, S. 73-194, hier S. 98 f. Im Gegensatz zu Straub kann ich im assmannschen Konzept indes keinen Ansatzpunkt für eine »rekonstruktiv« orientierte Forschung erkennen.

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Mit Blick auf den Zusammenhang Ort – Geschichte – Gedächtnis muss der assmannsche Idealismus letztendlich zu einer erkenntnistheoretischen Haltung führen, die der Geograph Gerhard Hard treffend als »Landschaftshermeneutik« bezeichnet hat. Dabei erscheint die »ganze Landschaft als eine ›Objektivation‹ von Kultur und Geschichte und [...] ›objektivierter Geist‹.«76 In solchen Landschaften trifft das Paradigma vom »kollektiven Gedächtnis« mit der Raumbegeisterung des Historikers Karl Schlögel zusammen. Diesem gerinnt indes gleich die ganze »Welt« zum ›Gedächtnisort‹, nämlich zu »ein[em] große[n] und einzigartige[n] Geschichtsbuch, in dem der Mensch seine Hieroglyphen eingezeichnet hat.«77 Unter dem Titel Im Raume lesen wir die Zeit 78 will Schlögel die Aufmerksamkeit zumal der Geschichtswissenschaft auf den angeblich notorisch vernachlässigten Raum lenken, »Geschichte und Ort zusammendenken«.79 Methodisch setzt er dabei auf einen »Impuls des Hinaus in die Welt«, die »Unmittelbarkeit des Eindrucks« und den »Mut, den eigenen Augen zu trauen«: »Der Raum scheint von den Begriffen der Sozialwissenschaft kolonisiert. Jetzt kommt es darauf an, ihn in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit an sich heranzulassen.«80 Denn nach einem »Augentraining« beginne »[a]lles [...] zu uns zu sprechen: Trottoire, Landschaften, Reliefs, Stadtpläne, die Grundrisse von Häusern.«81 Resultat sind über 500 Seiten mehr oder weniger originelle essayistische Reflexionen, von »Ground Zero« bis zum »Tor von Birkenau«, dem »Ort, an dem das Unfassbare geschah, mitten in Europa.«82

76 Gerhard Hard, Der Spatial Turn, von der Geographie aus betrachtet, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 263-315, hier S. 287 und S. 281. 77 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt/M. 2006, S. 10. 78 Dieses Motto entlehnt Schlögel dem deutschen Humangeographen Friedrich Ratzel (1844-1904). Zur Problematik der ratzelschen Geographietradition (Hypostasierung von ›Völkern‹, essentialistisches und deterministisches Raumverständnis etc.) vgl. u.a. HansDietrich Schultz, Die deutsche Geographie im 19. Jahrhundert und die Lehre Friedrich Ratzels, in: Irene Diekmann/Peter Krüger/Julius H. Schoeps (Hg.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Bd. 1.1, Potsdam 2000, S. 39-84. 79 Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 11. 80 Ebd., S. 22. Man beachte die Anklänge an Marx’ elfte Feuerbachthese. Der K-Gruppensozialisierte Schlögel beklagt, seine »Generation« habe die »Sinnlichkeit« diskriminiert; stattdessen sei »ein regelrechter Jargon der Diskriminierung des Unmittelbaren, des Anschaulichen [...] entwickelt worden.« Ebd., S. 270 f. 81 Ebd., S. 13. 82 Ebd., S. 452.

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Aus der akademischen Geografie erntete Schlögel für seinen spatial turn massive Kritik:83 Es handele sich dabei um eine »Art von suggestiver Selbsttäuschung am Objekt« in der Tradition einer anachronistischen Vorstellung von Raum als »unmittelbar-anschaulich gegebene[r] und unmittelbar-anschaulich erfassbare[r] konkrete[r] Totalität, in der sich nichtreduktionistisch die ganze Komplexität von Gesellschaft und Geschichte« zeige und spiegele. Aber »[o]hne andere Quellen, Archive und Beobachtungsfelder ist der Landschaftsleser so gut wie blind bzw. ganz auf das angewiesen, was er schon zu wissen glaubt, das heißt was er von seinem Vorwissen, seinen Vorurteilen, seiner Vorbildung irgendwie auf die zufälligen Sichtbarkeiten des betreffenden Raums projizieren bzw. herunterbrechen kann.«84 In diesem Sinne weisen die beschriebenen Ansätze Pierre Noras, Jan und Aleida Assmanns und Karl Schlögels eine gemeinsame erkenntnistheoretische Problematik auf, nämlich die Gefahr von Zirkelschlüssen: Man liest in ein objektiviertes ›Phänomen‹ hinein, was man dann wieder herausliest, und zwar in einem ziemlich großen Stil – immerhin werden auf diese Weise gelegentlich ganze Epochen und ›Kollektive‹ charakterisiert. Damit soll nicht gesagt werden, dass zwangsläufig alles ›falsch‹ ist, was besagte Autor/innen schreiben, und zweifellos sind im Anschluss an diese Ansätze fruchtbare Fragestellungen entwickelt worden. Vielmehr soll die Aufmerksamkeit auf ein grundsätzlicheres Problem gelenkt werden, das der Historiker Kerwin Lee Klein mit Blick auf die im zeitgenössischen Gedächtnisdiskurs grassierenden Authentifizierungen, Hypostasierungen, Reifizierungen, Naturalisierungen, Psychologisierungen und Mystifizierungen wie folgt resümmiert hat: »This is not the vocabulary of a secular, critical practice.«85

Geschichte, Ort, Gedächtnis. Eine hegemonietheoretische Perspektive Wie aber sähe eine säkulare und kritische Theorie und Forschungspraxis in Bezug auf Gedächtnisorte an Orten ehemaliger Konzentrationslager aus? Zunächst einmal schlage ich mit dem Sozialgeographen Tim

83 Vgl. Jörg Döring/Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: dies. (Hg.), Spatial Turn, S. 7-45. 84 Hard, Der Spatial Turn, von der Geographie aus betrachtet, S. 281-283 und S. 287. 85 Kerwin Lee Klein, On the Emergence of Memory in Historical Discourse, in: Representations 69 (2000), S. 127-150, hier S. 145, Hervorh. C.S.

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Cresswell einen radikal historisierenden Begriff von Ort als sozialer Praxis vor: »Thinking of place as performed and practiced can help us think of place in radically open and non-essentialized ways where place is constantly struggled over and reimagined in practical ways [...]. Place in this sense becomes an event rather than a secure ontological thing rooted in notions of the authentic. Place as an event is marked by openness and change rather than boundedness and permanence.«86

Ein solcher Ort, so gibt der marxistische Geograph Don Mitchell zu bedenken, befindet sich stets in einer Gesellschaft, in der Macht ungleich verteilt ist: »We all do read the landscape, but we are not all equal in ›authoring‹ it – nor in controlling its meanings.«87 Aus dieser Tatsache ergeben sich Auseinandersetzungen, die Mitchell als culture wars bezeichnet: »Culture wars are about defining what is legitimate in a society, who is an ›insider‹ and who is an ›outsider‹. They are about determining the social boundaries that govern our lives.«88 Culture wars um Orte und Räume können also als ein Moment innerhalb übergreifender gesellschaftlicher Kämpfe um kulturelle Hegemonie verstanden werden. Dabei geht es – mit Gramsci – letztendlich darum, »to establish moral, political and intellectual leadership in social life by diffusing one’s own ›world-view‹ throughout the fabric of society as a whole, thus equating one’s own interests with the interests of society at large.«89 ›Gedächtnisorte‹ sollten daher auch aus hegemonietheoretischer Perspektive betrachtet werden. Denn hier wird eine partikulare Lesart von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft objektiviert, die durch das Medium des ›Gedächtnisorts‹ universalisiert werden soll. Sobald solche ›Gedächtnisorte‹ in einer Gesellschaft institutionalisiert werden, müssen sie daher als Teil einer Kultur ›von oben‹ verstanden werden, die die bestehende gesellschaftliche Ordnung affirmiert, sie ›selbstverständlich‹ erscheinen lässt und dadurch reproduzieren soll. Zweck ist eine normative Subjektivierung im althusserschen Sinn:

86 Cresswell, Place, S. 39. 87 Mitchell, Cultural Geography, S. 139 f. 88 Ebd., S. 5. Speziell mit Bezug auf Orte wird diese inhärente ›Dissonanz‹ auch betont bei Graham/Ashworth/Tunbridge, Geography. 89 Terry Eagleton, Ideology. An Introduction, New and Updated Edition, London/New York 2007, S. 116.

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Individuen werden als gesellschaftliche Subjekte ›angerufen‹.90 Funktional gesehen ist völlig unerheblich, wie doktrinär oder ›pluralistisch‹ sich eine solche ›Anrufung‹ gestaltet: Sie dient der Affirmation bestehender Verhältnisse und sagt etwas darüber aus, was außerhalb ihrer ideologischen Grenzen liegt und möglicherweise sanktioniert wird. Dabei stellt sich nicht unbedingt die Frage, ob es sich hier um eine Produktion von ›falschem Bewusstsein‹ handelt (oder was man unter einem solchen zu verstehen hätte).91 Vielmehr kann eine hegemonietheoretische Perspektive zunächst einmal helfen, ›Gedächtnisorte‹ in ihrem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext zu verstehen und zu verorten. Jedoch: Die hegemoniale Botschaft ist nur ein Moment solcher Orte, wie Cresswell zurecht betont: »As such, places need to be studied in terms of ›dominant institutional projects‹, the individual biographies of people negotiating a place and the way in which a sense of place is developed through the interaction of structure and agency.«92 Alltag und soziale Praxis vor Ort sollten dabei als partiell eigensinnig gedacht werden. Subjekte können sich gegenüber der hegemonial intendierten Botschaft nicht nur zustimmend-internalisierend, sondern auch indifferent, ambivalent, kritisch oder ablehnend verhalten. Insgesamt müsste es also darum gehen, ›Gedächtnisorte‹ einerseits als hegemoniale Strukturen zu begreifen, sie aber anderseits als Kommunikations- und Interaktionsplattform zu denken, die trotz ihrer Prästrukturierung vielfältige diskursive und praktische Bezugnahmen ermöglichen. Denn gerade weil hegemonial objektivierte Deutungen von Vergangenheit hier mehr oder weniger offensichtlich werden, können sie Dissens oder Widerspruch provozieren, der sich sonst vielleicht gar nicht artikuliert hätte. ›Gedächtnisorte‹ sind somit gesellschaftlich äußerst dichte Orte und verweisen bei genauerem Hinsehen nicht nur auf hegemoniale, sondern auch auf opponierende Interpretationen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. All das

90 Dazu vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin 1977, S. 108-168. Hier ist nicht der Ort, auf die zahlreichen Probleme der althusserschen Theorie einzugehen, dazu vgl. z.B. Projekt Ideologietheorie, Theorien über Ideologie, Berlin 1979, S. 105-129; Eagleton, Ideology, S. 136 ff. und S. 168 ff. 91 Für eine anregende Auseinandersetzung mit dem Konzept des »falschen Bewusstseins« vgl. Eagleton, Ideology, S. 1-31. 92 Cresswell, Place, S. 37.

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könnte vor Ort mithilfe entsprechender Forschungsdesigns erforscht und analysiert werden – die Voraussetzung dafür jedoch ist, dass man diese Orte zunächst einmal ganz nüchtern als Orte vielfältiger sozialer Praxis verschiedenster gesellschaftlicher Akteur/inne begreift, hochgradig überdeterminiert im hier beschriebenen Sinne, jedoch ohne ›Aura‹, ohne ›Unmittelbarkeit‹, ohne kristallisierende ›kollektive Identitäten‹ und ohne Magie. Denn nicht nur Geschichte, sondern auch Gedächtnis wird gemacht. Aufgabe eines (ideologie-)kritischen kulturwissenschaftlichen Diskurses wäre daher, jedweder Gedächtnisproduktion ihre behauptete ›Selbstverständlichkeit‹ radikal abzusprechen, sie zu historisieren und ihre gesellschaftspolitische Dimensionen transparent und hinterfragbar zu machen. Mit Blick auf die Orte ehemaliger Konzentrationsund Vernichtungslager wäre eine solche Entmystifizierung mitnichten als ›Banalisierung‹ zu verstehen, zumindest nicht als Banalisierungen dessen, was dort geschah. Ganz im Gegenteil nähme sie das dort Geschehene als grundsätzliches Irritationspotential aller positiven Äußerungen über ›Gemeinschaft‹ und ›kollektive Identität‹ zunächst einmal ernst und wäre darum bemüht, theoretische und empirische Grundlagen für eine immer wieder notwendige Diskussion darüber zu generieren, für welche Zwecke die Geschichte der NS-Verbrechen in legitimatorischer Absicht funktionalisiert werden sollte und was genau man sich eigentlich unter einer ›demokratischen‹ Gedächtniskultur und -praxis vorzustellen hat. Vor allem aber könnte eine solche Entmystifizierung dazu beitragen, die im Bewusstsein vieler Menschen zunächst als Konzentrationslager, dann als mythische Gedächtnisorte ›extraterritorialen‹ Orte in die alltäglich-gesellschaftliche Realität zurückzuholen. Dort haben sie schon immer hingehört, und nur dort kann ihr Gedächtnis lebendig bleiben.

Literatur Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin 1977, S. 108-168. Simon Anholt, Competitive Identity. The New Brand Management for Nations, Cities and Regions, Basingstoke u.a. 2007. Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V. (Hg.), »... das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Geschichte eines Überlebendenverbandes, Hamburg 2008.

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Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Hanno Loewy/Bernhard Moltmann (Hg.), Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt/M./New York 1996, S. 13-29. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9-19. Jan Assmann/Aleida Assmann, Schrift, Tradition und Kultur, in: Wolfgang Raible (Hg.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1988, S. 25-50. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Werner Boldt u.a., Emslandlager – Zur »Kriegsgräberstätte«, zum Bundeswehrdepot, zur Justizvollzugsanstalt, zum Kartoffelacker ..., in: Detlef Garbe (Hg.), Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983, S. 69-96. Roger Brubakers, Ethnicity without groups, in: Archives européennes de sociologie XLIII, 2 (2002), S. 163-189. Tim Cresswell, Place. A Short Introduction, Malden u.a. 2004. Dan Diner, Nach-Denken über Gedenkstättenpolitik, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche, Berlin 1992, S. 151-155. Keith Dinnie, Nation Branding. Concepts, Issues, Practice, Amsterdam u.a. 2008. Jörg Döring/Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: dies. (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7-45. Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München/Wien 1999. Insa Eschebach/Andreas Ehresmann, »Zeitschaften«. Zum Umgang mit baulichen Relikten der Konzentrationslager, in: Petra Fank/Stefan Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens, Berlin 2005, S. 111-220. Bernd Faulenbach, Probleme einer Neukonzeption von Gedenkstätten in Brandenburg. Zur Einführung, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur/Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten für NS-Verfolgte. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche, Berlin 1992, S. 12-20.

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»Im Raume lesen wir die Zeit«?

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»Im Raume lesen wir die Zeit«?

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Schlussbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 10.6.1998, Bundestagsdrucksache 13/11000. Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes, 27.7. 1999, Bundestagsdrucksache 14/1569. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes »Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen«, 19.6.2008, Bundestagsdrucksache 16/9875.

Repräsentationen

Die Bibliothèque Nationale de France und das Phantasma eines Lagers J UDITH K ASPER

Starre Bilder und Verschiebungen »Unsere Beschäftigung mit der Geschichte [ist] eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starren, während die Wahrheit irgendwo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt«.

So heißt es in W.G. Sebalds 2001 erschienenem Roman Austerlitz.1 Auf den ersten Blick mag diese Aussage als eine Absage an die Historiografie erscheinen. Vorurteile, Stereotypen und Phantasmen, so suggeriert das Zitat, determinieren den Blick auf die Geschichte und führen unvermeidlich zu Entstellungen. Zugleich jedoch wird diese Aussage getroffen in einem literarischen Werk, das in kaum zu übertreffender Weise den Spuren der Geschichte – insbesondere den katastrophalen Folgen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik – in unserer Gegenwart nachgeht. Das Zitat stammt vom Protagonisten Austerlitz, der mit Leib und Seele um dieses unentdeckte »Abseits« der Geschichte kreist. Insofern meint diese Aussage keine einfache Absage, sondern leitet vielmehr eine spezifische Arbeit an den schon »vorgefertigten«, »eingravierten Bildern« ein, eine Lockerung und Verlagerung des Blickes von diesen Bildern weg auf andere hin, ohne jedoch – dies muss hier gleich hinzu gesagt werden – den von der Geschichte hervorgebrachten Phantasmen je wirklich zu entkommen, ohne je das »von keinem Menschen noch entdeckte Abseits« zu entdecken, es begrifflich in ein greifbares Hier und Jetzt überführen zu können. Es gilt jedoch den Zwischenraum jenseits der vorgefertigten Bilder und diesseits des unerreichbaren Abseits auszuschreiten, es gilt, ausgehend von dieser kritischen Beobachtung, Geschichtsbilder – zumal diejenige vom Konzentrationslager – zu dynamisieren.

1

W.G. Sebald, Austerlitz, München 2001, S. 105.

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Wollte man das »eingravierte Bild« des KZs auf einen Punkt bringen, könnte man das vielleicht in folgender Weise tun: Vorherrschend ist die Vorstellung vom KZ als einem hermetisch »abgeriegelten Kosmos«, eine Vorstellung, die vor nicht allzu langer Zeit von wissenschaftlicher Seite noch einmal stark durch Wolfgang Sofskys Ordnung des Terrors2 gestützt worden ist. Dieser »abgeriegelte Kosmos«, so könnte man hinzufügen, liegt irgendwo »abseits«, weit weg. Wenn die Überlebenden von der Deportation Zeugnis ablegen, dann wird darin in vielen Fällen die Vorstellung einer unendlich lang erscheinenden Fahrt unter extremen Bedingungen in ein weit abgelegenes unbekanntes Gebiet geweckt. Der »abgeriegelte Kosmos« wird schließlich als ein großes Gefängnis imaginiert. Inwiefern jedoch diese »erstarrten Bilder« die Wirklichkeit der Lager gänzlich verfehlen, legt Primo Levi in seinem Essayband I sommersi e i salvati (1986) dar, in dem er sich explizit mit den Stereotypen, von denen die Erinnerung an die Lager durchsetzt ist, auseinandersetzt. Levi ist sich dabei durchaus bewusst, dass diese Stereotypen – zum Beispiel die Vorstellung vom KZ als Gefängnis, aus dem man, wenn man nur schlau genug ist, entfliehen kann3 –

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Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993, vgl. v.a. S. 61 ff. Im Kapitel Stereotipi von I sommersi e i salvati setzt sich Levi explizit mit der irreführenden Vorstellung des KZ als Gefängnis auseinander. In seinen Ausführungen wird eine Ausdehnung des Terrors sinnfällig, die weit über die Grenzen des Raumes hinausgeht, den man gemeinhin mit dem Lager identifiziert. Er schreibt: »Questa immagine schematica della prigionia e dell’evasione assomiglia assai poco alla situazione dei campi di concentramento. Intendendo questo termine nel suo senso più vasto (includendo cioè, oltre ai campi di distruzione dal nome universalmente noto anche i moltissimi campi per prigionieri e internati militari), esistevano in Germania parecchi milioni di stranieri in condizione di schiavitù, affaticati, disprezzati, sottoalimentati, mal vestiti e mal curati, tagliati fuori dal contatto con la madrepatria. [...] Il caso particolare (ma numericamente imponente) degli ebrei era il più tragico. Anche ammettendo che fossero riusciti a superare lo sbarramento di filo spinato e la griglia elettrificata, a sfuggire alle pattuglie, alla sorveglianza delle sentinelle armate di matragliatrice nelle torrette di guardia, ai cani addestrati alla caccia all’uomo: verso dove avrebbero potuto dirigersi? A chi chiedere ospitalità? Erano fuori mondo, uomini e donne d’aria. Non avevano più una patria (erano stati privati dalla cittadinanza d’origine) né una casa, sequestrata a favoro a dei cittadini a pieno titolo.« [Dieses schematische Bild vom Gefängnis und der Flucht hat mit der Realität des Konzentrationslagers wenig zu tun. Versteht man letzteren Begriff im weiten Sinne (rechnet darunter also nicht nur die allseits bekannten Vernichtungslager, sondern auch die unzähligen Gefangenen- und Kriegsgefangenenlager), so muss man davon ausgehen, dass in Deutschland mehrere Millionen Ausländer in einer Art Sklaverei lebten: erschöpft, erniedrigt, unterernährt, notdürftig gekleidet und radikal von ihrem Mutterland abgeschnitten. Der besondere (und zahlenmäßig überwiegende) Fall der Juden war am tragischsten. Selbst wenn es den Juden gelungen wäre, den Stacheldraht und den Elektrozaun zu überwinden, den bewaffneten Wachen, den auf Menschen abgerichteten Hunden zu entkommen: Wo hätten sie hingehen sollen? Wen hätten sie

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nicht einfach beseitigt werden können, sondern selbst eine Folge der Verwundung, sprich Traumatisierung ist, von der das Gedächtnis der Überlebenden und auch das Gedächtnis der Nachwelt überhaupt in irreparabler Form gezeichnet ist: Die Erinnerung an das Lager, das heißt seine sprachliche und bildliche Repräsentation ist mithin notwendigerweise verfälscht.4 Bezeichnend ist, dass Levi selbst immer wieder gezwungen ist, auf stereotype Formen der Zeugenschaft zurückzugreifen. So wird er von einer Schulklasse aufgefordert, das Lager an der Tafel zu skizzieren, mitsamt Wachtürmen, Toren, Zäunen und Elektrozentrale. Er tut dies mit Unbehagen. Ein Schüler erklärt ihm daraufhin anhand der Zeichnung, wie er aus dem Lager hätte entkommen können. Levi schildert diese Szene ausführlich und zieht den Schluss, dass sich der Abstand zwischen den Tatsachen und dem Bild, das in Büchern, Filmen und Erzählungen gegeben wird, zunehmend vergrößert.5 Die Entfernung der Lager, ihr »Abseits« ist mithin nicht so sehr räumlich, sondern vielmehr mental bzw. sprachlich zu verstehen. Inwiefern diese beiden Ebenen miteinander konvergieren, wird deutlich, wenn man sich die sprachlichen Verschleierungstaktiken der Nationalsozialisten vor Augen hält. Anstelle von »Deportation nach Auschwitz, Birkenau oder Treblinka« sprechen sie von »Abwanderungen«, »Evakuierungen in den Osten«.6 Darum impliziert ein Heranrücken der Lager an unsere Gegenwart immer auch eine Arbeit an der Sprache und an den Bildern, in denen sich das Lager in unserem Bewusstsein ausgeprägt hat. In diesem Sinne meint die Transformation der Lager das Eingehen des Lagers ins Bild, sein Erstarren im Bild; dann die Verwandlungen dieses Bildes, die wiederum auf zwei Ebenen beobachtbar sind: einerseits als beharrliches Insistieren des erstarrten

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5 6

um Gastfreundschaft bitten können? Sie waren außerhalb der Welt, Luftmenschen. Sie hatten kein Vaterland mehr und waren ihrer Staatsangehörigkeit beraubt, ihre Häuser waren enteignet zugunsten von Bürgern mit vollen Rechten.] Primo Levi, I sommersi e i salvati, Torino 1986, S. 124 f., Übersetzung der Autorin. Vgl. das Kapitel La memoria dell’offesa [Das Erinnern der Wunde] im selben Essayband. Levi spricht hier von der Verfälschung der Erinnerung durch Traumata im Sinne einer Verletzung des Gedächtnisses. Doch auch wenn das Gedächtnis trainiert wird, »sich die Erinnerung frisch und lebendig hält, dann besteht die Gefahr, dass eine Erinnerung allzu oft heraufbeschworen wird und in der Erzählung zu einem Stereotyp erstarrt« (vgl. Levi, I sommersi e i salvati, S. 13 f.). Vgl. ebd., S. 128. Vgl. H. G. Adler, Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1955, S. 61.

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Bildes einer Art Wiederholungszwang zufolge, andererseits als kritische Arbeit an diesem Bild, als Versuch, erstarrte Repräsentationen aufzubrechen und zu dynamisieren. So wie sich das unerreichbare, abseitige Unbewusste unvermutet im Hier und Jetzt einer sprachlichen Fehlleistung manifestieren kann, so erscheint zuweilen auch die weit abgelegene Lagerwirklichkeit ganz nah, beispielsweise auch inmitten unserer Städte, in denen wir heute leben und arbeiten. Dieser Tatbestand wird in jüngster Zeit verstärkt von Seiten der Geschichtswissenschaft erforscht.7 Dass es so lange gedauert hat, bis der wissenschaftliche Blick auf diese unheimliche Nähe treffen konnte, dürfte unter anderem auch auf die sprachliche Verschleierung, die die nationalsozialistischen Lager von Anfang an umgeben hat und von der sowohl die Zeugenschaften als auch die Wissenschaft gezeichnet bleiben, zurückzuführen sein. Die sprachlichen Konventionen, die vom Vernichtungsgeschehen selbst untrennbar sind, haben es ermöglicht, dass sich die mentalen Widerstände gegen ein Erkennen der nicht nur räumlich ausgedehnten, sondern auch der die Begriffe selbst überschreitenden Vernichtung lange aufrecht erhalten konnten und dies bis auf weiteres auch noch tun. Die in der jüngsten Geschichtsforschung beobachtbare Verlagerung des Blicks auf die vielschichtigen Verschränkungen zwischen der Lagerrealität und dem zivilen Lebensbereich darf als Arbeit an diesen mentalen Widerständen gewertet werden. Im besonderen Maße haben aber nicht zuletzt literarische Werke zur Dynamisierung erstarrter Bilder des Lagers beigetragen.8 In noch zu geringem Maße kommunizieren allerdings die unterschiedlichen Diskurssysteme – Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Zeug/innenberichte, literarische Texte – miteinander. Dies hat nicht zuletzt auch mit der Art zu tun, wie sich unser Wissen weiterhin in einem engen disziplinären Rahmen artikuliert und fortentwickelt. In gleichsam paradigmatischer Weise wird diese disziplinäre Ordnung, die sich entschieden gegen eine inter- und transdisziplinäre

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8

Vgl. die geschichtswissenschaftlichen Beiträge in diesem Band, v.a. von Karsten Wilke und Claus Kröger über das Lager Wewelsburg; des Weiteren die sehr lesenswerte Studie von Jens Schley, Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Weimar/Wien 1999. Insbesondere seien hier die Beiträge von Primo Levi, Imre Kertész, Charlotte Delbo, Jorge Semprun, Tadeusz Borowski und Ruth Klüger genannt, da in ihnen nicht nur Zeugnis von der Lagerrealität abgelegt wird, sondern zugleich die Darstellungsmodi problematisiert werden.

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Abb. 1: Die Französische Nationalbibliothek, im Südosten von Paris, Architekt Dominique Perrault. Foto: Alain Goustard/BnF, Copyright ADAGP, 2010.

Arbeitsweise stellt, durch die neue Französische Nationalbibliothek in Paris, um die es im Folgenden gehen wird, repräsentiert. Dort unterteilt sich »toute la mémoire du monde« (das ganze Gedächtnis der Welt)9 in vier Bereiche, nach denen auch die vier aufgeklappten Büchertürme benannt sind, die das Wahrzeichen dieser Bibliothek darstellen: Tour du temps [Turm der Zeit], Tour des lois [Turm der Gesetze], Tour des nombres [Turm der Zahlen], Tour des lettres [Turm der Buchstaben]. Das ganze Wissen der Welt, so der Anspruch, ist hier aufbewahrt, aber räumlich und systematisch derart voneinander getrennt, dass die Arbeitsweise der Bibliotheksbesucher/innen davon nicht unbeeinträchtigt bleibt. So ist es den Leser/innen untersagt, ein Buch aus dem Turm der Zeit in den Bereich der Buchstaben zu tragen, es erfordert gleichsam eine institutionelle Transgression, die Zahlen mit den Gesetzen, die Gesetze mit der Zeit und den Buchstaben zu verbinden.

Eine Bibliothek, wo einst ein Lager stand In der 1995 feierlich eingeweihten und 1998 für das Publikum eröffneten Französischen Nationalbibliothek konkretisiert sich etwas von 9

So der Titel eines Dokumentarfilms von Alain Resnais aus dem Jahre 1956 über die alte Nationalbibliothek in der Rue Richelieu.

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dem, was im Eingangszitat als »Abseits der Geschichte« bezeichnet wird: »Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.«10

Ein Lager wird dort lokalisiert, wo zwischenzeitlich »Ödland«, gleichsam ein »Nichts« war, das dazu aufruft, gefüllt und genutzt zu werden, zumal in einem dichten Stadtraum, wie ihn Paris darstellt. Das »Ödland« ist aber nur eine Zwischenschicht, sie hat sich zwischen das Lager und die Bibliothek geschoben. Sie hält die beiden Realitäten auseinander, dort wo diese direkt aufeinanderzustoßen drohen. Der literarische Satz führt unterdessen zusammen, was an keiner Stelle an diesem Ort heute reflektiert wird.11 Der Satz entspringt also aus einer Reihe von vorgenommenen Verschiebungen und Verdichtungen. Er provoziert darüber hinaus eine weitere Verschiebung, und zwar in der Vorstellung der Leser/innen, die mit der offiziellen Geschichte der Lager Frankreichs einigermaßen vertraut sind, insofern nun neben das bekannte, nördlich von Paris gelegene Lager Drancy ein weiteres, weitgehend unbekanntes Lager tritt. Mit einem Mal rückt die Vorstellung vom Lager in den Kernbereich der Stadt Paris, intra muros; und umgekehrt wird Paris intra muros durch das Lager heimgesucht.12 Was in diesem fiktionalen Satz – also einem Satz, der in einem fiktionalen Text steht, deswegen aber noch kein fiktiver Satz ist – ausgesagt

10 Sebald, Austerlitz, S. 403. 11 Auf dem Barackengelände befand sich, noch ehe die Bibliothek gebaut wurde, eine Gedenktafel, die an die Internierung von Tausenden von Opfern des Nationalsozialismus erinnerte (vgl. Alexander Smoltczyk, Die Türme des Schweigens, in: Zeitmagazin, 24.1.1997, S. 11-18). Sie wurde während der Bauarbeiten entfernt, allerdings von mir noch 2002 als Kopie an einem Bauzaun gesichtet. Auf der Kopie formuliert die Stadt Paris das Versprechen, dass nach Abschluss der Arbeiten die Plakette an geeigneter Stelle wieder angebracht werden würde. Dies ist, soweit mir bekannt ist, nicht geschehen. 12 Vgl. Serge Klarsfeld, Le calendrier de la persécution des Juifs de France 1940-1944, Paris, Association Les fils et les filles des Déportés Juifs de France, The Beate Klarsfeld Foundation 1993, S. 450 ff. und S. 849 ff. Hier findet sich (relativ wenig) Zeugenmaterial zu den Außenlagern von Drancy im Stadtbereich von Paris versammelt. Die historiografische Studie von Jean-Marc Dreyfus und Sarah Gensburger, Des camps dans Paris. Austerlitz, Lévitan, Bassano juillet 1943-août 1944, Paris 2003 arbeitet speziell zu den Lagern innerhalb von Paris. Die Autor/innen gehen jedoch nicht auf die spezifische Überlagerung zwischen Camp d’Austerlitz und Nationalbliothek ein.

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wird, geht auf einen nicht fiktionalen Text zurück, genauer auf den Zeitungsartikel Die Türme des Schweigens, den der Journalist Alexander Smoltczyk im Winter 1997 in einem Zeitmagazin veröffentlicht hat.13 Dort steht: »Vor einem Monat wurde mit großem Pomp die neue französische Nationalbibliothek eröffnet. Der Bauplatz sei Ödland gewesen, heißt es. In Wahrheit steht Europas größte Wissenssammlung an einem Ort der Barbarei: Schon 1943 wurden hier Bibliotheken aus jüdischem Privatbesitz konzentriert. Doch darüber spricht man nicht.«14

Und weiter: »Im November 1943 eröffnete die SS auf dem Eisenbahngelände Tolbiac das Camp d’Austerlitz. Es war eine Nebenstelle des Konzentrationslagers Drancy im Pariser Nordosten. [...] In unmittelbarer Nähe des heutigen Bibliotheksgeländes, am Quai de la Gare Nr. 43, wurde bis August 1944 von im Nazijargon Halb- oder mit Ariern verheirateten Juden Beutegut aus jüdischen Haushalten sortiert, um in die ausgebombten Städte des Reichs gebracht zu werden.«15

Der gut recherchierte Zeitungsartikel hat kaum ein weiteres Echo erfahren. Smoltczyk ist allerdings nicht der Erste, der auf diesen Zusammenhang aufmerksam geworden ist. Er bezieht sich unter anderem auf Künstler/innen, die in den an die Bibliothek angrenzenden ehemaligen Kühllagern der Stadt, den sogenannten frigos, illegal wohnen und selbst seit Jahren – ohne Erfolg – versuchen, ein Bewusstsein für die unerhörte Koinzidenz zu schaffen, dass genau dort, wo sich heute das einschlägige Symbol kulturellen und nationalen Gedächtnisses, sprich die neue Nationalbibliothek, befindet, einst ein Außenlager des KZ Drancy stand. In das kulturelle und nationale Gedächtnis ist diese Überlagerung (noch) nicht gedrungen; sie wird, wenn überhaupt, stets nur punktuell ans Licht gebracht, worauf dann aber – um mit Freud zu sprechen – keine »adäquate Reaktion«16 erfolgt, als sei dieses Faktum in gewisser Weise bewusstseinsresistent. Man könnte auch die Hypothese aufstellen: Weil das Faktum bewusstseinsresistent und 13 14 15 16

Smoltczyk, Die Türme des Schweigens. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. Sigmund Freud/Josef Breuer, Studien über Hysterie [1895], Frankfurt/M. 1991, S. 32. Im einleitenden Kapitel dieses die moderne Psychoanalyse begründenden Textes finden sich grundlegende Überlegungen zu Gedächtnis und Trauma, die – wie auch Überlegungen aus Freuds Traumdeutung sowie seinen sogenannten linguistischen Studien (siehe dazu weiter unten) – mal mehr, mal weniger explizit in die hier entwickelten Überlegungen eingegangen sind.

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Abb. 2: Die Französische Nationalbibliothek, im Südosten von Paris, Architekt Dominique Perrault. Foto: Alain Goustard/BnF, Copyright ADAGP, 2010.

nicht in das kulturelle Gedächtnis integrierbar ist, wird es in einem literarischen Text manifest. Dort eingelagert, partizipiert es am kulturellen Gedächtnis, ohne die Symbolik, welche die architektonische Gestaltung der Bibliothek beabsichtigt, zu stören. Es liegt mithin eine Art Kompromiss vor, wie er typisch ist als Ergebnis von Verdichtung und Verschiebung.17 Eine Kompromissbildung nicht nur auf institutioneller, sondern auch auf unmittelbar sprachlicher Ebene lässt sich nun durch eine Analyse derjenigen öffentlichen Diskurse aufweisen, welche die Bibliothek zum Thema haben. An erster Stelle seien hier Aussagen des Architekten Dominique Perrault über sein Bauwerk zitiert: »Es gibt einen Satz, der das Projekt sehr gut auf den Punkt bringt: ›ein Platz für Paris, eine Bibliothek für Frankreich‹. Unsere Pläne machten deutlich, inwiefern alle Pariser Monumente entlang der Seine von einer großen Leere umgeben sind: das Marsfeld, der Invalidendom, die Tuilerien, der Jardin des Plantes. Dieser Bezug erlaubte es uns, Paris auch im Osten durch die Gestaltung großer öffentlicher Einrichtungen bzw. großer Parks wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Bislang stellte das Finanzministerium eine Art

17 Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt/M. 1972, S. 571 ff.

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Grenze dar, die, einmal überwunden, den Eindruck vermittelte, dass man nicht mehr in Paris sei. Wir wollten hingegen Paris bis zur Umgehungsstraße ausdehnen. [...] Die vier aufgeschlagenen Bücher sollten ein klares Zeichen setzen. Sie sollten eine Art mnemotechnisches Mittel sein, um die Bibliothek innerhalb der Stadt zu identifizieren und zu situieren. Darüber hinaus sind andere, weniger direkte, widersprüchlichere Lesarten dieses Zeichens möglich. [...] Der zentrale Garten ist das grundlegende Element des Projektes geblieben. Die Bäume machen die Bibliothek zu einem zeitlosen Ort mit universellen Bezügen. [...] Ich habe versucht, in der Bibliothek Emotionen zu erwecken, die gebaut sind auf den Paradoxen von Präsenz und Absenz, Monumentalem und Humanem, Opakem und Transparentem, dem Eindruck, in Paris und zugleich nicht in Paris zu sein. [...] Die Architektur dieser Bibliothek besteht aus den abstrakten Materialien Leere und Stille. [...] Dieses Bauwerk legt den Grundstein für den Osten von Paris. Es wird nicht alleine dastehen. Es ist vielmehr ein Ort, der entdeckt und gelebt werden muss, um verstanden zu werden. Die Virtualität dieses Raumes trägt den Begriff der Abstraktion in die Architektur. Auf der Fußgängeresplanade, die durch die vier Ecktürme und die Ränder des zentralen Gartens begrenzt ist, erhalten die Systeme der Abwesenheit, der Umkehrung und der Rahmung eine ganz andere Evidenz. [...] Die Architektur ist der Seismograph unserer Epoche und spiegelt unsere Kultur.«18

Das lange Zitat macht deutlich: Die hier zum Einsatz gebrachte Rhetorik möchte die Leser/innen für eine Sache gewinnen, an der sie offensichtlich Zweifel haben könnten. Will die Rede auf den ersten Blick davon überzeugen, dass hier ein Bauwerk entsteht, welches nicht nur prestigeträchtig ist, sondern darüber hinaus die Idee der Kulturnation Frankreich in einen diesbezüglich bislang unterentwickelten Stadtraum von Paris trägt und dort zu einer »rédemption du lieu«19 (einer Heilung des Ortes) wirksam beiträgt, so verkehrt derselbe Diskurs seine Vorzeichen, wenn wir ihm das Faktum der Überlagerung von Lager und Bibliothek, von dem der Diskurs selbst nichts weiß, voranstellen. Die Schlüsselbegriffe »le vide« (Leere), »le silence« (Stille), »l’absence« (Abwesenheit), »l’inversion« (Umkehrung), »être ou ne pas être à Paris« (in Paris sein oder nicht sein) legen – folgt man Perraults in kunstkritischer Selbstherrlichkeit eingestreuten Aufforderungen zur Erschließung weiterer, widersprüchlicherer Bedeutungsebenen der

18 Interview mit Dominique Perrault, in: Bibliothèque nationale de France 1989-1995. Dominique Perrault, architecte, Paris 1995, S. 49 ff., Übersetzung der Autorin. 19 Dominique Perrault, Un monument pour l’est parisien, in: Vis à vis, Nr. 2, numéro spéciale, la BnF o.J., o.P.

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architektonischen Symbolik – ein Konnotationsfeld offen, welches auf das verweist, was hier gerade nicht genannt wird. So wird hier wohlgemerkt nicht auf die historische Realität des Camp d’Austerlitz verwiesen, des Außenlagers von Drancy, in dem ab Juli 1943 das Raubgut der deportierten jüdischen Bevölkerung von Paris repariert, aufpoliert und für den Versand in die deutschen Städte vorbereitet und verpackt wurde,20 vielmehr scheint im Diskurs die Vorstellung von einem Lager als eine Art Vexierbild auf. Ähnliches lässt sich in den Diskursen der Kritiker/innen der Bibliothek beobachten. Zitiert wird diesmal aus der renommierten Zeitschrift Le Débat, in der 1999/2000 eine heftige Polemik gegen den Pariser Prestigebau ausgetragen wurde. Aus Sicht der Beiträge handelt es sich bei der neuen Nationalbibliothek – zitiert seien hier die Schlüsselworte – um eine »honte nationale« (nationale Schande), ein »délire pharaonique« (pharaonisches Delirium), ein »héritage encombrant« (schweres Erbe), eine »humiliation nationale« (nationale Demütigung), eine »bibliothèque maudite« (verdammte Bibliothek), ein »tombeau pour le livre« (Grab für das Buch), eine »malédiction« (Verfluchung), eine »catastrophe«.21 Der französische Historiker Pierre Nora, der für sein in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickeltes Konzept des lieu de mémoire bekannt geworden ist, war einer der Protagonisten in diesem Generalangriff gegen die Bibliothek. Einer seiner in diesem Kontext entstandenen Essays ist überschrieben mit dem Titel Retour sur les lieux du crime (Rückkehr an die Orte des Verbrechens). Doch wer erwartet, in diesem Text Überlegungen zur Problematik des Ortes mit seiner Geschichte als Ort eines ehemaligen NS-Lagers zu finden, wird enttäuscht: Ohne je auf die frühere Präsenz eines Lagers am Ort der Bibliothek einzugehen, entwirft Nora ein dämonisches Lagerbild der Bibliothek: »Die Unglücksgeschichte der B.N.F. [...] ist bekannt. Leider ist abzusehen, dass sich die Einrichtung nicht so schnell von ihren anfänglichen Widersprüchen und ihrer grundsätzlichen Fehlkonstruktion erholen wird. [...] Jetzt entdecken wir ihre Geburtsfehler. [...] Der grundlegende Fehler liegt im Projekt selbst. Ein gesunder Menschenverstand hätte dafür gesorgt, dass die Bibliothek über einen zentralen Lesesaal verfügt, auf den hin die Buchbestände ausgerichtet sind. Stattdessen haben wir eine sechs Hektar große leere Fläche,

20 Vgl. Dreyfus/Gensburger, Les camps dans Paris, S. 93-160. 21 Vgl. die Dossiers zur Bibliothèque nationale de France in Le Débat, 105 (1999), S. 118-175 sowie Le Débat, 109 (2000), S. 100-137.

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auf der Bäume stehen, was den Bau von unterirdischen Magazinen verunmöglicht. Darüber hinaus haben wir ein unnützes Rechteck mit etwa 300 Meter langen Seiten, das durch vier Ecktürme begrenzt ist, was zu ununterbrochenen und erschöpfenden Wegstrecken zwingt. Der Eindruck überwiegt, dass hier ein perverses Programm methodisch verfolgt und hartnäckig umgesetzt worden ist. Nehmen wir zum Beispiel die Treppe: Man erklimmt sie in ihrer unnützen Herrlichkeit doch nur, um daraufhin wieder über einen schwindelerregenden Rollteppich in eine Art Brunnen hinabzusteigen. Diese Art des Kontrastes und des Missverhältnisses lässt sich in allen wesentlichen Aspekten der Bibliothek nachweisen. Enge, Luftzüge, brutale Architektur, unmöglich angeordnete Arbeitsplätze [...], unzureichende Beleuchtung, Zerstückelung der Arbeitsabläufe, aufgrund von Sparmaßnahmen begrenzter Raum. Derselbe Widerspruch besteht zwischen den unendlich langen Gängen und den metallischen Luftschleusen, in denen man sich wie ein Häftling fühlt, den über 10.000 Gefängnistüren, die bewirken, dass man der Agoraphobie nur entkommt, um in die Klaustrophobie zu fallen.«22

Man könnte hier zahllose Erfahrungsberichte von Bibliotheksbesucher/innen anschließen. Überall insistiert ein Vokabular, das angesichts einer Reihe von technischen Mängeln und baulichen Ungeschicklichkeiten inadäquat erscheinen muss. Die Überdeterminiertheit der Worte mag eine rationale Erklärung in der Diskrepanz zwischen dem extrem hohen Anspruch, mit dem das Projekt behaftet ist, einerseits und seiner mangelhaften Ausführung andererseits haben. Nichtsdestoweniger bleibt festzustellen, dass die Worte, mit denen diese Diskrepanz zum Ausdruck gebracht wird, ein semantisches Potential mit sich tragen, in dem phantasmagorisch immer wieder das stereotype Bild eines Lagers aufscheint.

Phantasma – Trauma – Ausnahme Aus psychoanalytischer Perspektive bildet sich ein Phantasma anstelle einer Erinnerung aus, und zwar dann, wenn die Erinnerung im Sinne eines unabschließbaren, dynamischen Prozesses durch ein Bild abgelöst wird, welches vorgibt, ein Ereignis als in sich abgeschlossenes und vergangenes zu repräsentieren. Die zeitliche Abgeschlossenheit verbildlicht sich im Falle des Lagers durch die Darstellung räumlicher Abgeschlossenheit. Doch allein die Tatsache, dass sich das so geschlos-

22 Pierre Nora, Retour sur les lieux du crime, in: Le Débat, 105 (1999), S. 118-121, Übersetzung der Autorin.

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sene Bild, das Bild von vier Wachtürmen und Stacheldraht, das Levi noch an die Schultafel malen musste, ohne weiteres in den unterschiedlichen Schilderungen der Bibliothek wiederfinden lässt, zeugt von der Tatsache, dass wir es gerade mit etwas nicht Abgeschlossenem in der Geschichte zu tun haben. Denn das stereotype Bild erweist sich genau dann als Phantasma, wenn es an ungeeigneter Stelle und unbewusst in die Gegenwart einer Aussage drängt, die offensichtlich einen ganz anderen Referenzbereich anstrebt. Nun bilden sich Phantasmen bevorzugt angesichts traumatisierender Ereignisse aus. Traumatisierende Ereignisse sind solche, die im schockhaften Zusammentreffen mit einer Psyche diese derart verletzen, dass sie nicht mehr in der Lage ist, adäquat auf das Ereignis zu reagieren. Das Aussetzen adäquater Reaktion zum Zeitpunkt des Geschehens – aber auch späterhin – kann unterschiedliche Ursachen haben. Neben dem zeitlichen Aspekt des Schockhaften führt Freud weitere mögliche Gründe an, wie zum Beispiel Scham, gesellschaftliche Tabuisierung oder auch die absichtliche Unterdrückung eines peinlichen Gedankens.23 Das Phantasma, das sich anstelle von Erinnerung ausbildet, wandert – einem Gespenst gleich, nach dem es ja benannt ist – von einem Ort zum anderen und bleibt dort jeweils ungreifbar. Als Gespenst bildet es einen Fremdkörper, der zwar in kein Bild integrierbar, aber an der Ausbildung von Bildern, sprich: an Repräsentationen, maßgeblich beteiligt ist. Wenn Freud zusammen mit Breuer in den frühen Studien zur Hysterie schreibt, dass das Trauma ein »Fremdkörper« sei, der in »Ausnahmsstellung« zur Psyche stehe,24 dann gibt uns dies einen weiteren Hinweis darauf, in welchem Verhältnis man das Lager zur Bibliothek denken sollte. Eben nicht im Sinne eines Abbildungs- oder Ähnlichkeitsverhältnisses (die Bibliothek als unbeabsichtigt ikonisches Zeichen25 des Lagers), das heißt nicht im Sinne einer Äquivalenz, einer Gleichung, sondern im Sinne eines Ausnahmeverhältnisses. Was aber impliziert dies genau? Die Ausnahme bedeutet eine vorübergehende Suspension bestehender gesetzlicher oder allgemein institutioneller Gegebenheiten unter prinzipieller Beibehaltung derselben. Die Suspension meint

23 Vgl. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips [1920], Studienausgabe Bd. III, S. 223. 24 Vgl. Freud/Breuer, Studien zur Hysterie, S. 34. 25 Ikonische Zeichen [icon] sind nach Pierce solche, die durch eine Ähnlichkeitsbeziehung auf ihr Objekt verweisen, vgl. Charles S. Pierce, Collected Papers [1932], Bd. 2: Elements of Logic, hg. von C. Hartshorne und P. Weiss, Cambridge, Mass. 1965, S. 129-173.

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also keine Aufhebung der Gegebenheiten, sondern paradoxerweise zugleich deren Bestätigung. In der Ausnahme kommen mithin zwei sich widersprechende Wirklichkeiten gleichzeitig zur Geltung, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Im Schatten der Norm tendiert die Ausnahme dazu, ihre eigene Normalität auszubilden: Sie wird so zur Regel, zur dauerhaften Einrichtung. Giorgio Agamben hat diese Dialektik, wie sie vor allem im juristisch-politischen Denken Carl Schmitts ausgeprägt ist, für die räumlich-politische Bestimmung des Lagers fruchtbar gemacht.26 Für die Einrichtung von Lagern benötigten die Nationalsozialisten in der Tat keine Änderung der bestehenden Rechtslage; vielmehr sind die Lager unter geltendem Recht – mit Berufung auf die im Preußischen Landrecht verankerte, im Ausnahmefalle anzuwendende »Schutzhaft« – eingeführt worden. »Das Lager« – so spitzt Agamben zu – »ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.«27 Dem könnte man aus sprachtheoretischer Perspektive hinzufügen: Zur Regel konnte das Lager auch werden, weil es von Anfang an sprachlich normalisiert worden ist. Eine ebensolche Dialektik zwischen Norm und Ausnahme scheint auch das Verhältnis von Psyche und Trauma zu beherrschen. Dies suggeriert jedenfalls das Wort von der »Ausnahmsstellung« des Traumas. Das Trauma erschiene so als das Ereignis, welches das Bewusstsein suspendiert und zugleich bestätigt, während es sich in dessen Schatten als – ungreifbare – Regel etabliert. Man könnte vor diesem Hintergrund die Hypothese aufstellen, dass die juristisch-politischen Bedingungen für die Ausprägung des Lagers den Bedingungen seiner Versprachlichung bzw. Erinnerbarkeit entsprechen. Das würde zunächst ermöglichen, den Bruch, den Levi zwischen den Tatsachen und deren Repräsentationen feststellt und der sich zwangsläufig aus der Perspektive der Kontinuität ergibt, nicht mehr als unüberwindbare Differenz deuten zu müssen. Aus der Perspektive der Ausnahme erschiene dieser Bruch vielmehr als Konvergenzpunkt: Das Lager kann nicht erinnert bzw. repräsentiert werden, aber es dringt in andere Bilder ein, berührt dort andere Bilder, indem

26 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995 (dt.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002), v.a. Teil III, Kap. 7 Il campo come nomos del moderno, S. 185-201, dt. S. 175-189. 27 Ebd., S. 177 (»Il campo è lo spazio che si apre quando lo stato di eccezione comincia a diventare la regola«, S. 188).

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es diese in ihrer Repräsentation aussetzt. Indem es die Darstellung oder Erinnerung von Anderem durchkreuzt bzw. auseinanderreißt, scheint es ex negativo auf: in Bruchlinien, in Störungen, im untergründigen Rauschen des Diskurses oder auch in architektonischen Fehlleistungen. Man wird dabei nicht so sehr des Lagers habhaft, dafür aber einer Verwandlung der Bibliothek, die hier mit dem Lager in Berührung gekommen ist, in eine störanfällige Institution. Das gepriesene Symbol des kulturellen Gedächtnisses einer Nation scheint immer wieder für Momente als ein traumatisierter Gedächtnisraum auf: als ein Gedächtnis, das nicht funktioniert; und als ein Raum, der befremdet. Als ein Gedächtnis, das Erinnerungen verfälscht, das vergisst, wobei das Vergessen im Wesentlichen dem Auseinanderreißen von Zusammenhängen geschuldet ist und weniger der Unterdrückung von Inhalten; und als ein Raum, in dem sich die Leser/innen nicht zurecht finden und das Ungenügen des Gedächtnisses als physische Beklemmung zu spüren bekommen.

Phantasma und literarischer Text Die These ist, dass in den Diskursen über die Französische Nationalbibliothek das Phantasma eines Lagers insistiert. Nun würde ein rationaler Diskurs dem entgegenhalten, dass dieses Phantasma nur dann aufscheint, wenn es auf Leser/innen trifft, die um die einstige Existenz eines Lagers am selben Ort wissen; dass das Phantasma also nicht den analysierten Diskursen angehört, sondern der Vorstellungswelt der Leser/innen geschuldet ist, die es in die Diskurse projizieren. Es geht nun aber nicht darum, das Phantasma jemandem zuzuschieben wie eine Schuld. Vielmehr interessiert das Aufscheinen des Phantasmas als Moment des Zusammentreffens zwischen Text und Leser/innen. Und hier nun ist entscheidend, nicht sogleich das, was zusammentrifft – sprich Lager und Bibliothek, Text und Leser/innen – wieder feinsäuberlich auseinanderzudividieren. Denn genau diese rationale Operation bringt das Phantasma zum Verschwinden, ehe es überhaupt genauer in Augenschein genommen werden konnte. Die Herausforderung besteht also darin, das Phantasma aus seiner unbewussten Struktur herauszuheben, ohne es zum Verschwinden zu bringen. Ein Weg in diese Richtung ist seine literarische Bearbeitung, seine Verwandlung ins poetologische Prinzip. Genau darin sehe ich

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die Leistung der literarischen Bearbeitung des Motivs in Sebalds Austerlitz. In diesem Roman begibt sich der gleichnamige Protagonist auf die Suche nach seinem, zusammen mit seinen Eltern verloren gegangenen, Gedächtnis. Seine Suche vollzieht sich lange unbewusst, was dazu führt, dass sich auf der Erzählebene in beinah jede Gegenwart, die Austerlitz durchquert, die Vernichtung als Phantasma gleichsam kryptisch einschreibt – bis hin zum Eigennamen von Jacques Austerlitz selbst, in dem lautlich der geläufige Name für das Vernichtungssystem der Nationalsozialisten stets mitschwingt. Dieses die Sprache alterierende Phantasma verhindert die Erinnerung, lässt sie zugleich aber als absolut notwendige erkennen. Aus eben dieser Spannung heraus entwickelt sich der ganze Roman, und sie wird auch am Schluss nicht aufgehoben. Als Austerlitz’ Spurensuche nach Paris führt, interessiert von Paris beinah ausschließlich das Gelände zwischen der Nationalbibliothek und der nahe gelegenen Gare d’Austerlitz. Letztere aufgrund der Namensidentität mit dem Protagonisten, aber auch aufgrund der Tatsache, dass von hier die Deportationszüge der Pariser Juden und Jüdinnen ihren Ausgang nahmen. Bezeichnenderweise geht Austerlitz’ Erkundung der Französischen Nationalbibliothek ein psychischer Zusammenbruch voraus, der seine Einlieferung in die durch Jean Charcot berühmt gewordene Psychiatrie der Salpêtrière zur Folge hat, die sich genau zwischen der Bibliothek und der Gare d’Austerlitz befindet. Die vertikale Lektüre des Ortes, welche die Schichtung Bibliothek, Ödland, Lager zu Tage fördert, wird hier also von einer horizontalen Lektüre des Raumes durchkreuzt, die einer virtuellen Achse der Kontinguität folgend die Reihe Bibliothek, Psychiatrie, Bahnhof/Deportation hervorbringt. Durch die Psychiatrie bringt der Roman das Pathologische in Anschlag, ja, es erscheint hier gleichsam als notwendiges Moment, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, die im Namen des »Ödlandes« längst getilgt worden sind. Was nach Austerlitz’ Psychiatrieaufenthalt über die Bibliothek gesagt wird, ist jedoch nichts anderes, als das, was auch in den nichtliterarischen und nicht als pathologisch gekennzeichneten Diskursen von Perrault und Nora zum Ausdruck kommt. Die Bibliothek liege, so heißt es im Roman, im »desolaten Niemandsland«, in der »äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution« sei sie »menschenabweisend und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kom-

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promisslos entgegensetzt«.28 Weitere Syntagmen, die das Phantasma in sich bergen, seien hier angeführt: Die steilen Stufen zu erklimmen, sei »nicht ganz gefahrlos« und die Esplanade erscheine wie ein »gänzlich ungeschützter Plan, über den der Wind den Regen treibt«; es ist vom »leeren Raum« die Rede, vom »babylonischen Eindruck«, den das Gebäude erwecke. Leser/innen müssten sich, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen, einem »Abwärtstransport« anvertrauen, nachdem sie eben erst mit viel Mühe hinaufgestiegen seien auf das Plateau. Weiter heißt es: »Die Fahrt nach unten endete für Austerlitz vor einer provisorisch wirkenden [...] mit einer Vorhängekette verschlossenen Schiebetüre, an der man sich von halbuniformierten Sicherheitsleuten durchsuchen lassen musste.«29 Die Bäume in dem durch das Rechteck eingeschlossenen Garten werden als »im Exil« sich befindend bezeichnet.30 Sie bilden zusammen mit den großen Fensterfronten des Lesesaals eine tödliche Falle für die Vögel, die sich hier niederlassen wollen: »Mehrfach sei es auch vorgekommen, sagt Austerlitz, daß Vögel, die sich in den Bibliothekswald verirrten, in die in den Glasscheiben des Lesesaals sich spiegelnden Bäume hineingeflogen und, nach einem dumpfen Schlag, leblos zu Boden gestürzt sind.«31 Die hier zentralen semantischen Elemente »menschenabweisend«, »nicht ganz gefahrlos«, »leerer Raum«, »babylonisch«, »Abwärtstransport«, »Exil«, »dumpfer Schlag«, »leblos zu Boden stürzen«, »von niemanden vorhergesehene Unfälle«, »Todessturz« verweisen weniger auf die Bibliothek als auf den Raum, in dem Austerlitzens Eltern getötet worden sind. Zugleich aber erweist sich für Austerlitz die Bibliothek als völlig unbrauchbar bei der Suche nach den Spuren seines in Paris zuletzt gesehenen und dann verschollenen Vaters.32 Kurz darauf wird Austerlitz vom Bibliothekar Lemoine auf das sogenannte Belvedere der Bibliothek geführt, das sich im 18. Stockwerk der Tour des Lois befindet. Hier werden nun die historischen Schichten, auf denen die Bibliothek gebaut ist, zum Thema. Lemoines Diskurs beginnt mit den schon zitierten Worten:

28 29 30 31 32

Sebald, Austerlitz, S. 388. Ebd., S. 391. Ebd., S. 393. Ebd., S. 394. Vgl. ebd., S. 395.

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Abb. 3: Blick auf den zentralen Garten der Bibliothèque Nationale de France vom Belvedere aus. Foto: Judith Kasper, 2002.

»Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.«33

Während Lemoins ausführlichen Darlegungen geht schließlich die Sonne unter und vor Austerlitzens Augen reduziert sich die Bibliothek langsam auf ein – wie es heißt – »gleichmäßig schwarzes Geviert«.34 Dieses »Geviert«, zu dem die Bibliothek zuletzt zusammenschmilzt, meint zum einen den Abgrund, in den es den Protagonisten zieht; zum anderen ist mit dieser schwarzen Fläche auch das Ende des Bildes, das Ende der Repräsentationen und Projektionen angedeutet. Keine Wachtürme mehr, kein Stacheldraht, kein Tor, kein Fluchtweg. Das Phantasma zieht sich zurück, verdunkelt sich, die Empfindung, die sich einstellt, ist nun gegenstandslos. Man stelle sich vor, Levi hätte vor dreißig Paar Schüler/innenaugen eine schwarze Fläche auf die schwarze Schiefertafel gezeichnet. Oder aber: Er hätte seine stereotype Lagerskizze langsam wieder ausgewischt und den Schüler/innen das schwarze Geviert der Schiefertafel als letztes Bild gelassen. Im Akt dieses Zurücktretens des Bildes gewinnen die Fragen Kontur, all die 33 Ebd., S. 403. 34 Ebd., S. 405.

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Fragen, auf die die Bibliothek – »das Schatzhaus unseres gesamten Schrifterbes«35 wie es in Austerlitz heißt, keine Antworten gibt.

Literatur H. G. Adler, Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1955. Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995, dt. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. Bibliothèque nationale de France 1989-1995. Dominique Perrault, architecte, Paris 1995. Josef Breuer/Sigmund Freud, Studien über Hysterie [1895], Frankfurt/M. 1991. Jean-Marc Dreyfus/Sarah Gensburger, Des camps dans Paris. Austerlitz, Lévitan, Bassano juillet 1943-août 1944, Paris 2003. Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt/M. 1972. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips [1920], in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), Studienausgabe Bd. III, Frankfurt/M. 1982. Serge Klarsfeld, Le calendrier de la persécution des Juifs de France 1940-1944, Paris, Association Les fils et les filles des Déportés Juifs de France, The Beate Klarsfeld Foundation 1993. Jacques Lacan, L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud, in: ders., Ecrits I, Paris 1966. Le Débat, 105 (1999). Le Débat, 109 (2000). Primo Levi, I sommersi e i salvati, Torino 1986. Pierre Nora, Retour sur les lieux du crime, in: Le Débat, 105 (1999), S. 118-121. Dominique Perrault, Un monument pour l’est parisien, in: Vis à vis, Nr. 2, numéro spéciale, la BnF o.J. Charles S. Pierce, Collected Papers [1932], Bd. 2, hg. von C. Hartshorne und P. Weiss, Cambridge, Mass. 1965. Jens Schley, Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Weimar/Wien 1999. W.G. Sebald, Austerlitz, München 2001. Alexander Smoltczyk, Die Türme des Schweigens, in: Zeitmagazin, 24.1.1997, S. 11-18. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993.

35 Ebd., S. 395.

Kulturbaracken Kreative Räume in südfranzösischen Lagern C LAUDIA N ICKEL

Die Begriffe »kreativer Raum« und »Lager« scheinen auf den ersten Blick ein Gegensatzpaar. Häufig wird das Konzept des Lagers mit Schlagwörtern wie »Holocaust«, »massenhafte Tötung«, »Ausbeutung« assoziiert, was auf die Singularität und Ausprägung des nationalsozialistischen Systems der Konzentrations- und Vernichtungslager deutet. Topografisch betrachtet ist ein Lager jedoch zunächst ein architektonisch geschlossener Ort, in dem eine bestimmte Gruppe von Menschen von der übrigen Gesellschaft abgesondert wird. Die Ursachen und Gründe dafür sind ebenso vielfältig wie die Zielsetzungen dieses Ausschlusses, der zugleich ein Einschluss ist. Ein solcher Raum entwickelt seine eigenen spezifischen sozialen Dynamiken. Das Verhalten der Insassen, ihr Umgang mit dem Raum und der Zeit wird durch die Verwaltungsmacht festgelegt und kontrolliert.1 Andererseits reagieren auch die Internierten auf die Bedingungen der Umgebung. Raum ist nichts Gegebenes, nichts Feststehendes, sondern entsteht erst durch soziale und kulturelle Handlungen sowie Bewegungen, die sich vollziehen, entfalten und somit den Ort (lieu) zu Raum (espace) werden lassen, wie Michel de Certeau ausführt.2 Diese Praktiken belegen die Umgebung mit Sinn und Bedeutungen, die den Raum für die Subjekte begreifbar und beschreibbar machen. Häufig bemühen sich Internierte in totalen Institutionen um die Schaffung von Freiräumen, in denen sie der Kontrolle zumindest zeitweise entgehen können.3 Diese Freiräume können konkret physischer Art sein, weil sie an einen bestimmten Ort gebunden sind. Aber sie können auch symbolischen Charakter haben. Als Beispiele sei auf den

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Für das nationalsozialistische Konzentrationslager vgl. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 5. Aufl. 2004. Vgl. Michel de Certeau, L’invention du quotidien. 1. arts de faire [1980], Paris 2007. Zum Konzept der totalen Institutionen, zu denen auch das Lager zählt, vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 16. Aufl. 2008; zu den Freiräumen vgl. ebd., S. 220-238.

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Rückzug in die eigene Gedankenwelt oder das Rezitieren von Gedichten verwiesen. Es bilden sich kreative Räume heraus. Die sogenannten Kulturbaracken, die bereits in den ersten Monaten der Existenz der südfranzösischen Lager im Jahr 1939 entstanden, eröffneten Räume, die – obwohl in der Lagerwelt – zugleich auch außerhalb der Lagerwelt angesiedelt sind. Hier scheint das Lager nicht länger ein Ort der Internierung zu sein. Die folgenden Ausführungen möchten zeigen, dass das Lager Umdeutungen erfährt und in andere Räume transformiert wird. Die Betrachtung erfolgt in zwei Schritten: Zuerst liegt der Schwerpunkt auf dem konkreten Innenraum der Kulturbaracken und den kulturellen Aktivitäten in den Lagern. Daran schließt sich die Lektüre des einleitenden Artikels aus der spanischsprachigen Lagerzeitschrift Barraca an, in dem sich bereits Reflexionen über die Bedeutung der kulturellen und kreativen Tätigkeiten finden.

Die Entstehung der kulturellen Aktivitäten und der Kulturbaracken Bekannt ist die Existenz von Kulturbaracken bereits im Frühjahr 1939 zum Beispiel aus den Lagern Argelès-sur-Mer, Saint-Cyprien, Le Barcarès4 und Gurs.5 Es sind jene Lager, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine relativ homogene Struktur der Internierten aufwiesen, da die Mehrheit Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien waren. In einem Zeitraum von wenigen Tagen Ende Januar und Anfang Februar 1939 hatten ca. 470.000 Spanier in Frankreich Zuflucht gesucht. Überwältigt von der großen Anzahl der Flüchtlinge, die Frankreich als Bedrohung für die eigene Sicherheit empfand, wurden hastig Lager in der Pyrenäenregion und an den Stränden des Mittelmeers eingerichtet. In diesen Lagern fehlte es wochen- und zum Teil monatelang

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Diese drei Lager entstanden an den gleichnamigen Orten zwischen Ende Januar und März 1939 am Mittelmeer, um die Flüchtlinge aus Spanien aufzunehmen. Unter der Vichy-Regierung wurden diese Lager weiter verwendet. Saint-Cyprien wurde bereits im Herbst 1940 geschlossen, Argelès im Herbst 1941 und Le Barcarès 1942. Das Lager Gurs in den Pyrenäen (Département Basses-Pyrénées) wurde im März-April 1939 zur Aufnahme von Angehörigen der spanischen Armee und der Internationalen Brigaden errichtet. Es bestand bis zum 31.12.1945. In dieser Zeit erfüllte das Lager verschiedene Funktionen und mehr als 60.000 Menschen wurden hier interniert: Flüchtlinge aus Spanien, sogenannte »unerwünschte Ausländer«, Juden aus verschiedenen Ländern, aus anderen Gründen Verfolgte und nach der Befreiung Frankreichs deutsche Kriegsgefangene und französische Kollaborateure. Vgl. Claude Laharie, Le camp de Gurs: 1939-1945. Un aspect méconnu de l’histoire du Béarn, Pau 2. Aufl. 1989.

