Orte der Imagination - Räume des Affekts: Die mediale Formierung des Sakralen 377055955X, 9783770559558

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Orte der Imagination - Räume des Affekts: Die mediale Formierung des Sakralen
 377055955X, 9783770559558

Table of contents :
Orte der Imagination – Räume des Affekts: Die mediale Formierung des Sakralen
Inhalt
Einleitung
I. PILGERSCHAFT
In Kontakt mit den Allerheiligsten Zur frühchristlichen Inszenierung der Heilsorte in der Jerusalemer Grabeskirche
Räume des Heils Die narrative Repräsentation des Heiligen in lateinischsprachigen Pilgerberichten des 12. Jahrhunderts
Sinn und Simulacra Die Manipulation der Sinne in mittelalterlichen ‚Kopien‘ Jerusalems1
Visionäre Räume Die ‚Irrfahrten‘ des Christoph Kotter
II. Sakrale Räume
Ikone und Raum Die Konstituierung des Heiligen
Kartierte Immersion Ein Versuch zum imaginären Raum der Ebstorfer Weltkarte
Leid und Licht Strategien der Imagination in der Jerusalemkapelle zu Brügge
Licht am Altar Formierung von sakralen Räumen und Zeiten durch Kerzenlicht in der Zeit der Romanik1
‚In spiritu et corpore‘ Affekt und Imagination romanischer Skulpturenräume
III. SEELENUMGEBUNGEN
Baupläne der Andacht Meditative Architekturen in der nordalpinen Manuskriptkultur des Spätmittelalters
Sich selbst sehen – der Betrachter in und vor dem Bild Spiegelund Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15. Jahrhunderts*
Die Inner(welt)lichkeit des Gartens im 16. Jahrhundert Der Garten als Thema und Ort der Meditation
Die Einsiedelei als topischer Ort Johan und Raphael Sadelers Eremiten-Darstellungen
IV. URBANE UND LOKALE SAKRALISIERUNG
Holy blood, sacred city Naples and San Gennaro, a multisecular story1
Sounds of Urban Memory Music and Sacred Space in Medieval Abruzzi
Die Geburt des Purgatoriums im Medium legendarischen Erzählens*
Geschichtskonstrukte Die Erfindung des Kolosseums als Martyriumsort in Text und Architektur
V. TransFormationen Symbolischer Raumordnungen
Inszenierung und Transzendierung von Räumlichkeit im Passionsspiel
„was sall dir bedewtten der drawm?“ Theatralisierung als Sakralisierung im Heidelberger Passionsspiel
Der Papst ist schwanger Ein Raum für religiöses Tauziehen?
Sakrale Räume im Schwank
Zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister
Ortsregister

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Elke Koch ∙ Heike Schlie (Hg.) Orte der Imagination – Räume des Affekts

Elke Koch ∙ Heike Schlie (Hg.)

Orte der Imagination – Räume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen

Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Umschlagabbildung: Giotto di Bondone, Capella degli Scrovegni, Padua (Detail).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5955-8

Inhalt Elke Koch/Heike Schlie Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9 I. Pilgerschaft Ute Verstegen In Kontakt mit den Allerheiligsten. Zur frühchristlichen Inszenierung der Heilsorte in der Jerusalemer Grabeskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   31 Susanna E. Fischer Räume des Heils. Die narrative Repräsentation des Heiligen in lateinischsprachigen Pilgerberichten des 12. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . .   55 Laura D. Gelfand Sinn und Simulacra. Die Manipulation der Sinne in mittelalterlichen ‚Kopien‘ Jerusalems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   79 Anika Höppner Visionäre Räume. Die ‚Irrfahrten‘ des Christoph Kotter . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 II. Sakrale Räume Barbara Schellewald Ikone und Raum. Die Konstituierung des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119 Hartmut Bleumer Kartierte Immersion. Ein Versuch zum imaginären Raum der Ebstorfer Weltkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139 Nadine Mai Leid und Licht. Strategien der Imagination in der Jerusalemkapelle zu Brügge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  163 Linda Eggers Licht am Altar. Formierung von sakralen Räumen und Zeiten durch Kerzenlicht in der Zeit der Romanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195

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Inhalt

Eric Hold ‚In spiritu et corpore‘. Affekt und Imagination romanischer Skulpturenräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 III. Seelenumgebungen Cornelia Logemann Baupläne der Andacht. Meditative Architekturen in der nordalpinen Manuskriptkultur des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  253 Johanna Scheel Sich selbst sehen – der Betrachter in und vor dem Bild. Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . .  279 Michaela Bill-Mrziglod Die Inner(welt)lichkeit des Gartens im 16. Jahrhundert. Der Garten als Thema und Ort der Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  311 Martin Kirves Die Einsiedelei als topischer Ort. Johan und Raphael Sadelers Eremiten-Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  325 IV. Urbane und lokale Sakralisierung Brice Gruet Holy blood, sacred city: Naples and San Gennaro, a multisecular story . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  357 Francesco Zimei Sounds of Urban Memory. Music and Sacred Space in Medieval Abruzzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  371 Maximilian Benz Die Geburt des Purgatoriums im Medium legendarischen Erzählens . . . . . .  391 Erik Wegerhoff Geschichtskonstrukte. Die Erfindung des Kolosseums als Martyriumsort in Text und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  405

Inhalt

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V. Transformationen symbolischer Raumordnungen Ulrich Barton Inszenierung und Transzendierung von Räumlichkeit im Passionsspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  439 Jutta Eming „was sall dir bedewtten der drawm?“ Theatralisierung als Sakralisierung im Heidelberger Passionsspiel . . . . . . . . . .   461 Carla Dauven-van Knippenberg Der Papst ist schwanger. Ein Raum für religiöses Tauziehen? . . . . . . . . . . . .  481 Hans Jürgen Scheuer Sakrale Räume im Schwank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  513 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  519

Elke Koch und Heike Schlie

Einleitung I. Reliquiäre Medialität Gott wird in monotheistischen Religionen als ortlos gedacht, dennoch bezieht sich das religiöse Handeln ihrer Glaubensgemeinschaften auf sakrale Räume und heilige Stätten. Diese Praktiken sind als mediale Formierung des Sakralen zu beschreiben: als Zuschreibungen von Heiligkeit, die kulturell und historisch je unterschiedlichen Bedingungen unterliegen und auf verschiedene Weise Gestalt gewinnen. Das Ziel dieses Bandes ist es, zum Verständnis dieser Zuschreibungen in der christlichen Kultur des Mittelalters mit einem medientheoretischen Zugang beizutragen.1 Für die Untersuchung einer „Medialität des Heiligen“ ist festzuhalten, dass auch in der christlichen Theologie des Mittelalters sanctitas nicht als eine stets materiell zu denkende Medialisierung im Sinne kultureller Produktion aufgefasst wird. Zugleich aber binden zeitgenössische Frömmigkeitspraktiken Heiligkeit an Objekte oder Orte, und dies in einer Weise, dass diese Phänomene kulturgeschichtlich relevant werden und mit theologischen Kanonisierungen nicht zwingend kongruent sind. In den als christliche Kultur des Mittelalters weit umrissenen, heterogenen Kontexten, die im vorliegenden Band fokussiert werden, sind religiöse Raumpraktiken vielfach durch ein Grundmodell personaler Heiligkeit geprägt. Dem liegt als Paradigma das Konzept der Mittlerschaft Christi zugrunde; historisch wird es im Heiligenkult ausdifferenziert.2 Auch wenn die daraus herzuleitende mediale Logik nicht alle Aspekte der Formierung des Sakralen in Orten und Räumen erfasst, welche die christlichen Kulturen des Mittelalters im Westen und im Osten aufweisen, ist ihre Bedeutung doch so weitreichend und charakteristisch, dass wir sie zum Ausgangspunkt nehmen, um die Perspektiven dieses Bandes zu entfalten. Als eine von Gott gewährte virtus verbindet sich „Heiligkeit“ mit Menschen, die durch den Märtyrertod oder ein irdisches Wirken in der Nachfolge Christi zu Heiligen werden. Nach ihrem Tod verbleibt die virtus in den Überresten der heiligen Menschen: ihren Knochen, aber auch Dingen, die mit ihnen in Berührung gekommen sind und somit zu Sekundärreliquien werden, und nicht zuletzt auch an Orten, an denen sich Ereignisse der Heilsgeschichte zugetragen haben. Paradigmatisch gilt dies für die Schauplätze des Wirkens Christi. Aus der in diesem Band eingenommenen medientheoretischen Perspektive sind die Heiligen, ihre Reliqui   1 Unserem Verständnis von Heiligkeit unterlegen wir daher keine ontologischen Konzepte „des Heiligen“.    2 Zu Christus als Paradigma mittelalterlicher Medialität vgl. Kiening 2010.

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en und die heiligen Stätten in ihrer Eigenschaft als Träger der übertragbaren heiligen virtus als Medien aufzufassen.3 Die Logik, nach der sie als Träger von Heiligkeit gelten und in Praktiken entsprechend eingesetzt werden, bezeichnen wir als reliquiäre Medialität.4 Diese Medien werden ihrerseits in Praktiken eingebunden, welche ihre sakralisierende Kraft auf andere Objekte, Orte und Räume transferieren sollen. Diese Verbindung wird auch diskursiv hergestellt, in erster Linie aber durch institutionelle Formen wie Heiligsprechung, Liturgie, paraliturgische Rituale etc. Dabei können neben den reliquiären Medien des Heils weitere Medien ins Spiel kommen, die für die Sakralisierung nicht obligatorisch, sondern fakultativ sind. Um eine Reliquie für die Verehrung und die Kontaktaufnahme mit dem Heiligen auszustellen, bedarf es eines Gefäßes. Es muss dies aber kein Reliquiar mit einem Bildprogramm sein, welches die Herkunft der Reliquie und deren Heilswirksamkeit programmatisch visualisiert. Ein solches könnte man als medialen Überschuss bezeichnen: das Bildprogramm konstituiert bzw. produziert das Heilige nicht allererst oder aus sich selbst heraus, verleiht ihm aber eine visuelle Gestalt und macht es so als Heiliges nachvollziehbar und erfahrbar. Darüber hinaus vermag sich das Bildprogramm auf den Ort der Ausstellung, eine Kapelle etwa, zu beziehen, und das Material des Reliquiars kann an der affektiven Aufladung des Raumes beteiligt sein, der den Vollzugsrahmen für Rituale bildet, welche wiederum an der reliquiären Heilswirksamkeit ausgerichtet sind. Am Umgang mit den heiligen Stätten in Jerusalem lässt sich beobachten, wie der reliquiäre Status der Orte dadurch realisiert und forciert wird, dass vor allem durch Architektur und Liturgie komplexe, intermediale Formen entstehen, die affektive und imaginative Erfahrungsmöglichkeiten bereitstellen.5 Das Prinzip der Kontiguität bildet die Basis dafür, dass zwischen Heilsereignis und dem Ort, an dem es stattfindet, eine Verbindung hergestellt wird, welche die Heilswirksamkeit eines Ereignisses oder einer dort anwesenden Person auf den Ort überträgt; es bildet weiter die Basis dafür, dass diese Wirksamkeit sich in einer leib-räumlichen Nähe zu heiligen Objekten fortsetzt. Schließlich fundiert es den Transfer dieser Wirksamkeit über eine räumliche Distanz, indem transportable Teile die Kraft des Ganzen mit sich bringen.6 Doch nicht nur über äußerlich wahrnehmbare Zusammen   3 Damit sei keineswegs unterstellt, dass der heilsvermittelnde Status von Reliquien im mittelalterlichen Diskurs unumstritten gewesen sei. Doch verweist auch die Kritik, die etwa Guibert von Nogent übt, auf eine entsprechende Praxis der Medialisierung von Reliquien, die diese in Konkurrenz zu sakramentalen Heilsmedien führt. Vgl. dazu Aris 2010, 64–69. Zur Praxis Beissel 1991 [1890/1892]; Angenendt 2007.    4 Diese Sichtweise setzt einen Medienbegriff voraus, der Medien als materielle, semiotische und soziale Konfigurationen auffasst. Reliquien verstehen wir daher gerade nicht, wie Peter Strohschneider 2014, 176, vorschlägt, als „totale und vermittlungslose Präsenz desjenigen Heils in einer dauerhaften Form […], welches im Heiligen manifest geworden war“, sondern betonen, dass Reliquien – wie auch heilige Stätten – durch Schrift (Tituli, Hagiographie, Traktate), Artefakte (Reliquiare, Bilder) und Performanzen (Liturgie, Pilgerschaft) in ihrer heilsvergegenwärtigenden Funktion konfiguriert wurden.    5 Vgl. den Beitrag von Ute Verstegen im vorliegenden Band.    6 Vgl. Haferland 2009, bes. 65–67.

Einleitung

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hänge lassen sich solche kontiguitären Vermittlungen herstellen, sondern auch in der Imagination, wenn durch Simulacra heiliger Orte als identisch angenommene oder doch näherungsweise übereinstimmende innere Wahrnehmungen stimuliert werden. Die Imagination ist daher vor allem in solchen Kontexten ein entscheidender Faktor, in denen Medien die eigentlich sakralen Orte für eine liturgische oder paraliturgische Praktik substituieren, z. B. durch Heiliggrabnachbildungen, oder wenn in Texten oder Objekten diese sakralen Orte aufgerufen werden, um eine rein geistige Pilgerschaft zu ermöglichen. Die mediale Formierung des Sakralen in der christlichen Kultur des Mittelalters verstehen wir daher als etwas, das nicht schon in den Objekten – Bildern, Texten, Architektur, etc. – abgeschlossen ist, sondern sich in der Erfahrung und dem religiösen Handeln der Mitglieder dieser Kultur manifestiert. Auch die heilige Stätte und der sakrale Raum entstehen erst im Zusammenhang immer wieder aktualisierter Praktiken. Die Imagination und der Affekt7 der Akteure sind dabei konstitutive Faktoren: ihrer Bedeutung im Zusammenspiel mit medialen Praktiken gilt das Interesse dieses Bandes.8 Die Frage nach der Verbindung von sakraler und spatialer Praxis betrifft wohl alle Facetten der christlichen Kultur des Mittelalters in Memoria, Ritus und der Produktion von Artefakten. Kirchenbau und -ausstattung, Pilgerschaft, Andacht, die Sakralisierung von Städten sowie geistliche Spiele bilden Komplexe, in denen diese Verbindung zum Tragen kommt; ihnen sind Schwerpunkte dieses Bandes gewidmet.9

II. Ort und Raum Da Heiligkeit als virtus an Materialität gebunden wird, sind es zunächst Orte, die eine reliquiäre Medialität annehmen, und nicht die Räume. In diesem Sinne bemerkt Certeau im Zusammenhang seiner Unterscheidung zwischen Raum und Ort, „vom Kieselstein bis zum Leichnam scheint im Abendland ein Ort immer durch einen reglosen Körper definiert zu werden und die Gestalt eines Grabes anzunehmen.“10 Wenn Orte, die durch eine materielle bzw. physische Markierung bestimmt sind, durch ihre relationale Verknüpfung einen Raum bilden, so besitzt dieser Raum eine von diesen abgeleitete Materialität. Die Verknüpfung selbst kann durch Handlung, symbolische Zuweisung oder Erinnerung hergestellt werden.    7 Den Begriff Affekt verwenden wir allgemein zur Bezeichnung einer über das Fühlen erlebten Involvierung von Akteuren bzw. Rezipienten in konkreten medialen Praktiken. Eine emotionstheoretische oder -historische Systematisierung ist nicht angestrebt.    8 Die Zielsetzung des Bandes ist daher enger umrissen als die Feldvermessungen von Sammelbänden zu Raumkonzepten und Raumpraktiken der Vormoderne; vgl. Aertsen/Speer 1997, Hanawalt/Kobialka 2000, Vavra 2007 und 2005.    9 Die medientheoretische Schwerpunktsetzung des vorliegenden Bandes bedingt ein erweitertes Spektrum von Gegenständen; unter dem thematischen Fokus der Passion versammelt raumbezogene Analysen der Band Aurenhammer/Bohde 2015; unter dem pragmatischen Fokus der Heiligenverehrung perspektiviert der Band Dieter R. Bauer et al. 2010.  10 Certeau 1988, 219.

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Damit ist auch der Raum als Kategorie für die Erfahrung von Heiligkeit relevant, er erweist sich als die entscheidende Funktion, um Überblendungen zwischen heilswirksamen Orten und dem Ort der heilssuchenden Akteure herzustellen. Die Definition des Raumes als relationale Verknüpfung von Orten ist der Raumsoziologie Martina Löws entliehen.11 Für medienhistorische Fragen ist eine Orientierung an diesem Konzept sinnvoll, da ihm zufolge Handlungen Räume konstituieren, gleichzeitig aber von bestehenden Räumen ausgegangen wird, die Handlungen strukturieren und begrenzen.12 Nach Löw werden Räume auf zwei Arten prozesshaft konstituiert, einmal durch das „Spacing“, das Platzieren von Objekten und Menschen, das Orte markiert, zum Anderen durch eine „Syntheseleistung“,13 der Verknüpfung der platzierten Dinge und Menschen in der Wahrnehmung, Erinnerung und Vorstellung.14 Dabei gibt es Wechselbeziehungen: „Die Konstitution von Raum bringt damit systematisch auch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen“.15 Ein Ort kann auch dann weiter bestehen, wenn die Platzierung aufgehoben,16 aber im kollektiven Gedächtnis noch markiert ist. Die memoriale Existenz von Orten ist für die Verbindung von sakraler und spatialer Praxis von besonderer Bedeutung. Denn sie impliziert, dass es nicht der im empirischen Sinne authentische Ort von Heilsereignissen sein muss, mit dem ein anderer Ort verknüpft wird, so dass ein Heilsraum entsteht. Ein Ort muss im Sinne einer Authentizität Geltung erlangt haben, um relevant für das rituelle oder soziale Handeln zu sein. Für diese Geltung ist nicht unbedingt entscheidend, dass ein anderer Ort die gleiche Authentizität beansprucht: Nach Maurice Halbwachs konnten im Heiligen Land beispielsweise gleich zwei Stätten des Abendmahls aufgesucht werden.17 Es ist die performative Praxis an diesem Ort und die mit ihm verbundene Imagination und Memoria, die den heiligen Ort überhaupt erst konstruiert.18 Die Produktion des Raumes durch Praktiken oder andere relationale Verknüpfungen von Orten steht traditionell gegen eine in der Raumsoziologie lange Zeit als überholt geltende Vorstellung des Containerraumes als eines physisch gegebenen, territorialen Raumes.19 Diese Sicht könnte dazu verleiten, das durch Stadtmauern  11 Löw 2001.  12 Vgl. dazu auch Zierhofer 2005, 33: „Spaces inform actions. But at the same time they are also outcomes of actions.“; 35: „Spaces are devices ordering interactions“, 30: „space“ as „ordering concept“ or „ordering tool“.  13 Löw 2001, 160.  14 Löw 2001, 199.  15 Löw 2001, 198.  16 „Orte entstehen durch Plazierungen, sind aber nicht mit der Plazierung identisch, da Orte über einen gewissen Zeitabschnitt hinweg auch ohne das Plazierte bzw. nur durch die symbolische Wirkung der Plazierung erhalten bleiben.“ Ebd.  17 Halbwachs 2003, 193. Dies gilt auch heute noch, da für die meisten Christen das Coenaculum als Ort des Abendmahls gilt, die syrisch-orthodoxen Christen jedoch einen Raum innerhalb des Markusklosters als Ort des Abendmahls verehren.  18 Siehe ausführlicher Schlie 2008, 142.  19 Der Containerraum ist ein Denkmodell, das in Abstraktionen physikalischer Größen wie Volumen seinen Ausdruck findet, aber auch für alltägliche Raumwahrnehmung als prägend angesetzt

Einleitung

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umgrenzte Areal einer Stadt oder auch architektonische Eingrenzungen nicht als Räume, sondern als Orte zu klassifizieren. Eric Piltz sieht dies als durchaus problematische Konsequenz einer Ablehnung des Containerraums: „So werden Gebäuden und Mobiliar als festen und beweglichen Gütern keine eigenen Raumqualitäten zugewiesen, da Raum erst durch deren Verknüpfung über Wahrnehmung entsteht.“20 Inzwischen jedoch hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der material definierte Containerraum für kulturhistorische Untersuchungen unverzichtbar ist, da sich Deutung und Praxis immer wieder auf diese materialen Vorgaben von Raum beziehen können.21 Markus Schroer weist mit Recht darauf hin, dass ein Interesse an der „aktiven Hervorbringung und Produktion des Raumes durch Akteure“ nicht davon absehen kann, dass „Räume immer wieder als Behälterräume vorgestellt und konstruiert werden.“22 Zahlreiche Beiträge des Bandes können zeigen, dass der relevante, wahrgenommene Raum nicht durch die materialen Grenzen eines Gebäudes oder auch einer Stadtmauer begrenzt oder in seiner Ausdehnung klar definiert wird, dass aber die Grenzen des Containerraums als materiale Markierung eine Orientierungsgröße für Deutung und Handlung sind. Überschreitungen und Unterschreitungen des Containerraums durch den Handlungsund Deutungsraum können gerade im Bereich sakraler Spatialität entscheidende Faktoren sein: Eine Unterschreitung wäre der Handlungsraum der Laien in einer Kirche mit eingeschranktem, dem Klerus vorbehaltenen Chor, eine Überschreitung die bildmediale Erweiterung des Kirchenraums durch die Ausmalung des Gewölbes als Himmelszelt. Architektonische Räume sind entsprechend mitnichten einfach nur Orte – sie sind object spaces,23 in denen Orte, beispielsweise die Altäre, bereits in eine relationale Ordnung gesetzt sind. Selbst wenn gerade keine rituelle Handlung stattfindet, die einen performativen Raum bilden könnte, ist diese An-Ordnung als heiliger Raum wahrnehmbar. Andererseits legen architektonische Markierungen keine definitiven Grenzen für den Raum der sakralen Handlung fest: In Prozessionen und anderen paraliturgischen Handlungen erfährt der Sakralraum eine Ausdehnung, in der der Raum einer Kirche nurmehr einen Anteil bildet.24 In den Prozessionen sind mitgeführte geweihte Objekte und heilige Substanzen die „Orte“, die eine Bewegungsspur durch die Stadt ziehen und in dieser dynamischen An-Ordnung den Sakralraum bilden. Um deutlich zu machen, dass es zumindest den prämedialen bzw. den von Akteuren und ihren Praktiken unabhängigen Raum nicht gibt,25 ist wird. Es lässt sich epistemologisch nicht durch ein performatives Raumkonzept ablösen, sondern in Frage gestellt wurde im spatial turn seine Erklärungskraft für die kulturelle Bedeutung von Raum. Zur Diskussion vgl. die instruktive Darstellung bei Dennerlein 2009, 69–67.  20 Piltz 2008, 95.  21 Piltz 2008, vgl. dazu auch den dortigen Verweis auf Füssel/ Rüther 2004.  22 Schroer 2008, 136.  23 Zierhofer 2005, 30.  24 Vgl. Schwerhoff 2008, 44. Schwerhoff spricht in diesem Zusammenhang von „interaktiven Extensionen des religiösen Raumes“.  25 Wir folgen hier Dünne 2011, 22, demzufolge Medialität ein konstitutives Moment der Raumbildung ist.