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an Unterkünften, sanitären Anlagen und ausreichender Versorgung. Angesichts dieser Situation bauten die Flüchtlinge selbst notdürftige Unterschlüpfe aus Decken, Tannenzweigen und anderen auffindbaren Materialien. Spanische Ärzte versorgten Kranke und Verletzte. Gleichzeitig wollten Gewerkschaften, Lehrer- und studentische Verbände den monotonen Alltag sinnvoll gestalten. Ab März 1939 begann der Ausbau der Lager und die Errichtung weiterer Lager und anderer Aufnahmezentren (vor allem für Frauen, Kinder und Kranke) im Landesinneren Frankreichs. Man verteilte die Flüchtlinge nach Gruppen in verschiedene Departements. So wurden beispielweise Basken nach Gurs und Facharbeiter, die auch in der französischen Wirtschaft eingesetzt werden konnten, nach Septfonds (Tarn-et-Garonne) überstellt.6 Bis zum Sommer 1939 kehrten aufgrund der misslichen Umstände bereits ca. 150.000 Flüchtlinge nach Spanien zurück. Schon in den ersten Wochen der Internierung nahmen sich Lehrer, Professoren, Studierende und Künstler der Aufgabe an, kulturelle und sportliche Aktivitäten in den Lagern zu organisieren. Chöre und Theatergruppen entstanden, außerdem wurden Vorträge und Kurse zur spanischen Geschichte, Philosophie, Kunst, Sprachkurse und sportliche Wettbewerbe veranstaltet. Hilfsorganisationen unterstützten die Aktivitäten mit den notwendigen Materialien wie Papier und Bleistiften. Besonders herausgestellt werden muss die Anfertigung von kleinen Lagerzeitschriften7 in einigen Lagern, zum Beispiel Argelès, Le 6

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Zu den südfranzösischen Lagern vgl. exemplarisch Barbara Vormeier, Dokumentation zur französischen Emigrantenpolitik (1933-1944) – Ein Beitrag, in: Hanna Schramm, Menschen in Gurs. Erinnerungen an ein französisches Internierungslager (1940-1941), Worms 1977, S. 155-245; Gilbert Badia (Hg.), Les barbelés de l’exil. Études sur l’émigration allemande et autrichienne (1938-1940), Grenoble 1979; Christian Eggers, Unerwünschte Ausländer. Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in französischen Internierungslagern 1940-1942, Berlin 2002; Denis Peschanski, La France des camps. L’internement 1938-1946, Paris 2002. Zur Internierung der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge vgl. Geneviève Dreyfus-Armand/Emile Témime, Les camps sur la plage, un exil espagnol, Paris 1995. Lagerzeitschriften gab es bereits in den Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs. Ihre Funktion unterschied sich aber von den hier betrachteten, da sie sich sowohl an Mitgefangene als auch an Soldaten an der Front bzw. die Bevölkerung in der Heimat richteten. Daher mussten viel höhere Auflagen (je nach Lager zwischen 300 und 2.000 Stück) erreicht werden. Vgl. Rainer Pöppinghege, Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen 2006. Die deutschen Exilanten in den britischen Lagern während des Zweiten Weltkriegs fertigten auch Lagerzeitungen an, die jenen aus den französischen Lagern vergleichbar sind. Vgl. Michael Seyfert, Im Niemandsland. Deutsche Exilliteratur in britischer Internierung. Ein unbekanntes Kapitel der Kulturgeschichte des Zweiten Weltkriegs, Berlin 1984, S. 59-61.

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Barcarès und Gurs. Für einzelne Lager sind mehrere Titel bekannt. In der Regel handelt es sich um Zeitschriften mit einem Umfang von zwei bis zehn Seiten. Geschrieben und kopiert wurden sie per Hand oder Schreibmaschine, so dass eine Auflage von 15 bis 20 Exemplaren pro Ausgabe zustande kam, die dann im Lager zirkulierten. Die Autoren der Zeitschriften bemühten sich, diese durch Seitenlayout, Illustrationen und die Schaffung verschiedener Rubriken wie professionelle Presseerzeugnisse wirken zu lassen. Zugleich setzten sie sich in Kontinuität zur Presse der Republik und des Bürgerkriegs, an der sie mitgearbeitet hatten.8 Diese Nachahmung bekannter Zeitungen zeigt den Anspruch, Normalität im Ausnahmezustand9 zu kreieren. Deutlich macht dies auch ein Artikel über einen gewöhnlichen Arbeitstag in der »Redaktion« des Boletín von Argelès, in der es geschäftig zugeht, weil die Ausgabe noch am selben Abend fertiggestellt werden soll.10 Mit den Publikationen demonstrieren die Internierten ihr kulturelles Wissen, ihre Interessen und sozialen Fähigkeiten. Sie zeigen ein anderes Bild der spanischen Flüchtlinge als die in Frankreich existierende Vorstellung. Vor allem in der französischen konservativen und katholischen Presse wurden die Spanier als »Barbaren und Verbrecher« bezeichnet.11 Die Mehrzahl der Zeitschriften ist nach dem gleichen Schema aufgebaut: Das Vorwort zieht eine Bilanz der realisierten kulturellen Aktivitäten. Gleichzeitig werden neue Ziele und Aufgaben formuliert. Den

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Vgl. Geneviève Dreyfus-Armand, L’émigration politique espagnole en France au travers de la presse, 1939-1975, Paris 1994, Bd. I, S. 96 (Manuskript). 9 Giorgio Agamben beschreibt das Lager als Ausnahmezustand. Vgl. ders., Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 6. Aufl. 2006, S. 127-198. 10 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 10, 25.5.1939, S. 9. Reproduziert in: JeanClaude Villegas (Hg.), Plages d’exil: les camps de réfugiés espagnols en France, 1939, Nanterre/Dijon 1989, S. 35-43, hier S. 42. Dieser Beitrag ist von Adelita del Campo unterzeichnet. Nicht immer lassen sich die Autoren bzw. Autorinnen der Artikel bestimmen. Die wenigen ermittelten Namen deuten in der Regel auf Männer. Daher sind kaum Aussagen möglich, welchen Anteil Frauen an den kulturellen Aktivitäten hatten. Generell ist anzumerken, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge Angehörige der republikanischen Armee waren. Da aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes nicht mit Sicherheit angegeben werden kann, wann in den die spanischen Flüchtlinge betreffenden Teilen dieses Beitrags neben Männern auch Frauen anzusprechen wären, wird in den entsprechenden Passagen auf die Verwendung zweigeschlechtlicher Schreibweisen verzichtet. 11 Vgl. zum Bild der spanischen Flüchtlinge in der französischen Presse die Arbeit von Emmanuelle Salgas, L’opinion publique et les représentations des réfugiés espagnols dans les Pyrénées-Orientales (janvier-septembre 1939), in: Jean Sagnes/Sylvie Caucanas (Hg.), Les Français et la guerre d’Espagne. Actes du colloque de Perpignan, Perpignan 1990, S. 185-194.

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Inhalt bilden des Weiteren Seiten mit Informationen über das Leben der Flüchtlinge im Lager und aus anderen Lagern, Nachrichten aus Spanien oder Frankreich. Außerdem gibt es verschiedene Zuarbeiten wie Gedichte und Illustrationen.12 Gerade diese Rubrik der freien Beiträge bot vielen Internierten eine Möglichkeit, eigene Gedanken und Reflexionen zu veröffentlichen. Eine offensive Kritik an den schlechten Lebensumständen in den Lagern ist nicht zu finden, um die Kulturarbeit nicht zu gefährden. Denn die Umsetzung der Aktivitäten bedurfte in der Regel der Zustimmung der französischen Lagerleitungen.13 Dank dieser Lagerzeitschriften sind die kulturellen Aktivitäten aus dem Lager Argelès besonders gut dokumentiert, wo aufgrund des Erfolges vieler Einzelaktionen ein offizieller Rahmen für diese Initiativen geschaffen wurde. Die Flüchtlinge erarbeiteten ein »Projekt der kulturellen und sportlichen Aktivitäten im Lager von Argelès«,14 das die Einrichtung eines »Barracón de Cultura« (Kulturbaracke) und einer Sportstätte einschloss. Dieser Plan fand Zustimmung bei der französischen Lagerverwaltung, die seit Mai 1939 durch das Innenministerium offiziell die Anweisungen hatte, die kulturellen Aktivitäten zu fördern.15 Bestandteile dieses Projekts umfassten die regelmäßige Veranstaltung von Vorträgen unter anderem über Themen der Naturwissenschaften, Hygiene, Geografie, Psychologie und Wirtschaft. Zudem plante man regelmäßig Kurse zur Alphabetisierung, Grundbildung in Mathematik sowie Sprachkurse zum Erlernen von Französisch, Englisch und Katalanisch. Des Weiteren war die Einrichtung einer Bibliothek vorgesehen, in der vor Ort Bücher gelesen werden konnten. Schachturniere, Wettbewerbe in verschiedenen Sparten und Festivals in Musik und Poesie sollten das Angebot ergänzen. Die sportlichen Aktivitäten erstreckten sich von Gymnastikgruppen über Mannschaftssportarten wie Fußball und Volleyball bis zu verschiedenen Laufgruppen. Die Koordination aller Aktivitäten oblag einer Kultur- und Sportkommission, die sich aus Vertretern der Internierten 12 Vgl. auch Monique Alonso, Las actividades culturales en los campos de concentración, in: Manuel Aznar Soler (Hg.), El exilio literario español de 1939. Actas del Primer Congreso Internacional, Bd. 1, Sant Cugat del Vallès 1998, S. 133-139, hier S. 138; Jean-Claude Villegas, La culture des sables: presse et édition dans les camps de réfugiés, in: ders. (Hg.), Plages d’exil, S. 133-140, hier S. 134. 13 Vgl. Dreyfus-Armand, L’émigration politique espagnole en France, Bd. I, S. 96; Villegas, La culture des sables, S. 135. 14 Vgl. für die folgenden Ausführungen den Artikel im Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 9, 18.5.1939, o.P. Reproduziert in: Villegas (Hg.), Plages d’exil, S. 26-33, hier S. 29. 15 Vgl. Villegas, La culture des sables, S. 135.

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zusammensetzte. Diese Arbeit fand in Abstimmung mit der Lagerleitung statt. Ein Appell richtete sich an Studierende, Lehrer, Professoren und Intellektuelle im Lager, sich an der Umsetzung des Plans zu beteiligen. Auf eine ähnliche Organisation der Kulturarbeit lassen auch die Berichte in den Zeitschriften aus anderen Lagern schließen. Im Boletín de los estudiantes vom 22. Mai 1939 aus dem Lager Gurs wird die Bilanz der Aktivitäten nach Lagerblöcken, die alphabetisch gekennzeichnet waren, gezogen. Es wird berichtet, dass in den Bereichen E und M Kulturbaracken zu funktionieren beginnen und in F und J halbe Baracken für den Zweck der Aktivitäten zur Verfügung gestellt werden.16 Auch die erste Ausgabe der Hoja de los estudiantes vom 17. Juli 1939 aus Le Barcarès, ein durch den spanischen Studierendenverband herausgegebenes handschriftliches Informationsblatt, berichtet von der Gründung einer »Allgemeinen Kultur- und Sportkommission« zur Koordination der kulturellen Aktivitäten.17 Der Boletín de los estudiantes vom 8. Juni 1939 aus Argelès enthält einen Stundenplan zur Nutzung einer Kulturbaracke. Um 8 Uhr morgens begannen die Alphabetisierungskurse, auf die eine Stunde über »Allgemeinbildung« folgte. Darunter wurden Grammatik, Mathematik, Geografie und Geschichte gefasst. Von 11 Uhr bis 13 Uhr konnten vorhandene Bücher und Presseerzeugnisse vor Ort gelesen werden. Am Nachmittag fand Französischunterricht auf zwei Niveaustufen statt. Ab 19 Uhr gab es wechselnde Veranstaltungen wie Vorträge und Festivals. Außerdem strebte man die Einrichtung einer zweiten Baracke an, in der permanent Ausstellungen gezeigt werden konnten.18 Da es sich um Projekte und Pläne handelte, ist nicht genau zu bestimmen, in welchem Maße sie umgesetzt werden konnten. Es bleibt zu vermuten, dass in vielen Fällen keine Kulturbaracken zur Verfügung standen. So wird erstmals im Mai 1939 und wieder im Juli 1939 in zwei Lagerzeitschriften aus Argelès berichtet, dass allmählich Baracken im Lager errichtet werden und die provisorischen Unterkünfte ver-

16 Vgl. Boletín de los estudiantes, Gurs, Nr. 2, 22.5.1939, S. 2. Reproduziert in: Villegas (Hg.), Plages d’exil, S. 57-62, hier S. 58. 17 Vgl. Hoja de los estudiantes, Le Barcarès, Nr. 1, 17.7.1939, S. 1. Reproduziert in: ebd., S. 63. 18 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 11, 8.6.1939, S. 4. Reproduziert in: ebd., S. 44-53, hier S. 48.

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schwinden.19 Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass bereits zuvor Kulturbaracken entstanden waren, obwohl es noch an Unterkünften mangelte. Die Ziele der kulturellen und sportlichen Aktivitäten finden sich wiederholt in den Zeitschriften formuliert. Dabei soll nicht nur der Bildungsstand der Flüchtlinge erhöht, sondern die allgemeine Organisation im Lager verbessert werden, um somit auch der französischen Lagerverwaltung zu helfen.20 Der Plan der Kultur- und Sportaktivitäten, der in der bereits zitierten Mai-Ausgabe publiziert wurde, fasst die Zielsetzungen zusammen: »Combatir los efectos de inactividad, contribuyendo a la mejor organización del Campo, elevando el nivel cultural de los refugiados.«21 Wiederholt findet sich neben dem Anspruch, die allgemeine und kulturelle Bildung zu erhöhen, der Wunsch nach Verbesserung der Organisation des alltäglichen Lebens. Indem die Flüchtlinge geregelten Tätigkeiten nachgingen, wurde der Inaktivität entgegenwirkt und der Alltag strukturiert. Die Ungewissheit über die Dauer der Internierung, das Warten auf eine Veränderung der Situation konnten allerdings nicht beseitigt werden. Der Erfolg dieser Initiativen lässt sich an den Teilnehmerzahlen ablesen, die auch regelmäßig in den Lagerzeitschriften veröffentlicht wurden. Innerhalb der ersten sieben Tage der Kulturarbeit, so der Boletín vom 17. April 1939, wurden in Argelès 99 Vorträge gehalten, die jeweils zwischen 20 und 140 Flüchtlinge besuchten, so dass insgesamt 6.000 Teilnehmer gezählt wurden. 320 Spanier nahmen an Französischstunden teil.22 Die Ausgabe vom 23. April 1939 berichtet von bereits 850 Lernenden.23 Den Angaben von Ignacio Cruz folgend gab es Anfang Juni 1939 in Saint-Cyprien 113 Kulturbaracken, in denen Kurse mit ca. 5.000 Teilnehmern stattfanden. In dieser Zeit befanden sich zwischen 15.000 und 20.000 Flüchtlinge in diesem La-

19 Vgl. Boletín de los estudiantes, Nr. 10, S. 4. Reproduziert in: ebd., S. 35-43, hier S. 37; Boletín. Profesionales de la enseñanza, Argelès, Nr. 1, 1.7.1939, o.P. Reproduziert in: ebd., S. 66-75, hier S. 72. 20 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 2, 17.4.1939, o.P. Reproduziert in: ebd., S. 19-21, hier S. 19. 21 Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 9, 18.5.1939, o.P. Reproduziert in: ebd., S. 26-33, hier S. 29. »Die Auswirkungen der Inaktivität bekämpfen, zu einer Verbesserung der Organisation im Lager beitragen, den Bildungsstand der Flüchtlinge erhöhen.« 22 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 2, 17.4.1939, o.P. Reproduziert in: ebd., S. 19-21, hier S. 19. 23 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 4, 23.4.1939, S. 1. Reproduziert in: ebd., S. 23-24, hier S. 23.

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ger.24 Die Hoja de los estudiantes aus Le Barcarès veröffentlichte die Bilanz der Aktivitäten für Juni 1939 mit beeindruckenden Teilnehmerzahlen: So nahmen 3.900 Internierte an Französischkursen teil und 8.340 besuchten die 450 allgemeinbildenden Kurse.25 Die hohe Beteiligung am Französischunterricht zeigt, dass die Flüchtlinge sich zunehmend auf einen längeren Aufenthalt in Frankreich einstellten. Seit April 1939 konnten Flüchtlinge die Lager verlassen, wenn sie eine Arbeit in der Region annahmen oder sich zu den »Compagnies des Travailleurs Étrangers« (Truppen für ausländische Arbeiter) meldeten, die in Frankreich zu Bauarbeiten und in der Landwirtschaft eingesetzt wurden.26 Besonders für Ersteres waren Französischkenntnisse von Vorteil. Neben der Bildungsarbeit und der Herausgabe von Zeitschriften spielten auch andere künstlerische Aktivitäten eine große Rolle. Die Spanier fertigten kleine Kunstwerke an: Skulpturen aus Stöcken, Büsten aus Sand und Sandstein, Objekte aus Konservendosen, Zeichnungen, Bilder und Holzarbeiten,27 die in Ausstellungen in den Kulturbaracken gezeigt wurden. Ignacio Cruz berichtet von einer Ausstellung im Mai 1939 in Saint-Cyprien, die mit einer Vernissage eröffnet und zu der ein Katalog von 25 Exemplaren per Hand angefertigt wurde. Präsentiert wurden unter anderem Zeichnungen, Karikaturen und Skulpturen aus Seife. Diese Ausstellung wurde anschließend sogar in Paris gezeigt. 28 Ein Aufruf durch den Rassemblement Mondial des Étudiants (Internationale Studierendenverbindung) zur Einreichung von künstlerischen und handwerklichen Arbeiten, um diese in Paris auszustellen, findet sich im Boletín de los estudiantes vom 8. Juni 1939.29

24 Vgl. José Ignacio Cruz, Los barracones de cultura. Noticias sobre las actividades educativas de los exiliados españoles en los campos de refugiados. Im Internet vgl. , 29.4.2010. 25 Vgl. Hoja de los estudiantes, Le Barcarès, Nr. 1, 17.7.1939, S. 1. Reproduziert in: Villegas (Hg.), Plages d’exil, S. 63. 26 Vgl. Christian Eggers, L’internement sous toutes ses formes: approche d’une vue d’ensemble du système d’internement dans la zone de Vichy, in: Le Monde juif 153 (1995), S. 7-75, hier S. 18 f. 27 Vgl. Alonso, Las actividades culturales, S. 135; Eggers, Unerwünschte Ausländer, S. 212. Zu Arbeiten und Kunstschaffenden in den französischen Lagern vgl. ausführlich Francisco Agramunt Lacruz, Arte y represión en la guerra civil española. Artistas en checas, cárceles y campos de concentración, Valencia 2005, S. 579-765. 28 Vgl. Cruz, Los barracones de cultura. 29 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 11, 8.6.1939, S. 9. Reproduziert in: Villegas (Hg.) Plages d’exil, S. 44-53, hier S. 53.

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Dass die kulturellen Tätigkeiten außerhalb der Lager wahrgenommen wurden, beweisen verschiedene Episoden. Im Artikel »Les Espagnols des Camps«, publiziert in La Commune im Juli 1939, lobt der Autor Georges Bessons das kulturelle Schaffen der spanischen Flüchtlinge »hinter Stacheldraht«, das er als einen »letzten Sieg der spanischen Republikaner«30 bezeichnet. Dass man das Talent spanischer Künstler nutzen wollte, zeigt wiederum das Beispiel von Septfonds. Die Künstler Trepat und Marti-Aleu gestalteten für die Kirche ein 20 Meter langes und ein Meter hohes Kreuzweg-Wandbild, das am Karfreitag 1940 eingeweiht wurde. Zur Anfertigung des Bildes durften sie zeitweise das dortige Lager verlassen. Noch heute hängen im Rathaus von Septfonds acht Bilder von vier spanischen Malern, die in der Gegend interniert waren.31 Ein anderes Beispiel steht im Zusammenhang mit der Zeitschrift Barraca aus Argelès, die im Folgenden noch genauer zu betrachten ist: Die Eigentümer des Château de Valmy, in der Nähe von Argelès-surMer gelegen, erkannten das künstlerische Potenzial der zwölf Künstler und Autoren, welche an der Zeitschrift mitarbeiteten. Um ihre Arbeit zu unterstützen, stellten sie ein Nebengebäude auf ihren Gütern zur Verfügung, wo die Beteiligten unterkommen und weiter arbeiten konnten. Dies ermöglichte es den Mitarbeitern der Zeitschrift Ende Juni 1939, kurz nach dem Erscheinen von Barraca, das Lager zu verlassen. In Valmy fertigten die Künstler neben Bildern und Skulpturen handschriftlich die Folgezeitschrift Desde el Rosellón an, von der zwischen Juli und Oktober 1939 fünf Nummern zu je 20 bis 25 Exemplaren erschienen.32 Die Einrichtung von Kulturbaracken bei gleichzeitigem Mangel an Unterkünften verweist auf die große Bedeutung dieser kulturellen Aktivitäten im Alltag und für das (Über-)Leben der Spanier. Ein Grund dafür liegt in dem hohen Stellenwert, den Kultur und Bildung während

30 Vgl. Georges Besson, Les Espagnols des Camps, in: La Commune, Juli 1939, zit. nach Alonso, Las actividades culturales, S. 135. 31 Vgl. zu diesem Fall Lucienne Domergue, Pintores españoles en el campo de Septfonds, in: Alicia Alted Vigil/Manuel Llusia (Hg.), La cultura del exilio republicano español de 1939. Actas del congreso internacional celebrado en el marco del Congreso Plural ›Sesenta Años después‹, Bd. 2, Madrid 2003, S. 41-53. Dort finden sich auch Abbildungen der Werke. 32 Vgl. Jean-Claude Villegas, Présentation, in: Écrits d’exil. Barraca et Desde el Rosellón. Albums d’art et de littérature à Argelès-sur-Mer, en 1939, par un groupe de républicains espagnols réfugiés. Édition, présentation et étude de Jean-Claude Villegas. Coordination de Michelle Ros, Sète 2007, S. 19-39, hier S. 24; ders., La culture des sables, S. 139.

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der Zweiten Republik (ab 1931) erfahren hatten. Die Reformen des Bildungssystems, die Einrichtung von Bibliotheken und Institutionen der Erwachsenenbildung verfolgten das Ziel, alle Bürger/innen Spaniens an Bildung und Kultur teilhaben zu lassen. Aus diesem Grund wurden vom spanischen Studierendenverband Unión Federal de Estudiantes Hispanos alle Studierenden zur Vermittlung und Verbreitung von Wissen und Kultur ausdrücklich aufgefordert.33 Ähnliche Appelle finden sich in den Lagerzeitschriften. Dieser Aufgabe der Verbreitung von Kultur und Bildung nahmen sich viele Studierende somit nicht erst in den Lagern an. Auf diese Tradition wird mehrfach in den Lagerzeitschriften verwiesen. Man hatte den Anspruch, die politischen und kulturellen Werte und Ideale der Republik in den Lagern aufrechtzuerhalten und weiterzugeben. Ähnlich war die Vermittlungsarbeit während des Bürgerkriegs an den Fronten weitergeführt worden, indem beispielsweise die Soldaten Bücher zur Errichtung von Bibliotheken erhielten. Kultur galt als »eine weitere Waffe gegen den Faschismus«.34 In diesem Zusammenhang sind die Aktivitäten in den Internierungslagern zu betrachten, die somit direkt an die Ziele der Republik anschließen. Deutlich wird dies auch in der Absage an die neue Regierung in Spanien, wie sie im Boletín de los Estudiantes von Argelès35 formuliert ist. Die Verbreitung von Kultur und Bildung wird von den Autoren als eine Errungenschaft der Republik und als wesentlicher Bestandteil Spaniens angesehen. Die franquistische Regierung erkenne den Stellenwert nicht, sie wird als »Antikultur« bezeichnet, das Spanische wird ihr abgesprochen. Spanien, das sind die Flüchtlinge in den Internierungslagern, die mit den kulturellen Aktivitäten das Werk der Republik fortführen und ihre Werte weitergeben. Die Kulturbaracken stellen somit einen besonderen Raum innerhalb der Lagerwelt dar, in dem die Kultur und Ideale der Republik überdauern. In einem Artikel des Boletín. Profesionales de la enseñan33 Vgl. Mariano Pérez Galán, La enseñanza en la Segunda República Española, Madrid 2. Aufl. 1977, S. 137. 34 Vgl. den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: Biblioteca en guerra, Ausst.-Kat. Biblioteca Nacional Madrid 2005. Der Ausspruch »Una arma más para combatir al fascismo« findet sich auf einem Plakat des Künstlers Babiano von 1936, abgedruckt in dem genannten Katalog, S. 334. Gezeigt werden zwei Soldaten, von denen einer außer seiner Waffe auch ein Buch trägt, das ca. ein Drittel seiner Körpergröße ausmacht und damit auch größer als die Gewehre ist. 35 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 9, 18.5.1939, o.P. Reproduziert in: Villegas (Hg.), Plages d’exil, S. 26-33, hier S. 27.

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za findet sich für die Kultur im Allgemeinen die Bezeichnung als »Dios moderno con millones de creyentes en todo el mundo«.36 Durch diese Metaphorisierung werden göttliche Attribute wie Größe, Singularität und Allmächtigkeit der Kultur zugeschrieben. Weiterhin heißt es: »Muchos refugiados, iniciados en el nuevo culto, acuden a los templos de saber: Barracones de Cultura.«37 Die Kultur findet ihre konkret räumliche Umsetzung in den Kulturbaracken, die als »templos de saber« (Tempel des Wissens) Orte der kulturellen Praxis sind, die es zu pflegen, zu respektieren und zu schützen gilt. Man kann hier von einer Sakralisierung der Kultur sprechen. Kulturbaracken richteten nicht nur die Flüchtlinge aus Spanien ein. Ähnliche Einrichtungen finden sich unter anderen Häftlingsgruppen und auch in den Folgejahren. So berichten im Juli 1939 österreichische Angehörige der ehemaligen Internationalen Brigaden, dass sie im Lager Gurs eine »Volkshochschule« gegründet haben, in der täglich bis zu acht Stunden Unterricht in Sprachen, Naturwissenschaften, Geschichte und Turnen stattfand.38 Hanna Schramm, interniert als »unerwünschte Ausländerin« in Gurs, schildert, dass dort im Laufe des Winters 1940/41 in allen Lagerblöcken Kulturbaracken eingerichtet wurden. Vorträge, Lesungen, Theateraufführungen, Konzerte, Kabarettprogramme und Unterricht bildeten das Programm, an dem Kunstschaffende wie Alfred Nathan und Ernst Busch mitwirkten.39 Diese kulturellen Darbietungen lieferten eine moralische Stütze, ließen zeitweilig den schweren Lageralltag sowie die Sorgen in den Hintergrund treten und wirkten der Tatenlosigkeit entgegen, die für viele bedrückend war.40

36 »Moderner Gott mit Millionen von Gläubigen in der ganzen Welt.« 37 Boletín. Profesionales de la enseñanza, o.O., o.D., o.P. Einer der Artikel behandelt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, es handelt sich somit wahrscheinlich um eine Ausgabe vom September 1939. Reproduziert in: Villegas (Hg.), Plages d’exil, S. 76-90, hier S. 88. »Viele Flüchtlinge, eingeweiht in den neuen Kult, kommen in die Wissenstempel: die Kulturbaracken.« 38 Vgl. Bericht über die Volkshochschule im Internierungslager Gurs, verfasst von Hermann Langbein und Leopold Mallina, Juli 1939, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Österreicher im Exil. Frankreich 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien/München 1984, S. 59-61. 39 Vgl. Hanna Schramm, Menschen in Gurs. Erinnerungen an ein französisches Internierungslager (1940-1941), Worms 1977, S. 115-130. 40 Vgl. auch Gabriele Mittag, »Es gibt Verdammte nur in Gurs«. Literatur, Kultur und Alltag in einem südfranzösischen Internierungslager. 1940-1942, Darmstadt 1996.

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Die Kulturzeitschrift Barraca Eine Beschreibung des Stellenwerts von kulturellem Schaffen und kreativen Räumen findet sich bereits in der Zeitschrift Barraca aus dem Lager bei Argelès-sur-Mer. Im Unterschied zu den anderen Zeitschriften enthält sie keine aktuellen und organisatorischen Informationen zum Leben im Lager. Sie widmet sich ausschließlich Kunst und Kultur. Das erhaltene Exemplar der Zeitschrift umfasst 45 Seiten, auf denen sich Gedichte, zahlreiche Aquarelle, Feder- oder Bleistiftzeichnungen, Essays und kurze Erzählungen abwechseln und ergänzen. Die Zeitschrift wurde komplett handschriftlich und farbig von zwölf Künstlern und Poeten erstellt. Barraca erschien einmalig im Juni 1939 im Lager Argelès mit einer Auflage von 15 Stück. Jedes Exemplar war vermutlich einzigartig, da die Exemplare sich durch das Kopieren per Hand leicht unterschieden haben müssen. Der Titel Barraca ist in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Er verweist zunächst auf den Produktionsort, wie ihn das farbige Titelblatt auch zeigt. Zu sehen ist am linken Blattrand eine hölzerne Lagerbaracke, aus deren Schornstein Qualm aufsteigt, der geschwungen das Wort »Barraca« formt und den an die Leser gerichteten »Gruß« umrahmt. Auf der Titelseite findet sich zudem am unteren Rand der Seite eine Art Impressum, das den Publikationsort und das Erscheinungsdatum genau benennt: »Hecho en el Campo de Concentración de Argelès-sur-mer.«41 Die Baracke ist somit eindeutig im Lager von Argelès situiert, das als ein Ort der Internierung gekennzeichnet wird. Der direkte Bezug zum Produktionsort wird auch durch den folgenden dreiseitigen Einleitungsartikel »Nuestra barraca« (Unsere Baracke) von José Atienza, der sich wesentlich an der Organisation der kulturellen Aktivitäten beteiligt hatte, gestützt. »Barraca« deutet auf die Baracke Nr. 14 im Lager 8 von Argelès, in der die zwölf beteiligten Künstler ihre Unterkunft hatten, ihre Arbeit verrichteten und an deren Eingang sie ein Schild »Grupo de Cultura« (Kulturgruppe) angebracht hatten.42 Diese Baracke war eine der zuvor beschriebenen Kulturbaracken, die einen besonderen Innenraum im Lager darstellten. Erwähnt wurden die dort stattfindenden Aktivitäten auch bereits in der Bilanz des Bo-

41 Barraca, Argelès, Juni 1939, S. 1. Ein Exemplar der Zeitschrift ist vollständig reproduziert in: Écrits d’exil, S. 47-91. 42 Vgl. Villegas, Présentation, S. 22.

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letín de los estudiantes vom April 1939.43 Das spanische Wort »barraca« bedeutet aber auch Elendsunterkunft, was somit auch die miserablen Zustände im Lager in Erinnerung ruft.44 Vor allem aber referiert der Titel Barraca auf das gleichnamige studentische Wandertheater Federico García Lorcas, mit dem der Dichter durch Spanien gezogen war, um die klassische Literatur und Kultur zu verbreiten. An dieses Vorbild wollte man anknüpfen. Der einleitende, drei Seiten umfassende Artikel »Nuestra Barraca« von José Atienza rückt ebenfalls die Baracke in den Mittelpunkt und richtet den Blick auf den konkreten Lebens- und Schaffensraum. Drei Illustrationen begleiten diesen Artikel und zeigen Innen- und Außenansichten einer Lagerbaracke. Der Artikel lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. Zunächst wird die Materialität der Baracke beschrieben, dann seine Bewohner und schließlich die Rolle der künstlerischen Aktivitäten. Bei der Lektüre gewinnt der/die Leser/in den Eindruck, als würde er/sie sich durch das Lager bewegen, vor dieser Baracke stehen bleiben und sie schließlich betreten. Anfangs beobachtet der/die Leser/in sie von außen: Das Erscheinungsbild der Baracke ist »düster, traurig und skelettartig«.45 Sie ist eingerammt in den Sand und umgeben von einer Müdigkeit, die sich auch auf die Bewegung der sie bewohnenden Personen durch das sandige Terrain auswirkt. Über die Beschreibung des Eingangs, an dem sich das Schild »Grupo de Cultura«46 befindet, betritt man das Innere der Baracke. Dort ist es »traurig, dunkel, fast blind«,47 denn Licht dringt nur durch zwei kleine Fenster. Dieser dunkle Raum bildet den Mittelpunkt des Lebens von zwölf Männern, denn er vereinigt verschiedene Räume in sich, die normalerweise aufgrund ihrer spezifischen Funktionen getrennt voneinander sind: »Essens- und Schlafplatz, Küche, Toilette, Werkstatt, Büro, Druckerei, Redaktion, alles in der gleichen Umgebung von Sand, Wind und Elend.«48 Wohn- und Arbeitsstätte sind nicht getrennt, sondern alle Tätigkeiten finden in der Baracke

43 Vgl. Boletín de los estudiantes, Argelès, Nr. 4, 23.4.1939, S. 1. Reproduziert in: Villegas (Hg.), Plages d’exil, S. 23-24, hier S. 23. 44 Wie Villegas darlegt, lässt sich auch an den 1898 publizierten Roman des valencianischen Schriftstellers Vicente Blasco Ibañez denken, in dem soziale Ungerechtigkeiten angeklagt werden. Vgl. Villegas, Présentation, S. 30. 45 Barraca, Argelès, Juni 1939, S. 2, in: Écrits d’exil, S. 48. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd.

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statt. Die Beschreibung der Baracke kulminiert in »arena, viento y miseria«49 (Sand, Wind und Elend), indem hier die Motive »arena« und »viento« auftreten, die sich leitmotivisch durch die verschiedenen Werke über die südfranzösischen Lager ziehen.50 Die Männer werden vorerst als Gruppe präsentiert, die zwar zwölf unterschiedliche Schicksale haben, aber nun hier durch die Perspektive einer ungewissen Zukunft vereint sind. Der Blick schweift durch den Raum, in dem sich Gegenstände befinden, deren Existenz nur von kurzer Dauer ist, da sie an diesen konkreten Lebensabschnitt des Exils und der Internierung gebunden sind. Sie verlieren ihre Bedeutung, sobald die Männer ins Leben zurückkehren. Diese Beschreibung zeigt, dass der gegenwärtige Zustand nicht als Leben wahrgenommen wird, sondern als eine Situation vor dem eigentlichen Leben. Als Todeszustand wird diese Situation aber auch nicht beschrieben, obwohl die Baracke dunkel und skelettartig ist, in der die zwölf Männer wie »hingeworfene, für die Menschheit nutzlose Überreste«51 hausen. Nach einer sehr kurzen individuellen Charakterisierung jedes Einzelnen beschreibt das Ende des Artikels, dass sie trotz ihrer miserablen Lage zu großer Kreativität gelangen: »in unserer Baracke wird Kunst gemacht, es wird Literatur gemacht und gelesen, es wird der Prolog eines neuen Lebens realisiert, in dem diese zwölf Leben, heute wie begraben, die Klammer des Stacheldrahts zerstören werden, um die Welt zu bewundern, jeder einzelne von einem anderen Ast des Baums der Zivilisation.«52

Die Idee einer Situation vor dem eigentlichen Leben, hier als Prolog bezeichnet, wird geäußert. Doch in dieser Zeit des Exils, im Lager und in der Baracke werden Kunst und Literatur geschaffen. Durch das Bild des Zivilisationsbaumes mit seinen Verzweigungen klingt an, dass sich nach der Befreiung aus dem Lager die Wege der zwölf Männer trennen werden. Der Lebensbaum und die symbolträchtige Zahl zwölf sind christlich-religiöse Motive, die an die Beschreibung der Kultur als neuen Kult, wie zuvor dargestellt, erinnern. Diese Betonung der Schaffenskraft kulminiert im letzten Abschnitt des Artikels, nachdem bedauert wird, dass Freunde, die nicht im Lager

49 Ebd. 50 Vgl. weiterführend dazu mein Dissertationsprojekt an der Universität Potsdam zur Darstellung der südfranzösischen Lager in Texten spanischer Internierter. 51 Barraca, Argelès, Juni 1939, S. 3, in: Écrits d’exil, S. 49. 52 Ebd., S. 4, in: Écrits d’exil, S. 50.

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interniert sind, nichts für die Internierten tun können: »Wir, im Gegenteil, können alles für alle machen ... und daher haben wir unsere Zeitung und unsere Ausstellungen und unsere Bücher ... Auch hier ist Zivilisation ... O, unsere Baracke!«53 Hier werden die Existenz von kulturellen Artefakten und Aktivitäten wie Büchern, das Erstellen der Lagerzeitungen und die Durchführung von Ausstellungen eindeutig mit Zivilisation in Verbindung gebracht. Kulturelles Handeln ist somit ein Zeichen für Zivilisation, zu der sich die Internierten zählen, auch wenn sie sich im Lager in einem Vorstadium des Lebens befinden. Der direkte Anruf der Baracke fasst zusammen, was diese für die betroffenen Männer bedeutet. Einerseits ist sie eine dunkle, feuchte und kalte Unterkunft, andererseits ist sie der Raum, an dem die Männer kreativ tätig sein können, wo sie schreiben, Zeichnungen sowie kleine Kunstwerke anfertigen oder ihrer Lektüre und ihren Gedanken nachgehen. Die Baracke ist innerhalb des Lagers der Raum, in dem sich die Zivilisation erhalten hat und von dem aus die kulturellen Werte an die anderen weitergegeben werden sollen. Obwohl die Männer als »für die Menschheit nutzlose Überreste«54 beschrieben wurden, bewahren sie sich ihr Menschsein und schaffen in dieser Baracke Zeichen der Menschlichkeit, des Menschseins und der Zivilisation. Ein Kennzeichen dieser Produktivität hält der/die Leser/in selbst in den Händen, wenn er/sie diesen Einleitungsartikel der Zeitschrift Barraca liest.

Das Lager: Liminalität und kreativer Raum Betrachtet man die Gesamtaussage dieses Artikels, so beschreibt er die Situation im Lager als eine Situation des Transits, in der auf die zwölf unterschiedlichen Schicksale der Männer kurz rekurriert wird, ohne dass sie in der aktuellen Situation eine Rolle spielen. Man ist nicht mehr im Krieg oder auf der Flucht, aber noch nicht wirklich im Danach angekommen, sondern wartet auf die Zukunft und das Leben. Dieser Moment des Dazwischen, »der Prolog des neuen Lebens«,55 erinnert an die Beschreibung des Schwellenzustands bei Victor Turner. Aus seinen Beobachtungen leitet er ab, dass Rituale allgemein als »kulturelle Laboratorien für gleichermaßen persönlich-existentielle wie

53 Ebd. 54 Ebd., S. 3, in: Écrits d’exil, S. 49. 55 Ebd., S. 4, in: Écrits d’exil, S. 50.

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kollektive Transformationsvorgänge«56 fungieren. Wesentlich dabei ist der Schwellenzustand, oder auch Liminalität, als eine Phase zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«, dessen wesentliche Charakteristika auf den beschriebenen Zustand im Lager übertragbar sind. Der Schwellenzustand ist ein Übergang, in dem sich nur wenige Merkmale des ehemaligen bzw. zukünftigen Zustandes finden; so sind zum Beispiel Besitz- und Statusunterschiede aus der Zeit davor aufgehoben. Die betroffene Gruppe ist fast als homogen anzusehen und bildet eine »spontane communitas«, eine besondere Gemeinschaft, die aus den Umständen heraus und zur Bewältigung dieser entsteht, aber nicht auf Dauer angelegt ist.57 Obwohl in dem hier untersuchten Fall ein anderer als ein ritueller Kontext vorliegt, findet dieser Zwischenzustand seine Realisierung im konkreten Raum des Internierungslagers. Die Liminalität ist zeitlich und räumlich durch die Bindung an den Lagerraum begrenzt. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem die Beobachtung Turners hinsichtlich der Kreativität in solchen liminalen Phasen: »Die Bedingungen der Liminalität, Marginalität und strukturellen Inferiorität bringen oft Mythen, Symbole, Rituale, philosophische Systeme und Kunstwerke hervor. Diese kulturellen Formen statten die Menschen mit einer Reihe von Schablonen und Modellen aus, die einerseits die Wirklichkeit und die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, zur Natur und zur Kultur periodisch neu klassifizieren. Andererseits sind diese Modelle mehr als Klassifizierungen, da sie die Menschen nicht nur zum Denken, sondern auch zum Handeln anspornen. Alle diese Hervorbringungen sind vieldeutig und können die Menschen auf vielen psychologischen Ebenen gleichzeitig ansprechen.«58

Die Funktionen der Zeitschrift Barraca, aber auch der anderen Publikationen und künstlerischen Aktivitäten lassen sich in diesem Sinne als besondere kulturelle Formen im Ausnahmezustand des Lagers verstehen. In ihnen werden kulturelle Modelle, Symbole und Ideen aktualisiert und neu interpretiert, so im Fall der spanischen Flüchtlinge das Bildungs- und Kulturideal der Spanischen Republik und die Persönlichkeit des Dichters García Lorca. Ziel ist es, die Menschen

56 Peter J. Bräunlein/Victor W. Turner, Rituelle Prozesse und kulturelle Transformationen, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 91-100, hier S. 95. 57 Vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M./New York 2000, S. 105-135. 58 Ebd., S. 125 f.

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durch die Orientierung an Bekanntem von der Trostlosigkeit zu befreien. Ihnen werden neue Aufgaben und Beschäftigungen im Lageralltag zugewiesen, was ihnen Hoffnung auf ein Leben nach der Internierung verleiht. Die kulturellen Aktivitäten bringen mit den »barracones de cultura« einen besonderen Innenraum im Lager hervor. Die Kulturbaracken können als ein Raum betrachtet werden, der die wesentliche Alternative zur Hoffnungslosigkeit, Angst und traurigen Monotonie des Lagerlebens bildete. Gleichzeitig eröffnete sich in ihnen auch ein Raum der Zukunft, denn die Aktivitäten verfolgten das Ziel, die Menschen auf die Zeit nach dem Lager vorzubereiten, indem in Kursen, Vorträgen oder öffentlichen Lektüren Sprachen, kulturelle Traditionen und Ideen verbreitet und weitergegeben wurden. In diesem Innenraum des Lagers war es möglich, kreativ tätig zu sein, Interessen nachzugehen, Menschlichkeit und Solidarität zu erfahren. Die Welt des Lagers transformiert sich in den Kulturbaracken und den künstlerischen Produktionen zu einem kreativen Raum, einem espace und Hoffnungsträger auf ein neues Leben.

Literatur Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben [1995], Frankfurt/M. 6. Aufl. 2006. Francisco Agramunt Lacruz, Arte y represión en la guerra civil española. Artistas en checas, cárceles y campos de concentración, Valencia 2005. Monique Alonso, Las actividades culturales en los campos de concentración, in: Manuel Aznar Soler (Hg.), El exilio literario español de 1939. Actas del Primer Congreso Internacional, Bd. 1, Sant Cugat del Vallès 1998, S. 133-139. Gilbert Badia, (Hg.), Les barbelés de l’exil. Études sur l’émigration allemande et autrichienne (1938-1940), Grenoble 1979. Bericht über die Volkshochschule im Internierungslager Gurs, verfasst von Hermann Langbein und Leopold Mallina, Juli 1939, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Österreicher im Exil. Frankreich 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien/München 1984, S. 59-61. Biblioteca en guerra, Ausst.-Kat. Biblioteca Nacional Madrid 2005. Peter J. Bräunlein/Victor W. Turner, Rituelle Prozesse und kulturelle Transformationen, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 91-100. Michel de Certeau, L’invention du quotidien. 1. arts de faire [1980], Paris 2007.

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Claudia Nickel

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Kulturbaracken

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Interpretationen

Abstraction & Figuration in the Auschwitz Memorial From Consensus to Dissensus AGATA P IETRASIK

The official competition for a »Monument to the Victims of Fascism«, which was supposed to be erected on the site of the former concentration camp Auschwitz-Birkenau, was announced in 1957. The main organiser responsible for assembling the jury, gathering all the necessary funds and establishing the criteria and rules for the future participants was the International Auschwitz Committee (hereafter referred to as the IAC) – an organisation created by and for the former prisoners of the concentration camp. Though international in name, the Committee was largely reliant on the Polish Communist Party as well as the Polish Government itself.1 After long and arduous negotiations the jury was eventually established and the presence of Henry Moore as head of the main judges can be considered a huge success for the IAC.2 Moore had been one of the most influential figures of the art scene throughout the 1950s and certainly a leading sculptor of that time. Therefore his presence in the competition, though marginalised later, had a huge symbolic impact, and made the competition more credible and definitely helped to encourage artists from the »West« to participate. Without Moore, the whole event would have run the risk of simply being considered a part of communist propaganda. Significantly, Moore was also connected to another important institution – the Institute of Contemporary Art in London (ICA) – , which in 1951 organized a major competition for the »Monument to the Unknown Political Prisoner«. These two initiatives, which took place 1 2

Cf. Johnathan Heuner, Auschwitz, Poland, and the Politics of Commemoration, 19451979, Athens 2003, pp. 147-150. Controversy spread amongst the Polish art scene, largely disappointed by the fact that Xawery Dunikowski, a leading Polish sculptor of the time and a former inmate of Auschwitz, had not been invited to take part in the event. Cf. Irena Grzesik-Olszewska, Polska rze´zba pomnikowa, Warsaw 1995, p. 99.

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on opposite sides of the Iron Curtain should be considered in close relation to one another, with Moore as the connecting figure. Both competitions share some similarities, the most obvious is the involvement of politics in each. In the first, perhaps more evident case, it was the Polish Communist Party who stood behind many artistic choices, in the latter it was the Federal Bureau of Investigation and Central Intelligence Agency of the United States, which most probably sponsored the development of the competition and later on withdrew their approval for the »ultra modernist« project by Reg Butler.3 Many books have already been written about the political dimension of abstract expressionism and the connection between abstraction as a means of expressing freedom or individuality and democracy. This relationship was embraced and highly emphasised in the post-war writings of Clement Greenberg and many other important American critics, especially in the 1950s, when it became clear that the capital of the art world had moved from Paris to New York and American abstraction was in its heyday.4 The divide between realism and abstraction was hardly neutral, a value judgement already condemned realism as a form of kitsch, purely imitative art, being, as the Latin proverb says, the ape of nature (ars simia naturae).5 Moreover, this aesthetic judgement, as suggested above, was followed by a political one, one which ascribed avant-garde practices such as abstraction to democracy and realism to totalitarianism. According to this understanding, abstract art was not possible in the oppressive communist state, and as such is the reason why abstraction was favoured during the competition for the Unknown Political Prisoner. This exclusive view, however, is not sustainable when confronted with the official art of the Polish State, which in many cases was in fact abstract. This is especially visible in monuments erected in the

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4 5

All the details about the organisation of the competition and the questions surrounding its founding are elaborated on in: Robert Bustow, The Limits of Modernist Art as a Cold War Weapon: Reassessing the Unknown Patron of the Monument to the Unknown Political Prisoner, in: Oxford Art Journal 20 (1997), p. 75. For more information about the competition consult: Joan Marter, The Ascendancy of Abstraction for Public Art: The Monument to the Unknown Political Prisoner Competition, in: Art Journal 53 (1994), pp. 28-36; Sergiusz Michalski, Public Monuments: Art in Political Bondage 1870-1997, London 1998, pp. 156-161. Cf. Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of Modern Art, Chicago 1985. Cf. Clement Greenberg, Avant-Garde and Kitsch, in: Clement Greenberg, Collected Essays, Chicago 1988, pp. 5-23.

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1950s and 1960s on sites officially referred to as sites of »Polish martyrdom«.6 For example, Władysław Hasior’s »Monument to Those Killed in Action Fighting for the Consolidation of the People’s Power« erected in Czorsztyn in 1966 hardly corresponds to the traditional idea of a monument,7 explicated by Rosalind Krauss as a sculpture (usually allegorical) placed on a pedestal which served as a form of mediation between the physical site and its symbolic or historical reality.8 Krauss emphasises the intimate bond which tied together monument and site, at least in pre-modern times because for her the birth of the modernist practices brought this particular »logic of the monument« to an end. As prime examples she points to Rodin’s projects for the »Gates of Hell« and his portrait of »Balzac«, both of which were commissioned as monuments but never reached their goals and planned destinations, circulating instead in many various versions and to many different places.9 In Krauss’s schema this detachment from the site is followed by a »fetishization of the base«, and a concentration on the internal, formal and sculptural qualities of the monument, as in the case of Brancusi’s »Endless Column«. The modernist monument is therefore an oxymoron, since it no longer attempts to connect with the past but commemorates only its own structure.10 This point would most probably be accurate in the case of the competition for the Monument to the Unknown Political Prisoner, as not only the identity of the commemorated prisoner but for most of the time the site itself was unknown. The place where the monument was supposed to be erected was chosen in Berlin only after the jury agreed upon the final design.11 In the case of the Auschwitz competition how-

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In 1947, in Poland a special institution supervising the erection of these monuments had been created – The Council for the Protection of Memorials to Struggle and Martyrdom ´ (Rada Ochrony Pamieci ˛ Walk i Mecze ˛ nstwa). 7 For more examples of Polish monuments from that period see: Hanna Kotkowska-Bareja, Public sculpture in Poland in the 1960s: context and practice, in: Charlotte Benton (ed.), Figuration/Abstraction. Strategies for Public Sculpture in Europe in 1945-1968, London 2004, pp. 51-69. 8 Rossalind Krauss, Sculpture in the Expanded Field, in: October 8 (1979), pp. 30-44. 9 For further comments on Rodin, cf. also Rossalind Krauss, Passages in Modern Sculpture, London/Cambridge 1981, pp. 7-39. 10 Cf. also: James E. Young, Memory / Monument, in: Robert S. Nelson/Richard Schiff (eds.), Critical Terms for Art History, Chicago 2003, pp. 234-251. 11 The then Mayor of West Berlin, Ernst Reuter, offered a site on the hilltop at the edge of the British occupied zone, so that the monument would be visible from the Soviet side; Bustow, The Limits of Modernist Art, p. 72.

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ever, it was the site which both preceded and eventually also eclipsed the monument. The IAC was generally more precise in articulating their expectations for the monument and made a point of clearly drawing the framework under which the artist was supposed to work. The requirements were formulated as follows: »a/ the monument may not encroach on the reserve grounds of the former camp in Brzezinka, which is the site where the former prisoners used to live. The monument should be placed between the ruins of the crematoriums. b/ the monument should be comprehensible for the pilgrimages of the masses and for excursions. c/ the monument should be functional and suitable for devotional practices, mass rallies and the giving of honors. d/ the memorial should be monumental, due to both: its content and its location on the large, flat area. e/ whatever symbolic meaning the monument conveys, its meaning should be characteristic for the whole issue [...] since according to the competition’s regulations the subject of the monument is the life, suffering, fighting and death of the millions of victims«.12

Even though formulated laconically and presented in several points, the criteria were rather blurry, especially for the artists not accustomed to the official, highly plaintive language. How can an artist create a work of art without integrating it into the site? Reading the criteria, one can come to the conclusion that on the one hand what was wanted was a modernist monument as defined by Rosalind Krauss, on the other hand the organisers emphasised the role of the monument as a »voice of the killed« or a »mass grave of the 4 million dead«.13 This paradox is well illustrated in a letter sent to all the participating artists

12 »a/ pomnik nie mo˙ze narusza´c rezerwatowego charakteru obszaru b. obozu w Brzezince, to jest terenu, na którym mieszkali wie´ ˛ zniowie, i winien by´c usytuowany miedzy ˛ krematoriami, [...] b/ pomnik winien by´c zrozumiały przez masowe pielgrzymki i wycieczki, c/ pomnik winien spełnia´c okre´slone funkcje zwiazane ˛ z kultem, umo˙zliwia´c masowe manifestacje, składanie hołdu itp., d/ pomnik winien by´c monumentalny zarówno ze wzgledu ˛ na jego tre´sc´ , jak i usytuowanie na wielkim, płaskim terenie, e/ je˙zeli pomnik bedzie ˛ symbolizował jaka´ ˛s tre´sc´ , tre´sc´ ta musi by´c typowa dla cało´sci zagadnienia [...] albowiem regulamin konkursu mówi wyra´znie, z˙ e tematem pomnika jest z˙ ycie, cierpienie, walka i s´ mier´c milionów ofiar«, Sprawozdanie z wyjazdu do Pary˙za delegacji polskiej do biura MKO, 1958, The Archives of the Collection Department in the Memorial and Museum in Auschwitz-Birkenau. ˛ pomnika w O´swie˛ 13 »Podkładka dla uczestników konkursu na budowe˛ miedzynarodowego cimiu«, The Archives of the Collection Department in the Memorial and Museum in Auschwitz-Birkenau.

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by the head of the IAC, Hermann Langbein, in which he stated: »We are well aware of the fact that what we ask for surpasses all human images [an idiomatic expression – przekracza´c wyobra˙zenie, A.P.]. O´swi˛ecim did as well«.14 Despite all the difficulties many artists decided to participate in the competition and ultimately 426 projects were submitted, out of which seven were chosen for the first stage of the competition. Unlike the case of Reg Butler’s design, none of these was authored by a sole artist, most of them in fact (apart from one) were co-operative efforts between sculptors and architects and in some cases even engineers. Often, as in the project proposed by a team led by Andrzej Jan Wróblewski and Andrzej Latos, the monument co-opted not only the space intended for it (the place between the ruins of crematoria) but also the road parallel to the camp’s railway tracks. Wróblewski and Latos proposed a very modest and simple solution: stones with names of the victims should be placed along the road, which would lead to a memorial – a plain white wall. The project was rejected due to a »lack of a central place of devotion« or a »culmination point«.15 These two demands had often been emphasised in the documentation of the competition, revealing that behind the intention to build a monument also stood a hope or even a demand that it might provide some kind of closure or frame for the whole site, which by the late 1950s still only had an improvised exhibition and had devoted all its means to restoration and conservation of the collapsing buildings. A similar proposal, but this time with the road cutting downwards into the earth, culminating in a wall on top of which there was to be a monumentally scaled sculpture of deformed human hands, was presented by a team, to which the leading female sculptor and former Auschwitz inmate Alina Szapoczników belonged. The project was rejected because it would not integrate very well »with the monument, which is the camp itself. It is indeed too narrow as it determines a cruel division between the impression caused by the camp and that which a viewer could experience engaging in its mass which contains a different atmosphere«.16

14 Letter from Herman Langbein, 04/12/1958, The Archives of the Collection Department in the Memorial and Museum in Auschwitz-Birkenau. 15 Cf. Sprawozdanie, ibid. 16 Sprawozdanie, ibid.

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The jury’s assessments of the projects were expressed in a clear and comprehensive manner. However, especially while discussing the perception of the project which is to become the main focus of this article, namely »The Road Monument« proposed by the team whose leader was the Polish modernist architect and theoretician Oskar Hansen, a narrow-mindedness on the part of the organisers of the competition is an issue often raised by many authors. Another common objection is the juror’s lack of skill to comprehend avant-garde ideas, which exceeded its time and belonged, in the rhetoric of contemporary writers discussing the competition, more to the future than to the past.17 However, reading such short appraisals as the one above, one is not confronted with the ignorance of the judges but the opposite. The expertise informing the conclusions that Szapoczników’s project is based on contrast and that Wróblewski’s and Latos’s design is too modest and de-centered, can still be supported. The projects were rejected because each one of them, in their own ways, failed the expectations of the IAC. The most famous and scandalous rejection took place during the second stage of the competition when the team consisting of the aforementioned architect Oskar Hansen, Jerzy Jarnuszkiewicz (sculptor), Julian Pałka (graphic designer) and Edmund Kupiecki (photographer) and, in the final stage, Zofia Hansen, who contributed the drawings, decided to drastically change their project. Instead of a previously proposed underground sanctuary entitled »The Slab Monument«, they presented a project of a concrete road, which was supposed to run across the camp, incorporating the urn with the ashes, which stood there as a temporary monument, and proceeding further before disappearing into the forests of Birkenau. The main gate to the camp was supposed to be closed so that nobody would be able to repeat the way taken by Auschwitz inmates. The most controversial part of the project however, was its conceptual frame with the radical idea that everything outside of the road should not be preserved, which would eventually result in allowing the space to be reclaimed by the thick forest surrounding Auschwitz.

17 Cf. Piotr Piotrowski, Auschwitz versus Auschwitz, in: Pro Memoria 20 (2004), pp. 15-25; Katarzyna Murawska-Muthesius, Oskar Hansen i kontr-pomnik o´swiecimski ˛ 1958-59, in: Obieg 2 (2006), pp. 50-56; Katarzyna Murawska-Muthesius, Oskar Hansen, Henry Moore and the Auschwitz Memorial debates in Poland, 1958-59, in: Benton (ed.), Figuration/Abstraction, pp. 193-213.

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The language applied by Hansen is striking for being extremely contemporary and reminds one for example of Daniel Libeskind’s Jewish Museum in Berlin, or Peter Eisenman’s »Memorial to the Murdered Jews of Europe«. »The Road Monument« as well as the aforementioned contemporary monuments reject realism and operate by using the site itself and its spatial potential. It is, like Libeskind’s museum, a strong and a radical intervention into the given structure. The design of »the Road Monument«, despite the fact of dramatically different political circumstances of its creation, shares the formal self-critical qualities of Eisenman’s and Libeskind’s projects. The abandonment of traditionally understood monumental sculpture anticipates the idea of »sculpture in the expanded field« formulated by Krauss in her 1979 essay.18 These analogies led to contemporary art historians presenting the »Road Monument« as somehow conceptually belonging more to its future rather than its past and present. The aim of this paper is to re-examine this opinion as well as the relationship of »The Road Monument« to its times and its proper context. The strong vision proposed by the artists was rejected not entirely due to the unfavorable opinion of the jury but mainly because of the resistance of the representatives from the IAC. This resistance was caused by the fact that the project refused to respect the primacy of the preservation of the camp. It is difficult to reconstruct now how the discussion about the project took shape. Romuald Gutt, Hansen’s teacher, was among the defenders of the project and his opinion was supported by the jury. As Katarzyna Murawska-Muthesius points out, most of the writings about the rejection of Hansen’s proposal emphasise that it is »generally believed, that it was the Auschwitz survivors who were not able to identify their suffering with such an abstract, or ›purely negative‹, expression of remembrance«.19 This thesis is controversial and it seems necessary to consider what it might mean not to be able to identify one’s suffering with some objects, what kind of qualities an object should posses in order to enable such an identification, and why an abstract, spatial project by Hansen does not evoke these qualities.

18 Krauss, Sculpture in the Expanded Field. 19 Katarzyna Murawska-Muthesius, Oskar Hansen and the Auschwitz »Countermemorial«, in: Art Margines, , 11/12/2010.

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In order to return to this question one needs also to return to the genealogy of the Auschwitz monument, which can be traced back as early as 1945. In a letter to his friend Jerzy Adam Brandhuber, an Auschwitz inmate, wrote: »I was doing the project for the monument, for after the war. [...] It was gigantic but we hoped that people all over the world will give the means, that it will be too much money for its erection and maintenance. The whole area of the camp in Brzezinka was supposed to be flattened as a colossal drill square, kilometers, square kilometers ... In the middle a giant chimney, like in crematorium, only x times bigger, 50-60 meters high. And on it, thickly carved from four sides, stone symbols. Visible from far – from far. The gas in the chimney is burning, like an eternal flame. Day and night. In the night a glow, like in those days. And around in rows, like cell blocks, when they stood at a roll call in formed upright squads, like stones, like urns (not graves, because there were none), squads in ten rows – like there, in the camp – 500, 600 prisoners, five, six millions of stones. That’s how they counted then. And between those groups it’s empty, no grass, no trees. And around them only a row of lights with guns and lamps. And the former SS-men would till the end of their lives weed this field. The project found some recognition – that’s what Benek S´ wierczyna told me (executed on the 30th of December 1944). Who judged it – I don’t know«.20

This poetic description of a project for the monument complicates our story as what the inmate Brandhuber proposes is hardly a figurative statue or any kind of traditional commemorative structure. It is, in fact, extremely monumental and at the same time highly conceptual as it is driven first and foremost by the communication of an idea of justice as re-enactment. The idea of an abstract, negative form, contrary to what Murawska-Muthesius claims, was in fact conceivable to at least some inmates. However, what was possible in the 1940s became unthinkable in the late 1950s and 1960s. In this respect, I would like to argue, counter to the claims of commentators such as the Polish art historian Piotr Piotrowski and Muthesius that the idea of »The Road Monument« came not too early but rather too late.21 The destiny of the former concentration camp was the subject of many debates in Poland during the late 1940s, when problems with the maintenance of the site became apparent and acute. The camp after the liberation

20 The full version of the letter is available in: Janina Jaworska, ›Nie wszystek umre˛ ...‹, Twórczo´sc´ Plastyczna Polaków w hitlerowskich wiezieniach ˛ i obozach koncentracyjnych 1939-45, Warsaw 1975, pp. 50-51. 21 Please consult footnote 17.

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was in a poor state, buildings were almost ruined and most of the inmates were physically exhausted and needed immediate medical treatment. The Red Cross established a hospital in the camp, at the same time trying to bury all the dead. Both of these undertakings were beyond the capability of a relatively small medical staff. Moreover, two historical commissions were collecting evidence and interviewing the witnesses of the Nazi crimes perpetrated there.22 A special institution was created to maintain the camp. Some of the materials, e.g. brick and wood from the barracks were sent to Warsaw and used to rebuild the capital. Other valuable things like clothes, pots found in the camp, etc. were distributed by social organisations amongst the poorest.23 Shortly after the war people who used to inhabit O´swi˛ecim and the surrounding villages many of which had been turned into sub-camps (e.g. Monowice, Harm˛ezy), started coming back to their homes. Some of those people were dismantling the barracks using the wood to build houses, others were even looking for the »Jewish gold« among dead bodies (this procedure was reported and criticised by many newspapers).24 This tense situation reached a point where former inmates, carrying guns, were guarding the camp against the nearby villages. The legal procedures enabling the creation of a Museum began as early as 1945, however the most problematic issue – the expropriation of the land – was not solved until the mid-1960s.25 Despite these difficulties the museum was opened by the Polish Prime Minister and former Auschwitz inmate Władysław Cyrankiewicz in June 1947. This event was followed by two parliamentary regulations, which stated that Auschwitz, or rather O´swi˛ecim as it was referred to mainly by its Polish name at that time, is supposed to be »preserved forever as a Monument to the Martyrdom of Poles and other Nations« – this way of referring to the victims failed to recognize Jews as a seperate group

´ 22 Cf. Jacek Lachendro, Zburzy´c czy zaora´c ...? Idea Zało˙zenia Panstwowego Muzeum ´ ´ Auschwitz-Birkenau w Swietle Prasy Polskiej w latach 1945-1948, O´swiecim: ˛ Panstwowe Museum Auschwitz-Birkenau w O´swiecimiu, ˛ Łód´z 2007, pp. 24-30. 23 Cf. Remanenty z O´swiecimia ˛ na odbudowe˛ kraju, in: Echo Krakowa, no. 95, 16/06/1946, p. 5. ˛ in: Echo Krakowa, no. 47, 27/07/1946, p. 1; »O´swiecim ˛ 24 Cf. Kopalnia Złota w O´swiecimiu, 1946«, in: Dziennik Ludowy, no. 30, 30/01/1946, p. 3. 25 Cf. Marek Rawecki, Strefa Auschwitz-Birkenau, Cracow 2003.

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of victims and was commonly used in the official language.26 Even though the status of the site seemed to be secure it was still not certain what kind of institution should be installed there. One of the popular ideas put forward in the press by a former inmate, Jacek Marecki, was called »The Living Memorial« and suggested that boarding schools for the orphans of the war be built.27 A small school and orphanage had been opened but operated only for three years. Throughout the next few years discussions about the final character of the museum kept on appearing in the press while the camp itself was decaying. Even though the nationalistic discourse about the site was among the most relevant, a lot of criticism towards the martyrology and highlighting of the suffering was voiced.28 The apogee of these complaints was reached in 1948 when an article entitled »Thorny Issue« (»Dra˙zliwy Problem«) was published in two major newspapers.29 The author claimed that a »museum requires conservation, but the horror cannot be conserved« and continued to suggest that the museum be dismantled and some kind of memorial be built there instead. The debate about Auschwitz was very animated. Some radical voices even proposed that a farm should be created there.30 Such criticism was taken seriously, but in spite of being expressed by some journalists well-connected to the Communist Party, eventually rejected. Consequently, the final step was to establish O´swi˛ecim as a quasi-sacral site of Polish martyrdom and struggle against Germany, which should remain untouched and preserved for as long as possible. Hansen’s project from 1958-9, with its intention in many respects to let the camp become part of the past, was sympathetic to a disapproval articulated at an earlier time, which by the time of the competition had already been put aside. The paradigm of O´swi˛ecim had been already established and in 1958 it was too late to intervene. Since the realisation of the project accepted by the jury was not possible, in order to avoid a scandal, a new solution was invented. The jury decided that the three best teams – one Polish, lead by Hansen and two Italian,

´ 26 Cf. Ustawa z dnia 2 lipca 1947 r. o utworzeniu Rady Ochrony Pomników Mecze ˛ nstwa, ´ Ustawa z dnia 2 lipca 1947 r. o upamietnieniu ˛ mecze ˛ nstwa Narodu Polskiego i innych Narodów w O´swiecimiu, ˛ Dziennik Ustaw – 1947, no. 52, pp. 264-265. ˙ Pomnik Martyrologii 27 Cf. Lachendro, Zburzy´c czy zaora´c, p. 44; J. Marecki, O Zywy O´swiecimskiej, ˛ in: Repatriant 12 (1946), p. 9. 28 Cf. Lachendro, Zburzy´c czy zaora´c, p. 79. 29 Cf. Kazimierz Ko´zniewski, Dra˙zliwy Problem, in: Przekrój 179 (1948), p. 3. 30 Cf. Lachendro, Zburzy´c czy zaora´c, p. 95.

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lead by Piero Cascella and Perugini, should find a compromise solution, which would contain some ideas from all of their projects. In his announcement of the judges’ decision Henry Moore emphasised the impossibility of representing Auschwitz, which according to him was a task that required a genius, a new Rodin or Michelangelo: »The choice of monument to commemorate Auschwitz has not been an easy task. [...] The crime was of such stupendous proportions that any work of art must be on an appropriate scale. But, apart from this, is it in fact, possible to create a work of art that can express the emotions engendered by Auschwitz? It is my conviction that a very great sculptor – a Michelangelo or a new Rodin – might have achieved this«.31

The projects of the three teams differed a lot from each other. Therefore co-operation between the artists was difficult and at some point Oskar Hansen, feeling he would have to compromise too much, withdrew from the competition. The other artists remained and created what was characterised by Piotr Piotrowski as an »artistic failure«,32 while others simply made no comment. The final monument is situated between the ruins of the crematoria and takes the form of a long row of semi-abstract stone shapes. Facing the monument, on the far right, there is a vertical structure constructed from the same stone elements, topped with a polished piece of marble, in the middle of which a triangle is carved (ill. 1). On the ground in front of the monument there is a plaque informing us of a posthumous medal given to all victims of Auschwitz and another plaque indicating the number of victims.33 The most striking and unusual characteristic of the monument is not what is present but what is not, namely the base. The lack of a base is both a rejection of monumentalism (in order to see a monument a viewer needs to look up) as well as modernist self-referentiality manifesting itself in fetishisation of the base, as pointed out by Krauss. The rejection of the base is therefore an anti-monumental gesture, which makes the sculpture’s form more vulnerable. Therefore, the monument also ceases to provide some kind of central structure which would organize the space.

31 Henry Moore, The Auschwitz Competition, O´swiecim ˛ 1964, unnumbered pages. 32 Piotrowski, Auschwitz versus Auschwitz, p. 17. 33 The plaques were changed in 1994 and now they inform about 1,5 million victims instead of 4 million.

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Agata Pietrasik

Ill. 1: The Unveiling of the Monument in Auschwitz-Birkenau, 1967. Photo taken by Matuszewski. Source: Polish Press Agency.

The memorial is situated behind the official plaques, which seem to be simply attached to it, rather than incorporated into it. In this sense, the monument creates its own space, the rhythm of which is articulated by the flow of sculptures. It is hard to describe these pieces of sculpture as abstract or realistic. They are certainly a kind of hybrid standing on the threshold between the two. It seems their purpose is to evoke various cliches, images one has in mind even before entering Auschwitz. To some they resemble trains, to others antique sarcophagi or bodies, they might also echo the words of the previously quoted letter of the former inmate, in which he compared prisoners to stones. The sculptures are somehow boundless. Stacked and laid out, they permeate each other evoking associations other than their individual forms. James E. Young has suggested that the marble plaque sitting on the vertical element of this monument had been added at the last minute and replaced the figural composition. The reason for this addition

Abstraction & Figuration in the Auschwitz Memorial

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Ill. 2: The Monument in Auschwitz-Birkenau, 2003, side view. Photo: Annika Wienert

might have been a need for a symbolic closure of the whole structure, which was also a requirement of the competition’s organisers. However, the structure also reiterates a memorial which stood at Birkenau from 1955 and which was removed from the site before the erection of the present memorial.34 This incorporation of a previous structure might therefore be understood as a way of creating a linkage not only to the wartime, but also post-war history of the camp, making the project even more site-specific. Looking at the memorial from a present-day perspective, it is quite easy to observe how much it belongs aesthetically to a previous period. At present it appears almost displaced and inadequate. Comparing the archival material recording the monument shortly after its unveiling, one also notices the passage of time. The stones have turned from white to grey (ill. 2), the marks carved into them have become

34 Cf. James E. Young, The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning, New Haven/London 1993, pp. 119-121.

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Agata Pietrasik

less emphatic. This stands in opposition to the stated aim of Hansen’s project, which was to preserve the monument rather than the camp. It is somewhat ironic that it is now the monument, not the camp, which is slowly passing away, that it is in fact the camp, not the monument, which has been preserved. The existing memorial structure is an embodiment of failure. A monument to the failure of the very avant-garde idea which came too late and which therefore can be grasped only in its own delay.

Works cited Charlotte Benton (ed.), Figuration/Abstraction. Strategies for Public Sculpture in Europe in 1945-1968, London 2004. Robert Burstow, The Limits of Modernist Art as a »Weapon of the Cold War«. Reassessing the Unknown Patron of the Monument to the Unknown Political Prisoner, in: Oxford Art Journal 20 (1997), pp. 68-80. Clement Greenberg, Collected Essays, Chicago 1988. Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of Modern Art, Chicago 1985. Irena Grzesiuk-Olszewska, Polska rze´zba pomnikowa w latach 1945-1995, Warszawa 1995. Jonathan Huener, Auschwitz, Poland, and the Politics of Commemoration, 1945-1979, Athens (USA) 2003. Rosalynd Krauss, Passages in Modern Sculpture, Cambridge/London 1981. Sculpture in the expanded field, in: October 8 (1979), pp. 30-44. Jacek Lachendro, Zburzy´c czy zaora´c ...? Idea Zało˙zenia Panstwowego ´ Muzeum Auschwitz-Birkenau w s´wietle prasy polskiej w latach 1945-1948, O´swi˛ecim 2007. Joan Marter, Postwar Sculpture Re/Viewed, in: Art Journal 53 (1994), pp. 20-22. Sergiusz Michalski, Public Monuments: Art in Political Bondage 1980-1994, London 1999. The Ascendancy of Abstraction for Public Art: The Monument to the Unknown Political Prisoner Competition, in: Art Journal 53 (1994), pp. 28-36. James E. Young, The Texture of Memory Holocaust Memorials and Meaning, New Heaven/London 1993.

Einen Ort abbilden Die Präsentationen der Gelände ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager in den Fotografien von Christian Herrnbeck A LEXANDRA K LEI

Die Kamera befindet sich nahe über dem Boden, exakt in der Mitte zwischen den Längsfassaden zweier Holzbaracken. Sie sind links und rechts im Bildvordergrund angeschnitten, verlaufen damit scheinbar ins Unendliche und ein/e Betrachter/in kann nicht ermessen, in welchem Verhältnis er oder sie zur Gesamtaufnahme steht. Der Blick schweift über große, am Boden liegende Steine. Im Mittelpunkt der strengen Symmetrie, das heißt am Ende der Baracken, stehen Bäume. Hier ist es dunkel, Details sind kaum auszumachen. Die Aufnahme betont eine streng geometrische Anlage, verweist auf Eintönigkeit und Wiederholung, sperrt die Betrachter/innen zwischen die Holzfassaden und zieht den Blick in die in ihren Einzelheiten nicht eindeutig zu erkennende Fläche. Dies geschieht nicht aus der Perspektive eines aufrecht stehenden, sondern eines am Boden sitzenden, liegenden oder hockenden Menschen. Die Fotografie kündigte die Ausstellung »Niemands Orte.« des Berliner Fotografen Christian Herrnbeck an, die im Rahmen des Symposiums »Die Transformation der Orte. Annäherungen an die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager« in der Galerie Rottstr. 5 in Bochum präsentiert wurde.1 Gleichzeitig zeigt sie – ohne dies zu benennen – einen Bereich der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen in Oranienburg (Brandenburg) und vermittelt Aussagen über den materiellen und den nicht-materiellen Ort. Dass es sich um eine Abbildung aus einem ehemaligen Konzentrationslager handelt, wird nicht aus ihr selbst heraus deutlich, sondern erschließt 1

Die Ausstellung konnte in Bochum vom 3. bis zum 7.12.2009 besichtigt werden. Vom 10.2. bis zum 7.6.2009 war sie in einer anderen Präsentationsform bereits im Neuen Museum der Gedenkstätte Sachsenhausen gezeigt worden. Bei der Präsentation handelt es sich um einen Einblick in den jeweiligen Arbeitsstand; der Fotograf arbeitet kontinuierlich weiter an dem Projekt. Zum Konzept vgl. auch den Beitrag von Christian Herrnbeck in diesem Band.

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Abb. 1: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Baracken 38 und 39. Foto: Christian Herrnbeck, 2003.

sich erst in der Lektüre des umseitig abgedruckten Textes: »Ein fotografisches Projekt über das europaweite System nationalsozialistischen Terrors. Erstes Teilprojekt: Konzentrationshauptlager, T4-Mordstätten, Vernichtungslager«. Mit der fehlenden topografischen Bezeichnung erlangt das Bild eine auf den Titel bezogene Allgemeingültigkeit. Die hier vorgestellte ebenso wie die in der Ausstellung gezeigten Abbildungen stehen exemplarisch für die Fotografie als Möglichkeit, sich den Ereignissen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager sowie den unterschiedlichen Aspekten von Erinnerung auf einer künstlerischen Ebene zu nähern. Die Bilder befinden sich dabei in einem Wechselverhältnis zum einen zu den dokumentarischen Abbildungen der Alliierten in den Tagen nach der Befreiung und zu unserem aus ihnen resultierenden Wissen und Vorstellungen über die nationalsozialistischen Lager und die Geschehnisse, die dort stattfanden. Zum anderen sind sie an die heutigen Orte gebunden, die sich sowohl in ihrer Funktion und Bedeutung als auch in ihrer materiellen Erscheinung grundlegend von den ehemaligen Lagern unterscheiden. Über die Entscheidung für einen Ausschnitt, einen Standpunkt, eine Perspektive, aber auch durch Witterungsverhältnisse oder die Einbeziehung von Menschen werden durch die Abbildungen Vorstellungen vom Ort gebildet. Damit handelt es sich bei der Fotografie nicht um

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die Abbildung von uninterpretierter Wirklichkeit.2 Sie ist ein Medium, das Informationen, Eindrücke, Momente – sowohl zeitlich als auch räumlich – speichert und weitergibt und auf diese Weise, ebenso wie zum Beispiel Denkmale, eine Bedeutung des Ortes konstruiert. Dies beginnt bereits mit der Entscheidung, einen bestimmten Bereich im Raum abzubilden, der, so herausgeschnitten, von seiner Umgebung abgegrenzt und als ein Ort kreiert wird.3 Dies geschieht bei den Geländen ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager aufgrund ihrer Geschichte; hier besonders in Folge des massenhaften Elends und Sterbens der Insassen. Die Fotografie bildet diesen Ort damit vor dem Hintergrund zahlreicher Zuschreibungen und vorhandener Bilder, aber auch der vorhandenen materiellen Reste und der Interpretationen des/der Fotograf/in ab. Sie erzeugt so ein Bild, das über die konkreten Gebäude, Zäune, Wiesen, Wege etc. hinausgeht. Detlef Hoffmann hat deutlich gemacht, dass die Bauwerke an dokumentarischem Ansehen verlieren und an symbolisierendem gewinnen: »›Dokumentarisch‹, darunter verstehe ich, daß die Bauwerke durch ihr bloßes Dasein die Verbrechen bezeugen, die hier stattfanden. Da dies nur in einem engen Bezugsrahmen möglich ist, zudem viel Wissen (das die beweissichernden Augen und Hände lenkt) voraussetzt, ist diese dokumentarische Funktion höchst unselbständig. Sie nimmt mit dem Tod von Augenzeugen, von Erzählungen ab. Die Fotografie eines solchen Bauwerkes erhebt den Anspruch, mit gleicher dokumentarischer Autorität zu sprechen wie das Bauwerk selbst. Tatsächlich aber isoliert jede Fotografie. Sie schneidet aus dem Raum- und Zeitkontinuum einen Moment und einen Ort. Sie kann durch die künstlerische Umsetzung die symbolisierende Kraft des Motivs fördern und lenken. Der Ausschnitt vermag dann für etwas, gar für das Ganze, zu stehen, gewinnt

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Zur Wahrnehmung von Fotografien als »Es-ist-so-gewesen« vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1989, besonders: »Es-istso-gewesen«, S. 86-88 (kursive Schreibweise im Original). Auch Susan Sontag wies auf die Beweiskraft der Fotografie hin, vgl. u.a. Susan Sontag, In Platos Höhle, in: dies., Über Fotografie, Frankfurt/M. 17. Aufl. 2006, S. 9-30, hier S. 11 f. Der Aspekt der Auswahl ist nicht nur vor dem Hintergrund von Relevanz, dass räumliche und temporale Ausschnitte gezeigt werden, sondern auch, dass bei der Präsentation immer eine Auswahl vorgenommen wird: Nur einige der erzeugten Fotografien werden wiederholt abgebildet und hierbei handelt es sich zum Teil um Ausschnitte der ursprünglichen Abbildungen. Auf diese Weise ist »unsere« Vorstellung – hier von den (eben befreiten) Lagern – nicht allein geprägt von den Sichtweisen und Blickwinkeln der alliierten Fotograf/innen, sondern auch von den Kriterien, die für oder gegen die Veröffentlichung von Bildern sprechen.

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so eine weitere, größere Bedeutung, als das fotografierte Objekt funktional hatte oder gehabt haben mag.«4

Damit ist der Beitrag der Fotografie in einem Prozess der Transformation der Wahrnehmung und Aneignung der einzelnen Gebäude beschrieben. Die Aufnahmen können also nicht allein dahingehend betrachtet verstanden werden, inwieweit sie dokumentieren, welche Gebäude zu welchem Zeitpunkt noch erhalten waren. Hervorzuheben ist vielmehr ihr Beitrag zu den Aussagen über den Ort und die Ereignisse, der mit Hilfe von künstlerischen Mitteln, persönlichen und professionellen Auswahlkriterien erzeugt wird. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die Arbeiten von Christian Herrnbeck betrachtet werden. Von besonderem Interesse ist dabei, wie sich die Fotografien auf den Ort beziehen, welche Aspekte seiner Geschichte und aktuellen Nutzung sie auswählen. Daraus resultierend stellt sich die Frage nach den Vorstellungen, die sie sowohl über den heutigen als auch den historischen Ort erzeugen. Einleitend wird ein Überblick zu den Schwerpunkten bisheriger Fotoarbeiten in diesem Bereich gegeben.

Bilder aus den Lagern Es lassen sich drei Kategorien von Fotografien benennen, die sich auf die Orte der (ehemaligen) Konzentrationslager beziehen:5 Die SS dokumentierte die großen Konzentrationslager besonders im Zeitraum ihrer Einrichtung.6 In einzelnen Fällen gelang es KZ-Insassen,

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Detlef Hoffmann, Auschwitz im visuellen Gedächtnis. Das Chaos des Verbrechens und die symbolische Ordnung der Bilder, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung. Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/M./New York 1996, S. 223-257, hier S. 247. Mit den unterschiedlichen Fotografien aus und von den (ehemaligen) Konzentrationsund Vernichtungslagern beschäftigte sich eine im Jahr 2001 u.a. in Paris (Frankreich) und Winterthur (Schweiz) gezeigte Ausstellung. Dabei rekonstruierten die Kuratoren Pierre Bonhomme und Clément Chéroux auch die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte des jeweiligen Bildes. Vgl. auch: Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933-1999), Ausst.-Kat. Fotomuseum Winterthur 2001. Solche Fotoalben waren in den letzten Jahren Gegenstand von Ausstellungen in Gedenkstätten. Vgl. exemplarisch: Günter Morsch (Hg.), Von der Sachsenburg nach Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten, Berlin 2006. Anfang 2010 übergab ein pensionierter Geheimdienstoffizier der US-Armee dem Holocaust Memorial Museum in Washington ein Fotoalbum, das er 1946 in einer Wohnung in Frankfurt/M. gefunden hatte. Es handelt sich um private Aufnahmen aus dem All-

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heimlich Fotografien anzufertigen.7 Damit existieren zwei Kategorien von Abbildungen, die sich direkt auf die Lager in ihrer ursprünglichen Nutzung und Funktion beziehen. Mit der Befreiung der Konzentrationslager entstanden Aufnahmen seitens der Alliierten. Sie hatten die Aspekte des massenhaften Sterbens in den Lagern, den Zustand der Überlebenden und die Besichtigungen, zu welchen die Alliierten die deutschen Anwohner/innen verpflichteten, zum Gegenstand. Neben den Angehörigen der Armeeeinheiten nahmen auch renommierte Fotograf/innen solche Aufnahmen auf.8 Diese Bilder fanden weite Verbreitung. Sie wurden in der deutschen Presse abgedruckt,9 in Broschüren sowie auf Plakaten veröffentlicht10 und einige wurden im Zuge einer Reportage auch in der amerikanischen Vogue platziert.11 Diese Fotografien sind jedoch

tag von SS-Angehörigen im Jahr 1944. Das Album ist im Internet veröffentlicht unter: , 16.2.2010. Die Überlebende Lilly Jacob fand kurz nach der Befreiung in einer SS-Kaserne des KZ Mittelbau-Dora ein Fotoalbum der SS mit 193 Bildern, welche die Ankunft eines Transports ungarischer Juden in Auschwitz Birkenau zeigen. Die Fotografien wurden zusammen zunächst von Serge Klarsfeld (Hg.), The Auschwitz Album. Lili Jacob’s Album. New York 1980 veröffentlicht. 7 So fertigte zum Beispiel an einem Sonntag im Juni 1944 der französische KZ-Gefangene Georges Angéli im KZ Buchenwald elf Aufnahmen an. Einzelne von ihnen werden auf den Informationstafeln auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte, alle in der Ausstellung »Schwarz auf Weiß. Fotografien vom Konzentrationslager Buchenwald« gezeigt. Sie ist sowohl in der Gedenkstätte als auch im Internet zugänglich: , 16.2.2010. Im August 1944 gelang es Häftlingen eines Sonderkommandos des Krematoriums und der Gaskammer V in Auschwitz Birkenau, vier Fotos zu machen. Vgl. zur Geschichte und Bedeutung dieser Aufnahmen: Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007. Darüber hinaus ließ die SS Einzelaufnahmen von Opfern anfertigen, die in die Lager eingeliefert wurden. 8 Exemplarisch sei verwiesen auf Margaret Bourke-White, Deutschland. April 1945 (Dear Fatherland, Rest Quietly), München 1979, besonders S. 90-96 und die anschließenden Abbildungen 53 bis 68. Derzeit arbeitet Maria Schindelegger an einer Dissertation über Bourke-White. 9 Einen Einblick, jeweils einhergehend mit der Abbildung von Beispielen, geben: Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, besonders: Veröffentlichung des Schreckens, S. 132-156, sowie, mit einer Untersuchung ihrer Verwendung in Tageszeitungen etc.: Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, besonders: Bilder vom Feind – Das Scheitern der optischen Entnazifizierung 1945, S. 23-99. 10 So u.a. Amerikanisches Kriegsinformationsamt (OWI) im Auftrag des Oberbefehlshabers der Alliierten Streitkräfte (Hg.), KZ – Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern, o.O., o.J. [1945]. Beispiele für Plakate finden sich ebenfalls bei Brink, Ikonen, S. 72-77. 11 Zur Arbeit der Fotografin Lee Miller vgl. Katharina Menzel-Ahr, Lee Miller. Kriegskorrespondentin für Vogue. Fotografien aus Deutschland, Marburg 2005.

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»insofern irreführend [...], als sie Lager im letzten Stadium zeigen, im Moment des Einmarsches der alliierten Truppen. [...] gerade das, was auf die Alliierten so empörend wirkte und das Grauen der Filme ausmacht, nämlich die zu Skeletten abgemagerten Menschen, [ist] für die deutschen Konzentrationslager nicht typisch gewesen: Vernichtungen wurden systematisch durch Gas, nicht durch Verhungern betrieben«.12

Dennoch prägen diese Abbildungen die Vorstellungen von den Konzentrationslagern nachhaltig. Nach wie vor13 werden sie im Zuge von Ausstellungen,14 im Internet15 oder in Zeitungsartikeln16 verbreitet. Dabei dokumentieren sie nicht nur einen Zeitpunkt und Ausschnitt an einem bestimmten, nachvollziehbaren Ort oder illustrieren schriftliche Darstellungen. Vielmehr symbolisieren sie die Verbrechen der SS in den Lagern generell. Sie vermitteln unabhängig von der konkreten Zuordenbarkeit eine Vorstellung von den deutschen Konzentrationsund Vernichtungslagern.17 Susan Sontag beschrieb die Wirkung, wel-

12 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 7. Aufl. 2000, S. 919 f., FN 122. 13 Darüber hinausgehend arbeitete Cornelia Brink drei »Thematisierungskonjunkturen« [Schreibweise im Original] heraus, in denen jeweils eine Auswahl von Fotos häufiger abgebildet und thematisiert wurden: 1945 als Konfrontation der Deutschen mit den Konzentrationslagern durch die Alliierten, zwischen 1960 und 1965 die NS-Aufnahmen von Opfern mit dem Fokus »Vernichtung der Juden« und in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre sogenannte Knipserbilder, mit denen zum einen private Bilder jüdischer Familien öffentliche Aufmerksamkeit erhielten ebenso wie wenig später die privaten Aufnahmen deutscher Wehrmachtssoldaten. Vgl. Cornelia Brink, Foto / Kontext. Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck 2003, S. 67-85. 14 Hier sei zum einen auf die bereits genannte Ausstellung »Schwarz auf Weiß« der Gedenkstätte Buchenwald verwiesen, welche die historischen Aufnahmen in acht Komplexe fasst: »Das Lager«, »Die Häftlinge«, »Die SS«, »Blick von Außen«, »Das Lager als Beweis«, »Die Befreiten«, »Die Täter«, »Neue Öffentlichkeit«. Zum anderen werden die Filme und Fotografien der Alliierten selbst zu Ausstellungsstücken wie in der 2007 neu eröffneten Ausstellung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. 15 Dies erfolgt auch durch die Gedenkstätten selbst, so veröffentlichen die Gedenkstätte Buchenwald und die Gedenkstätte Mittelbau-Dora jeweils ein Fotoarchiv im Internet: und , 16.2.2010. 16 So zum Beispiel jeweils im Zuge der breiten Berichterstattung zu den Jahrestagen der Befreiung der Konzentrationslager. 17 Detlef Hoffmann hat die Bedeutung einzelner Fotografien für aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit der Vernichtung der europäischen Juden herausgearbeitet. Vgl. Hoffmann, Auschwitz im visuellen Gedächtnis, S. 223-257. Zur Bedeutung dieser Bilder in der Literatur vgl. Jürgen Zetzsche, Beweisstücke aus der Vergangenheit. Fotografien des Holocaust und ihre Spuren in der Literatur, in: Fotogeschichte 39 (1991), S. 47-59.

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che die erste Begegnung mit den Bildern aus den befreiten Lagern Dachau und Bergen-Belsen auf sie hatte: »Nichts, was ich jemals gesehen habe – ob auf Fotos oder in der Realität –, hat mich so jäh, so tief und so unmittelbar getroffen. Und seither erschien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: In die Zeit, bevor ich diese Fotos sah (ich war damals zwölf Jahre alt) und die Zeit danach – obwohl noch mehrere Jahre verstreichen mußten, bis ich voll und ganz begriff, was diese Bilder darstellten. [...] Als ich diese Fotos betrachtete, zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens; ich fühlte mich unwiderruflich betroffen, verwundet, aber etwas in mir begann sich zusammenzuballen; etwas starb; etwas weint noch immer.«18

Diese Fotografien der befreiten Konzentrationslager und ihrer Opfer sind als »Ikonen der Vernichtung« (Cornelia Brink) Bestandteil der kollektiven Erinnerung an die nationalsozialistischen Lager und die Shoah, unabhängig von ihrem konkreten Entstehungsort oder dem Zeitpunkt der Aufnahme. Darüber hinaus wurden einzelne Sujets wie die Abbildung ausgemergelter Menschen hinter Stacheldraht zum übergeordneten Zeichen für Unrecht, Ausgrenzung, Gewalt. Sie bilden damit nicht nur eine Folie, vor der wir die heutigen Orte betrachten und die Ereignisse erinnern, sondern auch eine, vor der aktuelle Verbrechen medial präsentiert werden können.19

Bilder von den (ehemaligen) Lagern Mit dem Ende der 1980er Jahre fanden die Orte der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Eingang in Projekte von Fotograf/innen. Damit entstand eine vierte Kategorie von Abbildungen, die sich auf diese Orte bezieht.20 Einige dieser Arbeiten sollen im Folgenden in einem Überblick vorgestellt werden. Sie zeigen sowohl die 18 Sontag, Platos Höhle, S. 25 f. 19 So veröffentlichte u.a. The Guardian Weekend am 10.4.1993, S. 31 unter der Überschrift »A destiny worse than war« eine Abbildung mit Männern, die zum Teil abgemagert und mit freiem Oberkörper hinter Stacheldraht stehen. Abgebildet ist sie u.a. bei Brink, Foto / Kontext, S. 82. 20 Im Folgenden sind nur die fotografischen Projekte von Relevanz, die sich direkt auf die Orte in ihrer baulichen Substanz beziehen. Verwiesen werden soll an dieser Stelle aber auch auf zwei Projekte, die sich mit verbliebenen Gegenständen der Opfer auseinandersetzen: Esther Shalev-Gerz, MenschenDinge. The human aspect of objects, Ausst.-Kat.,Weimar 2006 sowie Naomi Tereza Salomon, Asservate. Exhibits. Auschwitz, Buchenwald, Yad Vashem, Ausst.-Kat., Ostfildern 1995.

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möglichen Unterschiede in der Annäherung als auch die immer wiederkehrende Bezugnahme auf die erhaltene historische Bausubstanz. Wesentlich ist hier die Frage, welche Aspekte welcher ehemaligen Lager thematisiert werden. Der umfangreichste Bildband stammt von Dirk Reinartz.21 Er stellt sowohl ehemalige Vernichtungsstätten als auch eine Vielzahl der Stammlager mit Hilfe der Abbildung von erhaltener Bausubstanz, einzelnen Innenräumen, Details und Möbeln vor. In einigen Fällen nimmt er Hinweise auf dauerhafte Erinnerungszeichen in Form von Denkmalen sowie der Überbauung von einzelnen Bereichen – hier im Besonderen mit Gefängnissen wie in Herzogenbusch (Niederlande) und Neuengamme (bei Hamburg) – in die Sammlung auf. Der Fotograf Michael Kenna veröffentlichte im Jahr 2001 zwischen 1988 und 2000 gemachte Aufnahmen,22 die eine Auswahl ehemaliger Stammlager sowie die Vernichtungsstätten Chełmno, Beł˙zec, Treblinka und Sobibór (alle in Polen) umfassen. Neben der Abbildung von Details und Einzelelementen, wie zum Beispiel von der Decke hängenden Haken oder Besonderheiten einzelner Gelände wie die erhaltenen Schornsteine vormaliger Baracken in Auschwitz-Birkenau (Polen), werden Bautypologien gebildet: Wachtürme, Stacheldraht und Zäune, Eingangstore und -gebäude, Krematorien, Schienenstränge. Hinweise auf heutige Gedenk- und Informationsaspekte fehlen ebenso wie Menschen. Erich Hartmann reiste im Winter 1993/94 zu den Orten ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager in Europa. Auch in dem von ihm veröffentlichten Band23 sind einzelne Aspekte des Lebens und Sterbens in den Lagern anhand von erhaltenen Gebäuden und Resten unterschiedlicher Orte nebeneinander gestellt. Er nimmt Hinweise auf Gedenk- und Erinnerungszeichen sowie, wenn auch oft im Nebel verschwindend, die Silhouetten von Menschen in die Präsentation der Orte auf.

21 Dirk Reinartz/Christian Graf von Krockow, totenstill. Bilder aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern, Göttingen 1994. Für eine Auseinandersetzung mit diesen Fotografien von Reinartz sei verwiesen auf: Annika Wienert, Dirk Reinartz: totenstill, in: Stiftung Situation Kunst (Hg.), Situation Kunst – für Max Imdahl. Die Erweiterung 2006, Düsseldorf 2008, S. 165-171. 22 Michael Kenna, Impossible To Forget. The Nazi Camps Fifty Years After, Tucson 2001. 23 Erich Hartmann, Stumme Zeugen. Photographien aus Konzentrationslagern, Gerlingen 1995.

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Sigurd Maschke wiederum konzentrierte sich allein auf die Lager Auschwitz, Beł˙zec, Majdanek, Sobibór und Treblinka.24 Neben erhaltenen Gebäuden, Details oder einzelnen Objekten der Deportierten zeigen einige seiner Fotografien auch Spuren individuellen Gedenkens in Form von Kerzen und Blumen. Insgesamt verbindet diese Arbeiten neben den Schwarz-WeißDarstellungen und der Entscheidung für zwei Lagertypen und die bekannten -orte die Konzentration auf erhaltene Bausubstanz.25 Nur in einigen wenigen Ausnahmen wird auf den Ausstellungscharakter oder Formen des Gedenkens explizit hingewiesen. Vielmehr präsentieren sie die Orte als leere, ungenutzte, zum Teil ruinöse und bedrohliche Gelände. Da die Fotografien hier nicht verdeutlichen, wie viel Zeit zwischen dem Verlassen der Lager und dem Moment der Aufnahme vergangen ist, entsteht bei nicht wenigen Aufnahmen der Eindruck von Unmittelbarkeit und Nähe zu den historischen Ereignissen: Der Fotograf könnte ein kürzlich verlassenes Lager ebenso aufgesucht haben wie einen seit langem ungenutzten Ort, an dem nur noch einzelne Gebäude vorhanden sind. Sie scheinen als einzige für eine Verbindung zwischen den vergangenen Ereignissen auf dem Gelände und der Gegenwart zu stehen. Das weitgehende Ausblenden der Nachnutzungen beschränkt den Umgang mit den Orten auf gesellschaftliches Vergessen, die wenigen Verweise auf Formen individuellen Gedenkens reduzieren die Erinnerung auf persönliche Gesten der Trauer Einzelner. Ergänzt werden alle Fotografien durch kurze Erläuterungen. Sie stellen – entweder nachgeordnet oder wie bei Erich Hartmann unter den einzelnen Bildern – die einzelnen Gebäude und Bereiche bis auf wenige Ausnahmen in ihrer historischen Funktion vor. Sie geben keine Hinweise auf Rekonstruktionen oder den Ausstellungscharakter der Anlage und Elemente und verstärken so die auf die Vergangenheit bezogenen Aussagen der Fotos. Bezogen auf die eingangs zitierte Aussage Detlef Hoffmanns lässt sich zu den bisher vorgestellten Projekten zusammenfassen, dass sie thematisieren, was von den ehemaligen Lagern an materieller Substanz sichtbar blieb. Dabei reduzieren die Ausschnitte ebenso wie sie

24 Sigurd Maschke, Der schwarze Weg, Berlin 1991. 25 Dies bezieht sich auf die in den jeweiligen Katalogen veröffentlichten Fotografien. Inwieweit die Konzepte und die Ausstellungen andere Orte einbezogen, kann an dieser Stelle nicht nachvollzogen werden.

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Bedeutung verleihen: Sie lösen ein Objekt sowohl aus den heutigen Geländen als auch die mit ihm verbundenen symbolischen Bezüge zu Einzelaspekten der Lager, wie primitive Bedingungen, Gleichförmigkeit, Abgrenzung, gewaltsamer Tod, aus den historischen Ereignissen. Die abgebildeten Gebäude scheinen in der Lage, Wesentliches zu den Geschehnissen sagen zu können, symbolisch für sie zu stehen. Während die Fotografien der Alliierten mit der Abbildung der Leichenberge und dem erbärmlichen Zustand der Überlebenden von den Verbrechen der Deutschen zeugen sollten, thematisieren heutige fotografische Projekte auch die Abwesenheit der Opfer.26 Dabei erfolgt diese Bildproduktion vor dem Hintergrund der historischen Aufnahmen. Sie sind die visuelle Vorgabe und strukturieren – gemeinsam mit den materiellen, physisch erfahrbaren Räumen – die heutigen Bilder vor. Damit sind sie eine Voraussetzung, die menschenleer präsentierten Räume in ihrer Bedeutung lesen zu können. Abschließend soll auf zwei fotografische Projekte hingewiesen werden, die sich von den bisher genannten unterscheiden. Zunächst ist dies die Arbeit von Reinhard Matz, der mit seinen Fotografien das »Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken« thematisiert.27 So wird hier ein ehemaliges Eingangstor in Theresienstadt (Tschechien) nicht als Beispiel einer Bauform von Zugängen präsentiert,28 sondern mit dem Hinweis, dass es sich um einen »[f]risch aufgetragene[n] Leitspruch« handele,29 der über dem Durchgang angebracht ist. Damit betont Matz den Ausstellungscharakter des Ortes, hebt die neuen Bedeutungen und Funktionen hervor. Es wird deutlich, wie wenig es sich um Gebäude und Elemente handelt, die unbeschadet und ohne Veränderungen durch die Jahrzehnte nach der Befreiung gegangen sind.30

26 An dieser Stelle sei zusätzlich auf die Arbeit von Mikael Levin verwiesen. Sein Vater begleitete 1944/45 als Kriegsberichterstatter gemeinsam mit dem Fotografen Eric Schwarb die US-Army. Mikael Levin fotografierte diese Orte dann Mitte der 1990er Jahre und stellte auf diese Weise die Aufnahme der historischen Orte den heutigen Nutzungen und Geländen gegenüber. Vgl. Mikael Levin, Suche, Ausst.-Kat., München 1996. 27 Reinhard Matz, Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken, Reinbek b. Hamburg 1994. 28 So Reinartz/von Krockow, totenstill, S. 177 und Erläuterung S. 284. 29 Matz, Die unsichtbaren Lager, S. 60. 30 Hingewiesen werden soll hier auf das »Exit/Dachau-Projekt« des Künstlers Joachim Gerz, das 1977 im Lenbachhaus München präsentiert wurde. Mit der Installation, in der Fotografien der Gedenkstätte aus dem Jahr 1972 gezeigt werden, thematisierte er mit der Fokussierung auf die museums- und sicherheitstechnischen Inschriften, dass die Beschriftungen ein Medium sind, das sowohl das KZ als auch die Gedenkstätte »möglich

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Der Fotograf Andreas Magdanz brach mit seiner Arbeit, die im Zuge des Films »Birkenau und Rosenfeld«31 begann, bewusst mit der Schwarz-Weiß-Ästhetik der bisher genannten Projekte.32 Seine Aufnahmen des Geländes in Auschwitz-Birkenau erfolgten im Juni und die gezeigten Gebäude, Mauerreste und Wege sind in grüner, blühender Vegetation situiert. Damit verweist er nicht nur auf die Idylle, die ein solcher Ort zum Beispiel in den warmen Monaten des Jahres ausstrahlen kann, sondern auch darauf, dass ihm von dem Schrecken, die er für die Opfer bedeutete, nichts anzusehen ist. Gleichzeitig verortet Magdanz seine Aufnahmen eindeutig in der Gegenwart. Beide Projekte verschieben den Blick auf die ehemaligen Lagergelände, indem sie nicht die historische Funktion der Gebäude betonen, sondern die heutigen Aneignungen, Funktionen und Rezeptionen zeigen oder auf mögliche Irritationen verweisen. Sie ermöglichen es, die Nachnutzungen und die Mittel, mit denen den Geländen heute Bedeutung verliehen werden, ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die Leerstellen und Grenzen unserer unmittelbaren Wahrnehmung. Neben diesen Arbeiten professioneller Fotograf/innen initiieren Gedenkstätten Workshops, in denen Jugendlichen mittels Fotografie eine Annäherung an die historischen Ereignisse ermöglicht werden soll.33 Auch hier wird auf den historischen Ort und seine materiellen Reste Bezug genommen.34 Mit Hilfe der Fotografie kann damit auf

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macht«. Jochen Gerz/Francis Levy, Exit. Das Dachau-Projekt, Frankfurt/M. 1978, S. 41. Der Band enthält neben den Fotografien auch einen Pressespiegel sowie Reaktionen von Besucher/innen aus dem Besucherbuch. Die Bedeutung dieses Projektes und die Weigerung, sich mit der Geschichte der Gedenkstätte und den Mitteln ihrer Präsentation kritisch auseinanderzusetzen, zeigt sich u.a. auch in dem Umstand, dass die vormalige Leiterin der Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, noch 2006 davon sprach, die Arbeit sei undifferenziert, manipulativ und denunziere die Gedenkstätte. Vgl. Barbara Distel, Neue Formen der Erinnerung?, in: Dachauer Hefte 22 (2006), S. 3-10, hier S. 5. Französisch-deutsch-polnische Koproduktion aus dem Jahr 2002, Regie: Marceline Loridan-Ivens. Der Film erzählt von der Rückkehr einer Auschwitzüberlebenden in das ehemalige Lager Birkenau. Andreas Magdanz, Auschwitz-Birkenau: Eine Hommage an Marceline Loridan-Ivens, o.O. 2003. Dabei sind neben den einzelnen Aufnahmen längere Passagen aus den 1946 geschriebenen »Erinnerungen« des letzten Lagerkommandanten Rudolf Höß gestellt. Diese sind veröffentlicht als: Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz, München 1963. Exemplarisch sei verwiesen auf: Knut Dethlefsen/Thomas B. Hebler (Hg.), Bilder im Kopf. Auschwitz. Einen Ort sehen, Berlin 1997 sowie Ursula Härtl/Walter Mönch (Hg.), Buchenwald. Relikte – Denkmale – Erinnerung. Fotografiert von Mitgliedern des Fotoclubs Bayreuth (Bayern), Lauterbach (Hessen), Rudolstadt (Thüringen), Weimar/Buchenwald 2001. Nur wenige fotografische Projekte wenden sich den Besucher/innen zu. Verwiesen sei auf eine Arbeit der Fotografin Claudia Niehaus, die am Torgebäude der Gedenkstätte

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die historischen Orte und so scheinbar auf die Ereignisse in den Lagern zugegriffen werden. Die Annäherung erfolgt als Akt individuellen Handelns, der nicht nur in der Betätigung des Auslösers besteht, sondern bereits die Suche nach dem geeigneten Motiv oder das Warten auf den richtigen Zeitpunkt einschließt. Das Fotografieren eröffnet den Jugendlichen zugleich Handlungsmöglichkeiten, die über das Gedenken oder die Aneignung von Wissen hinausgehen: Ich selbst kann etwas tun, damit die Verbrechen und die Orte nicht vergessen werden. Gleichzeitig verfüge ich so über die Möglichkeit, meine eigenen Emotionen umzusetzen und nicht auf sie zurückgeworfen zu sein.

Niemands Orte. Bei den Fotografien von Christian Herrnbeck handelt es sich um Farbaufnahmen, die unterschiedliche Lagertypen sowie andere Orte der Verfolgung und Vernichtung zeigen. Die Präsentation in der Ausstellung erfolgt als einstündige Projektion von circa 1.200 Fotografien. Zwischen sie sind Schriftfelder mit den Namen des vorgestellten Lagers, der Auflistung der dazugehörigen Außenlager und – in einigen Fällen – ausgewählten Erläuterungen oder Zitaten geschaltet. Die Vorstellung der Orte erfolgt jeweils als fotografischer Komplex, in dem die einzelnen Elemente zusammengefasst werden, die der Fotograf sowohl als charakteristisch für das jeweilige Gelände als auch für den Lagertypus angesehen hat. Nachdem die Ausstellung in der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen am historischen Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers gezeigt wurde, befand sie sich in Bochum35 in Räumen, die in keinem explizit hergestellten Zusammenhang zu Ereignissen im Nationalsozialismus stehen. Auf diese Weise wurden die Abbildungen in einen städtischen, alltäglichen Kontext transportiert. Die Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager sind aus dem alltagsweltlichen Zusammenhang gelöst, ein Besuch stellt ein besonderes Ereignis dar und Sonderausstellungen müssen hier

Buchenwald Portraits von Besucher/innen machte, die dabei waren, das Gelände wieder zu verlassen. 35 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die in Bochum gezeigte Ausstellung und lassen dabei die Intentionen des Fotografen außen vor. Hierfür, sowie für einen Einblick in das Gesamtprojekt, sei nochmals auf den Beitrag von Christian Herrnbeck im vorliegenden Band verwiesen.

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einen inhaltlichen Zusammenhang zum Ort herstellen. Galerien präsentieren dagegen zuallererst künstlerische Arbeiten, Besucher/innen können sie als Auseinandersetzungen zu einem bestimmten Thema erwarten. Damit erreicht eine hier situierte Ausstellung nicht nur ein anderes Publikum, sie verdeutlicht auch, dass die auf den Nationalsozialismus und besonders seine Verbrechen bezogenen Formen einer darstellenden Erinnerung nicht an die ehemaligen Standorte der Lager gebunden sind. Auf drei Monitoren, die auf einer weißen Holzwand montiert waren, werden jeweils für drei Sekunden die 37,5 x 21,5 Zentimeter großen Aufnahmen gezeigt. In der Regel sind es drei Fotografien gleichzeitig, in Ausnahmefällen zwei oder eine. Die Reihenfolge entspricht der Einrichtung des Lagers: Zunächst werden die Orte ehemaliger Konzentrationshauptlager in Deutschland und Österreich vorgestellt, anschließend Gebäudekomplexe vormaliger T4-Mordstätten in diesen beiden Ländern. Darauf folgen im besetzen Polen, Frankreich, den Niederlanden, Estland sowie ab 1940 im deutschen Reichsgebiet eingerichtete Konzentrationslager, einzelne ausgewählte Standorte von Ghettos (Lodz, Warschau, Riga-Kaiserwald), die Vernichtungslager und Massenmordstätten wie der Wald von Krepiecki für das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek (Polen) oder Kooga als ein Außenlager des KZ Vaivara (Estland). Mit dem Haus der Wannseekonferenz in Berlin wird ein einziger Ort der Täter explizit genannt. Zwar wird seine Bedeutung in unmittelbarem Zusammenhang mit den anschließend vorgestellten Vernichtungslagern in Beł˙zec, Sobibór und Treblinka gesetzt; im Zuge der Gesamtdarstellung kommt ihm allerdings eine exponierte Stellung zu: Mit ihm werden nur an dieser Stelle die Täter auf einer administrativen, über das konkrete Morden an einzelnen Orten hinausgehenden, Ebene thematisiert. Das Lager Auschwitz-Birkenau wird als letzter Ort in der Auflistung gezeigt. Auf diese Weise erscheint er als das Ende einer Entwicklung, die die nationalsozialistischen Verbrechen nahmen. Die Art der Präsentation lässt den Betrachter/innen jeweils nur einen kurzen Moment, den vorgestellten Ort zu erfassen; die Entscheidung, wie lange sie ein Bild betrachten möchten, ist ihnen abgenommen. Dabei sind sie mit der visuell vermittelten Information nahezu allein. Zwar ermöglichen die Namen eine topografische Verortung; welche Funktionen einzelne Gebäude oder Bereiche hatten, ist – ohne konkrete Vorkenntnisse über das jeweils vorgestellte ehemalige

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Lager – nur für Aspekte nachvollziehbar, die über die materielle Bedeutung hinaus eine symbolische erlangt haben: Lagertore, Baracken, Stacheldrahtzäune, Wachtürme. Einzig durch den Kontext können die Betrachter/innen davon ausgehen, dass Wohnhäuser, Straßen, Bahnhöfe oder -gleise, Wiesen und Wälder in einer Beziehung zum ehemaligen Lagerstandort stehen. Um welche es sich dabei handelt, ist der Darstellung ebenso wenig abzulesen, wie Konkretes zu Funktion oder Bedeutung dieser unspezifischen Elemente. So bleibt zum Beispiel unaufgelöst, welche Beziehung abgebildete Wohnhäuser zum historischen Ort und den Ereignissen haben. Diese Informationen sind allerdings auch im Gelände nicht unbedingt einholbar; zum ehemaligen Lager gehörend werden hier nur die Gebäude und Bereiche wahrgenommen, die als Teil der Gedenkstätte markiert sind oder über die Besucher/innen explizit Informationen mitbringen. Die Fotografie stellt eine Zugehörigkeit zum Lager und damit zu den Ereignissen nun darüber her, dass sie einen Ort in die Präsentation einbindet. Allerdings löst sie die Frage, was dieses Gebäude oder diesen Platz mit dem historischen Geschehen verbindet, nicht auf. Fünf Aspekte sind vorstellbar: Es kann sich um Stätten handeln, die der Folter und Gewalt dienten, wie bei dem sogenannten Grauen Haus für das KZ Plaszow (bei Krakau/Polen) oder – wie im Fall des nur wenige Meter entfernten Wohnhauses des damaligen Lagerkommandanten Amon Göth – um Gebäude, die vom Lagerpersonal und seinen Familie genutzt wurden. Die Abbildungen können auch auf die Nachbarschaft zwischen dem Lager und einer Stadt oder einem Dorf verweisen und somit auf die Möglichkeiten für Anwohner/innen, von den Ereignissen und dabei besonders von der Gewalt gegen Insassen oder ihren Lebensbedingungen Kenntnisse zu erlangen, zum Beispiel in unmittelbarer Umgebung der Vernichtungslager Beł˙zec oder Sobibór. Die Fotografien zeigen aber auch die Weiternutzung von Gebäuden, ihre fehlende Einbeziehung in Erinnerungsorte wie das ehemalige Jourhaus oder zwei Baracken des Lagers Gusen I (Österreich). Schließlich zeigen sie in einigen Fällen die Überbauung der Gelände und damit das Ausblenden ihrer Geschichte aus einer öffentlichen Erinnerung wie im Falle des KZ Riga-Kaiserwald (Lettland). Neben der Dokumentation vorhandener Bausubstanz wird über die Wahl der Motive, Ausschnitte, Blickrichtungen und Witterungsverhältnisse sowie die Zusammenstellung und die Reihenfolge der Präsentation ein Ort geschaffen, der sowohl den derzeitigen Zustand

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des Geländes beinhaltet als auch seine Geschichte. Vermittelt werden Aussagen sowohl zu dem Gelände selbst, das heißt seinen erhaltenen Objekten, ihrer Materialität, den Wegen, möglichen Leerstellen, als auch – und darauf soll es im Folgenden ankommen – zu seiner Bedeutung, eine Vorstellung, die sich auf die Ereignisse bezieht. Kehren wir an dieser Stelle zu dem eingangs vorgestellten Motiv der Baracken zurück. Bei Holzbaracken handelt es sich um einen Gebäudetypus, der nicht nur für die Unterbringung von KZ-Gefangenen als charakteristisch gilt, sondern der gleichzeitig für die besonders schlechten Bedingungen der Insassen steht: Überfüllung, Gestank, Elend. Über die Fotografie kann in Erweiterung der ersten Überlegungen festgehalten werden, dass sie nicht allein ein Holzgebäude abbildet. Vielmehr transportiert sie vor diesem Hintergrund einer symbolischen Zuschreibung auch Aussagen zur Nutzung und Bedeutung mit. Die Art der Aufnahme vermittelt dem Betrachter/der Betrachterin das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein. Dies resultiert vor allem aus der Betonung der Steine im Vordergrund. Die Gebäude links und rechts wirken wie Mauern, die nicht zu überwinden sind. Infolge der Aufnahme mit einem Weitwinkelobjektiv bekommen sie Größe und Bedrohlichkeit. Der starke Hell-Dunkel-Kontrast verstärkt dies zusätzlich. Die Flucht innerhalb des Bildes liegt in einem schwarzen Bereich, am Ende zwischen den beiden Gebäuden. Hierhin wird der Blick gelenkt, ohne dass aufgelöst wird, was genau sich hier befindet. Man sieht in eine dunkle Fläche, die aufgrund der Perspektive eine zentrale Stellung einnimmt, ohne dass Bestandteile eruiert werden können. Transportiert wird insgesamt die Vorstellung, dass es sich um einen bedrohlichen, gefährlichen Ort handelt, dem man nicht entkommen kann, dem man ausgeliefert ist.36 Die Betrachter/innen der Fotografie werden damit in ein Verhältnis zu den Ereignissen oder Bedingungen in den Baracken – aber auch darüber hinaus in einem Lager – gesetzt. Dies resultiert nicht aus den materiellen Gegebenheiten im heutigen Gelände oder Erfahrungen, die Besucher/innen jetzt machen können, sondern wird konstruiert aus den ästhetischen Entscheidungen und bildlichen Strategien des Fotografen. Konkretisiert wird der erzeugte Eindruck durch Vorwissen zur Geschichte des Lagers, zu begangenen Verbrechen, zu seiner Bedeutung für die Opfer etc. Die Fotografie geht

36 Ich danke an dieser Stelle Albrecht von Grünhagen für seine Hinweise.

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so auf Emotionen ein, die dem Ort zugeschrieben werden, erneuert und reproduziert sie in der Folge weiter. In Christian Herrnbecks Projekt finden sich immer wieder Aufnahmen, die den Blickwinkel einer am Boden liegenden Person auf den Ort wiedergeben. Obwohl theoretisch unklar bleibt, ob sie sich ausruht, gefallen ist, geworfen wurde oder zu schwach ist, aufzustehen, kann im Kontext der nationalsozialistischen Lager davon ausgegangen werden, dass sich diese Perspektive auf die ausweglose, unterlegene Situation der Gefangenen bezieht. Auf diese Weise wird nicht allein an die Opfer erinnert; vielmehr leiten die Emotionen und Erlebnisse der KZ-Insassen den Blick auf die heutigen Gelände und bestimmen hier die Wahrnehmung des Ortes. Während auch in unserem Alltag die Aneignung von Orten, Szenen, Ereignissen unter dem Einfluss von Erfahrungen oder (historischem) Wissen erfolgt, setzt die Fotografie dies bewusst ein und verstärkt es mit bildnerischen Strategien. Bereits mit der für die Ausstellung getroffenen Auswahl an Orten, aber auch den Motiven, bezieht sich die Präsentation auf eine Vielzahl unterschiedlicher Lager, sowohl in der historischen Nutzung als auch bezüglich der jeweiligen räumlichen und materiellen Voraussetzungen. Dabei zeigt sie Wiederholungen wie stets gleiche Bautypologien und Nutzungen ebenso wie die Besonderheiten der historischen Orte und der heutigen Erinnerungsstätten. Deutlich wird nicht nur, dass ganz verschiedene Lager und damit Bedingungen vor Ort existierten. Vielmehr zeigt sich, dass es einen wiederkehrenden Typus einzelner Elemente in den Lagern gab: Tore, Wachtürme, Latrinen, Holzbetten, Gänge, Bunker, Zäune. Es wird dabei vermittelt, dass häufig nur ganz bestimmte Elemente ausgewählt wurden, um die ehemaligen Lager in Gedenkstätten zu präsentieren. Die Fotografien können damit auch auf die Leerstellen heutiger Darstellungen hinweisen. Allerdings konzentriert sich die Auswahl – dies wird besonders bei den Orten ehemaliger Stammlager offensichtlich – auf die Bereiche, die auch in den Gedenkstätten zentral sind: die eingezäunten Flächen, in denen einst die Gefangenen eingesperrt waren. Erhaltene SS-Anlagen wie die Kasernen in Sachsenhausen oder Dachau (bei München/Bayern) spielen ebenso wenig eine Rolle wie die SS-Villen in Ravensbrück (bei Fürstenberg/Brandenburg). Setzen wir die präsentierte Arbeit von Christian Herrnbeck in ein Verhältnis sowohl zu den historischen Aufnahmen aus den Lagern als auch zu den bereits vorgestellten fotografischen Projekten seit Anfang

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der 1990er Jahre, so ist auf zwei wesentliche Aspekte zu verweisen: Die Bilder werden zum einen als Serie präsentiert. Damit wird weniger der Fokus auf den einzelnen Ort oder das einzelne Objekt gelegt als vielmehr ein Einblick in das System der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspraxis gewährt. Dies bedeutet auch, dass die Betrachter/innen eine Vorstellung von der räumlichen Dimension bekommen können, die nicht von einer Vorauswahl seitens des Fotografen bestimmt ist, sondern lediglich den Arbeitsstand des Gesamtprojektes widerspiegelt. Es handelt sich zum Zweiten um Farbaufnahmen. Sie sind als deutlicher Hinweis darauf zu lesen, dass es sich um Bilder der Gegenwart handelt, die sich von den historischen Aufnahmen der Alliierten abgrenzen.37 Im Unterschied zu deren Bildern sind die Aufnahmen von Christian Herrnbeck menschenleer. Während bei Erstgenannten bekanntermaßen die Leichenberge und der Zustand der Überlebenden im Mittelpunkt standen, sind es bei Zweitgenannten die baulichen und räumlichen Strukturen. Während sich hier mit der Abwesenheit von Menschen und in der Konzentration auf Gebäude zunächst eine Anknüpfung an die Arbeiten anderer zeitgenössischer Fotografen ergibt, wird in Folge der gewählten Präsentationsform ein Unterschied deutlich: Mit der Darstellung von zwei oder drei Bildern gleichzeitig trifft Christian Herrnbeck auch Aussagen zur Struktur der heutigen Orte. Er setzt Gebäude nebeneinander, betont so immer wieder eine Linearität von Komplexen, Sichtachsen, Symmetrien. Der Ansatz von Christian Herrnbeck verdeutlicht nicht nur, dass gänzlich unterschiedliche Lagertypen existierten und daraus folgend

37 Harald Welzer hat darauf hingewiesen, dass unsere Vorstellungen vom Nationalsozialismus als »ein erratischer Abschnitt in der Geschichte [...] visuell höchst spezifisch, nämlich schwarz-weiß, konnotiert« sei. Er erscheint in der Folge »vor dem Hintergrund der realhistorischen Ereignisse [...] außerweltlich grauenhaft und darum geradezu surreal.« Vgl. Harald Welzer, Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Geschichte, in: ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus, Tübingen 1995, S. 165-194, hier S. 166. Die besondere Bedeutung der Frage einer Farbigkeit von historischen Bildern des 2. Weltkriegs wurde zuletzt im Zuge der Ausstrahlung der französischen Dokumentation »Der Krieg« (am 1., 8. und 15.3.2010 in der ARD) deutlich: Ankündigungen verwiesen wiederholt darauf, dass der ursprüngliche Schwarz-Weiß-Film nachkoloriert wurden und dass darauf »seine Authentizität, damit seine Wahrhaftigkeit« beruhe. Einzig »[d]ie Bilder vom Grauen des Grauens, also die Szenen aus Bergen-Belsen oder Auschwitz, bleiben schwarzweiß und dokumentieren gerade damit die Singularität der Schoa.« Die Zitate sind exemplarisch Jochen Hieber, Herz der Furie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2010, im Internet vgl. , 2.3.2010, entnommen.

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unterschiedliche Praxen der Verfolgung und Vernichtung, er bezieht auch Orte ein, deren Existenz weniger Menschen bekannt sein dürfte. Damit bewegt er sich weg von den Lagern und Namen, die im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen oder sogar zu Symbolen für die Ermordung der europäischen Juden geworden sind. Von Bedeutung sind im Einzelnen dabei nicht nur die zentralen Elemente, die Eingang in unser kollektives (Bild-)Gedächtnis gefunden haben als vielmehr auch diejenigen, die einzelne Bereiche des Ortes heute kennzeichnen: weite leere Flächen, erhaltene und gepflegte ebenso wie verfallene Bausubstanz, Mahnmale, Neubauten. Dadurch, dass unbekannte Orte des Verbrechens gezeigt werden, wird auch in Frage gestellt, was die Betrachter/innen tatsächlich über die »bekannten« Lager wissen. Indem darüber hinaus Bilder präsentiert werden, die keine »Ikonen der Vernichtung« sind, wird die scheinbare Eindeutigkeit von Ikonen wie Stacheldraht oder Orten, die im Nebel versinken – die ebenfalls gezeigt werden – zumindest in Frage gestellt. Cornelia Brink schreibt: »Man erkennt sie wieder und meint, mit dem Wiedererkennen hätte man auch schon verstanden.«38 Dieser Fehlschluss kann durch die Bilder, die nicht wiedererkannt werden, bei der Betrachtung bewusst werden. Das Projekt Christian Herrnbecks verfolgt eine zweifache Strategie: Zum einen dokumentiert es umfangreich die ehemaligen Standorte der unterschiedlichen über Europa verteilten Lager zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer historischen und rekonstruierten Bausubstanz sowie einzelnen Erinnerungs- und Gedenkzeichen. Er erstellt vor diesem Hintergrund gleichsam ein Archiv. Es verweist dabei auch auf die Leerstellen in unserem Bildgedächtnis, auf die Auswahl an Orten, die wir zur Kenntnis nehmen, aber auch die erneute Ikonisierung einzelner Motive. Mit diesem Aspekt hängt der zweite Punkt zusammen: Es handelt sich nicht allein um eine dokumentarische Arbeit, die mit nüchternem, vorgeblich objektivem Blick den vorhandenen Bestand aufnimmt. Vielmehr sind die einzelnen Bilder geprägt von dem Vorwissen des Fotografen, seinen Emotionen, seinen ästhetischen Vorstellungen ebenso wie seinem professionellen Können. Sie geben auch den Stand seiner Kenntnisse zu einzelnen Orten oder dem Netz der nationalsozialistischen Lager wieder. Die Fotografien spiegeln seinen individuellen Blick auf den Ort, ohne dass sie los-

38 Brink, Ikonen der Vernichtung, S. 238.

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gelöst sind von kollektiven Vorstellungen oder einem Rückgriff auf vorgegebene Bilder. Sie sind der Versuch, einen Zugang zu ermöglichen, eine Verbindung herzustellen zur Geschichte, dem Ort eine Bedeutung zu geben. Indem die einzelnen Bilder in einer Präsentation neben- und nacheinander gestellt werden, bilden sie einen Komplex, der geprägt ist von der scheinbaren Wiederkehr einzelner Motive, der Wiedererkennung produziert und Leerstellen sichtbar werden lässt.

Literatur Amerikanisches Kriegsinformationsamt (OWI) im Auftrag des Oberbefehlshabers der Alliierten Streitkräfte (Hg.), KZ – Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern, o.O., o.J. [1945]. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 7. Auflage 2000. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1989. Margaret Bourke-White, Deutschland. April 1945 (Dear Fatherland, Rest Quietly), München 1979. Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. Cornelia Brink, Foto / Kontext. Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck 2003, S. 67-85. Clément Chéroux (Hg.), mémoire des camps. photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933-1999), Ausst.-Kat. Fotomuseum Winterthur 2001. Knut Dethlefsen/Thomas B. Hebler (Hg.), Bilder im Kopf. Auschwitz. Einen Ort sehen, Berlin 1997. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007. Barbara Distel, Neue Formen der Erinnerung?, in: Dachauer Hefte 22 (2006), S. 3-10. Jochen Gerz/Francis Levy, Exit. Das Dachau-Projekt, Frankfurt/M. 1978. Ursula Härtl/Walter Mönch (Hg.), Buchenwald. Relikte – Denkmale – Erinnerung. Fotografiert von Mitgliedern des Fotoclubs Bayreuth (Bayern), Lauterbach (Hessen), Rudolstadt (Thüringen), Weimar/Buchenwald 2001. Erich Hartmann, Stumme Zeugen. Photographien aus Konzentrationslagern, Gerlingen 1995.

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Jochen Hieber, Herz der Furie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2010. Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz, München 1963. Detlef Hoffmann, Auschwitz im visuellen Gedächtnis. Das Chaos des Verbrechens und die symbolische Ordnung der Bilder, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung. Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/M./New York 1996, S. 223-257. Michael Kenna, Impossible To Forget. The Nazi Camps Fifty Years After, Tucson 2001. Serge Klarsfeld (Hg.), The Auschwitz Album. Lili Jacob’s Album, New York 1980. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. Mikael Levin, Suche, Ausst.-Kat., München 1996. Andreas Magdanz, Auschwitz-Birkenau: Eine Hommage an Marceline LoridanIvens, o.O. 2003. Sigurd Maschke, Der schwarze Weg, Berlin 1991. Reinhard Matz, Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken, Reinbek b. Hamburg 1994. Katharina Menzel-Ahr, Lee Miller. Kriegskorrespondentin für Vogue. Fotografien aus Deutschland, Marburg 2005. Günter Morsch (Hg.), Von der Sachsenburg nach Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten, Berlin 2006. Dirk Reinartz/Christian Graf von Krockow, totenstill. Bilder aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern, Göttingen 1994. Naomi Tereza Salomon, Asservate. Exhibits. Auschwitz, Buchenwald, Yad Vashem, Ausst.-Kat., Ostfildern 1995. Esther Shalev-Gerz, MenschenDinge. The human aspect of objects, Ausst.Kat., Weimar 2006. Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt/M. 17. Auflage 2006. Harald Welzer, Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Geschichte, in: ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus, Tübingen 1995, S. 165-194. Annika Wienert, Dirk Reinartz: totenstill, in: Stiftung Situation Kunst (Hg.), Situation Kunst – für Max Imdahl. Die Erweiterung 2006, Düsseldorf 2008, S. 165-171. Jürgen Zetzsche, Beweisstücke aus der Vergangenheit. Fotografien des Holocaust und ihre Spuren in der Literatur, in: Fotogeschichte 39 (1991), S. 47-59.

Webquellen http://www.buchenwald.de/fotoausstellung/ausstellung_de/ http://www.buchenwald.de/fotoarchive/buchenwald/ http://www.buchenwald.de/fotoarchive/dora/

Niemands Orte. Ein fotografisches Projekt über das europaweite System nationalsozialistischen Terrors C HRISTIAN H ERRNBECK

Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. [...] diese Lager sind, so unwahrscheinlich dies klingen mag, die eigentlich zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparates.1 Hannah Arendt

Das Projekt »Niemands Orte.«, an dem ich seit Herbst 2002 arbeite, beschreibt mit fotografischen Mitteln heutige Ansichten von Orten, an denen sich zwischen 1933 und 1945 längerfristig oder kurzzeitig Einrichtungen des nationalsozialistischen Terrors befanden. Auf die Einbeziehung historisch-dokumentarischen Bildmaterials wird hierbei verzichtet. Das Projekt hat keine zeitliche Begrenzung und wird kontinuierlich weiter entwickelt. Auf Grund der enormen Anzahl nationalsozialistischer Einrichtungen des Terrors und der Tatsache, dass nicht jede in der Literatur erwähnte Stätte des Terrors auch heute noch genau zu lokalisieren ist, muss das Projekt von vornherein als nicht abschließbar betrachtet werden. Es ist offen für Fotograf/innen, die sich trotz dieser prinzipiellen Schwierigkeiten daran beteiligen wollen. Thematisch eingegrenzte Teilprojekte, die von Einzelnen oder Gruppen realisiert werden, sollen zwei grundlegende Fragen beantworten: Wo sind die Tatorte dieser Verbrechen? Wie begegnen uns diese Tatorte heute? Thematische Eingrenzungen können durch Beschränkung auf eine Region, einen Lagertyp oder ein Ereignis erfolgen. Beispiele für regionale Teilprojekte sind die SA-Folterstätten in Berlin-Köpenick, die Zwangsarbeitslager in Frankfurt/M. oder die Lager im südukrainischen Transnistrien. 1

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Frankfurt/M. 1962, S. 644 f.

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Amersfoort/Niederlande 2009. Teile des polizeilichen Durchgangslagers Amersfoort waren zeitweise dem Konzentrationslager Herzogenbusch als Außenlager unterstellt. Die Bildreihe zeigt die heutige Ansicht des SS-Schießstandes, den Tatort zahlreicher Hinrichtungen durch SS-Angehörige. Fotos: Christian Herrnbeck.

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Als Lagertypen gelten unter anderem die frühen Konzentrationslager, die Groß-Ghettos oder die Zwangslager für Sinti und Roma auf dem Gebiet des Deutschen Reiches vor 1939. Einzelne Lager können ebenfalls thematisiert werden, wie etwa das Konzentrationshauptlager Vaivara in Estland und seine Außenlager. Das Lagersystem ist jedoch nicht der einzige mögliche Bezug: Zum System des Terrors gehören auch die Verbrechen der Einsatzgruppen, die Verbrechen in Einrichtungen der Justiz und solche, die unter der Leitung von Medizinern in Heil- und Pflegeanstalten innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches begangen wurden. Ein Teilprojekt, das an einem Ereignis orientiert ist, könnte beispielsweise den sogenannten »Nacht-und-Nebel-Erlass« von Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, als Ausgangspunkt wählen. Prinzipiell sollen Teilprojekte nicht aus Fotografien beliebig ausgewählter Orte entstehen, sondern durch die Wahl eines Themas, das einen bestimmten Aspekt des nationalsozialistischen Terrorsystems widerspiegelt. Die relevanten Orte ergeben sich aus der Recherche zu dem gewählten Thema. Jeder von ihnen soll, so weit dies möglich ist, fotografisch beschrieben werden. Unvollständigkeiten und Vagheiten der Lokalisierung, die sich trotz Recherche ergeben können, werden als solche gekennzeichnet. Die Entscheidung, nicht von Orten, sondern von einem Thema auszugehen, hat mehrere Gründe. Ein fotografisch relevantes Kriterium dafür, von Orten auszugehen, könnte im Vorhandensein baulicher Überreste gesehen werden. Dieses ›Kriterium der sichtbaren Spuren‹ blendet jedoch aus, dass in jeder Einrichtung des Terrorsystems Menschen entrechtet, versklavt oder ermordet wurden, unabhängig davon, ob es heute noch bauliche Überreste gibt. Ohnehin finden zu viele Orte lediglich in der historischen Fachliteratur Beachtung, nicht aber in der Praxis des öffentlichen Gedenkens. Ob es eine eindeutige Korrelation zwischen der Bekanntheit von Orten und dem Vorhandensein sichtbarer Spuren gibt, soll offen bleiben. Mit der Entscheidung für ein Thema und gegen das ›Kriterium der sichtbaren Spuren‹ kann das Projekt einen – wenn auch nur symbolischen – Beitrag dazu leisten, wenig bekannte Orte in Formen des Gedenkens einzubeziehen. Schon die Außenlager der bekannten Konzentrationslager sind heute nur in sehr geringem Umfang Teil des öffentlichen Gedenkens. Ein weiterer Grund, der gegen eine Auswahl von Orten spricht, betrifft die Dimension der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.