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es sinnvoll, den architektonischen Raum oder den physischen Stadtraum nicht als per se gegebenen materiellen Raum, sondern ebenfalls als (in diesem Fall „eingefrorene“) Praktik im Sinne einer Raumoperation zu verstehen. Ein architektonischer Raum ist das Produkt einer Praxis (des Bauens), welches durch andere Praktiken immer veränderbar und neu definierbar ist. Dies lässt sich auch auf fiktive Räume in Texten oder Bildern übertragen, die nicht nur einfach metaphorisch oder abbildlich zu verstehen wären, sondern ebenfalls im Sinne einer prozessual zu verstehenden Raumoperation im Rezeptionsprozess Relationen erschließen. Eine solche Sichtweise erfordert eine alternative Unterscheidung von „Raum und Ort“, da es in der Folge einer Rehabilitierung (oder Berücksichtigung) des materialen Containerraums nicht mehr möglich ist, jegliche Form materieller Setzung einseitig als „Ort“ zu fassen. Die Stadt „Jerusalem“ kann je nach dem Kontext der Praxis bzw. dem Handeln der Akteure sowohl Raum als auch Ort sein: Wenn es in der leiblichen Pilgerschaft um die Verknüpfung der einzelnen Stationen des Kreuzweges geht, bildet Jerusalem den Erfahrungsraum ihrer Verknüpfung. Andererseits kann durch die Verknüpfung Jerusalems als Ort mit anderen Orten (beispielsweise Rom) ein Heilsraum anderer Ordnung entstehen, der wiederum der Erfahrungsraum der mentalen Pilgerschaft ist. Architektur, Bilder und Texte können Orte markieren. Darüber hinaus können sie aber schon jene Verknüpfungsleistungen hervorbringen oder kanalisieren, die den Raum erst konstituieren. Das heißt, dass sie selbst raumbildend sein können. Auch für Texte gilt das nicht nur im metaphorischen Sinne, denn auch wenn sie selbst keine Materialität haben, die von ihrem Träger wie dem Codex oder dem Objekt einer Inschrift unabhängig zu denken ist, sind sie – über ihren Beitrag zur Markierung an der Konstitution eines Ortes und über ihren Beitrag zur imaginativ zu leistenden Verknüpfung von Orten – an der Konstitution von Räumen beteiligt. Dies wird dort besonders fassbar, wo nicht ausschließlich virtuelle Orte Teil dieser verknüpfenden Raumpraxis sind, sondern textuell und materiell konstituierte Räume miteinander verknüpft werden.26 Beispielsweise kann ein heiliger Ort als reales Pilgerziel entstehen, ohne dass dort je ein Heilsereignis stattgefunden hätte – wenn nämlich Texte Verknüpfungen herstellen, die eine Stelle als heilswirksam markiert erscheinen lassen. Das in Irland lokalisierte Purgatorium des heiligen Patrick steht am Ende einer Texttradition, die nach dem Modell der imitatio Christi Handlungen des Heiligen mit Episoden aus dem Leben Jesu verknüpft und dabei eher beiläufig ein Markierung vollzieht, auf die sich schließlich eine textuelle und materielle Praxis gründet, die an diesem Ort den Raum einer je neu zu erfahrenden conversio aufspannt.27  26 Dieser Verknüpfungsmodus steht hier im Zentrum, es geht dagegen nicht vorrangig um die Konzeptualisierung von Räumen durch Diskurse oder die Konstitution erzählter Räume. Literaturwissenschaftliche Beiträge zum Mittelalter, die stärker diesen Perspektiven verpflichtet sind, versammeln die Bände Glauch/Köbele/Störmer-Caysa 2011, Hasebrink et al. 2008, Kundert/ Schmid/Schmid 2007.  27 Vgl. den Beitrag von Maximilian Benz im vorliegenden Band.

Einleitung

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Mit dem Konzept des Raumes als relationaler Verknüpfung von Orten lassen sich auch die raumbildenden Funktionen medialer Ensembles von Architektur und Bildern analysieren. Die Arenakapelle in Padua ist ein gutes Beispiel, wie ein innerer Raum gegenüber einem äußeren Raum architektonisch definiert und gleichzeitig mithilfe weiterer Verknüpfungen durch die Ausmalung ein über die materiellen Grenzen des Innenraums hinausgehender, ebenso „wirklicher“ Raum in der kulturellen Praxis produziert werden kann. Das Besondere ist hier, dass die Malerei Giottos weitgehend auch die „tektonische“ Strukturierung des Innenraumes übernimmt: gemalte Bänder übernehmen die Funktion von Lisenen, Bündelpfeilern o.ä. Abgesehen davon, dass jedes einzelne Bildfeld einen eigenen – im Falle Giottos immer innovativen – Bildraum produziert, behauptet die blaue, sternenbesetzte Zone des Gewölbes eine Erstreckung des Raumes bis in den Himmel. Dass Giotto die komplexe Konstitution des Raumes durch seine Malerei sehr bewusst war, zeigen die fingierten Kapellenräume an der Ostwand. Sie sind die programmatische Schlüsselstelle für die Bildaufgabe, die Giottos Malerei für die Kapelle übernimmt: innerhalb der Grenzen der eigentlichen Architektur, in denen sich die rituelle Handlung abspielt, einen oder mehrere über diese Grenzen hinausgehende Räume zu bilden. Dies entspricht der Vorstellung, dass auch der Raum der Liturgie sich über die Grenzen der eigentlichen Handlung in den Raum der Himmlischen Liturgie „ausdehnt“. Es ist die Verbindung zwischen dem architektonisch abgegrenzten, dem bildlich hergestellten und dem durch die rituelle Handlung ausgebreiteten Raum, die letztlich von den Akteuren in der Kapelle geleistet wird, um den eigentlich relevanten sakralen Erfahrungsraum herzustellen. Grundsätzlich ist es daher notwendig, zwischen dem von den Medien repräsentierten bzw. eingegrenzten Raum einerseits und dem operativen Raum der Bildoder Textrezeption andererseits zu unterscheiden: Es ist ihr Zusammenspiel, das den medialen Raum ausmacht. Weder das architektonische Gefüge einer Stadt mit ihren Sakralbauten noch deren Kartierung stellt bereits den gültigen sakralen Raum einer Stadt her: Es gibt nicht diesen einen Raum, sondern sakrale Räume entstehen durch die Praktiken, mit denen jene Verknüpfungen aktualisiert werden, die die medialen Arrangements ermöglichen.28 Dazu gehört stets auch die Verknüpfung zwischen dem Ort des Akteurs und den durch Medien markierten Orten. Die sakrale Topographie einer Stadt ändert sich somit nicht nur im historischen Verlauf, sondern mit jeder sakral konnotierten Handlung in ihr: Mit einer bestimmten  28 Auf das Problem der Heterogenität der jeweils geltenden Raummodelle hat Tanja Michalsky 2012, 13f, in Hinsicht auf einen Abgleich des in den Medien auffindbaren Raumes mit dem sozialen Raum am Beispiel der Karte und der städtischen Topographie aufmerksam gemacht: „Ordnungen des sozialen Raums mit dem Raum abzugleichen, den wir vor allem in Karten und in Fotos, aber auch weit darüber hinaus meist unausgesprochen als den nach wie vor essentiell verstandenen Raum behandeln, jenen Raum also, der von der lokalen Topographie vorgegeben ist, durch den sich Straßen ziehen, in dem Kirchen und Paläste stehen und in dem etwa Messen gelesen oder Prozessionen abgehalten werden, ist eine große Herausforderung, der man nicht mit methodischen Generalisierungen begegnen kann. Man muss auf diese Herausforderung vielmehr mit einer hohen Sensibilisierung für die vielen ineinander verschachtelten Raummodelle reagieren, die allesamt ihre Berechtigung haben, weil sie unterschiedlichen heuristischen Zwecken dienen.“

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Prozession oder mit der Aufführung eines Spiels wird ein Raum erzeugt, den es außerhalb dieser Handlung nicht gibt, oder höchstens in der Erinnerung und als Konzept für einen erneuten Vollzug zu einer anderen Zeit.

III. Verknüpfung, Überlagerung und Überblendung als sakralisierende Raumfunktionen Das Raumkonzept bei Löw ermöglicht die Gleichzeitigkeit bzw. Überlagerung verschiedener Räume an einem Ort.29 Der Begriff der Syntheseleistung (die „Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse“30, die Objekte und menschliche Akteure zu Räumen zusammenschließen) ist vorzüglich geeignet, die Überlagerung von verschiedenen Räumen und Ortsrelationen beschreibbar zu machen, die im Mittelalter rituelle Handlungen prägt und durch den Einsatz von Medien aller Art erreicht wird. Allerdings ist für diese Raumpraktiken das raumsoziologische Konzept zu modifizieren. Denn während Löw die Gleichzeitigkeit von funktional getrennten Räumen meint, ist in unseren Zusammenhängen die Überlagerung selbst Teil einer kulturellen Funktion. Ermöglicht wird die Überlagerung von Räumen durch Imagination. Imagination ist hier nicht als prämediale Kategorie verstanden, wie das für die Produktion des materiellen Bildes vorgängige innere Bild, sondern als eine durch Medien gesteuerte Praktik.31 Weiterhin kann Imagination für die Vormoderne nicht vom Körper getrennt gedacht werden: Imagination ist zugleich immer auch somatisch. Körperliche Konditionen, Funktionen (Sensorik und Motorik), Reaktionen, sind elementar in den Prozess des Imaginierens einbezogen. In gleicher Weise ist die affektive Beteiligung als körperliche zu verstehen. Für virtuelle Räume in Texten und Bildern gilt deshalb, dass diese – zumindest im religiösen Kontext, aber vermutlich auch darüber hinaus – niemals rein symbolisch oder metaphorisch sind. Auch diese Orte werden imaginativ-somatisch aufgesucht, auch diese Räume schließen den Betrachter für die Zeitspanne der Rezeption ein. Natürlich ist es ein Unterschied, ob ein Rezipient sich real-körperlich im Inneren der Heiliggrabkiche in Jerusalem befindet, in einer Heiliggrab-Kopie oder anhand von Bildern oder Texten die Grablegung Christi und ihren Ort meditativ aktualisiert. In allen Fällen ist es jedoch eine Teilhabe, die nicht nur geistig ist, sondern in einer somatischen Teilhabe besteht – so zumindest die Idealwahrnehmung im religiösen Sinn. Dass dies den Zeitgenossen bewusst war, zeigt die Konzeption der Medien selbst. Techniken der Überblendung von Räumen lassen sich für unterschiedliche Medien und noch innerhalb einer bestimmten medialen Praktik differenzieren. Die Liturgie macht vielfach von solchen Verfahren Gebrauch. Als Beispiel mag das

 29 Löw 2001, 273.  30 Löw 2001, 159.  31 Dünne 2011, 56.

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folgende Responsorium aus dem Stundengebet der Adventszeit, der Matutin des 3. Adventsonntags, dienen: Aegypte, noli flere, quia dominator tuus veniet tibi, ante cujus conspectum movebuntur abyssi, liberare populum suum de manu potentium. Versus: Ecce dominator Dominus cum virtute veniet.32 „Ägypten fürchte dich nicht, denn Dein Herrscher kommt zu Dir, vor dessen Angesicht die Abgründe erzittern, um sein Volk aus der Hand der Mächtigen zu befreien.“ Versus: „Seht, als Herrscher wird der Herr mit Kraft/Heil kommen.“

Ägypten ist das alttestamentliche Land des Exils, in das die Heilige Familie flieht, um Herodes zu entkommen. Auf diese Weise erfüllt sich bei Matthäus (2,15) der Spruch des Propheten Hosea (11,1): ex Aegypto vocavi filium meum („Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“).33 ‚Ägypten‘ ist durch diese Erzählung mehrfach markiert, im Evangelienbericht als das Land, in welches der Erlöser kommt, nachdem er den Ort seiner Geburt verlassen hat. Das Responsorium zur Adventszeit erinnert somit nicht nur daran, dass die Ankunft des Erlösers bevorsteht, sondern ebenso daran, dass das Heil des Erlösers sich auch außerhalb des heiligen Landes entfaltet. Das deiktische ecce des Versus schließt die Origo des Beters mit diesem Bereich zusammen – ‚Ägypten‘ ist der Bereich der Heilswirkung außerhalb des Heiligen Landes, die Peripherie, in der die Betenden sich befinden. Hier wird die Überblendung von ‚Ägypten‘ mit einem Heilsraum, der den Beter einbegreift, durch die neutestamentliche Erzählung gestiftet, die aus dem Gedächtnis imaginativ zu aktivieren ist. Andere Verfahren der Überblendung von Räumen werden durch die medialen Bedingungen szenischer Darstellung ermöglicht, denn sie spielt einer Assoziierung von Räumen spezifisch dadurch zu, dass sie eine akute Raumwahrnehmung mit einbezieht. So kann in einer paraliturgischen Feier zur Weihnachtszeit der Gang der heiligen Familie ins Exil mit einer prozedierenden Bewegung der Darsteller durch den Kirchenraum visualisiert werden – die Teilnehmer an dieser Feier können sich dann in einem räumlichen Kontinuum zum in der Handlung symbolisch markierten Raum wahrnehmen und den Kirchenraum als jenen Raum der erweiterten Heilswirkung imaginativ konkretisieren.

IV. Raum und Medium Wenn wir sagen, dass der Raum durch die Medien konstituiert wird, so gilt dies nicht allein für die Materialität der Medien. Am Beispiel der Arenakapelle wurde gezeigt, dass der für die Heilserfahrung essentielle Raum nicht mit dem faktisch durch die Mauern und das Gewölbe ausgewiesenen Raum identisch ist, sondern den durch die Malerei fingierten bzw. vom Akteur imaginierten Raum einschließt.  32 CANTUS Database for Latin Ecclesiastical Chant, URL: http://cantusdatabase.org/id/006056 (29.04.2015); URL: http://cantusdatabase.org/id/006056a (29.04.2015).  33 Biblia Sacra Vulgata, Ed. Weber/Fischer et al.

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Diese Ablösung von materiell markierten Orten wird auch mit anderen medialen Techniken betrieben, deren Wirkung ephemeren Charakter hat und sich immer wieder – auch unter kontingenten Bedingungen – verändert. Die Lichtwirkung von Mosaiken oder die Lichtführung durch farbige Glasfenster bewirken Markierungen ohne ‚Materialität‘ bzw. Materialität negierende Grenzauflösungen, die den Raum strukturieren und die die reliquiäre Logik des Ortes geradezu zu überwinden suchen, indem das heilige Fluidum selbst auf den Plan zu treten scheint. Auch die Musik kann als ein ephemeres Medium aufgefasst werden, das auf eigene Weise Räume konstitutiert und für sakrale Raumpraktiken des Mittelalters von ähnlich großer Bedeutung ist wie die Architektur. Nicht nur hinsichtlich der Immaterialität, sondern auch in Bezug auf die zeitliche Struktur ist für die Musik eine andere Logik als jene der reliquiären Medialität anzusetzen. Während diese auf eine heilsgeschichtlich fortwirkende Vergangenheit Bezug zu nehmen hilft, ist die mediale Funktion der Musik überzeitlich-eschatologisch geprägt. Zwar kann Musik auch dazu beitragen, Ortsverknüpfungen und Raumüberblendungen wahrnehmbar zu machen, indem etwa durch Prozessionsgesänge der Bezug zur römischen Stationsliturgie in einer anderen Stadt realisiert wird. Doch bezieht das Medium Musik seine besondere Bedeutung für die Konstitution sakraler Räume daraus, dass es Verbindungen zwischen dem (mentalen, affektiven, spirituellen) Innen und dem Außen herstellt. Hier ist zwischen der passiven Wahrnehmung und der aktiven Produktion, z. B. durch liturgischen Gesang weiter zu differenzieren. Gunilla Iversen hebt am Beispiel eines Psalmkommentars des Smaragdus von St. Mihiel hervor, wie das Singen von Psalmen in der frühmittelalterlichen Liturgie als eine Praxis verstanden wird, die physisch und mental vollzogen wird und die das Innere des Betenden für Gnadengaben aufschließt. Zugleich schafft die Musik ein Kontinuum zum imaginären Raum der ewigen Liturgie; eine dialektische Dynamik zwischen Innen und Außen, die Iversen als Antriebskraft für die Produktion liturgischer Dichtung im Frühmittelalter beschreibt: „Singing became a way of lifting up the mind, a way for human singers to join the celestial choirs and sing together with the angels.“34 Die Wahrnehmung einer Entgrenzung von Innen und Außen wird damit erweitert auf die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Mit dem Diskurs, der die Liturgie der Gläubigen als vereint mit jener der Engel und Heiligen entwirft, kann Musik so als Überbrückungs- oder Konnektivmedium begriffen werden, das auch für diejenigen, für die der Chor in der Messe nur stellvertretend singt, ein Kontinuum zwischen dem Raum der Zelebration und dem des himmlischen Lobpreises etabliert.35

 34 Iversen 2009, 14.  35 Zur Ausgestaltung dieses Konzepts in Tropen zum Gloria in Excelsis Deo vgl. Iversen 2010, 93– 159.

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V. Die Beiträge des Bandes Jerusalem bildet den zentralen Faszinationsort des christlichen Mittelalters, den Ziel- und Ankerpunkt für real und imaginativ bereiste Räume. Ute Verstegen zeigt in ihrem Beitrag, der in der Spätantike ansetzt, wie die sakrale Topographie Jerusalems mittels Architektur, Artefakten und Liturgie inszeniert wird. Dies scheint auf Bedürfnisse von Pilgern zu antworten, bei ihrem Nachvollzug der Handlungen Jesu auch in räumlicher Hinsicht dem Ursprung nahezukommen und in körperlichen Kontakt mit den Orten der heilsgeschichtlichen Ereignisse zu treten. Im Zentrum steht der Baukomplex der Auferstehungskirche mit den Kreuzigungsstätten und dem Felsengrab. Hier wurden die heiligen Stätten seit der konstantinischen Zeit in architektonischer Rahmung präsentiert und der Kontakt zu ihnen gelenkt. Verstegens Befunde deuten darauf hin, dass noch nicht das Vorhandensein dieser Stätten per se den paradigmatischen Status Jerusalems für sakralisierende Raumpraktiken begründet, sondern vielmehr die Herrichtung der Orte für Liturgie und Pilgerschaft modellhaft wirkt. Indem die Orte dadurch den Charakter von Medien des Heils annehmen, werden sie für sakralisierende Raumpraktiken auch in der Distanz anschlussfähig. Pilgerberichte zeugen vom Umgang mit der sakralen Topographie des Heiligen Landes: Sie re-inszenieren diese, stellen Bezüge zum biblischen Text her und fundieren so den Anspruch auf Authentizität und Heilspräsenz. Zugleich reflektieren sie die medialen Praktiken der Inszenierung der heiligen Stätten, wie Bilder und Inschriften. Damit entsteht ein intermedialer Anschluss, der die Re-Konstruktion der Stätten in der Imagination unterstützt. Susanna F. Fischer untersucht dies am Beispiel der lateinische Pilgerberichte des Johannes von Würzburg und des Theodericus aus dem 12. Jahrhundert. Beide Texte appellieren an die memoria der biblischen Heilstaten und zielen auf Andacht. Der Vergleich offenbart die unterschiedlichen textuellen Strategien, die die Verfasser wählen: So bietet Johannes Beschreibungen sichtbarer Spuren und Inschriften ebenso wie Gebete und Bibelstellen, die Gedächtnisinhalte für die Vorstellung mobilisieren und zum Mitvollzug einladen. Theodericus hingegen evoziert narrativierend den Weg Jesu durch Jerusalem, dessen Bewegung die Rezipienten in mentaler imitatio und affektiver compassio nach- und mitverfolgen können. Laura Gelfand stellt in ihrem Beitrag heraus, dass die im späteren Mittelalter und der frühen Neuzeit entstehenden Heiligen Gräber in Mitteleuropa nicht vornehmlich in äußerlicher Hinsicht als Artefakt Kopien des Heiligen Grabes in Jerusalem sein wollten, im Sinne von mimetischer Ähnlichkeit, sondern dass es vielmehr um ein „Kopieren“ der Performanz, des somatischen Erlebens und des Affekts ging. Die Heiligkeit wird von Ort zu Ort übertragen, und die spezifische Raumerfahrung im paraliturgischen Akt soll – auch mittels einer imaginativen Leistung – den gleichen Affekt erzeugen wie das entsprechende Erlebnis in Jerusalem selbst. Die Übertragung der Pilgerschaft nach Jerusalem auf einen semirituellen Besuch der re-präsentierten Heiligen Gräber ist somit nicht auf ein kognitives Wissen der Erscheinungsform gegründet, sondern auf eine Inszenierung des körperlichen und affektiven Erlebnis-

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ses, wenn man durch die dunkle Enge der Grabkammer der Jerusalemquelle in Brügge genauso eingeengt war wie in der Grabkammmer der Heiliggrabkirche in Jerusalem. Gelfand prägt hierfür den Begriff der sensorischen Simulacra. Die reformatorische Kritik an den hergebrachten Konzepten von Heilsmittlerschaft erfasst auch die Sakralität von Orten sowie die Raumpraktiken, die damit einhergehen. Obwohl die Pilgerschaft in der Praxis verworfen wird, bleibt sie als kulturelles Modell Bezugspunkt für Gegenentwürfe und metaphorische Transformationen. Den Visionsbericht des böhmischen Volksvisionärs Kotter analysiert Anika Höppner als Vorführung lutherischer Translokalitätslehre. Sie entwickelt daran die These, dass die der altgläubigen Pilgerschaft zugrundeliegende Orientierung an vorgeprägten Sakraltopographien einem neuen Raumkonzept weicht, das sie in Anlehnung an Deleuze und Guattari als ‚glatten Raum‘ beschreibt. Im Gegensatz zum Raum der Pilgerschaft, für den Konsens herrschen dürfte, dass er durch die köperliche Bewegung des Pilgers oder im Fall der mentalen Pilgerschaft durch die Kraft der Imagination erst entsteht, könnte man leicht für den von architektonischen oder kartographischen Artefakten gebildeten Raum annehmen, dass er per se durch das Artefakt selbst definiert ist und besteht. Die folgenden Fallbeispiele zeigen allerdings, dass die Formierung des eigentlichen sakralen Raumes erst mit medialen Praktiken vollzogen wird und dieser beständig Transformationen und Wandlungen unterworfen ist, an denen der Rezipient teilhat und ohne die eine „Heiligkeit“ nicht denkbar zu sein scheint. Unter Berücksichtigung von antiken und byzantinischen mittelalterlichen Schriftquellen analysiert Barbara Schellewald die Bedeutung des Lichts für die Konstitution des Raums im Fall von mosaizierten Kirchenräumen. Der Raum ist hier als ein Licht-Raum definiert, der sich unter anderem durch die jeweiligen Reflexionseigenschaften der Mosaiken manifestiert. Schellewald qualifiziert den Betrachter in dem Beziehungsgefüge von Architektur, Bild und Licht als einen Teilhabenden, in dessen Sehakt der so entstehende Raum überhaupt erst erfahrbar und erfassbar wird und stetig der Veränderung unterworfen ist. Sie unterscheidet eine durch das natürliche Licht entstehende hierarchische Raumsituation von einer Differenzierung der Raumsituation durch artifizielles Licht, die am Kirchenjahr orientiert ist. Die so entstehenden und im Sehakt immer wieder aktualisierten und aufgerufenen Räume – ein Verständnis des irdischen Lichtes als Emanation des himmlischen Lichtes voraussetzend – bieten das ideale Setting für ein „Reenactment der Biographie Christi“, als das die byzantinische Liturgie gilt. Hartmut Bleumer untersucht Strategien der Raumerzeugung in mittelalterlicher Kartographie exemplarisch anhand der Ebstorfer Weltkarte und wendet sich dabei dem Zusammenhang von Raum und Klang auf ästhetisch-theoretischer Ebene zu. Er setzt das Konzept des „gestimmten Raumes“ nach Elisabeth Ströker an, und stellt die These auf, dass mittelalterliche Kartographie den Raum als eine religiös semantisierte Sphäre entwirft. Diese Art des Raumes entstehe nicht bereits mit der kartographischen Lokalisierung heilsgeschichtlicher Ereignisse, sondern erst im Gebrauch der Karte: Durch die Art der Betrachtung, die das Medium anleitet,

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könne der Raum als Sphäre der Heilsverwirklichung vergegenwärtigt werden. Zu dieser von Bleumer als Immersion beschriebenen Raumkonstitution tragen demnach besonders die liturgischen Bezüge bei, die bei der Kontemplation der Karte im inneren Nachvollzug wie in der äußeren situativen Rahmung einen Widerhall finden können. Nadine Mai analysiert die durch die spätmittelalterliche Architektur umgesetzte Regie des natürlichen Lichts im sakralen Raum am Bespiel der Jerusalemkapelle in Brügge und kann zeigen, dass die „Lichtsetzung“ das Mittel ist, Jerusalem in Brügge ganz gezielt als Raumerlebnis erfahrbar zu machen. So kommt hier nicht nur eine Lichtsymbolik oder eine mit den verschiedenen Bauteilen und Ausstattungsstücken verbundene Ikonologie des Lichts zum Tragen, sondern eine den sakralen Raum überhaupt erst als solchen konstituierende Lichtwirkung. Der architektonische Raum wird so Trägermedium einer Lichtwirkung, die den Betrachter gleichsam nach Jerusalem transloziert. Darüber hinaus wird ein Konnex zwischen der Kapelle als sich veränderndem Handlungsraum und den sich je nach Tageszeit wandelnden Lichtbedingungen deutlich. In dem Beitrag von Linda Eggers wird die rituelle Setzung künstlichen Lichts für die Formierung von sakraler Räumlichkeit und Zeitlichkeit thematisiert, wobei sie sich vor allem auf den Ort des Altars als dem Zentrum der heiligsten Handlung im Kirchenraum konzentriert. Das Ziel ist sowohl eine Hierarchisierung des Raumes mit der besonderen Lichtinszenierung des Altars sowie eine Hierarchisierung der Zeit, wenn hier gemäß des Verlaufs des Kirchenjahrs variiert wird. Auch hier wird deutlich, dass der sakrale Raum nicht per se kontinuierlich als der eine Raum gegeben ist, sondern sich mit jeder verändernden Lichtsituation wieder neu formiert. Das Licht (bzw. die Praxis der Lichtinszenierung) kann nicht völlig unabhängig vom architektonischen Raum gesetzt werden, ihn jedoch überformen. Der Wechselbeziehung des materialen, durch Architektur und Bauplastik fest gestellten und markierten Raums einerseits und der Raumproduktion durch die Handlung und Bewegung des rezipierenden Akteurs andererseits ist ein weiterer Beitrag gewidmet. Eric Hold kann am Beispiel der Abtei St. Pierre in Moissac zeigen, dass ein Programm romanischer Bauplastik das räumliche Gefüge des entsprechenden Kirchenraums nutzt, um den Rezipienten durch eine räumlich-körperliche, prozessuale und affektengeprägte Erfahrung zu einer Bilderkenntnis zu führen. Die körperliche Bewegung und der sich zwischen den Bildern verändernde Affekt des Betrachters sind hier unmittelbar bedeutungskonstituierend. Doch gilt nicht nur, dass ein durch die Elemente der Bauplastik markierter Raum den Betrachter immersiv vereinnahmt und dass letzterer durch die Regie der Blickpunkte und Bezüge geleitet wird. Vielmehr wird durch die möglichen Variationen und Veränderungen der (liturgischen) Handlungbezüge der sakrale Raum selbst durch die Bewegung, Erinnerung, Imagination und den Affekt des Betrachters konfiguriert. Während unter dem Aspekt der Sakralisierung die Analysen beim äußeren Raum ansetzen, rückt mit Blick auf Praktiken der Andacht die Innerlichkeit in den Mittelpunkt. Räumen, die Umgebungen für die Arbeit der Seele bilden, eignet ein

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bemerkenswertes Oszillieren zwischen außen und innen, zwischen Exkorporation und Inkorporation. Sie können einerseits äußere Räume sein, in die sich der Meditierende in seiner Imagination hineinprojiziert, zum anderen kann der Meditierende die gleichen Räume als in seiner Seele befindlich verinnerlichen. Cornelia Logemann beschreibt in ihrem Beitrag, wie im Spätmittelalter illuminierte Handschriften nach „Bauplänen der Andacht“ konzipiert werden. Die sich in den Miniaturen eröffnenden gemalten oder die beschriebenen Räume der Meditationsliteratur korrelieren mit einem angenommenen „Seelengebäude“ des meditierenden Lesers oder Betrachters, sodass ein geistiger Imaginationsraum entstehen kann, in den die zu läuternde Seele gleichsam als Avatar des Betenden entsandt werden kann. U. a. aufgrund dieser Meditationspraktiken, die auch den realen Erfahrungsraum in den hybriden Imaginationsraum mit einschließen können, seien die künstlerischen Neuerungen des 14. und 15. Jahrhunderts (Perspektive, Detailrealismus, Interesse an optischen Phänomenen) entwickelt worden. Johanna Scheel definiert diesen hybriden Meditationsraum noch in etwas anderer Weise, anhand von spätmittelalterlichen Andachtsbüchern und dem Weltgerichtsretabel von Hans Memling, in denen der vor den Bildern Betende selbst dargestellt wird. Sie argumentiert, dass in dieser Spiegelsituation ein Affektraum aufgespannt wird, der einerseits der Resonanzraum des laut gesprochenen Gebetes und seines bereits angelegten affektiven Gehaltes ist, und der andererseits zu einem Raum der Transformation wird, in dem der Beter seine äußerliche Gestalt im Bild und seine damit verbundene Nähe zum Heiligen betrachtet. Der Transformationsprozess beinhaltet, dass der Betende diese wahrgenommene bildliche Nähe in Verbindung mit den Worten des von ihm gesprochenen Gebets als substanzielle Gotteserfahrung verinnerlicht – gleichsam in dem Prozess einer selbst-reflexiven Läuterungsstrategie. Meditative Praktiken des Mittelalters werden bis in die Barockzeit fortgesetzt und in den spirituellen Bewegungen besonders des Katholizismus kultiviert. Michaela Bill-Mrziglod fokussiert die Formierung des Gartens als bevorzugten Ort der Meditation: als Gegenstand ebenso wie als mentaler Schauplatz und äußere Umgebung. In der Tradition der Hohelied-Exegese wurde die theologische Symbolik des Gartens entfaltet; seit dem Spätmittelalter wurde er verstärkt als Tugend­ allegorie gedeutet und dadurch als Ort der Innerlichkeit disponiert. Vor diesem Hintergrund bildet er bei Ignatius von Loyola einen idealtypischen mentalen Schauplatz für die Vertiefung in die Seelenarbeit und die Kontemplation der Schöpfung – ein Funktionszusammenhang, der in der spanischen religiösen Lyrik des 16. Jahrhunderts reflektiert wird. Auch als konkreter Ort hat der Garten einen Platz in der frühneuzeitlichen spirituellen Praxis, wobei dies mit Symbolisierungen einhergeht, die den Garten als innerweltlichen Ort medialisieren: Er kann ebenso Protestanten als Anlass zur memoria von Jesu Gebet in Gethsemane dienen wie der Mystikerin Teresa von Ávila als ‚Buch der Natur‘, das ihr die Annäherung an den Schöpfer ermöglicht. Martin Kirves beschäftigt sich am Beispiel von Johan und Raphael Sadelers Eremiten-Darstellungen mit topischen Orten wie Wüste, Wald und Höhle, die

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sich als materielle, visuell erfahrbare Bilder weiterhin zu Erfahrungsräumen einer eigenen, imaginären Einsiedelei des Betrachters transformieren können. In der Verbildlichung des Topos bei den Gebrüdern Sadeler verliert dieser nicht seine festgelegte (symbolische, typologische, anagogische etc.) Bedeutung, kann aber trotzdem zum immersiven locus einer meditativen Imagination werden. Auch in diesem Fall sind der Ort und die Imagination eng an den Körper gebunden, insofern es eine Art wechselseitiges Inkorporationsverhältnis zwischen Ort und Einsiedler gibt, der Einsiedler am Ort der Wandlung und Erlösung selbst zu einem solchen Ort des Wissens wird, der vom Weltlichen gereinigt ist. Der Konstitution der Stadt als Sakralraum widmet sich der kulturgeographische Beitrag von Brice Gruet. Er fragt nach den symbolischen Vermittlungen im Heiligenkult Neapels, die dazu beitragen, die Bedrohung durch den Vesuv kulturell zu bearbeiten. Hier tritt die Schutzfunktion des sakralen Raumes in den Blick, die in einem spezifischen Setting der stetigen Erneuerung und der akuten Aktualisierung bedarf. Gruet konzentriert seine Analyse auf das Patronat und die lokale Verehrung des Märtyrers Januarius (San Gennaro). Dessen Blutreliquien weist er als Zentrum eines Geflechts aus metaphorischen und metonymischen Bezügen zwischen dem Vulkan, dem Heiligen, dem städtischen Territorium und seiner Bevölkerung aus. Prozessionen, die Bewegung, Musik und Text involvieren, eignen sich in besonderem Maße, um die sakrale Topographie einer Stadt zu aktualisieren und um symbolische, imaginativ wirksame Verknüpfungen zwischen ihr und sakralen Orten wie Rom oder Jerusalem herzustellen. Der Musikhistoriker Francesco Zimei zeigt, welche Hinweise liturgischer Überlieferung zu entnehmen sind, um Aufschluss über solche und andere Funktionen von Prozessionen für die sakrale Topographie einer Stadt zu gewinnen. Am Beispiel des abruzzischen Ortes L’Aquila zeichnet er nach, dass Prozessionen zu Fronleichnam im 14. Jh. das kulturelle Gedächtnis älterer sakraler Topographien der Stadt aufrechterhielten und dabei Spuren antiker Reinigungsriten aufwiesen. Die Choreographie der Papstweihe von Celestinus V. hingegen zielte auf die Analogisierung der Stadt mit Jerusalem und des Stellvertreters mit Christus. Urbane Sakralisierungen nehmen stets auf gegebene Raumordnungen Bezug. Wie aber entstehen heilige Orte? Maximilian Benz untersucht dies am Beispiel des Purgatoriums des Hl. Patrick, das noch in der Frühen Neuzeit als irischer Wallfahrtsort bekannt war. Benz weist nach, dass der heilige Ort aus einer Texttradition hervorgeht, in deren Zentrum anfangs der heilige Mensch steht. Die Verfasser der seit dem 7. Jahrhundert überlieferten Patrickviten schaffen narrative Topographien, die hagiographisch funktionalisiert sind, da sie die Taten des Heiligen nach dem Vorbild Christi modellieren. Seine Askese vollzieht das Fasten Jesu nach, so dass in seiner imitatio die Heilsereignisse unterschiedlicher zeitlicher Ebenen sich verdichten und die irische Einsiedelei die Wüste Palästinas aktualisiert. In dem Zuge, in dem die imitatio Patricii in den Vordergrund tritt, gewinnt der Ort eine zunehmend eigenständige Relevanz: als Ort, an dem Transzendierung als Überschreiten

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der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits gefasst und für andere nachvollziehbar werden kann. So generiert auch in diesem Fall eine intermediale Konstellation den heiligen Ort. Er erweist sich als Produkt des legendarischen Erzählens über ihn, das ihn als Stätte der Nachfolge einrichtet, nach Benz: als Raumreliquie. Erik Wegerhoff beschreibt, wie das Kolosseum in Rom im Spätmittelalter und dann vor allem zur Zeit der Gegenreformation als eine Stätte der frühchristlichen Martyrien konstruiert wurde. Die Techniken dieser Konstruktion, die das Kolosseum in der komplexen sakralen Topographie Roms positionieren und in denen auch metaphorische Zuschreibungen zwischen der Nachhaltigkeit der Bausubstanz und der Standhaftigkeit der Christen im Glauben eine Rolle spielen, sind vielschichtig: historiographische Inventiones bezüglich der Martyrien, die Abhaltung von Passionsspielen, bauliche Eingriffe und das Anbringen von Inschriften und Bildern, bis zu der Planung des Baus einer Kirche im Inneren des Amphitheaters. Für diesen „Ort der Imagination“ beschreibt Wegerhoff eine Transformation von der heidnischen Stätte, als die das Kolosseum im Mittelalter gesehen wurde, über seine Sakralisierung im Spätmittelalter und in der Gegenreformation bis hin zu der im 18. Jahrhundert wirksamen Desakralisierung einer am Ende vornehmlich archäologischen Stätte. Wie durch mediale Praktiken vorgängige symbolische Ordnungen von Räumen bearbeitet und transformiert werden können, lässt sich exemplarisch am Phänomen der geistlichen Spiele untersuchen. Denn der Raum ist für die Medialität der Aufführung konstitutiv, zugleich ist mit dem Spieltext immer schon eine intermediale Konstellation gegeben, die textuelle Strategien der Raumsemantisierung einschließt. Neuere Forschungen zur Überlieferung von Spiel- als Lesetexten haben darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass die Gewichte im intermedialen Verhältnis von Aufführung und Text sich verschieben können, so dass solche Konstellationen die Frage nach Konsequenzen gerade auch für das geistliche Spiel als räumliche Praxis aufwerfen. Ulrich Barton systematisiert die Raumordnungen geistlicher Spiele, die er von der Aufführungssituation ausgehend betrachtet, indem er die Ordnungen des Aufführungsortes, des Bühnenraumes und des performativen Raumes unterscheidet. Anhand von Bühnenplänen und im Rückgriff auf theaterhistorische Rekonstruktionen deutet Barton die symbolischen Bezüge zwischen Aufführungsort und Bühnenraum – etwa die semantische Besetzung von Himmelsrichtung oder Steigungslagen und ihre Korrelation mit antagonistischen Figurengruppen – als Verfahren der Übersteigung von Raumordnungen, die darauf zielen, die Topographie der Stadt mit der Ordnung des göttlichen Kosmos zu verschmelzen und die Stadt als deren Medium sichtbar werden zu lassen. Parallele Verfahren der Entgrenzung stellt Barton auf der Ebene des performativen Raumes dort fest, wo in den Spieltexten der theatrale Rahmen erst geschaffen, dann aber überschritten wird. Durch solche Transzendierungen werde punktuell die im Spiel symbolisch abgebildete Weltordnung für das Publikum real erfahrbar; der performative Raum führe die metaphysische Grundlage des als real verstandenen Raumes vor Augen.

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Ein charakteristisches Verfahren der Entgrenzung des performativen Raumes fokussiert Jutta Eming, indem sie die Theatralisierung typologischer Verweise untersucht, für die das Verhältnis von Zeit und Raum entscheidend ist. Den sak­ ralisierten Raum bestimmt sie weniger über das Moment der Abgrenzung zum Profanen als vielmehr, wie auch von Hartmut Bleumer vorgeschlagen, als eine gestimmte Sphäre, die lokal und temporär aktualisiert wird. Kontrastierend zur jüngsten Inszenierung des Oberammergauer Passionsspiels, das mit stillgestellten tableaux vivants von alttestamentlichen Szenen Zeitlosigkeit suggeriert, zeigt Eming am Beispiel des Alsfelder Passionsspiels für das Mittelalter typische Formen der Simultansetzung oder des Ineinanderblendens alt- und neutestamentlicher Zeit­ ebenen, die theatral durch die Bühneneinrichtung und die Kontinuität von Rollenfiguren gestiftet werden, aber auch die Textstrukturen betreffen. Während Barton und Eming die Spieltexte mit Bezug auf die (potentielle) Aufführung betrachten, fokussiert Carla Dauven-van Knippenberg das gedruckte Spiel von Frau Jutten Dietrich Schernbergs. In dieser medialen Konstellation ist der Raum ganz anders zu konzeptualisieren, denn hier stehen Imagination und Affekt nicht in Beziehung zum umgebenden Raum, wie bei der Aufführung, sondern zu einem textuellen Verfahren mit räumlichen Dimensionen: das Spiel wird gerahmt von einem Paratext, der reformatorische Polemik transportiert. Der nach Dauven-van Knippenberg nur scheinbar katholisch geprägte ‚Binnenraum‘ des Spieltextes wird somit durch den Schwellentext sowohl räumlich als auch ideologisch begrenzt und definiert, so dass der auf der Grundlage der Lektüre imaginierte Raum des Spiels nicht im Sinne der altgläubigen Praxis, sondern im Sinne der Polemik affektiv aufgeladen werden kann. Die Frage des sakralen Raumes wirft Hans Jürgen Scheuer abschließend in grundsätzlicher Weise auf, indem er sie auf das ‚Wo‘ des Heiligen bezieht. Inspiriert von Pietro Lorenzettis Abendmahlsfresko in Assisi, welches die Szenerie um den Nebenraum der Küche ergänzt und dort mit einem Wasserkrug einen Hinweis auf die lukanische Prophezeiung des letzten Pessah-Mahles platziert, entfaltet Scheuer die These, dass in vergleichbarer Weise Schwankerzählungen des Mittelalters das Heilige an Schauplätzen betont profanen Charakters aufscheinen lassen. Konstitutiv hierfür sei der Komplex der Eucharistie, der in solchen Erzählungen motivisch nur beiläufig eingespielt wird, während mit ihm verbundene Logiken und Praktiken an profane Körper und Handlungen geheftet werden. Scheuers Beitrag ergänzt damit die Frage nach der Sakralisierung von Räumen um eine Perspektive, welche deren imaginative Besetzung als mehrdeutigen und spannungsvollen Prozess denken lässt.

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Einleitung

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Michalsky ,Tanja: Einleitung, in: Ordnungen des sozialen Raumes. Die Quartieri, Sestieri und Seggi in den frühneuzeitlichen Städten Italiens, hg. von ders./Grit Heidemann, Berlin 2012, 7–18. Piltz, Eric: „Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Jörg Döring/Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, 75–102. Schlie, Heike: Mnemotop Jerusalem in der Prozession, in Brügge und im Bild. Die Turiner Passion von Hans Memling und ihre medialen Räume, in: Medialität der Prozession/ Médialité de la procession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne/Performance du mouvement rituel en textes et en images à l’époque pré-moderne, hg. von Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2011, 141–175. Schroer, Markus: „Bringing space back in“ – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Jörg Döring/Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, 125–148. Schwerhoff, Gerd: Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, hg. von Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, München 2008, 38–71. Strohschneider, Peter: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014. Vavra, Elisabeth (Hg.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24. bis 26. März 2003, Berlin 2005. Vavra, Elisabeth (Hg.): Imaginäre Räume. Sektion B des Internationalen Kongresses „Virtuelle Räume, Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter“, Krems an der Donau, 24. bis 26. März 2003, Wien 2007. Zierhofer, Wolfgang: State, power and space, in: Social Geography 1 (2005), 29–36.

I. Pilgerschaft

Ute Verstegen

In Kontakt mit den Allerheiligsten Zur frühchristlichen Inszenierung der Heilsorte in der Jerusalemer Grabeskirche The Church of the Holy Sepulchre, also known as the Church of the Anastasis, in Jerusalem has encompassed the site of both the Crucifixion and the Resurrection of Jesus since the fourth century, and is Christianity’s most important pilgrimage site. To this day, the unique quality of Jerusalem lies in the fact that it is possible for believers to relive the events of salvation in the actual place where they occurred in a way which can only be experienced there and nowhere else. Whereas elsewhere a personalized concept of sacredness was pursued, such as in Rome, where its own apostolic tradition was given prominence through the creation of the tombs of St. Peter and St. Paul, the Jerusalem clergy have, since the fourth century, promoted the unique status of their site as being the only place in the entire Christian world where Jesus carried out his ministry and underwent the Passion. The concept of Jerusalem’s holy sites was intimately connected with the conventionalized, liturgical procedures and the individual practices of prayer and worship of the pilgrims. This article shows how the memorial sites of the Crucifixion and the Resurrection as well as the Cross relic were staged architectonically and, with the aid of the official Jerusalem liturgy, were embedded within a Christian sacred topography, but also in the regular cycle of the ecclesiastical year. In this, two central aspects of early Christian pilgrim behaviour are focused on – on the one hand, physical contact with a place where Jesus himself was said to have been physically present; on the other hand, the collective or individual understanding of the events of salvation of the New Testament. The combination of place, moment and action drawn together to create a whole is shown to be constitutive for the specific experience of the holy site and produces a contemporizing visualization of the event of salvation in the imagination.