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Lublin/Polen 2003. Innenansichten einer Häftlingsbaracke des ehemaligen Konzentrationslagers Lublin/Majdanek, das auch als Vernichtungslager fungierte. Noch erhaltene Baracken dienen heute zu Ausstellungszwecken. In der Nacht vom 9. zum 10.8.2010 kam es aus bisher ungeklärter Ursache zu einem Brand in einer von ihnen. Fotos: Christian Herrnbeck.

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Allein die Zahl der Lager wird von der Geschichtsschreibung auf mehr als 15.000 geschätzt. Sieht man in dieser großen Zahl eine Rechtfertigung oder sogar die Notwendigkeit für eine Auswahl, besteht die Gefahr, Tatorte ungewollt zu hierarchisieren; die nicht ausgewählten scheinen weniger wichtig zu sein. Das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen würde damit gerade auf Grund der großen Anzahl seiner Verbrechensorte nachhaltig verschleiert. Das dritte Argument bezieht sich auf das Ziel des Projektes, neben der Darstellung heutiger Ansichten ehemaliger Terroreinrichtungen auch auf den systematischen Aspekt des Terrors und seine Organisation zu verweisen. Teilprojekte, die Verbindungen zwischen einzelnen Orten herstellen, sind für diesen Verweis besser geeignet als eine nicht thematisch orientierte, letztendlich subjektive Auswahl. Entscheidungen für repräsentative Orte sind für die Errichtung institutioneller Gedenkstätten nötig und nachvollziehbar (und hierfür mag auch das Vorhandensein baulicher Überreste eine Rolle spielen). Für ein fotografisches Projekt sind sie meines Erachtens jedoch weder sinnvoll formulierbar noch erforderlich.

Beschreibung eines Teilprojektes: Bild und Text Im Rahmen des Symposiums »Die Transformation der Orte. Annäherungen an die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager« wurde in der Bochumer Galerie Rottstr. 5 das Teilprojekt »Konzentrationshauptlager, T4-Mordanstalten und Vernichtungslager« gezeigt. Dabei handelt es sich um die Überarbeitung einer Bildinstallation, die Anfang 2009 auch im Neuen Museum der Gedenkstätte Sachsenhausen zu sehen war. Aus der Thematisierung der erwähnten Lagertypen ergeben sich 35 Orte: 23 von ihnen waren Konzentrationshauptlager, sechs waren für die Krankenmorde der »Aktion T4« bestimmte Anstalten und vier ausschließliche Vernichtungslager; Majdanek und Auschwitz II Birkenau zählten sowohl zu den Konzentrationsals auch zu den Vernichtungslagern. Obwohl diese 35 Einrichtungen des Terrors zu den allgemein bekannten Lagertypen gehören und ihre Anzahl überschaubar ist, befinden sich unter ihnen auch einige, die noch wenig wahrgenommen werden. Dies führte zu der Entscheidung, im ersten Teilprojekt die vermeintlich bekannten Lagertypen zu thematisieren. Die Bildinstallation zeigt sowohl Einzelbilder als auch Bildreihen.

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Sobibór/Polen 2009. Die Rampe von Sobibór. Das Lager Sobibór gehörte zu den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«, der planmäßigen Ermordung der europäischen Juden. 250.000 Menschen wurden über diese Rampe in die Gaskammern des Lagers getrieben. Der Name Sobibór steht auch für den Kampf der Häftlinge. Ihr erfolgreicher Aufstand vom 14.10.1943 führte zur Schließung dieses Vernichtungslagers. Die Rampe, die erst in späteren Jahren betoniert wurde, dient heute einem ortsansässigen Forstbetrieb zur Verladung von Baumstämmen auf Güterwaggons. Unten in der Bildreihe ist das erhaltene Haus des Kommandanten zu sehen. Fotos: Christian Herrnbeck.

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Maximal drei Fotografien gleichzeitig sind auf nebeneinander angeordneten Bildflächen zu sehen.2 Die sich dadurch ergebenden Gesamtbilder sind ›natürliche Bildreihen‹, die einen panorama-artigen Blick wiedergeben, aber auch ›konstruierte Bildreihen‹, die durch Standortwechsel der Kamera ein und denselben Raum aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen oder aber verschiedene Motive miteinander verbinden. In sieben Abschnitten werden insgesamt etwa 1.200 digitalisierte Farbdiapositive gezeigt. Zu ihrer Präsentation gehören einige ebenfalls projizierte Zitate sowie ein Begleitheft, das in knapper Form die Bilder kontextualisiert. Die Projektion beginnt mit Sätzen aus dem Off-Kommentar, den der französische Schriftsteller Jean Cayrol für Alain Resnais’ Film Nacht und Nebel schrieb. Jean Cayrol gehörte zu den Überlebenden des Lagers Gusen I, er verstarb am 10. Februar 2005. »Wer übrigens weiß schon etwas davon. Die Wirklichkeit der Lager. Die sie geschaffen haben, ignorieren sie. Und die sie erleiden, können sie nicht fassen. Und wir, die wir nun zu sehen versuchen, was übrig blieb? Diese Holzblocks, diese dreistöckigen Bettgestelle, diese Schlupflöcher, wo man den Bissen herunterwürgte, wo selbst Schlafen sich in Gefahr begeben hieß. Kein Bild, keine Beschreibung gibt ihnen ihre wahre Dimension wieder: die ununterbrochene Angst.«3

Der erste Abschnitt der Projektion zeigt nacheinander die Gedenkstätten Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen/Gusen und Ravensbrück. 15 bis 20 Bildreihen repräsentieren jede der Gedenkstätten; in der jeweils ersten Bildreihe ist der geografische Ort, das heutige Land und der damalige Lagertyp vermerkt. Außer den Gedenkstätten selbst werden gelegentlich auch Umgebungen, Landschaften, Ortschaften und Bahnhöfe gezeigt, in manchen Fällen auch ehemalige Außenlager oder Außenstellen, die mit den Stammlagern in enger Beziehung standen, wie etwa der »SS-Schießplatz Hebertshausen« des Konzentrationslagers Dachau, der als Hinrichtungsstätte diente. Die Einbeziehung zusätzlicher Bilder soll unter anderem auch zeigen, dass die immer noch verbreitete Vorstellung unzutreffend ist, alle Lager hätten im Verborgenen existiert.

2 3

Die drei Bildreihen, die diesen Text exemplarisch begleiten, sind aus Gründen des Buchformats nicht horizontal, sondern vertikal angeordnet. Aus dem Off-Kommentar des Films Nacht und Nebel (Originaltitel: Nuit et Brouillard), Frankreich 1955, Transkription des Autors. Alain Resnais (Regie), Jean Cayrol (Drehbuch/Off-Kommentar), Paul Celan (deutsche Bearbeitung).

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Nach der Darstellung jeder Gedenkstätte werden Listen eingeblendet, die Anzahl und Namen der Außenlager des jeweiligen Stammlagers angeben. Sie sind in der Kürze der Einblendungszeit nicht vollständig zu lesen; die Länge der Listen verdeutlicht aber, dass die Stammlager nicht an ihren Außengrenzen endeten, sondern Zentren eines die gesamte Region erfassenden Subsystems waren. Der Begleittext ist an dieser Stelle mit »Konzentrationshauptlager 1936 bis 1939« überschrieben und erläutert die Kriterien für die Verwendung des Begriffes »Konzentrationshauptlager« in der Geschichtswissenschaft. Darüber hinaus wird beispielsweise auf die Sonderrolle des Lagers Dachau als erstes staatliches Konzentrationslager, auf die bis 1939 erfolgte Veränderung der Häftlingsgesellschaft und auf den Aspekt gewinnbringender Zwangsarbeit verwiesen. Im zweiten Abschnitt werden jene sechs Heil- und Pflegeanstalten thematisiert, die Tatorte der Krankenmorde der »Aktion T4« waren: Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna/Sonnenstein, Bernburg und Hadamar. Neben einer kurzen Einführung erklärt der Text, dass drei dieser Einrichtungen über das Ende der »Aktion T4« hinaus durch die Häftlingsmorde der Aktion »Sonderbehandlung 14f13« mit Konzentrationshauptlagern verbunden waren. Ebenfalls angesprochen wird der spätere Einsatz des Personals aus Einrichtungen der »Aktion T4« in den Vernichtungslagern. Der Bildteil, der die heutigen Gedenkorte zeigt, endet mit der Einblendung einiger Sätze aus der Predigt, die Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 in Münster hielt. Sie steht in kausalem Zusammenhang zur offiziellen Beendigung der »Aktion T4«. »Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, ›unproduktive‹ Mitmenschen zu töten [...] dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.«4 Die Projektion wird im dritten Teil mit heutigen Ansichten der Orte weiterer ehemaliger Konzentrationshauptlager fortgesetzt: Auschwitz I, Monowitz, Neuengamme, Hinzert, Groß-Rosen, Natzweiler, Niederhagen und Stutthof. Diese Lager wurden nach Kriegsbeginn, aber vor der Gründung des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes im Februar 1942 der Inspektion der Konzentrationslager unterstellt. Einige von ihnen bestanden zum Zeitpunkt ihrer Unterstellung bereits als Au-

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Peter Löffler (Hg.), Bischof Clemens August von Galen – Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Paderborn/München/Wien/Zürich 2. Aufl. 1996, S. 878.

Niemands Orte.

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ßenlager oder Lager eines anderen Typs. Der Begleittext verweist an dieser Stelle darauf, dass allein auf polnischem Gebiet in den folgenden Jahren rund 6.000 Lager entstanden, von denen nur sieben zum Typ »Konzentrationshauptlager« gehörten, mit insgesamt weniger als 300 Außenlagern. Das Ghetto von Lodz und das Vernichtungslager Kulmhof bilden den Hintergrund des vierten Abschnittes. Der Begleittext zitiert aus einem Schreiben, das SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, Leiter des SD-Abschnittes Posen, am 16. Juli 1941 in Bezug auf das Ghetto Lodz an den »Judenreferenten« des Reichssicherheitshauptamtes Adolf Eichmann sandte: »Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, so weit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnell wirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.« Etwa einen Monat zuvor, nach dem Überfall auf die Sowjetunion hatten die Einsatzgruppen mit den systematischen Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung begonnen. Begleittext und Projektion heben hervor, dass der Begriff »Endlösung der Judenfrage« bereits vor der Wannsee-Konferenz eine feststehende Bedeutung hatte. Die auf dieser Konferenz besprochene »Aktion Reinhard« beinhaltete die Einrichtung von drei weiteren Vernichtungslagern: Beł˙zec, Sobibór und Treblinka. Diese und das Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin werden im fünften Abschnitt thematisiert. Das Begleitheft ergänzt, dass beinahe zeitgleich mit der Wannsee-Konferenz die Gründung des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes erfolgte, das eine Neubewertung der KZ-Häftlinge als kriegswichtige Arbeitssklaven der Rüstungsindustrie vornahm. Die Ermordung der europäischen Juden galt jedoch weiterhin als oberstes ideologisches Ziel und wurde dem ständig wachsenden Bedarf an Arbeitskräften nur bedingt untergeordnet. Die Einblendung einiger Zeilen aus dem Gedicht Chymisch von Paul Celan schließt diesen Teil der Projektion ab. »Alle die Namen, alle die mitverbrannten Namen. Soviel zu segnende Asche.«5

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Paul Celan, Die Niemandsrose/Sprachgitter, Frankfurt/M. 1980, S. 28.

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Nach der Gründung des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes stiegen die Zahlen der Außenlager und der Häftlinge explosionsartig an. Diesem Amt waren nun alle Konzentrationshauptlager unterstellt, und neun weitere wurden eingerichtet: Arbeitsdorf/Wolfsburg, Herzogenbusch, Riga-Kaiserwald, Bergen-Belsen, Warschau, Kaunas, Vaivara, Mittelbau-Dora/Nordhausen und Plaszow. Sie sind Gegenstand des sechsten Teils der Präsentation. Der siebte und letzte Abschnitt zeigt Bilder der Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek und Auschwitz II Birkenau. Vor allem Letzteres gilt heute als Inbegriff nationalsozialistischer Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik. In Verbindung mit dem Industriekomplex Monowitz-Buna, den die IG-Farben unweit des Lagers von Häftlingen errichten ließ, offenbarte sich hier in besonderer Weise die dystopische, menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus. Ein anschließend eingeblendeter Text besagt, dass in diesem Teilprojekt die Gedenkstätten von lediglich drei Lagertypen fotografisch erfasst und die etwa 1.200 Außenlager der Konzentrationshauptlager nur benannt wurden. Die nicht berücksichtigten Lagertypen werden in der Projektion aufgelistet.6 Auf die ungezählten Mordstätten der Einsatzgruppen wird ebenfalls hingewiesen. Als Abschluss ist nochmals ein Satz aus Jean Cayrols Text zu lesen, der die Projektion auch einleitete: »Und wir, die wir nun zu sehen versuchen, was übrigblieb ...«7 Im Rahmen des Projektes entsteht gegenwärtig eine in gleicher Weise aufgebaute fotografische Beschreibung des Ghettos Theresienstadt. Die Projektion wird das Bühnenbild der Oper Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung bilden, die Viktor Ullmann 1943/44 in Theresienstadt komponierte. Die Inszenierung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftler und Theatermacher Gert

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Hierbei wird weitgehend die Kategorisierung von Gudrun Schwarz übernommen: Arbeitserziehungslager, Lager für Aussiedlungszwecke, Germanisierungslager für Kinder, Ghettolager, Haftanstalten der Wehrmacht und Kriegsgefangenenlager, Jugendschutzlager, Lager für ausländische Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter, Lager für ungarische Juden im tschechoslowakisch-ungarischen Grenzgebiet Österreichs, Polizeihaftlager, Säuglings- und Kleinkinderlager, Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck, Strafgefangenenlager – dazu gehören die Haftanstalten der Gestapo, der Orpo und die Haftanstalten und Straflager der Justiz, Zwangsarbeitslager für männliche und weibliche Juden, Zwangslager für Sinti und Roma und frühe Konzentrationslager. Vgl. Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt/M., 1996 S. 84 f. Transkription aus dem Off-Kommentar des Films Nacht und Nebel.

Niemands Orte.

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Alkoven nahe Linz/Oberösterreich 2008. Im Hintergrund Schloss Hartheim, das zu den sechs Anstalten gehörte, in denen die Krankenmorde der »Aktion T4« verübt wurden. In Hartheim und zwei weiteren T4-Mordanstalten wurden unter der Tarnbezeichnung »14f13« nach der Beendigung der »Aktion T4« Häftlinge aus Konzentrationslagern ermordet. Foto: Christian Herrnbeck.

Reifarth sowie dem Musiker und Dirigenten Peter Tregear. Sie wird im Frühjahr 2011 von der australischen Operngesellschaft IOpera in Melbourne aufgeführt. Im Laufe des Jahres 2011 beginnt ein weiteres Teilprojekt, das die Ghettos des »Bezirkes Bialystok« thematisiert. Dieses ist gemeinsam mit der Historikerin Katrin Stoll geplant.

Annäherungen Eine fotografische Annäherung an Orte ehemaliger Einrichtungen des nationalsozialistischen Terrors kann unterschiedlich motiviert sein. Dokumentarische Ansätze beschreiben ihren gegenwärtigen Zustand, die aus verschiedenen Zeiten stammenden Arten ihrer Gestaltung als Gedenkstätten oder den Umgang mit ihnen in diversen Ländern Europas. Mein eigener Ansatz ist nicht rein dokumentarisch. Meine Absicht ist es vielmehr, die an geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Konzeption der Teilprojekte in ihrer fotografischen Ausführung durch eine subjektive Komponente zu ergänzen. Die Bilder spiegeln keinen repräsentativen Rundgang über die Gelände der jeweiligen Gedenkorte wieder, sie zeigen ihre Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten: die Anordnung und Beschaffenheit der Baracken,

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die Ausstattung erhaltener Funktionsgebäude oder die Stacheldrahtumzäunungen und Mauern. Da ich die meisten der Orte mehrmals fotografiert habe, dokumentieren sie auch gestalterische Veränderungen der letzten Jahre. Die Bilder zielen jedoch weder darauf ab, an unterschiedlichen Orten historisch Erhaltenes typologisch zu vergleichen noch sollen Gestaltungen der Gelände als solche dokumentiert werden. Die Bedeutsamkeit der Orte selbst ist der Grund, sich ihnen anzunähern. Eine Bedeutsamkeit für uns, die sie nur haben können, wenn wir einen bestimmten Grad an Wissen über ihre Geschichte besitzen. Mit jedem Ort, den wir als Tatort nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wahrnehmen, erinnern wir uns an Menschen – an die Deportierten, aber auch an die Täter und ihre Verbrechen. Mit jedem Ort, der vergessen wird, werden Menschen vergessen. Jede Annäherung an diese Orte – auch eine fotografische – ist ein Erinnertwerden an Menschen.

Literatur Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Frankfurt/M. 1962. Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9 Bde., München 2005-2009. Paul Celan, Die Niemandsrose/Sprachgitter, Frankfurt/M. 1980. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt/M. 1990. Peter Löffler (Hg.), Bischof Clemens August von Galen – Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Paderborn/München/Wien/Zürich 2. Auflage 1996. Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt/M. 1996.

Der erzählte Ort Die Rekonstruktion einer Rüstungsfabrik und ihrer Lager für Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge in zwei Ausstellungen A NGELA M ARTIN UND H ANNA S JÖBERG

1935 wurde am Rande von Kleinmachnow, einer idyllischen Prominentensiedlung vor den Toren Berlins, die Dreilinden Maschinenbau GmbH errichtet, ein Verlagerungswerk des Bosch-Konzerns. Die Fabrik lag in der Nähe des Berliner Autobahnrings, wo sich damals eine regelrechte »Schattenregion« von Tarnfabriken der Rüstungsindustrie bildete. Das Dreilindenwerk war »ein Unternehmen von größter Bedeutung für die Luftfahrt«,1 denn mit den auch hier produzierten Zündern, Anlassern und vor allem Einspritzpumpen von Bosch wurde nahezu jedes Flugzeug der deutschen Luftwaffe bestückt. Gegen Kriegsende hatte die Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG) rund 5.000 Beschäftigte. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Kriegsgefangene, zivile Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge. Für die etwa 800 weiblichen KZ-Häftlinge – vorwiegend Polinnen, die während des Warschauer Aufstandes 1944 nach Deutschland verschleppt worden waren – hatte die DLMG in den Luftschutzkellern einer Fabrikhalle sogenannte Stuben eingerichtet. Die etwa 2.000 zivilen Zwangsarbeiter/innen waren, wie auch die Kriegsgefangenen, in einem großen Barackenlager neben dem eigentlichen Produktionsgelände untergebracht. Die meisten heutigen Bewohner/innen Kleinmachnows können sich nicht an die Lager erinnern. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte der Ort zur sowjetischen Besatzungszone, die alte Elite zog weg und zahlreiche DDR-Intellektuelle siedelten sich hier an. Nach der Wende gab es erneut einen starken Bevölkerungsaustausch, gut verdienende Westdeutsche und Berliner/innen kauften sich Häuser in Klein-

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Bericht über eine Sitzung am 1.10.1934 im Reichswirtschaftsministerium, Abt. VIII, betr. Bauvorhaben der Firma Bosch in Dreilinden, zitiert nach Angela Martin, »Ich sah den Namen Bosch«. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in der Dreilinden Maschinenbau GmbH, Berlin 2002, S. 215.

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machnow. Die Produktionshallen der DLMG wurden bereits 1948 auf Veranlassung der sowjetischen Besatzungsmacht gesprengt. Auf dem Gelände des einstigen Barackenlagers, das längst abgetragen worden ist, wird seit 2007 eine Siedlung mit Ein- und Mehrfamilienhäusern gebaut. Der Erste, der die DLMG und ihre Lager wieder entdeckt hat, war Rudolf Mach, ein Lokalhistoriker aus dem benachbarten Westberliner Stadtteil Zehlendorf. 1996 ging er auf dem ehemaligen »BoschGelände« spazieren. Leere, verwahrloste Häuser eines stillgelegten Betriebes aus DDR-Zeiten weckten seine Neugier. In einem Keller entdeckte er ein Paket, das in Packpapier eingewickelt war. »Als ich es aufriss, sah ich plötzlich die Jahreszahl 1942. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich so alte Originaldokumente gefunden und mir war, als hätte ich einen kleinen Goldschatz gehoben.«2 Was Mach zwischen den Unterlagen der DDR-Firma gefunden hatte, waren Schriftstücke der DLMG, vor allem Versicherungsakten. Ein Schreiben listete die unterschiedlichen Nationalitäten der Arbeiter/innen auf. »Hier war auch die merkwürdige Bezeichnung ›KL‹ zu lesen. Erst später begriff ich, dass ›KL‹ eine Abkürzung für Konzentrationslager ist. Das war eine für mich ungeheuerliche Entdeckung.«3 Mach nahm Kontakt zur Berliner Geschichtswerkstatt (BGW) auf. Angela Martin, langjähriges Mitglied der Geschichtswerkstatt, hatte schon mehrere Artikel und Rundfunksendungen zum Thema NSZwangsarbeitereinsatz publiziert. Daher wurde sie von der BGW beauftragt, eine Dokumentation über die DLMG, ihren Zwangsarbeiter/inneneinsatz und ihr Konzentrationslager zu verfassen. Während Mach in den folgenden Jahren auf dem einstigen Gelände der BoschTochterfirma Ausgrabungen durchführte und zahlreiche Produktionsreste sichern konnte, recherchierte Martin in den einschlägigen deutschen Archiven. Gleichzeitig suchte sie nach Überlebenden des KZ-Außenlagers Kleinmachnow und konnte 49 Frauen ausfindig machen. Diese Zeitzeuginnen erzählten uns ihre Lebensgeschichten, einige haben sie auch für uns aufgeschrieben. Auf diese Weise konnten wir die Firmengeschichte weitgehend rekonstruieren. 2006 haben wir im Rathaus von Kleinmachnow eine Ausstellung über die DLMG und ihre Lager gezeigt, 2008 eine weitere im Dokumen2 3

Rudolf Mach, Das Gedächtnis des Ortes, in: Ewa Czerwiakowski/Angela Martin (Hg.), Muster des Erinnerns, Berlin 2005, S. 37-41, hier S. 37. Ebd., S. 37.

Der erzählte Ort

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tationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide.4 Konzeptionen und Inhalte dieser Installationen wollen wir im Folgenden vorstellen. Architekturzeichnungen, Dokumente zur Finanzierung der Fabrik, Bilanzen und Geschäftsberichte der DLMG sowie andere Archivalien ermöglichten es, die Gründung und schnelle Expansion des Unternehmens darzustellen. Vor allem aber interessierten uns die Erfahrungen der Zwangsarbeiter/innen sowie der KZ-Häftlinge. Ihre Schicksale zeigen die Brutalität der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik.

Die Ausstellung im Rathaus Kleinmachnow Die Ausstellung wurde vom 1. September bis zum 13. Oktober 2006 im Zentrum von Kleinmachnow im Foyer des Rathauses gezeigt. In der Gemeinde war die Ausstellung umstritten, einige Bewohner/innen wollten lange nicht an dieses Kapitel der Ortsgeschichte erinnert werden. Einige – das wussten wir vom Heimatverein – leugneten sogar, dass unweit von ihren Häusern nationalsozialistische Lager existiert hatten. Deshalb haben wir mitten im Foyer zwei Vitrinen mit archäologischen Funden aufgestellt, die als handfeste Beweise für die Existenz der Fabrik, des Zwangsarbeiter/innenlagers und des Konzentrationslagers dienten. In einer Vitrine waren rostige Produktionsreste wie Zünder, Höhenregler usw. zu sehen, denen Erläuterungen aus Bauund Wartungsanleitungen der Firma Bosch beigelegt waren, so dass die einstige Funktion der verwitterten Gegenstände deutlich wurde.5 In der anderen Vitrine befanden sich Relikte des Zwangsarbeiter/innenlagers: persönliche Gegenstände wie Kämme oder selbst gebastelte Zigarettendosen, Emailleschüsseln, Löffel mit dem Firmenlogo und Geschirr aus der Kantine.6 Mit ihrer Patina stellten diese Objekte eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit her. Das Kleinmachnower Rathausfoyer ist ein Durchgangsraum zur Bibliothek der Gemeinde und zum Bürgerbüro. Viele Besucher/innen

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Eine dritte Version wird 2011 im Dom Spotkan´ z Historia˛ in Warschau (Haus der Begegnung mit der Geschichte) präsentiert. Rudolf Mach stellte uns sowohl die Überreste der Produktion als auch die entsprechende technische Literatur zur Verfügung. Diese Funde kamen aus dem Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseum, das 2002 auf dem Bosch-Gelände Grabungen durchgeführt hatte.

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Abb. 1: Blick in die Ausstellung im Rathaus von Kleinmachnow. Foto: Hanna Sjöberg, 2006.

kamen daher nur zufällig in die Ausstellung. Um auch ihr Interesse zu wecken, haben wir eher plakativ gearbeitet und dabei die Raumaufteilung in einen Eingangsbereich und eine Galerie genutzt. Von der Galeriebrüstung hingen große Bahnen in den offenen Raum hinab, auf denen mit Hilfe von Fotos und kurzen Zitaten die Geschichte des Bosch-Geländes von 1933 bis heute skizziert wurde. An der gegenüberliegenden Fensterwand waren Zitate aus Interviews mit Überlebenden des KZ-Außenlagers zu lesen: »Wir wurden zwei Wochen lang durch ganz Deutschland gefahren.« »Dort war alles vorbereitet: Zäune unter Strom, Aufseherinnen, Stuben im Keller unter der Fabrikhalle.« »Auf einigen Kisten habe ich die Aufschrift Bosch gesehen.« Diese Zitate bildeten eine Verbindung zwischen einem vier Quadratmeter großen Foto vom zerstörten Warschau und einer stark vergrößerten Boschreklame an der Wand gegenüber. Auf diesem Werbeplakat sah man ein Geschwader von Flugzeugen und den Text »Kein deutsches Flugzeug ohne Bosch-Zubehör, kein deutscher Flieger, der nicht die zuverlässigen Bosch-Erzeugnisse besonders schätzt.« Die konfrontative Hängung wirkte provozierend, denn sie verdeutlichte den Zusammenhang zwischen der Rüstungsproduktion im Kleinmachnower Dreilindenwerk und den Bombardements des Zweiten Weltkriegs. Für interessierte Besucher/innen waren auf der Galerie, also in einer ruhigeren Zone, Tische aufgestellt, wo man sich über Details der Firmengeschichte, über die Schicksale der Zwangsarbei-

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ter/innen und der KZ-Häftlinge sowie über die Strukturen des NSZwangsarbeitereinsatzes informieren konnte.

Die Kleinmachnower Lager im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit – Probleme einer Übertragung Die Voraussetzungen für eine Ausstellung über die DLMG waren im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide völlig anders. Diese Gedenkstätte befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Zwangsarbeiter/innenlagers, das noch weitgehend erhalten ist. Es wurde inmitten eines Wohngebietes errichtet, die Anwohner/innen konnten von ihren Fenstern und Balkons aus auf das Areal sehen. Das Lager bestand aus 13 Unterkunftsbaracken und einer Wirtschaftsbaracke und war für zivile Zwangsarbeiter/innen sowie für italienische Militärinternierte gebaut worden; zwei Baracken dienten zeitweise als KZ-Außenlager für weibliche Häftlinge. Eine nicht fertig gestellte Baracke wurde kurz nach Kriegsende abgerissen, eine weitere im Jahr 2000. Auf Druck bürgerschaftlichen Engagements wurde das Ensemble unter Denkmalschutz gestellt. Sechs Baracken gehören heute zum Dokumentationszentrum, die übrigen Gebäude werden gewerblich genutzt. Eine der Unterkunftsbaracken wurde zu einem Ausstellungsraum umgebaut. Dafür entfernte man die Zwischenwände der ehemaligen »Stuben«, so dass ein Raum von knapp 400 Quadratmetern entstand. Erhaltene Reste des ehemaligen Korridors teilen den Raum entlang einer durchbrochenen Längsachse. Obwohl der Saal ziemlich groß ist, kann man sich aufgrund der niedrigen Raumhöhe und der für solche Baracken typischen Fensteranordnung die Enge der einstigen Stuben vorstellen. Wer das Dokumentationszentrum besucht, weiß in der Regel bereits einiges über Zwangsarbeit. Das erleichterte die Gestaltung. Dafür mussten wir den Besucher/innen jedoch deutlich machen, dass unsere Installation nicht das Zwangsarbeiterlager Schöneweide thematisierte, sondern die Geschichte eines anderen Lagers. Aus diesem Grund wählten wir für den »Prolog« der Ausstellung eine Aufnahme des Waldes von Kleinmachnow, eine Karte der Region und eine Luftaufnahme vom April 1945. Auf dem Aufklärungsfoto war zu erkennen, dass die Produktionshallen der DLMG in einem Wald lagen und das Zwangsarbeiter/innenlager an die Peripherie des Ortes grenzte. Auf

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diese Weise wurden die DLMG und ihre Lager in Kleinmachnow verortet und die Besucher/innen des Dokumentationszentrums wurden gewissermaßen in die Fabrik vor den Toren Berlins gelotst. Für unsere Installation haben wir das Kahle und den Barackencharakter des Ausstellungsraums und damit seine ursprüngliche Funktion betont. Die Reihen von kleinen Fenstern an der West- und Ostwand und die niedrige Decken wurden mit Hilfe von Leuchtstoffröhren von unten ausgeleuchtet; außerdem sorgten nackte Glühbirnen für ein Lichtdesign, das an die ehemalige Unterkunft der Zwangsarbeiter/innen erinnern sollte. Rohe, geweißte Holzbretter bildeten den Untergrund für die Fotos und Texte der Ausstellung. Sämtliche Fotos, Karten und Texte wurden in Form von Fotokopien gezeigt. Diese zurückhaltende Ästhetik bildete den Rahmen für die zum Teil dramatischen Erfahrungen der Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge. Die Geschichte der DLMG und ihrer Lager wurden in drei Erzählsträngen dargestellt: Eine Erzählung thematisierte die Gründung und Entwicklung der Fabrik sowie ihr Ende. Ein weiterer Erzählstrang stellte die Geschichte der zivilen Zwangsarbeiter/innen dar und ein dritter die der KZ-Häftlinge. Um diese Dreiteilung zu betonen, nutzten wir die Architektur des Ausstellungsraums. Ein letzter Abschnitt war der Nachkriegsgeschichte der DLMG und der Erinnerung in Kleinmachnow an die NS-Geschichte gewidmet. Verschiedenen Themenschwerpunkten waren einzelne Tische zugeordnet. So informierte einer über den Warschauer Aufstand 1944, mit dem die Leidensgeschichte der KZ-Häftlinge begonnen hatte; auf einem anderen wurde die politische Haltung von Robert Bosch und seiner Familie erörtert. Insgesamt blieb der Raum nüchtern und wirkte zugleich auratisch. Die Planung, Entwicklung und den Untergang der DLMG konnte man an den Außenseiten des einstigen Mittelgangs der Baracke verfolgen. Es waren vor allem Architekturpläne und Dokumente, mit denen wir die Gründung des Unternehmens und seine Expansion darstellen konnten. Neben dem Eingang zur Ausstellung hing wie eine Fototapete eine große Aufnahme vom Kleinmachnower Wald. Dieses Waldbild verwies auf die Unberührtheit und das Verträumte der Landschaft, bevor hier die Rüstungsfabrik des Bosch-Konzerns gebaut wurde. Entsprechend endete dieser Erzählstrang mit einem Foto von Bäumen und einem Schild, das den Bau einer Wohnsiedlung auf dem einstigen Lagergelände ankündigte.

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Abb. 2: Blick in den Ausstellungsraum des Dokumentationszentrums. Foto: Hanna Sjöberg, 2008.

Karten und eine Luftaufnahme von 1945 zeigten die Lage der DLMG im Wald und die Infrastruktur, die das Unternehmen nutzen konnte: den Autobahnring, den Eisenbahnanschluss Dreilinden und den Teltowkanal. Auf einem Lageplan des Fabrikgeländes erkennt man die noch heute gültigen Straßennamen »Stahnsdorfer Damm« und »Stolper Weg«, außerdem das ehemalige Eingangsgebäude der DLMG, in dem jetzt das Julius Kühn-Institut untergebracht ist, ein Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen. Das noch gut erhaltene Klinkergebäude ist nur ein kleiner Teil des ehemaligen Industriekomplexes. Heute ahnt man nicht mehr, wie groß die Anlage während des Krieges war. Mit Hilfe verschiedener Architektur- und Lagepläne vor allem aus dem Bundesarchiv Berlin konnten wir die schnelle Expansion der Fabrik zeigen. Einzelne Zitate aus Besprechungen von Bosch-Direktoren vor allem mit dem Reichsluftfahrtministerium verdeutlichten die Bedeutung des Dreilindenwerks für die Aufrüstung und Kriegführung der Nationalsozialisten. Auf Tischen lagen dazu Mappen mit vertiefenden Materialien aus, etwa mit Geschäftsberichten der DLMG oder ihren Bilanzen. Historische Fotografien von der Fabrik sind rar. Von einer Zeitzeugin erhielten wir Privatfotos, die den Bau des Dreilindenwerks zeigen: Männer in Arbeitskleidung stehen im Wald, zwischen den Kiefern sieht man Stahlkonstruktionen und Holzhäuser. Auf anderen Fotos posieren

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Arbeiter auf hohen Leitern und Stahlkonstruktionen, man sieht, wie sich der Wald unter ihnen ausbreitet. Er sollte, wie man aus einem Dokument erfahren konnte, die Fabrik später vor Fliegereinsicht und damit vor Bombardements schützen. Vom Robert-Bosch-Archiv haben wir zunächst keine Fotos und Dokumente der DLMG erhalten.7 2007 jedoch – inzwischen stand das Bosch-Archiv unter neuer Leitung – erhielten wir drei Fotos zur Lehrlingsausbildung in der DLMG. Sie zeigen Lehrlinge und Meister in einer friedlichen Situation, unter anderem ist eine der modernen Produktionshallen mit großen Fenstern und Oberlichtern zu sehen. Nichts deutet auf Krieg oder Rüstungsproduktion hin. Ganz anders die Lehrlingsfotos aus dem Bestand des Heimatvereins, die uns Rudolf Mach zur Verfügung stellte. Auf einem dieser Bilder kann man Schilder mit der Aufschrift »Soldatentum!« erkennen, die in der Halle hingen. Darunter Jungen, die in uniformer Arbeitskleidung mit einem Emblem der Firma stramm stehen. Ein anderes Bild zeigt etwa 80 Lehrlinge in der Uniform der Hitlerjugend. Auf einer weiteren Aufnahme wird deutlich, wie jung diese Lehrlinge waren, ihre Gesichter sind noch kindlich. In einer Folge angeordnet zeigen diese Fotos die Militarisierung der Lehrlingsausbildung und wie die Jungen darauf vorbereitet wurden, an die Front geschickt zu werden. Die Darstellung der DLMG-Geschichte fand ihren Höhepunkt an der Nordseite des Ausstellungsraums, wo Boschwerbung aus dem Zweiten Weltkrieg hing. Sie zeigte Flugzeuge der Luftwaffe und BoschZubehör. Diese Reklamebilder hatten wir der Fachzeitschrift Deutsche Luftwacht entnommen, die während der NS-Zeit mit Unterstützung des Reichsluftfahrtministeriums erschien. Zwanzigfach vergrößert und auf über zwei Meter lange Bahnen gedruckt, die von der Decke bis zum Boden hingen, bildeten diese Reklamebilder einen Blickfang, der schon vom Eingang aus zu sehen war. So wurde deutlich, dass es sich um ein Unternehmen handelte, das Flugmotorenzubehör für die deutsche Luftwaffe produzierte.8

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Auf unsere Anfrage schrieb der damalige Archivleiter Dr. Rolf Becker, das Bosch-Archiv besitze keine Akten zur DLMG. E-Mail von Rolf Becker an Angela Martin vom 2.3.2001. Auch Rudolf Mach hatte mit seinen Anfragen keinen Erfolg. Glaubt man einer Publikation des Bosch-Archivs, so existierte keine solche Reklame. Vgl. Rolf Becker/Frauke Engel, »Unsere beste Reklame war stets unsere Ware«. Werbung bei Bosch von den Anfängen bis 1960 (= Schriftenreihe des Robert-Bosch-Archivs, Bd. 2), Stuttgart 1998. Darin sind die Jahre von 1933 bis 1945 so dargestellt, als habe es keinerlei Verflechtung der Firma in die nationalsozialistische Kriegswirtschaft gegeben.

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In den Dokumenten zur Geschichte der DLMG geht es vor allem um Kredite und Gewinne, um die Zuteilung von Rohstoffen und Arbeitskräften und um die Produktivität des Unternehmens, also um ökonomische Ziele, die wiederum den Kriegszielen des Dritten Reichs untergeordnet waren. Ganz anders ist die Perspektive der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge. Sie berichteten über Hunger, Angst und Erschöpfung, über Demütigungen und Selbstbehauptung, Solidarität und Freundschaft. Besonders schlecht wurden die Frauen des KZ-Außenlagers Kleinmachnow behandelt, deren Erfahrungen wir ins Zentrum der Ausstellung gestellt haben. Von dem KZ der DLMG gibt es keinerlei Fotos. Daher haben wir aus den Erinnerungsberichten der ehemaligen Häftlinge kurze Zitate mit besonderer Ausdruckskraft ausgewählt und so in Szene gesetzt, dass jedes Zitat wie ein Bild wirkte. Zusammen ergaben diese Sätze, die an den Fenster- und Giebelwänden hingen, eine kollektive Erzählung vom Leidensweg der Frauen und Mädchen. Sie waren während des Warschauer Aufstands gefangen genommen worden, die meisten im August 1944, und gelangten zunächst in das KZ Ravensbrück. Dort wurden sie von leitenden Mitarbeitern der DLMG ausgewählt. Für die meisten Frauen gehörte diese Selektion zu den schrecklichsten Momenten ihrer Verfolgungsgeschichte. Anna Nowicka schilderte die Prozedur: »Eines Tages in Ravensbrück mussten wir uns ausziehen, in einer Reihe antreten und dann im Gänsemarsch marschieren. Drei Männer haben dagesessen, unsere Hände angeschaut und gelacht. [...] Wir haben normal ausgesehen, aber es gab auch Frauen mit großen Bäuchen, ältere oder bucklige Frauen. Die Männer haben auf diese Buckel geklopft, weil das angeblich Glück bringt. Was für eine Entwürdigung!«9

Zitate, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in Kleinmachnow betreffen, waren zwischen die Boschwerbung an der nördlichen Giebelwand montiert: eine Beschreibung der Stuben im Keller unter der Werkshalle, Arbeitsabläufe, die stundenlangen Appelle und Quälereien durch die SS-Aufseherinnen, aber auch solidarische Gesten einiger Vorarbeiter. Die Evakuierung des Konzentrationslagers Kleinmachnow und den Transport der Frauen in das Stammlager

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Auf einem Tisch unserer Ausstellung lag dieses Buch aus, daneben eine Mappe mit der von uns zusammengestellten Sammlung von Boschwerbung für Flugmotorenzubehör aus dem Zweiten Weltkrieg. Zitiert nach Martin, »Ich sah den Namen Bosch«, S. 135.

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Sachsenhausen, den Todesmarsch und die Befreiung sowie schließlich die Rückkehr in das zerstörte Warschau haben wir an der östlichen Fensterwand dargestellt. Diese Erzählung bewegte sich also im Uhrzeigersinn an den Außenwänden des Ausstellungsraums entlang und führte zu einer Porträtgalerie der Überlebenden, so dass die ausdrucksvollen Gesichter der alten Frauen den Abschluss bildeten. Um den Bruch in den Biografien der Frauen zu verdeutlichen, haben wir sie gebeten, uns Aufnahmen aus der Zeit vor dem Besatzungsterror der Deutschen zu schicken. Diese Fotos aus glücklichen Zeiten haben wir der Kollektiverzählung aus Zitaten vorangestellt. Einige Frauen schrieben uns, dass sie keinerlei Fotografien oder Erinnerungsstücke aus der Vorkriegszeit besitzen, da alles zerstört worden ist. Auszüge aus einigen dieser Briefe haben wir ebenfalls ausgestellt. Auf diese Art konnten wir auf kommentierende Texte verzichten, die wir auch sonst nur sehr sparsam eingesetzt haben. Der dritte Erzählstrang thematisierte die Lebens- und Arbeitsbedingungen der zivilen Zwangsarbeiter/innen, die für die DLMG arbeiten mussten. Wir haben diese Geschichte im Mittelgang des Ausstellungsraums inszeniert. Mit Archivfotos von Bahnhöfen, von denen aus polnische und sowjetische Zwangsarbeiter/innen nach Deutschland verfrachtet wurden, begann diese Erzählung. Im Weiteren haben wir vor allem Privatfotos und Dokumente gezeigt, die wir von ehemaligen Zwangsarbeiter/innen erhalten hatten.

Fotos und Zeichnungen, Erzählungen und Briefe – die Überlieferungen der Zeitzeug/innen Von Ivan Potapenko kennen wir zwei Aufnahmen. Er war ein sogenannter Ostarbeiter, das heißt ein Zivilarbeiter aus der Sowjetunion. Diese Menschen standen in der nationalsozialistischen rassistischen Zwangsarbeiter/innenhierarchie weit unten und wurden besonders schlecht behandelt. Auf dem Erfassungsfoto des knapp vierzehnjährigen Potapenko, der am 4. Juni 1942 aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde, sieht man ein sehr ernstes, kindliches Gesicht. Auf einem anderen Foto ist er schon ein junger Mann. Er steht mit einem Freund im Wald, beide tragen Jacken, aus denen sie längst herausgewachsen sind. Potapenko ist im Lager vom Jungen zum Erwachsenen geworden.

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Auf dem Plan des Lagers, den er für uns gezeichnet hat, ist die Abteilung für »Ostarbeiter/innen« besonders deutlich dargestellt. Dieses Lager im Lager war mit doppeltem Stacheldraht eingezäunt und hatte nur einen Ausgang: den Weg zur Arbeit. An der Westseite zum Wald hin gab es Wachtürme. Männer und Frauen waren getrennt untergebracht. Die Baracken hatten keine sanitären Anlagen. Diese befanden sich in einem anderen Gebäude.10 Die Unterkünfte der anderen Zwangsarbeiter/innengruppen sind in dieser Zeichnung nur angedeutet. Den Weg zum S-Bahnhof Wannsee hat Potapenko jedoch genau eingezeichnet. Seit 1943 galten nämlich neue Vorschriften für »Ostarbeiter/innen«: Von nun an durften auch sie in ihrer Freizeit die Lager verlassen. Potapenko und seine Freunde nutzten diese Neuerung und fuhren manchmal mit der S-Bahn nach Berlin. Es gibt nur wenige Fotos vom Alltag der Zwangsarbeiter/innen aus Polen und der Sowjetunion, denn der Besitz und die Benutzung von Kameras waren ihnen verboten. Auch vom Lager der DLMG kennen wir keine Aufnahmen, die von Pol/innen oder »Ostarbeiter/innen« gemacht worden sind. Zwei polnische ehemalige Zwangsarbeiterinnen haben uns Bilder überlassen, die sie für Freundinnen, Freunde und Verwandte in Fotostudios aufnehmen ließen. Ein besonderes Konvolut von Fotos erhielten wir von Ruud de Koning aus den Niederlanden. Sein Vater Henk war 1942 aus den Niederlanden nach Kleinmachnow gekommen und hatte zunächst freiwillig in der Rüstungsfabrik gearbeitet; später wurde aus diesem Arbeitsverhältnis ein Zwangsverhältnis: Henk de Koning durfte nicht mehr auf Urlaub nach Hause fahren, die Arbeitszeit wurde drastisch ausgedehnt, die Verpflegung reduziert. Die Briefe, die er aus Kleinmachnow nach Hause geschickt hatte, überdauerten die Jahre. Doch erst nachdem sein Vater gestorben war, entdeckte Ruud de Koning die Briefe und Postkarten. Er begann zu recherchieren und hat inzwischen viele Informationen über die »Leidensche Kolonie«, das heißt über die Holländer aus Leiden im Zwangsarbeiterlager der DLMG, zusammengetragen. 2008 erhielten wir von ihm einige Fotos, darunter die einzigen Fotografien, die wir von dem Lager kennen. Inzwischen hat de Koning etwa 150 Fotos gesammelt, die holländische Arbeiter damals in

10 Die Informationen der Zeichnung stimmen mit Architekturplänen aus dem Bundesarchiv und dem Gemeindearchiv Kleinmachnow sowie mit den Befunden der archäologischen Grabungen des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseums überein.

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Kleinmachnow aufgenommen oder von Freund/innen aus dem Lager geschenkt bekommen haben. Diesen Fotos war in der Ausstellung ein eigener Tisch gewidmet. Auffällig ist, dass kein einziges dieser Fotos die Arbeit thematisiert. Es war den Zwangsarbeiter/innen nicht erlaubt, in den Produktionshallen der Rüstungsfabrik zu fotografieren. Auch von anderen Innenräumen des Werkes wie etwa der Kantine gibt es keine Knipserfotos. Selbst Bilder von den Stuben sind selten, de Koning besitzt nur vier solcher Aufnahmen. Auf einer sieht man zehn junge Männer hinter einem Tisch sitzen, der mit einer Wolldecke bedeckt ist. Vor dem Tisch steht eine Reisetasche, auf die «De vrijgezellenkamer« (»Junggesellenzimmer«) gemalt ist. Im Hintergrund sind doppelstöckige, grob gezimmerte Holzpritschen zu sehen, die Wolldecke gehört wohl eher dorthin als auf den Tisch. Auf die Pritschen und an die Wände sind Bilder gepinnt, sie scheinen ein wichtiger Teil der Raumgestaltung zu sein. Das Mobiliar ist sehr einfach, der Raum eng. Hier wohnten diese Männer jahrelang. Viele Fotos sind im Wald aufgenommen, es sind Gruppenbilder von Männern, manchmal in Begleitung von jungen Frauen, die durch ein P-Zeichen auf der Kleidung als Polinnen zu erkennen sind. Fotos, die im Ort Kleinmachnow aufgenommen wurden, finden sich nicht in der Sammlung. Offenbar hatten die Holländer keinen Kontakt zu den deutschen Nachbar/innen des Lagers. Sie trafen sich jedoch mit Arbeiterinnen aus der Sowjetunion: Auf zwei Fotos sieht man junge Holländer vor einer Baracke zusammen mit Frauen, die das Abzeichen »OST« tragen, aber auch an ihren Kopftüchern und der ärmlichen Kleidung als »Ostarbeiterinnen« zu erkennen sind. Die Aufnahme zeigt, dass der Versuch der Nationalsozialisten, die Zwangsarbeiter/innen rassistisch zu spalten, hier keinen Erfolg hatte. Wie das Zwangsarbeiter/innenlager der DLMG strukturiert war, machten verschiedene Baupläne deutlich. Man konnte nachverfolgen, wie die Ansammlung von Holzbaracken immer größer wurde, dass es besondere Lagerdistrikte für Arbeitskräfte aus Polen und für »Ostarbeiter/innen« gab, und dass für die ausländischen Zwangsarbeiter/innen keine Bunker, sondern nur Splittergräben gebaut wurden. Auch wenn ein sorgfältiger Blick diesen Plänen sehr viele Informationen entnehmen kann, sind die Berichte der Zeitzeug/innen unverzichtbar. Nur sie vermitteln die Probleme und Gefühle der ausgebeuteten Menschen und den Alltag im Lager. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich

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die Erfahrungen je nach Nationalität, Geschlecht und Zwangsarbeiter/innenkategorie waren. So geht es in dem Erinnerungsbericht des »Ostarbeiters« Ivan Potapenko immer wieder um Nahrungsmittel. Die meisten Russen, so nannte er die »Ostarbeiter/innen«, hatten stets eine rote Emailleschüssel oder ein Kochgeschirr bei sich. »Für alle Fälle. Vielleicht hatte man ja Glück. Alle träumten davon, irgendwann in dem Schweinestall auf dem Lagergelände zu tun zu bekommen. Dorthin brachte nämlich ein Franzose die Speisereste aus der Kantine und der deutschen Küche. Sobald er ankam, stürzten sich die Russen wie die Fliegen mit ihren Schüsseln und Näpfen auf diese Essensreste und aßen und tranken alles an Ort und Stelle.«11

Der Franzose ließ die ausgehungerten Männer gewähren. Offenbar wurden die Kriegsgefangenen aus Frankreich, die für die DLMG arbeiten mussten, besser verpflegt als die Zwangsarbeiter/innen aus der Sowjetunion. Auch die polnischen Zivilarbeiter/innen erhielten größere und bessere Lebensmittelzuteilungen als die »Ostarbeiter/innen«, das geht aus einem Bericht der Zeitzeugin Barbara Michalska aus Lodz hervor.12 Von Ruud de Koning wissen wir, dass die Niederländer weniger hungern mussten als »Ostarbeiter/innen« oder Pol/innen. Die niederländischen Arbeiter erhielten die gleichen Lebensmittelzuteilungen und Löhne wie Deutsche. In ihren Berichten ist häufig von Kneipenbesuchen die Rede, von Fußballturnieren in Berlin und Potsdam, von anfänglichem Heimaturlaub (der dann aber gestrichen wurde) und sogar von Ausflügen bis nach Dresden. Etliche dieser jungen Männer beschrieben die erste Zeit in Kleinmachnow wie ein Abenteuer. Erst in den beiden letzten Kriegsjahren wurde der Zwangscharakter des Arbeitseinsatzes auch für sie deutlich spürbar. Einen besonderen Blick auf das Zwangsarbeiter/innenlager verdanken wir Ingrid Schmädecke, Jahrgang 1937. Ihre Familie hatte inmitten des Barackengeländes ein kleines Haus und ließ sich von der Firma Bosch nicht vertreiben. Weil sie damals ein Kind war, durfte Ingrid Schmädecke auf dem größten Teil des Lagergeländes herumlaufen und mit den Kindern der Zwangsarbeiterinnen spielen. Es ist ein kindlicher Blick auf das Lager, den diese Zeitzeugin vermittelte. Sie berichtete von Sportveranstaltungen auf dem Gelände des Lagers, von

11 Brief von Iwan Potapenko an die Autorinnen vom 20.11.2007. 12 Schreiben von Barbara Michalska an die BGW vom 12.1.1998, Archiv der BGW.

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Gemüsegärten, die die ausländischen Arbeitskräfte angelegt hatten,13 von einer Weihnachtsfeier, die die DLMG für die Kinder der Zwangsarbeiter/innen ausrichten ließ. Sie erzählte aber auch, dass »die Russen« – gemeint sind die »Ostarbeiter« – in ihrem Areal hinter einem Stacheldrahtverhau brutal geschlagen wurden. Oder dass völlig abgemagerte »Gefangene« am Zaun ihres Lagerdistrikts standen und um Brot bettelten. Offenbar waren das sowjetische Kriegsgefangene. Aus Archivakten wissen wir, dass die DLMG und andere Firmen zunächst nicht bereit waren, diese halb verhungerten Männer aufzunehmen, weil sie nicht arbeitsfähig waren. Das zuständige Rüstungskommando, das für die Zuteilung von Arbeitskräften zuständig war, ordnete jedoch an, dass die Unternehmen »Russenzuweisungen« auf jeden Fall anzunehmen hatten.14 In der Ausstellung wurde Schmädeckes Bericht in einer Hörstation präsentiert, denn die Zeitzeugin schilderte sehr anschaulich, wie unterschiedlich sie die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter/innen erlebt hat. Von Ingrid Schmädecke erhielten wir auch Aufnahmen von Wachleuten des Zwangsarbeiterlagers. Auf einer sieht man vier mit Pistolen bewaffnete Männer in zu großen Mänteln vor einer Baracke. Sie haben zwei Hunde dabei. An einen dieser Männer erinnerte sich Schmädecke sehr gut. Er war der Verlobte ihrer Mutter, Ernst Granzin, ein Aufseher im Lager. Er habe oft Berichte geschrieben, so Schmädecke, »was passiert ist, ob sich von den Ausländern jemand verletzt hatte, ob jemand krank war und so.«15 Granzin fiel in den Kämpfen mit der Roten Armee am Teltowkanal nahe der DLMG. »Bei der SS ist er nicht gewesen und auch nicht bei den Nazis, aber meine Mutter hat gesagt, dass die Russen ihn irgendwann sowieso erschossen hätten. Er war ja kein kleiner Aufseher, sondern etwas Höheres und hat eine schwarze Uniform getragen.«16

13 Ein Plan mit den verschiedenen Gebäuden des Zwangsarbeiter/innenlagers verzeichnet auch einen Sportplatz und Gärten auf dem Gelände. 14 Vgl. Rüstungskommando Potsdam, Kriegstagebuch, 13.6.1942, Bundesarchiv-Militärarchiv, RW21/50-4, zitiert nach Martin, »Ich sah den Namen Bosch«, S. 269-271. 15 Ingrid Schmädecke im Gespräch mit Angela Martin, 16.6.2000. 16 Ebd.

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Abb. 3: Unter der sanierten Mülldeponie am Stolper Weg befinden sich noch die Keller, die die DLMG als Konzentrationslager nutzte. Foto: Hanna Sjöberg, 2008.

Lücken, Schnittstellen, Sichtachsen Das Wissen der Zeitzeug/innen ist sehr unterschiedlich, ihre Kenntnisse des Ortes und der Fabrik wurden durch den Status innerhalb der Zwangsarbeiter/innenhierarchie bestimmt, durch Nationalität, Alter und Geschlecht. So haben die KZ-Häftlinge vom Leben der anderen Zwangsarbeiter/innen fast nichts erfahren. Das KZ-Außenlager Kleinmachnow war streng isoliert vom Zwangsarbeiter/innenlager und von der Siedlung in einer Werkshalle untergebracht. Die meisten Häftlinge durften diese Halle nie verlassen. Doch was wussten zum Beispiel die französischen Kriegsgefangenen von den Lebensumständen der anderen Zwangsarbeiter/innen? Ob sie gehört haben, wenn einer der Aufseher »Ostarbeiter« schlug? Deren Lagerdistrikt war mit Stacheldraht eingezäunt, aber man konnte durch den Zaun hindurch sehen. Was mögen die jungen Holländer gefühlt haben, die teilweise zunächst freiwillig zur Arbeit nach Deutschland gekommen waren, wenn sie diesen Stacheldrahtverhau sahen? Was haben ihnen die sowjetischen Frauen erzählt? Die von uns unkommentierten Erzählungen der Zeitzeug/innen verweisen auf Lücken – im Wissen der Zeitzeug/innen selbst und im Forschungsstand. Diese Lücken evozieren Fragen. Indem die Betrachter/innen solche Fragen formulierten, näherten sie sich den unterschiedlichen Schicksalen der Menschen in den Kleinmachnower

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Lagern an. Ebenso wichtig wie solche Lücken waren uns Sichtachsen und Schnittstellen, die wir im Ausstellungsraum inszeniert haben. Anders als in einer Tafelausstellung, wo man einem Rundgang und einer bestimmten Logik folgen muss, bewegten sich die Besucher/innen unserer Installation frei im Ausstellungsraum. Sie konnten die einzelnen Erzählstränge miteinander verknüpfen oder zu unterschiedlichen Zeitebenen in Beziehung setzen. Auf diese Weise rekonstruierten sie durch ihre Bewegungen im Raum selbst aus den Fotos und Plänen, Dokumenten und Zitaten den Kosmos der Dreilinden Maschinenbau GmbH und ihrer Lager.

Literatur Rolf Becker/Frauke Engel, »Unsere beste Reklame war stets unsere Ware«. Werbung bei Bosch von den Anfängen bis 1960 (= Schriftenreihe des RobertBosch-Archivs, Bd. 2), Stuttgart 1998. Ewa Czerwiakowski/Angela Martin (Hg.), Muster des Erinnerns. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von Bosch, Berlin 2005. Rudolf Mach, Das Gedächtnis des Ortes, in: Ewa Czerwiakowski/Angela Martin (Hg.), Muster des Erinnerns. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von Bosch, Berlin 2005, S. 37-41. Angela Martin, »Ich sah den Namen Bosch«. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in der Dreilinden Maschinenbau GmbH, Berlin 2002.

Materieller Raum – sozialer Raum

Aspekte der baugeschichtlichen Entwicklung des KZ Neuengamme am Beispiel der nicht realisierten Entwurfsplanungen des Schutzhaftlagers A NDREAS E HRESMANN

»Auschwitz ist keine Architektur und schon gar nicht bauliches Monument«. Mit diesem apodiktischen Postulat leitete der Architekturhistoriker Hartmut Frank 1990 seine »Anmerkungen zu einer bösen Architektur mit einem Abstand von 45 Jahren«1 ein. Frank führt weiter aus: »Auschwitz war nie eine Gestaltungsaufgabe für Architekten, es vermittelt keine bauliche Botschaft. Es entzieht sich dem Wunsch, das Trauma des Nationalsozialismus auf einen Ort zu projizieren, an einen magischen Stein zu fixieren. Auschwitz ist so allgemein wie die grenzenlosen Möglichkeiten unserer modernen Industriegesellschaft. Es ist so wenig spektakulär wie andere Großindustrien.«2

So sehr Franks zugrunde liegender Intention – die jahrzehntelang gepflegte Phrase einer originären »NS-Architektur« und die irrige Annahme, dass den Lagergebäuden bzw. den baulichen Relikten der Konzentrationslager ein Wissen über das Geschehen an sich anhaftet, zu dekonstruieren – zuzustimmen ist, so sehr muss dieser Aussage widersprochen werden: Konzentrationslager – und dafür nutzt Frank Auschwitz als Synonym – sind städtebauliche Anlagen, Gebäude und konkrete Bauaufgaben, die unter menschenverachtenden Bedingungen und rücksichtsloser Ausbeutung der Arbeitskraft von den Häftlingen selbst errichtet werden mussten, die aber auch Stadtplanern, Architekten, Ingenieuren und Fachfirmen zugeordnet werden können.

1

2

Hartmut Frank, Monument und Stadtlandschaft. Anmerkungen zu einer bösen Architektur mit einem Abstand von 45 Jahren, in: Jürgen Harten (Hg.), Die Axt hat geblüht ... Europäische Konflikte der 30er Jahre in Erinnerung an die frühe Avantgarde. Ausst.-Kat., Düsseldorf 1987, S. 344-357, hier S. 344. Ebd., S. 344.

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Es ist davon auszugehen, dass sich die Angehörigen der SS-Bauleitungen der Konzentrationslager neben der professionsspezifischen Identifikation immer auch (und vermutlich vorrangig) als Angehörige der SS bzw. als »Baumeister des Schwarzen Ordens«3 begriffen haben. Anschaulich formulierte der SS-Obersturmbannführer Görcke am 4. Juni 1943 bei einer SS-Bauleitertagung das geforderte Selbstverständnis der Angehörigen der SS-Baudienststellen: »Wenn Sie für die Schutzstaffel bauen, müssen Sie sich selbstverständlich auch über den Begriff SS und ihre allgemeinen Aufgaben klar sein, weil Sie nur dann [...] das richtige Verständnis für Ihre Aufgaben finden werden und diese im Sinne der Schutzstaffel lösen können. Die Schutzstaffel ist ein Orden auf rassischer Grundlage ausgewählter Menschen mit hervortretenden charakterlichen, geistigen und körperlichen Eigenschaften, der die Verantwortung für die Sicherung des Reiches und die Wahrung der Idee trägt. Daraus ergibt sich für die SS, auch in der Lösung baulicher und kultureller Aufgaben vorbildlich zu sein und auch hier als Spitzenkeil einer Neugestaltung zu wirken. Wenn schon, wie bereits erwähnt, die Gestaltung eines Baustiles von Rasse und Weltanschauung abhängig ist, muß die Organisation, die besonders eine rassische Auslese darstellt und verantwortlich ist für die Sicherung der Nat.Soz.Weltanschauung, für die Lösung besonders prädestiniert sein.«4

Im Folgenden soll an zwei Beispielen – den Entwürfen für das Schutzhaftlager und für die massiven Häftlingsunterkünfte bzw. der »Stadtplanung« und der Architektur – dargestellt werden, wie das tatsächlich gebaute »langjährige planerische ›Dauerprovisorium‹ KZ Neuengamme«5 möglicherweise nach »Idealplanvorstellungen« der Berliner SSArchitekten umgestaltet werden sollte und was die Intention dieser Planungen gewesen sein könnte. Nachgewiesen werden soll, dass die SS-Architekten bei den Planungen sehr bewusst ihre planerischen Fähigkeiten eingesetzt haben, um das Unterdrückungsverhältnis zu optimieren. Der Terminus »Idealplanvorstellungen« bezieht sich dabei aber nicht auf einen großen »städtebaulichen« Entwurf wie beispielsweise den triangulären Kuiper-Entwurf für Sachsenhausen,6 sondern 3

4 5 6

Ralph Gabriel, Das Konzentrationslager als Bauaufgabe: Methodik und Fragestellung eines Forschungsprojektes, in: Ulrich Fritz/Silvia Kavˇciˇc/Nicole Warmbold (Hg.), Tatort KZ. Neue Beiträge zur Geschichte der Konzentrationslager, Ulm 2003, S. 43-56, hier S. 43. Manuskript des Vortrags, o.P. [S. 10 f.], Bundesarchiv Berlin (BArchB), NS 3-1648. Andreas Ehresmann, Baugeschichtliche Untersuchung zu den ehemaligen Häftlingsunterkünften Steinhaus I & II, Hamburg 2003, S. 12. Vgl. u.a. Eduard Führ, Morphologie und Topographie eines Konzentrationslagers, in: Günter Morsch (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 1996, S. 30-58.

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auf eine kleinteiligere Planungsebene anhand von Ende 1941 in Berlin erstellten Entwurfsvorgaben für ein »Muster-KZ für 5.000 Häftling«.7

Eine kurze Genese und bautypologische Einordnung des KZ Neuengamme Zur Einführung erscheint es sinnvoll, einen kursorischen Überblick über die baugeschichtliche Genese des KZ Neuengamme darzustellen8 und eine knappe bautypologische Einordnung vorzunehmen: 1938 erwarb das SS-eigene Unternehmen »Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH« (DESt) in Neuengamme, einem Dorf am südöstlichen Rand der Hansestadt Hamburg, eine aufgelassene Ziegelei. Die Ziegelei sollte, so die SS-Planungen, wieder in Betrieb genommen werden, um Steine für die großen Bauvorhaben in der »Führerstadt Hamburg« zu produzieren.9 Dazu wurden die ersten 100 Häftlinge in die zum Außenlager des KZ Sachsenhausen deklarierte Ziegelei gebracht. Untergebracht waren die KZ-Häftlinge in verschiedenen Neben- und Hofgebäuden. Das Werk stellte sich allerdings nach einigen Versuchsbränden als nicht mehr funktionsfähig heraus. Daraufhin wurde Anfang 1940 beschlossen, südlich des alten Werks ein neues, modernes Großklinkerwerk zu errichten. Unmittelbar nach dieser Entscheidung wurde etwa ein Kilometer entfernt auf dem DESt-Grundstück mit dem Aufbau des nunmehr eigenständigen KZ Neuengamme begonnen. Binnen kurzer Zeit wurden durch Häftlingskommandos auf etwa sieben Hektar das »Schutzhaftlager« und unmittelbar anschließend auf etwa vier Hektar das Unterkunftslager für die SS-Wachmannschaften errichtet. Neben wenigen massiv ausgeführten Gebäuden im SS-Garagenhof wurden

7 8 9

BArchB, NS 4/FL-325. Vgl. ferner: Robert-Jan van Pelt/Debórah Dwork, Auschwitz von 1270 bis heute, Frankfurt/M./Wien 1999, S. 237 ff. Grundlegend zur Geschichte des KZ Neuengamme: Hermann Kaienburg, »Vernichtung durch Arbeit«. Der Fall Neuengamme, Bonn 1990. Ob die Klinker, entgegen der Intention der Stadtverwaltung und der SS, tatsächlich bei den Führerstadtplanungen zur Verwendung gekommen wären, lassen neuere Forschungen bezweifeln. Christian Fuhrmeister widerlegt in seiner Dissertation, die »weit verbreitete« und in allen Arbeiten zur Geschichte des KZ Neuengamme kolportierte, gleichsam zum Gründungsmythos des KZ Neuengamme avancierte Auffassung, »dass die im KZ Neuengamme produzierten Klinker« für die großen Umbauten der Hansestadt Hamburg zur Führerstadt bestimmt gewesen seien. Fuhrmeister hebt hervor, dass »Klinker für die Hochbauten am Elbufer definitiv nicht in Betracht gezogen wurden«. Vgl. Christian Fuhrmeister, Beton, Klinker, Granit. Material, Macht, Politik, Hamburg 2001, S. 179.