Ein ‚heiliger Ort‘ war nach antikem jüdischen und polytheistischen Verständnis ein Ort, an dem sich die Präsenz Gottes respektive einer Gottheit manifestierte.1 Während im Judentum und in den antiken polytheistischen Glaubensgemeinschaften Vorstellungen von heiligen Orten und heiligen Räumen existierten, verweigerte sich das frühe Christentum zu Anfang diesen Konzepten und propagierte abstraktere Vorstellungsmuster: Gott sei prinzipiell in der gesamten Welt an jedem Ort präsent und speziell in der Versammlung der Gläubigen gegenwärtig.2 Das Bild von der Gemeinde als heiligem Tempel Gottes ist charakteristisch für die Briefliteratur des Paulus, dem wichtigsten neutestamentlichen ‚Theoretiker‘ eines christlichen Konzepts    1 Vgl. zu Sakralitätsvorstellungen in der Antike allgemein: Dihle 1988; Milgrom 2000; Harrington 2001; Gemeinhardt/Heyden 2012. Zu ortsbezogenen Sakralitätsvorstellungen eignen sich als Einstieg: Branham 1994; Fine 1997; Vauchez 2000; Coomans/Dijn/Maeyer/Heynickx 2012.    2 Vgl. Finney 1984; Markus 1994, 257−271; Czock 2012, 29−33.

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metaphorischer Raumheiligkeit.3 Die paulinische Auffassung, dass das Haus Gottes erstens kein von Menschen gefertigtes Gebäude und dass zweitens aufgrund der Allgegenwart Gottes kein spezieller Ort für den Gebetskontakt zu Gott geeigneter sei als andere, bestimmte auch das zweite und dritte Jahrhundert. In der Exegese des Gebets Jesu im Garten Getsemani räumte Origenes (um 185−253/4) unter Bezugnahme auf alttestamentliche bzw. jüdische Traditionen allerdings ein, dass es einen vergleichsweise „heiligeren Ort“ als andere geben könne.4 Gerade das am Abhang des Jerusalemer Ölbergs gelegene Getsemani ist mit dem aufkeimenden Pilgerwesen ins Heilige Land schon an der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert (also wohl noch vor der konstantinischen Wende) als Stätte belegt, die gerne von den Pilgern zum Gebet aufgesucht wurde.5 Diese Beliebtheit lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass die Gläubigen hier am authentischen Ort den in den synoptischen Evangelien geschilderten Gebetsakt Jesu nachzuvollziehen suchten.6 Zwei hiermit angesprochene, zentrale Aspekte frühchristlichen Pilgerverhaltens werden in den folgenden Ausführungen von besonderer Wichtigkeit sein: zum einen der körperliche Kontakt zu einem Ort, den Jesus selbst betreten oder berührt haben sollte, zum anderen das kollektive oder individuelle Nachvollziehen neutestamentlicher Heilsereignisse. Denn die Besonderheit Jerusalems besteht bis heute darin, dass den Gläubigen − Gemeindemitgliedern und Pilgern − am authentischen Ort ein Nacherleben des Heilsgeschehens möglich ist, wie es nur hier und sonst nirgends erfahrbar ist. Die Gesamtheit von Ort, Handlungszeitpunkt und Handlungsvollzug ist dabei konstitutiv für das spezifische Erleben der heiligen Stätte und bewirkt eine imaginäre Vergegenwärtigung der Heilsereignisse. Nach anfänglicher Skepsis kam ab dem vierten Jahrhundert auch im christlich-theologischen Diskurs das Konzept heiliger Orte auf.7 Dabei sind parallele Entwicklungsstränge hinsichtlich einer Sakralisierung der allgemeinen Versammlungsräume der Gemeinde und der Vorstellung einer Ortsheiligkeit bestimmter materiell fassbarer Stätten der christlichen Heilsgeschichte zu beobachten.8 Ver   3 Eph 2,20–22; 1Tim3,15; 2 Kor 6,16. Die meist zitierte Stelle ist 1 Kor 3,16f.: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig (ὁ γὰρ ναὸς τοῦ θεοῦ ἅγιός ἐστιν); der seid ihr“. Vgl. zum paulinischen Heiligkeitsverständnis im Kontext der Ekklesiologie zuletzt ausführlich: Vahrenhorst 2008; Bohlen 2011.    4 Or. comm. in Mt. ser. 89 (GCS 38/11, 204 Zeile 17).    5 Eus. onomast. (GCS 11/1, 74 Zeile 16–18).    6 Zur Einordnung der frühesten Belege eines Jerusalemer Pilgerwesens und zur Interpretation von Getsemani in diesem Kontext vgl. Verstegen 2013, 60−62. Walker 1990, 230 begründet die Beliebtheit von Getsemani bei den frühen Pilgern mit dem christologischen Argument einer besonderen Gottesnähe durch die Offenbarung der Menschlichkeit Jesu an diesem Ort. Zur Diskussion um die Frage eines vorkonstantinischen Pilgerwesens im Heiligen Land vgl. außerdem: Finney 1984, 193f.; MacCormack 1990, 8f.; Taylor 1993, 295; Bitton-Ashkelony 2005; Hartmann 2010, 593f.; Türck 2011, 23−25; Fuß 2012, 266, 291.    7 Vgl. Finney 1984; Walker 1990; Maraval 1992; Maraval 1994; Maraval 2000; Verstegen 2013, 252−269.    8 In jüngerer Zeit ist eine größere Anzahl von Publikationen erschienen, die sich dieser Frage widmen. In Auswahl seien genannt: Jäggi 2007; Yasin 2009; Jäggi 2011; Czock 2012; Gemeinhardt/

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mutlich war dieser Prozess der Sakralisierung eng mit dem Einfluss des konstantinischen Kaiserhauses, der architektonischen Monumentalisierung der biblischen Erinnerungsorte und wohl auch den Erwartungshaltungen der anschwellenden Pilgerströme verbunden. Ziel der Pilger war das Heilige Land mit seinen alt- und neutestamentlichen Schauplätzen, im Speziellen die Stadt Jerusalem und hier wiederum als Kulminationspunkt die Auferstehungskirche, die im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen soll.

Die Jerusalemer Grabes- und Auferstehungskirche Seit seiner Errichtung zwischen 326 und 335 birgt das Ensemble der Jerusalemer Auferstehungskirche (in westlichen Quellen seit dem Mittelalter üblicherweise als „Grabeskirche“ bezeichnet) die Stätten der Kreuzigung und des unweit gelegenen Felsengrabes Jesu, das als Ort der Auferstehung für fast alle Konfessionen bis heute das zentrale Denkmal des christlichen Heilsversprechens war und ist (Abb. 1).9 Ab der Mitte des vierten Jahrhunderts ist in der Auferstehungskirche außerdem die Verehrung eines weiteren bedeutenden Erinnerungsstücks an die Heilsereignisse belegt: des Holzes vom Kreuz Christi, das der Legende zufolge im Beisein der Kaisermutter Helena während der Bauarbeiten ausfindig gemacht wurde.10 Der Auferstehungskirche war eine wechselvolle Geschichte mit mehrfachen Zerstörungen, Wiederaufbauten und Restaurierungen beschieden, die ein kompliziertes Bautenkonglomerat entstehen ließen, in dem heute nur noch an einzelnen Stellen architektonische Reste des spätantiken Ursprungsbaus bewahrt sind (Abb. 2). 1009 wurde das gesamte Bauensemble auf Veranlassung des fatimidischen Kalifen al-Ḥākim (reg. 1000–1021) – die Region war seit den 630er Jahren unter muslimischer Herrschaft – in weiten Teilen abgerissen.11 Schon 1014–1023 setzte allerdings ein erster Wiederaufbau der Anastasis ein, der in einer zweiten Phase unter dem byzantinischen Kaiser Michael IV. (reg. 1034–1041) seinen Abschluss fand.12 Eine weitere gravierende Umgestaltung erfolgte nach der Einnahme der Stadt durch die Kreuzfahrer, die 1149 in der Weihe eines Neubaus mit Umgangschor und Kapellenkranz nach europäischem Muster kulminierte.13

Heyden 2012; Watta 2013; Verstegen 2013, 252−269. Über die Möglichkeiten der architektonischen Inszenierung von Heiligkeit in frühchristlichen Kirchen bietet eine gute Zusammenfassung: Arbeiter 2012.   9 Aus der umfangreichen Literatur zur Grabeskirche seien hier nur genannt: Vincent/Abel 1914−1926, I 40−300, V Taf. III−XXXIII; Coüasnon 1974; Corbo 1981−1982; Bieberstein/ Bloedhorn 1994, II 181−216; Gibson/Taylor 1994; Lavas/Mitropoulos 1995; Krüger 2000; Avni/Seligman 2003; Garbarino 2005; Küchler 2007, 409−483; Mitropoulos 2008; Arbeiter 2011; Verstegen 2013, 61−174. Zum Gründungsjahr zuletzt: Reidinger 2012.  10 Heid 1989; Walker 1990, 125−130; Drijvers 1992, 80−93; Heid 2001.  11 Vgl. zuletzt die Beiträge in: Pratsch 2011.  12 Ousterhout 1989, 69f.; Gil 1992, 384f.; Biddle 1998, 98−102; Garbarino 2005, 290f., 310f.  13 Umfassend zum kreuzfahrerzeitlichen Bau: Pringle 2007, 6−72.

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Abb. 1: Jerusalem, Grabeskirche, Luftbild von Süden, 2012.

Heute liegt die über dem Grab Christi errichtete Kirche inmitten der Stadt, eine nach antikem Verständnis unvorstellbare Situation, da Bestattungen nur außerhalb von Siedlungen erlaubt waren. Zu Beginn des ersten Jahrhunderts unterschied sich die Ausdehnung des Jerusalemer Stadtareals allerdings wesentlich von der heutigen. Der Ort der heutigen Grabeskirche befand sich zur Zeit der neutestamentlichen Ereignisse nordwestlich außerhalb des ummauerten Stadtareals und wurde erst wenig später, etwa zwischen 41 und 44 n. Chr., in die Stadt einbezogen.14 Mit der Neugründung der in den Jüdischen Kriegen zerstörten Siedlung unter Kaiser Hadrian (reg. 117−139) als Aelia Capitolina wurde westlich des Cardo nun ein neues Hauptheiligtum errichtet, das den Tempel der Kapitolinischen Trias sowie einen Aphroditekultplatz umschloss.15 Auf genau diesem Areal wurde ab 326 auf Geheiß des Kaisers Konstantin (reg. 306−337, ab 324 über das Gesamtreich) eine neue Kirche errichtet, bei deren Baugrundvorbereitungen ein Felsengrab zutage trat, das man als das Grab Christi identifizierte. Wir sind über diese Maßnahmen einerseits gut durch den zeitgenössischen Bericht des Bischofs Eusebius von Caesarea (um 260/5−339/40)16, andererseits durch Ausgrabungen und Bauforschungen in der  14 Zur Diskussion um die Lage der Kreuzigungsstätte im urbanistischen Kontext vgl. Taylor 1998; Krüger 2000, 29−33; Küchler 2007, 415−431.  15 Zusammenfassend zur Stadtgeschichte: Bieberstein 2007; Cotton/Di Segni/Eck et al. 2010, 1−37.  16 Eus. v.C. 3,25–40 (FC 83, 342–359).

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Abb. 2: Jerusalem, Grabeskirche, Phasenplan mit Befundeinträgen (nach Virgilio Corbo). Schwarz: konstantinische Phase; dunkelgrau: 11. Jh.; hellgrau: 12. Jh.

Grabeskirche informiert.Interessant ist die Terminologie der Superlative des Sakralen, mit der Euseb das Grab Jesu in seinen Ausführungen in der Vita Konstantins preist: Er nennt das Grab das „verehrungswürdige und allerheiligste (πανάγιον) Zeugnis der Auferstehung des Erlösers“ respektive die „allerheiligste Grotte“ (τό γε ἅγιον τῶν ἁγίων ἄντρον).17 Vor allem letztere Formulierung ist interessant, wird sie doch in der Septuaginta ähnlich zur Beschreibung des Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel verwendet.18 Euseb verweist mit dieser Anspielung auf das mit dem jüdischen Tempel verbundene, kultische Sakralitätskonzept, das eine hierarchische Staffelung von Zonen mit zunehmender Sakralität und Exklusivität umfasst, die in einem „Allerheiligsten“ gipfeln.19 Dieses Allerheiligste ist Jahwe selbst zueigen und der Ort, an dem allein der Hohepriester einmal im Jahr in Kontakt zu Jahwe treten kann, also eine exklusive Begegnungsstätte mit Gott. Eine Aufeinanderfolge von Zonen abgestufter Sakralität wurde auch im konstantinischen Kirchenneubau der Auferstehungskirche umgesetzt. So gelang beispielsweise Erwin  17 Eus. v.C. 3,25; 3,28 (FC 83,342f.; 348f.: σεμνὸν καὶ πανάγιον τῆς σωτηρίου ἀναστάσεως μαρτύριον).  18 Der innerste, mit Gold ausgekleidete und mit zwei Cherubim versehene Hauptraum des salomonischen Jerusalemer Tempels wird in 2 Chron 3,10 als „das Allerheiligste“ beschrieben (‫הקדשיםקדש‬, qōdeš haqqōdašīm). In der Septuaginta wird dieser Ausdruck mit „τὰ ἅγια τῶν ἁγίων“ übersetzt.  19 Vgl. hierzu Harrington 2001, 46–57.

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Reidinger erst kürzlich der Nachweis, dass die Achsabweichung zwischen den beiden Hauptbauteilen der Grabeskirche − Martyriumsbasilika und Anastasisrotunde, von denen noch die Rede sein wird − mit einer präzisen Orientierung der jeweiligen Fassaden auf die Sonnenaufgänge zu den Zeitpunkten der Hochfeste Karfreitag (Kreuzigungsgedenken in der Martyriumsbasilika) und Ostern (Auferstehungsgedenken in der Anastasisrotunde) während der Baugrundabsteckung im Jahr 326 zu erklären ist.20 Der kaiserliche Bau wurde anlässlich der Feier von Konstantins dreißigjährigem Regierungsjubiläum unter Anwesenheit einer Großzahl von kirchlichen Würdenträgern im Jahr 335 eingeweiht.21 Es ist nicht sicher, ob zu diesem Zeitpunkt – zehn Jahre nach Baubeginn – wirklich sämtliche Partien fertiggestellt waren, der gesamte Bauentwurf dürfte aber auf diese Zeit zurückgehen.22 Wie lässt sich der Baukomplex der Zeit Konstantins rekonstruieren? Für die Beantwortung dieser Frage können spätantike Textquellen – in erster Linie die Schriften des Zeitzeugen Euseb –, aber auch bildliche Zeugnisse und vor allem die noch bestehenden und durch Ausgrabungen freigelegten Baubefunde herangezogen werden. In groben Zügen bestand die Kirche aus einer Aufeinanderfolge von Baukörpern, die entlang einer Ost-West-Achse nacheinander durchschritten werden konnten (Abb. 3). Das Areal der Kirchenanlage erstreckte sich westlich der städtischen Nord-Süd-Hauptstraße Aelias, des Cardo Maximus. Diese Lage führte zu einer Ausrichtung der Bautengruppe nach Westen mit Hauptzugang von Osten über den Cardo. Auf eine Toranlage folgte ein erster Vorhof, dann eine ausgedehnte Basilika, die in den antike Quellen „Martyrion/Martyrium“ oder schlicht „ecclesia maior“ (große Kirche) genannt wird. Östlich hinter der Basilika bildete ein weiterer Hof den Übergang zum wichtigsten Bau des Ensembles, nämlich der Rotunde über dem Christusgrab, die in den antiken Schriftzeugnissen als „Anastasis“ (Auferstehung) firmiert, wie sie von den orthodoxen Kirchen auch bis heute genannt wird. Dabei bedingte die Lage der beiden Gedächtnisorte, des Grabes Jesu und der Kreuzigungsstätte auf dem Golgotafelsen, die Disposition der Gesamtanlage, in die sie integriert werden sollten. Als Hauptzugang zu dem Gebäudekomplex diente eine monumentale Toranlage im Osten am Cardo Maximus, die die Säulenreihen der Hauptstraße unterbrach und dadurch im Stadtbild auffiel. Diese Toranlage war gewissermaßen eine ‚Publicity-Maßnahme‘ und sollte laut Euseb schon vor dem Eintreten eine Ahnung von dem bedeutenden Bauwerk geben, das die Besucher dahinter erwartete.23 Auf die 20 Reidinger 2012.  21 Eus. v.C. 4,40,2–4,41,2; 4,43,1–46 (FC 83, 456–459; 462–467); Eus. l.C. 11–18 (GCS 7, 223– 259); Thdt. h.e. 1,31,3 (SC 501, 322); Socr. h.e. 1,33,1. – Die liturgischen Kalender überliefern den 13. September als jährlich wiederholtes Weihedatum, das Chronicon Paschale den 17. September, was von einigen Historikern als das wahrscheinlichere Datum angesehen wird. Vgl. zur Problematik des Datums Fraser 1995, 120–124.  22 Vgl. zum Bauzustand der Rotunde: Coüasnon 1974, 21–23, Taf. 7 (Rekonstruktionszeichnung des Bauzustands); Corbo 1981–1982, I 68ff., 224. Diskussion bei Verstegen 2013, 151–159.  23 Eus. v.C. 3,39 (FC 83, 358f.). Zu den Befunden vgl. Krüger 2000, 48f.; Küchler 2007, 411–415, 435 Abb. 232.

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Abb. 3: Jerusalem, Grabeskirche, Grundrissrekonstruktion des konstantinischen Bauwerks nach dokumentiertem Baubestand (nach Avni/Seligman).

sen Hof folgte zunächst eine fünfschiffige Emporenbasilika, die im Westen von einer Apsis abgeschlossen wurde. Diese „Martyriumsbasilika“ ist spätestens zu Beginn des elften Jahrhunderts vollständig zerstört und danach nie wieder aufgebaut worden. Von diesem großen Bauwerk wurden nur noch sehr wenige Reste bei Ausgrabungen entdeckt, darunter allerdings der Ansatz der Apsis und Abschnitte der Streifenfundamente für die Stützenreihen des Langhauses, so dass eine relativ gute Rekonstruktion des Grundrisses möglich ist.24 Dass es sich bei diesem Bau um eine Kirche mit Emporen über den Seitenschiffen handelte, wird zum einen durch die Beschreibung Eusebs deutlich, der von der Zweigeschossigkeit dieser Architektur spricht.25 Die wenigen bekannten Bilddarstellungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit das Jerusalemer Kirchenensemble der spätantiken Bauphase wiedergeben (Abb. 4), legen außerdem nahe, dass der Bau einen basilikalen Querschnitt mit erhöhtem Obergaden besaß.26 Hinter der Martyriumsbasilika gelangte man durch die Seitenschiffe in ein Atrium mit dreiseitig umlaufenden Portiken und einem offenen Hof.27 Der Hof scheint  24 Coüasnon 1974, 41; Corbo 1981–1982, I 104–111, III Foto 87–89; Díez Fernández 2004, 136−143; Mitropoulos 2008, 444f.; Verstegen 2013, 89−101.  25 Eus. v.C. 3,37 (FC 83, 356f.).  26 Verstegen 2013, 91–93. Zum Mosaik von Tayyibat al-Imam: Piccirillo/Zaqzuq 1999.  27 Euseb spricht von einer „triporticus“, vgl. Eus. v.C. 3,35 (FC 83, 356).

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Abb. 4: Mosaik aus Tayyibat al-Imam nahe Hama (Syrien), 447 n. Chr. Die Darstellung zeigt vermutlich die Jerusalemer Martyriumsbasilika.

auf wesentlich tieferem Niveau gelegen zu haben als die Basilika, so dass man von dort aus mehrere Meter hinabsteigen musste.28 Diese Disposition belegen auch die Beschreibungen der Pilgerin Egeria aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, die mehrfach erwähnt, alle seien zur Anastasis „hinabgestiegen“.29 Von diesem Hof ist noch heute die Nordmauer erhalten.30 In der Südostecke des Atriums waren die Umgänge unterbrochen, da hier der Golgotafels in die Anlage integriert worden war und etwa 5 m hoch unter freiem Himmel emporragte.31 In den Felsen gehauene Stufen führten vom Atrium auf die  28 Besonders betont bei Gibson/Taylor 1994, 76.  29 Itin. Eger. 24,1 (FC 20, 224f.).  30 Küchler 2007, 474f.; Verstegen 2013, 101−104. Vgl. zum Hof auch Corbo 1981−1982, I 82, 91f.; Coüasnon 1974, Taf. XI, XVII.  31 Lavas/Mitropoulos 1995; Díez Fernández 2004, 145−151; Küchler 2007, 464−468; Mitropoulos 2008, 446. Der Pilger von Bordeaux sprach 333 von einem „monticulus Golgotha“, vgl. Itin. Burdig. 593,4 (CCSL 175, 17).

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Abb. 5: Apsismosaik, gestiftet unter Innozenz I. (402–417), Rom, S. Pudenziana.

Kuppe hinauf, auf der zunächst ein einfaches Kreuz aufgestellt war, das Kaiser Theodosius II. (reg. 408–450) in den 420er Jahren durch ein monumentales Gemmenkreuz ersetzen ließ. Man kann sich dieses Monument wahrscheinlich ähnlich vorstellen wie das auf dem Apsismosaik in S. Pudenziana in Rom abgebildete Kreuz (Abb. 5).32 Der auf der Kuppe freigelegte Befund einer Vertiefung mit einem Verankerungsring kann als materielles Zeugnis des Standorts eines entsprechenden Kreuzes angesehen werden.33 Archäologisch nachgewiesene Einlassspuren im Fels, aber auch Pilgerberichte des sechsten Jahrhunderts geben Hinweise darauf, dass das Betreten des Golgotafelsens mindestens seit dieser Zeit durch kostbare Schrankenanlagen aus Edelmetall reguliert war.34 Möglicherweise riegelten sie zwei sakrale Zonen ab, denn es sind sowohl Silberschranken genannt, die den „Hügel“ umgeben, also wahrscheinlich unten auf Bodenniveau des Hofs angebracht waren, als auch kostbare, mit viel Gold und Silber verzierte Schranken auf der Anhöhe des Felsens.35 Ganz im Westen lag als Kulminationspunkt der gesamten Anlage ein imposanter, überkuppelter Zentralbau mit einem inneren Stützenkranz, der das Heilige  32 Der genaue Zeitpunkt der Errichtung ist umstritten. Vgl. Milner 1996.  33 Mitropoulos 2008, 448.  34 Mitropoulos 2008, 452−454.  35 Brev. de Hier. A 2 (CCSL 175, 110): „crux Domini […] de auro et gemmis ornata tota […] Auro et argento multum ornatae cancellae“. Deutsche Übersetzung bei Donner 2002, 220f.

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Abb. 6: Rekonstruktion der Anastasis in konstantinischer Zeit. Modell im Tower of David Museum of the History of Jerusalem. Anders als im Modell wiedergegeben besaß die Rotunde im Ursprungszustand kein Emporengeschoss, sondern vermutlich einen Tambour mit um­laufenden Fenstern.

Grab in seiner Mitte aufnahm und es gleich einer Schutzarchitektur umhüllte (Abb. 6). Die Anastasisrotunde ist das architektonisch innovativste und anspruchsvollste Kompartiment der gesamten Anlage. Sie ist noch heute teilweise bis zu 11 m hoch im Baubestand erhalten, obwohl sie 1009 ebenfalls stark zerstört und im elften Jahrhundert verändert wieder aufgebaut wurde.36 Die Besonderheit des Bauentwurfs ist seine Zweischaligkeit: Um einen inneren Stützenkranz legt sich als weitere Raumschale ein Umgang, an den sich drei überhalbkreisförmige Konchen anschließen.Durch die intensive Durchfensterung der Außenmauern im Erdgeschoss in Kombination mit einem durchfensterten Tambourgeschoss und einem Opaion im Zenit der Kuppel dürfte das Innere der Rotunde – anders als heute – ehemals sehr lichterfüllt gewesen sein und damit den eintretenden Besuchern wahrscheinlich einen gegenteiligen Raumeindruck eröffnet haben als den, welchen sie beim Hinabsteigen in einen Grabraum eigentlich erwarteten. Im Fassadenbereich folgten die Außenmauern der Rotunde nicht weiter konzentrisch dem Umgang, sondern hier war ein Querriegel in den Zentralbau eingeschoben, der sich über eine Reihe von Portalen zum Hof und zu dessen Portiken öffnete. Der architektonische und liturgische Hauptakzent der gesamten Anlage liegt bis heute auf dieser großen Rotunde im Westen und der darin befindlichen Ädikula mit dem Grab Jesu. Das Grab wurde nach seiner Auffindung in konstantinischer Zeit durch Abtragung des anschließenden Gesteins gewissermaßen aus dem umgebenden Fels herausgeschält und befand sich fortan frei gestellt ebenerdig inmitten der Rotunde. Die ursprüngliche Form der Grabädikula, die bis 1009 beibehalten wurde, unterschied sich etwas von der des heute vorhandenen Monuments.37  36 Krüger 2000, 55−57; Küchler 2007, 475−480; Verstegen 2013, 104−118.  37 Die heute bestehende Fassung des Heiligen Grabes stammt im Wesentlichen aus dem beginnenden 19. Jahrhundert. Vgl. zum Grab Biddle 1998.

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Abb. 7: Grundriss, Schnitt und Ansicht des Narbonner Modells der Jerusalemer Grabesädikula aus dem 5. Jh (nach Jean Lauffray).

Sie muss insbesondere sehr viel kleiner gewesen sein. Wie sich durch eine dreidimensionale Nachbildung dieser Ädikula aus der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts (Abb. 7) sowie durch Abbildungen auf Pilgerobjekten des sechsten und siebten Jahrhunderts wie Ampullen, einem Reliquienkasten und Elfenbeinpyxiden (Abb. 8) nachweisen lässt, bestand der kleine Bau aber schon wie heute aus einer rechteckigen Grabkammer mit einer Grabbank auf der rechten Seite und einem Vorraum, der sich als Nische zum Außenraum öffnete und dadurch den Grabkammerzugang architektonisch betonte.38 Der Grundriss des eigentlichen Grabhauses war am Außenbau polygonal, vor die Ecken waren Säulen gestellt. Das Polygon war mit einem flach geneigten, achtseitigen Pyramidendach versehen und von einem Kreuz bekrönt. Von der Ädikula ist schon ab dem vierten Jahrhundert bezeugt, dass sie von einer doppelten Abschrankung umgeben war (Abb. 9) und die Zone innerhalb der Schranken im Rahmen der offiziellen Liturgie nur vom Bischof betreten werden durfte.39 Wahrscheinlich verlief die äußere Schranke entlang des Querriegels, wo  38 Zu bildnerischen Wiedergaben der Ädikula und zur Rekonstruktion vgl. Kötzsche 1995; Biddle 1998, 36−40, 87−92; Verstegen 2013, 120−125. Zum Narbonner Modell: Lauffray 1962; Bonnery 1991. Zu den Pilgerampullen: Grabar 1958; Wilkinson/Barag 1974. Zum Reliquienkästchen aus der Sancta Sanctorum-Kapelle: Reudenbach 2011. Zu Pyxiden mit entsprechender Motivik zuletzt: Studer-Karlen 2010.  39 Die Pilgerin Egeria spricht in den 380er Jahren von äußeren und inneren Schranken. Vgl „intro / intra cancellos“: Itin. Eger. 24,2–3 (FC 20, 226); Itin. Eger. 24,4 (FC 20, 228); 24,10 (FC 20, 232); 25,3 (FC 20, 234); 34 (FC 20, 264); 38,2 (FC 20, 278). – „Ante cancellum“: Itin. Eger. 24,5 (FC 20, 228); 34 (FC 20, 264). – „Intra cancellos interiores / in cancello interiore“: 25,3 (FC 20, 236); 47,1 (FC 20, 300). Vgl. auch Brev. de Hier. A 3 (CCSL 175, 110). Vgl. Verstegen 2013, 122f., 412f.

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Abb. 8: Pyxis mit Darstellung der Frauen am Grab Christi. Elfenbein, Herstellung: östlicher Mittelmeerraum, 6. Jh. New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 17.190.57a, b, H 10,8 cm.

bei den Ausgrabungen Reste einer Fundamentierung für eine ebensolche Abgrenzung freigelegt wurden.40 Wie dem Bericht des Pilgers von Piacenza zu entnehmen ist, war die Grabesädikula um 570 vollständig oder in Teilen mit einer Edelmetallverkleidung aus Silber und Gold ummantelt oder von einer Art Ziborium aus diesem Material überfangen.41 An oder in dem Monument waren außerdem zahlreiche Votive befestigt, und zwar „an Eisenstäben hängende Armspangen, Armbänder, Halsketten, Fingerringe, Kopfschmuck, Gürtelchen, Wehrgehänge, Kaiserkronen aus Gold und Edelsteinen und Schmucksachen von Kaiserinnen“.42 In der ursprünglichen Konzeption sollte dieses Monument den Besuchern − wie auch der frei gestellte Golgotafels – klar die Authentizität des Orts vor Augen führen, an dem man sich befand. Nach Aussage führender Theologen der Zeit wie Eusebius von Caesarea und dem lokalen Jerusalemer Bischof Kyrill dienten die heiligen Stätten als Zeichen des Triumphes des christlichen Glaubens über jüdische  40 Corbo 1981−1982, Foto 53, Nr. „D“ und „E“.  41 Itin. Anton. Plac. 18 (CCSL 175, 138).  42 Itin. Anton. Plac. 18 (CCSL 175, 138). Deutsche Übersetzung bei Donner 2002, 261.

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Abb. 9: Rekonstruktion der Schrankenanlagen in der Anastasisrotunde (nach John Wilkinson).

und polytheistische Glaubensvorstellungen (Euseb) oder als sichtbare Wahrheitsbeweise für die christlichen Glaubensinhalte (Kyrill). Bischof Kyrill, der das Bischofsamt zwischen 348 oder 350 bis 387 bekleidete, war wesentlich für die Herausbildung und Entwicklung eines Kults an den christlichen heiligen Stätten verantwortlich, wie er in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts immer deutlichere Konturen gewann.43 In seiner 13. Taufkatechese belehrte er seine Taufanwärter über ihr Verhältnis zum Golgotafelsen: „Während andere nur von ihm hören, sehen und berühren wir ihn.“44 Dass er den Felsen im vorangegangenen Satz als „hochheilig“ (παναγίος) bezeichnete, weist darauf hin, dass er – analog zu den alttestamentlichen Vorstellungen von der Hochheiligkeit – mit der Berührbarkeit eine besondere Qualität verband, nämlich dass das hochheilige Berührte die berührende Person oder das berührende Objekt ebenfalls heilige.45  43 Vgl. Verstegen 2013, 260−264.  44 Cyr. H. catech. 13,22 (BKV1 41, 220). So auch in Cyr. H. catech. 1,1 (BKV1 41, 30).  45 Milgrom 2000, Sp. 1530; Harrington 2001, 39. Ein Beispiel für die Übertragbarkeit des Heiligen sind die Altäre und Kultgeräte der Stiftshütte, die als „hochheilig“ bezeichnet wurden, da sie ihre Heiligkeit durch Berührung weitergeben und andere Objekte heiligen konnten (2 Mos 29,37; 30,29; 3 Mos 10,12). Personen jedoch konnten durch sie in der Regel nicht geheiligt werden. –

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Kyrill war auch der maßgebliche Impulsgeber dafür, dass sich im theologischen Denken des lokalen Klerus ab der Mitte des vierten Jahrhunderts das Konzept vom Jerusalem als Heiliger Stadt auf Erden entwickelte, das sich innerhalb kürzester Zeit erfolgreich durchsetze.46 Diese Vorstellung gründete wesentlich auf dem Konzept der Zuschreibung von Heiligkeit an die real im Stadtraum zu verortenden jesuanischen Stätten, auch wenn viele von diesen zu dem Zeitpunkt noch gar nicht durch architektonische Fassungen überfangen waren. Während man andernorts wie beispielsweise in Rom ein personenbezogenes Heiligkeitskonzept verfolgte und mit der Inszenierung der Petrus- und Paulusgräber die eigene apostolische Tradition in den Vordergrund stellte, propagierte der Jerusalemer Klerus die Einzigartigkeit der Wirkungs- und Passionsstätten Jesu als Alleinstellungsmerkmal in der gesamten christlichen Welt.

Kollektive Erinnerungspraktiken Das Konzept der heiligen Stätten Jerusalems war auf engste Weise mit den konventionalisierten liturgischen Abläufen und den individuellen Gebets- und Verehrungspraktiken der Pilger verbunden. Die sich im Verlauf des vierten Jahrhunderts entwickelnde offizielle Jerusalemer Liturgie verankerte die Gedächtnisorte in einer christlichen Sakraltopographie, aber auch im regelmäßigen Turnus des Kirchenjahrs. Das zentrale Proprium der Jerusalemer Liturgie bestand darin, dass für die hohen Festtage Stationsgottesdienste entwickelt wurden, die zu den heiligen Stätten führten, an denen das jeweilige Geschehen vor Ort kommemoriert wurde.47 Bei diesen Feierlichkeiten war nicht nur die gesamte Jerusalemer Gemeinde, sondern regelmäßig auch eine große Pilgerschar anwesend. Zentrales Element dieser Sonderfeiern waren die Lesungen, die zu Ort und Tag, ja sogar Zeit passend aus dem Evangelium vorgetragen wurden. Ein weiteres Kennzeichen waren Prozessionen, die die einzelnen Memorialorte untereinander verbanden und die von der Feiergemeinde unter Hymnengesang gemeinsam abgeschritten wurden. In Jerusalem entwickelte sich bereits im vierten Jahrhundert außerdem eine Stundenliturgie im Rahmen der regelmäßigen Dienste des liturgischen Wochenablaufs.48 Man traf sich viermal am Tag zum Psalmengesang und Gebet: zum Morgenoffizium bei Tagesanbruch, zur Sext (ca. 12 Uhr), zur Non (ca. 15 Uhr) und

Die christlichen Vorstellungen einer kontagiösen Sakralität basieren wesentlich auf jüdischen Wurzeln, lassen sich vereinzelt aber auch in der polytheistischen Glaubenswelt entdecken, speziell im römischen Kaiserkult. Vgl. Hartmann 2010, 587–592.  46 Um 380 hatte sich der Begriff der „heiligen Stätten“ (loca sancta/ ἅγιοι τόποι) als ein feststehender Terminus im Sprachgebrauch etabliert, mit dem Christen die Gesamtheit der bekannten Lebens- und Passionsorte Jesu, aber auch andere biblische Erinnerungsorte benannten. Vgl. Maraval 1992, 8; Verstegen 2013, 264−269.  47 Baldovin 1987; Verstegen 2013, 403–408.  48 Zerfaß 1968; Buchinger 2012, 292−294; Verstegen 2013, 163f., 391–396.

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zum abendlichen Luzernar (Lichterfest, nach Egeria vor Ort „licinicon“49 genannt). Als Versammlungsort der Gemeinde diente hierfür jedes Mal die Anastasisrotunde.50 Die eigentliche Gemeindekirche Jerusalems war die Martyriumsbasilika, in der man den Hauptteil der sonntäglichen Gottesdienste mit Eucharistiefeier abhielt. Vor dem sonntäglichen Gottesdienst traf sich die Gemeinde früh morgens in der Anastasisrotunde zu einer Sonderfeier, die vom üblichen Ablauf der Stundenliturgie abwich und an das Auferstehungsgeschehen erinnerte.51 Dabei trug der Bischof aus dem Evangelium eine Lesung der entsprechenden Perikopen vor. Er begab sich dabei stellvertretend in die Rolle Christi, was sich dadurch zeigt, dass sein Erscheinen so inszeniert wurde, dass er sich bereits vor Eintreten der Gläubigen in die Ädikula begeben hatte, von dort heraustrat und aus dem Evangelium las. „Wenn er begonnen hat zu lesen“, so Egeria, „brechen alle in ein solches Jammern und Klagen und in solche Tränen aus, daß selbst der Härteste zu Tränen darüber gerührt werden kann, daß der Herr so Großes für uns auf sich genommen hat.“52 Durch die Bezugnahme auf den authentischen Ort des Geschehens und auch die passende, in der Evangelienperikope genannte Zeit muss der Vortrag des Bischofs auf die Gemeinde als sehr intensive kultische Vergegenwärtigung der Auferstehungsverkündigung gewirkt haben. Als große Sonderfeiern, die im Verlauf des Kirchenjahrs mit der Auferstehungskirche verbunden waren, sind die Feier der Kirchweihe sowie die Feier der Ortstradition von Kreuzigung und Auferstehung an Ostern zu nennen, letztere verbunden mit der alljährlich in der Osternacht vollzogenen Taufliturgie.53 Egerias Bericht gibt ein beredtes Zeugnis davon, in welcher Form die neutestamentlichen Ostergeschehnisse in der Liturgie der Auferstehungskirche alljährlich vergegenwärtigt wurden und wie die hier befindlichen Memorialstätten und Reliquien in das liturgische Gedenken integriert waren.54 Besonders eindrücklich ist ihre Schilderung der Karfreitagszeremonie mit der Zurschaustellung der Reliquie des Kreuzesholzes.55 Aus dieser Beschreibung geht klar hervor, dass die Reliquien von Kreuzesholz und Titulus offenbar aus ihrem üblichen Aufbewahrungsort in einer Schatzkammer geholt und oben auf dem Golgotafels hinter einem auf der Kuppe montierten Kreuz präsentiert wurden. Es scheint ausreichend Platz vorhanden gewesen zu sein, um einen Tisch aufzustellen, hinter dem der Bischof auf der Kathedra Platz nehmen und der von mehreren Diakonen umstanden werden konnte. Dann schritten die Gläubigen einzeln nacheinander an dem Tisch vorüber und verehrten die Reliquien durch Verbeugung, Stirnberührung und Anschauen und küssten am Ende das Kreuz.  49 Itin. Eger. 24,4 (FC 20, 228).  50 Mit Ausnahme der Non am Mittwoch und am Freitag, die als eucharistischer Gottesdienst in der Sionskirche gefeiert wurden. Vgl. Zerfaß 1968, 6–9.  51 Itin. Eger. 24,8 (FC 20, 230f.). Vgl. Mateos 1961; Buchinger 2012, 294.  52 Itin. Eger. 24,10 (FC 20, 233).  53 Fraser 1995; Buchinger 2012; Verstegen 2013, 161−173.  54 Itin. Eger. 30,1−38,2 (FC 20, 258−278).  55 Itin. Eger. 37,1−3 (FC 20, 270–275).

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Egeria betont ausdrücklich, dass Kreuzesholz und Titulus nicht mit den Händen angefasst werden durften. Die Berührung, die ja Voraussetzung für die erhoffte Wirkung der Reliquien auf die Gläubigen war, erfolgte über Stirn, Augen und Mund.

Individuelle Erinnerungspraktiken Zeugnisse über individuelles Frömmigkeitsverhalten der Gläubigen außerhalb der offiziellen liturgischen Feiern sind für alle drei Hauptverehrungsmonumente bzw. -gegenstände in der Auferstehungskirche überliefert: das Grab, den Golgotafelsen und die Kreuzesreliquie.56 Sie betreffen sowohl Personen männlichen als auch weiblichen Geschlechts. Die Quellen schildern, dass die materielle Präsenz des jeweiligen Memorialorts – verbunden mit dem Gebetsvollzug – die Gläubigen zu regelrechten Visionen und einem sehr emotionalen Empfinden veranlasste. Dabei versetzten sich die Gläubigen in das neutestamentliche Geschehen und ahmten sogar das Verhalten von Personen nach, wie es in den Evangelien überliefert ist. Ähnlich wie bei den kollektiven liturgischen Feiern war das Resultat dieser Praktiken eine aktualisierende Vergegenwärtigung der neutestamentlichen Ereignisse. So bekräftigte beispielsweise Hieronymus, dass er jedes Mal, wenn er das Grab Jesu betrete, den Erlöser in seinen Leichenbinden und, wenn er verweile, auch den Auferstehungsengel und das Schweißtuch dort sehe.57 Über das Verhalten der aus Rom mit ihm ins Heilige Land gekommenen, patrizischen Witwe Paula (347–404) berichtete derselbe Autor: „Vor dem Kreuz warf sie sich nieder, als ob sie den Herrn daran hängen sähe, und verharrte in Anbetung. Als sie das Grab der Auferstehung betreten hatte, küsste sie den Stein, den der Engel vom Eingang des Grabmales weggewälzt hatte. Und die Stelle selbst, an welcher der Leichnam des Herrn gelegen hatte, bedeckte sie mit frommem Munde, gleichsam nach dem ersehnten Wasser dürstend.“58 Ob wirklich alle getauften Christen von Anfang an die Möglichkeit besaßen, das Innere der Grabesädikula aufzusuchen, wie es heute der Fall ist, kann mit letzter Sicherheit aus den spätantiken Quellenzeugnissen nicht geschlossen werden.59 Zwar berichten Pilger und ortsansässige Autoren von Besuchen im Grab, die Pilgerberichte als Selbstzeugnisse stammen aber durchweg von Personen geistlichen Stands (Kleriker bzw. eine Nonne)60, die Berichte über Besuche von Laien betreffen nur Angehörige der obersten Gesellschaftsschichten. Es ist also nicht auszuschließen, dass zu Beginn nur einem exklusiven Personenbereich diese Möglichkeit gegeben war. Hinweise auf konkrete Restriktionen, und zwar im Kontext ‚falscher‘  56 Vgl. Verstegen 2013, 173–177.  57 Hier. ep. 46,5 (CSEL2 54, 334).  58 Hier. ep. 108,9 (CSEL2 55,315). Übersetzung nach Hartmann 2010, 622f.  59 Vgl. Brenk 1995, 72.  60 Dass die frühen Pilgerberichte, soweit bekannt, von Klerikern verfasst wurden, betont auch Türck 2011.

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Abb. 10: Pilgerampullen mit Darstellung der Frauen am Grab. Herstellung: Palästina, 6./7. Jh. Monza, Dom. Foto um 1918.

Konfessionszugehörigkeit, sind erst wesentlich jüngeren Quellenzeugnissen aus dem 7. Jahrhundert zu entnehmen.61 Zur individuellen Frömmigkeitspraxis gehörte ferner der Erwerb von Sekundärreliquien, die die Pilger auch nach ihrer Heimkehr mit der Heilskraft der heiligen Orte verbanden.62 Solche Devotionalien – Eulogia („Segen“) genannt –, waren Substanzen, die mit den verehrten Orten in Kontakt gekommen waren. Als Materialien überliefert sind Erde und Wachs, das in Formen gepresst wurde, sowie Flüssigkeiten wie Öl und Wasser, die man in kleine Fläschchen abfüllte. Augustin schilderte im „Gottesstaat“eine Episode, nach der ein gewisser Hesperius etwas „heilige Erde“ (terra sancta) vom Grab Christi erhalten und diese nach Nordafrika gebracht habe.63 Ein anonymer Pilger aus Piacenza berichtete um 570 davon, dass man einerseits Erde in das Grab Christi warf und die Pilger diese nachmals geheiligte Erde

 61 Zwei Kapitel im vor 619 abgeschlossenen Pratum Spirituale des Johannes Moschos erzählen von gescheiterten Versuchen monophysitischer Personen (des dux Palaestinae Gebemer und der Patrizierin Kosmiane), das Heilige Grab zu betreten. Erst nach Hinwendung zum chalcedonensischen Glauben wurde ihnen der Zutritt gewährt. Vgl. Jo. Mosch. prat. 48 (PG 87, col. 2904).  62 Vikan 1982; Frank 2006; Reudenbach 2008; Reudenbach 2011.  63 Aug. civ. 22,8 (CCSL 48, 820).