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für beide Lagerbereiche ausschließlich standardisierte Holzbaracken verschiedener Bausysteme verwandt. Die Lager unterschieden sich in ihrer Gestaltung zwar in der Bebauungs- und Belegungsdichte der Baracken sowie der äußeren Begrenzung – hier ein lieblicher Holzstaketenzaun, dort der bekannte elektrisch geladene Stacheldrahtzaun mit den charakteristisch gebogenen Betonpfählen – aber in ihrer Grundstruktur handelte es sich bei beiden um schlichte, an einem orthogonalen Raster orientierte Holzbarackenlager. Auf zeitgenössischen Aufnahmen sind die beiden Eingangsbereiche zu diesem Zeitpunkt kaum zu unterscheiden. Lediglich zwei Fahnenmasten und ein Schilderhaus markierten den Eingang in das SS-Lager. Es wäre interessant, dieses direkte Nebeneinander der beiden in der städtebaulichen Struktur vergleichbaren, sich in ihrer inneren Ordnung jedoch diametral unterscheidenden Lager gerade auch im Hinblick auf die »Lagertheorien« von Foucault oder Agamben weitergehend zu analysieren; im Rahmen des vorliegenden Textbeitrages ist dies jedoch nicht zu realisieren. Kiran Klaus Patel kommt zu dem Schluss, dass »die Ordnung des Raumes in allen NS-Lagertypen frappierende Parallelen und Konvergenzen« aufzeigt.10 Zur Einordnung des KZ Neuengamme in eine architektonisch-städtebauliche »KZ-Typologie« ist anzumerken, dass es zum Zeitpunkt des Aufbaus, 1940, bereits umfangreiche Erfahrungen mit den beiden »Muster-KZ« – dem 1936 errichteten KZ Sachsenhausen nahe Berlin und dem 1937/38 an versetzter Stelle neu aufgebauten KZ Dachau nahe München – gab. Hinlänglich bekannt ist, dass sich beide KZ in ihrer Lagertopografie grundlegend unterschieden: Während aber das Schutzhaftlager Sachsenhausen als »vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager«11 mit seinem markanten triangulären Grundriss und den radial um den Appellplatz angeordneten Unterkunftsbaracken nicht »funktionierte« und eben nicht erweiterbar war,12 orientierte sich das Schutzhaftlager Dachau eher wieder

10 Vgl. Kiran Klaus Patel, »Auslese« und »Ausmerze«. Das Janusgesicht der nationalsozialistischen Lager, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 339-365, hier S. 359. 11 Himmler an Hecker (Reichsjustizministerium), 8.2.1937, BArchB, R 2/24006. 12 Ausschlaggebend für einen Wandel in der Topografie der Konzentrationslager war, dass in dem nach dem panoptischen Prinzip Jeremy Benthams aufgebauten Schutzhaftlager der dreieckige Lagergrundriss nicht erweiterbar war, ohne grundlegend in die gesamte Lagerstruktur einzugreifen.

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an »traditionellen« rechtwinkligen, linearen und achsensymmetrischen Lagergrundrissen, in denen die Baracken und Gebäude einem orthogonalen Raster folgend zueinander angeordnet sind.13 Dieser Grundrisstypus war modular organisiert und tatsächlich (begrenzt) erweiterbar. Bemerkenswert ist, dass das Konzentrationslager Neuengamme zwar eines der großen KZ-Hauptlager und das größte KZ Norddeutschlands war, sich diese Tatsache aber in der Architektur und der Topografie des Schutzhaft- und des Wachmannschaftenlagers nicht bzw. nur marginal widerspiegelt. Anders als in Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau gab es in Neuengamme keine markante städtebauliche Ordnung, keinen monumentalen SS-Truppenstandort oder repräsentative KZ-Gebäude wie Jourhaus, Kommandantur oder Wirtschaftsgebäude, sondern nur die beiden eingangs beschriebenen schlichten Holzbarackenlager. Wenngleich Wolfgang Sofsky in seinem Standardwerk Die Ordnung des Terrors postuliert, dass »die Barackensiedlungen [gemeint sind die KZ, Anmerkung A.E.] keine Vergangenheit« hatten und »die Geographie des modernen Konzentrationslagers [...] nicht das Resultat einer Geschichte, sondern eines idealen Plans, der auf historische oder natürliche Bedingungen keine Rücksicht nimmt« sei,14 erscheint es doch offensichtlich, dass zumindest in der topografisch-urbanen Struktur des Neuengammer Schutzhaftlagers durchaus historische, idealstädtische Bezüge erkennbar sind. Am konsequentesten – und in der Vereinigung der ehemaligen französischen Häftlinge des KZ Neuengamme stark umstritten – vergleicht der französische Architekt und Vorsitzende der Denkmalskommission der Amicale International de KZ Neuengamme (AIN), Jean le Bris, eine fiktive städtebauliche Struktur mit dem (späten) Konzentrationslager Neuengamme.15 Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich verschiedene urbane Orte und Funktionen einer Stadt auch im Konzentrationslager Neuengamme

13 Vgl. Stefanie Endlich, Die äußere Gestalt des Terrors. Zu Städtebau und Architektur der Konzentrationslager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, München 2005, S. 210-229, hier S. 220. 14 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1997, S. 62. 15 Vgl. Jean le Bris, L’urbanisme concentrationnaire, in: Amicale de Neuengamme et de ses Kommandos (Hg.), Neuengamme, camp de concentration nazi (1938-1945), Le Louroux o.D. [2008], S. 92-94.

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definieren lassen. In einer angefügten Gegenüberstellung entspricht bei Le Bris beispielsweise der Appellplatz dem städtischen Marktplatz (Agora – Place du village) und die Schreibstube der städtischen Zivilverwaltung bzw. dem Bürgermeisteramt (Le service de l’étát-civil, la mairie).16 Ob es sich bei den historischen Bezügen nun aber um Bezüge zu römischen Standlagern, wie Ute Wrocklage herausgearbeitet hat,17 zu anderen »spezialisierten Lebensräumen der Unterordnung«, wie Kasernen, Klöstern oder Industriestädten (Spiro Kostof)18 oder zu der amerikanischen Siedler- und Planstadt Savannah, wie von Stefanie Endlich beschrieben,19 handelt, sei in diesem Fall dahingestellt und ist für den hier vorliegenden Erklärungszusammenhang nachrangig. Beim Schutzhaftlager Neuengamme erscheint es offensichtlich, dass in einer vereinfachten Variante die Dachauer Lagertopografie mit der funktionalen Dreiteilung (Unterkunftsbaracken, Appellplatz, Funktionsbaracken) und der Erschließung (seitlicher Zugang und ein anschließender längsrechteckiger Appellplatz) zu Grunde gelegt wurde. Ein Unterschied ist allerdings die Ausrichtung der Unterkunftsbaracken. Während die Baracken in Dachau in zwei Reihen traufständig zum Appellplatz und mit einer achsial positionierten mittigen Lagerstraße angeordnet waren, waren die Baracken in Neuengamme giebelständig (und orthogonal) zum Appellplatz positioniert. Nun könnte man spekulieren, ob es sich hierbei möglicherweise um eine Synthese der Erfahrungen aus Dachau und dem »Muster-KZ« Sachsenhausen handelt. In Sachsenhausen stehen die im dreieckigen Lagergrundriss radial um den Appellplatz orientierten Unterkunftsbaracken im Prinzip jeweils orthogonal zum halbrunden Appellplatz und folgen damit dem panoptischen System. Um aber hier gegen einen dermaßen durchgeplanten Lageraufbau zu sprechen, sei für Neuengamme angemerkt, dass es wahrscheinlicher (und wesentlich banaler) war, dass die Struktur der Baracken durch die zum Zeitpunkt des Lageraufbaus noch vorhandenen und in parallelen Abständen das gesamte Gelände durchziehenden Ent-

16 Vgl. Le Bris, L’urbanisme concentrationnaire, S. 94. 17 Vgl. Ute Wrocklage, Architektonische und skulpturale Gestaltung des Konzentrationslagers Neuengamme nach 1945. Nicht veröffentlichter Abschlussbericht im Rahmen des Forschungsprojektes »Vergegenständlichte Erinnerung«, Oldenburg 1992. 18 Vgl. Spiro Kostof, Das Gesicht der Stadt. Geschichte städtischer Vielfalt, Frankfurt/M./New York 1992, S. 165 ff. 19 Vgl. Endlich, Die äußere Gestalt des Terrors, S. 215.

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Abb. 1: Planausschnitt des Bestandsplans der BGE von April 1941 (vgl. Anm. 21).

wässerungsgräben vorgegeben war, zwischen denen die Baracken aufgestellt werden mussten.20 a) Beispiel 1 – Schutzhaftlager Der derzeit früheste bekannte Plan des Konzentrationslagers Neuengamme bzw. des Schutzhaftlagers stammt von der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn (BGE) aus dem April 1941 und zeigt die Gleisanschlussplanungen des im Bau befindlichen Klinkerwerks an das Reichsbahnnetz.21 Für den eigentlichen Planungsinhalt, den Gleisanschluss, nebensächlich, für die Baugeschichtsforschung aber bedeutend, zeigt dieser Plan auch die tatsächliche Gestaltung bzw. die städtebauliche Grundstruktur des Schutzhaftlagers im April 1941. Erkennbar ist eine einfache achsiale und an einem orthogonalen Raster orientierte Grundstruktur aus parallel gereihten Holzbaracken, einem anschließenden Appellplatz und mehreren Funktionsbaracken. Die räumliche und die bauliche Entwicklung des KZ Neuengamme vermitteln zu diesem Zeitpunkt insgesamt den Eindruck eines »planerische[n] ›Dauerprovisorium[s]‹«.22 Der Eindruck rührt zum einen

20 Vgl. Ulrich Hölscher-Bogumil, Auf Unrecht gebaut. Baugeschichtliche Analyse des Konzentrationslagers Neuengamme (Studienarbeit im Rahmen des Architekturstudiums an der Hochschule für bildende Künste Hamburg), Hamburg 1992, S. 24. 21 Vgl. Lageplan eines Gleisanschlusses für die Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH in Neuengamme, Blatt 3. Plan: Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn AG (BGE), April 1941, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (ANg), o. Sig. 22 Vgl. Anm. 5.

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von der, in den nationalsozialistischen Lagern durchaus üblichen, überwiegenden Verwendung von Holzbaracken – diese wurden in Neuengamme allerdings auch für repräsentative und administrative Zwecke genutzt –, zum anderen aber von der teilweise willkürlich und unpraktisch erscheinenden Verdichtung des Lagerkomplexes her. So war beispielsweise in der Konzeption kein Arrestgebäude vorgesehen; ein solches musste später aufwendig in eine bestehende Baracke eingebaut werden. Auch die parallel stehenden Unterkunftsbaracken wurden in ihrer Anzahl nur mit Mühe in das ausgewiesene Areal eingepasst.23 Darüber hinaus ist bei den Bauten des KZ Neuengamme die traditionelle Hierarchie in der ästhetischen Formgebung von Gebäuden – je größer die funktionale oder soziale Bedeutung, desto größer der gestalterische Aufwand – nur bedingt zu finden.24 Es scheint, dass es zu diesem Zeitpunkt zwar eine vage Vorstellung »des Lagers«, aber keinen zu Grunde liegenden übergeordneten Entwurf wie in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald gab. Für diesen provisorischen Charakter des KZ Neuengamme sind mehrere äußere Faktoren definierbar: erstens das von den DESt 1938 erworbene Grundstück, welches vor allem dem Tonabbau dienen sollte und kaum erweiterbar war; zweitens die bereits erwähnten parallel angeordneten und das DESt-Areal der Länge nach durchziehende Entwässerungsgräben, die insbesondere für das Schutzhaftlager in der Anfangsphase raumbildende25 Parameter und damit strukturbildend waren; drittens der Entstehungszeitraum als »Kriegs-KZ« (Hermann Kaienburg) mit der schon vorherrschenden Materialkontingentierung, viertens die dem Bau des Klinkerwerks nachgeordnete Bedeutung der Häftlingsunterbringung und fünftens die sehr kurze Planungsphase von maximal drei Monaten (zwischen der Entscheidung zum Neubau

23 Auch im angrenzenden Unterkunftslager der SS-Wachmannschaften wurden scheinbar bestimmte Anforderungen nicht erfüllt. So gab es z.B. keinen Appellplatz, was dazu führte, dass ein repräsentativer Appell am 9.11.1943 nur mühsam im SS-Garagenhof durchgeführt werden konnte (vgl. »Masset-Foto« o. Nr., ANg DN 1981-353) und Ordensverleihungen auf der zum SS-Lager führenden Straße stattfanden (vgl. Foto ANg DN 1981-737). 24 Einen Unterschied (und Ausdruck der Bedeutung der Wirtschaftsbetriebe im KZ Neuengamme) stellen die sogenannten »Walter-Werke« und das neue Klinkerwerk dar. Die Gebäude sind einerseits von einem Hamburger Privatarchitekten und andererseits von der Berliner Bauabteilung der DESt relativ aufwendig geplant worden. 25 Der Verfasser nutzt im Folgenden den Terminus »Raum« im Wesentlichen als den in einem architektonischen oder stadtplanerischen Kontext durch materielle Kanten baulich gefassten und definierten Außen- oder Innenraum.

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im Januar 1940 und dem Baubeginn des Schutzhaftlagers Anfang Mai 1940), die kaum Raum für ausgefeilte »städtebauliche« Konzepte bot. Diese planerische »Willkür« änderte sich auf einer theoretischen Ebene im Dezember 1941. Der Chef des Amts II (Bauten) im SSHauptamt Haushalt und Bauten (HAHuB), SS-Oberführer Dr.-Ing. Hans Kammler, legte 25 maschinengeschriebene Seiten mit expliziten Vorgaben und typisierten Barackengrundrissen für alle Belange eines »Muster-KZs für 5.000 Häftlinge« vor, die nunmehr bei Neugründungen und Neubauten in allen Konzentrationslagern ausschließlich Verwendung finden sollten. Abweichungen von den Vorgaben bedurften dabei der ausdrücklichen Genehmigung Kammlers.26 Inwieweit diese Vorgaben bei den Bauten der Konzentrationslager ab diesem Zeitpunkt in toto tatsächlich angewandt wurden, ist nicht bekannt. Der Architekturhistoriker Robert-Jan van Pelt hat allerdings für das KZ Auschwitz I herausgearbeitet, dass viele der neu entworfenen Gebäude diesen Richtlinien folgten.27 Mit diesen standardisierten Entwurfsplänen wurde jedoch bemerkenswerterweise der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei Hamburg-Neuengamme (ZBL Neuengamme), die eigentlich für derlei Planung der Neuengammer Bauten zuständig gewesen wäre, kein Entwurfsinstrumentarium für Um- oder Neuplanungen an die Hand gegeben. Denn zeitnah und anscheinend auf Grundlage der Musterentwürfe wurden das gesamte KZ Neuengamme und die Einzelgebäude direkt durch die mittlerweile in »Amtsgruppe C – Bauwesen« im neueingerichteten SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) umbenannte Berliner SS-Bauverwaltung28 überplant. 26 Vgl. Anm. 7. 27 Van Pelt/Dwork, Auschwitz, S. 237 ff. Weitere, nicht auf Kammlers Vorgaben Bezug nehmende baugeschichtliche Studien sind erschienen zu Sachsenhausen (Ulrich Hartung, Zur Baugeschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen, in: Günter Morsch (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahnund Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 1996, S. 26-29; Eduard Führ, Morphologie und Topographie eines Konzentrationslagers, in: ebd., S. 30-58); zu Buchenwald (Karina Loos, Die Inszenieung der Stadt. Planen und Bauen im Nationalsozialismus in Weimar. Weimar 1999); zu Ravensbrück (Reinhard Plewe/Jan Thomas Köhler, Baugeschichte Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001). Dazu kommen einige nicht veröffentlichte Studien und akademische Arbeiten u.a. zum KZ Sachsenhausen und zum KZ Neuengamme. Ferner sind in den letzten Jahren einige Studien zu einzelnen bedeutenden Gebäuden in Konzentrationslagern (bspw. Auschwitz, Sachsenhausen, Neuengamme) entstanden. 28 Am 1.2.1942 wurden das Hauptamt Haushalt und Bauten (HAHuB), das Hauptamt Verwaltung und Wirtschaft (HAVuW) und das VerwaltungsamtSS im SS-WirtschaftsVerwaltungshauptamt (WVHA) zusammengefasst. Die bis dato als Amt II – Bauten

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Abb. 2: Lageplan »K.L. Hamburg-Neuengamme«. Plan: Amt C I, Amtsgruppe C, WVHA, 5.3.1942 (vgl. Anm. 29). Links ist das Unterkunftslager der SS-Wachmannschaften und in der Planmitte das Schutzhaftlager zu erkennen. Rechts ist der Industriehof zu sehen.

In dem Gesamtentwurf vom 5. März 194229 (vgl. Abb. 2) wurden im südlichen Bereich des Schutzhaftlagers auf einer als »Gelände für die Lagererweiterung« ausgewiesenen Fläche30 (vgl. Abb. 3) zusätzliche Gebäude geplant (Wäscherei, Aufnahme und Isolierstation) und Provisorien überarbeitet (Krematorium, Desinfektion und Arrestbunker).31 Darüber hinaus wurden auch ein repräsentatives, von der Kubatur an das Sachsenhausener Jourhaus angelehntes, massives Eingangsgebäude32 und einige Ergänzungsbauten im SS-Lager sowie der Industriehof geplant. Auffallend ist, mit welch planerischer Akribie versucht wurde, für das schlichte Holzbarackenlager nunmehr eine »räumliche« Ordnung bzw. eine Fassung des Appellplatzes zu erreichen, die vermutlich den Vorstellungen Kammlers eines »Muster-KZs für 5.000 Häftlinge« entsprach. In den Planungen wurde sogar eine der Unterkunftsbaracken abgerissen, vermutlich um die in diesem Bereich sicherheits-

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im HAHuB firmierende SS-Bauverwaltung wurde nun in Amtsgruppe C – Bauwesen im WVHA umbenannt. Die neue Struktur unterschied sich nicht wesentlich von der bisherigen. Lageplan des KZ Neuengamme im Maßstab 1:1000. Plan: Amtsgruppe C im WVHA, 5.3.1942, Centr Chranenija Istoriko-dokumental’nych Kollekcij (CChIDK), o. Sig. Dieser und die folgenden Pläne aus dem CChIDK liegen lediglich als maßstabslose fotografische Reproduktion im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vor (ANg DN 1996-322). Ausgenommen war das Klinkerwerk der DESt, welches ausschließlich von der Planungsabteilung des DESt geplant wurde. Vgl. undatierter Lageplan »Gelände für die Lagererweiterung«. Plan: Bauleitung der Waffen-SS und Polizei Hamburg-Neuengamme, CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-332. Es liegen lediglich zu dem Entwurf: »Hamburg-Neuengamme | Wäscherei | Fernheizung | Krematorium | Zellengebäude | M.: 1:200« die Entwurfspläne vor. Plan: Amt C I, Amtsgruppe C, WVHA, 25.2.1942, CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-331. Vgl. K.L. Hamburg-Neuengamme. Lagereingangsgebäude | M.: 1:1000. Ansichten und Grundrisse. Plan: Amt C I, Amtsgruppe C, WVHA, 24.3.1942, CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-365; DN 1996-366; DN 1996-367; DN 1996-368; DN 1996-369; DN 1996-370.

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Abb. 3: Planausschnitt des Entwurfsplans des Amts C I im WVHA vom 5.3.1942 (vgl. Anm. 29).

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und/oder brandschutztechnisch unbefriedigende Situation zu korrigieren.33 Im Folgenden geht es nicht um die einzelnen Hochbauentwürfe der Neuplanung im Detail, sondern um die angestrebte städtebauliche/räumliche Struktur des KZ Neuengamme und die planerische Intention, die sich möglicherweise in diesem Plan vermittelt. Zuvor sei aber noch einmal ein Blick auf das gebaute Schutzhaftlager, wie es sich im April 1941 darstellte, geworfen. Dessen Areal ist in seiner Dreiteilung relativ einfach strukturiert: Links des Appellplatzes bilden die monoton gereihten Giebelfassaden der standardisierten Unterkunftsbaracken die nördliche Raumkante. Am unteren Planrand begrenzen die beiden Eingangsbaracken – die in keiner Weise mit den repräsentativen Jourhäusern anderer KZ verglichen werden können – und am oberen die Lagerküche den Appellplatz. Auf der rechten Seite bilden drei traufständige Funktionsbaracken die südliche Raumkante. Eine achsiale Richtung des Raumes wird einerseits durch die längsrechteckige Orientierung des Appellplatzes und andererseits durch eine (im Plan nicht dargestellte) mittig durch den gesamten Appellplatz vom Eingangsbereich auf die Küche zulaufende Lagerstraße vorgegeben. Links der aufwendig mit rotem Porphyr gepflasterten Lagerstraße befand sich der betonierte etwa 0,7 Hektar große Appellplatz, rechts davon eine ähnlich große Brachfläche.34 Diese Raumorientierung wurde noch verstärkt durch einen zumindest zeitweise auf das Dach der Lagerküche gemalten »Sinnspruch«,35 wodurch das Gebäude in der Lagertopografie hervorgehoben wahrgenommen wurde. Entgegen dieser topografischen Figuration war die Orientierung der Häftlinge beim Appell jedoch quer zu der räumlichen Achse, in Richtung der traufständigen Funktionsbaracken36 und damit nicht auf ein architektonisch definiertes »Zentrum« hin orientiert, wie bei-

33 Möglicherweise hing der geplante Abriss schon vorausschauend mit der sechs Wochen später am 14.4.1942 von Kammler verfügten »Richtlinie für den Feuerschutz von Baracken« zusammen. Demnach hatten nunmehr »[d]ie Abstände zwischen den Längsseiten von Baracken [...] mindestens 15 m, wenn möglich 20 m zu betragen«, BArchB, NS 3-1573. In Neuengamme betrugen die Abstände zwischen den parallel gereihten Unterkunftsbaracken durchgängig um die zehn Meter. Im Bereich des geplanten Barackenabrisses lag der Abstand sogar nur bei vier Metern. 34 Vgl. »Masset-Foto« Nr. 142, ANg DN 1981-300. 35 Die Inschrift lautete: »Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Nüchternheit, Fleiß, Ordnung, Opfersinn, Wahrhaftigkeit, Liebe zum Vaterland.« 36 Vgl. Hans Peter Sørensen, Appellstehen, Lithografie 16 x 23 cm, in: Neuengamme Erindringer – 20 Tegninger af Gænseovergendar Hans P. Sørensen, Sønderborg o.D.

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spielsweise in Sachsenhausen oder Buchenwald die Jourhäuser mit dem zentralen Wachturm oder in Ravensbrück und Dachau die großen Wirtschaftsgebäude. Die möglichen Neuengammer »Zentren«, das aus zwei kleinen Baracken gebildete »Jourhaus« am Anfang oder die topografisch hervorgehobene Häftlingsküche am Ende der Lagerstraße, lagen außerhalb der Blickrichtung links und rechts an der Seite. In dem Entwurf des WVHA vom 5. März 1942 wurde nun anscheinend versucht, die räumliche Orientierung des Schutzhaftlagers zu ändern. Durch Abrisse, Um- und Neubauten sollte die rechte, südliche Raumkante des Appellplatzes neu gefasst werden. Neben dem Bau »notwendiger« und bisher fehlender Funktionsbaracken im rückwärtigen Bereich wäre durch teilweise sehr kleinteilige Eingriffe eine orthogonal zur bisherigen Achse verdrehte achsialsymetrische Orientierung auf ein freigestelltes und zentral vorgelagertes Gebäude im Bereich der Funktionsbaracken erreicht worden. Im Lageplan hätte dieses nun städtebaulich-topografisch hervorgehobene Gebäude durchaus einem in der Blickrichtung der appellstehenden Häftlinge orientierten »Zentrum«, vergleichbar einer Kommandantur oder einem Jourhaus, entsprochen. Bemerkenswerterweise handelte es sich dabei aber lediglich um das in einer baulichen Ordnungshierarchie eher nachgeordnete Häftlingskrankenrevier. Möglicherweise sollte das Krankenrevier allerdings auch bewusst – und entgegen der originären Funktion – als bedeutender Ort der Unterdrückung und Symbol der Macht über Leben und Tod37 zentral in der Schutzhaftlagertopografie herausgestellt werden. Dieser Entwurfsplan war allerdings nur von sehr kurzer Gültigkeit, denn nachdem im März 1942 beschlossen wurde, dass »die Konzentrationslager in staerkerem Masse fuer die Ruestungsfertigung eingespannt werden«38 sollten, wurde in Neuengamme der Aufbau der Walter-Werke, einer Waffenfabrik, geplant. Vermutlich aufgrund der zu erwartenden Erhöhung der Häftlingszahlen um 2.00039 wurde die bisherige Planung weitgehend gestoppt und ein neuer Entwurf ausgearbeitet.40

37 Vgl. u.a. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. 38 Vgl. Niederschrift ueber eine Besprechung im Buero Saur, 17.3.1942, Staatsarchiv Nürnberg, Bestand: KV-Anklage, Umdrucke deutsch, Nr. NO-2468, o.P. 39 Vgl. ebd. 40 Klinkerwerk Neuengamme | M.: 1:5000. Plan: Amtsgruppe C, WVHA, 30.12.1942, CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-398.

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In diesem sollten nach dem Willen der Berliner SS-Planer nunmehr acht massive, zweigeschossige Gebäude zur Unterbringung der erhöhten Häftlingszahl dienen. Zudem sollten auch alle Funktionsbaracken durch massiv ausgeführte Gebäude ersetzt werden. Mit diesem Entwurf hätte sich der architektonisch/städtebauliche Charakter des bisherigen Holzbarackenlagers grundlegend gewandelt. Neben der baulichen Manifestation einer Dauerhaftigkeit des Konzentrationslagers hätte sich der »hölzerne«, temporär wirkende Platz zu einem massiven steinernen Platz gewandelt, der in seiner architektonisch/städtebaulichen Wahrnehmung eher an eine Kaserne erinnert hätte. Die Gründe für diese Veränderungsabsichten sind nicht bekannt, allerdings sind mehrere Erklärungen für den grundsätzlichen Wandel des bisherigen Planungsansatzes möglich. Ralph Gabriel geht am Beispiel einiger 1943 im KZ Sachsenhausen errichteter Massivbaracken davon aus, dass sich deren massive Ausführung durch den Erlass neuer Richtlinien aufgrund der »Einwirkung des Luftkrieges« erklärt. Demnach, so Gabriel, durften Baracken ab 1942 generell nur noch in Massivbauweise ausgeführt werden.41 Dagegen spricht allerdings, dass zumindest im KZ Neuengamme auch nach 1942 noch mehrere Holzbaracken aufgestellt wurden.42 Eine weitere Erklärung könnten die spezifischen Grundstücksverhältnisse um das KZ Neuengamme herum gewesen sein. Als notwendige Fläche zur Vergrößerung des Schutzhaftlagers wäre nur eine östliche Erweiterung möglich gewesen. Aber bereits bei der Grundstückssuche für die Walter-Werke kam es zu Verzögerungen, da die das KZ umgebenden Grundstücke in diesem Bereich teilweise Erbbauland waren und dementsprechend nicht zur Verfügung standen. Eine problemlose Erhöhung der Belegungskapazitäten des Schutzhaftlagers bestand demgegenüber in einer inneren Verdichtung durch Aufstockung. Das Material, Klinkersteine, wurde wiederum in großer Anzahl im angrenzenden KZ-Klinkerwerk produziert und war (mittlerweile) 41 Vgl. Arbeitsgemeinschaft f. Behelfs-Kriegsbau in der Fachgruppe Bauwesen im NSBDT (Hg.), Einheits-Massivbaracke und Mittelflur-Sondermassivbaracke, S. 1 f. Nach: Ralph Gabriel, Memorial City. Zur Metamorphose des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, Wien 2000 (unveröff. Dipl.-Arbeit), S. 53. 42 Im Bereich der südlichen »Lagererweiterungsfläche« wurden im April/Mai 1944 eine Baracke als Lagerbordell und im Oktober 1944 zwei OKH-Pferdestallbaracken (Typ 260/9) als Sonderlager für französische Prominente errichtet. Auch das 1944 etwas abseits des Unterkunftslagers der SS-Wachmannschaften errichtete Haus des Lagerkommandanten Max Pauly war, entgegen dem euphemistischen Terminus »Haus«, eine modifizierte Normbaracke aus Holz.

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nicht mehr für die angedachten großen Neubauten der Führerstadtplanungen notwendig. Gegen diesen Ansatz spricht allerdings, dass sich dadurch nicht die Ersetzung der hölzernen Funktionsbaracken durch massive Gebäude erklärt. Unabhängig von den gewählten Materialien ist die Grundstruktur des Entwurfes im Vergleich zu dem vorherigen gleich geblieben: nördlich die jetzt zweigeschossigen massiven Häftlingsgebäude; anschließend der Appellplatz und südlich ein massiver, möglicherweise ebenfalls zweigeschossiger Gebäuderiegel mit vier rückwärtigen Flügelbauten, die nun die verschiedenen Funktionen aufnehmen sollten. Östlich des Appellplatzes ist die ebenfalls massive Häftlingsküche zu erkennen. Einzig das massive Jourhaus als westliche Begrenzung des Appellplatzes ist noch aus der ersten Planung übernommen worden. Die bei dem ersten Entwurf herausgearbeitete gestalterische Dominanz der südlichen Appellplatzbegrenzung mit der Fokussierung des Blickes auf das zentrale Gebäude des Krankenreviers wäre vermutlich auch bei dieser massiven Variante gegeben: Die vollständig geschlossene südliche Appellplatzfassade sollte durch eine Fassadenordnung mit je zwei Seiten- und zwei Mittelrisaliten strukturiert und somit in drei Gebäudekubaturen unterteilt werden, die jeweils einer spezifischen Nutzung entsprochen hätten. Der zentrale mittlere Gebäudeteil hätte wie schon bei dem ersten Entwurf als Lazarett bzw., wie im Plan euphemistisch bezeichnet, als »Krankenhaus« gedient. Unklar ist, wie die Fassadengestaltung und die Geschosshöhe des Gebäudes ausgesehen hätten, aber es ist wohl davon auszugehen, dass der zentrale mittlere Teil ebenfalls hervorgehoben gestaltet worden wäre. Nur kurz angerissen sei der weitere Verlauf der baulichen Entwicklung: Von der gesamten hier dargestellten Planung wurden lediglich das westliche und das östliche Steinhaus gebaut und mit Häftlingen belegt, ein drittes sollte im April 1945 begonnen werde, die übrigen hätten in der zweiten Jahreshälfte 1945 und später folgen sollen.43 Anstelle des den Appellplatz südlich begrenzenden Gebäuderiegels wurden verschiedene Funktionsbaracken und direkt an der Lagerstraße drei Baracken mit zusätzlichen Krankenrevieren (II-IV) errichtet. In der südlichen »Lagererweiterungsfläche« wurden Baracken für das

43 Vgl. Aussage des ehemaligen Kommandanten des KZ Neuengamme, Max Pauly, im sogenannten Curiohaus-Prozeß gegen die Hauptverantwortlichen des KZ Neuengamme, ANg Neuengamme Case 2/1/31 und 2/2/17.

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Lagerbordell und das Sonderlager für französische Prominente aufgestellt.44 b) Beispiel 2 – Steinhäuser Der zuletzt beschriebene Plan ist eine geeignete Überleitung zum zweiten Beispiel, zwei heute noch in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vorhandenen, zweigeschossigen Steinhäusern, die, wie oben dargestellt, erstmals am 30. Dezember 1942 in den Planungen ausgewiesen wurden. Wie schon bei dem vorherigen Beispiel geht es im Folgenden nicht um den konkreten Bau dieser Steingebäude, sondern erneut um den eigentlichen Entwurfsprozess bzw. das Verhältnis von Intention, Planung und Realisierung. Aus dem ehemaligen Sonderarchiv in Moskau liegen ein Entwurfsplan und zwei undatierte Planfragmente vor, die verschiedene Planungsphasen darstellen und die sich in eine mutmaßliche, chronologische Reihenfolge bringen lassen. Zur Orientierung: Die realisierten zweigeschossigen Steingebäude haben eine Länge von 134 Metern und sind bei einer Breite von knapp elf Metern relativ schmal. Sie sind, entgegen dem bodenständigen Eindruck, der durch massive Klinkerfassaden, Walmdächer und Sprossenfenster hervorgerufen wird, als Stahlbetonskelettbauten ausgeführt. Dies ermöglichte einerseits große Spannweiten und dadurch große Raumtiefen, andererseits kann durch diese Bauweise ein Gebäude sehr schnell erstellt werden. In Verbindung mit den Klinkerfassaden lässt sich hieran aber auch das »Doppelgesicht des Dritten Reiches« (Peter Reichel) ablesen: Während außen eine eher traditionelle, an den Heimatschutzstil angelehnte Fassade gewählt wurde, wurde das Innere als damals hochmodern geltender systematisierter bzw. serialisierter Stahlbetonskelettbau ausgeführt. Im Inneren waren die Gebäude jeweils mittig durch eine geschlossene Brandwand in zwei Hälften geteilt. Dadurch entstanden in jedem Geschoss zwei »Blöcke«, die jeweils mit zwei großen Räumen und den Sanitärräumen in etwa der Größe einer Baracke (Block) entsprachen.45 In dem mutmaßlich ersten Entwurf46 sollten die beiden oberen Blöcke über eine mittig

44 Vgl. Anm. 42. Bei den Häftlingen im Sonderlager für französische Prominente handelte es sich um 399 französische Persönlichkeiten aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die im Juli 1944 in sogenannte Geiselhaft genommen und in zwei Transporten ins KZ Neuengamme deportiert wurden. 45 Vgl. Ehresmann, Steinhaus I & II. 46 Entwurfsvariante eines Klinkergebäudes. Plan: vermutlich Amtsgruppe C im WVHA, o.D., CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-433.

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Abb. 4: Erster, undatierter Entwurf eines massiven Unterkunftsgebäudes mit der außenliegenden Freitreppe. Plan: vermtl. Amtsgruppe C, WVHA (vgl. Anm. 46). Schwach erkennbar ist die von Hand ausgestrichene Treppenanlage.

positionierte und parallel zum Gebäude ausgerichtete, außenliegende zweiläufige Freitreppe und zwei nebeneinander befindliche Eingangstüren erschlossen werden (vgl. Abb. 4). Die unteren Blöcke/Hälften des Steingebäudes sollten durch zwei weitere, achsial zu jenen im Obergeschoss angeordnete, leicht erhöhte Eingangstüren erschlossen werden, die etwas vorgezogen im Sockel der ins Obergeschoss führenden Freitreppe angeordnet waren. Bemerkenswerterweise weist dieser Neuengammer Entwurf eine große Ähnlichkeit zu mehreren 1938/39 im KZ Buchenwald errichteten massiven Häftlings-Unterkunftsgebäuden auf.47 Die zweigeschossigen Buchenwalder Gebäude unterschieden sich zwar in der Gebäudelänge und der Fassadengestaltung, das Obergeschoss wurde allerdings

47 Vgl. Foto: Ansicht der Baracke 50 im KZ Buchenwald, Sept./Okt. 1939, Archiv der Gedenkstätte Buchenwald (AGB) 003-09.001.

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wie bei dem Neuengammer Entwurf durch eine außenliegende Freitreppe und pro Geschoss durch zwei Eingangstüren erschlossen.48 Zeitgleich zu den Planungen im KZ Neuengamme wurden auch im KZ Gusen 1943/44 massive zweigeschossige Häftlingsunterkünfte errichtet. Diese unterschieden sich zwar auch in der Gestaltung, sowohl gegenüber den gebauten Buchenwalder Gebäuden als auch gegenüber dem Neuengammer Entwurf, die Obergeschosse wurden aber ebenfalls über eine außenliegende Freitreppe erschlossen. Nun ist zu fragen, ob es sich bei der sehr ähnlichen Erschließung der Geschosse und der Gestaltung der Eingangsbereiche um Zufall bzw. die naheliegende Lösung der gleichen Bauaufgabe handeln könnte oder ob für Neuengamme und Gusen die Entwürfe aus Buchenwald übernommen wurden? Bekannt ist, dass im »KZ-Bauwesen« Pläne zur Erfahrungssammlung zwischen den einzelnen Bau- und Zentralbauleitungen ausgetauscht wurden, dass es Exkursionen von SS-Architekten in andere Lager gab und dass SS-Architekten zwischen den verschiedenen Lagern hin und her versetzt wurden. Möglicherweise handelte es sich aber auch dabei um eine Art »Gestaltungssatzung«, mit der die Buchenwalder Gestaltung als verbindliche Erschließung für massive, zweigeschossige Häftlingsunterkunftsgebäude als Regel festgelegt wurde. Auf dem Neuengammer Entwurf ist allerdings schwach zu erkennen, dass die zweiläufige Freitreppe von unbekannter Hand ausgestrichen wurde (vgl. Abb. 4). Der Grund hierfür ist nicht bekannt, möglicherweise hatte sich diese Form der Erschließung in Buchenwald als nicht praktikabel erwiesen. Für die Häftlingsunterkünfte im KZ Neuengamme wurde daraufhin ein weiterer Entwurf erstellt, von dem bis dato ebenfalls nur ein Planfragment überliefert ist.49 Bei diesem Entwurf wurden das immer noch durch eine Brandwand geteilte Unterkunftsgebäude bzw. die vier Häftlingsblöcke nunmehr in beiden Geschossen jeweils durch einen Kolonnadengang und durch eine innenliegende dreiläufige Treppe erschlossen. In der Ansicht wurden die beiden Geschosse im Eingangsbereich durch eine sehr präsente

48 Vgl. Foto: Ansicht zweier Steingebäude im KZ Gusen während der Bauphase, o.D. (1943/44), BArchB, 192-175. Ein grundlegender Unterschied sowohl zu den Gebäuden in Buchenwald als auch zu dem Neuengammer Entwurf war, dass das über die Freitreppe erschlossene Obergeschoss nur durch eine Eingangstür betreten werden konnte. 49 Grundriss einer Entwurfsvariante eines Klinkergebäudes. Ohne Maßstab. Plan: vermutlich Amtsgruppe C im WVHA, o.D., CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-341 und 1996-334.

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Pfeilerstruktur zusammengefasst, die an eine Kolossalordnung erinnert und den Mittelteil des Gebäudes deutlich hervorhebt. In der vorliegenden Ansicht weist dieser Entwurf mit seiner sichtbaren Pfeilerkonstruktion, der fast schon als »ästhetisch« zu bezeichnenden Schlichtheit und dem Verzicht von Ornamenten Elemente der Moderne auf. Erkennbar ist aber, dass auch dieser mutmaßlich zweite Entwurf von unbekannter Hand handschriftlich korrigiert wurde. Einskizziert wurde nun eine Variante mit vier im Erdgeschoss nebeneinander angeordneten Eingangstüren. Durch die beiden äußeren Türen sollten die unteren Blöcke erschlossen werden und die beiden mittleren Eingangstüren sollten jeweils in ein separates, rechts und links der mittigen Brandwand positioniertes, innenliegendes Treppenhaus führen, über das die oberen Blöcke erschlossen werden sollten. Diese letzte skizzierte Variante wurde dann in der Amtsgruppe C – Bauwesen im WVHA in einem auf den 6. Juni 1943 datierten Entwurfsplan umgesetzt (vgl. Abb. 5).50 Derzeit nicht erklärbar ist, warum dieser Plan bereits vier Monate vorher, am 8. Februar 1943, vom Chef der Amtsgruppe C als »gesehen« abgezeichnet wurde. Möglicherweise hängt dies aber damit zusammen, dass die Genehmigung durch den Amtsgruppenchef sich auf den Neuengammer Bautypus an sich bezog, der insgesamt acht geplante Unterkunftsgebäude betraf,51 denn das angegebene Genehmigungsdatum stimmt überein mit dem möglichen Baubeginn des ersten Unterkunftsgebäudes im April 1943.52 Dies würde bedeuten, dass der vorliegende Plan der Genehmigungsplan für das zweite der geplanten acht Unterkunftsgebäude ist. Wenn man sich die beschriebenen Entwurfsskizzen und den gesamten Entwurfsverlauf anschaut, wird deutlich, dass durch die Berliner SS-Architekten einerseits versucht wurde, die Kontrollfunktion des Eingangsbereichs in die Häftlingsunterkünfte permanent zu optimie-

50 K.L. Hamburg-Neuengamme | Massive Häftlingsunterkunft | Grundriss, Schnitt, Ansicht. M.: 1:100. Plan: Amtsgruppe C, WVHA, 8.2.1943, CChIDK, o. Sig., ANg DN 1996-326 und ANg DN 1996-335. Im Plankopf sind als Entwurfs- und als Zeichnungsdatum der 5.6. bzw. der 6.6.1943 angegeben. 51 Eine andere, unwahrscheinlichere Möglichkeit wäre, dass der Entwurf für das erste massive Unterkunftsgebäude vom Februar 1943 in Kopie als Grundlage für den Entwurf des zweiten Gebäudes (Juni 1943) verwandt wurde und dementsprechend die Unterschrift des Amtsgruppenchefs noch vom ersten Entwurf stammt. 52 Das exakte Datum des Baubeginns ist nicht überliefert, aber es liegen zwei Fotos von den Ausschachtungsarbeiten der Baugrube (ANg DN 1981-345) bzw. der Gründung des Gebäudes (ANg DN 1981-325) vor. Das Letztere ist auf den 28.4.1943 datiert.

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Abb. 5: Ansicht und Grundriss der »Häftlings-Unterkunft«. Plan: Amtsgruppe C, WVHA, 6.6.1943 (vgl. Anm. 50). Erkennbar ist die realisierte Erschließungsvariante mit vier nebeneinander angeordneten Eingangstüren und zwei separaten Treppenhäusern.

ren, und dass andererseits durchaus versucht wurde, ein im Grunde monotones kasernenartiges Gebäude, welches als einzige Funktion die Unterbringung von KZ-Häftlingen hatte, architektonisch zu gestalten. Der Vollständigkeit halber und zur Darstellung des Verhältnisses von planerischer Intention und baulicher Realisierung sei auch bei diesem Beispiel noch erwähnt, dass es sich hierbei zwar um den letzten bekannten Plan handelt, die Gebäude aber offensichtlich noch während des Bauens erneut verändert wurden. So wurden die Gebäude entgegen dem Entwurf vom 6. Juni 194353 unterkellert, was aufgrund des hohen Grundwasserstands in den Vier- und Marschlanden bautechnisch unsinnig ist. Vermutlich war angedacht, hier auch Häftlinge unterzubringen,54 denn die Waschräume wurden parallel

53 Vgl. Anm. 47. 54 In der Tat mussten zeitweise KZ-Häftlinge auch in den großen Kellerräumen leben. Darüber hinaus wurden die Kellerräume zur Unterbringung der KZ-Häftlinge bei Fliegeralarm genutzt. Dabei kam es zu zahlreichen Toten und Verletzten unter den Häftlingen, die rücksichtslos von den SS-Wachmannschaften in den Keller getrieben wurden. Zeitweilig

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dazu in ihrer Grundfläche verdoppelt. Infolge der bautechnisch fragwürdigen Unterkellerung stand der Keller bei Regenfällen regelmäßig bis zu einem halben Meter unter Wasser. Weiter anzumerken und vermutlich ebenfalls Grund für die Vergrößerung der Waschräume ist, dass in dem Entwurf euphemistisch »Tages-« und »Schlafräume« ausgewiesen waren, alle Räume jedoch von Beginn an mit Dreistockbetten und völlig überfüllt zur Unterbringung der Häftlinge genutzt wurden.

Zusammenfassung Zusammenfassend zeigt sich, dass offensichtlich auch jenseits der großen »Muster-KZ« im »Kleinen« – im KZ Neuengamme – die scheinbar unbefriedigende Situation des »Provisorischen« ab Frühjahr 1942 auf der Folie der in Berlin erstellten Musterpläne in eine »adäquate« Lagerarchitektur transformiert werden sollte.55 Bei der städtebaulichen Überarbeitung des Schutzhaftlagers mit seiner auf einen zentralen Punkt hin orientierten architektonischen Figuration ging es dabei anscheinend vor allem um die Schaffung einer symbolischen, mit Zeichen aufgeladenen – semiotischen – Architektur. Ziel war weniger, einen perfektionierten Raum der Kontrolle zu schaffen (wie in Sachsenhausen) oder den Häftlingen bestimmte räumliche oder bauliche Funktionen (beispielsweise des Krankenreviers) sichtbar zu machen, als vielmehr, eine hierarchische Ordnung auch auf einer architektonischen und städtebaulichen Ebene zu manifestieren. Darüber hinaus wird am konkreten Beispiel der Steinhäuser deutlich, dass die SS-Planer neben der architektonischen Gestaltung permanent bestrebt waren, eine ständige Optimierung der Gebäude (im negativen Sinne, also gegen die Häftlinge gerichtet) zu erreichen. Das heißt, dass die SS-Planer in vollem Bewusstsein der Funktion des Or-

wurden die Kellerräume auch als sogenanntes »Schonungskommando« genutzt, in dem nicht mehr gehfähige KZ-Häftlinge sitzende Tätigkeiten wie Flechtarbeiten vollbringen mussten. 55 Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als SS-Obersturmbannführer Görcke ein Jahr später in einem Vortrag bei einer SS-Bauleiterbesprechung über u.a. »[d]as Bauen als Ausdruck von Weltanschauung und Charakter« und den »neue[n] Baustil« lapidar betont hat, dass »Konzentrationslager und Rüstungswerke [...] Nutzungsbauten [sind], bei welchen auf den praktischen Nutzungswert besonderer Wert zu legen ist«. Manuskript des Vortrags von SS-Obersturmbannführer Görcke während einer Bauleiterbesprechung am 4.6.1943, o.P. [S. 14], BArchB NS 3-1648.

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tes und der Architektur bzw. der räumlichen Entwicklung mit ihren Mitteln versucht haben, das Unterdrückungsverhältnis im Konzentrationslager zu »optimieren« und zu perfektionieren.

Literatur Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. Jean le Bris, L’urbanisme concentrationnaire, in: Amicale de Neuengamme et de ses Kommandos (Hg.), Neuengamme, camp de concentration nazi (1938-1945), Le Louroux o.D. [2008], S. 92-94. Andreas Ehresmann, Baugeschichtliche Untersuchung zu den ehemaligen Häftlingsunterkünften Steinhaus I & II, Hamburg 2003. Stefanie Endlich, Die äußere Gestalt des Terrors. Zu Städtebau und Architektur der Konzentrationslager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, München 2005, S. 210-229. Hartmut Frank, Monument und Stadtlandschaft. Anmerkungen zu einer bösen Architektur mit einem Abstand von 45 Jahren, in: Jürgen Harten (Hg.), Die Axt hat geblüht ... Europäische Konflikte der 30er Jahre in Erinnerung an die frühe Avantgarde, Ausst.-Kat., Düsseldorf 1987, S. 344-357. Eduard Führ, Morphologie und Topographie eines Konzentrationslagers, in: Günter Morsch (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 1996, S. 30-58. Christian Fuhrmeister, Beton, Klinker, Granit. Material, Macht, Politik, Hamburg 2001. Ralph Gabriel, Memorial City. Zur Metamorphose des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, Wien 2000 (unveröff. Dipl.-Arbeit). Ralph Gabriel, Das Konzentrationslager als Bauaufgabe: Methodik und Fragestellung eines Forschungsprojektes, in: Ulrich Fritz/Silvia Kavˇciˇc/Nicole Warmbold (Hg.), Tatort KZ. Neue Beiträge zur Geschichte der Konzentrationslager, Ulm 2003, S. 43-56. Ulrich Hölscher-Bogumil, Auf Unrecht gebaut. Baugeschichtliche Analyse des Konzentrationslagers Neuengamme (Studienarbeit im Rahmen des Architekturstudiums an der Hochschule für bildende Künste Hamburg), Hamburg 1992. Hermann Kaienburg, »Vernichtung durch Arbeit«. Der Fall Neuengamme, Bonn 1990. Spiro Kostof, Das Gesicht der Stadt. Geschichte städtischer Vielfalt, Frankfurt/M./New York 1992.

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Kiran Klaus Patel, »Auslese« und »Ausmerze«. Das Janusgesicht der nationalsozialistischen Lager, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 339-365. Robert-Jan van Pelt/Debórah Dwork, Auschwitz von 1270 bis heute, Frankfurt/M./Wien 1999. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1997. Ute Wrocklage, Architektonische und skulpturale Gestaltung des Konzentrationslagers Neuengamme nach 1945. Nicht veröffentlichter Abschlussbericht im Rahmen des Forschungsprojektes »Vergegenständlichte Erinnerung«, Oldenburg 1992.

Zur baulichen Entwicklung der »Aktion-Reinhard«-Lager A NNIKA W IENERT

»Aktion Reinhard« war die nationalsozialistische Tarnbezeichnung für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements und des Bezirks Bialystok. Im Rahmen dieser »Aktion« wurden zwischen März 1942 und Oktober 1943 mindestens 1,7 Mio. Juden und Jüdinnen in drei eigens dafür errichteten Lagern ermordet: Beł˙zec, Sobibór und Treblinka. Dieser Aufsatz widmet sich der Baugeschichte von Treblinka. Der materielle Befund wird in drei Bereiche eingeteilt: Vernichtungsbereich, der Bereich der Arbeitsjuden und der Bereich der SS und der Wachmannschaften. Es soll gezeigt werden, dass das Lager sich in der relativ kurzen Zeit seines Bestehens in ständigem baulichem Wandel befand. Die Baugeschichte wird mit folgender Leitfrage verknüpft: Wie entwickelten sich die neue Bauaufgabe »Vernichtungslager« und das dafür notwendige technisch-praktische Wissen? Um dieser Fragestellung nachzugehen, vergleiche ich Treblinka, das dritte Lager der »Aktion Reinhard«, in ausgewählten Aspekten mit dem als erstem errichteten Vernichtungslager in Beł˙zec.

Die Errichtung der Lager in Beł˙zec und Treblinka Das Lager Beł˙zec wurde zwischen November 1941 und Januar 1942 errichtet, 400 Meter vom Bahnhof des Ortes entfernt. Dafür wurden etwa 20 lokale nicht-jüdische Arbeiter beschäftigt.1 Die Fertigstellung erfolgte durch etwa 150 Juden aus umliegenden Städten. Erste Vergasungsversuche wurden vom Lagerkommandanten Christian Wirth im Februar 1942 an diesen Menschen durchgeführt. Dabei wurde Zyklon B eingesetzt. Bei weiteren Tötungs-Experimenten an Insassen 1

Sie arbeiteten nicht unter Zwang, sondern gegen Bezahlung. Vgl. Michael Tregenza, Belzec: Das vergessene Lager des Holocaust, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 4 (2000), S. 241-267, hier S. 247.

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der Transitghettos Izbica und Piaski wurde Kohlenmonoxyd-Gas aus Stahlzylindern verwendet. Anfang März 1942 wurde die Anlage installiert, die in der folgenden Zeit dauerhaft zur Massentötung eingesetzt wurde: Es wurde »der Auspuff eines sowjetischen Panzer-Motors mit einem Rohrsystem verbunden, das unter dem Boden der Gaskammer angebracht war und jeweils einen Ausgang innerhalb der Gaskammer hatte.«2 Ab dem 17. März kamen täglich Transporte in das Lager. Bis Dezember 1942 blieben die Gaskammern in Betrieb. Danach dauerte die Verbrennung der Leichen noch bis März 1943 an. Am 4. Mai desselben Jahres gab die SS das Lager offiziell auf. Der Bau des Vernichtungslagers in Treblinka begann, nachdem Beł˙zec und Sobibór bereits in Betrieb genommen worden waren.3 In Treblinka wurden in erster Linie die Einwohner/innen des Warschauer Ghettos ermordet, aber auch Juden und Jüdinnen aus anderen europäischen Ländern. Die genaue Opferzahl ist nicht feststellbar; die historische Forschung kann mindestens 780.863 Todesopfer belegen.4 Zum Verständnis der baulichen Entwicklung Treblinkas sind einige Anmerkungen zur Geschichte des Lagers notwendig. Der Überlebende Richard Glazar teilt die Zeit des Lagers Treblinka in vier Phasen ein. Die erste Phase unter der Kommandantur von Irmfried Eberl, unter dem chaotische Zustände herrschten; die zweite nach der Übernahme dieses Postens durch Franz Stangl, der zuvor schon in Sobibór praktische Erfahrung in der Organisation des Massenmordes gesammelt hatte; die dritte nach Anfang des Jahres 1943, in der relativ wenige Transporte ankamen und die Arbeitsjuden »Dauerstellungen« innehatten; die vierte ab Frühling 1943, eine Phase wachsender Unsicherheit seitens der Deutschen.5 Am 2. August kam es zu einem Aufstand der Gefangenen. Die Aufständischen setzten einige der Baracken in Brand, die Gaskammern blieben jedoch unbeschädigt. Danach kamen noch Transporte polnischer Juden am 18. und 19. August an. Dann begann die SS, das Lager aufzulösen. Es wurde komplett niedergelegt, das Gelände zur Tarnung bepflanzt und ein Bauernhaus errichtet, in das

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Ebd., S. 259. Zum Folgenden vgl. Yitzhak Arad, Belzec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps, Bloomington/Indianapolis 1987, S. 37-43. Jacek Andrzej Młynarczyk, Treblinka – Ein Todeslager der »Aktion Reinhard«, in: Bogdan Musial (Hg.), Aktion Reinhardt. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004, S. 257-281, hier S. 281. Vgl. Gitta Sereny, Am Abgrund. Eine Gewissensforschung, Wien 1980, S. 191.

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eine ukrainische Familie einzog. Die letzten Gefangenen wurden am 20. Oktober nach Sobibór gebracht und dort ermordet. Ende April oder Anfang März 1942 hatte eine Gruppe SS-Männer die Gegend besichtigt und den Lagerstandort festgelegt, ca. vier Kilometer vom Dorf und Bahnhof Treblinka entfernt. Das Lager befand sich im Nordosten des Generalgouvernements, in der Nähe der Kleinstadt Małkinia, an der Bahnlinie von Warschau nach Białystok. Es handelte sich um eine dünnbesiedelte Gegend, die nichtsdestotrotz eine brauchbare Infrastruktur besaß: In einem Steinbruch in der Nähe bestand bereits seit Frühjahr 1941 ein Gefangenenlager, das über einen Bahnanschluss verfügte.6 Die Leitung der Bauarbeiten hatte SS-Hauptsturmführer Richard Thomalla inne, ein Ingenieur, der zuvor bereits die Bauarbeiten in Sobibór beaufsichtigt hatte und dort auch Kommandant gewesen war.7 Anders als bei vielen anderen Lagern wurden in Treblinka keine bereits vorhandenen Gebäude umgenutzt, sondern das Lager komplett neu errichtet. Der Euthanasiearzt Dr. Irmfried Eberl überwachte als erster Lagerkommandant die Bauarbeiten. Der geplante Fertigstellungstermin war der 1. Juli 1942, dieser Termin konnte aber nicht eingehalten werden. An seine Frau Ruth schrieb Eberl am 29. Juni: »Durch verschiedene Vorkommnisse (Liegenbleiben von Wagen, Unfall, nicht zuletzt Papierkrieg) wurde die Fertigstellung verzögert. Du kannst Dir nicht denken, welche Schwierigkeiten so entstehen [...] Die O.T. [Organisation Todt, A. W. ], die uns früher manchmal Wagen zur Verfügung stellte, kann dies nicht mehr tun, da sie nur mehr ganz grosse Wagen über 10 Tonnen Ladegewicht zur Verfügung hat. Berlin wird mir jetzt doch den Saurer schicken, der mir seinerzeit zugesichert war, aber nicht kam, weil ich inzwischen anderwärts einen Lkw zur Verfügung hatte. So hat man immer nur Ärger. [...] Im Laufe der Woche werde ich dann endgültig nach T. übersiedeln. Meine dortige Anschrift ist: SSUntersturmführer Dr. Eberl, Treblinka b/Malkinia, SS-Sonderkommando.«8

Nach diesem Lamentieren schloss er die Schilderung mit den Worten: »Mir persönlich geht es ausgezeichnet. Es ist viel Betrieb und das macht mir Spass.«9 Ab dem 23. Juli 1942 kamen Transporte aus dem

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Vgl. Arad, The Operation Reinhard Death Camps, S. 37. Vgl. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M. 2007, S. 623. Manfred Grabher, Irmfried Eberl. »Euthanasie«-Arzt und Kommandant von Treblinka, Frankfurt/M. 2006, S. 70. Ebd., S. 71.

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Warschauer Ghetto nach Treblinka zur Ermordung. Am 3. August 1942 erwähnt Eberl in einem Brief an seine Frau eine Inspektion seines Lagers, die am 1. August stattfand, also etwa eine Woche nach Beginn der Massentötungen: »Hier geht alles seinen gewohnten Gang. Am Sonnabend war große Besichtigung, die zur Zufriedenheit ausfiel. Ich bekam großes Lob ausgesprochen, was mich natürlich sehr freute.«10 Allerdings scheint Eberl seiner Frau gegenüber die Lage geschönt zu haben. Zeitgleich mit der erwähnten Kontrolle trat Christian Wirth, bis dahin Kommandant in Beł˙zec, den Posten des Inspektors der »AktionReinhard«-Lager an. War zu diesem Zeitpunkt laut Eberl die Lage noch unter Kontrolle, überstiegen die ankommenden Transporte in den folgenden drei Wochen die Kapazitäten des Lagers bei weitem.11 Eberl wurde von Wirth abgesetzt, sein Nachfolger Franz Stangl trat den Posten wahrscheinlich Ende August 1942 an.12

Die bauliche Entwicklung der einzelnen Lagerbereiche in Treblinka Die Abbildungen 1 und 2 geben einen Einblick in die allgemeine Struktur des Lagers. Das Lagergelände umfasste 13,45 Hektar und hatte die Form eines unregelmäßigen Vierecks.13 Die Lagerfläche maß ca. 400 x 600 Meter an ihren längsten Ausmaßen. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt, in den zum Sichtschutz Nadelreisig eingeflochten war. Im Innern war das Lager in verschiedene Plätze und Räume unterteilt, die zum Teil ebenfalls blickdicht umzäunt waren. Das Lagerinnere teilte sich in zwei Bereiche. Der erste Teil wurde als »Lager I« oder »Auffanglager« bezeichnet. Er nahm etwa fünf Sechstel der Gesamtfläche ein und umfasste das Gleis, Lager, Magazine, Werkstätten, Schreibstube, Wohnbaracken der SS und der ukrainischen Wachmannschaften (der sogenannten Trawniki-Männer) sowie der Gefangenen, Garagen einen Gemüsegarten usw. Dies war der Verwaltungsbereich des Lagers. Der zweite Teil war das eigentliche Vernich10 Ebd., S. 75. 11 Vgl. ebd., S. 75. Grabher kommt zu dem Schluss, dass Eberl ein »unerreichbares Pensum erfüllen« wollte. Dadurch ließ sich der »gewohnte Lagerbetrieb« nicht mehr aufrechterhalten, im Lager »herrschte Chaos«. 12 In einem Brief vom 24.8. erwähnt Eberls Frau bereits den »Schluss Deiner Tätigkeit in Treblinka.« Ebd., S. 77. 13 Vgl. Zdzisław Łukaszkiewicz, Obóz zagłady Treblinka, in: Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce 1 (1946), S. 133-144, hier S. 134.

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Abb. 1: Karte des Lagers Treblinka, angefertigt von dem Treblinka-Überlebenden Samuel Willenberg. Quelle: Samuel Willenberg, Surviving Treblinka, Oxford 1989.

tungslager. Ein hoher Sandwall trennte das sogenannte »Totenlager« vom »Auffanglager«.14 Vor dem Eintreffen der ersten Transporte hatten Juden bereits Massengräber auf dem Lagergelände ausheben müssen. Die Unterteilung des Geländes in Lager I und Lager II geschah erst einen Tag vor Ankunft des ersten Transportes.15 In der Skizze des Überlebenden Samuel Willenberg (Abb. 1) ist das flächenmäßige Verhältnis der beiden Lagerteile unmaßstäblich. Daher sollte zum Vergleich eine weitere Zeichnung herangezogen werden, die zwar den Grundriss stark schematisiert, aber die Flächenverhältnisse besser darstellt. Es handelt sich um den Plan des Lagers, der im Düsseldorfer Treblinka-Prozess von 1964/65 verwendet wurde, gezeichnet vom ersten Staatsanwalt Alfred Spieß (Abb. 2). a) Der Vernichtungsbereich (»Lager II«) Bei dem ersten »Gashaus« von Treblinka handelte es sich um einen Ziegelbau mit drei Gaskammern. Eine Holzwand schirmte das Gebäude vom »Lager I« ab. Die Kammern gingen von dem auf diese Weise 14 Richard Glazar, Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt/M. 1993, S. 22. 15 Oskar Strawczynski, Ten Months in Treblinka (October 5, 1942 – August 2, 1943), in: ders./Israel Cymlich, Escaping Hell in Treblinka, New York/Jerusalem 2007, S. 117-185, hier S. 171.

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Abb. 2: Plan des Lagers, wie er im Düsseldorfer Treblinka-Prozess von 1964/65 verwendet wurde, gezeichnet vom ersten Staatsanwalt A. Spieß. Quelle: Landesarchiv Nordrheinwestfalen – Abteilung Rheinland – RWB 18244c-17.

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gebildeten Korridor ab. Auf der anderen Seite des Gebäudes gab es eine Art Plattform mit je einer hermetisch abschließenden Holztür an jeder Kammer, durch die die Leichen nach der Vergasung entfernt wurden.16 Das erste Vernichtungsgebäude erwies sich als zu klein, sodass Mitte September 1942 zehn neue Gaskammern in Betrieb genommen wurden. 1943 wurden die alten Gaskammern in Werkstätten umfunktioniert. Dort arbeiteten Schneider für die SS und die ukrainischen Wachmannschaften. Außer den Gaskammern gab es im Lager II noch einen Brunnen, die Wachstube der Ukrainer sowie einen eingezäunten Bereich, in dem die Gefangenen dieses Lagerteils untergebracht waren. Anschließend an die Schlafbaracke der Männer, in Richtung Lager I, befand sich die Küche. Später wurde die Baracke ausgebaut. Es gab ein zahnärztliches Kabinett mit einem ausgebildeten Zahnarzt (ein Gefangener), eine Wäscherei und eine Latrine. In der Zeit nach dem Warschauer Ghettoaufstand vom April 1943 wurden auch Frauen in das Lager gebracht; es waren 12 Frauen im Lager II, die eine eigene Schlafbaracke hatten.17 Die neuen Gaskammern wurden senkrecht zu dem alten Gebäude errichtet. Zu ihrem Eingang führten fünf breite Stufen aus Beton mit Blumentöpfen auf beiden Seiten. Auf dem Giebel wurde ein Davidstern angebracht. Darunter hing ein Vorhang aus einer Synagoge mit der hebräischen Aufschrift: »Dies ist das Tor, durch das die Gerechten eingehen.«18 Der Neubau wurde unter der Bauleitung von SSUnterscharführer Erwin Lambert errichtet, »der von der ›T4‹-Zentrale im September 1942 dafür abgestellt wurde.«19 Lambert sagte vor Gericht über den Bau der neuen Gaskammern: »In Treblinka habe ich das Fundament für die großen Gaskammern gebaut. [...] Auch jetzt wurde offiziell nicht von Gaskammern, sondern von Baderäumen gesprochen [...] Im Anschluß an die Errichtung der großen Gaskammern habe ich noch verschiedene andere Bauarbeiten durchgeführt. Ich erinnere mich, daß ein Backofen gebaut worden ist, ein Pferdestall, ein Arrestlokal für die

16 Vgl. Yankiel Wiernik, One year in Treblinka, o.O. 1944, S. 14-16. 17 Eine ausführliche Beschreibung des Geländes und der Gebäude im Lager II findet sich bei Jerzy Rajgrodzki, einem Treblinka-Überlebenden, der die meiste Zeit im Vernichtungsbereich eingesetzt wurde. Jerzy Rajgrodzki, Jedena´scie miesiecy ˛ w obozie zagłady ˙ w Treblince, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego 25 (1958), S. 101-118, hier S. 106. 18 Eugen Kogon/Hermann Langbein/Adalbert Rückerl (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1989, S. 185. 19 Manfred Burba, Treblinka. Ein NS-Vernichtungslager im Rahmen der »Aktion Reinhard«, Göttingen 1995, S. 7.

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Wachmannschaften. Das Baumaterial habe ich mir aus baufälligen Gebäuden in der Nähe des Lagers besorgt. Für diese Arbeiten habe ich jüdische Häftlinge zu meiner Verfügung gehabt«.20

Hier zeigt sich, dass sich das Lager in ständigem baulichem Wandel befand. Der Überlebende Rajzman schrieb dazu: »During the time that Treblinka existed, the Germans were forever ›improving‹ it, making it larger.«21 Auch in Beł˙zec war nach kurzer Zeit das erste Gaskammergebäude durch ein neues, größeres ersetzt worden. »Von Mitte April bis Mitte Mai 1942 war das Lager in Beł˙zec nicht in Betrieb und Wirth und seine SS-Garnison kehrten nach Berlin zurück. Mitte Mai kamen sie mit dem Befehl nach Beł˙zec zurück, das Lager zu reorganisieren und wieder aufzubauen.«22 Dies beinhaltete den Bau eines größeren Gaskammerngebäudes bis zum 1. August 1942. Es wurde aus Ziegeln und Beton errichtet und umfasste sechs Kammern mit den Maßen 5 x 5 Meter sowie einen Raum für zwei Panzermotoren, die jeweils mit drei Kammern verbunden waren. Die erste Gaskammer war aus Holz und bestand aus einem einzigen Raum mit den Maßen 12 x 8 Meter. Die Konstruktion des neuen Gebäudes beaufsichtigte Lorenz Hackenholt, der auch verantwortlicher Chefmechaniker für die Vergasungsmotoren wurde. Ein Schild wies das fertige Gebäude daher als »Stiftung Hackenholt« aus.23 In der Phase der Reorganisation wurden auch in Beł˙zec noch weitere Bauten errichtet. Das Lager »bestand anfänglich lediglich aus zwei außerhalb des Lagerbereichs gelegenen Baracken für die ›TrawnikiMänner‹ sowie aus drei Baracken innerhalb des Lagers«.24 Später wurden vor den Gaskammern mehrere Baracken neu gebaut. Nebeneinander lagen je eine Entkleidungsbaracke für Männer und Frauen sowie eine »Friseurbaracke«, in der den Frauen das Haar abgeschnitten wurde. Zuvor waren die Haare erst nach der Ermordung geschnitten worden. Eine sogenannte »Schleuse« führte von den Entkleidungsbaracken zum Vergasungsgebäude. Dabei handelte es sich um einen zwei Meter breiten und 150 Meter langen Gang, der an den Seiten mit Zweigen getarnt war. Außerdem wurde der Platz neben dem Bahngleis vergrößert und ab dann als »Rampe« bezeichnet. Die Phase der Re-

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Kogon/Langbein/Rückerl, Nationalsozialistische Massentötungen, S. 184. Alexander Donat (Hg.), The Death Camp Treblinka, New York 1979, S. 242. Tregenza, Belzec, S. 250. Vgl. ebd., S. 251. Ebd., S. 248.

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organisation in Beł˙zec fiel zusammen mit der Errichtung des Lagers Treblinka. Trotzdem flossen die Erfahrungen noch nicht in den Bau des dritten Vernichtungslagers ein, außer, dass die Gaskammern dort direkt in Massivbauweise errichtet wurden; in Treblinka führten erst einige Zeit später die Erfahrungen vor Ort zu Änderungen wie dem Neubau der Gaskammern, der Reorganisation des Lagerablaufs und dem allgemeinen Ausbau des Lagers. b) Der Bereich der Arbeitsjuden Zunächst schliefen die Gefangenen in Treblinka in der sogenannten Männerbaracke auf dem Ankunftsplatz,25 die mit mehreren Hundert Gefangenen völlig überbelegt war. Die Gefangenen lagen auf dem sandigen Boden. Die Türen blieben offen stehen, draußen liefen Wachmänner Patrouille.26 Außer den Entkleidungsbaracken auf dem Ankunftsplatz gab es Anfang Oktober 1942 bereits einige kleine Werkstätten, die links davon lagen: einen Schneider, einen Schuster, einen Zimmermann, einen Schlosser und einen Schmied. Die dort beschäftigten »Hofjuden« erhielten gewisse Privilegien. Sie schliefen in Baracken mit Stockbetten und elektrischem Licht.27 Später wurden alle »Arbeitsjuden« in diesem Bereich untergebracht. Zwei Baracken auf dem Platz neben den Werkstätten wurden geleert und mit Stockbetten und elektrischem Licht ausgestattet. So entstand das lagerinterne »Ghetto«. Die U-förmigen Baracken waren mit Stacheldraht umzäunt, die Gefangenen wurden hier nachts eingeschlossen.28 Dies hing mit einer Veränderung in der Lagerorganisation zusammen. Wurden zunächst die Arbeitsjuden in äußerst kurzen Abständen ermordet und durch neu Ankommende ersetzt, ging die SS später dazu über, eine mehr oder weniger ständige Lagermannschaft zu behalten, um eingearbeitete Spezialisten für die anfallenden Tätigkeiten zur Verfügung zu haben. Diese Entwicklung fand in allen drei Lagern der »Aktion Reinhard« statt, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Eine weitere Einrichtung im »Lager I«, die den täglichen Ablauf für die Gefangenen auf eine schreckliche Weise bestimmte, war das »Lazarett«. Es wird in allen Berichten der Überlebenden von Treb˙ 25 Vgl. Anonymus, Relacje dwóch zbiegów z Treblinki II, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego 40 (1960), S. 78-88, hier S. 87. 26 Vgl. Strawczynski, Ten Months in Treblinka, S. 139. 27 Vgl. ebd., S. 141. 28 Vgl. Samuel Willenberg, Surviving Treblinka, Oxford 1989, S. 104.

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linka erwähnt. Hierbei handelte es sich um eine Exekutionsstätte, wo diejenigen Deportierten ermordet wurden, die aufgrund von Gebrechlichkeit, Krankheit oder dergleichen nicht selbstständig in die Gaskammern gehen konnten. Außerdem wurden dort auch nahezu täglich Arbeitsjuden hingerichtet, zum Teil, weil sie von der SS für nicht mehr arbeitsfähig befunden wurden, zum Teil auch völlig willkürlich. Der Überlebende Boris (Kazik) Weinberg schreibt: »Initially this was just a hole with no fence and no name.«29 Später wurde die Grube mit einer Fahne des Roten Kreuzes als medizinische Einrichtung gekennzeichnet und erhielt daher ihren Namen. Auch in Beł˙zec gab es eine Erschießungsgrube, dort allerdings ohne eine solche Tarnung. c) Der Bereich der SS und der Wachmannschaften Der ehemalige Lagerkommandant Franz Stangl erinnerte sich 1971 an sein Quartier in Treblinka. Die Fenster, so Stangl, »schauten hinaus auf die Straße, die ich bauen ließ, [...] achthundert Meter, auf beiden Seiten mit Blumen gesäumt. Rechts war ein Blockhaus – wir nannten es das Tirolerhaus, was ich im Tiroler Stil hab’ bauen lassen. Ich sag’ Ihnen, ich hatte die besten Tischler der Welt, alle beneideten mich. Alles war aus Holz gezimmert, Stube, alles tadellos.«30

Mit den »besten Tischlern der Welt« meinte er jüdische Gefangene, deren vorgesehene Ermordung durch diese Arbeiten einen Aufschub erhielt. Das Blockhaus sowie das neue Eingangstor im altdeutschen Stil wurden von Jankiel Wiernik im April 1943 angefertigt.31 In Beł˙zec hingegen war die SS außerhalb des Lagers untergebracht: Für das Lagerpersonal wurden zwei Villen nahe des Bahnhofes requiriert, »eine nutzte Wirth als Kommandantur, die andere diente als Unterkunftsgebäude der SS-Garnison.«32 Stangl veranlasste eine ganze Reihe baulicher Veränderungen in Treblinka: »Weihnachten 1942 gab [er] den Bau der Bahnhofsattrappe in Auftrag. Eine Uhr (mit aufgemalten Zahlen und Zeigern, die sich niemals bewegten [...]), Fahrkartenschalter, verschiedene Fahrpläne und Schilder, die Zugverbindungen anzeigten: ›Nach Warschau‹, ›Nach Wolwonoce‹, ›Nach Bialystock‹, wurden auf die Fassade der ›Aussortierungsbaracke‹ gemalt.«33

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Arad, The Operation Reinhard Death Camps, S. 97. Sereny, Am Abgrund, S. 267. Vgl. Wiernik, One year in Treblinka, S. 33. Tregenza, Belzec, S. 248. Sereny, Am Abgrund, S. 222.

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Die Schilder wurden von einem Maler aus Warschau ausgeführt, der im Lager Gemälde für die SS nach Fotografien anfertigte.34 Zu Beginn 1943 kamen wenige Transporte an. Die Gegenstände und Kleidungsstücke der Opfer wurden zum Großteil abtransportiert. Der Überlebende Richard Glazar schreibt dazu: »Im April [1943] [...] war es der SS hauptsächlich darum zu tun, Gründe zu finden, das Lager aufrecht zu erhalten und uns zu beschäftigen, um ihre eigene Gegenwart dort zu rechtfertigen.«35 Stangls Erklärung für seine Bautätigkeit während seiner Zeit als Kommandant in Treblinka lautet hingegen: »Ich hab’ alles verdrängt, indem ich immer weiter baute – immer mehr: Gärten, bessere Baracken, neue Küchen, Reviere, einen Torbogen bauten wir nach altdeutschem Muster, überhaupt alles neu: Friseure, Schneider, Schuhmacher, Tischler. Es gab Hunderte von Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu verdrängen: Ich machte von allen Gebrauch.«36

Unter der Überschrift »Beautifying the Camp« beschrieb der Überlebende Strawczynski die Veränderungen:37 Neue Wege und Straßen wurden mit Steinen gepflastert und erhielten Namen, so die KurtSeidel-Straße, benannt nach dem Chef des Straßenbaukommandos, und die Siedlerstraße, die zum Lager II führte. Für die ukrainischen Wachmänner wurden neue Baracken errichtet. Über dem Eingang zu deren Hof wurde ein großes Schild mit der Aufschrift »Max Biala Baracken« angebracht. Die Unterkünfte wurde nach dem SS-Mann Max Biala benannt, der am 11. September 1942 von dem Warschauer Juden Meir Berliner beim Appell im Lager mit einen Messer angegriffen wurde und wenig später den Verletzungen erlag. Ein Holzschnitzer wurde aus einem Transport aus Warschau selektiert und erhielt den Auftrag, bebilderte Wegweiser anzufertigen, die an den Wegen und Straßen aufgestellt wurden. Auf der Straße zur Rampe stand zum Beispiel ein Wegweiser »Zum Bahnhof«, auf dem Juden geschnitzt waren, bärtig und bebrillt, die ihre Habseligkeiten zum Bahnhof schleppten. Auf dem Wegweiser »Zur Kaserne« sah man marschierende Soldaten. Der Wegweiser »Zum Ghetto« war mit Juden, die Werkzeuge wie Schaufeln, Hammer und Äxte trugen, ausgeschmückt.

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Vgl. Willenberg, Surviving Treblinka, S. 107. Sereny, Am Abgrund, S. 245. Ebd., S. 223. Vgl. Strawczynski, Ten Months in Treblinka, S. 165 ff.

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Auf dem Weg zu den Tierställen stand ein geschnitzter Wegweiser mit Kühen, Hühnern und einem Schäfer. Auch die Einrichtungen auf der Kurt-Seidel-Straße wurden mit Holzschnitzarbeiten ausgestattet. Als Beispiel nennt Strawczynski die neu gebaute Bäckerei, vor deren Front ein riesiges Hörnchen hing; und beim Zahnarzt gab es eine große Zahnskulptur.38 Im Zuge des Lagerausbaus ließ die SS einen »Zoo«, auch »Tiergarten« genannt, errichten. Hier arbeitete ein gelernter Gärtner aus Prag, der 18-jährige Beda. Der Überlebende Richard Glazar berichtete: »Er war es, der den Tiergarten so hergerichtet hat. Ringsherum legte er einen kleinen Garten an. Die Pfade hat er mit durchsiebtem gelben Sand bestreut, nicht mit dem aschfahlen von drüben. Das Dach und die Pfeiler verkleidete er mit halbiertem weißem Birkenholz. Auf diese Weise machte er um den ganzen Ziergarten einen niedrigen weißen Zaun, und den Rasen umsäumte er mit bunten Steinchen.«39

»Wir hatten eine Anzahl wirklich herrlicher Vögel dort«, so Stangl über den Zoo, »und Blumenbeete und Bänke zum Ausruhen. Ein Gartenbauexperte aus Wien hatte diese Anlage für uns entworfen – wir hatten natürlich Fachleute für alles.«40 Neben den baulichen Veränderungen gab es auch Umstrukturierungen in der Organisation des Lagers: Ab März 1943 wurden die Gefangenen erstmals namentlich erfasst und alle Vergehen und Vorkommnisse notiert. Sie erhielten dann Dreiecke aus Leder, auf denen verschiedenfarbige Stoffstücke mit einer Nummer angebracht waren. Von da an mussten sich die Gefangenen auch die Haare abrasieren lassen.41

Fazit Die Ausführungen zur Baugeschichte von Treblinka belegen, dass auch die Vernichtungslager, ähnlich wie die Konzentrationslager, sich ständig veränderten, andauernd um- und ausgebaut wurden. In der kurzen Zeit ihres Bestehens waren sie in ständigem Wandel begriffen, sodass eine Beschreibung des Lagers immer nur das Lager zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasst. Diese Feststellung meint mehr als die

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Vgl. ebd., S. 167. Glazar, Die Falle mit dem grünen Zaun, S. 138. Sereny, Am Abgrund, S. 173. Vgl. Willenberg, Surviving Treblinka, S. 105 f.

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banale Tatsache, dass man sprichwörtlich nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Für die Lager der »Aktion Reinhard« ergibt sich je nach Betrachtungszeitraum ein wesentlich unterschiedliches Bild. Dies wird an dieser Stelle deswegen betont, weil zum Beispiel der gefälschte Bahnhof häufig als charakteristisch für Treblinka angegeben wird. So spricht Wolfgang Benz von einer »Inszenierung des Ortes, die mit Hinweistafeln und Wegweisern die Illusion eines Durchgangslagers erwecken sollte. Die Ankommenden sahen eine Baracke, deren Außenfront als Bahnhofsgebäude hergerichtet war«,42 obwohl der Großteil der Opfer dort vor der Einrichtung der Bahnhofsattrappe ermordet wurde. Allein in der relativ kurzen, etwa sechswöchigen Amtszeit von Irmfried Eberl als Lagerkommandant wurde knapp ein Drittel der geschätzten Gesamtzahl der Opfer ermordet.43 Yitzhak Arad schreibt in seinem Standardwerk zu den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard«, bei dem Bau von Treblinka seien die in Beł˙zec und Sobibór gemachten Erfahrungen miteingeflossen.44 Benz bezeichnet Treblinka sogar als das »am perfektesten organisierte der Vernichtungslager im Rahmen der ›Aktion Reinhardt‹«45 und geht ebenfalls davon aus, dass beim Bau von Treblinka »die Erfahrungen von Beł˙zec und Sobibór hinsichtlich Abwicklung der Transporte und Tarnung berücksichtigt«46 wurden. Bei beiden Autoren finden sich jedoch keine Angaben, wie dieser Wissenstransfer stattfand. Die Schwierigkeiten zu Beginn des Lagers deuten eher auf das Gegenteil hin. Der Bau von Treblinka fällt zusammen mit dem Umbau und der Reorganisation des Lagers Beł˙zec; dennoch werden auch in Treblinka bald grundsätzliche Änderungen in der Lagerorganisation nötig. Henry Friedlander konstatiert, dass die »Technik, Menschen mit Giftgas zu töten, erst erfunden werden [musste]. Theorie allein genügte nicht, sondern man musste auch anschaulich darstellen, dass so etwas möglich war; man musste weiterhin verschiedene Methoden ausprobieren und die Mitarbeiter in dem Tötungsverfahren ausbilden.«47

42 Wolfgang Benz, Treblinka, in: ders./Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 8, München 2009, S. 407-443, hier S. 415. 43 Vgl. Grabher, Irmfried Eberl, S. 79. 44 Vgl. Arad, The Operation Reinhard Death Camps, S. 37. 45 Benz, Treblinka, S. 407. 46 Ebd., S. 408. 47 Henry Friedlander, Die Entwicklung der Mordtechnik. Von der »Euthanasie« zu den Vernichtungslagern der »Endlösung«, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann

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Das Personal der »Aktion Reinhard« hatte bereits Erfahrung im organisierten Massenmord, aber die Einrichtung und Abwicklung eines reinen Vernichtungslagers war auch für sie neu. Die in der Forschungsliteratur vorherrschende Einschätzung, die Nazis hätten die Vernichtungstechnik von Lager zu Lager stetig verfeinert, bis die »Todesfabriken«48 schließlich »wie geschmiert« liefen, erscheint anhand des Materials nicht überzeugend. Es ergibt sich eher der Eindruck, dass in den einzelnen Lagern die jeweiligen Akteure alle nach dem Prinzip »trial and error« ähnliche Problemlösungen fanden. Die übergeordnete Zielsetzung, möglichst viele Menschen in möglichst kurzer Zeit zu töten, wurde vor Ort in den verschiedenen Lagern zwar nach dem gleichen Muster durchgeführt. Darauf beschränkte sich das Handeln der Verantwortlichen jedoch nicht, sie nutzten die jeweils zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume und Ressourcen individuell und wurden dabei auch nicht von übergeordneten Stellen eingeschränkt.

Literatur ˙ Anonymus, Relacje dwóch zbiegów z Treblinki II, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego 40 (1960), S. 78-88. Yitzhak Arad, Belzec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps, Bloomington/Indianapolis 1987. Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 8, München 2009. Manfred Burba, Treblinka. Ein NS-Vernichtungslager im Rahmen der »Aktion Reinhard«, Göttingen 1995. Alexander Donat (Hg.), The Death Camp Treblinka, New York 1979. Henry Friedlander, Die Entwicklung der Mordtechnik. Von der »Euthanasie« zu den Vernichtungslagern der »Endlösung«, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, Bd. 1, S. 493-507. Richard Glazar, Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt/M. 1993.

(Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, Bd. 1, S. 493-507, hier S. 495. 48 Zu den Implikationen dieser Metapher vgl. Alf Lüdtke, Der Bann der Wörter: »Todesfabriken«. Vom Reden über den NS-Völkermord – das auch ein Verschweigen ist, in: WerkstattGeschichte 13 (1996), S. 5-18.

Bauliche Entwicklung der »Aktion-Reinhard«-Lager

243

Manfred Grabher, Irmfried Eberl. »Euthanasie«-Arzt und Kommandant von Treblinka, Frankfurt/M. 2006. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M. 2007. Eugen Kogon/Hermann Langbein/Adalbert Rückerl (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1989. Alf Lüdtke, Der Bann der Wörter: »Todesfabriken«. Vom Reden über den NSVölkermord – das auch ein Verschweigen ist, in: WerkstattGeschichte 13 (1996), S. 5-18. Zdzisław Łukaszkiewicz, Obóz zagłady Treblinka, in: Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce 1 (1946), S. 133-144. Jacek Andrzej Młynarczyk, Treblinka – Ein Todeslager der »Aktion Reinhard«, in: Bogdan Musial (Hg.), Aktion Reinhardt. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004, S. 257-281. Jerzy Rajgrodzki, Jedena´scie miesi˛ecy w obozie zagłady w Treblince, in: Biule˙ tyn Zydowskiego Instytutu Historycznego 25 (1958), S. 101-118. Gitta Sereny, Am Abgrund. Eine Gewissensforschung, Wien 1980. Oskar Strawczynski, Ten Months in Treblinka (October 5, 1942 – August 2, 1943), in: ders./Israel Cymlich, Escaping Hell in Treblinka, New York/Jerusalem 2007, S. 117-185. Michael Tregenza, Belzec: Das vergessene Lager des Holocaust, in: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 4 (2000), S. 241-267. Yankiel Wiernik, One year in Treblinka, o.O. 1944. Samuel Willenberg, Surviving Treblinka, Oxford 1989.

Wandel von Funktion und Nutzung

Das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick in seiner Funktion als frühes Konzentrationslager während der »Köpenicker Blutwoche« I RIS H ELBING

Die sogenannte Köpenicker Blutwoche im Juni 1933 bildete den Höhepunkt einer Reihe von gewaltsamen Terroraktionen gegenüber der Bevölkerung im Berliner Stadtteil Köpenick, die mit dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 begannen und erst im Herbst 1933 nachließen. Ziel dieser Terroraktionen war die Einschüchterung der Bevölkerung und die Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft. Anlässlich des Reichtagsbrands ordnete der kommissarische preußische Innenminister, Hermann Göring, die Verhaftung der KPDAbgeordneten an, da er davon überzeugt war, dass der Brand als Beweis für einen kommunistischen Umsturzversuch zu bewerten sei.1 In derselben Nacht wurden die ersten KPD-Abgeordneten verhaftet. Einen Tag später erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg die »Reichstagsbrandverordnung« (»Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat«). Diese erklärte den Ausnahmezustand und setzte wichtige Grundrechte wie Meinungs-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit außer Kraft. Sie schränkte somit die persönliche Freiheit massiv ein. Seit diesem Zeitpunkt waren Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb des bis dahin gültigen gesetzlichen Rahmens zulässig. Außerdem schuf die Verordnung die rechtliche Grundlage für die sogenannte Schutzhaft. Politische Gegner/innen konnten ohne rechtsförmiges Verfahren von der Polizei verhaftet werden. Bei Hochverrat und Brandstiftung konnte die Todesstrafe verhängt werden.2

1

2

Vgl. Hans Mommsen, Van der Lubbes Weg in den Reichstag – der Ablauf der Ereignisse, in: Uwe Backes u.a., Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende, München 1986, S. 33-57, hier S. 47. Vgl. Irene Mayer-von Götz, Terror im Zentrum der Macht. Die frühen Konzentrationslager in Berlin 1933/34-1936, Berlin 2008, S. 33.

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Die Schutzhaft machte eine Einweisung in Konzentrationslager möglich, um den Insassen »die für den Geist der neuen Zeit erforderlichen Eigenschaften anzuerziehen. [...] Die Einrichtung der KZ bedeute also eine ausgesprochene Erziehungsanstalt.«3 Nach dem Reichstagsbrand stieg die Zahl der »Schutzhäftlinge« sprunghaft an. Für die Häftlinge gab es keinerlei Rechtsmittel, die sie hätten einlegen können. Die Haftdauer war unbefristet.4 Um die Verhaftungen im Sinne der öffentlichen Wahrnehmung effektiv durchzuführen, schuf die SA an bestimmten öffentlichen Orten von der historischen Forschung als frühe Konzentrationslager bezeichnete Einrichtungen. Diese sollten unter anderem der Verbreitung von Angst und Schrecken sowie der Einschüchterung der Bevölkerung dienen, deshalb lagen sie nicht versteckt, sondern an eher auffälligen Orten, so dass die Bevölkerung mitbekam, was dort geschah.5 Die Hauptfunktion dieser »wilden« bzw. frühen Konzentrationslager bestand in der Ausschaltung der politischen Opposition mittels brutaler Gewalt.6 In den frühen Konzentrationslagern konnten Gewalt und seelischer Terror im nationalsozialistischen Sinne ausgeübt und die politische Tätigkeit der Häftlinge dauerhaft unterbunden werden. Daher gelten sie als das Instrument zur unmittelbaren Ausschaltung der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien, aber auch aller anderen vermeintlichen oder tatsächlichen Systemgegner/innen.7 Auch in Köpenick gewannen die Nationalsozialisten immer mehr Macht. Die Ergebnisse der Wahl der Bezirksversammlung am 12. März 1933 zeigten den Erfolg der NSDAP. Konnte sie 1929 nur 6,3 % der Stimmen für sich verbuchen, waren es vier Jahre später über 42 %.8 Die SA trat nach dem Wahlergebnis noch gewalttätiger auf. Durch die »hilfspolizeilichen Befugnisse«, die der SA nach der Machtübernahme eingeräumt wurden, dominierte sie immer mehr die politische Auseinandersetzung. Hausdurchsuchungen, Festnahmen und offen terroristische Aktionen gegen Kommunist/innen, Sozialdemokrat/innen, 3 4 5 6

7 8

Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 38 f. Vgl. ebd., S. 48. Zur Begriffsklärung »wilde« und frühe Konzentrationslager vgl. ebd., Terror, S. 39-47; Karin Orth, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Peter Reif-Spirek/Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit«, Berlin 1999, S. 28-61; Angelika Königseder, Die Entwicklung des KZ-Systems, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 1, München 2008, S. 30-42. Vgl. Mayer-von Götz, Terror, S. 48. Vgl. André König, Köpenick unter dem Hakenkreuz, Berlin 2004, S. 138.

Amtsgerichtsgefängnis Köpenick

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Gewerkschafter/innen und Bürger/innen jüdischen Glaubens sowie gegen Mitglieder der Bekennenden Kirche und von Arbeitersportvereinen waren an der Tagesordnung.9

Nationalsozialistischer Terror in Köpenick Im März 1933 kam es nach den Wahlen zum Deutschen Reichstag in Köpenick zu Ausschreitungen seitens der SA. Mehrere »Regimegegner/innen«, unter ihnen das Mitglied des Sozialausschusses Maria Jankowski (SPD) und der stellvertretende Bürgermeister Heinrich Ehrlich (SPD) sowie einige KPD-Mitglieder wurden in der Nacht vom 20. zum 21. März brutal verhört und misshandelt.10 Die SA benutzte zu diesem Zeitpunkt bereits einige der Foltermethoden, die sie im Verlauf der »Köpenicker Blutwoche« perfektionierte. Maria Jankowski wandte sich danach an die internationale Presse und ließ sich nackt fotografieren, um die Wunden, die die Folter bei ihr hinterlassen hatten, der Öffentlichkeit zu zeigen.11 Sie konnte sich weiteren Verhaftungen entziehen, indem sie aus Köpenick wegzog. Im Zusammenhang mit dem Aprilboykott gegen die deutschen Juden und Jüdinnen kam es zu weiteren Verhaftungen, wie die Akten des in der DDR vom 5. Juni bis 19. Juli 1950 geführten Prozesses gegen die Beteiligten der »Köpenicker Blutwoche« belegen. Bei diesem Prozess wurden 61 Personen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, anwesend waren allerdings nur 32 von ihnen.12

9

Vgl. Gedenkstätte Köpenicker Blutwoche Juni 1933. Eine Dokumentation, Berlin 1997, S. 17. 10 Vgl. König, Köpenick, S. 138; Heinrich-Wilhelm Wörmann, Widerstand in Köpenick und Treptow, Berlin 1995, S. 14. 11 Die Londoner Times berichtete darüber am 1.4.1933. Auch in der Göteborg Handels, och sjötarts Tidning wurde über Jankowskis Festnahme berichtet, vgl. Horst Bednarek, Köpenicker Blutwoche Juni 1933, Berlin 2006, S. 22 und Wörmann, Widerstand, S. 14. 12 Einige Angeklagte waren abwesend, weil sie verstorben waren, sich in der Bundesrepublik aufhielten oder in den Waldheimer Prozessen abgeurteilt worden waren, die vom 21.4. bis zum 29.6.1950 im Zuchthaus der sächsischen Kleinstadt Waldheim stattgefunden hatten. Insgesamt sind durch die 4. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin (Ost) 15 Angeklagte zum Tode verurteilt worden und 13 zu lebenslanger Haft. 28 Angeklagte wurden zu Haftstrafen von fünf bis 25 Jahren verurteilt, einige zu Zwangsarbeit und allen wurden die bürgerlichen Ehrenrechte in Höhe der Haftstrafe aberkannt, vgl. das Urteil der 4. Großen Strafkammer in der Sache Plönzke und andere (Köpenicker Blutwoche), Stadtarchiv Köpenick, VI 400, Köp., S. 1-15. 1992 und 1996 versuchten Angehörige der Verurteilten eine Kassation des Urteils zu erwirken. In beiden Fällen lehnte das Landgericht Berlin die Anträge ab, da man nach Untersuchungen der Prozessakten zu dem Schluss kam, dass das Urteil nicht politisch begründet gewesen und

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Laut einiger Zeug/innenaussagen in der Strafsache gegen Plönzke und andere (Köpenicker Blutwoche), die in den Jahren nach 1945 gemacht wurden, verhaftete die SA jüdische Personen, von denen die meisten namentlich nicht genannt werden. So erwähnt Leonhard Esser, der am 1. April 1933 von Sturmführer Herbert Scharsich verhaftet wurde, dass in dem Wagen, der ihn zum Sturmlokal Demuth brachte, bereits zwei jüdische Kollegen saßen. Nachdem Esser bewusstlos geprügelt worden war, musste er, als er wieder zu Bewusstsein kam, zwei Stunden später beobachten, wie weitere vier »neue Juden angeschleppt« wurden, die bereits Folterspuren aufwiesen.13 Über die Frage, warum die Staatsanwaltschaft keine Versuche unternahm, die Namen der Betreffenden zu ermitteln, können nur Vermutungen angestellt werden. Laut Aussage des vor kurzem verstorbenen Carlos Foth, der zum Zeitpunkt des Prozesses von 1950 junger Assistenzstaatsanwalt war, wurden nur jene Personen befragt oder gebeten, eine Aussage zu machen, die sich auf diverse öffentliche Anfragen gemeldet hatten. Vermutlich war allen Beteiligten klar, dass es aufgrund der erzwungenen Emigration und des Holocaust keine jüdischen Zeug/innen in Köpenick mehr gab. Die Ereignisse der »Köpenicker Blutwoche« sind tief im kollektiven Gedächtnis der Bürger/innen in Köpenick verankert. Der Terror vollzog sich indes nicht, wie der Begriff »Blutwoche« nahe legt, an sieben, sondern an fünf Tagen. Ausgangspunkt war ein Befehl Görings, den Deutschnationalen Kampfring14 aufzulösen und zu liquidieren. Dieser Organisation wurden die Aufnahme kommunistischer Elemente und die Vorbereitung eines Putschversuches vorgeworfen.15 Darauf-

es nicht unter Rechtsfehlern zustande gekommen sei. Vgl. André König, Die juristische Aufarbeitung der »Köpenicker Blutwoche« in den Jahren 1947-1951 und der Verbleib der NS-Täter im DDR-Strafvollzug, unveröffentlichtes Manuskript des Heimatmuseums Köpenick, Berlin 2004. 2007 erschien in der Zeitschrift des SED-Forschungsverbunds ein Artikel, in dem der Verfasser den Klägern und Zeugen vorwirft, Greuel erfunden und die Anklage konstruiert zu haben. Vgl. Günter G. Flick, Die Köpenicker Blutwoche. Fakten, Legenden und politische Justiz, in: Zeitschrift des SED-Forschungsverbundes 21 (2007), Halle/S. 2007, S. 3-17. 13 Vgl. Landesarchiv Berlin (LAB): C Rep. 300. Nr. 11, Zeugenaussage Leonhard Esser, o.P. [in der schriftlichen Zeugenaussage S. 2]. 14 Der Deutschnationale Kampfring war eine Unterorganisation der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), die sich zur monarchistischen Staatsform bekannte und sich als nationalistische antiparlamentarische Gesinnungspartei in der Weimarer Republik verstand. Zur Rolle der DNVP 1933 vgl. Albrecht Tyrell, Auf dem Weg zur Diktatur: Deutschland 1930 bis 1934, in: Karl Dieter Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 15-31. 15 Vgl. Wörmann, Widerstand, S. 16.

Amtsgerichtsgefängnis Köpenick

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hin wurden die SA-Stürme Köpenicks am Dienstag, den 21. Juni 1933, in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt und begannen mit der Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen »zum Zwecke der Vernehmung«.16 Dies muss auch im Kontext des Verbots der SPD am 22. Juni 1933 gesehen werden, denn am 21. Juni wurden in ganz Deutschland Funktionär/innen der SPD verhaftet. So auch im »roten« Bezirk Köpenick, in dem viele prominente Sozialdemokrat/innen, Reichstagsabgeordnete, Gewerkschaftsführer und Reichsbannerfunktionäre wohnten.17 Der SA-Sturm 1/15 unter der Leitung Friedrich Plönzkes organisierte einen noch nie da gewesenen Terrorfeldzug gegen Mitglieder der SPD, KPD, des Kampfringes Junger Deutschnationaler, Angehörige der Arbeiter-Jugend-Organisationen, der Gewerkschaften, Parteilose und Bürger/innen jüdischen Glaubens. Zu Hilfe kam aus Charlottenburg der SA-Sturm 33, auch als Maikowski-Sturm bekannt.18 Im Verlauf des Tages führte die SA in der ›roten‹ Elsensiedlung mit Beteiligung der Gestapo die ersten Razzien durch, wobei es zu Verhaftungen kam. Als die SA abends zum zweiten Mal gewaltsam in das Haus des Gewerkschaftssekretärs Johann Schmaus eindrang, erschoss dessen Sohn Anton aus Notwehr zwei SA-Leute, ein dritter erlag später seinen Verletzungen im Krankenhaus Köpenick.19 Dieses Ereignis ist in den letzten Jahren als Wendepunkt in der »Köpenicker Blutwoche« bewertet worden. Der Tod der SA-Leute habe, so die These, zu einer Explosion der Gewalt in Köpenick geführt.20 Die »Köpenicker Blutwoche« ist im kollektiven Gedächtnis sehr eng verknüpft mit dem Schicksal der Familie Schmaus. Fakt ist jedoch, dass bereits vor den in Notwehr abgegebenen tödlichen Schüssen Anton Schmaus’ Dutzende von Personen verhaftet und auch gefoltert worden waren. Über die Frage, ob die SA weniger brutal in ihren Foltermethoden gewesen wäre, wenn nicht zwei ihrer Kameraden erschossen worden wären, kann nur spekuliert werden. Namen und Adressen der zu Verhaftenden waren bereits vor dem 20. Juni 1933 bekannt, entsprechende Listen lagen vor.

16 17 18 19

Vgl. Stadtarchiv Köpenick, VI 400, Köp., S. 91 f. Vgl. König, Köpenick, S. 140. Vgl. Wörmann, Widerstand, S. 17. Vgl. ebd., S. 18; vgl. auch die Aussage der Verlobten von Anton Schmaus Gertrud Kastaun (geb. Trappa) vom 11.4.1949 in: C Rep. 300, Nr. 11, o.P. 20 Vgl. Wörmann, Widerstand, S. 20.

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In den folgenden Tagen misshandelte die SA hunderte Regimegegner/innen und Andersdenkende. Einige verloren dabei ihr Leben. Entweder wurden sie gezielt ermordet oder sie erlagen später ihren Verletzungen. Die SA machte dabei auch keinen Halt vor Frauen und Jugendlichen. Das jüngste männliche Opfer war Kurt Hagener. Er war Leiter des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschland (KJVD) in Friedrichshagen. Dies war Grund genug für die SA, den 15-Jährigen dermaßen zu foltern, dass er drei Jahre lang im Krankenhaus lag und dauerhafte Hirnschäden davontrug.21 Andere Kinder und Jugendliche mussten zu Hause mit ansehen, wie ihre Eltern geschlagen, weggeschleppt und durch die Straßen Köpenicks getrieben wurden.22 Isot war bei der Festnahme ihres Vaters Götz Kilian neun Jahre alt. Sie erkannte ihren Vater auf einem LKW wieder, auf dem sich verhaftete Köpenicker befanden. Nachdem sie nicht mehr zu beruhigen war, ging ihre Mutter Liddy Kilian mit dem Mädchen zum Sturmlokal Seidler, um Erkundigungen über den Vater einzuholen.23 Nur aufgrund Isots Gebrüll wurde ihre Mutter nicht an Ort und Stelle gleich mitverhaftet. Isot sah, wie viele andere Kinder vermutlich auch, wie ihr Vater durch die Straßen Köpenicks zum Amtsgerichtsgefängnis Köpenick geführt wurde. Als ihr Vater einige Tage später nach Hause kam, erfuhr Isot, dass Freunde ihrer Eltern zu Tode gefoltert worden waren.24 Ihr Vater starb 1940 an den Folgen der Misshandlungen.25 In Köpenick gab es mehrere Standorte, die während der »Köpenicker Blutwoche« als SA-Lokale oder als Hauptquartier genutzt wurden. Dazu gehörten das SA-Lokal Seidler, das SA-Lokal Demuth, das SA-Lokal Jägerheim, genannt »Tante Anna«, sowie das ehemalige Reichsbanner-Wassersportheim und SA-Heim Müggelseedamm.26 Das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick hatte dabei die Funktion einer Zentrale der Verhaftungsaktionen.

21 Vgl. Zeugenaussagen Hageners in LAB, C Rep. 300/52 und 300/7. 22 So wurde zum Beispiel Frieda Kaiser vor den Augen ihres siebenjährigen Sohnes in ihrer Wohnung von der SA misshandelt, vgl. Zeugenaussage derselben in LAB, C Rep. 300/7. 23 Vgl. Hanna Wichmann/Isot Wöltge, Liddy Kilian, in: Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin (Hg.), Frauenmosaik, Berlin 2009, S. 33-42, hier S. 38. 24 Vgl. ebd., S. 39. 25 Vgl. ebd., S. 40. 26 Vgl. Wörmann, Widerstand, S. 17.

Amtsgerichtsgefängnis Köpenick

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Das Köpenicker Amtsgericht und das Gefängnisgebäude Die Geschichte des Köpenicker Amtsgerichts und des angeschlossenen Gefängnisgebäudes geht zurück auf das Jahr 1899, als im Auftrag der Königlich-Preußischen Justizverwaltung die Bauarbeiten für ein Amtsgerichtsgefängnis begannen. 1901 wurde das Gebäude seiner Bestimmung übergeben.27 Der Komplex bestand aus dem Gerichtsgebäude, dem Gefängnisbau und dem Wohnhaus für den Gefängnisaufseher. Das Gefängnisgebäude war zweigeschossig und unterkellert. Ein Flügel war für neun weibliche Häftlinge bestimmt, ein weiterer viergeschossiger Flügel für 43 männliche.28 Im ersten Stockwerk des zweigeschossigen Mittelbaus befand sich der als Gefängniskapelle benutzte sogenannte Betsaal. Der ursprünglich als Kirchenraum mit einem Altar und Sitzreihen für die Gefangenen ausgestattete Saal bot den Inhaftierten die Möglichkeit, den Anstaltsgottesdiensten beizuwohnen. Bereits im Mai 1933 hatte sich die SA-Standarte 15 in einigen Räumen des Gerichts ihr Stabsquartier eingerichtet. Im Juni beschlagnahmte die SA zusätzlich noch den Zellentrakt und den Betsaal und nutzte diese Räumlichkeiten als zentrale Haft- und Folterstätte in Köpenick.29 Das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick und auch das SA-Lokal »Demuth« gelten nach neueren wissenschaftlichen Forschungen als frühe Konzentrationslager.30 Das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick lag mitten im Bezirk, einige Meter zur heutigen S-Bahnstation und der belebten Bahnhofstraße, nicht weit entfernt von der Köpenicker Altstadt. Die Elsengrundsiedlung, aus der viele Opfer verschleppt wurden, liegt direkt hinter dem S-Bahnhof. Der 22-jährige Sturmbannführer Herbert Gehrke richtete sich sein Stabsquartier in den Räumen des Amtsgerichtsgefängnisses ein. Er wurde nach der Aktion am 1. Juli 1933 zum SA-Obersturmbannführer und einen Monat später zum SA-Standartenführer ernannt.31 Während der Geschehnisse im Juni 1933 trieb die SA ihre Opfer in das Amtsgerichtsgefängnis, um sie dort systematisch zu foltern. Im Keller des Gebäudes wurde während einer Sitzung von Sturmbannfüh27 Vgl. Ausstellungskatalog, Gedenkstätte Köpenicker Blutwoche. Juni 1933, Berlin 1997, S. 7. 28 Vgl. ebd., S. 8. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Mayer-von Götz, Terror im Zentrum der Macht. 31 Vgl. ebd., S. 81.

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rer Gehrke und dem Gauleiter des NSDAP Gau Berlin Artur Görlitzer beschlossen, elf der verhafteten und gefolterten Personen zu ermorden und ihre Leichen in der Dahme zu versenken.32 Die Leichen der in der Folge ermordeten Männer nähte man im Amtsgerichtsgefängnis in Säcke; mit Lastwagen, die von Firmen ausgeliehen waren, brachte die SA sie zum SA-Lokal Wendenschloss und versenkte sie hinter dem Lokal im Fluss. Bei der Einlieferung in das Amtsgerichtsgefängnis wurden die Festgenommenen mit Fußtritten und unter Schlägen in die nackten Zellen gestoßen. In kurzen Abständen, alle fünf bis zehn Minuten, holte die SA sie aus den Zellen heraus und schlug sie auf den Gängen, insbesondere aber im Betsaal, mit Stöcken fast bewusstlos.33 Die Zellen der zu ermordenden Opfer wurden mit deren Namen und einem Galgen mit Schlinge gekennzeichnet. Verhaftete jüdische Bürger mussten sich entblößen, damit die SA untersuchen konnte, ob sie ›arisch‹ oder ›nichtarisch‹ waren. Bei dieser Prozedur wurde ihnen auf die Geschlechtsteile geschlagen.34 Im Betsaal mussten die Verhafteten militärische Übungen absolvieren, herummarschieren und das Deutschlandlied singen. Dabei misshandelte die SA sie mit Ruten und Stöcken. Die Folterungen waren derart, dass im Betsaal Fleisch- und Gehirnteile lagen und sich große Blutlachen bildeten, die aus der Tür des Saales herausliefen. In den Zellen lagen laut Zeug/innenaussagen halbtote Menschen, teilweise wohl auch Tote. Die Schmerzensschreie waren im gesamten Gefängnis zu hören,35 aber auch die Bewohner/innen der Häuser rings um das Gefängnis sowie Passant/innen schilderten, dass sie sich bis zum Zeitpunkt ihrer in den Jahren 1948 bis 1950 gemachten Aussagen an Schreie der Misshandelten erinnerten. Die SA hielt Katharina Schmaus, die Ehefrau des von der SA ermordeten Johann Schmaus, drei Tage im Amtsgerichtsgefängnis gefangen. Sie wurde in eine Einzelzelle gebracht, aus der die SA sie immer wieder herauszerrte, um sie zu misshandeln oder ihr verschiedene Möglichkeiten anzubieten, sich das Leben zu nehmen. Danach musste sie im Gefängnis das Blut und die Hautfetzen wegwischen. Nach ihrer Entlassung lag sie zwei Monate im Krankenhaus. Von der physischen

32 33 34 35

Vgl. Stadtarchiv Köpenick, VI 400, Köp., S. 50. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 95.

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und psychischen Folter hat sie sich nie wieder erholt.36 Katharina Schmaus ist später untergetaucht und an den Folgen des Erlebten seelisch zerbrochen.37 Auch andere Verschleppte mussten die Zellen und Gänge säubern. Paul Kuschke berichtet in seiner Zeugenaussage aus dem Jahr 1949, dass in den Zellen Knüppel, abgeschossene Patronenhülsen, Eisenstangen und Stricke lagen. Auch er hatte die Aufforderung erhalten, sich mit einem Strick zu erhängen.38 Wie viele Menschen insgesamt im Rahmen der »Köpenicker Blutwoche« in das Amtsgerichtsgefängnis verschleppt wurden, ist heute nicht mehr festzustellen. Schätzungen gehen von 200 bis 250 Personen aus. Nach wiederholten Beschwerden über das öffentliche Verhalten der SA wurde Sturmbannführer Herbert Gehrke im Juli 1933 angewiesen, »weitere Aktionen zu unterlassen und dem Terror der SA in Köpenick ein Ende zu bereiten«.39 Die Zeit, in der das Amtsgerichtsgefängnis als frühes Konzentrationslager genutzt wurde, war abgeschlossen. Doch bereits im Herbst 1933 benutzte die SA die Räumlichkeiten wieder, wenn auch nicht in dem gleichen Ausmaß wie im Juni 1933.40 Gehrke soll dort ab Sommer 1933 SA-Männer inhaftiert haben, die sich einem Disziplinarverfahren unterziehen sollten.41 Später benutzte der Sicherheitsdienst (SD) Räumlichkeiten im Amtsgerichtsgefängnis.42

Die Nutzung nach 1945 Nach 1945 wurde das Gefängnis als Jugendhaftanstalt und von 1954 bis 1959 als Militärgefängnis genutzt. Über die Nutzung zwischen 1959 und 1980 konnten bislang keine Angaben gefunden werden. 1980 wurde in den Kellerzellen eine erste kleine Gedenkstätte für die Opfer der »Köpenicker Blutwoche« eingerichtet. Sie wurde anschließend auf Initiative des Kreiskomitees Berlin-Köpenick der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR zur »Traditionsstätte des antifaschisti-

36 37 38 39 40 41

Vgl. LAB, C Rep. 300/11, Aussage Margareta Dehling vom 23.6.1949, S. 3. Vgl. ebd. Vgl. LAB, C Rep. 300/11, Aussage Paul Kutschke vom 13.5.1949, S. 5. Vgl. Mayer-von Götz, Terror, S. 82. Vgl. Stadtarchiv Köpenick, IV 400, Köp, S. 52. Vgl. Yves Müller, Gewalt und Männlichkeit in der SA am Beispiel der Köpenicker Blutwoche – Versuch eines transdisziplinären Zugangs, Berlin 2010, unveröffentlichtes Manuskript, S. 28 und S. 71. 42 Vgl. ebd., S. 71.

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schen Widerstandes in Berlin-Köpenick 1933-1945« umbenannt. Das Traditionskabinett wurde am 7. September 1987 eröffnet und galt bis zur Wiedervereinigung als die »Bildungs- und Forschungsstätte des Stadtbezirks«.43 Bei der Eröffnung dankte Günter Schabowski, Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED und Mitglied des Politbüros sowie Sekretär des ZK, allen Mitwirkenden, legte einen Kranz nieder und trug sich in das – heute nicht mehr auffindbare – Gästebuch ein.44 Diese neue Ausstellung bezog die Zellen in die Konzeption mit ein. In einer Zelle wurde das Schicksal der Juden und Jüdinnen Köpenicks gezeigt, in der anderen der Kampf Köpenicker Antifaschisten in Spanien.45 Ebenso sollte der Ort zu einer Stätte der Forschung und Begegnung avancieren, durch Foren, Diskussionen und Führungen.46 Hier sollte die Jugend mit der »antifaschistischen Tradition« und dem »sozialistischen Geschichtsbewusstsein« der DDR vertraut gemacht werden. Gleichzeitig wurde ein Teil des Gebäudes vom Fernsehen der DDR als Fundus benutzt.47 Zum Gedenktag 60 Jahre nach der »Köpenicker Blutwoche« wurde im Juni 1993 eine überarbeitete Ausstellung eröffnet. Nach der politischen Wende von 1989 waren sich Historiker/innen und Angestellte des Bezirksamtes darüber einig, dass in der DDR der Anteil der 1933 ermordeten Kommunisten in den Vordergrund gestellt worden war. Dies sollte mit der 1993 eröffneten Ausstellung geändert werden.48 Doch auch sie konfrontierte die Besucher/innen noch mit der DDR-Geschichtssicht. Die verfolgten Kommunist/innen wurden über die anderen Opfergruppen gestellt. Ihre Privilegierung zeigte sich sowohl auf der inhaltlichen (Themenfelder, Kontextualisierung der Geschehnisse) als auch auf der gestalterischen Ebene (Präsentation der Exponate). Die Ausstellung ging nicht chronologisch vor, sondern thematisch. »Lokal-geschichtlich faktenarme Darstellungsweise, vermischt mit antifaschistischem DDR-Pathos« sowie »schludriger Umgang mit Exponaten« wurden ihr vorgeworfen.49 Während dieser Zeit wurde die

43 44 45 46 47 48 49

Vgl. Ausstellungskatalog: Gedenkstätte, S. 9. Vgl. Neues Deutschland vom 8.9.1987. Vgl. ebd. und Neue Zeit vom 9.9.1987. Vgl. Neues Deutschland vom 8.9.1987. Vgl. Neues Deutschland vom 8.9.1993. Vgl. ebd. Vgl. Archiv des Heimatmuseums Köpenick, Pressearchiv, Artikel aus »Neue Zeit« vom Juni 1993 [ohne genaues Datum].

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Gedenkstätte auch für andere temporäre Ausstellungen und für Veranstaltungen genutzt. Zwei Jahre später, im Juni 1995, präsentierte der Bezirk eine neue Ausstellung, die bis 2008 zu sehen war. Die ihr zugrunde liegende Konzeption ist das Ergebnis eines wissenschaftlichen Beirates, der aus einigen Historikern, dem Leiter des Archivs in Köpenick, Angehörigen des Bundes der Antifaschisten (BdA) und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW), einem Zeitzeugen, dem kommissarischen Leiter der Gedenkstätte sowie dem Kulturstadtrat (PDS) bestand. Damit wurde der Versuch unternommen, mit der sozialistischen Tradition zu brechen und die kommunistischen Opfer der »Köpenicker Blutwoche« nicht mehr für staatspolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Bei der Konzeption dieser Ausstellung rekonstruierte man Boden und Decke des Betsaals. Der Beirat wagte den Versuch, ihn ohne Exponate für sich stehen zu lassen. Der Ort des Geschehens fungierte als Exponat.50 Tonbandaufnahmen von Aussagen, die während des Prozesses 1950 gemacht worden waren, benutzte man bei Führungen als pädagogisches Material.51 Ebenso neu war, dass man bei dieser Präsentation auch die Täter thematisierte. Des Weiteren ordnete die Ausstellung das Ereignis »Köpenicker Blutwoche« zum ersten Mal in der Geschichte der Gedenkstätte in den historischen Zusammenhang ein. Anfang des Jahres 2001 wurde die Gedenkstätte wegen Personalmangels geschlossen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist sie für die Öffentlichkeit nur donnerstags geöffnet. Führungen gibt es nach Absprachen. Vor dem Hintergrund, dass sich seit 1999 die Hauptzentrale der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands in unmittelbarer Nähe zur Gedenkstätte befindet, wurde in der Presse die Schließung unter anderem als »Gedenken wird Luxus« oder »Gedenken nach Voranmeldung« rezipiert und heftig kritisiert.52

50 Vgl. Archiv des Heimatmuseums Köpenick, Ordner Gedenkstätte, Protokoll des Historikerbeirates vom 21.10.1994. 51 Vgl. Interview mit dem ehemaligen kommissarischen Leiter Frank Wegener-Büttner vom 17.3.2010. 52 Vgl. Neues Deutschland vom 14.2.2001, Junge Welt vom 10./11.2.2001.

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Zusammenfassung und Ausblick Die Darstellung der Ereignisse während der »Köpenicker Blutwoche« in der Gedenkstätte unterlag in den letzten beiden Jahrzehnten erinnerungspolitischen Veränderungen. Zu DDR-Zeiten fügte sich das Gedenken an den Juni 1933 in die offizielle Gedenkpolitik der SED ein. Die Erinnerung konzentrierte sich fast ausschließlich auf das antifaschistische Erbe der DDR und den kommunistischen Widerstand. Auch in Köpenick fanden andere Opfergruppen kaum Erwähnung. Nach 1989 wurde die Ausstellung insgesamt drei Mal modifiziert. In den 1990er Jahren überwog das traditionelle Geschichtsbild der DDR, das sich auch in der von 1995 bis 2008 laufenden Schau zeigte. Doch 2008 wurde die gesamte Konzeption nochmals überarbeitet und Teile der Ausstellung komplett neu geplant. Inhaltlich ging es vor allem darum, noch vorhandene DDR-geschichtspolitische Fragmente der beiden zuvor präsentierten Ausstellungen zu entfernen. Auch sollte der Betsaal nur noch als Gedenkort benutzt werden, in dem die Opfer der »Köpenicker Blutwoche« gezeigt werden. Er steht nicht mehr für die Ausrichtung von Veranstaltungen wie Weihnachtsfeiern oder Vorstandssitzungen des BdA zur Verfügung, sondern wird nur noch als Veranstaltungsort für die jährlich stattfindende Gedenkveranstaltung am 21. Juni benutzt. Der Bund der Antifaschisten wurde bei der Konzeption von 2008 nicht mehr einbezogen, was zu Spannungen zwischen der Fachbereichsleiterin des Heimatmuseums Treptow-Köpenick und Angehörigen des BdA führte. So wurde der Fachbereichsleiterin genau das zum Vorwurf gemacht, was der BdA all die Jahre vorher wiederholt tat: Sie hätte Exponate mit in die Ausstellung integriert, die nicht in Verbindung mit der »Blutwoche« stünden.53 Als sich auf beiden Seiten die Fronten verhärteten, wurde ich, da ich gerade im Rahmen eines anderen Projektes mit der Geschichte Köpenicks im Nationalsozialismus im Archiv vorstellig geworden war, in die wissenschaftliche Recherche miteingebunden. In erster Linie gab mir das Bezirksamt den Auftrag, die Zahl der Menschen, die im Juni 1933 Opfer der SA wurden, näher zu untersuchen und biografisches Material zu diesem Personenkreis zusammenzutragen. Die Ergebnisse der Recherche wurden dem BdA

53 Vgl. Blättchen für Treptow-Köpenick vom 2.10.2008.

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mehrmals präsentiert, wobei der BdA sämtliche Unterlagen, die zu ihm gehörten, zur Verfügung stellte. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt plant und organisiert der BdA alljährlich Veranstaltungen, um an die »Köpenicker Blutwoche« zu erinnern. Dabei finden Kundgebungen und Kranzniederlegungen am Denkmal statt, das als Erinnerungsort an die Befreiung Köpenicks am 23. April 1945 dient. Die offizielle Gedenkveranstaltung des Bezirksamts findet in der Regel nach der Veranstaltung des BdA im Betsaal in der Gedenkstätte statt. An den anderen Orten, die von der SA für ihre Terroraktionen benutzt wurden, befinden sich Gedenktafeln, die an das Geschehene erinnern. Da es zur »Köpenicker Blutwoche« bis heute kaum Literatur gibt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sind weitere intensive Recherchen geplant, die 2013 in schriftlicher Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.

Literatur Uwe Backes u.a., Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende, München 1986. Horst Bednarek, Köpenicker Blutwoche Juni 1933, Berlin 2006. Günter G. Flick, Die Köpenicker Blutwoche. Fakten, Legenden und politische Justiz, in: Zeitschrift des SED-Forschungsverbundes 21 (2007), S. 3-17. Gedenkstätte Köpenicker Blutwoche Juni 1933. Eine Dokumentation, Ausst.Kat., Berlin 1997. André König, Köpenick unter dem Hakenkreuz, Berlin 2004. André König, Die juristische Aufarbeitung der »Köpenicker Blutwoche« in den Jahren 1947-1951 und der Verbleib der NS-Täter im DDR-Strafvollzug, unveröffentlichtes Manuskript des Heimatmuseums Köpenick, Berlin 2004. Angelika Königseder, Die Entwicklung des KZ-Systems, in: Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 1, München 2008, S. 30-42. Irene Mayer-von Götz, Terror im Zentrum der Macht. Die frühen Konzentrationslager in Berlin 1933/34-1936, Berlin 2008. Hans Mommsen, Van der Lubbes Weg in den Reichstag – der Ablauf der Ereignisse, in: Uwe Backes/Karl-Heinz Janssen u.a., Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende, München 1986, S. 33-57. Yves Müller, Gewalt und Männlichkeit in der SA am Beispiel der Köpenicker Blutwoche – Versuch eines transdisziplinären Zugangs (unveröffentlichte Magisterarbeit), Berlin 2010. Karin Orth, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Peter ReifSpirek/Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit«, Berlin 1999, S. 28-61.

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Albrecht Tyrell, Auf dem Weg zur Diktatur: Deutschland 1930 bis 1934, in: Karl Dieter Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 15-31. Hanna Wichmann/Isot Wöltge, Liddy Kilian, in: Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin (Hg.), Frauenmosaik, Berlin 2009, S. 33-42. Heinrich-Wilhelm Wörmann, Widerstand in Köpenick und Treptow, Berlin 1995.

Kurfürstinnensitz, Königliche Strafanstalt, Konzentrationslager, Kreismuseum . . . Wandel von Funktion und Nutzung des Schlosses Lichtenburg S TEFAN H ÖRDLER

Jeden Sommer nutzen zahlreiche Tourist/innen den Fahrradwanderweg entlang der Elbe. Eine markante Zwischenstation bietet die Gierseilfähre bei Prettin im Länderdreieck Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Zwischen Wittenberg und Torgau gelegen, war die Stadt Prettin besonders stark von dem Elbe-Hochwasser 2002 betroffen. Von der »Jahrhundertflut« verschont blieb jedoch das Renaissanceschloss Lichtenburg, das Wahrzeichen der Kleinstadt mit knapp 2.000 Einwohner/innen. Schloss Lichtenburg, welches »nach seiner Gestaltung und Zeitstellung zu der Gruppe der großen augusteischen Residenz-Schloßanlagen«1 gehört, diente zwischen Juni 1933 und August 1937 als zeitweise größtes preußisches Konzentrationslager, anschließend bis Mai 1939 als erstes zentrales Frauenlager im Deutschen Reich und von Oktober 1941 bis April 1945 als Außenlager des KZ Sachsenhausen. Darüber hinaus wurde es im Zweiten Weltkrieg als Kaserne der SS-Totenkopfverbände, als SS-Versorgungslager und SS-Hauptzeugamt verwendet. Diese komplexen Nutzungsschichten möchte der vorliegende Beitrag dechiffrieren sowie in ihrer Funktion und Bedeutung – auch in Beziehung zum städtischen Feld – analysieren. Lichtenburg als regionaler Raum stellt einen Modellfall für Handlungs- und Herrschaftsmuster im NS-Regime dar wie auch im Wechsel der Systeme vor 1933 und nach 1945.

Schloss, Strafanstalt und Domänenverwaltung bis 1933 Bis zum Jahr 1582 ließ Kurfürst August von Sachsen auf Initiative seiner Gemahlin Anna von Dänemark ein Renaissanceschloss auf dem Ge-

1

Hans-Joachim Krause, Schloß Lichtenburg und die mitteldeutsche Renaissancearchitektur, in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 1 (1993), S. 129-157, hier S. 138.

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lände des 1312 errichteten Antoniterklosters »Lichtenbergk« erbauen. Das Schloss diente Anna und anderen Kurfürstinnen als Witwensitz. Zwischen 1611 und 1641 residierte hier Kurfürstin Hedwig von Sachsen. Während dieser Zeit erhielt das Schloss den Namen Lichtenburg. Die Kurfürstin veranlasste neben der Renovierung des Schlosses auch eine Neugestaltung der Schlosskirche. Ab 1685 bewohnte die verwitwete Kurfürstin Wilhelmine-Ernestine von der Pfalz den Renaissancebau. Auf deren Anordnung wurde der Schlossgarten nach französischem Vorbild umgestaltet. Nach ihrem Tode diente Lichtenburg im 18. Jahrhundert als adliges Fräuleinstift und königliches Kammergut.2 Ab 1811 erfolgte der Umbau zu einem Gefängnis. Lichtenburg sollte als Ausweichstation für das Zucht- und Arbeitshaus Torgau fungieren, welches anschließend zur Festung ausgebaut wurde.3 Am 22. April 1812 mit ersten Häftlingen belegt, entwickelte sich die Königliche Strafanstalt Lichtenburg in der Folgezeit sukzessive zu einer wichtigen Haftstätte für Männer und Frauen in Preußen.4 Mit einer Belegschaft von 620 Häftlingen am 4. August 1829 an die Grenzen des Fassungsvermögens angelangt, erfolgte kurz darauf der Ausbau der Strafanstalt.5 Gleichzeitig stieg die Todesrate aufgrund von Krankheiten stark an, 1835 und 1836 starben jeweils 114 bzw. 105 Gefangene, hauptsächlich an Tuberkulose.6 In den 1850er Jahren erreichte die Belegungsstärke mit mehr als 1.100 Gefangenen ihren Höchststand, die Sterblichkeitsrate betrug 1853 circa 2,1 % und lag damit weit unter dem damaligen Durchschnitt von 4,5 % in den übrigen Strafanstalten.7 Am 1. Januar 1860 waren noch 722 Männer und 238 Frauen registriert.8 Im selben Jahr verlegte man alle weiblichen Insassen in eine Strafanstalt 2 3

4 5 6

7

8

Vgl. Harald Kleinschmidt/Andreas Stahl, Kurfürst August und der Kurkreis. Festschrift zum 444. Jahrestag der Kurwürde von Herzog August von Sachsen, Prettin 1997. Vgl. Dekret des sächsischen Königs Friedrich August I. vom 2.2.1811, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStA), Geheimes Finanzkollegium, Spezialreskripte, 1811, Nr. 86. Vgl. Daniel Krüger, Anmerkungen zur Strafanstalt Lichtenburg, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 44-58. Vgl. Beschreibung der Strafanstalt Lichtenburg anno 1886, Landeshauptarchiv SachsenAnhalt (LHASA), Magdeburg (MD), Rep. C 20 I, Ib, Nr. 2096 a, Bl. 2 f. Vgl. Verzeichnis der Gebohrenen, Getauften und Confirmierten und Verstorbenen unter den Strafgefangenen der Strafanstalt zu Lichtenburg, 1829-1853, Pfarrarchiv Prettin (PfArchP). Vgl. Hermann Wald, Die Scorbut-Epidemie in der Strafanstalt Wartenburg, in: Vierteljahresschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 11 (1857), S. 45-73, hier S. 46 f. Vgl. Rapport der Königlichen Straf-Anstalt zu Lichtenburg pro Monat December 1859, No. 1 – 1860, LHASA, MD, Rep. C 20 I, Ib, Nr. 2096, Bd. 2.

Schloss Lichtenburg

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Abb. 1: Private Fotoaufnahme der Strafanstalt Lichtenburg vom Turm der evangelischen Stadtkirche »St. Marien« im Zentrum von Prettin, 1912. Im Vordergrund sind der städtische Friedhof, die 1892 errichteten kleinen Beamtenhäuser (nach 1933 teilweise SS-Siedlung) und links das 1881/82 erbaute Direktorialgebäude (ab 1929 Amtsgericht) zu sehen. Quelle: Privatbesitz.

für Frauen nach Delitzsch, die Gefangenenzahl in Lichtenburg sank rapide. Mitte der 1920er Jahre wurde die Sollstärke der Strafanstalt auf 600 Gefangene herabgesetzt, die tatsächliche Belegung ging bis 1927 auf etwa 500 zurück.9 Von Interesse ist an dieser Stelle, dass die Sollgrenzen der Zahl von Inhaftierten während der Nutzungszeit als KZ möglicherweise auf diese Werte rekurrierten.10 Im Mai 1928 verfügte das Preußische Justizministerium die endgültige Räumung der Strafanstalt Lichtenburg.11 Mit der Schließung verließen auch fast alle dort Beschäftigten Prettin.12 Die Interimszeit

9

Vgl. Schreiben des Preußischen Justizministers an den Preußischen Finanzminister vom August 1927, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (GStAPK), I. HA, Rep. 84a, Nr. 50504, Bl. 139a. 10 So teilte im April 1937 der Kommandant des KZ Lichtenburg mit, dass »das K.L. Lichtenburg mit einem Bestand von 1111 Mann überbelegt ist«. Fernschreiben von Hans Helwig vom 18.4.1937, International Tracing Service (ITS), HIST/SACH, Lichtenburg, Ordner 2, Bl. 54. 11 Vgl. Schreiben des Prettiner Bürgermeisters Georg Reichmann vom 10.5.1928, LHASA, Merseburg (MER), Rep. C 48 IIIa, Nr. 11894, Bl. 3. 12 1828 arbeiteten ca. 30 Personen, darunter zwölf Aufseher (»Zuchtmeister«), in der Strafanstalt Lichtenburg. Vgl. Entwurf über die Vertheilung der Arbeiten sämmtlicher Beamter der Straf-Anstalt zu Lichtenburg von 1828, LHASA, MD, Rep. C 20 I, Ia, Nr. 763, Bl. 68-79. 1881 waren es 34 Aufseher. Chronik der Gemeinde Prettin a. d. Elbe, Stadtarchiv Prettin (StArchP), RI 800-1935, Bd. 3, S. 18. Zur äußeren Bewachung hielt sich seit der Einrichtung der Strafanstalt eine Garnison in Prettin auf. 1895 zählten

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zwischen Strafanstalt und Konzentrationslager stand vor allem im Licht regionaler Nutzungsformen durch ansässige Kleinbetriebe und Privatpersonen. Innerhalb von fünf Jahren siedelten zahlreiche Familien in die leerstehende Domäne über; das Schloss mit seinen rund 100 Räumen, großen Kellern und Werkstätten wie der Anstaltsziegelei bot dem örtlichen Handwerk günstige Produktions- und Lagermöglichkeiten. Umso heftiger traten die Pächter/innen den Planungen des Regierungspräsidiums in Merseburg entgegen, das Schloss seiner neuen Bestimmung als »Sammellager« zur »Unterbringung der aus politischen Gründen in polizeilicher Haft befindlichen Personen« zuzuführen.13 Durch die kurzfristigen Kündigungen sahen sie ihre Selbstversorgung und wirtschaftliche Existenz gefährdet, der Zuzug von Polizei und SS-Wachmannschaften verschärfte die Situation und den Wohnungsmangel im Ort zusätzlich.14 Ihren Unmut drückten sie in einer Reihe von Beschwerdebriefen und Bittschriften an die Grundstücks- und Domänenverwaltung aus. Der Prettiner Maschinenbauer Pietzsch bat beispielsweise »höfl[ich], mir diesen Schuppen und ein Stück des Hofes zu überlassen, um das [sic] ich mein [sic] Geschäft und Beruf als Maschinenbauer in vollem Umfang weiter nachgehen kann.«15 Die Champignonzüchterei Baddack und Maltitz, welche Kellerräume und eine Küche im Schloss Lichtenburg nutzte, akzeptierte nur mit Widerwillen den Rausschmiss: »Uns wurde heute vom Herrn Direktor des Sammellagers Lichtenburg mitgeteilt, dass wir nicht mehr in der Anstalt bleiben können und am 1. Oktober 1933 die Kündigung für alle von uns gemieteten Räume erhalten.« Trotzdem dies »im Widerspruch mit der uns bei Einrichtung des Lagers gemachten Zusage« stand, nahm die Firma »wohl oder übel die noch zu erwartende Kündigung« an.16

13 14

15 16

ein Offizier, fünf Unteroffiziere und 32 Mannschaftsdienstgrade zur Wachtruppe. Vgl. Schreiben des Preußischen Innenministers an den Staats- und Finanzminister vom 24.8.1895, GStAPK, I. HA, Rep. 151, Nr. 898 o.P. Schreiben des Regierungspräsidenten anlässlich der Eröffnung des KZ Lichtenburg vom 13.6.1933, LHASA, MER, Rep. C 48 Ie, Nr. 1189a, Bl. 36. Zum Verhältnis von Stadt und KZ vgl. Anja Decker, Die Stadt Prettin und das Konzentrationslager Lichtenburg. Zwischen Bedrohung, Profit und Alltag, in: Hördler/Jacobeit (Hg.), Lichtenburg, S. 205-228. Vgl. ferner die unveröffentlichte Magisterarbeit von Sandra Mette, »Das KZ inmitten der Stadt«. Die Stadt Prettin und das Konzentrationslager Lichtenburg, HU Berlin 2007. Schreiben des Prettiner Maschinenbauers Pietzsch an das Merseburger Regierungspräsidium vom 25.11.1933, LHASA, MER, Rep. C 48 IIIa, Nr. 11897, Bl. 145. Schreiben der Champignonzüchterei Baddack und Maltitz an die Grundstücksverwaltung Merseburg vom 5.8.1933, ebd., Bl. 105.