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mit sich nahmen, andererseits dass man von einer Bronzelampe im Grab, die unentwegt brannte, „den Segen“ mitnahm, also etwas Öl aus dem Gefäß abfüllte.64 In Jerusalem hergestellte Pilgerfläschchen aus Blei zeugen heute noch von diesem seit der Spätantike belegten Brauch.65 Die Bilddarstellungen auf solchen in Monza und Bobbio erhaltenen Bleiampullen aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert zeigen z. B. in anachronistischer Weise das im Neuen Testament geschilderte Treffen der Frauen mit dem Engel am Grab (Abb. 10, vgl. auch Abb. 8), das aber nicht in seiner ursprünglichen Form als Felsgrab gezeigt ist, sondern in der Form der Ädikula, zu der es seit Konstantins Baustiftung inszeniert worden war. Auffällig ist auch, dass die Frauen statt der im Neuen Testament erwähnten Aromata Weihrauchfässer in den Händen halten, liturgische Geräte also, wie sie in der zeitgenössischen Liturgie am Grab, z. B. in der geschilderten sonntäglichen Morgenliturgie oder bei der Osterfeier, benutzt wurden. Die Darstellung vereint somit biblische, architektonische und liturgische Aspekte. Vermutlich sollte diese Kombination dazu dienen, den Pilgern ihre eigene Erfahrung des heiligen Orts wieder in Erinnerung zu rufen.66 Vor dem Hintergrund der soeben dargelegten Frage, ob es überhaupt allen Pilgern, d. h. auch Laien, möglich war, die Grabesädikula zur individuellen Devotion zu betreten, bieten die Bilddarstellungen der Pilgerampullen möglicherweise bewusst einen Reflex der kollektiv vollzogenen Riten am Heiligen Grab. Auf diese Weise konnte jeder Pilger, der eine entsprechende Eulogie aus Jerusalem mitnahm, seine Erinnerung mit der persönlichen, körperlich vollzogenen Teilnahme an den Gedächtnisriten am heiligen Ort verbinden.

Zusammenfassung Das architektonische Konzept der Jerusalemer Auferstehungskirche basierte auf einer additiven Kombination eines oblongen Versammlungsraumes für liturgische Feiern einer größeren Menschenmenge mit einer separaten, zentrierenden Schutzarchitektur über dem Memorialort, die wahrscheinlich gleichzeitig eine überraschende Lichtinszenierung umsetzte. Ein konzentrischer Umgang führte um die verehrte Stätte, die das Zentrum des Baus einnahm. Dieser Umgang hatte wahrscheinlich die Funktion, die Begegnung der Besucher mit der Memorialstätte zu regulieren, Besucherströme zu lenken und Prozessionswege zu markieren. Außerdem fällt in der Anastasis auf, dass vor die Memorialstätte ein Querriegel eingeschoben war, in dem sich vermutlich die Gemeinde bei den liturgischen Feiern in der Rotunde aufhielt. Der konstantinische Architekturentwurf inszenierte und steuerte den Umgang mit den Erinnerungsorten, entzog diese möglicherweise aber auch dem direkten Kontakt der Gläubigen. Zwar ist in den spätantiken Quellenzeugnissen immer  64 Itin. Anton. Plac. 18 (CCSL 175, 138).  65 Grabar 1958; Wilkinson/Barag 1974.  66 Frank 2006, 197f.

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wieder die Rede davon, dass Personen die Memorialorte betraten, es bleibt aber unklar, ob es sich dabei nicht vielleicht nur um privilegierte Personengruppen wie Kleriker, Mönche und die soziale Elite gehandelt hat. Nach Ausweis der architektonischen oder textlichen Zeugnisse waren sowohl das Zentrum der Rotunde als auch der Golgotafels durch Gitter oder Barrieren versperrt. Das Verhindern der körperlichen Berührung eines Orts strich dessen Sakralität heraus und schuf soziale Abstufungen, da es nur privilegierten Personen möglich war, die abgeschrankten Zonen ungehindert zu betreten. Der gesamten Gemeinde und angereisten Pilgern wurde aber die Möglichkeit eröffnet, die Memorialstätten im Rahmen regelmäßiger kollektiver Riten zu erleben, in denen die Monumente in ein vergegenwärtigendes liturgisches ‚Reenactment‘ der neutestamentlichen Ereignisse eingebunden wurden.

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In Kontakt mit den Allerheiligsten

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Foto: Ilan Arad, 2012. Israel Heritage Building Foto Nr. 1-3000-2013. URL: http:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bb/Church_of_the_Holy_Sepulchre_-_ Ilan_Arad.jpg. Lizenz: CC-BY-SA-3.0, vgl. http://creativecommons.org/licenses/by-sa­/ 3.0/deed.en.

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Abb. 2: Nach Corbo 1981−82, II Taf. I. Abb. 3: Nach Avni/Seligman 2003, 157 Abb. 4. Eintragungen Verstegen. Abb. 4: Nach Piccirillo/Zaqzuq 1999, FarbAbb. I. Abb. 5: Detail aus Poeschke 2009, Abb. 5. Abb. 6: Foto: Verstegen, 2006. Abb. 7: Nach Lauffray 1962, Abb. 1. Abb. 8: URL: http://images.metmuseum.org/CRDImages/md/original/sf17-190-57s2.jpg. Nutzung nach OASC-Lizenz des Metropolitan Museum of Art, New York. Abb. 9: Nach Wilkinson 2002, 367 Abb. 7. Abb. 10: Bildarchiv Foto Marburg, Foto Nr. 2.189, mit freundl. Genehmigung.

Susanna E. Fischer

Räume des Heils Die narrative Repräsentation des Heiligen in lateinischsprachigen Pilgerberichten des 12. Jahrhunderts My article addresses two texts about pilgrimage to the Holy Land dating from the 12th century written by Johannes of Würzburg and Theodericus. In their dedicatory epistles, both authors emphasize that the texts are meant to serve as guides for a mental pilgrimage. Indeed, the text of Theodericus is written solely for this purpose. This article examines the textual strategies that lead to the re-envisioning of the holy space of Palestine, to the re-enactment of the visit itself, and, finally, to the experience of salvation. The analysis starts by comparing the source of both texts, Fretellus. In the second part, the line of argument is supported by the texts of Johannes and Theodericus. The accounts of the inscriptions and of the liturgy are explored as the main examples in Johannes. The description of the Holy Sepulchre and the re-enactment of the Passion is examined in Theodericus.

„Und welchen Nutzen wird der haben, der an jene Orte gekommen ist, als ob der Herr sich bis jetzt körperlich an jenen Orten aufhalte?“1 Gregor von Nyssa stellt mit diesen Worten im vierten Jahrhundert das steigende Interesse an Pilgerfahrten ins Heilige Land infrage. Das sich entwickelnde Pilgerwesen wird vielfach kritisiert.2 Hintergrund ist die Ansicht, dass der Aufenthaltsort keine Rolle bei der Verehrung Gottes spielt.3 So bezeichnet Jesus im Johannesevangelium (Joh 4, 19f.) die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit als die richtige Form der Verehrung Gottes: spiritus est Deus et eos qui adorant eum in spiritu et veritate oportet adorare (Joh 4, 24). Die kritische Haltung gegenüber der Pilgerfahrt führt dazu, dass viele Pilgerwillige nicht reisen. Besonders Nonnen und Mönche sind aufgrund der stabilitas loci oder aus anderen Gründen an ihr Kloster gebunden und können sich nicht auf den Weg ins Heilige Land machen.4 Diese Entwicklung schlägt sich auch in den Pilgerberichten nieder, die verschiedene Funktionen besitzen.5 Sie fungieren nicht nur als Pilgerführer, sondern sie    1 Gregor von Nyssa, epist. 2,8 (PG 46, Sp. 1012CD); Übersetzung Testke 1997, 41.   2 Prominent und vielzitiert sind in diesem Zusammenhang Hieronymus’ Worte an Paulinus (ep. 58, 2, 16f. CSEL 54, 529), dem er von einer Pilgerreise nach Jerusalem abrät und schließt: non Hierosolymis fuisse, sed Hierosolymis bene vixisse laudandum est. Diskutiert bei Reudenbach 2008, 10f.; Toussaint 2008, 33f.    3 Vgl. dazu weiter Gregor epist. 2,8f. oder Hieronymus, epist. 58,3,3. Diskutiert bei Kötting 1962; Hunt 1982, 91f.    4 Vgl. Toussaint 2008, 35.    5 Vgl. die Versuche, die Textsorte „Pilgerberichte“ zu bestimmen: Davies 1992 und Wolf 1989. Vgl. zu den Funktionen der Texte Ganz-Blättler 2000, 248f.

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stellen zusätzlich Sammlungen des Wissens über das Heilige Land dar und besitzen einen exegetischen Nutzen. Gleichzeitig können die Texte als Ersatz für eine Pilgerreise dienen, als „Kompensationsmöglichkeit in literarischer Form“.6 Hinweise darauf zeigen sich schon im vierten Jahrhundert. Das Interesse von verhinderten Pilgern bzw. in diesem Fall von Pilgerinnen bezeugt der Text der Egeria,7 die ihren Bericht in zwei Briefen an ihre Mitschwestern zuhause sendet, damit diese sich ein Bild von ihrer Reise machen können (vgl. 23,10). In ihrem Text findet sich auch der erste Hinweis auf einen imaginativen Nachvollzug der Reise durch die Nonnen daheim, sogar mit einer „Arbeitsanweisung“: Egeria fordert ihre Leserinnen auf, die betreffende Bibelstelle im Buch Mose selbst nachzulesen (5,8). Hinweise auf einen produktiven geistigen Nachvollzug gibt die Schrift De locis sanctis Bedas (um 700), der sich eng an der Schrift Adomnans aus dem 7. Jh. orientiert, selbst aber nie ins Heilige Land reist.8 Beda informiert den Leser in einer anderen Schrift, der Historia Ecclesiastica (5,15,3), über den Nutzen von Adom­ nans Werk: Es sei nämlich ganz besonders nützlich für diejenigen Leute, die sich weit entfernt von diesen Orten aufhielten, an denen die Patriarchen und Apostel lebten und die diese Orte nur durch die Lektüre kennenlernen können.9 Diese Bemerkung ist ein wichtiger Hinweis für die Gebrauchsfunktion des Textes.10 Denjenigen, die selbst nicht ins Heilige Land aufbrechen können, soll ein Zugang zu den heiligen Orten durch den Text zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet einerseits, dass das vorhandene heilsgeschichtliche und topographische Wissen über diese Orte bereitgestellt wird, das für eine anstehende Reise oder für exegetische Zwecke nützlich ist. Andererseits kann die Verfügbarmachung der heiligen Stätten in der Imagination andernorts punktuell auch zu einer Vergegenwärtigung des Heils führen. Das erste überlieferte Zeugnis in einer Widmung eines lateinischsprachigen Pilgertextes dafür, dass dieser explizit nicht (nur) als „Pilgerführer“ für eine tatsächliche Reise ins Heilige Land fungieren soll, sondern an denjenigen adressiert ist, der    6 So Ganz-Blättler 2000, 256 bezogen auf spätere Autoren (14./15. Jahrhundert).    7 Edition: Franceschini/Weber 1965. Zu Egeria vgl. Röwekamp 2000, 12f. mit weiterer Literatur.    8 In der kurzen Praefatio in Versform schreibt Beda, er habe sein Werk verfasst, indem er den Büchern der alten und den Schriften der neuen Lehrer folgte (sequens veterum monumenta, simulque novorum / carta magistrorum, 3f.). Am Ende der Schrift geht Beda auf seine Arbeitsweise ein: er habe aus Adomnans Text De locis sanctis einiges weggelassen und diesen mit den Schriften der Alten verglichen (ex qua [sc. historia Adomnani] nos aliqua decerpentes veterumque litteris comparantes, 19,5,49f.). Zu Adomnan vgl. O’Loughlin 2007 mit weiterer Literatur.   9 […] (Adomnanus) fecitque opus, ut dixi, multis utile, et maxime illis, qui longius ab eis locis, in quibus patriarchae vel apostoli erant, secreti, ea tantum de his, quae lectione didicerint, norunt.  10 O’Loughlin merkt zu diesen Worten ohne weitere Begründung an, dass sie wahrscheinlich ironisch gemeint seien: „He (sc. Beda) remarked that De locis sanctis was a work that was most useful to its readers in many ways and, possibly with a touch of irony, especially to those who lived far from those places.“ (O’Loughlin 1997, 132). Morris 2005, 102 bestimmt die Gebrauchsfunktion richtig als „guide for those who could not go in person“. Am Ende von Bedas De locis sanctis findet sich ein Hinweis, welche Gebrauchsfunktion Beda seiner Schrift zugedacht hat, nämlich lectio und oratio: […] obsecrantes per omnia, ut praesentis saeculi laborem non otio lascivi torporis, sed lectionis orationisque studio tibi temperare satagas (19,5).

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keine Reise unternehmen kann, ist der Text des Johannes von Würzburg11 aus dem 12. Jahrhundert und nicht viel später der des Theodericus.12 Aus diesem Grund werden die beiden Texte bei den folgenden Überlegungen im Zentrum stehen und damit die Frage, auf welche Weise eine Vergegenwärtigung der heiligen Stätten textuell erzeugt und das Heilserlebnis in der Lektüre nachvollzogen werden kann. In der folgenden Untersuchung soll nach einer Betrachtung der Widmungsbriefe, die die Funktionen der Texte ausstellen (I.), auf der Kontrastfolie der Quelle beider Texte, der Schrift des Fretellus aus dem 12. Jahrhundert (II.), der theologische Aufbau von Johannes’ Text entwickelt werden (III.). Überlegungen zur Repräsentanz des Heils im Text (IV.) führen schließlich zu konkreten Textbeispielen aus Johannes (V.) und Theodericus (VI.) zur Vergegenwärtigung der heiligen Orte.

I. Über Johannes von Würzburg ist aus dem Text nur die Information zu entnehmen, dass er ein Kleriker der Würzburger Kirche ist (Iohannes, dei gratia in Wirziburgensi aecclesia […], 1). Seine Reise fand im 12. Jahrhundert statt und kann ungefähr auf nach 1149 datiert werden.13 In der Einleitung zu seinem Werk gibt er über die von ihm angestrebte Gebrauchsfunktion seines Textes Auskunft. Er widmet den Text einem gewissen socius et domesticus Dietricus, dessen Identität nicht sicher geklärt werden kann.14 Die Widmung ist von heilsgeladenem Vokabular geprägt.15 So grüßt Johannes den Freund nicht nur mit dem üblichen […] Dietrico salutem, sondern fügt noch hinzu: et supernae Iherusalem, cuius participatio in idipsum, contemplationem (2–3). Er überbringt ihm demnach salus und contemplatio des himmlischen Jerusalem, wobei er sich in der Formulierung auf Psalm 121,3 stützt.16 Hinter diesen Worten steht die Ansicht, dass durch die Anwesenheit im irdischen Jerusalem das himmlische Jerusalem in greifbare Nähe rückt.17 Für den abwesenden Dietricus, so Johannes, habe er die verehrungswürdigen Orte und die dort eingeschriebenen Verse (epygrammata sive prosaice sive met 11 Edition: Huygens 1994. Zur Überlieferung dort 13f.  12 Edition: Huygens 1994. Der Text ist in nur zwei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Zur Überlieferung dort 22f.  13 Vgl. zum Autor und den Reisedaten Huygens 27f. und zum Widmungsbrief Lehmann-Brauns 2010, 125 und Toussaint 2008, 37f.  14 Es wurde vermutet, dass dieser Dietricus (= Theoderich, Thierry) eben der Theodericus ist, dessen eigener Pilgertext neben Johannes von Würzburg in der Edition von Huygens veröffentlicht ist. Sichere Argumente dafür gibt es nicht. Zur Diskussion vgl. Huygens 1994, 29. Huygens weist dort auf die Häufigkeit dieses Namens hin, die eine eindeutige Zuordnung erschwert.  15 Vgl. den Beginn Iohannes, dei gratia […], der 1 Kor 15, 10 aufruft: gratia […] dei sum id quod sum. Vgl. Huygens ad loc.  16 Ierusalem […] cuius participatio eius in idipsum.  17 Vgl dazu: considera sanctam Iherusalem, contemplare ipsam Syon, que celestem paradysum allegorice nobis figurat aus den Widmungsbriefen des Fretellus c.2. Zu Fretellus s. u., Abschnitt II.; zu Johannes 37f. vgl. allgemein Auffahrt 2002, 92f. und 103f. sowie Reudenbach 2008, 11, Anm. 6 mit weiterer Literatur.

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rice, 19) aufgezeichnet. Die Wiedergabe der epygrammata ist eine Besonderheit des Johannes, die sich bei seinen literarischen Vorgängern nicht findet – aber ebenso im Text des Theodericus.18 Die Heiligkeit19 der loca venerabilia beruhe auf der körperlichen Präsenz Christi an diesen Orten: loca venerabilia, quae dominus noster, mundi salvator, una cum gloriosa genitrice sua MARIA virgine perpetua et cum reverendo discipulorum suorum collegio corporali sanctificavit presentia (14–17).20 Ähnlich formuliert Burchard von Monte Sion im 13. Jahrhundert, dass die memoria an die Ereignisse den Orten anhafte: Horum omnium locorum et singulorum adhuc ita plena et manifesta exstat memoria, sicut in illo die exstitit, quando presencialiter erant facta.21 Die Orte sind demnach gleichsam durch die Präsenz Christi aufgeladen und die memoria an die heilsgeschichtlichen Ereignisse wird dort greifbar. Der Verweis auf die Aufladung der Orte durch Christus rechtfertigt ihre Heiligkeit. Diese Rechtfertigung hat üblicherweise in Pilgerberichten ihren Platz. Ein ähnlich geradezu topisches Element ist die Authentifizierung: Der Autor verweist häufig auf seine sorgfältige Arbeitsweise und die Herkunft seiner Informationen (z. B. aus eigener Wahrnehmung oder erfragt von anderen).22 Mit der Übergabe der descriptio, wie er seinen Text nennt (20), gibt Johannes seinem Adressaten zwei Möglichkeiten an die Hand, wie der Text zu nutzen sei: Quam descriptionem tibi acceptam fore estimo, ideo scilicet, quia evidenter singula per eam notata tibi, (1) quandoque divina inspiratione et tuitione huc venienti, sponte et sine inquisitionis mora et difficultate tanquam nota tuis sese ingerunt oculis, […] (20– 24).23 Die Gebrauchsfunktion erschöpft sich nicht in der eines Reiseführers, nach der das Auffinden der Orte erleichtert werden soll. Vielmehr soll der Leser durch den Text die Orte kennenlernen. Diese Vorgabe gilt für einen tatsächlich bevorstehenden Besuch, dann nämlich sollen sich die Orte dem Leser wie schon bekannte  18 Vgl. Huygens 1994. Der Grund dafür, dass die Inschriften in früheren Texten nicht erwähnt werden, ist einfach: Eine Anbringung lateinischer Inschriften wird erst seit 1099 durch die Eroberung Jerusalems möglich. Diskutiert bei Sauer 1993, 227.  19 Vgl. zur Heiligkeit der heiligen Orte Reudenbach 2008, 10 mit weiterer Literatur.  20 „Die heiligen Orte, die unser Herr, der Erlöser der Welt, zusammen mit seiner glorreichen Mutter MARIA, der ewigen Jungfrau, und mit der verehrungswürdigen Gemeinschaft seiner Jünger mit seiner körperlichen Präsenz geheiligt hat.“ Die Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, von der Autorin.  21 Prologus, Ed. Laurent 1864, 20,6f. „Die memoria jedes und jedes einzelnen dieser Orte besteht bis jetzt so vollständig und greifbar, so wie sie an dem Tag existierte, als die Geschehnisse in ihrer Gegenwart stattfanden.“  22 Z. B. bei Johannes: […] nostra devotio iuxta situm eorum, quem coram positi videndo diligenter denotavimus […] (34f.); Theodericus: […] vel ipsi visu cognovimus vel aliorum veraci relatu didicimus […]. (8f.); vgl. bei Adomnan die auffällige Betonung der Augenzeugenschaft Arculfs. Auch Sauer 1993, 215 verweist auf verschiedene Kategorien der Einleitungstopik.  23 „Diese Beschreibung wird dir meiner Meinung nach willkommen sein, deswegen natürlich, weil sich dir die einzelnen Orte, die für dich durch die Beschreibung unverkennbar bezeichnet wurden, wenn du einmal durch göttliche Inspiration und mit göttlichem Beistand hierher kommen solltest, ohne Hilfe, ohne Verzug und Schwierigkeit bei der Suche vor Augen stellen werden, so wie bereits bekannte Orte […]“.

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zeigen (tanquam nota tuis sese ingerunt oculis). Die Orte werden nach der Vorstellung des Autors weniger mit dem Text in der Hand besucht, sondern die vorausgehende Lektüre des Textes führt vorab zu einer Vergegenwärtigung der Orte. Im Anschluss daran wird der zweite Anspruch des Textes formuliert. Johannes sieht neben einem körperlichen Besuch der heiligen Stätten auch einen Nutzen für den Leser vor, der aus der bloßen Lektüre des Textes resultiert: […] vel (2), si forte non veniendo haec intuitu non videbis corporeo, tamen ex tali noticia et contemplatione eorum ampliorem quoad sanctificationem ipsorum devotionem habebis (24–27).24 Die Lektüre des Textes bringt Kenntnis und Kontemplation der Orte (noticia et contemplatio eorum). Dadurch werde dennoch eine tiefere Andacht über die Heiligung der Orte erreicht – trotz des defizitären Zustands, nämlich der Nicht-Anwesenheit an den heiligen Orten. Theodericus’ Schrift stellt in dieser Hinsicht eine Weiterentwicklung dar, da die Gebrauchsfunktion in der Widmung beschränkt wird.25 Der Text ist an die Leser zuhause, die nicht körperlich ins Heilige Land reisen können, adressiert: […] ut desideriis eorum, qui, cum corporali gressu illuc sequi non possunt, in declaratione eorum, que visu nequeunt attingere, vel auditu percipiant, pro posse satisfaciamus (10– 13).26 Im Unterschied zu Johannes wendet sich Theodericus nicht an einen einzelnen Adressaten, sondern an ein weites Publikum von Gläubigen, an die Verehrer der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit und besonders die glühenden Verehrer Christi (1f.). Auf dass sie in diesem Leben die Leiden Christi so teilen (passionibus Christi communicare, 4, cf. 1 Petr 4,13), dass sie es verdienen, glücklich mit ihm gemeinsam zu herrschen (feliciter […] conregnare, 5, cf. 2 Tim 2,12 und Röm 8,17). Ein Nachvollzug der Leiden Christi mit dem regnum celeste (19) als Lohn ist das Programm der Schrift.27 Mit seinem Werk trägt Theodericus dazu bei, dass der Leser die Leiden Christi teilen kann. Zweck seines Textes, den er lectio sive narratio (14) nennt, ist ein Lernprozess, der über die memoria Christi (vgl. 15) zur Liebe zu Christus führen soll. In liturgischer Sprache schildert Theodericus im Widmungsbrief diesen Prozess als Kettenreaktion mit dem regnum celeste als Ziel. Explizit formuliert er die verschiedenen Schritte auf dem Weg zum Heil: Hoc autem studio idcirco nos desudasse lector omnis agnoscat, ut ex hac ipsa lectione sive narratione Christum in memoria semper discat habere et eum in memoria retinens studeat amare, amando ei, qui pro se passus

 24 „[…] oder, wenn du vielleicht nicht kommen solltest und sie nicht mit körperlichem Blick sehen wirst, dann wirst du doch aus einer solchen Kenntnis und Betrachtung der Orte im Geiste eine tiefere Andacht über die Heiligung der Orte erreichen.“  25 Zur Identität des Theodericus s. o. Anm. 14. Zum Widmungsbrief vgl. Lehmann-Brauns 2010, 151f.; Toussaint 2008, 38; vgl. besonders die Diskussion bei Sauer 1993, 214f., die den Text als „Memorialschrift mit einer erbaulichen Funktion“ (216) deutet und sich bei ihrer Argumentation ausschließlich auf die Architekturbeschreibungen stützt.  26 „[…] damit ich den Wünschen derjenigen, die mir dorthin mit körperlichem Schritt nicht folgen können, soweit ich es vermag, Genüge leiste durch die Offenbarung dessen, was sie nicht mit dem Auge sehen oder mit dem Gehör wahrnehmen können.“  27 Vgl. zum Text als erzählte compassio Mertens Fleury 2006, 41f.