Schloss Lichtenburg

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Allerdings traf die Lagerleitung mitunter auch auf heftigen Widerstand. Ein Zusammenschluss von rund 30 Kleingärtner/innen wehrte sich noch im August 1933 offenbar erfolgreich gegen die Kündigung ihrer Verträge: »Jeder Pächter zieht aus seinem Gärtchen das erforderliche Gemüse, Kartoffeln, Obst und Beerenobst selbst. [. . . ] Die Gärten werden mit großer [H]ingabe von den einzelnen Pächtern bewirtschaftet und bieten daher dem Pächter eine nicht unwesentliche Erleichterung bei der Bestreitung der Ausgaben für den Unterhalt der Familie in der heutigen schweren wirtschaftlichen Notlage.«17

Lagerdirektor August Widder hielt dazu im Oktober 1933 fest, dass »die Kündigung der Kleingärten abgelehnt worden«18 sei. Die Domänenpächterin Käthe Hornung, deren Entenzucht in einen Teich außerhalb des Schlossgeländes verlegt worden war, forderte sogar als Gegenleistung die Bereitstellung von Häftlingen für Säuberungsarbeiten. Den festgesetzten Preis von 1,00 bis 1,50 Mark »pro Tag und Häftling« wies sie zurück: »Bei den vielen Arbeitskräften, die im Lager vorhanden sind, ist es doch bestimmt keine unmögliche Bitte, den Teich unentgeltlich zu räumen.«19 Unter der Bedingung, dass sie die Arbeitsgeräte selbst zur Verfügung stellte, genehmigte August Widder das Gesuch.20 Letztlich zog aber die Einrichtung des Konzentrationslagers Lichtenburg eine Umnutzung aller Räumlichkeiten des Schlosses und der angrenzenden Domäne nach sich. Spätestens mit der Übernahme des Komplexes durch den späteren Inspekteur der Konzentrationslager Theodor Eicke im Mai 1934 verließen die letzten zivilen Pächter/innen Lichtenburg. Noch im Oktober 1933 war dem Ehepaar Wolf, das nur unweit des Schlosses die Gastwirtschaft »Drei Linden« betrieb und im August 1933 eine Kantine im Lager eröffnet hatte,21 »die Weiterführung der Kantine für das Bewachungspersonal [. . . ] genehmigt worden«.22

17 Schreiben eines Zusammenschlusses Prettiner Kleingärtner/innen an die Grundstücksverwaltung Merseburg vom 18.8.1933, ebd., Bl. 68. 18 Schreiben von August Widder an die Domänenverwaltung Merseburg vom 4.10.1933, ebd., Bl. 169. 19 Schreiben von Käthe Hornung an die Regierung in Merseburg vom 16.9.1933, ebd., Bl. 113. 20 Vgl. Schreiben des Lagerdirektors Widder an Käthe Hornung vom 26.9.1933, ebd., Bl. 112. 21 Vgl. Gewerbeanmeldung des Kantinenbesitzers Willy Wolf vom 22.8.1933, StArchP, 1-E-27-I. 22 Schreiben von August Widder vom 14.10.1933, ebd.

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Anfang Juni 1934 und nur wenige Tage nach Dienstantritt Eickes meldete Willy Wolf seine Gewerbe ab.23

Wandel von Funktion und Bedeutung in der NS-Zeit: KZ und SS-Standort Am 12. Juni 1933 wurde Lichtenburg als preußisches »Sammellager« für die politische Opposition in Betrieb genommen.24 Unter den ersten Inhaftierten befanden sich zahlreiche Prominente aus Politik und Gesellschaft wie Friedrich Ebert (jun.), Wolfgang Langhoff, Wilhelm Leuschner, Hans Litten, Carlo Mierendorff, Theodor Neubauer, Ernst Reuter oder Walter Stoecker, zu den Frauen gehörten Olga BenarioPrestes, Lotti Huber, Lene Overlach und Lisa Ullrich.25 Bis Dezember 1933 stellten die politischen Gefangenen die größte Häftlingsgruppe im KZ Lichtenburg. Viele waren bereits kurz nach der »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« vom 28. Februar 1933 inhaftiert und aus überbelegten und teils aufgelösten regionalen Lagern nach Lichtenburg transportiert worden. Im Zuge der Stabilisierung des NS-Regimes wurden anlässlich der preußischen Weihnachtsamnestie 1933 rund 500 Häftlinge aus dem KZ Lichtenburg entlassen.26 Mit der Erweiterung des Gegner/innenbegriffs änderte sich auch die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft im Konzentrationslager Lichtenburg. Ein Spiegelbild zentraler Verordnungen bildete der preußische Erlass über »Die Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher« vom 13. November 1933. Am 25. Mai 1934 waren von insgesamt 439 Häftlingen im KZ Lichtenburg 257 als »Berufsverbrecher« registriert.27

23 Vgl. Schreiben von Willy Wolf vom 9.6.1934, ebd. Wolf, ein frühes Mitglied der NSDAP, der SA und seit 1933 der SS, war maßgeblich am Aufbau des lokalen SS-Sturmes 2/III/59. Standarte beteiligt gewesen. 24 Vgl. Nachricht im Elbe- und Elster-Boten (EEB) vom 13.6.1933; Schreiben des Regierungspräsidenten in Merseburg vom 13.6.1933, LHASA, MER, Rep. C 48 Ie, Nr. 1189a, Bl. 36. 25 Vgl. Stefanie Endlich, Die Lichtenburg 1933-1939. Haftort politischer Prominenz und Frauen-KZ, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 2002, S. 11-64. 26 Zur Weihnachtsamnestie für 5.000 Gefangene in Preußen vgl. Schreiben Görings vom 5.12.1933, LHASA, MD, Rep. C 30, Quedlinburg I, Nr. 160, Bl. 204; Lichtenburg: Merseburger Abendblatt vom 23.12.1933. 27 Vgl. Schreiben des Lagerdirektors Hans Faust vom 25.5.1934, LHASA, MER, Rep. C 48 Ie, Nr. 1189 b, Bl. 32+RS.

Schloss Lichtenburg

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Im Juni 1935 hingegen war fast die Hälfte aller Männer im KZ Lichtenburg aufgrund des Vorwurfs der Homosexualität inhaftiert. Die Voraussetzung für eine systematische Ausgrenzung dieser Personengruppe bildete die Verschärfung des §175 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB). Durch die Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 wurde der Straftatbestand dann auf jede als sexuell gewertete Handlung ausgeweitet. Mit der Etablierung der »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung« institutionalisierte Heinrich Himmler am 10. Oktober 1936 die Verfolgung von Homosexuellen auf Reichsebene.28 Für einen neuerlichen Umschwung in der Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft sorgte eine reichsweit zentral geleitete Sonderaktion gegen »Berufsverbrecher« vom 9. März 1937. Im Zuge der Verhaftungswellen wurden 2.000 Personen in Schutzhaft genommen und in Konzentrationslager eingewiesen. Etwa 500 »BVer« kamen in das KZ Lichtenburg, wo sie fast 50 % der Gefangenen ausmachten. Ab Juli 1937 wurden sie in das neu errichtete KZ Buchenwald überführt.29 Die größte Häftlingsgruppe im Frauenlager stellten die »Ernsten Bibelforscherinnen«. Seit 1933 sukzessive aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen, erfolgte ab 1. April 1935 durch Reichsinnenminister Wilhelm Frick die Auflösung der »Wachturm- und Traktatgesellschaft«, das reichsweite Verbot der Internationalen Bibelforscher Vereinigung (IBV) sowie die Beschlagnahmung des Organisationsvermögens. Die Bibelforscherinnen galten aus Sicht der Lagerleitung als besonders renitent. Sie waren durch regelmäßige Vernehmungen, Schikanen und Folterungen stark von den »Umerziehungsmaßnahmen« im FrauenKZ Lichtenburg betroffen.30 a) Ort der »Bewährung« von 1933 bis 1939 Bislang erkannte die Geschichtswissenschaft dem KZ Dachau eine Sonderrolle in der Entwicklung des KZ-Systems zu. Mit den Begriffen

28 Vgl. Schreiben des Gestapa-Chefs in Preußen Reinhard Heydrich mit einer Übersicht über die in der Zeit vom 11.5. bis 10.6.1935 über 7 Tage einsitzenden Schutzhäftlinge, abgedruckt in: Günther Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt/M. 1993, S. 88 f. 29 Vgl. Sven Langhammer, Die reichsweite Verhaftungsaktion vom 9. März 1937 – eine Maßnahme zur »Säuberung des Volkskörpers«, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte 16 (2007), S. 55-77. 30 Vgl. Hans Hesse/Jürgen Harder, ». . . und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müsste . . . «. Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück, Essen 2001, S. 86-123.

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»Dachauer Modell« und »Dachauer Schule«31 versuchten Zeithistoriker/innen, zentrale Punkte in der Organisation und Funktion des Lagergefüges auszuloten. Durch den personellen Transfer von Struktur und Kader habe das SS-Personal des KZ Dachau das Geschehen bis zuletzt dominiert.32 Obwohl dies in Phasen für den persönlichen Stab des IKL zutraf, entwickelte das KZ-System selbst weitaus mehr Eigendynamik. Daher greifen zentrale Erklärungsansätze zu kurz. Hervorgerufen durch die komplexe – wenngleich ab 1934 ihrer relativen Souveränität beraubte – föderale Gestalt Deutschlands und die geografischen Verwaltungseinheiten der SS fungierte Lichtenburg gleichermaßen als »Kaderschmiede« in Preußen wie Dachau in Bayern.33 Das Wachpersonal des KZ Lichtenburg bestand entgegen der bisherigen Forschungsmeinung genauso wie beim bayerischen Pendant Dachau von Beginn an aus SS-Männern.34 Für viele von ihnen war Lichtenburg Ort der Bewährung und Karrieresprungbrett zugleich. Stellvertretend hierfür sei Arthur Liebehenschel genannt, der von 1934/35 bis August 1937 als Adjutant im Männerlager fungierte.35 Ab Mai 1940 Stabsführer des neuen IKL Richard Glücks, ab März 1943 Chef des Zentralamtes (D I) in der Amtsgruppe D und Stellvertreter von Glücks, war das Verhältnis mit dessen Sekretärin Anlass für Liebehenschels Versetzung nach Polen. Von November 1943 bis Mai 1944

31 Zu diesen Begriffen vgl. Karin Orth, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000, S. 127-152. 32 Das Argument zielt auf die frühe SS-Leitung des KZ Dachau von 1933 bis 1945, die Doppelrolle Eickes als Dachauer Lagerkommandant und späterer IKL sowie das Modell der Dachauer »Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager« und »Dienstvorschriften für die Begleitposten und Gefangenenbewachung«. Es hebt Dachau als Ursprung und Konstante des KZ-Systems heraus. Der Begriff »Dachauer Modell« stammt allerdings aus der Rezeption des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und stellt eine nachträgliche Interpretation dar. 33 Vgl. Stefan Hördler, SS-Kaderschmiede Lichtenburg. Zur Bedeutung des KZ Lichtenburg in der Vorkriegszeit, in: Hördler/Jacobeit (Hg.), Lichtenburg, S. 75-129. 34 »Nach Weisung des Herrn Ministers des Innern sind zur Bewachung des Sammellagers grundsätzlich nur SS.Leute der Hilfspolizei heranzuziehen.« Schreiben des Torgauer Landrates an zwei Prettiner Bewerber vom 22.6.1933, LHASA, MER, Rep. C 50 Torgau I, Nr. 570, Bl. 46. Die Bewachung übernahm der »SS-Sondersturm Lichtenburg der 26. SSStandarte Paul Berck« (SS-Abschnitt XVI) mit Sitz in Halle/Saale im Regierungsbezirk Merseburg. Vgl. dagegen Stefanie Endlich, Lichtenburg, in: Geoffrey P. Megargee/United States Holocaust Memorial Museum (Hg.), Encyclopedia of Camps and Ghettos 19331945, Washington, D.C. 2009, S. 120-123, hier S. 120. 35 Am 1.8.1937 stieg Liebehenschel zum Abteilungsleiter in Eickes Stab auf. Vgl. Bundesarchiv Berlin (BArchB, ehem. BDC), SSO, Liebehenschel, Arthur, 25.11.1901. Noch am 9.8.1937 unterzeichnete er seinen Austritt aus der evangelischen Kirche. Vgl. PfArchP, Kirchenaustritte in Prettin (1937-1944), Bl. 137.

Schloss Lichtenburg

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Abb. 2: Die Lagerleitung des KZ Lichtenburg passiert 1935 das Prettiner Rathaus: Kommandant Otto Reich (vorn), sein Adjutant Arthur Liebehenschel (rechts), Zugführer Markus Habben, Schutzhaftlagerführer Heinrich Remmert und Verwaltungsführer Franz Xaver Kraus (v.l.n.r.). Remmert hatte zuvor die SS-Wachtruppe des KZ Esterwegen geleitet, Habben agierte ab 1940 als Führer des SS-Totenkopfsturmbannes Gusen (Mauthausen), Reich ab 1938 als Führer der 4. SS-Totenkopfstandarte »Ostmark« (Mauthausen), Kraus leitete 1944/45 die Verbindungs- und Abwicklungsstelle des KZ Auschwitz. Quelle: Bundesarchiv Berlin.

war er als Kommandant von Auschwitz (I) und von Mai bis August 1944 von Lublin-Majdanek tätig. Zuletzt diente Liebehenschel beim Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) in Triest.36 Vier der insgesamt sechs zwischen 1934 und 1939 tätigen Schutzhaftlagerführer bzw. stellvertretenden Lagerdirektoren avancierten späterhin zu Lagerkommandanten. Karl Otto Koch versah im Frühjahr 1935 nur für wenige Wochen Dienst im KZ Lichtenburg. Bereits im April leitete er das KZ Columbia, 1936 die KZ Esterwegen und Sachsenhausen, 1937 das KZ Buchenwald und 1942 das Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS Lublin (ab Oktober 1942 KZ Lublin).37 Egon Zill – seit

36 Der HSSPF »Adriatisches Küstenland« (Triest), SS-Gruppenführer Odilo Globocnik, fungierte zuvor als SSPF im Distrikt Lublin und war maßgeblich für den Judenmord im Rahmen der »Aktion Reinhard(t)« verantwortlich. Liebehenschel geriet zum Kriegsende in Gefangenschaft, wurde nach Polen ausgeliefert, im Krakauer Auschwitz-Prozess 1947 zum Tode verurteilt und am 24.1.1948 hingerichtet. 37 Im September 1942 wurde Koch aus dem KZ-Dienst entfernt, im August 1943 verhaftet, im Dezember 1944 von einem SS-Gericht wegen Korruptions- und Tötungsdelikten im KZ Buchenwald zum Tode verurteilt und im April 1945 in Buchenwald hingerichtet. Vgl. BArchB (ehem. BDC), SSO, Koch, Karl Otto, 02.08.1897.

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1923 Mitglied der NSDAP, seit 1926 der SS (SS-Nr. 535) und seit 1934 der Wachtruppe Lichtenburg – übernahm im November 1936 den Posten des Schutzhaftlagerführers. 1937/38 diente Zill kurzzeitig in den KZ Dachau und Buchenwald, 1938/39 in den Frauen-KZ Lichtenburg und Ravensbrück sowie von 1939 bis 1941 erneut in Dachau. Im Januar 1942 erhielt Zill ein eigenes Kommando und führte das SS-Sonderlager Hinzert, ab April das KZ Natzweiler und von September 1942 bis Mai 1943 das KZ Flossenbürg.38 Alex Piorkowski, der von Juli bis Dezember 1937 kommissarisch die vakante Stellung des Kommandanten in Lichtenburg ausgefüllt hatte,39 war anschließend bis August 1938 als stellvertretender Lagerdirektor im Frauenlager tätig. Im September wechselte er nach Dachau und übernahm 1939 vorerst kommissarisch und von 1940 bis 1942 hauptamtlich den Kommandantenposten.40 Max Koegel, der nahezu uneingeschränktes Vertrauen von Eicke genoss, trat im September 1938 die Nachfolge von Piorkowski in Lichtenburg an.41 1939 übernahm Koegel, anfangs noch kommissarisch, die Geschäfte des Lagerdirektors in Ravensbrück. 1942 leitete er das KZ Lublin, von 1943 bis 1945 das KZ Flossenbürg.42 Von den fünf Lagerkommandanten des KZ Lichtenburg – die kommissarischen Kommandos von Theodor Eicke 1934 und von Alex Piorkowski 1937 ausgeschlossen – übten vier diese Funktion anschließend noch in einem anderen Konzentrationslager aus. Eickes Nachfolger und damit der erste Lagerkommandant der SS wurde im Juli 1934 Bernhard Schmidt. Von 1935 bis 1937 fungierte Schmidt in gleicher Stellung im KZ Sachsenburg, das mit dem KZ Lichtenburg im Sommer

38 Von 1943 bis 1945 kämpfte Zill in der Waffen-SS, wo er sich nicht bewährte, vgl. die Beurteilungen vom 6.6.1944 und vom 30.9.1944, BArchB (ehem. BDC), SSO, Zill, Egon, 28.03.1906. 1953 verhaftet, verurteilte ihn das LG München (II) 1955 zu lebenslanger Haft, die 1961 auf 15 Jahre reduzierte wurde. Bereits 1963 entlassen, verstarb Zill am 23.10.1974 in Dachau. 39 Vgl. Befehl Eickes vom 7.7.1937, Archiv der KZ-Gedenkstätte Lichtenburg (ArchLi), Inv.-Nr. 142G. Noch im April 1937 hatte Eicke dessen Verwendung im KZ Sachsenburg beabsichtigt, die aber nicht realisiert wurde. Vgl. Schreiben Eickes vom 8. und 21.4.1937, BArchB (ehem. BDC), SSO, Rödl, Arthur, 13.05.1898. 40 Ende August 1943 schied Piorkowski »wegen Dienstunfähigkeit« aus der SS aus. Nach 1945 wurde er wegen seiner Verbrechen in Dachau zum Tode verurteilt und am 22.10.1948 in Landsberg/Lech hingerichtet. 41 Zuvor hatte Koegel von 1933 bis 1935 im KZ Dachau, 1936 im KZ Columbia und 1937/38 erneut im KZ Dachau gedient. Vgl. BarchB (ehem. BDC), SSO, Koegel, Max, 16.10.1895. 42 In Flossenbürg löste er Egon Zill ab, der vermutlich wegen seiner Kritik am SS-WVHA versetzt wurde. Schreiben Zills vom 6.4.1943, BArchB, NS 4, Flossenbürg/390. Max Koegel erhängte sich am 27.6.1946 kurz nach seiner Verhaftung im Gerichtsgefängnis von Schwabach.

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1937 zum neu gegründeten Lagerkomplex Buchenwald verschmolz.43 Hermann Baranowski wurde im April 1936 Kommandant des KZ Lichtenburg, verblieb aber nur ein halbes Jahr im Amt,44 wechselte im November als Schutzhaftlagerführer nach Dachau, 1938 nach Oranienburg und übernahm im Mai die Leitung des KZ Sachsenhausen. Am 5. Februar 1940 verstarb Baranowski nach längerer Krankheit. Hans Helwig, ab November 1936 Kommandant des KZ Lichtenburg, verfügte im Gegensatz zu seinen Vorgängern bereits seit den 1920er Jahren über Kenntnisse im Gefangenenwesen und Schutzhaftlagern. Von Juli 1937 bis Mai 1938 führte Helwig das KZ Sachsenhausen.45 Erster und nominell einziger Lagerdirektor des Frauen-KZ Lichtenburg war Günther Tamaschke. Wegen der Liaison mit der Aufseherin Charlotte Lenz wurde Tamaschke zur Baustelle Ravensbrück abkommandiert46 und im September 1939 als Lagerdirektor des Frauen-KZ Ravensbrück entlassen.47 Darüber hinaus stiegen fünf SS-Führer der SS-Wachtruppe Lichtenburg in den 1940er Jahren zu Kommandanten auf. Johann Aumeier, der 1936/37 in Lichtenburg als Zugführer fungiert hatte, leitete von Oktober 1943 bis zur Auflösung des Lagers im August 1944 das KZ Vaivara mit Sitz in Saka (Estland).48 Desgleichen hatten als Zugfüh-

43 Danach diente er in den KZ Sachsenhausen und Dachau, im November 1938 ging er als Bezirksgruppenführer des Reichsluftschutzbundes nach Bremen. Vgl. BArchB (ehem. BDC), SSO, Schmidt, Bernhard, 18.04.1890. Schmidt verstarb am 6.9.1960 – von strafrechtlicher Verfolgung verschont – in Bayerisch-Eisenstein. 44 »In den letzten Monaten hat Baranowski fortgesetzt Beschwerden gegen den Führer des II/SS-TV, SS-Sturmbannführer Reitz bei mir vorgebracht, die ich als unbegründet verwerfen mußte. Er hat dadurch Unruhe in die Truppe getragen. Aus diesem Grunde ist die Versetzung [. . . ] nach Dachau erfolgt.« Schreiben Eickes vom 12.11.1936, BArchB (ehem. BDC), SSO, Baranowski, Hermann, 11.06.1884. 45 Von 1941 bis 1945 wurde Helwig als Stabsfrontführer bei der Organisation Todt und als Verbindungsoffizier Himmlers zum Oberkommando der Wehrmacht (OKW) Nord verwendet. Vgl. BArchB (ehem. BDC), SSO, Helwig, Hans, 25.09.1881. Er starb am 24.8.1952 – von strafrechtlicher Verfolgung verschont – in Hemsbach. 46 Vgl. Schreiben Eickes vom 3.4.1939, BArchB (ehem. BDC), SSO, Tamaschke, Günther, 26.02.1896. Tamaschke hatte 1934 in Dachau gedient und von 1935 bis 1937 die Politische Abteilung im Stab der IKL geleitet. 47 Bis Dezember 1939 arbeitete Tamaschke beim Bodenamt in Prag (RuSHA), ab 1940 als Wirtschaftstreuhänder im Reichsprotektorat Böhmen-Mähren und in der Allgemeinen SS. 1942 wurde er wegen Amtsmissbrauchs bei der »Arisierung« jüdischer Unternehmen aus der SS entlassen, 1944 rehabilitiert und ab Oktober im Stab des SSOberabschnitts Böhmen-Mähren verwendet. Vgl. ebd.; BArchB, NS 19/801. Tamaschke starb am 14.10.1959 in Uhingen. 48 Zuvor hatte er ab 1934 in Dachau und 1936 in Esterwegen gedient. 1937 folgten Buchenwald, 1938 Flossenbürg und 1942 Auschwitz. Zwischen November 1944 und Januar 1945 führte er den Außenlagerkomplex Kaufering (Dachau), bis Mai 1945 koordinierte

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rer Paul Werner Hoppe und Hans Hüttig gedient. Hoppe, der spätere Schwiegersohn von Hermann Baranowski, wechselte nach nur knapp acht Monaten Dienst in Lichtenburg Ende November 1936 wegen einer Schlägerei nach Dachau.49 1938 holte ihn Eicke in seinen Stab nach Oranienburg, 1939 in die 3. SS-Division »Totenkopf«. Nach seiner Verwundung als Frontoffizier wurde Hoppe im September 1942 zum Kommandanten des KZ Stutthof ernannt, 1945 leitete er bis Kriegsende das Neuengammer Außenlager Wöbbelin.50 Hüttig, seit Herbst 1934 Wachmann in Lichtenburg, setzte ab Juli 1937 seine Karriere als SS-Führer in Buchenwald, Flossenbürg und Sachsenhausen fort. Im April 1941 übernahm er die Leitung des KZ Natzweiler. Anfang 1942 wurde er zwar kurzzeitig durch Josef Kramer und Egon Zill ersetzt und mit der Errichtung von Konzentrationslagern in Norwegen beauftragt, kehrte aber im September 1942 nach Natzweiler zurück. 1943 war Hüttig erneut als Lagerkommandant für Natzweiler und 1944 für das niemals realisierte KZ Litzmannstadt vorgesehen. Im Februar 1944 erfolgte seine Ernennung zum Kommandanten von Vught-Herzogenbusch.51 Arthur Rödl, der 1934/35 als Chef der SSWachtruppe Lichtenburg »militärisch versagt hat[te]«, wurde 1941/42 Kommandant des KZ Groß-Rosen.52 Auch Adam Grünewald, von 1934 bis 1937 als Hundertschaftsführer in Lichtenburg tätig, machte wider aller Kritik Karriere und avancierte im Oktober 1943 vor Hans Hüttig zum Kommandanten des KZ Vught-Herzogenbusch.53

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er den Ausbau eines SS-Wirtschaftslagers in Mysen (Norwegen). Vgl. BArchB (ehem. BDC), SSO, Aumeier, Johann, 20.08.1906. Aumeier wurde nach Polen ausgeliefert, im Krakauer Auschwitz-Prozess zum Tode verurteilt und am 24.1.1948 hingerichtet. Hoppe hatte in der Nacht zum 3.11.1936 zwei Anwohner im »Schützenhaus« verprügelt. Vgl. Meldung des Polizeihauptwachtmeisters Johann Michael Zeilinger vom 4.11.1936 [Abschrift], LHASA, MER, C 50 Torgau I, Nr. 714, Bl. 1 f. Zeilinger indes sollte aufgrund seines energischen Verhaltens »in seinem eigensten Interesse letztmals in die Schranken« gewiesen werden. Vgl. Schreiben Eickes vom 27.1.1937, StArchP, 1-Ac-10. Hoppe wurde vor dem LG Bochum für seine Taten in Stutthof 1955 in erster und 1957 in zweiter Instanz zu neun Jahren Haft verurteilt. Er verstarb am 15.7.1974 in Bochum. Vgl. Orth, Konzentrationslager-SS, S. 292-295. Nach Räumung des Lagers im September 1944 kämpfte Hüttig in der Waffen-SS. Vgl. BArchB (ehem. BDC), SSO, Hüttig, Hans, 05.04.1894. Er wurde nach Kriegsende durch ein französisches Gericht zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet, nach 11 Jahren Haft entlassen und verstarb 1956. Vgl. Versetzungsantrag von Eicke vom 24.8.1935, BArchB (ehem. BDC), SSO, Rödl, Arthur, 13.05.1898. Von 1935 bis 1941 wurde er in den KZ Sachsenburg und Buchenwald verwendet, nach 1942 beim HSSPF Ukraine und Russland-Süd sowie in der Waffen-SS. Vgl. Versetzungsantrag von Eicke vom 13.7.1935, BArchB (ehem. BDC), SSO, Grünewald, Adam, 20.10.1902. Von 1939 bis 1942 diente Grünewald in der 3. SS-Division »Totenkopf« und 1942 im KZ Sachsenhausen. Bereits im Februar 1944 erfolgte seine

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Als Experimentierfeld für weibliche Schutzhaft probte die IKL von 1937 bis 1939 den Einsatz von Aufseherinnen im Dienst der SS. Diese wurden ab 1940 uniformiert und in das Gefolge der Waffen-SS aufgenommen. Bis Kriegsende eröffnete das WVHA in nahezu allen KZ-Komplexen Frauenabteilungen. Drei Frauen, die ihren Dienst im Frauen-KZ Lichtenburg angetreten hatten, avancierten späterhin zu Oberaufseherinnen. Johanna Langefeld, seit März 1938 Aufseherin im KZ Lichtenburg, löste bereits im März 1939 die Oberaufseherin Margarete Stollberg ab. Ab Mai 1939 in Ravensbrück und 1942 in Auschwitz weiterhin als Oberaufseherin tätig, wurde Langefeld wegen eines Kompetenzstreites mit dem Kommandanten Rudolf Höß im Oktober 1942 nach Ravensbrück zurückversetzt.54 Jane Gerda Bernigau begann ihren Dienst in Lichtenburg im Februar 1939. Nach ihrer Übernahme in das KZ Ravensbrück wurde sie mehrmals zur Probedienstleistung nach Mauthausen kommandiert, 1942/43 führte sie die kleine Frauenabteilung des Außenlagers St. Lambrecht in der Steiermark. 1944/45 fungierte Bernigau als Oberaufseherin für die Frauen-Außenlager des KZ-Komplexes Groß-Rosen.55 Eine beachtliche Karriere konnte die Österreicherin Maria Mandl vorweisen. Von Oktober 1938 bis Mai 1939 war sie als Aufseherin im KZ Lichtenburg, danach im KZ Ravensbrück tätig. Im April 1942 zur Oberaufseherin befördert, löste sie im Oktober Johanna Langefeld in Auschwitz ab. Mandl beteiligte sie sich an zahlreichen Misshandlungen von Häftlingen und Selektionen für die Gaskammer.56 Für ihre »Verdienste« wurde sie für das Kriegsverdienst-

Absetzung in Herzogenbusch und Verurteilung wegen »fahrlässiger Tötung von 10 Personen«. Vgl. Feldurteil des SS- und Polizeigerichts X in Den Haag vom 6.3.1944, ebd. Grünewald wurde zum SS-Mann degradiert und fiel 1945 in Ungarn. 54 »Die damalige Oberaufseherin, Frau Langefeld, war der Situation [in Auschwitz] in keiner Weise gewachsen.« Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, München 2000, S. 176-180. Dagegen die Eidesstattliche Erklärung Langefelds vom 26.-31.12.1945, National Archives and Record Administration (NARA), RG 549, US Army Europe, Cases not tried, Case 000-50-011 (Ravensbrück), Box 522, Folder No. 3, Bl. 3-6. Im Frühjahr 1943 verhaftet und vor dem SS- und Polizeigericht XV in Breslau angeklagt, kam Langefeld frei und arbeitete im Anschluss bei BMW in München. 1945 wurde sie von den Amerikanern verhaftet und 1946 an Polen ausgeliefert. Sie floh aus der Haft, tauchte unter und kehrte 1957 nach München zurück. Langefeld verstarb am 20.1.1974 in Augsburg. 55 Vgl. Vernehmung Bernigaus vom 2.12.1968, Bundesarchiv Ludwigsburg (BArchL), ZSL, IV 429 AR-Z 134/73, Bl. 67 ff. und Isabell Sprenger, Aufseherinnen in den Frauenaußenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen, in: WerkstattGeschichte 12 (1995), S. 21-32, hier S. 24. ´ Muzeum 56 Vgl. Selektionsliste für die Gaskammer vom 21.8.1943, Archiwum Panstwowego Auschwitz-Birkenau w O´swiecimiu ˛ (APMA-B), Mat. RO/87, Bd. 4, Bl. 262-266.

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kreuz II. Klasse ohne Schwerter vorgeschlagen.57 Ende November 1944 erfolgte ihre Versetzung in den Dachauer Außenlagerkomplex Mühldorf, wo sie bis Mai 1945 die Frauenabteilung leitete.58 Der Ausbau der SS-Wachtruppe fand bis Kriegsbeginn weitgehend entkoppelt von der Entwicklung des Konzentrationslagers statt. Die Zahl der Wachmannschaften und der SS-Führer wuchs zwischen 1933 und 1939 im direkten Vergleich mit der Häftlingsbelegung überproportional stark an. Im Juli 1936 erreichten Wachverband und Lagerstab Lichtenburg eine Stärke von 632 Mann, diesen standen 640 KZHäftlinge gegenüber. Die Aufgabe der SS-Wachtruppe beschränkte sich also keineswegs auf die Häftlingsbewachung, sondern umfasste auch den Aufbau einer jungen Kaderarmee. Demzufolge darf das System von Bewährung und Beförderung nicht nur auf den eruierten Aufstieg im Lagerstab der Konzentrationslager reduziert werden. Teils jüngere Kader in der Wachtruppe Lichtenburg wie Kurt Launer, der Italiener Azelino Masarié, Rudolf Saalbach und Richard Schulze überflügelten ihre früheren Vorgesetzten Johann Aumeier, Adam Grünewald, Arthur Rödl und Egon Zill auf der Karriereleiter in der Waffen-SS, deren Ehren- und Elitekodex eher mit dem heroischen »Soldatenbild« in der Truppe als mit dem Dienst im Konzentrationslager korrelierte.59 b) SS-Kaserne 1939/40 Auf die Verlegung des Frauen-KZ nach Ravensbrück im Mai 1939 folgte eine sofortige Umnutzung des Schlosses Lichtenburg als Stützpunkt der kasernierten SS-Totenkopfverbände. Ab Juni befand sich ein Panzerabwehr-Lehrgang in Kompaniestärke vor Ort, der formal zur 2. SS-Totenkopfstandarte »Brandenburg« gehörte und mit Wirkung vom 1. Februar 1939 in Berlin-Adlershof gebildet worden war.

57 Vgl. Vorschlagsliste Nr. 7 für die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse ohne Schwerter vom 20.7.1944, NARA, RG 549, US Army Europe, Cases not tried, Case 000-50-3 (Auschwitz), Box 519, Folder No. A. 58 Vgl. Aussage Mandls vom 28.9.1945, NARA, RG 319, IRR, Box 133, Mandl, Maria. Nach Kriegsende geriet Maria Mandl in amerikanische Gefangenschaft und wurde 1946 an Polen ausgeliefert. Sie wurde im Krakauer Auschwitz-Prozess am 22.12.1947 zum Tode verurteilt und am 24.1.1948 hingerichtet. 59 Schulze diente zwischen 1941 und 1943 als Ordonnanz-Offizier und persönlicher Adjutant von Adolf Hitler. Alle Genannten stiegen mindestens zum SS-Sturmbannführer auf, drei erhielten das Ritterkreuz. Fronterfahrene SS-Führer hoben sich oftmals durch das Tragen der Divisionsuniform demonstrativ vom übrigen Lagerpersonal ab, so der Kommandant des KZ Auschwitz Richard Baer oder der Standortarzt des KZ Sachsenhausen Heinz Baumkötter. Vgl. Karl Höcker Album, United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Fotos Nr. 34578-34829.

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Die Schulung der jungen Zugführer und Rekruten, welche nur für die Dauer des Lehrgangs aus ihren Stammeinheiten in Buchenwald oder Mauthausen abkommandiert wurden, diente unmittelbar den Kriegsvorbereitungen. Dementsprechend hart reagierte Theodor Eicke auf Störungen und Verfehlungen innerhalb der Truppe. Mehrere Zugführer wurden noch während des Lehrgangs disziplinarisch bestraft und zur Stammeinheit bzw. zur Dienstleistung beim regulären Heer abgestellt.60 Der Beginn des Zweiten Weltkriegs setzte nach der Auflösung des Frauenlagers eine nächste Zäsur. Mit dem Aufbau der Waffen-SS erfolgte auch eine Umstrukturierung der SS-Totenkopfverbände. Seit 1939 befanden sich in Breslau zwei Ersatz-Sturmbanne, die neben ihrer Funktion als Personalreserve für die Polizeiverstärkungen der SS-Totenkopfstandarten Anfang September 1939 auch die Ausbildung von über 1.500 neuen Rekruten übernahmen.61 Als Standortältester fungierte Erwin Reitz, der von 1935 bis 1937 die SS-Wachtruppe »Elbe« im KZ Lichtenburg geführt hatte. Die reorganisierten Sturmbanne dienten nunmehr als Ersatz für die seit Oktober 1939 aufgestellte SS-Division »Totenkopf«. Fast 50 % der SS-Führer, Unterführer und Mannschaften gelangten ab November als SS-Totenkopf-InfanterieErsatzbataillon II nach Prettin. Lichtenburg übte damit eine Schlüsselfunktion beim Aufbau der Ersatzeinheiten der 3. SS-Division »Totenkopf« aus, die ursprünglich mit der Division in Dachau aufgestellt werden sollten. Das in Prettin stationierte Bataillon bildete den zuständigen Ersatztruppenteil für das SS-Totenkopf-Infanterie-Regiment 2 der Division und ab März 1940 zusätzlich für die Verwaltungsdienste der SS-Totenkopfverbände. Der Verband gliederte sich in einen Stab mit vier Hundertschaften. Führer des Ersatzbataillons waren von November 1939 bis April 1940 Willy Bettenhäuser und danach Carl Sattler. Anfang 1940 hielt sich überdies temporär die SS-Totenkopf-Infanterie-Panzerabwehr-Ersatzkompanie unter Leitung von Ludwig List in Lichtenburg auf. Am 10. März 1940 verzeichnete das Bataillon eine Ist-Stärke von 16 SS-Führern, 65 Unter-

60 Vgl. exemplarisch die SS-Führerpersonalakte von Theo Bücker. BArchB (ehem. BDC), SSO, Bücker, Theo, 14.08.1914. 61 Zu den nachstehenden Ausführungen vgl. das umfangreiche Aktenkonvolut im Militärhistorischen Archiv Prag. Vojenský Ústˇrední Archív v Praze/Vojenský Historický Archív (VHA), SS-Totenkopf-Inf.-Ers.-Btl. II, 1939-1941, Vel. 3/kr. 1, 4/kr. 1, 5/kr. 1, 6/kr. 1, 7-1/kr. 2, 7-2/kr. 2, 7-3/kr. 3, 7-4/kr. 3.

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führern und 673 Mannschaften, die Soll-Stärke lag indes bei insgesamt 1.366 Mann. Ab Mai erfolgte die Versetzung zur Neuen Technischen Hochschule nach Prag. Im Juni 1940 wurde der Stützpunkt in Lichtenburg vollständig aufgelöst. Wie zur Zeit des Konzentrationslagers prägten die kasernierten SS-Truppen nachhaltig den Alltag in Prettin. Erneut wurden zahlreiche private Beziehungen geknüpft, Ehen geschlossen und Kinder geboren,62 und die Stadt profitierte in vielerlei Hinsicht vom SSStandort Lichtenburg. Sowohl der Landrat als auch der Prettiner Bürgermeister bemühten sich um eine rasche Wiederbelegung durch SS-Dienststellen, deren Abzug »für das Wirtschaftsleben Prettins ein schwerer und unersetzlicher Verlust« war.63 Die seit Räumung der SS-Unterkunft mehrfach, unter anderem wegen Überalterung und mangelnder Wartung, beanstandete Kläranlage samt Gräben reinigte im September 1940 ein Häftlingskommando aus dem KZ Buchenwald.64 c) SS-Versorgungslager, SS-Hauptzeugamt und KZ-Außenlager zwischen 1940 und 1945 Noch 1940 wurde das Schloss Lichtenburg durch die Waffen-SS neu belegt. Zum einen erhielt Prettin spätestens im Dezember ein Hauptzeugamt, zum anderen ein Bekleidungslager. Dessen zunächst zehnköpfiges Kommando rekrutierte sich aus dem Personal des versetzten Ersatzbataillons, der Führer des SS-Versorgungslagers Norbert Both hatte zuvor ebenfalls seinen Dienst in Prettin versehen. Dem SSHauptzeugamt unterstanden rund 40 SS-Männer. Beide SS-Dienststellen waren organisatorisch voneinander getrennt. Trotzdem kooperierten die benachbarten SS-Einrichtungen einvernehmlich, auch der Kontakt zwischen Stadt und SS knüpfte an die guten Beziehungen der Vorjahre an.65 Mit dem Dienstantritt des

62 Vgl. Vaterschaftsanerkennungserklärungen 1936-1944, StArchP, StA-14-I und Privatbesitz. 63 Schreiben des Bürgermeisters Georg Reichmann vom 25.7.1940 und des Torgauer Landrates vom 14.6.1940, StArchP, 1-E-27-I. 64 Vgl. Schreiben von Anton Blaser als Leiter der Truppenverwaltung der SS-Totenkopfverbände vom 5.9.1940 und des Torgauer Landrates vom 9.9.1940, LHASA, MER, Rep. C 50 Torgau I, Nr. 571, Bl. 37+RS. 65 So veranstalteten Stadt und SS im Sommer 1941 ein gemeinsames Preisschießen. Vgl. Schreiben des Führers des SS-Versorgungslagers Norbert Both und des SSHauptzeugamtes Herbert Bartsch vom 20.8.1941, StArchP, 1-E-27-I. Das Dokument wurde separat nach Dienststelle unterzeichnet.

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dritten Kommandeurs des SS-Hauptzeugamtes German Christl im Oktober 1941 überstellte das KZ Sachsenhausen die ersten Häftlinge in das Außenlager Prettin. Die Gefangenen verrichteten sowohl im Versorgungslager (ca. 15 Häftlinge) als auch im Hauptzeugamt (ca. 50 Häftlinge) Zwangsarbeit. Christl zufolge waren die KZ-Häftlinge bis September 1942 ausschließlich beim Bekleidungslager und erst nach Abzug von Kriegsgefangenen hauptsächlich beim Hauptzeugamt eingesetzt.66 Laut einer Aufstellung der Stadt Prettin befanden sich Ende 1941 insgesamt 247 Ausländer und Kriegsgefangene im Ort.67 Vierter Kommandant des SS-Hauptzeugamtes war von Oktober 1944 bis April 1945 Hans Koch.68 Für die Behandlung der KZ-Häftlinge änderte sich mit dem Stellenwechsel jedoch nichts. Verantwortlich für die Bewachung der Gefangenen zeigte sich bis zur Räumung des Komplexes SS-Unterführer Kaspar Wallner, der bis September 1941 als Leiter des SS-Ausrüstungs- und KZ-Außenlagers Brandenburg fungiert hatte und anschließend mit den ersten Gefangenen nach Prettin kam. Unter seinem Kommando sind keine Misshandlungen oder Tötungen von Häftlingen überliefert.69 Der ehemalige SS-Mann Kurt P. berichtete, dass Wallner die Gefangenen »human« behandelt habe, diese sich frei in Lichtenburg bewegen konnten, mitunter Ausgang nach Prettin hatten, anstelle der gestreiften KZ-Kleidung Arbeitsdrilliche trugen und gemeinsam mit der SS speisten. Für die Küche wurde eigens eine Prettinerin angestellt,70 welche die gleiche Kost für KZ-Häftlinge und SS-Männer zubereitete. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgte nach Kurt P. im vormaligen Bunker, wobei die Zellentüren offen standen und sich die Inhaftierten ihre Zellen mit dem Mobiliar des Hauptzeugamtes einrichten durften. Das ledige SS-Personal bezog Räume im Flügel A über dem Haupteingang, das verheiratete im Komman-

66 Vgl. Aussage Christls vom 29.9.1967, BArchL, ZSL, IV 406 AR-Z 2705/66, Bl. 212. 67 »Zur Verfügung vom 20.12.1941 berichte ich, daß nachstehende Ausländer und Kriegsgefangene hier beschäftigt sind: 1.) 72 Polen 2.) 5 Schweizer 3.) 2 Jugoslawen 4.) 1 Rumäne 5.) 127 Franzosen 6.) 40 Inder.« Schreiben des Bürgermeisters Georg Reichmann vom 31.12.1941, StArchP, 6-Ac-4-IV. 68 Hans Koch trat nur wenige Tage nach Übernahme der Amtsgeschäfte aus der evangelischen Kirche aus. Vgl. Beglaubigte Abschrift vom 9.10.1944, PfArchP, Kirchenaustritte in Prettin (1937-1944), Bl. 2. 69 Vgl. Abschlussverfügung der Ermittlungsbehörden vom 23.5.1969, BArchL, ZSL, IV 406 AR 2705/66. 70 Mindestens 29 Prettiner Einwohner/innen waren im SS-Hauptzeugamt bzw. Bekleidungslager beschäftigt gewesen. Vgl. Namentliche Aufstellung des Prettiner Bürgermeisters vom 24.5.1945, StArchP, 6-Ec-12.

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danturgebäude südlich des Schlosses oder in der Stadt.71 Christl und Koch hingegen bewohnten das vormalige SS-Kasino in den Kräutergärten östlich der Anlage, das von KZ-Häftlingen des Männerlagers Lichtenburg Mitte der 1930er Jahre umgebaut worden war. Am 23. April 1945 wurden beide SS-Dienststellen und das KZAußenlager aufgelöst. Die SS setzte sich ab und geriet mehrheitlich bei Hof (Bayern) in amerikanische Gefangenschaft. Dem Evakuierungsbefehl für Prettin schloss sich auch die Bevölkerung an. Bereits am 22. April 1945 verließen mehrere Familien, meist Frauen, Kinder und Greise, die Stadt und zogen über die Elbe in Richtung Bad Düben. Zuvor wurden noch die verbliebenen Männer und Jugendlichen zum Volkssturm eingezogen. Das Schloss Lichtenburg hatte in den letzten Kriegsmonaten als Stützpunkt für Volkssturm und Hitlerjugend gedient. Bewaffnung und Ausbildung des »letzten Aufgebotes« übernahm die stationierte SS.

Nutzungsschichten vor und nach 1945 Eine Besonderheit in der Schlossarchitektur des 16. Jahrhunderts bildete die im Verhältnis zu den übrigen Gebäuden im Schlossensemble fast freistehende Platzierung der Schlosskirche St. Annen. Sie wurde im letzten Bauabschnitt 1582 errichtet und gilt im mitteldeutschkursächsischen Raum als eines der bedeutendsten sakralen Bauwerke der Nachgotik. Die Nutzung der Schlosskirche als Gotteshaus wurde zwar bis 1812 zeitweise durch Leerzug und Umwidmung zum königlichen Kammergut ausgesetzt, jedoch nach Einzug der Strafanstalt wieder fortgeführt. Das Gleiche gilt auch für das Konzentrationslager von 1933 bis 1939. In unregelmäßigen Abständen fanden sowohl katholische als auch evangelische Gottesdienste in Lichtenburg statt, die abwechselnd vom katholischen Pfarramt in Torgau sowie vom evangelischen Pfarramt in Prettin organisiert wurden. Exemplarisch kann hierfür der Schriftverkehr des katholischen Pfarramtes gelten. Pfarrer Karl Pfitzenreuther, der am 7. Juli 1935 sein Amt in Torgau angetreten hatte, stimmte sich dabei eng mit der Kommandantur des KZ Lichtenburg ab. »Der letzte kath. Gottesdienst war in dortigem Lager am Sonntag, den 13.10. Ich

71 Vgl. Tonaufnahme des Interviews des Autors mit Kurt P. vom 11.9. und 2.10.2008, Privatbesitz.

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frage an, ob am Montag, d. 11.11. vorm. 8,30 Uhr wieder Gottesdienst sein kann.«72 Drei Tage später bat ihn der damalige Schutzhaftlagerführer SS-Sturmbannführer Heinrich Remmert, den Gottesdienst auf den 17. November 1935 zu verschieben, da sich aufgrund der Entlassungen »nur noch 12-15 Häftlinge kath. Glaubens im Lager« aufhielten.73 Pfarrer Pfitzenreuther erwiderte prompt, wegen zahlreicher Verpflichtungen »einen Wochentag für den Gottesdienst freizugeben. Ich schlage nunmehr vor Montag, den 25.11. Die geringe Zahl der kath. Häftlinge brauchte, falls sie wie angegeben (12-15) bleibt, ein Ausfallen des Gottesdienstes nicht unbedingt zu begründen.«74 Letztlich fand 1935 nur noch ein katholischer Gottesdienst in der Schlosskirche St. Annen statt. »Der für den 30.12.1935 angesetzte Gottesdienst wurde unerwarteter Weise 1 Stunde vor dem Termin abgesagt.« Weiterhin bemühte sich Pfitzenreuther, mit Hinweis auf das Osterfest 1936, im April einen Gottesdienst abhalten zu können. Das Schreiben ist insofern interessant, als es die Frage des bestehenden Beichtverbotes für die KZ-Häftlinge berührt. Pfitzenreuther schloss seinen Brief mit der Bitte um Klärung dieses Sachverhaltes.75 Den Bescheid zeichnete in diesem Falle der Lagerkommandant Hermann Baranowski selbst: »Für die geringe Anzahl von [sechs, S.H.] kath. Häftlingen lohnt sich ein Gottesdienst nicht.« Die Frage nach Aufhebung des Beichtverbotes blieb unbeantwortet.76 Nichtsdestotrotz ließ sich Pfitzenreuther nicht abweisen: »Wenn auch die Teilnehmerzahl nicht gross ist, so möchte ich dennoch den Gottesdienst halten, und zwar am 1.6. um 10.00 Uhr.«77 Pfitzenreuther hatte Erfolg, die Lagerleitung gab seinem Gesuch nach. Ein erneuter Termin am 21. September 1936 sollte aber nicht mehr zustande kommen, da sich »keine katholischen Schutzhäftlinge« mehr in Lichtenburg befanden.78 Von Seiten des evangelischen Pfarramtes in Prettin führte Pfarrer Otto Gutheil die Gottesdienste im KZ Lichtenburg durch. Geplant war ein 14-tägiger Turnus, dazwischen sollten Orgelkonzerte veranstaltet

72 Schreiben von Pfitzenreuther vom 5.11.1935, ITS, HIST/SACH, Lichtenburg, Ordner 2, Bl. 3. 73 Antwortschreiben von Remmert vom 8.11.1935, ebd., Bl. 4. 74 Schreiben von Pfitzenreuther vom 11.11.1935, ebd., Bl. 5. 75 Vgl. Schreiben von Pfitzenreuther vom 2.4.1936, ebd., Bl. 8. 76 Vgl. Antwortschreiben von Baranowski vom 7.4.1936, ebd., Bl. 11. 77 Schreiben von Pfitzenreuther vom 29.5.1936, ebd., Bl. 16. 78 Vgl. Schreiben von Pfitzenreuther vom 14.9.1936, ebd., Bl. 24; Antwort von Baranowski vom 16.9.1936, ebd., Bl. 26.

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werden. Der erste evangelische Gottesdienst in der Schlosskirche fand am 6. August 1933 statt: »Von den etwa 1300 Inhaftierten haben über 700 auf eigenen Wunsch die Kirche besucht. Pfarrer Gutheil hat es verstanden, mit seiner Predigt Widerhall im Herzen aller zu finden, und dürfte damit auch einen guten Teil dazu beigetragen haben, den Häftlingen den Weg ins Dritte Reich zu ebnen.«79

Die Teilnahme der Gefangenen war zwar fakultativ, alternativ mussten jedoch die abwesenden Häftlinge unter Bewachung Putz- und Aufräumarbeiten erledigen.80 Noch im August 1933 wurde ein vierstimmiger Häftlingschor gebildet.81 Bereits nach wenigen Monaten erfolgte aufgrund der Weihnachtsamnestie von 1933 die Auflösung des Chores. In Gegenüberstellung von administrativem Schriftverkehr, Pressemeldungen und individuellen Häftlingserinnerungen zu den Messen und Gottesdiensten wird deutlich, dass sie neben ihrer Funktion der religiösen Betreuung, Segnung und Seelsorge für die Gefangenen auch als Instrument der Überwachung, Erziehung und (Sozial-)Disziplinierung durch das SS-Personal dienten. Dieser Ambivalenz ihres Handelns waren sich die beiden genannten Geistlichen bewusst. Während Pfarrer Pfitzenreuther auf die geistliche Betreuung der katholischen Häftlinge im KZ Lichtenburg insistierte, arrangierte sich der evangelische Pastor Gutheil mit dem nationalsozialistischen Regime. »Seine Predigten in der Lagerkirche zeichneten sich durch Taktlosigkeiten den Gefangenen gegenüber aus.«82 Zu den SS-Angehörigen verhielt sich Gutheil loyal. Er traute SSEhen, taufte deren Kinder, verzeichnete die Toten des KZ Lichtenburg und registrierte die steigende Zahl von Kirchenaustritten.83 Pfitzenreuther unterdessen geriet 1937 in Konflikt mit den NS-Behörden. Die katholische Schule in Torgau wurde am 30. Juni 1937 aufgelöst sowie er selbst und sein Vikar Wilhelm Girke für drei Wochen verhaftet. An-

79 Nachricht im EEB vom 8.8.1933. 80 Vgl. Fritz Kleine, Lichtenburg, in: Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Ein Buch der Greuel. Die Opfer klagen an, Karlsbad 1934, S. 204. 81 Vgl. Nachricht im EEB vom 17.8.1933. 82 Vgl. Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten, Berlin 1954, S. 217. 83 So traute Otto Gutheil am 22.12.1935 den SS-Oberscharführer Wilhelm Schäfer mit Elfriede Lademann. Am 16.11.1937 traten Wilhelm und Elfriede Schäfer aus der evangelischen Kirche aus. PfArchP, Kirchenaustritte in Prettin (1937-1944), Nr. 18; Trauregister 1934-1956.

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schließend kehrte Pfarrer Pfitzenreuther zurück und übte sein Amt bis zum 1. Oktober 1969 aus.84 Während des Zweiten Weltkrieges erfuhr das Gotteshaus eine Zweckentfremdung. Der SS-Rottenführer Kurt P. berichtete über seine Dienstzeit im SS-Hauptzeugamt 1941/42, dass die Schlosskirche St. Annen als Material- und Munitionsdepot fungierte. Vor allem schweres Gerät, Waffen und Geschosse wurden in der ebenerdigen Kirche eingelagert. Als Transportleiter für die Überführung vom und zum örtlichen Bahnhof zuständig, koordinierte Kurt P. die LKW-Verladung und sichere Unterbringung. Leichtere Güter wie Stoffe und Uniformen lagen im Zellenbau von 1878/80 sowie in den Räumen und Sälen der einzelnen Schlossflügel. Insgesamt sei der ganze Komplex vollständig ausgelastet gewesen.85 Nach dem überstürzten Abzug der SS aus Lichtenburg plünderten einige Einwohner/innen die zurückgelassenen Nahrungsmittel, Stoffe und Gerätschaften im Hauptzeugamt und in der Seifen- und Waschmittelfabrik Schladitz. Am 25. April 1945 wurde Prettin durch die Rote Armee besetzt und eine Ortskommandantur eingerichtet. Ab Juni befand sich eine elfköpfige Besatzung mit einem Kommandanten, einem Dolmetscher und neun Wachmännern (darunter auch Deutsche) in Lichtenburg.86 Es liegen Berichte vor, dass das Schloss im Sommer 1945 kurzzeitig als Haftstätte für Wlassow-Soldaten verwendet wurde.87 Ebenfalls waren ab 1945 Flüchtlinge, Vertriebene und »Umsiedler/innen« in der Domäne Lichtenburg sowie in der gegenüberliegenden Hedwigsburg untergebracht, welche zuvor für die Unterbringung der Lagerleitung gedient hatte. Laut Aufstellung der Stadt Prettin be-

84 Pfitzenreuther wurde noch am 24.12.1955 vom Erzbischof zum Geistlichen Rat ernannt. Er starb am 3.3.1977 und war damit der älteste Priester im Bischöflichen Amt Magdeburg. Chronik des Katholischen Pfarramtes »Mater Dolorosa« in Torgau. Im Internet vgl. , 31.8.2010. 85 Vgl. Tonaufnahme des Interviews des Autors mit Kurt P. vom 11.9. und 2.10.2008, Privatbesitz. 86 Vgl. Namentliche Aufstellung über die »Besatzung von Lichtenburg (Schloß) ab 1.6.45«, StArchP, 6-Ec-12. 87 Vgl. »Es lebt sich schwer im Schatten dieser Burg«, Erinnerungsbericht von Christa K., ArchLi, Sammlung von Briefen und Postkarten, o. Sig., und Privatbesitz. Bei den Wlassow-Soldaten handelte es sich um Mitglieder der 1943 gegründeten und Ende 1944 aufgestellten Russischen Befreiungsarmee (ROA) unter Befehl des Generals Andrej Andrejewitsch Wlassow, die sich überwiegend aus sowjetischen Kriegsgefangenen, Ostarbeitern und Trawniki-Männern rekrutierten.

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Abb. 3: Undatierte Aufnahme, vermutlich zwischen 1965 und 1970, von Getreideeinlagerungsarbeiten der LPG »Geschwister Scholl« im historischen Südhof des Schlosses Lichtenburg. An der Stirnseite des Flügels B ist das von Heinz Mamat gestaltete und am 8.5.1965 eingeweihte Relief mit KZ-Szenen zu erkennen. Rechts davon befindet sich der Durchgang zum ehemaligen »Bunker«. Quelle: Stadtarchiv Prettin.

fanden sich Anfang Juni 1945 insgesamt 2.975 Einwohner/innen im Ort, davon 2.208 »Bürger/innen« und 767 »Evakuierte«.88 In der DDR diente die Schlosskirche St. Annen als Getreidespeicher für die ansässige landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG); die Prettiner LPG »Geschwister Scholl« wurde am 19. Februar 1952 von 28 Einzelbauern und Landarbeitern gegründet. Dabei handelte es sich um eine LPG Typ III, in die Bauern ihr Land und Vieh einbrachten. Im Ganzen standen der LPG 750 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche (LNF) zur Verfügung. Ab 1956 wurde das Schloss als Lager und Maschinendepot genutzt und im Hof eine Schrotmühlanlage aufgestellt. In der Schlosskirche und anderen Gebäuden lagerte die LPG Getreide ein. Vom Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieb (VEAB) übernahm die LPG 1957 als Rechtsträger den Komplex Lichtenburg. Das Volkseigene Gut (VEG) Großtreben brachte im früheren »Bunker« eine Champignonzucht unter.89 Mit der stetigen 88 Diese setzten sich aus jeweils 771 bzw. 221 Männern und 1.437 bzw. 546 Frauen zusammen. Vgl. Aufstellung der Stadt Prettin vom 5.6.1945, StArchP, 6-Ac-9-II. 89 Der mit der Bauleitung und den denkmalpflegerischen Arbeiten beauftragte Cottbuser Architekt Max Hanke wies Ende 1959 auf die irreparablen Schäden im Westflügel durch die Champignonzucht (Schwamm und Schimmel), die Verschandlung des Hofes und des

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Vergrößerung einher ging der Ausbau eines Lehrlingswohnheimes im vormaligen Krankenrevier. Im Zuge der Einrichtung der KZ-Gedenkstätte Lichtenburg im »Bunker«-Bereich stand dann die Umnutzung der Schlosskirche als künftiges Heimatmuseum in der Diskussion. Die Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg wurde am 8. Mai 1965 im »Bunker« feierlich eröffnet. Gleichzeitig konnte an der Innenfassade des Flügels B neben dem Eingang zur Mahn- und Gedenkstätte das von Heinz Mamat gestaltete Relief mit KZ-Szenen eingeweiht werden.90 Bereits Mitte Februar 1962 hatte die Kulturabteilung im Rat des Bezirkes Cottbus den Dresdner Bildhauer mit der künstlerischen »Gestaltung des Eingangs der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Lichtenburg« beauftragt.91 1978 erweiterte ein Kuratorium unter Regie der Bezirkskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der SED-Bezirksleitung Cottbus und der Abteilung Gedenkstätten der Arbeiterbewegung im Museum für Deutsche Geschichte Berlin die Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg um eine Dauerausstellung in drei früheren Häftlingsschlafsälen des Schlossflügels D.92 Neben die-

Neptunbrunnens durch Errichtung einer Aschgruppe sowie auf die missratene Gestaltung des Kultur- und Küchentraktes im Südflügel hin. »Zusammengefasst muß festgestellt werden, dass die von der LPG bisher aufgewendeten Mittel dem Charakter der Lichtenburg als wertvolles Baudenkmal kaum entsprechen.« Hanke empfahl eine Umnutzung der für die Pilzzucht verwendeten Räume als Kornspeicher. Vgl. Bericht von Max Hanke vom 28.12.1959; Bericht über die Besprechung der denkmalpflegerischen Arbeiten an der Lichtenburg am 23.12.1959 durch Max Hanke vom 28.12.1959, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), Rep. 801, Nr. 2682, o.P. 90 Als zentraler Gedenkort hatte bis dahin ein Findling vor dem Haupteingang des Schlosses Lichtenburg gedient, der am 9.9.1956 mit der Inschrift »Ernst Richter und allen namenlosen Opfern des Faschismus, welche im Geiste Ernst Thälmanns gekämpft haben« eingeweiht worden war. Der 54-jährige Handwerker Ernst Richter aus Hintersee/Prettin war am 28.8.1933 in die SS-Wachstube des Lagers verschleppt und erschlagen worden. In der Ereignismeldung des Torgauer Landrates an die Staatspolizeistelle Halle/Saale hieß es dazu schlicht: »Staatsfeindliche Äußerungen durch einen betrunkenen Kommunisten, der sofort verhaftet wurde und bald darauf verstorben ist.« Geheime Meldung des Landrates Torgau vom 30.8.1933, LHASA, MER, Rep. C 50 Torgau I, Nr. 713, Bl. 12. Bis 1945 hatte auf dem Findling der Leitspruch der SS »Meine Ehre heißt Treue« gestanden. Vgl. Karl Hänsel Album, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (AGFl), o. Sig. 91 Vgl. Vertrag zwischen Heinz Mamat und dem Abteilungsleiter Gerhard Böttcher vom 17.2.1962, BLHA, Rep. 801, Nr. 2682 o.P. 92 Die Themen gliederten sich chronologisch in »Die Lichtenburg – Kerker der Reaktion«, 1812-1929 (Raum 1), »Die Lichtenburg – ein faschistisches Konzentrationslager«, 19331937 (Raum 2) und »Die Lichtenburg als Frauenkonzentrationslager«, 1937-1939 (Raum 3). Zusätzliche Module im dritten Raum waren die Aufarbeitung »1945 bis zur Gegenwart« sowie »Das Erbe des antifaschistischen Widerstandskampfes in der DDR«. Vgl. Drehbuch zur Neugestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg/Prettin, o.D., ArchLi, Material über die Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg. Aufzeichnungen von Ida Wilke, o. Sig.

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sen Räumen blieb der »Bunker« Bestandteil der Gedenkstätte, die 1975 in das neu gegründete Kreismuseum Lichtenburg-Prettin integriert worden war.93 Die als »Wiedereröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg« titulierte Ausstellungseinweihung fand öffentlichkeitswirksam am 9. September 1978 anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Faschismus statt.94 Erst Ende 2005 löste die Freilichtausstellung »Die Lichtenburg: Ein deutsches Konzentrationslager« im Südhof des Schlosses die veraltete und kaum veränderte Exposition von 1978 ab.95 Zwei Jahre vor der Eröffnung fusionierten 1976 die LPG »Geschwister Scholl« in Prettin, »Neues Leben« in Lebien, »Junge Garde« in Plossig, »Freundschaft« in Annaburg und andere zur LPG(P) (P = Plankommission) »IX. Parteitag«. Dazu gehörte auch die Kooperative Abteilung Tierproduktion »Ernst Thälmann« mit Sitz im Schloss Lichtenburg. 1989 zählte die Groß-LPG »IX. Parteitag« zu den reichsten in der DDR. Nach Abwicklung und Währungsunion 1990 verfügte sie über ein finanzielles Volumen von rund 20 Millionen DM, im Durchschnitt erhielten die Bauern 20.000 DM. Mit dem Auszug der LPG aus dem Schloss wurde im November 1990 auch das einige Jahre nach Gründung der LPG dort eingerichtete Lehrlingswohnheim geschlossen. Zurück blieb lediglich das Kreismuseum mit integrierter KZ-Gedenkstätte.96 Mitglieder der LPG »Geschwister Scholl« waren überwiegend Bauern und Handwerker der Region, darunter auch die ehemaligen SSHauptscharführer Otto Höhne und Rudolf Schumann. Beide hatten bereits zwischen 1933 und 1939 im KZ Lichtenburg gedient. Höhne

93 Nur wenige Jahre zuvor hatte sich das Institut für Denkmalpflege Dresden noch gegen eine Erweiterung der Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg ausgesprochen. Auch »sollten die Restbauteile der KZ-Zeit entfernt werden, da sie sich in keinen wirkungsvollen Kontrast zur Renaissance-Architektur bringen lassen«. Auszug aus einem Schreiben des Instituts für Denkmalpflege Dresden vom 21.7.1976, zit. in: Kreismuseum Jessen (Hg.), Lichtenburg. Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg (Nur für den Dienstgebrauch), o.D., BLHA, Rep. 930, Nr. 5065 (vormals SG 23), Mappe 15, o.P. 94 Vgl. Ablaufplan [mit Anlagen] für die Kundgebung am 9.9.1978 anläßlich der Wiedereröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Lichtenburg/Prettin, BLHA, Rep. 930, Nr. 3045. 95 Die Freilichtausstellung wurde im Rahmen eines mehrsemestrigen Studienprojektes des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin unter Leitung von Stefan Hördler und Sigrid Jacobeit erarbeitet und am 29.10.2005 vor Ort eröffnet. 96 Vgl. Roland Ibold/Christian Hetey, Die landwirtschaftliche Nutzung von Lichtenburg 1945-1990, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Dokumentations- und Gedenkort KZ Lichtenburg. Konzeption einer neuen Dauerausstellung für Werkstattgebäude und Bunker, Berlin/Münster 2009, S. 203-213.

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meldete sich 1934 mit 17 Jahren freiwillig zur SS und wurde Mitte Januar 1935 in die SS-Wachtruppe Lichtenburg eingestellt. Im Sommer 1937 wechselte er nach Buchenwald und ein Jahr darauf als Gerätewart in das SS-Zeugamt Oranienburg. Auf eigenen Wunsch erfolgte im April 1941 seine Versetzung in das SS-Hauptzeugamt Prettin, in dem er bis zu seiner Abberufung an die Front 1943 verblieb. Nach Kriegsende kehrte Höhne nach Prettin zurück und arbeitete ab 1958 als Maurer in der LPG »Geschwister Scholl«. Er stellte sogar einen Antrag als Kandidat der SED, der jedoch abgelehnt wurde.97 Rudolf Schumann, seit 1932 Mitglied in der 26. SS-Standarte, kam am 28. Juli 1933 als Hilfspolizist aus Weißenfels in das KZ Lichtenburg. Dort verrichtete er zuerst Wachdienst im SS-Sondersturm Lichtenburg und wechselte später in den Lagerstab. Anschließend ging er mit Otto Höhne nach Buchenwald, kehrte aber bereits im Dezember nach Lichtenburg zurück.98 Möglicherweise nahm die IKL bei ihren Personalentscheidungen auch auf die Familienverhältnisse der Stabsmitglieder Rücksicht, die oft mit Prettinerinnen verheiratet waren. Kurz vor Auflösung des Frauenlagers Lichtenburg sollte Schumann wegen Korruption entlassen werden,99 wechselte aber mit dem übrigen SS-Personal nach Ravensbrück. Nach dem Krieg kehrte er ebenfalls nach Prettin zurück. Im Schloss Lichtenburg begegnete er mehrmals ehemaligen Häftlingen, die sich überwiegend positiv über ihn äußerten.100

Epilog Im März 1949 prüfte das Justizministerium der Landesregierung Sachsen-Anhalt die Einrichtung einer Strafvollzugsanstalt in Lichtenburg. Aufgrund des schlechten baulichen Zustandes musste jedoch »von einer Übernahme der Lichtenburg in die Justizverwaltung

97 Vgl. Bericht der Bezirksverwaltung für Staatsicherheit Cottbus, Kreisdienststelle Jessen/Elbe vom 14.11.1969, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Zentralstelle Berlin, MfS, HA IX/11, RHE West V-69-69, Bd. 519, Bl. 53-55. 98 Vgl. BArchB (ehem. BDC), RS, Schumann, Rudolf, 26.08.1909. 99 Die Begründung lautete auf Fälschung und Eierdiebstahl. Vgl. Verfügung Eickes vom 2.5.1939, Privatbesitz. 100 So soll er »manchem Häftling auf der Lichtenburg kleine Hilfen« geleistet haben und »mit einer Jüdin dort« liiert gewesen sein. Zu seinen wichtigsten Fürsprechern bei den Nachkriegsermittlungen gehörte der Jurist Friedrich Kaul. Vgl. Erinnerungsbericht zur Lichtenburger Häftlingszeit von Prof. Dr. Friedrich Kaul, notiert von E. Kuhn am 2.5.1977, ArchLi, Inv.-Nr. 289G. Rudolf Schumann verstarb am 30.6.1979 in Prettin.