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est, compatiatur, compatiens eius desiderio accendatur, desiderio ipsius accensus a peccatis absolvatur, a peccatis absolutus gratiam ipsius consequatur, gratiam ipsius consecutus regnum celeste adipiscatur (13–19).28 Der Abschluss des Abschnittes mit „Amen“ offenbart den Gebetscharakter der Einleitung. Anders als bei Johannes ist bei Theodericus die Liebe zu Christus von dem impliziten Leser noch nicht erreicht. Das Ziel, das Theodericus mit seiner Schrift verfolgt, nämlich die Liebe zu Christus zu erregen, wird im Epilog wiederholt: […] sperantes lectorum vel auditorum animos in ipsius amorem per eorum que hic descripta sunt notitiam excitandos (1628f.). Dieses Ziel soll durch die Kenntnis (notitia) dessen, was er in seiner Schrift beschreibt, erlangt werden. Die Kenntnis der heiligen Orte ist auch bei Johannes ein entscheidender Faktor (noticia, 25). Mittels der Narration, nicht durch einen körperlichen Besuch soll der Leser demnach die heiligen Orte kennenlernen und dadurch die memoria Christi erreichen, die letztlich zum Heilserleben führt. Den Ausgangspunkt für das Erreichen dieser Kenntnis stellt das bereits vorhandene Bibelwissen dar, das jeder Leser mitbringt. Auf die Bibel als ständigen Referenztext des Pilgertextes verweist der Beginn des Textes: sicut omnibus novi ac veteris testamenti paginas legentibus liquet […] (22f.). Theodericus geht von den Erwartungen des Lesers aus und setzt bei dem Wissensstand des Lesers ein. Beide Autoren formulieren in ihren Widmungsbriefen den Anspruch, als Begleiter für eine geistige Pilgerschaft29 fungieren zu können. Anders als in dem späteren und bekannteren volkssprachlichen Text des Felix Fabri Die Sionpilger, verfasst nach 1492 für die Nonnen eines schwäbischen Dominikanerklosters,30 handelt es sich nicht um eine explizite Anleitung. Felix Fabris Text ist als Großprojekt einer geistigen Reise angelegt mit genauen Verhaltensvorgaben für jeden Tag. So soll zusätzlich zu der Lektüre der Sionpilger Psalter- oder Psalmlektüre durchgeführt werden. Damit die Pilgerfahrt im Geiste erfolgreich verläuft, erhalten die Pilger zu Beginn ein Regelwerk von 20 Verhaltensanweisungen.31 Derartige explizite Anweisungen finden sich in den beiden Texten aus dem 12. Jahrhundert nicht. Der Fokus der folgenden Untersuchung liegt auf der sich daraus ergebenden Frage, wie der in den Widmungsbriefen entwickelte Anspruch im Text umgesetzt wird.

 28 „Aus dieser Bemühung erkenne jeder Leser, dass ich mich deswegen angestrengt habe, damit er aus dieser Lektüre oder Erzählung lerne, Christus immer in Erinnerung zu halten und in der Erinnerung an Christus sich bemühe, Christus zu lieben; dass er durch die Liebe zu Christus, der für ihn gelitten hat, mitleide; dass er mitleidend vom Verlangen nach Christus entbrenne; dass er entflammt vom Verlangen nach Christus, von den Sünden befreit werde; dass er, von den Sünden befreit, die Gnade Christi erreiche und nach dem Erreichen der Gnade das himmlische Königreich erlange.“  29 Vgl. zur Pilgerfahrt im Geiste Miedema 2003, 389f.; Lehmann-Brauns 2010, 61f.; Klingner 2012, 59f.  30 Vgl. die Edition von Carls 1999 sowie Classen 2005; Klingner 2012.  31 Vgl. Carls 1999, 27f.

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II. Um die Funktionsweise der beiden Texte zu bestimmen, werde ich an einer anderen Stelle ansetzen. Den Ausgangspunkt für die Überlegungen, wie die Texte des Johannes und des Theodericus eine Vergegenwärtigung der heiligen Orte erzeugen, ist ein anderer Text: die Schrift des Fretellus32 über das Heilige Land, aus der Johannes ca. 45% seines Textes übernimmt und Theodericus ca. 26%.33 Der Text des Fretellus ist Quelle und Kontrastfolie zugleich, weil er nicht explizit auf einen Nachvollzug im Geiste ausgelegt ist. Der Vergleich zeigt, dass zwischen den Texten trotz der Übernahmen aus Fretellus markante Unterschiede nicht nur in der Rezeptionsweise sondern auch in der Präsentation des Textes bestehen. Über den Autor Fretellus ist nicht viel bekannt. Nach Ansicht der Forschung handelt es sich bei dem Autor um Rorgo Fretellus, der im Jahr 1119 Galilaeae cancellarius und 1121 capellanus Nazarenae ecclesiae wurde.34 Sein Text stützt sich stark auf Hieronymus’ Informationen über das Heilige Land35 und ist in mehreren Versionen überliefert. Eine Version aus dem Jahr 1137 ist Henri Sdyck, dem Bischof von Olmütz, gewidmet. Die zweite ist an Rodrigo von Toledo gerichtet und kann auf das gleiche Jahr datiert werden.36 Der Entstehungsort von Fretellus’ Bericht ist außergewöhnlich. Der Text ist nicht von einem Pilger verfasst, der wieder nach Hause zurückgekehrt ist. Fretellus befindet sich im Heiligen Land. Daraus erklärt sich auch die Form des Textes, der weniger als Pilgerführer denn als eine Informationsschrift über die Topographie des Heiligen Landes gestaltet ist: „Le petit livre de Fretellus n’est pas une relation de pèlerinage, mais un traité de topographie sacrée.“37 Eine Funktion des Textes ist das Bereitstellen von Heilswissen, also Wissen über Lage, den genauen Namen sowie teilweise das Aussehen der Orte biblischen Geschehens. Zentral dabei ist der genaue Verweis auf das jeweilige Ereignis. Die Funktion als Wissensspeicher38 zeigt sich zum Beispiel in dem Anliegen des Autors, Namen zu erklären wie die Wortzusammensetzung „Meddan“ aus Komponenten mit der Bedeutung ‚Wasser‘ und ‚Fluss‘: Meddan componitur ex Med et Dan. Med  32 Edition: Boeren 1980.  33 Huygens 1994, 19.  34 Vgl. dazu Boeren 1980, VIII. Seine biographischen Angaben in der Einleitung über Rorgo Fretellus sind mit Vorsicht zu behandeln, da er beispielsweise den Kleriker Rorgo Fretellus mit einem Laien Rorgus/Rochus von Nazareth identifiziert. Dazu Mayer 1982, 632 und Hiestand 1994, 19f.  35 Neben relevanten Briefen auch die Traktate De nominibus Hebraicis, Liber de situ et nominibus. Vgl. Boeren 1980, XXIIf.  36 Vgl. Hiestand 1994, 26f. Eine dritte Fassung, die mit der Fassung „Rodrigo“ weitgehend übereinstimmt, wurde von Kardinal Nicolas Roselli um 1356 in eine Sammlung für die römische Kurie übernommen.  37 Boeren 1980, XXII.  38 Schon das Onomastikon des Eusebius sowie die Bearbeitung durch Hieronymus fassen in knapper Form das Wissen über das Heilige Land zusammen. Im Rückgriff auf diese Texte wird das Wissen in den folgenden Jahrhunderten bewahrt und erweitert, vgl. z. B. auch Bedas Schrift über das Heilige Land.

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sarracene: aqua, dan: fluvius (c.33). Davon zeugt auch die Wiedergabe der Geschichte des Tempels (c.51f.) sowie die zahlreichen Namensinterpretationen, die sich an Hieronymus’ Liber interpretationis hebraicorum nominum orientieren und ohne weitere Erläuterungen im Text eingeschoben werden, z. B. Vallis Iosaphat: vallis iudicii. Jherusalem: visio pacis. Syon: speculum vel speculatio (c.59).39 Seine Funktion als Informationsschrift erfüllt der Text durch die Lokalisierung der heiligen Orte. Die verschiedenen Orte, an denen sich biblisches Geschehen zutrug, werden aneinandergereiht. In stakkatoartigem Stil wird biblisches Ereignis an biblisches Ereignis gehängt wie in c.9: Iuxta Hebron […] In Hebron […] In Hebron […] In Hebron regnavit David septem annis et dimidio. Der Ort wird durch die Verbindung mit dem biblischen Geschehen als heiliger Ort markiert: z. B. bei der Beschreibung der Gegend von Damascus: Secundo milario a Damasco locus in quo Saulo Christus apparuit dicens: Saule Saule quid me persequeris? (c.28).40 Oft wird ein Bibelzitat hinzugefügt (hier: Apg. 9,4). Durch die Verbindung von Bibelstelle und materiellem Heilsort wird das biblische Ereignis verifiziert. Der Text des Fretellus entfaltet eine Topographie des Heiligen Landes, indem die Orte lokalisiert werden und mit den entsprechenden biblischen Ereignissen belegt werden. Allerdings wird die biblische Landschaft entworfen, nicht das Heilige Land des 12. Jahrhunderts. Über das Aussehen41 der jeweiligen Orte erfährt der Leser kaum etwas und aktuelle Bezüge werden vermieden.42 Fretellus schreibt über die biblische Vergangenheit und filtert alle übrigen Eindrücke und Informationen aus seinem Text heraus. Die Texte von Johannes von Würzburg und Theodericus lesen sich anders, obwohl gerade Johannes viel Textmaterial von Fretellus übernimmt. Gerade in dem Abschnitt über das templum domini, der nach einigen einführenden Überlegungen untersucht werden soll, nimmt Johannes zahlreiche Sätze des Fretellus auf, aber sie werden in einen anderen Kontext gestellt und dadurch wird eine deutlich andere Wirkung erzielt, wie die Interpretation zeigen soll.

III. Fretellus’ Text entspricht dem üblichen Aufbau der Pilgertexte, d. h. die einzelnen Wege bzw. Stationen werden in einer geographischen Reihenfolge, beginnend mit Hebron, abgehandelt. Diese Erwartung trägt Titus Tobler 1874 in seiner Edition  39 „Tal Josaphat: Tal des Gerichts. Jerusalem: Vision des Friedens. Sion: Spiegel oder Betrachtung.“ S. dazu Hier. nom hebr. p. 111,16f. und p. 108,25. Vgl. zu diesen im Mittelalter verbreiteten Etymologien z. B. Augustinus, civ. 17,16 und Isidor, orig. 15,1,5.  40 „Am zweiten Meilenstein von Damascus entfernt ist der Ort, an dem Christus dem Saulus erschien und sagte: ‚Saulus, Saulus, was verfolgst du mich?’“  41 Vgl. dazu auch Lehmann-Brauns 2010, 136.  42 Dies ist ein in frühen Berichten häufig anzutreffendes Phänomen, z. B. auch bei Egeria. Die Ausprägung bei Fretellus ist jedoch ungewöhnlich stark. Vgl. dazu die Überlegungen von Maurice Halbwachs (Halbwachs 1941/2003, 170f.) zur Anpassung der Orte an die Glaubensvorstellung. „Die Christen außerhalb Palästinas konnten sich Jerusalem vorstellen, ohne dass die Wirklichkeit Einspruch erhoben hätte.“ (170). Diskutiert bei Lehmann-Brauns 2010, 48f.

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an Johannes’ von Würzburgs Text heran und greift – seiner Ansicht nach korrigierend – in den Text ein: „Ich wagte nun, den praktischen nutzen als etwas wesentliches im auge, eine andere zusammenstellung des stoffes, welche dem leser das verständniss um vieles erleichtern wird […] Wenn ich nun, in beabsichtigung einer besseren ordnung, nach meinem gutfinden den text aus einander und wieder zusammenlegte, so darf immerhin der leser versichert sein, dass ich am texte selbst nur sehr wenig, an gar wenigen stellen nur nothgedrungen abänderte […]“43 Der Editor Titus Tobler ist vorwiegend an Pilgerpraxis und Pilgerwegen interessiert. Er unterteilte den Text in 27 Kapitel, die er in einer für ihn nachvollziehbaren geographischen Ordnung sortiert. Die Textpassagen, in denen Johannes seine Reihenfolge der Beschreibung theologisch motiviert, entfernt er. Dabei geben gerade diese Textstellen dem Werk seinen eigenen Charakter. Die theologische Organisation des Werkes bedingt den Beginn der Erzählung in der Stadt Nazareth: „weil unsere Erlösung durch die Menschwerdung des Herrn dort begonnen habe“ (principium huius descriptionis propter exordium nostrae redemptionis, in civitate Nazareth per incarnationem domini angelica enunciatione celebratum, 38–40). Den Aufbau seines Textes erläutert Johannes erst weiter unten im Text in den Z. 239f. Der Text ist nach der Reihenfolge der septem sigilla gegliedert, die Johannes in 249f. aufzählt: nativitas domini seu incarnatio, baptismus, passio, ad inferos descensio, resurrectio, ascensio, futuri iudicii representatio. Das Motiv der sieben Siegel beschäftigt zahllose theologische Autoren, nicht nur in Kommentaren zum Buch der Apokalypse. Bis ins 12. Jahrhundert existiert keine einheitliche Deutung der sieben Siegel. Vorherrschend werden zwei Interpretationsmöglichkeiten verwendet.44 Die sieben Siegel werden als Zeitabschnitte der Welt- oder Kirchengeschichte verstanden oder als Stationen im Leben Christi. Johannes deutet die sigilla als Ereignisse im Leben Christi.45 Die Vorstellung der sieben Siegel verknüpft Johannes mit der Lehre von den Sakramenten. Ähnlich wie für den Begriff der sieben Siegel gibt es bis ins 12. Jahrhundert keine genaue Festlegung für den Sakramentsbegriff. Nach dem Verständnis von Johannes stehen sacramenta und misteria für einzelne Ereignisse der irdischen Existenz Christi.46 Johannes selbst verweist zu den sieben Siegeln nur auf das Buch der Apokalypse: […] (sigilla), quae septem dicuntur in numero, quibus  43 Tobler 1874, 421. Trotz der Existenz der Editio princeps, nachgedruckt in Migne, PL 155, 1055A–1090C, die den Text in der Reihenfolge der Handschriften immerhin (wenn auch sonst von minderer Qualität, vgl. Huygens 1994, 9) wiedergab, wurde Toblers Edition viel benutzt.  44 Wannenmacher 2005, 37f. zu den sieben Siegeln und Sakramenten. Zu Johannes’ Aufbau vgl. auch Lehmann-Brauns 2010, 126f.  45 Es gibt keine Festlegung, welche Ereignisse unter die sieben Siegel gezählt werden – nicht einmal die Siebenzahl ist zwingend notwendig, die auch als Symbol für die Vollkommenheit des Heilswerks stehen kann. Vgl. Wannenmacher 2005, 37f.  46 Die drei Ereignisse incarnatio domini, nativitas domini und representatio domini bezeichnet Johannes als Sakramente (239f.). Diese drei Sakramente werden unter einem der Siegel zusammengefasst (haec tria sub uno comprehenduntur sigillorum, 244f.). An anderer Stelle verwendet er sacramentum und sigillum zur Bezeichnung eines Ereignisses im Leben Christi synonym: In loco ut diximus Calvariae tercium sacramentum est impletum et tercium sigillum clausi libri dicitur solutum fuisse (1006f.).

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ille liber in Apocalipsi signatus […] (245f. Vgl. Offb 13,8).47 Bei seiner Abhandlung der sieben Siegel setzt Johannes den Schwerpunkt deutlich auf die Passion, die er am ausführlichsten behandelt. Das siebte Siegel, die futuri iudicii representatio wird der Sache gemäß nicht behandelt, da „die Lösung des siebten Siegels noch erfüllt werden muss, die der Tag des jüngsten Gerichts sein wird“ (nam septimi (sc. sigilli) solutio adhuc est implenda, quae […] erit dies iudicii, 1264f.). Johannes versieht seinen Bericht mit einem theologischen Rahmen, indem er die verschiedenen Orte anhand des Lebens- und Leidensweges Christi gruppiert. Durch diese Konzeption erhält der Text vordergründig zunächst nicht die Funktion eines Reiseführers, vielmehr lässt Johannes die biblische Landschaft dem Leser als Kulisse des Lebens Jesu vor Augen treten und lädt ihn gleichzeitig zu einem geistigen Nachvollzug ein. Überdies wird die biblische Landschaft auf die gegenwärtige Topographie projiziert. Johannes kommt der Reiseführerfunktion, die er in der Einleitung mit einschließt, insofern entgegen, als er – innerhalb des theologischen Rahmens – auch umliegende Orte während seiner Beschreibung streift, so bei dem ersten sacramentum, der incarnatio: loca interiacentia inter ipsam (sc. Nazareth) et civitatem sanctam breviter et summatim perstringere volumus (42–44). Dabei folgt er meist wörtlich seiner Quelle Fretellus, auch hinsichtlich der Anordnung der Orte nimmt er (im Gegensatz zu anderen Passagen) keinerlei Veränderung vor. Dem Leser öffnet sich gleichermaßen der Raum Palästinas und der Heilsraum der biblischen Landschaft. Johannes geht dabei weit über Fretellus’ Schilderung hinaus, indem er an entscheidenden Orten das aktuelle Aussehen des 12. Jahrhunderts miteinbezieht und durch die Architekturbeschreibung der Kirchenbauten die Sa­ kralisierung des Raumes steigert.

IV.  Entsprechend der Gliederung des Werkes folgt der Chronologie nach auf Nazareth die Beschreibung von Bethlehem, und damit des zweiten Sakraments (nativitas domini). Johannes’ Bericht (Bethleem ‚domus panis’ interpretatur […], 155f.) ist wieder beinahe Wort für Wort aus Fretellus übernommen (vgl. Fretellus c.46f.). Wie Fretellus erwähnt er die Christusreliquien Wiege und Heu. Durch diese im Westen vorhandenen zentralen Christusreliquien wird das Gesehene und Geschehene sozusagen rückbestätigt. In diesen Fällen wird der manchmal komplizierte Weg der Reliquie aus dem Heiligen Land in den Westen thematisiert. Mit dem Rekurs auf die Reliquien, die Schnittstellen zwischen Transzendenz und Immanenz herstellen,48 wird eine Verknüpfung mit einem sichtbaren, dem Leser bekannten Beweis für das Heilsgeschehen hergestellt.

 47 „[…] die Siegel, die sieben an der Zahl heißen, mit denen jenes Buch in der Apokalypse versiegelt ist […]“.  48 Vgl. Strohschneider 2002, 112f.

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Durch Medien des Heils wie die Reliquie (die Eucharistie, die Liturgie oder durch heilige Personen) kann das Heil als Transzendentes in der Welt präsent werden.49 Im Gegensatz zur Reliquie, in der Heil und Heiliges gegenwärtig sind, kann in Texten das Heilige nur repräsentiert werden. Strohschneider untersucht dieses Phänomen anhand der Legende und bestimmt die Legende in systematischer Opposition zur Reliquie vom Begriff der Repräsentation her. Die Legende sei eine Repräsentation des Heiligen, „ein in der Immanenz anwesender Text, der auf den Heiligen und das Heil als etwas Abwesendes, etwas Transzendentes hindeutet, um es so – symbolisch und imaginär – gegenwärtig scheinen zu lassen.“50 Neben der Legende können Gebete, Hymnen oder Litaneien als Formen der textuellen Repräsentation des Heils betrachtet werden. Auch der Pilgerbericht kann eine Form der textuellen Repräsentation des Heils sein. Zwar geht es im Unterschied zur Legende in Johannes’ oder Theodericus’ Erzählung nicht um die Geschichte irgendeines Heiligen, sondern um die des absoluten Mediatoren, Jesus Christus. Dennoch weisen die Texte das gleiche Problem auf, das nach Strohschneider charakteristisch für das legendarische Erzählen ist: Eine Erzählung von Heil und Transzendenz ist grundsätzlich unmöglich. Die Texte erzählen nicht von der Transzendenz selbst, sondern sie erzählen eine „Geschichte vom Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz.“51 Was Strohschneider für die Legende konstatiert, kann in dieser Form auch für den Bericht über das Leben Jesu im Heiligen Land gelten: Er repräsentiert wie die legendarische Erzählung „abwesende Transzendenz – mithin dasjenige, was jeder Zeitstruktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthoben ist – als innerhalb von Zeitlichkeit, als in der Vergangenheit einmal gegenwärtig wirksam gewesene und darin sich immanent offenbart habende Transzendenz. Dies ist eine paradoxe Struktur.“52 In Pilgerberichten erscheint diese Struktur freilich aufgrund des räumlichen Bezugs der Texte in charakteristischer Weise verändert. Pilgertexte zeichnen sich aus durch die Spannung zwischen der Präsenz des Heiligen an den biblischen Stätten, das der Pilger auf seiner tatsächlichen Reise erfährt, und der narrativen Repräsentation dieser Erfahrung. Sie erzählen so eine Geschichte nicht nur vom Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz, sondern davon, wie dieses Hereinragen an den Orten des Heiligen Landes fortwährt. Die Verknüpfung des Geschehenen mit den jeweiligen Orten des Heiligen Landes bildet daher einen wesentlichen Unterschied zur Legende. Sie ermöglicht es Johannes von Würzburg, durch seine Narration einen Sakralraum zu erzeugen und, indem sein Bericht den Ereignissen aus dem Leben Christus folgt, bereits durch seinen Aufbau eine spezifische Heilswirkung zu signalisieren.