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Abstand genommen werden.«101 Bis heute prägen die Nutzungsschichten als Haftstätte das Erscheinungsbild des Komplexes und das öffentliche Gedächtnis im Ort. Stimmen, die in den 1990er Jahren ein modernes Zuchthaus in Lichtenburg forderten, waren genauso laut wie diejenigen, die die gesamte Immobilie für eine KZ-Gedenkstätte beanspruchten. Anfang 2008 in die Trägerschaft der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt übernommen, wird sich die KZ-Gedenkstätte Lichtenburg räumlich vorerst auf »Werkstattgebäude« und »Bunker« im Nordhof erstrecken.

Literatur Anja Decker, Die Stadt Prettin und das Konzentrationslager Lichtenburg. Zwischen Bedrohung, Profit und Alltag, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 205-228. Stefanie Endlich, Die Lichtenburg 1933-1939. Haftort politischer Prominenz und Frauen-KZ, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 2002, S. 11-64. Stefanie Endlich, Lichtenburg, in: Geoffrey P. Megargee/United States Holocaust Memorial Museum (Hg.), Encyclopedia of Camps and Ghettos 19331945, Washington, D.C. 2009, S. 120-123. Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Susanne Lanwerd (Hg.), Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1995, Berlin 1999. Günther Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt/M. 1993. Hans Hesse/Jürgen Harder, ». . . und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müßte. . . «. Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück, Essen 2001. Stefan Hördler, SS-Kaderschmiede Lichtenburg: Zur Bedeutung des KZ Lichtenburg in der Vorkriegszeit, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 75-129. Roland Ibold/Christian Hetey, Die landwirtschaftliche Nutzung von Lichtenburg 1945-1990, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Dokumentationsund Gedenkort KZ Lichtenburg. Konzeption einer neuen Dauerausstellung für Werkstattgebäude und Bunker, Berlin-Münster 2009, S. 203-213.

101 Schreiben der Landesregierung Sachsen-Anhalt – Justizminister – vom 13.4.1949, StArchP, 1-E-27-II.

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Harald Kleinschmidt/Andreas Stahl, Kurfürst August und der Kurkreis. Festschrift zum 444. Jahrestag der Kurwürde von Herzog August von Sachsen (Lichtenburger Hefte, Bd. 1), Prettin/Elbe 1997. Hans-Joachim Krause, Schloß Lichtenburg und die mitteldeutsche Renaissancearchitektur, in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 1 (1993), S. 129-157. Daniel Krüger, Anmerkungen zur Strafanstalt Lichtenburg, in: Stefan Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 44-58. Sven Langhammer, Die reichsweite Verhaftungsaktion vom 9. März 1937 – eine Maßnahme zur »Säuberung des Volkskörpers«, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte 16 (2007), S. 55-77. Sandra Mette, »Das KZ inmitten der Stadt«. Die Stadt Prettin und das Konzentrationslager Lichtenburg, unveröffentlichte Magisterarbeit, HU Berlin 2007. Karin Orth, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000. Isabell Sprenger, Aufseherinnen in den Frauenaußenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen, in: WerkstattGeschichte 12 (1995), S. 21-32.

Veröffentlichte Quellen Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, München 2000. Fritz Kleine, Lichtenburg, in: Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Ein Buch der Greuel. Die Opfer klagen an, Karlsbad 1934, S. 182212. Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten, Berlin (Ost) 1954. Hermann Wald, Die Scorbut-Epidemie in der Strafanstalt Wartenburg, in: Vierteljahresschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 11 (1857), S. 45-73.

Das nationalsozialistische Polizeihaftlager Pavlos Melas in Thessaloniki Geschichte und Wahrnehmung VAIOS K ALOGRIAS UND S TRATOS N. D ORDANAS

Bereits wenige Monate nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Thessaloniki im April 1941 fanden in der makedonischen Hauptstadt erste Widerstandsaktionen statt, die ihrerseits zu ersten repressiven Maßnahmen der deutschen Besatzungsbehörden führten. Um der »kommunistischen Bedrohung« wirksam entgegenzutreten, führten die deutschen Okkupationsstellen am 5. Juli 1941 eine koordinierte Operation durch, bei der 278 Personen festgenommen und in der Kaserne Pavlos Melas inhaftiert wurden.1 Diese diente zunächst als Internierungslager, was auf die Absicht der Deutschen hindeutet, sie später in ein Lager umzuwandeln, das den Charakter eines Konzentrationslagers hatte. So enthalten in den offiziellen Tätigkeitsberichten der in Thessaloniki eingerichteten deutschen Militärverwaltung alle Hinweise auf die vormalige griechische Artilleriekaserne2 immer auch den Zusatz ihrer Verwendung als »Konzentrationslager«.

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To aÐma twn aj¸wn. AntÐpoina twn germanik¸n arq¸n Katoq c sth MakedonÐa, 1941-1944 [Das Blut der Un-

Mehr zu diesem Vorgang bei Stratos N. Dordanas,

schuldigen. Vergeltungsmaßnahmen der deutschen Besatzungsbehörden in Makedonien, 1941-1944], Athen 2007, S. 59 f. Die Gebäude des Lagers wurden 1881 von der türkischen Militärleitung als Kaserne benutzt. 1906 wurde an Stelle der kleinen militärischen Anlage zur Kasernierung türkischer Kavallerie ein organisiertes Heerlager nach westlichem Vorbild errichtet, welches u.a. Munitionslager, Kleiderkammern, Pferdeställe, große Gärten und eine Moschee umfasste. Nach der Eingliederung Thessalonikis in den griechischen Staat 1912 wurde die vormalige türkische Artillerie- und Kavalleriekaserne durch das griechische Heer als Artillerieausbildungszentrum genutzt und erhielt den Namen Artilleriekaserne Pavlos Melas. Dieser Name verwies auf den legendären gleichnamigen Offizier der griechischen Armee, der 1904 als Freischärler gegen die bulgarischen Komitadzis in Makedonien gekämpft hatte. Weitere Einzelheiten über die Kaserne vor 1912 bei Spiros Lazaridis, [Vom Vardaris bis zum Derveni. Historische Bestandsaufnahme bis 1920], Thessaloniki 1997, S. 70-73; Dimitrios Th. Bellos, [Die Volksversammlung von Alexandria (früheres Gidas) unter der Besatzung, 23. März 1944], Katerini 2005, S. 124-144.

to Bardˆri wc to Derbèni. Istorik  katagraf  mèqri to 1920 23 MartÐou 1944

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To katoqikì sullalht rio thc Alexˆndreiac (pr¸hn Gidˆ),

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Vaios Kalogrias und Stratos N. Dordanas

Das Lager Pavlos Melas unterschied sich indes insofern von den Konzentrationslagern im Deutschen Reich und den besetzten Ländern, als es nicht der Inspektion der Konzentrationslager bzw. dem SSWirtschaftsverwaltungshauptamt unterstand. Es entsprach somit nicht der formalen Definition eines Konzentrationslagers,3 wurde jedoch als KZ wahrgenommen – von den deutschen Besatzern, die für die Einrichtung des Lagers verantwortlich waren, vom griechischen Lagerkommandanten und den griechischen Polizisten, die für die Bewachung zuständig waren, sowie von den im Lager eingesperrten Häftlingen. Im offiziellen amtlichen Schriftverkehr der deutschen und griechischen Dienststellen wurde daher meistens die Bezeichnung KZ verwendet. Wie das Athener Lager Chaidari erfüllt das Lager Pavlos Melas am ehesten die Kriterien eines »Polizeihaftlagers«.4 Es unterstand dem Sicherheitsdienst (SD), wurde von griechischen Polizeikräften bewacht und funktionierte sowohl als Gefängnis als auch als Geisellager. Der deutschen Besatzungsmacht diente es als repressives Instrument zur Bekämpfung des griechischen Widerstands und zur Einschüchterung der einheimischen Bevölkerung. Unabhängig von seiner Bezeichnung wurde Pavlos Melas für die gesamte Besatzungszeit (1941-1944) zum Inbegriff des nationalsozialistischen Terrors im gesamten makedonischen Raum. Vor allem die hier inhaftierten »Kommunisten« galten als Todeskandidaten.5 Der vorliegende Beitrag untersucht – gestützt auf den gedruckten Bericht eines Lagerinsassen sowie auf andere deutsche und griechische Quellen – die Funktion von Pavlos Melas als Polizeihaftlager in Thessaloniki im Unterdrückungsapparat des NS-Regimes. Darüber hinaus wird der Umgang mit dem ehemaligen Lager im Nachkriegsgriechenland im Spiegel zeitgenössischer politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen behandelt.

3

4 5

Vgl. Wolfgang Benz, Nationalsozialistische Zwangslager. Ein Überblick, in: ders./Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, München 2. Aufl. 2006, S. 11-29, hier S. 11 f. Vgl. ebd., S. 15-17. Vgl. Vaios Kalogrias, Okkupation, Widerstand und Kollaboration in Makedonien 19411944, Mainz/Ruhpolding 2008, S. 50 f.

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Entstehung und Struktur des Polizeihaftlagers Nach der militärischen Besatzung Thessalonikis durch deutsche Truppen am 9. April 1941 begann die Okkupation in Nordgriechenland, die bis Anfang Juni ganz Griechenland erfasste. Die NS-Besatzungsmacht etablierte autoritäre Herrschaftsstrukturen und ging gegen potentielle Gegner/innen der sogenannten Neuen Ordnung vor. Die seit der Metaxas-Diktatur (1936-1941)6 verbotenen griechischen Parteien durften ihre politische Tätigkeit nicht wiederaufnehmen, die griechische Presse wurde der Zensur unterworfen und die griechische Administration (Präfekturen, Städte, Gemeinden) sowie die staatlichen Sicherheitskräfte (Polizei, Gendarmerie) standen nunmehr unter strenger deutscher Aufsicht. Das vorrangige Ziel der deutschen Besatzungspolitik war es, in dem von der Wehrmacht kontrollierten Territorium in Zentralmakedonien »Ruhe und Ordnung« aufrechtzuerhalten. Auf einer späteren Friedenskonferenz sollte darüber entschieden werden, ob die Region dem okkupierten griechischen Staat weiterhin überlassen oder den Gebieten eines der Verbündeten des Reiches – Bulgarien oder Italien – einverleibt werden sollte. Eine dritte, weniger wahrscheinliche Option sah vor, dass Thessaloniki (zusammen mit Kreta) einen permanenten Vorposten des zukünftigen germanischen Reiches bilden sollte.7 Gegen die »Neue Ordnung« der deutschen Besatzer regte sich schnell Widerstand. Am 10. Juli 1941 gründeten Offiziere der ehemaligen griechischen Armee die geheime Organisation YVE (Verteidiger Nordgriechenlands), die für die Wahrung der territorialen Integrität der besetzten Heimat eintrat und später unter dem Namen PAO (Pangriechische Befreiungsorganisation) bekannt wurde. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 traten auch die Mitglieder des Makedonischen Büros der Κομμουνιστικό Κόμμα Ελλάδας (Kommunistische Partei Griechenlands, KKE) stärker in Aktion, indem sie Sabotageakte durchführten und kleine Guerillaeinheiten in den umliegenden Bergen aufbauten.8

6 7

8

Zu dem von General Ioannis Metaxas errichteten diktatorischen Polizeiregime vgl. Jon v. Kofas, Authoritarianism in Greece. The Metaxas Regime, New York 1983. Vgl. Hagen Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, in: Werner Röhr (Bearb.), Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938-1945), Berlin/Heidelberg 1994, S. 377-396, hier S. 387. Vgl. Parmenion I. Papathanasiou, Gia ton Ellhnikì Borrˆ. MakedonÐa 1941-

1944. AntÐstash kai tragwdÐa.To anèkdoto arqeÐo-hmerolìgio tou (tìte) Tag-

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Die Zunahme der illegalen Widerstandstätigkeit, auch in Thessaloniki, die im August 1941 vom Besatzungsapparat mit großer Sorge festgestellt wurde, beschleunigte die deutschen Pläne, ein Zwangslager für Gegner/innen der deutschen Okkupation zu errichten. Nachdem Flugblätter gefunden wurden, die sowohl gegen ranghohe Vertreter der griechischen Verwaltung als auch gegen die deutschen Besatzungsbehörden gerichtet waren und zudem ein Sprengstoffanschlag die Büros der lokalen kollaborierenden rechtsextremen und antisemitischen Splittergruppe »Nationale Union Griechenland« – bekannter unter der Abkürzung E.E.E. (Tria Epsilon) – zerstört hatte, schickte der deutsche Befehlshaber Saloniki-Ägäis, Generalleutnant Curt von Krenzki, dem Wehrmachtsbefehlshaber Südost (WB Südost), Generalfeldmarschall Wilhelm List, folgenden Bericht: »Im Hinblick auf die verstärkte kommunistische Aktivität ist der [griechische, V.K. und S.D.] Generalgouverneur angewiesen worden, ein Konzentrationslager bei Saloniki zu errichten. Das Konzentrationslager hat zwei Abteilungen; in die eine Abteilung werden diejenigen Personen eingeliefert, die von der griechischen Polizei festgenommen sind, in die andere Abteilung diejenigen, die von deutschen Behörden [...] festgesetzt werden. Das gesamte Lager steht unter griechischer Leitung, wird aber von deutscher Seite genau beaufsichtigt. Die Bewachung erfolgt durch die griechische Polizei.«9

Der deutsche Befehl zur Errichtung eines Lagers in Thessaloniki erhielt im besetzten griechischen Staat sofort Gesetzeskraft. Im Regierungsblatt (Φύλλο Εφημερίδας Κυβερνήσεως, FEK) vom 17. November 1941 wurde eine Verordnung veröffentlicht, welche die Schaffung »eines zweiten Kriminalgefängnisses in Thessaloniki und die Besetzung desselben mit Personal vorsah«. Auf der Grundlage von Artikel 1 des Gesetzes 2231 »Über die Gefängnisse« sowie von Artikel 2, 51 und 91 des Gesetzesdekretes »Über die Organisierung des im Strafvollzug angestellten Personals und die Verwaltung der Gefängnisse« vom 28. September 1935 wurde »in der alten Artilleriekaserne Pavlos Melas mit der Namensbezeichnung Zweites Kriminalgefängnis Thessaloniki« das Polizeihaftlager errichtet. Als Gefängnispersonal wurden ein

matˆrqh Giˆnnh PapajanasÐou [Für den griechischen Norden. Makedonien 1941-

9

1944. Widerstand und Tragödie. Das unveröffentlichte Archiv-Tagebuch des (damaligen) Majors Giannis Papathanasiou], Bd. 1, Athen 2. Aufl. 1997, S. 29-31; Kalogrias, Makedonien, S. 44. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RW 40/160: Befehlshaber Thessaloniki-Ägäis, Br. B. Nr. 209/41 geh., Monatlicher Verwaltungsbericht August 1941, Thessaloniki, 4.9.1941.

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»Direktor, ein Vize-Direktor, zwei Sekretäre, ein Rechnungsführer, ein Unterrechnungsführer, zwei Polizeioberwachtmeister, zehn Polizeiwachtmeister und sechzig Wächter, zu verstärken in gleicher Anzahl wie die organischen Stellen der Wächter« bestellt.10 Die Gebäude der ehemaligen Kaserne lagen an der Langadasstraße, unweit vom Stadtzentrum. Im September 1941 machten der Befehl von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, als Sühne für jeden ermordeten deutschen Soldaten fünfzig bis hundert »Kommunisten« zu exekutieren, und die Durchsetzung der Todesstrafe als »das am besten geeignete Mittel der Einschüchterung« eindeutig klar, wie die Besatzer mit den im Lager Pavlos Melas internierten Gefangenen umzugehen beabsichtigten. Am 28. September erteilte der WB Südost allen Militärkommandanten seines Territorialbereichs folgenden Befehl über die Behandlung der in den deutschen Lagern internierten Gefangenen: »Die Überfälle auf Wehrmachtsangehörige, die in der letzten Zeit in den besetzten Gebieten erfolgten, geben Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß es angebracht ist, daß die Militärbefehlshaber ständig über eine Anzahl Geiseln der verschiedenen politischen Richtungen verfügen, und zwar 1. nationalistische, 2. demokratisch-bürgerliche und 3. kommunistische. Es kommt dabei darauf an, daß sich darunter bekannte führende Persönlichkeiten oder deren Angehörige befinden, deren Namen zu veröffentlichen sind. Je nach der Zugehörigkeit des Täters sind bei Überfällen Geiseln der entsprechenden Gruppe zu erschießen. Es wird gebeten, die Befehlshaber entsprechend anzuweisen.«11

Dieser Befehl bestimmte auch die Funktion des Lagers Pavlos Melas. Bis Ende 1941 erhielt von Krenzki, der – wie später auch sein Nachfolger Generalleutnant von Studnitz – dem WB Südost unterstand, die für die Exekutionen erforderliche Anzahl von Gefangenen, die in Thessaloniki, aber auch in anderen deutsch besetzten Teilen Makedoniens festgenommen worden waren. Zunächst gab es zwei Kategorien von Personen, welche den deutschen Erschießungskommandos zugeführt

10 Vgl. das diesbezügliche Regierungsblatt (FEK), Heft A, »Über die Errichtung eines zweiten Kriminalgefängnisses in Thessaloniki und die Bestellung des Personals für dasselbe«, Bogen Nr. 396, Athen, 17.11.1941, S. 2115, 2119. Diese Verordnung wurde am 11.11.1941 vom Chef der griechischen Kollaborationsregierung in Athen, Generalleutnant Georgios Tsolakoglou, sowie von Justizminister Antonios Livieratos und Wirtschaftsminister Sotirios Gotzamanis unterzeichnet. 11 Dordanas, S. 109.

To aÐma twn aj¸wn,

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wurden: Kommunisten12 und Juden. Später wurden diese beiden Kategorien in der nationalsozialistischen Propagandaformel »jüdischer Bolschewismus« zusammengeführt. Nach mehreren Sabotageakten am Eisenbahnnetz und dem Sprengstoffanschlag auf die Wohnung des aus der griechischen Armee entlassenen Oberstleutnants der Artillerie, Georgios Poulos, der inzwischen im Begriff war, zum Kollaborateur Nummer eins der deutschen Behörden aufzusteigen,13 ordnete der Befehlshaber Saloniki-Ägäis am 27. Dezember 1941 die Hinrichtung von zwölf im Lager Pavlos Melas internierten Personen an, als Vergeltung für diese Aktionen, für die die Deutschen die Kommunisten verantwortlich machten. Noch am gleichen Tag begab sich ein Unteroffizier der Feldgendarmerie ins Lager und nahm elf Personen in Empfang, die nicht zufällig in ihrer Mehrheit Juden waren. Er verfasste sogar eine diesbezügliche Überstellungsbestätigung.14 Diese Bestätigung blieb die einzige ihrer Art, denn je mehr die Sabotageakte zunahmen und sich der Widerstand verstärkte, desto mehr erhöhte sich auch die Zahl und die Häufigkeit der Exekutionen von im Polizeihaftlager Pavlos Melas internierten Gefangenen, die ohne vorherige Gerichtsverhandlung – und in vielen Fällen sogar ohne dass gegen sie eine Anschuldigung vorlag – hingerichtet wurden. Neben seiner ursprünglichen Funktion als Gefängnis diente das Lager der deutschen Besatzungsmacht nun auch als Geisellager. Dank eines Berichtes des griechischen Lagerkommandanten, Georgios Glastras, sind uns Informationen über den Tagesablauf der im Lager Pavlos Melas Internierten überliefert. In einem Tagesbefehl vom 2. April 1943 teilte Glastras den Internierten das Tagesprogramm mit, das ab dem 1. April zu gelten hatte. Das Morgenprogramm umfasste das Wecksignal um 06:45 Uhr und die Inspektion der Zellen durch den Polizeioberwachtmeister um 07:15 Uhr. Um 07:30 Uhr folgte die Zäh-

12 Manche der Gefangenen traten aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen der KKE bei. Das Lager wurde auf diese Weise zu einem Hort kommunistischer Agitation. Vgl. Kalogrias, Makedonien, S. 51. 13 Zur prodeutschen Tätigkeit Poulos‘ und anderer Kollaborateure vgl. Stratos N. Dordanas, 'Ellhnec enantÐon Ell nwn. O kìsmoc twn Tagmˆtwn AsfaleÐac sth katoqik  JessalonÐkh, 1941-1944 [Griechen gegen Griechen. Die Welt der Sicherheitsbataillone im besetzten Thessaloniki, 1941-1944], Thessaloniki 2006. 14 Vgl. Dordanas, To aÐma twn aj¸wn, S. 108. Zu Details der Überstellungsbestätigung von Gefangenen aus dem Lager vgl. Zentrum für die Geschichte von Thessaloniki [K.I.J.], Private Sammlung Raoul Livada, Sammelmappe 2, Akte 4: G.F.P. 621, Apìdeixic Paralab c (Überstellungsbestätigung), Thessaloniki, 27.12.1941.

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Abb. 1: Schreiben betreffend die Internierung von acht Personen im Polizeihaftlager Pavlos Melas, das die Geheime Feldpolizei (GFP) an die Gefängnisdirektion richtete. Links neben den Namen sind die Gefangenennummern der Betroffenen verzeichnet. Quelle: Zentrum für die Geschichte von Thessaloniki.

lung der Gefangenen. Dann hatten sie eine Stunde Zeit – von 07:30 bis 08:30 Uhr –, um sich zu waschen und sportlich zu betätigen. Anschließend wurde ihnen für die Einnahme des Frühstücks eine Viertelstunde Zeit gegeben, bevor sie wieder in ihren Zellen eingeschlossen wurden. Um 10:00 Uhr wurden die Zellentüren erneut geöffnet, und die Gefangenen erhielten Zeit für einen einstündigen Hofgang, zu dem sie sich in drei Reihen zu formieren hatten. Es folgten eine halbe Stunde Rast und um 11:30 Uhr das Mittagessen. Um 12:00 Uhr mussten sie wieder in ihre Zellen zurückkehren. Um 14:30 Uhr ließ der Polizeioberwachtmeister eine erneute Inspektion durch die Gefängniswärter durchführen, welche in der Folge die Zellen aufschlossen. Zwischen 15:30 Uhr und 16:30 Uhr traten die Gefangenen in drei Reihen zum Hofgang an und nach einer Rast bekamen sie das Abendessen. Um 18:15 Uhr hatten sie wieder ihre Zellen aufzusuchen. Für die Frauen

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Abb. 2: Der Tagesablauf der Gefangenen gemäß dem Tagesbefehl des Direktors des Gefängnisses Georgios Glastras vom 2.4.1943. Quelle: Zentrum für die Geschichte von Thessaloniki.

galt ein anderer Tagesablauf. An Sonn- und Feiertagen wurden die Zellen eine halbe Stunde später aufgeschlossen.15 Was in den entsprechenden Berichten der Gefängnisdirektion nicht beschrieben wurde, waren die menschenunwürdigen Haftbedingungen für die Internierten, die in Zellen von wenigen Quadratmetern eingepfercht waren. Die Aufzeichnungen von Leonidas Giasimakopoulos, der von Mai 1943 bis Oktober 1944 im Lager inhaftiert war, bilden die einzige und bislang wertvollste Quelle über das Polizeihaftlager. In nur fünf Zeilen fasste Giasimakopoulos am ersten Tag seiner Internierung all das zusammen, was in den folgenden Monaten sein Leben im Lager bestimmen würde: »Grauenvolle und hoffnungslose Eindrücke machten auf mich das Eintreten in das Gebäude, das lärmende Öffnen der eisernen Türen des Gebäudes, der hoffnungslose Gestank der Aborte, die Überfüllung der Zelle, in die sie uns

K.I.J.,

15 Vgl. Private Sammlung Raoul Livada, Sammelmappe 2, Akte 4: Konzentrationslager Pavlu Mela Saloniki, Tagesablauf ab 1.4.1943, Tagesbefehl vom 2.4.1943 im K.L. Pavlu Mela, Thessaloniki.

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einschlossen, die widerlichen Ausdünstungen der verbrauchten Atemluft, sie lagen mir schwer wie eine Marmorplatte auf der Brust.«16

Im Lager Pavlos Melas wurden viele Menschen inhaftiert, die von der Wehrmacht und anderen deutschen Stellen im Verlauf von militärischen Säuberungsoperationen gegen die Guerillas und von Überfällen auf Dörfer und Städte festgenommen worden waren.17 Im Jahre 1944 nahmen an solchen Operationen auch die damals von griechischen Kollaborateuren gegründeten bewaffneten Abteilungen teil, deren Präsenz sich sowohl in Thessaloniki als auch auf dem Land bemerkbar machte. Bald beschränkten sich die Mitglieder der sogenannten »Sicherheitsbataillone« nicht mehr darauf, Verhaftungen vorzunehmen, sondern beteiligten sich aktiv an den Exekutionen von »Verdächtigen«, vor allem nach Angriffen der Guerillabewegung. Die Verhafteten wurden in Wagen mit »Käfigen« abgeholt und zu den üblichen Hinrichtungsstätten außerhalb Thessalonikis transportiert. Dort wurden sie von Exekutionskommandos der Militärgendarmerie, aber auch von den oben erwähnten Kollaborationseinheiten – wie der Einheit des für seine grausamen Foltermethoden berüchtigten Antonis Dangoulas18 – erschossen. Nach dem Krieg erwähnte Glastras in seiner Aussage vor den griechischen Polizeibehörden neun Fälle von Massenhinrichtungen Gefangener, die zwischen 1942 und 1944 durchgeführt worden waren. Laut Glastras wurden beim Kokkino Spiti (Rotes Haus), in Mi-

16 Die Ausführungen sind Teil eines zweibändigen Tagebuchs, das erst in den Jahren 1999 und 2001 von Giorgos Kaftantzis herausgegeben wurde. Vgl. Giorgos Kaftantzis (Hg.),

To nazistikì stratìpedo PaÔlou Melˆ JessalonÐkhc 1941-1944 ìpwc to èzhse kai to perigrˆfei sto hmerolìgio tou ènac ìmhroc o LewnÐdac Giashmakìpouloc (arijmìc mhtr¸ou fulak c 4436) [Das nazistische Konzentrationslager

Pavlos Melas in Thessaloniki von 1941-1944, wie es die Geisel Leonidas Giasimakopoulos (Gefangenennummer 4436) erlebte und beschreibt], Bd. 1, Thessaloniki 1999, S. 22. 17 Für den Zeitraum von August 1941 bis Januar 1943 liegen die Berichte des Befehlshabers Thessaloniki-Ägäis mit den dort verzeichneten Zahlen der im Lager internierten Gefangenen vor. In den Monaten August bis September 1941 waren demnach 96 Personen in dem Lager interniert, im Oktober 164. Am 29.12.1941 betrug die Anzahl der Gefangenen 378, am 20.1.1942 waren es 377, am 20.2. 361, am 30.3. 427, am 30.4. 250, am 30.6. 296, am 31.8. 416, am 31.10. 347 und am 1.1.1943 426. Vgl. die Berichte des deutschen Befehlshabers Thessaloniki-Ägäis, z.B. , RW 40/160, RW 40/161, RW 40/162. In einer seiner letzten Tagebucheintragung am 18.10.1944 – kurz vor seiner Befreiung – schätzt Giasimakopoulos die Zahl der im Lager Internierten auf 185. Kaftantzis (Hg.), Bd. 2, S. 323. 18 Dangoulas führte eine kleine rechtsextreme Kollaborationsabteilung in Thessaloniki, die kommunistische und andere »Verdächtige« verfolgte und hinrichtete. Vgl. Kalogrias, Makedonien, S. 86.

nazistikì stratìpedo,

To

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Abb. 3: Ein Teil des Hofes des ehemaligen Polizeihaftlagers Pavlos Melas. Foto: Stratos N. Dordanas, 2009.

kra, Virsodepsia, Diavata, Gouzmenissa-Kilkis und Gefira insgesamt 440 Personen hingerichtet. Als Verantwortliche für die Exekutionen im Jahre 1944, dem Jahr, in dem die meisten Hinrichtungen durch die Sicherheitspolizei/den Sicherheitsdienst (Sipo/SD) von Thessaloniki durchgeführt wurden, nannte Glastras den SS-Sturmbannführer Alfred Grün, den Oberscharführer derselben Dienststelle Toni Kramer und den Unteroffizier der 621. Einheit der GFP Rudi Albert.19 Dieselben Namen gab in seiner Aussage von 1946 auch Themistoklis Arnopoulos an, der als Leutnant der griechischen Polizei in der Wachmannschaft des Lagers gedient hatte. Gleiches sagte Arnopoulos auch über die Exekution von Gefangenen aus, wobei er viele Gefangene namentlich erwähnte, die als Vergeltung für Guerillaanschläge hingerichtet worden waren.20

19 Vgl. Bundesarchiv-Außenstelle Ludwigsburg, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen (Zst), V 508 AR 1409/67: Eidliche Vernehmung Georgiou G., Thessaloniki, 30.11.1945. Wie Glastras bei seiner Vernehmung angab, waren die Daten und die Zahl der Exekutionen vermutlich nicht exakt, da er nur diejenigen anführte, an die er sich erinnern konnte, nachdem das Archiv des Gefängnisses durch die prokommunistische Guerillaorganisation ELAS (Griechische Volksbefreiungsarmee) vernichtet worden war und Angaben über Exekutionen etc. folglich nicht mehr zur Verfügung standen. 20 Vgl. Zst, V 508 AR 1411/67: Beeidigte Vernehmung Themistokli A., Paranesti-Drama, 24.6.1946.

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Wenn auch das größte, so war das Polizeihaftlager Pavlos Melas doch nicht das einzige Gefängnis, das während der Besatzungszeit existierte und den Exekutionskommandos Geiseln lieferte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Aussage des ehemaligen Leiters des 1. Büros der GFP in Thessaloniki, Paul Härtel, zu erwähnen. Sie entstand nach dem Krieg während eines von der bundesdeutschen Justiz geführten Ermittlungsverfahrens: »Das Gefängnis PAVLA-MEHLAS war wohl von dem deutschen Militärbefehlshaber eingerichtet worden, wurde aber von den Griechen selbst verwaltet und bewacht. Das Gefängnis Eptapyrgion war ein altes griechisches Gefängnis (früheres Kastell) und unterstand ausschliesslich den Griechen in Bewachung und Verwaltung. Unsere Einheit hatte ihre Gefangenen in Paul Melas und in einem GFP-Gefängnis in Saloniki, dies war eine Villa, die als Gefängnis eingerichtet war. Schwere Fälle, die vom Kriegsgericht abgeurteilt waren, insbesondere zum Tode Verurteilte, wurden nach Eptapyrgion gebracht [...]. Der Strafvollzug in Pavla Melas ist meiner Ansicht nach recht grosszügig durchgeführt worden zum Beispiel wurden jeweils zu Führer’s Geburtstag alle Gefangenen, die weniger als 2 Jahre zu verbüssen hatten, amnestiert. Im Gefängnis Eptapyrgion befanden sich Griechen, die von griechischen Gerichten verurteilt waren und solche Personen, die vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt waren und auf ihre Hinrichtung warten mussten. Die anderen Gefängnisse waren nicht völlig ausbruchsicher.«21

Härtel lieferte wichtige Informationen über die Gefängnisse und Polizeigefängnisse, die während der Besatzungszeit in Thessaloniki eingerichtet worden waren. Er schwieg indes zu allem, was mit den Vernehmungsmethoden und den Exekutionen von Gefangenen zu tun hatte. Außer dem Polizeihaftlager Pavlos Melas, das unter der Aufsicht des SD stand, »beherbergte« eine andere Einrichtung, das bekannte Vorkriegsgefängnis von Eptapyrgion, auch während der Besatzung weiterhin Gefangene, die nach griechischer Rechtsprechung Straftaten des gemeinen Strafrechts verübt hatten und denen keine feindlichen Aktivitäten gegen die deutsche Besatzungsarmee angelastet wurden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass diese Gefangenen von deutschen Repressalien ausgenommen waren. Der Gefängnisdirektor Dimitrios Papadimitropoulos erinnerte sich nach der Okkupation an zahlreiche Fälle von Gefangenen, die von Männern der GFP, darunter auch solchen von der Dienststelle Härtels, abgeholt worden waren, wenn

21 Zst, V 508 AR 1698/67: Amtsgericht Mellrichstadt, Beschuldigten-Vernehmung Paul H., Gs. 37/58, Mellrichstadt, 6.6.1958.

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die Anzahl der aus dem Lager Pavlos Melas Ausgewählten zu ergänzen war.22 Am 2. September 1944 wurde das Gefängnis von Eptapyrgion auf deutschen Befehl hin geschlossen, die griechischen Wachen wurden freigestellt und die ungefähr 210 Gefangenen ins Lager Pavlos Melas gebracht.23 Das Gefängnis Eptapyrgion stand zwar – genau wie das Lager Pavlos Melas – unter strenger deutscher Aufsicht, das Gefängnispersonal war jedoch griechisch. Bei zwei anderen Gefängnissen, die von der GFP errichtet und kontrolliert wurden, ohne dass die griechischen Behörden Zutritt zu ihnen hatten, war dies nicht der Fall. Das erste befand sich im Gebäude der vormaligen Psychiatrischen Klinik Vagianou im Stadtteil Analipseos, das zweite in der Italiasstraße. Letzteres war auch als Gefängnis »510« bekannt, benannt vermutlich nach der 510. Einheit der GFP, die für einige Zeit in Thessaloniki stationiert war.24 Die Männer der GFP hatten unmittelbaren Zutritt zu allen Gefängnissen, denn ihnen war die Aufgabe übertragen worden, die Gefangenen zu verhören. Es hing von ihrem Urteil ab, was mit den Verhörten geschah. Die über diese Verhöre angefertigten Berichte gelangten üblicherweise in die Hände der Richter des deutschen Militärgerichts, welche letztlich über das Schicksal der Gefangenen zu entscheiden hatten. Diese Vorgehensweise wurde jedoch in zahllosen Fällen umgangen. Dazu machten die Offiziere und Unteroffiziere der GFP einfach ein rotes Kreuz hinter den Namen jener Person, die für die Hinrichtung ausgewählt worden war. Das Verfahren zur Auswahl der Gefangenen ist im Einzelnen in der Vernehmungsniederschrift des ehemaligen Unteroffiziers der 621. GFP-Einheit beschrieben worden: »Ich hatte Ende 1943 oder anfangs 1944 einen griechischen Gefangenen zu vernehmen, der im Verdacht stand, Partisan und Kommunist gewesen zu sein. Bei einer dieser Vergeltungsaktionen zeigte mir mein damaliger Sekretariatsleiter Obersekretär SCHIKOWSKI [...] eine Liste[,] das heißt er fragte mich, wen ich zu vernehmen hatte. Ich zeigte ihm die Liste, auf der die Leute standen, die ich zu vernehmen bzw. gegen die ich zu ermitteln hatte. Auf dieser

22 Vgl. Zst, V 508 AR 1411/67: Beeidigte Vernehmung Themistokli A., Paranesti-Drama, 24.5.1946. 23 Vgl. ebd.; Kaftantzis, Bd. 2, S. 294, S. 304, S. 306. 24 Vgl. auch Efstratios N. Dordanas, [Deutsche Besatzungsbehörden und griechische Verwaltung], in: Vasilis K. Gounaris/Petros Papapoliviou (Hg.), [Der Blutzoll im besetzten Thessaloniki. Fremdherrschaft, Widerstand und Überleben], Thessaloniki 2001, S. 91-121, hier S. 96.

To nazistikì stratìpedo, Germanikèc arqèc Katoq c kai ellhnik  dioÐkhsh

O fìroc tou aÐmatoc sthn katoqik  JessalonÐkh. Xènh kuriarqÐa, antÐstash kai epibÐwsh

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Liste stand auch der oben erwähnte Grieche. Der Sekretariatsleiter ließ sich die Liste geben und machte hinter den Namen des erwähnten Griechen ein Kreuz. Auf meine Frage[,] was das soll, antwortete der Sekretariatsleiter, dieser Mann würde erschossen. Auf meine Einwände, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen und gar nicht erwiesen sei, dass dieser Mann schuldig ist, erhielt ich gar keine richtige Antwort. Ich nehme an, kann es aber nicht belegen, dass SCHIKOWSKI Befehl hatte, einen Gefangenen zu benennen, der wegen irgendwelcher Vorfälle zur Abschreckung erschossen werden sollte«.25

Oft holten die Männer der GFP die Gefangenen aus dem Lager Pavlos Melas, brachten sie in das Gebäude der vormaligen Klinik Vagianou zum Verhör, verhörten sie dann erneut in dem Gebäude in der Tsimiski-Straße 72, in dem die 621. GFP-Einheit ihren Standort hatte und in dessen Kellergeschoss sich Verwahrungszellen befanden, um sie sodann wieder ins Lager zurückzubringen. Hunderte von Menschen wurden während der Besatzungszeit in den Gefängnissen und Polizeigefängnissen von Thessaloniki verhört. Es wird geschätzt, dass rund 850 Personen an den damals gebräuchlichen Hinrichtungsstätten hinter dem Gefängnis von Eptapyrgion und in der Landwirtschaftsschule, auf dem Flugplatz Mikra und bei dem als Kokkino Spiti bekannten Gebäude in der Siedlung Doxa, im Schlachthof und am Fluss Gallikos in der Nähe von Diavata von der deutschen Besatzungsmacht und ihren griechischen Kollaborateuren exekutiert wurden.26 Erst nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen aus Griechenland im Oktober 1944 ging diese Schreckensära zu Ende. Das Lager Pavlos Melas wurde aufgelöst und die noch darin verbliebenen Insassen freigelassen. Nach der Befreiung diente Pavlos Melas der linksrevolutionären Guerillabewegung Ελληνικός/Εθνικός Λαϊκός Απελευθερωτικός Στρατός (Griechische Volksbefreiungsarme, ELAS) als Sammellager für echte und vermeintliche Kollaborateure sowie »Volksfeinde«. Unter ihnen befanden sich bedeutende Vertreter der Staatsadministration wie der Generalgouverneur von Makedonien, Oberst Athanasios Chrysochoou, aber auch Mitglieder der bürgerlich-konservativ orientierten Widerstandsgruppe Υπερασπισταί Βορείου Ελλάδος/Πανελλήνια 25 Vgl. Zst, StA Schweinfurt, 1a Js 22/68, Ia: Landespolizeidirektion Südbaden, Kriminalhauptstelle, Vernehmung Walter W., Münzingen, 27.11.1968. 26 Vgl. Vasilis K. Gounaris/Petros Papapoliviou, Ektelèseic, bÐa kai asitÐa sth JessalonÐkh thc katoq c. 'Ereuna kai katagraf  [Exekutionen, Gewalt und Unterernährung im besetzten Thessaloniki. Forschung und Registrierung], in: Gounaris/Papapoliviou (Hg.), O fìroc tou aÐmatoc, S. 135-152, hier S. 143.

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Απελευθερωτική Οργάνωσις (Verteidiger Nordgriechenlands/Panhellenische Befreiungsorganisation, YVE/PAO). Von hier aus wurden Hunderte von Menschen in abgelegene Geisellager der Kommunisten nördlich von Thessaloniki geschickt.27 Nach der Demobilisierung der ELAS im Februar 1945 wurde Pavlos Melas von staatlicher Seite wieder als Gefängnis benutzt. Neben Kollaborateur/innen wurden hier auch Angehörige und Sympathisant/innen der ELAS unter dem Vorwurf festgehalten, sich an Verbrechen gegen nichtkommunistische Oppositionelle vor und während der Zeit der KKE-Herrschaft (November 1944 bis Januar 1945) beteiligt zu haben. Das Lager stand erneut für Unfreiheit und Unterdrückung. Während des Bürgerkriegs (19461949) wurde es an das griechische Heer zurückgegeben und in den folgenden Jahren in seiner ursprünglichen Funktion als Militärkaserne benutzt.

Zum Umgang mit dem ehemaligen Polizeihaftlager in der Nachkriegszeit In der Nachkriegszeit fanden in Griechenland keine öffentlichen Diskussionen über die Bedeutung und Rolle der Militärkaserne als Polizeihaftlager während der deutschen Besatzungszeit statt. Die Überlebenden wollten oder konnten sich nicht über ihre schrecklichen Erlebnisse äußern. Die unangenehme, das Ziel der nationalen Geschlossenheit des Volkes »gefährdende«28 Zusammenarbeit griechischer und deutscher Stellen im Lager sowie die herrschende Politik des »Vergessens« – eine wahrscheinlich unvermeidbare Folge der traumatischen Erfahrung der Okkupation und des Bürgerkriegs –, die von der politischen Klasse des Landes verordnet wurde, ließen eine historische Aufarbeitung der Geschichte des Lagers nicht zu. Für die Geschichtswissenschaft waren die Okkupationsereignisse ein absolutes Tabu. Es fanden keine öffentlichen Vorträge und Tagungen zu diesem Thema statt. In der Presse wurde über das Lager nicht berichtet. Auch in

27 Vgl. Kalogrias, Makedonien, S. 331. 28 Die Kollaboration griechischer Stellen mit der deutschen Besatzungsmacht wurde tabuisiert. Stattdessen wurde behauptet, das Volk sei geschlossen gegen die Besatzer gewesen, was den historischen Gegebenheiten nicht entsprach. Wenn es eine historische Aufarbeitung gegeben hätte, hätte man auf das Thema der Kollaboration eingehen müssen und damit den nationalen Mythos von der Geschlossenheit des Volkes in Frage gestellt.

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Kunst und Kultur, in Bereichen also, die traditionell mehr Freiräume besaßen, fand keine Auseinandersetzung mit der »dunklen Zeit« des Lagers statt. Weder Literatur noch Theater oder Film beschäftigten sich mit der Geschichte des Ortes und dem Schicksal der Häftlinge, die als »Todeskandidaten« in ihren Zellen auf ihre letzte Stunde gewartet hatten. Und die offiziellen Staatsrepräsentanten, vor allem die amtlichen Funktionsträger in Thessaloniki, schwiegen: Es gab keine Gedenktage, keine Kranzniederlegungen, keine Erinnerungsstätte, keinen einzigen Hinweis auf die frühere Existenz des Lagers, das aus der kollektiven Erinnerung getilgt wurde. Als die Obristen 1967 putschten und eine Militärdiktatur errichteten, waren die demokratischen Voraussetzungen für eine historische Aufarbeitung der problematischen Vergangenheit nicht mehr gegeben. Der Sturz der Obristendiktatur und die Wiederherstellung der Demokratie 1974, in Zusammenhang mit einer durch die Linke hervorgerufenen Revidierung des bis dahin geltenden antikommunistischen Bildes der Besatzungszeit und des Bürgerkriegs,29 schienen der Erforschung und Aufarbeitung der vierziger Jahre auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet Tür und Tor zu öffnen. In der Tat wurden seitdem zahllose Bücher veröffentlicht, in den Zeitungen erschienen ganze Artikelserien, und sogar die ehemaligen Angehörigen der Widerstandsbewegung meldeten sich zu Wort. Historische Aufarbeitung war zunächst eine Sache des Journalismus, erst in den 1980er Jahren folgte die Geschichtswissenschaft. Kino und Theater konnten mit dieser Entwicklung Schritt halten, und auch die Literatur trug ihren Teil zur Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit bei.30 Nach dem Wahlsieg der Πανελλήνιο Σοσιαλιστικό Κίνημα (Panhellenische Sozialistische Bewegung, PASOK) im Jahr 1981 wurde auch der Staat

29 Nach dem Ende der deutschen Besatzungszeit war die politische Lage in Griechenland immer noch explosiv. Ende 1946 organisierte die KKE den bewaffneten Aufstand gegen das parlamentarische Regierungssystem. Ihr militärischer Arm, die (Demokratische Armee Griechenlands, DSE), wollte die Errichtung einer »Volksrepublik« erkämpfen. Der Aufstand endete schließlich mit der verlustreichen Niederlage der kommunistischen Guerillabewegung im Grammos-Gebiet im August 1949. Vgl. Matthias Esche, Die Kommunistische Partei Griechenlands 1941-1949, München/Wien 1982. 30 Beispielsweise der bekannte Film des Regisseurs Nikos Tzimas [Der Mann mit der Nelke] aus dem Jahr 1980. Aus der Literatur dieser Zeit sind die Werke von Dimitris Chatzis, [Das Doppelte Buch] aus dem Jahr 1976 sowie Nikos Gatzogiannis, [Eleni] aus dem Jahr 1983 zu erwähnen. Letzteres erschien zuerst in englischer Sprache und wurde ein internationaler Erfolg.

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aktiv und setzte sich für die Anerkennung der Verdienste der Widerstandsbewegung ein (wobei hier auch die Überlegung eine wichtige Rolle spielte, Sympathie und Stimmen der kommunistischen Linken zu gewinnen): Kulturelle Veranstaltungen, Ausstellungen und Gedenktage wurden mit finanzieller Hilfe staatlicher Behörden organisiert. Bald stellte das Widerstandsbild der Linken die offizielle Version der griechischen Geschichte der vierziger Jahre dar. Was nicht ins Schema des »antifaschistischen Kampfes« passte, etwa die Existenz und Tätigkeit der bürgerlichen Widerstandsgruppen und -kreise, wurde einfach ignoriert. Trotz des wachsenden Interesses an der Geschichte der deutschen Besatzungszeit fand das ehemalige Polizeihaftlager Pavlos Melas selten Erwähnung. Der Mangel an aussagekräftigen Dokumenten war sicherlich eine wichtige Ursache dafür. Während das berüchtigte Athener Lager Chaidari31 dank einer Reihe von Gedenkveranstaltungen der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, blieb dem Lager Pavlos Melas zunächst die ihm gebührende Aufmerksamkeit versagt. Die Stadtverwaltung sowie nichtstaatliche Institutionen und Kulturvereine in Thessaloniki interessierten sich nicht für die Umwandlung des ehemaligen Lagers in eine Erinnerungsstätte, was vom Fehlen von Geschichtsbewusstsein, Mut und Engagement zeugt. Dasselbe gilt für den Umgang mit einem anderen »dunklen Kapitel« aus der Besatzungszeit, der Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Thessaloniki in Auschwitz. Erst nach fünf Jahrzehnten des Schweigens stand die Militärkaserne Pavlos Melas im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Anfang 2000 beschloss das griechische Verteidigungsministerium den Abzug aller Militäreinheiten aus den großen Städten. Die Gelände, auf denen sie stationiert waren, sollten den zuständigen Gemeinden überlassen werden. Im Fall der Kaserne Pavlos Melas begann der Abzug der Militäreinheiten 2003 und endete zwei Jahre später. Obwohl die Kommandantur und das Militärgefängnis an diesem Ort geblieben sind, befindet sich die Kaserne, die sich über eine Fläche von 34 Hektar erstreckt, heute in einem Zustand des Verfalls. Bisher sind keine Maßnahmen ergriffen worden, um den Erhalt des Gebäudes zu gewährleisten. Das künftige Schicksal des Ortes ist derzeit ungewiss. Pläne zur Einrichtung einer Filiale der Sozialversicherungsanstalt IKA oder ei-

31 Vgl. Themos Kornaros, Vor den Toren Athens: Chaidari, in: Dachauer Hefte 5 (1989), S. 214-222.

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nes Rathauses finden nicht überall auf der lokalen Verwaltungsebene Zustimmung. Bemerkenswerterweise gibt es keine Fürsprecher/innen – auch seitens der Kommunistischen Partei nicht – der Idee, das ehemalige Lager als Ort der Erinnerung zu bewahren bzw. zu pflegen. Nach einem Vorschlag der angrenzenden Stadtgemeinde Stavroupolis-Thessaloniki zum Beispiel, welche die Räume des ehemaligen Lagers beansprucht, soll die Bebauung und Zementierung der freien Flächen vermieden werden, der Straßenverkehr aus dem Gelände verbannt bleiben und der Anteil von Grünflächen vergrößert werden. Den Kern des veröffentlichten Vorschlags bildet die Schaffung eines Parks Pavlos Melas, der Fußgänger/innen und Radfahrer/innen vorbehalten bleiben soll. Was die bestehenden Gebäude betrifft, die unter Denkmalschutz gestellt wurden, wird eine »geschichtsbetonte« Nutzung vorgeschlagen: Vorgesehen ist, darin Museen (etwa zur Geschichte der griechischen Flüchtlinge aus Kleinasien und des nationalen Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht), Zentren zur Erforschung der städtischen Umwelt, aber auch künstlerische Werkstätten wie ein Theater einzurichten. Die Grundidee des Vorschlags lässt sich in folgenden Zeilen zusammenfassen: »Der Park Pavlos Melas kann zum Hof des westlichen Thessaloniki werden, in welchem die natürliche Umwelt sowie die Geschichte der Umgebung herausgestellt werden, ein Ort zur Erforschung und Anwendung alternativer Energiequellen, eine lebendige Landschaft der Umwelterziehung, ein autofreier Raum, ein Pol sozialer Aktivitäten auf der Grundlage von Freizeitsport, Erholung und kultureller Betätigung.«32

In dem genannten Vorschlag wird besonderer Nachdruck auf die umweltfreundliche Nutzung des Ortes gelegt. Indes kann die Tatsache nicht übersehen werden, dass die Geschichte der Kaserne als Polizeihaftlager nur am Rande erwähnt wird und nicht als Grundlage für eine historische Aufarbeitung der damaligen Ereignisse und die Wahrung der Erinnerung dient. Auf Tagungen wurde bisher versucht, durch Vorträge zur Wahrung und Rückgewinnung der Gebäude und zum Ort der Kaserne einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit zu leisten. Diese Beiträge sind Bestandteil einer allgemeineren Diskussion über das Problem der heutigen Nutzung von griechischen Militärkasernen, die jahrzehnte-

32 Efi Sira (Architektin und assoziierte Mitarbeiterin der Gemeinde Stavroupolis), Vorstellung des Vorschlags der Gemeinde Stavroupolis in Form eines Referats auf der Webseite der Gemeinde: , 31.8.2010, Übersetzung durch die Autoren.

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lang Teil der Städte waren und inzwischen ihre ursprüngliche Funktion verloren haben.33 Auf jeden Fall sollte die Frage der Eingliederung des ehemaligen Lagers in das soziale Gewebe der Stadt nicht nur bestimmte Gemeinden beschäftigen – etwa wegen ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu diesem Ort –, sondern die ganze Stadt Thessaloniki und ihre Einwohner/innen. Leider gab und gibt es keine Gruppe oder Vertretung von ehemaligen Häftlingen, die sich für die Einrichtung einer Gedenkstätte im Lager Pavlos Melas stark machen könnte. Und wie bereits geschildert ist das Interesse der öffentlichen Institutionen, die Erinnerung an das Lager zu pflegen, ohnehin gering. Keine Gedenktafel vor dem Eingang der Kaserne erinnert zum Beispiel daran, dass für viele Menschen das Lager ein Ort des Schreckens und des Martyriums war. Ihre Namen bleiben weiterhin unbekannt. Auf diese Weise wird ihnen der wohlverdiente Respekt nicht gezollt; ihr Opfer wird nicht anerkannt, geschweige denn gewürdigt. Im heutigen Thessaloniki der Hochhäuser und des oft anarchischen Städtebaus gibt es für Belange dieser Art, die das kollektive Geschichtsbewusstsein seiner Einwohner/innen betreffen, offensichtlich keinen Platz.

Literatur

To katoqikì sullalht rio thc Alexˆndreiac (pr¸hn Gidˆ), 23 MartÐou 1944 [Die Volksversammlung von Alexandria (früheres

Dimitrios Th. Bellos,

Gidas) unter der Besatzung, 23. März 1944], Katerini 2005. Efstratios N. Dordanas, [Deutsche Besatzungsbehörden und griechische Verwaltung], in: Vasilis K. Gounaris/Petros Papapoliviou (Hg.), [Der Blutzoll

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33 Vgl. Angeliki Palli,

Khaki zum Grün«], Gemeinde Stavroupolis-Thessaloniki, 31.5.2007; Evangelia Kampouri, [Die ehemaligen militärischen Anlagen als historische Stätten. Der Fall der Kasernen P. Melas und Kodra in Thes[Tagung saloniki], »Kasernen in der Stadt: Hervorhebung und Nutzung«], TEE/TKM, Thessaloniki 2006. Wir bedanken uns herzlich bei Herrn Dimos Chloptsioudis für den Hinweis auf diese beiden Referate.

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Polizeihaftlager Pavlos Melas

im besetzten Thessaloniki. Fremdherrschaft, Widerstand und Überleben], Thessaloniki 2001, S. 91-121. Stratos N. Dordanas, [Griechen gegen Griechen. Die Welt der Sicherheitsbataillone im besetzten Thessaloniki, 1941-1944], Thessaloniki 2006. Stratos N. Dordanas, [Das Blut der Unschuldigen. Vergeltungsmaßnahmen der deutschen Besatzungsbehörden in Makedonien, 1941-1944], Athen 2007. Matthias Esche, Die Kommunistische Partei Griechenlands 1941-1949, München/Wien 1982. Hagen Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, in: Werner Röhr (Bearb.), Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938-1945), Berlin/Heidelberg 1994, S. 377-396. Vasilis K. Gounaris/Petros Papapoliviou, [Exekutionen, Gewalt und Unterernährung im besetzten Thessaloniki. Forschung und Registrierung], in: Vasilis K Gounaris/Petros Papapoliviou (Hg.), 'Ellhnec

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[Der Blutzoll im besetzten Thessaloniki. Fremdherrschaft, Widerstand und Überleben], Thessaloniki 2001, S. 135-152. Giorgos Kaftantzis (Hg.), kai

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[Das nazistische Konzentrationslager Pavlos Melas in Thessaloniki von 1941-1944, wie es die Geisel Leonidas Giasimakopoulos (Gefangenennummer 4436) erlebte und beschreibt], 2 Bde., Thessaloniki 1999. Vaios Kalogrias, Okkupation, Widerstand und Kollaboration in Makedonien 1941-1944, Mainz/Ruhpolding 2008. Evangelia Kampouri, lak c 4436)

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[Die ehemaligen militärischen Anlagen als historische Stätten. Der Fall der Kasernen P. Melas und Kodra in Thessaloniki], [Tagung »Kasernen in der Stadt: Hervorhebung und Nutzung«], TEE/TKM, Thessaloniki 2006. Jon v. Kofas, Authoritarianism in Greece. The Metaxas Regime, New York 1983. Themos Kornaros, Vor den Toren Athens: Chaidari, in: Dachauer Hefte 5 (1989), S. 214-222. Spiros Lazaridis, [Vom Vardaris bis zum Derveni. Historische Bestandsaufnahme bis 1920], Thessaloniki 1997. salonÐkh

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Vaios Kalogrias und Stratos N. Dordanas

Stratìpedo PaÔlou Melˆ: MetasqhmatismoÐ tou q¸rou apì ta tèlh tou 19ou ai. wc s mera [Die Kaserne Pavlos Melas: Transformationen des Ortes vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute], HmerÐda gia to stratìpedo tou PaÔlou Melˆ }Apì to qakÐ sto prˆsino{

Angeliki Palli,

[Tagung zur Kaserne Pavlos Melas »Vom Khaki zum Grün«], Gemeinde Stavroupolis-Thessaloniki, 31. Mai 2007. Parmenion I. Papathanasiou,

Gia ton Ellhnikì Borrˆ. MakedonÐa 19411944. AntÐstash kai tragwdÐa. To anèkdoto arqeÐo-hmerolìgio tou (tìte) Tagmatˆrqh Giˆnnh PapajanasÐou [Für den griechischen Norden. Makedonien 1941-1944. Widerstand und Tragödie. Das unveröffentlichte Archiv-Tagebuch des (damaligen) Majors Giannis Papathanasiou], Bd. 1, Athen 2. Aufl., 1997.

Autorinnen und Autoren Dr. Stratos N. Dordanas, Historiker, Thessaloniki, Promotion an der Aristoteles Universität in Thessaloniki. Lehrt derzeit Neuere und Neueste Geschichte an der Abteilung Balkanstudien der Universität von Westmakedonien in Florina. Andreas Ehresmann, Dipl.-Ing. Architektur, Studium der Politikwissenschaft und der Geschichtswissenschaft, Hamburg, Leiter der Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel. Promotionsprojekt an der Universität Hamburg zur Baugeschichte des KZ Neuengamme. Iris Helbing, M.A., Historikerin, Berlin, Stipendiatin der Friedrich Ebert Stiftung, Lehrbeauftragte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Promotionsprojekt zum Schicksal polnischer Displaced Persons in den westlichen Besatzungszonen. Christian Herrnbeck, Fotograf, Berlin. Stefan Hördler, M.A., Historiker, Berlin, Dissertationsprojekt zum Thema: »Die Schlussphase des Konzentrationslagersystems. Personalpolitik und Vernichtung«. Dr. Vaios Kalogrias, Historiker, Königstein, Promotion an der Johannes Gutenberg Universität Mainz zum Thema: »Okkupation, Widerstand und Kollaboration in Makedonien 1941-1944«. Dr. Judith Kasper, Literaturwissenschaftlerin und Philosophin, Venedig/München, Gastdozentin am Institut für Romanische Philologie der Universität München, Habilitationsprojekt zum Thema: »Der traumatisierte Raum. Topographie, Dissemination und Übertragungen des Holocaust«. Alexandra Klei, Dipl.-Ing. Architektur, Berlin, 2010 Promotion an der BTU Cottbus zum Thema: »Der erinnerte Ort. Funktion und Bedeutung der Architektur nationalsozialistischer Konzentrationslager für die Abbildung und Präsentation von Geschichte«. Claus Kröger, M.A., Historiker, Bielefeld, Promotionsprojekt an der Universität Bielefeld zum Thema: »Kommerz, Kultur und Politik – die Politisierung des westdeutschen Buchhandels in den langen 1960er Jahren«.

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Autorinnen und Autoren

Angela Martin, Historikerin, Berlin, freie Journalistin mit den Schwerpunkten NS-Zwangsarbeit, DDR-Kulturpolitik und Geschichte Berlins, zahlreiche Projekte mit der Berliner Geschichtswerkstatt. Claudia Nickel, M.A., Romanistin, Hamburg, 2010 Promotion an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zur literarischen Repräsentation der südfranzösischen Lager in den Werken spanischer Internierter. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Hamburg. Agata Pietrasik, M.A., Kunsthistorikerin, Warschau, Promotionsprojekt an der Universität Warschau über die polnische Kunst in der unmittelbaren Nachkriegsperiode und ihre Beziehung zum Krieg. Cornelia Siebeck, M.A., Historikerin und Publizistin, Berlin, Stipendiatin der Hans Böckler Stiftung, Promotionsprojekt an der RuhrUniversität Bochum zum Thema: »›Oh Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen ...‹. Ort – Ideologie – Gedächtnis – Subjekt. Ein deutschdeutscher Erinnerungsort wird besichtigt«. Hanna Sjöberg, Master of Fine Arts, Bildende Künstlerin, Berlin, Themen-Ausstellungen u.a.: »z.B. Bosch. Zwangsarbeit für eine Rüstungsfabrik in Kleinmachnow«. Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide, 2008 und »... auf dem Boschgelände«. Rathaus Kleinmachnow, 2006 (in Zusammenarbeit mit Angela Martin). Dr. Katrin Stoll, Historikerin, Bielefeld und Warschau, 2008 Promotion an der Universität Bielefeld zum Thema »Strafverfahren gegen ehemalige Angehörige der Sicherheitspolizei für den Bezirk Bialystok«. Postdoc-Projekt am Deutschen Historischen Institut Warschau zum Thema: »Szymon Datner: Tatzeuge und Historiker der NS-Vernichtungspolitik in Polen«. Helen Whatmore, M.A., Historikerin, London, Promotionsprojekt am University College London zum Thema »Co-existence with a concentration camp in Western European countries under Nazi rule«. Annika Wienert, M.A., Kunsthistorikerin, Bochum, Stipendiatin der Research School Bochum. Promotionsprojekt zum Thema: »Die Architektur der nationalsozialistischen Vernichtungslager«. Karsten Wilke, M.A., Historiker, Bielefeld, Promotionsprojekt an der Universität Bielefeld zum Thema: »Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG) 19501990«.

Abkürzungsverzeichnis

ABR ADAGP AEL AGB AGFl AIN ANg APMA-B

ArchLi B.N.F. BArchB BArchL BDC BGE BGW BHIC BLHA BStU

BVer CChIDK CERD DESt DLMG DNVP DP

Archives du Bas Rhin Société des Auteurs dans les Arts Graphiques et Plastiques Arbeitserziehungslager Archiv der Gedenkstätte Buchenwald Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Amicale International de KZ Neuengamme Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Archiwum Panstwowego ´ Muzeum Auschwitz-Birkenau w O´swi˛ecimiu / Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau Archiv der KZ-Gedenkstätte Lichtenburg Bibliothèque Nationale de France Bundesarchiv Berlin Bundesarchiv Ludwigsburg Berlin Document Center Bergedorf-Geesthachter-Eisenbahn Berliner Geschichtswerkstatt Brabants Historisch Informatie Centrum Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik »Berufsverbrecher«/Vorbeugehäftling(e) Centr Chranenija Istoriko-dokumental’nych Kollekcij / ehem. russisches Sonderarchiv Centre Européen du Résistant Déporté / Centre for Deported Resistance Fighters Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH Dreilinden Maschinenbau GmbH Deutschnationale Volkspartei Displaced Person(s)

312 DSE EEB E.E.E. ELAS FEK FL Gestapa Gestapo GFP GStAPK HAHuB HAVuW HSSPF IAC IBV ICA IKL IKL/FWV ITS KJVD KKE KL, K.L. KPD KZ LG LHASA, MD LHASA, MER LNF LPG LSK/LV

Abkürzungsverzeichnis

Δημοκρατικός Στρατός Ελλάδας / Demokratische Armee Griechenlands Elbe- und Elster-Bote Τρία ΄Εψιλον / Tria Epsilon

Ελληνικός/Εθνικός Λαϊκός Απελευθερωτικός Στρατός / Griechische Volksbefreiungsarmee Φύλλο Εφημερίδας Κυβερνήσεως / Griechisches Regierungsblatt Flossenbürg Geheimes Staatspolizeiamt Geheime Staatspolizei Geheime Feldpolizei Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem Hauptamt Haushalt und Bauten Hauptamt Verwaltung und Wirtschaft Höherer SS- und Polizeiführer International Auschwitz Committee Internationale Bibelforscher-Vereinigung Institute of Contemporary Art in London Inspektion der Konzentrationslager Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Wachverbände International Tracing Service / Internationaler Suchdienst des Roten Kreuzes Bad Arolsen Kommunistischer Jugendverband Deutschland Κομμουνιστικό Κόμμα Ελλάδας / Kommunistische Partei Griechenlands Konzentrationslager Kommunistische Partei Deutschlands Konzentrationslager / concentration camp Landgericht Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Merseburg Landwirtschaftliche Nutzfläche Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Landstreitkräfte/Luftverteidigung

Abkürzungsverzeichnis M. MfS NARA Nat.Soz. NMKV NS NSBDT NSDAP NVA o.D. o.O. o.P. OKH OKW o. Sig. PAO PASOK PfArchP RM ROA RStGB RTHA RuSHA SächsHStA SED SGBuM-D Sipo/SD SOE SS-OA SS-TV SSO SSPF StArchP StHH USHMM VEAB

313

Maßstab Ministerium für Staatssicherheit der DDR National Archives and Record Administration, USA Nationalsozialismus Nationaal Monument Kamp Vught Archive Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistischer Bund Deutscher Techniker Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationale Volksarmee ohne Datum ohne Ortsangabe ohne Pagina Oberkommando des Heeres Oberkommando der Wehrmacht ohne Signatur Πανελλήνια Απελευθερωτική Οργάνωσις / Pangriechische Befreiungsorganisation Πανελλήνιο Σοσιαλιστικό Κίνημα / Panhellenische Sozialistische Bewegung Pfarrarchiv Prettin Reichsmark Russische Befreiungsarmee Reichsstrafgesetzbuch Rothau Town Hall Archive Rasse- und Siedlungshauptamt der SS Sächsisches Hauptstaatsarchiv Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Sicherheitspolizei/Sicherheitsdienst Special Operations Executive SS-Oberabschnitt SS-Totenkopfverbände SS-Offizier / SS-Officer SS- und Polizeiführer Stadtarchiv Prettin Staatsarchiv Hamburg-Harburg United States Holocaust Memorial Museum Volkseigener Erfassungs- und Aufkaufbetrieb

314 VEG VHA VOMI WB WVHA YVE ZBL Zst

Abkürzungsverzeichnis Volkseigenes Gut Vojenský Ústˇrední Archív v Praze/Vojenský Historický Archív / Militärhistorisches Archiv Prag Volksdeutsche Mittelstelle Wehrmachtsbefehlshaber Südost Wirtschaftsverwaltungshauptamt Υπερασπισταί Βορείου Ελλάδος / Verteidiger Nordgriechenlands Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen

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