 49 Die folgenden Überlegungen folgen Strohschneider 2002. Vgl. zur Medialität des Heils Kiening 2010.  50 Strohschneider 2002, 113.  51 Ebd., 114.  52 Ebd., 114f.

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Strohschneider betont, dass die von ihm skizzierten prinzipiellen Aporien entfallen könnten, sobald das legendarische Erzählen in konkrete frömmigkeitspraktische Vollzüge wie Eucharistie und Reliquienverehrung integriert sei.53 So würde die narrative Repräsentation des Heils verknüpft mit Mechanismen der Stiftung des unmittelbaren Heils. Im kultischen Vollzug „bringt mithin die Komplementarität von Repräsentanz und Präsenz des Heils beider Differenz gerade zum Verschwinden.“54 Diese Komplementarität von Repräsentanz und Präsenz des Heils liegt in einer bestimmten Art von Pilgerberichten vor: der geistigen Pilgerfahrt. Die narrative Fixierung des an sich einmaligen Akts des Pilgerns führt zu einer Ablösung der Pilgerhandlung von ihrem lebensweltlichen Vollzugsraum. Die Verschriftlichung bedeutet nicht nur die Dokumentation der Pilgerfahrt, sondern sie macht diese in der Imagination wiederholbar. Auf diese Weise wird ein Schema geschaffen, mithilfe dessen die Pilgerfahrt in der Lektüre nachvollzogen werden kann.55 Im Nachvollzug ist auf diese Weise ebenso eine Heilserfahrung erlebbar wie im realen Pilgerakt. Zentral ist daher die Frage nach den narrativen Strategien, die dazu führen, dass sich bei dem Leser mit entsprechender Versenkung Effekte von Unmittelbarkeit einstellen. Die narrative Strukturierung stimuliert den imaginativen Nachvollzug der Erfahrung eines Sakralraums, die eine Vergegenwärtigung der heiligen Stätten ermöglicht. Verschiedene Modi sind denkbar, durch die ein Raum des Heils narrativ erzeugt wird. Der Raum Palästinas entsteht schon durch die Lokalisierung der Orte mithilfe von Entfernungsangaben. Zum Heilsraum wird dieser Landschaftsraum erst durch die Verbindung der Orte mit dem Heilsgeschehen. Dieses Vorgehen wurde schon bei Fretellus festgestellt und wird von Johannes verstärkt durch die Aktualisierung seines Berichts mithilfe von Architekturbeschreibungen und durch die Materialisierung mittels der Beschreibung von Inschriften und Bildern, die das Leben Jesu an Ort und Stelle dokumentieren. Eine andere Strategie, den beschriebenen Raum zu sakralisieren, ist die Wiedergabe der Liturgie, die bei Johannes ins Zen­ trum rückt.

V. Nach Nazareth und Bethlehem wendet sich Johannes Jerusalem zu, wo er den Tempel des Herrn beschreibt, den Ort der representatio Christi und der Beschneidung Christi (262). Johannes schildert den Tempel zunächst nicht so, wie er vor ihm steht, sondern weist im Anschluss an Fretellus (Kap. 50–54) auf dessen alttestamentarische Ent 53 Ebd., 118.  54 Ebd., 119.  55 Vgl. dazu die Überlegungen von Kiening zur „Prozessionalität der Passion“ in Kiening 2011, 177 und 183.

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stehungsgeschichte (195f.) hin. Nach der Darlegung seiner Gliederungsprinzipien, die an dieser zentralen Stelle vor dem ersten Betreten Jerusalems platziert sind (239–264), geht er schließlich (268f.) mit der representatio Christi auf die Ereignisse des Neuen Testaments ein, für die dieser Tempel der Ort des Geschehens war. Als Gerüst für seine Erzählung benützt Johannes die von Fretellus gegebenen Informationen, die er mit den von ihm beobachteten Spuren des Lebens Christi anreichert. Dabei kann es sich um Spuren aus der biblischen Zeit handeln, wie einen Stein, auf dem Jesus einen Fußabdruck hinterlassen haben soll, als er aus diesem Tempel Käufer und Verkäufer hinauswarf.56 Der Stein wird den Besuchern als indicium für diese Geschichte gezeigt (284). Es kann sich ebenso um Erinnerungsmarkierungen handeln wie in jüngerer Zeit angebrachte Inschriften und Bilder. Die Beschreibung des templum lässt sich in zwei Abschnitte gliedern. Der erste ist der gerade genannte und von Fretellus übernommene. Auf diesen Abschnitt folgt eine genaue architektonische Beschreibung des Tempels (322f.). Es verwundert, dass die biblischen Ereignisse, zum Teil schon mit Nennung der Inschriften vorab erzählt werden, noch bevor das Aussehen des Tempels geschildert wird, der Träger der Inschriften ist. Eine Erklärung für das Auseinanderfallen der beiden Abschnitte ist die enge Orientierung an Fretellus im ersten Teil, während der zweite Teil weitgehend Johannes selbst zuzuschreiben ist. Eine weitere Erklärung lässt sich auf eine zeitliche Differenzierung stützen. Hier steht die biblische Vergangenheit im Zentrum (auf die sich auch die Inschriften beziehen), dort beruht die architektonische Beschreibung auf dem Aussehen des Tempels in Johannes’ Gegenwart. Erst nachdem Johannes mithilfe der biblischen Szenen eine Sakraltopographie erzeugt hat, macht er sich an die Generierung des tatsächlichen Kirchenraumes in einer beeindruckenden Beschreibung.57 Einleuchtend wird die Zweiteilung schließlich mit Blick auf Johannes’ Gesamtkonzept. Mit dem Ereignis der representatio aus dem Leben Christi setzt die Erzählung ein. Aufgrund des theologischen Aufbaus der Schrift spielen die Ereignisse aus dem Leben Jesu eine zentrale Rolle, nicht die architektonische Beschreibung des Tempels, der als Zeichen der Heiligkeit und Verehrungswürdigkeit Gottes in der Gegenwart sichtbar ist. Es wird deutlich spürbar, dass der Leser von Johannes zunächst noch nicht in das im 12. Jahrhundert sichtbare Jerusalem geführt wird, sondern auf eine Reise in die Vergangenheit des AT und des NT. Die heilsgeschichtlichen Ereignisse, die sich im Tempel ereignet haben sollen, z. B. Jesus als Lehrer der Juden, das Opfer der armen Witwe, bringt Johannes anders als Fretellus in die für seine Darstellung chronologische Reihenfolge (bei Fretellus: c.55,9 und 55,7–8).

 56 Vgl. Fretellus 55,3–4 und z. B. Mt 21,12. Vgl. die Diskussion bei Lehmann-Brauns 2010, 128 zur „materiellen Evidenz“ dieser Spuren.  57 Arnulf 2004, 177f. bescheinigt Johannes von Würzburg eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Architekturbeschreibung, die sich bis dahin in den Pilgertexten nicht findet. Vgl. dort und Lehmann-Brauns 2010, 134f. zur Beschreibung des Tempels.

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Bezieht sich Johannes auf Schriftworte, werden diese meist nur anzitiert: z. B. in 267f. nunc dimittis servum tuum, domine, et caetera (hier Lk 2,29). Diese Vorgehensweise übernimmt er nicht von Fretellus, der seine Zitate immer ausschreibt (vgl. zu 267f. Fretellus c.55,2f.). Mit der Technik des Anzitierens wird der Leser dazu eingeladen, die folgenden (ihm bekannten) Schriftworte zu ergänzen und im Geiste mitzusprechen. Auch die im Text in ungewöhnlicher Fülle wiedergegebenen Inschriften regen den Leser an, das zugehörige Geschehen zu imaginieren.58 Durch die Wiedergabe der in die heiligen Orte eingeschriebenen Worte erzeugt Johannes die Vergegenwärtigung dieser Orte. Die Inschriften markieren den Erinnerungsort. Die Inschrift stellt ein materiell greifbares Zeugnis der Wahrheit des Heilsgeschehens an diesem Ort dar.59 Die Wiederholung der Inschrift im Text bedeutet eine weitere Manifestierung des an sich flüchtigen Ereignisses. Diese Markierung verstärkt die Beweiskraft des Ortes als Ort heiligen Geschehens und lässt den Leser den Besuch des Ortes durch die meditative Beschäftigung mit den Worten der Inschrift intensiver nacherleben. Zum Teil handelt es sich bei den Inschriften um Bildunterschriften (tituli).60 Das zugehörige Bild wird nicht beschrieben. Es wird jeweils erwähnt, dass auch eine pictura der Szene vorhanden ist (z. B. 290, 309, 928, 1243) oder eine imago Christi (z. B. 313, 348f.). Der bloße Verweis auf die bildliche Darstellung ermöglicht dem Leser anhand des titulus die Vorstellung des Bildes. Bei bekannten Szenen kann der titulus auch eine bereits gesehene Abbildung in Erinnerung rufen.61 Eine genauere Beschreibung eines Bildes gibt Johannes nur, wenn es sich um ein besonders eindrucksvolles Bild handelt, wie z. B. das Mosaik in der Himmelfahrtskirche (1182f.) oder wenn die Tafel, die ein Ereignis bezeugen soll, an der falschen Stelle erinnert (295f.), wie auf dem Bild, auf dem der schlafende Jacob gezeigt werde, der die Leiter im Traum erblickt. Diese Lokalisierung entspreche nicht der Wahrheit: Jacob habe die Leiter nach Gen 28, 11–19 an einem anderen Ort und nicht in diesem Tempel gesehen. Johannes bezieht sich hier auf Bethel, das an einer anderen Stelle lokalisiert wird (vgl. dazu 135f.).62 Nach der rabbinischen Tradition wurde Bethel im Tempel lokalisiert und als Namen für diesen verwendet: „Bei dieser Tradition handelt es sich offensichtlich um eine dogmatische Korrektur, die davon ausgeht, dass Jahwe nur in Jerusalem wohnt und Bethel als das ‚Haus Gottes‘ folglich in Jerusalem zu lokalisieren sei.“63 Johannes erläutert nicht, warum der Tempel als Bethel bezeichnet werden könnte, sondern erklärt dies schlichtweg für falsch. Er orientiert sich an dem Wortsinn der Bibel. Allegorische Interpretationen des Tempelgebäudes, die zu seiner Zeit gängig waren, finden sich nicht.64 Ob er  58 Vgl. dazu Sauer 1993, 228 und Lehmann-Brauns 2010, 131 zu titulus und Imagination des Bildes.  59 Diskutiert bei Lehmann-Brauns 2010, 130f.  60 Vgl. zu den tituli allgemein Arnulf 1997; bei Johannes Lehmann-Brauns 2010, 131f.  61 Diskutiert bei Sauer 1993, 227.  62 Vgl. Pringle 2007, 404. Zur komplizierten Lokalisierung von Bethel Koenen 2003, 3f.  63 Ebd., 7, vgl. auch 201f.  64 Vgl. Lehmann-Brauns 2010, 138f.

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durch die bloße Beschreibung des Sichtbaren dem „Vorgehen theologischer Autoren wie den Viktorinern, die – ohne Auslegung des tieferen Sinns biblischer Gegenstände – nur das Ausgangsmaterial der individuellen Kontemplation bereitstellen“ folgt, wie Lehmann-Brauns meint,65 lässt sich im Text des Johannes schwer nachweisen. Lehmann-Brauns betont die Beschreibung des Tempels als „einen harmonischen, auf eine Mitte hin orientierten, allseitigen Baukomplex“, was sich auch bei der „Besichtigung“ im Text zeige.66 Diese Beobachtung trifft allerdings nur teilweise zu, da Johannes – vergleicht man seinen Text mit dem des Theodericus – eine chaotische, sprunghafte Beschreibung des Tempels liefert.67 Zentraler als Johannes’ Architekturschilderung scheint mir die Darstellung der Liturgie für den Text als geistige Pilgerfahrt. Die Bedeutung der Liturgie zeigt sich darin, dass dem Text eine Appendix Liturgica beigegeben ist, in der der Leser zusätzliche Texte zur Liturgie erhält: z. B. zu dem Ereignis der Darbringung Marias, zu dem Johannes eine Inschrift im Text wiedergibt: in templo domini XI Kalendas Decembris dicitur beata virgo MARIA68 iam trium annorum oblata fuisse, ut hii versiculi docent ibidem inscripti: Virginibus septem virgo comitata puellis / servitura deo fuit hic oblata triennis (276f.).69 In eben diesem Tempel habe nämlich nicht nur die Darbringung des Herrn, sondern auch die Darbringung der Maria stattgefunden. Die textuelle Wiedergabe der Inschriften (und Bilder) macht den Leser zum „geistigen Augenzeugen der Heilsgeschichte“.70 Dass die Inschriften eine meditative Funktion besitzen, bezeugen die Texte des liturgischen Anhangs, mithilfe derer der Leser die im Text erscheinenden Feiertage – z. B. Marias Darbringung am 21. November – geistig-performativ nachvollziehen kann (Appendix Liturgica 54–61). Dort gibt Johannes dem Leser das passende Gebet (oratio) für diesen Anlass an die Hand: XI° Kal. Decembris presentatio beatae Mariae virginis in templo. Unde et haec dicitur oratio in eodem templo: Oratio: Deus, qui hanc sanctam dei genitricem templum Spiritus sancti post triennium in templo domini pesentari voluisti, respice […]. Die Liturgie stellt für Johannes ein wichtiges Vergegenwärtigungsmedium dar. Bei dem Besuch der Grabeskirche erhält die Liturgie ebenfalls einen zentralen Platz in seiner Beschreibung. An den alten Bau der Grabeskirche ist ein Kirchenteil neu angebaut, der zusammen mit der alten Kirche einen weiten Raum (latum spacium)  65 Ebd., 141.  66 Ebd., 136.  67 Sauer 1993, 225 fasst Johannes’ Vorgehensweise treffend zusammen: „Er tendiert jedoch dazu, bei den Baubeschreibungen zwischen Innen- und Außenbau abrupt hin und her zu springen. Häufig trägt er die Ausstattungselemente gesammelt und unabhängig von der Architekturschilderung vor.“  68 Johannes hält nicht nur die Orte aus dem Leben Christi für besonders darstellungswürdig, sondern auch die des Lebens Mariens. Diesen Schwerpunkt setzt Fretellus nicht. Auffallend ist die Analogisierung zum Leben Christi.  69 „In dem Tempel des Herrn soll am 21. November die selige Jungfrau Maria schon mit drei Jahren dargebracht worden sein, wie die dortige Versinschrift lehrt: Drei Jahre alt, von sieben Jungfrauen begleitet, wurde hier die Jungfrau dargebracht, damit sie Gott diene.“  70 Lehmann-Brauns 2010, 131.

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für die Darstellung der Liturgie bildet: Extra hoc altaris sanctuarium et infra claustri ambitum continetur satis latum spacium circumquaque, tam per hoc novum quam per antiquum prefati monumenti aedificium, processioni idoneum, quae et fit singulis dominicis noctibus a Pascha usque ad Adventum domini in vesperis ad sanctum sepulchrum cum antiphona Christus resurgens, cuius etiam antiphonae textus extra in extremo margine monumenti litteris in argento elevatis continetur. Finita ea antiphona per cantum cantor statim incipit: […] (1077f.).71 In dieser Schilderung wird ein kirchlicher Sakralraum erzeugt, durch den sich die Prozession hindurchbewegt. Für den zugehörigen Gesang wird der Text beigegeben, der zugleich als Inschrift in Silberlettern auf dem Gebäude vorzustellen ist. Für eine akustische Vergegenwärtigung der Antiphon sorgt die Neumierung dieser Worte in der Handschrift T aus dem Tegernseer Benediktinerkloster (ca. Ende 12. Jh.), die Huygens in seiner Edition als Leithandschrift dient. Der liturgische Anhang, in dem Johannes auch die Liturgie für die Feier anlässlich der Weihung der Grabeskirche am 15. Juli angibt, legt Zeugnis ab über die Gebrauchsfunktion des Textes. Durch die Praxis des Gebets und den liturgischen Vollzug wird der Modus der Repräsentanz des Heils durchbrochen und der Leser erfährt dadurch die Präsenz des Heils. Greifbar im Text ist die Einladung an den Leser, das Leben Christi an den Orten des Geschehens nachzuverfolgen. Dabei werden dem Leser die passenden Bibelstellen, Inschriften und Gebete sowie eine Beschreibung der sichtbaren Spuren, Zeugnisse und kirchlichen Bauten zur Verfügung gestellt.

VI. Theodericus’ Schrift ist nicht chronologisch nach dem Ablauf des Lebens Christi organisiert, sondern hierarchisch nach der Heiligkeit der Orte: Nach einer Einführung beginnt er mit dem Allerheiligsten (a sancto sanctorum, 137), dem Grab Christi. Er folgt wie Johannes in seiner Gliederung nicht einem Itinerar,72 also einer topographisch orientierten Strukturierung, sondern er wählt eine auf den mental Reisenden zugeschnittene Organisationsform, indem Theodericus die Höhepunkte der Pilgerreise zuerst beschreibt. Allerdings finden sich bei ihm noch zahlreiche Elemente, die auf die den meisten Pilgerberichten zugrunde liegende Itinerarstruktur verweisen. Diese Strukturen häufen sich ab 992f., wo Theodericus

 71 „Außerhalb des Sanktuariums dieses Altars und innerhalb des Umkreises des Klosters erstreckt sich ein nach allen Richtungen hin weiter, freier Raum sowohl durch das neue wie das alte Kirchengebäude, der für die Prozession dient, welche von Ostern bis Advent jeden Sonntag zu Nacht sich zum heiligen Grabe bewegt mit dem Gesang ‚Christus resurgens‘, dessen Wortlaut an dem äußeren außenseitigen Rand des Denkmales in erhabenen Silberbuchstaben angeschrieben ist; wenn dieser Gesang zu Ende ist, beginnt sofort der Vorsänger […]“ (Übersetzung Khull 1895, 133).  72 Zur Itinerarform vgl. Elsner 2000 und Fugmann 2001.

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auf die umliegenden Orte eingeht, was sich dadurch erklären lässt, dass er hier stärker von anderen Autoren abhängig ist.73 Der Autor geht in seiner Erzählung aus von Iudea (41f.), in dem das heilige Jerusalem wie „das Auge im Kopf“ säße (43).74 Von Jerusalem aus sei Gnade, Heil und Leben (gratia et salus ac vita, 45f.) durch Jesus Christus allen Nationen zugeflossen. Die Bestätigung der Heiligkeit Jerusalems kehrt in der Beschreibung immer wieder. Schon im Widmungsbrief wird die Heiligkeit auf die körperliche presentia Christi zurückgeführt (6f.).75 Bei der Schilderung der Lage Jerusalems, deren Exponiertheit allein schon auf dessen Größe und Herrlichkeit verweist, wird nochmals betont, dass Jerusalem nicht grundsätzlich heilig ist (non quia a se vel per se sit sancta, 63), sondern aufgrund der presentia Gottes, Christi und Marias und des dortigen Wirkens vieler heiliger Männer (64f.). Wegen seiner heiligen Orte, so heißt es etwas weiter unten im Text (134f.), werde die Stadt heilig genannt. Mit der Platzierung Jerusalems in die umliegende Landschaft erzeugt Theodericus einen bedeutsamen Einstieg in seine Erzählung. Die Lage Jerusalems wird von seiner theologischen Bedeutung her beschrieben,76 heiliger (sanctior) und herausragender (eminentior) als alle anderen Orte der Welt (61f.), ragt es auch topographisch hervor: in ipsa denique montium summa eminentia, ut Iosephus atque Ieronimus attestantur, sita est civitas illa Iherusalem (60f.).77 Einige Zeilen weiter unten erfährt man, dass es um Jerusalem höhere Berge gibt. Doch Jerusalem ziehe den Blick des Betrachters weg von diesen auf sich (69f.). Im Anschluss erhält der Leser einen kurzen Überblick über die Stadt mit einer schnellen Lokalisierung der wichtigen Orte. Die daran anschließende Schilderung des Besuchs des heiligen Grabes (136f.) kann exemplarisch für Theodericus’ Erzählweise betrachtet werden. Außergewöhnlich im Vergleich zu früheren Pilgertexten, auch zu dem des Johannes, ist die große Genauigkeit und hohe Qualität seiner Baubeschreibungen.78 Dabei lenkt Theodericus den Blick des Lesers, sodass der Leser den Besuch der jeweiligen Stätte in seiner räumlichen Dimension nacherleben kann. Die Beschreibung der Grabeskirche beginnt mit einer Orientierung in Form und Anlage mit Positionierung und Grundriss des Grabmals sowie seiner vier Türen. Der Pilger tritt durch die Tür im Norden ein und verlässt durch die im Süden das Grabmonument (149f.). Besondere Sorgfalt widmet Theodericus der Darstellung der Mosaike. In der Erzählung bilden sich auf diese Weise zwischen den Architekturelementen Abschnitte, die der  73 Darauf weist er auch selbst in 934f.: […] quedam a nobis visa, quedam ab aliis nobis relata […].  74 Vgl. die Diskussion zur Strahlkraft Jerusalems und des Kalvarienberges, der ebenso als „Auge im Kopf“ (385) bezeichnet wird, bei Lehmann-Brauns 2010, 162.  75 Vgl. Abschnitt I.  76 Auch für Egeria ergibt sich die Höhe der Berge im Sinai aus ihrer biblischen Bedeutung, nicht aus der tatsächlichen Topographie (2,6). Vgl. dazu Röwekamp 2000, 123, Anm. 8.  77 „Auf der höchsten Erhebung der Berge selbst schließlich liegt die Stadt Jerusalem, wie Josephus und Hieronymus bestätigen.“  78 Vgl. dazu Arnulf 2004, 187f., der die Beschreibungen aus kunsthistorischer Sicht würdigt sowie Sauer 1993, 218f. und Lehmann-Brauns 2010, 168f. zu den einzelnen Architekturbeschreibungen.

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Erinnerung an die heilsgeschichtlichen Ereignisse gewidmet sind. Die Beschreibung lässt die Szene für den Leser vor seinem geistigen Auge erscheinen. Mit den zugehörigen Inschriften wird das so entstandene Bild abgerundet und vervollständigt. Der anschließend geschilderte Besuch des Grabmonuments selbst wird für den Leser nachvollziehbar gestaltet: Utreque vero ianue acerrimos habent custodes, qui non minus quam sex nec plus quam duodecim simul intromittentes – nec enim plures loci capit angustia – per aliam, postquam adoraverint, ianuam exire compellunt. Ipsum autem os spelunce non nisi rependo cruribus quislibet valet intrare […] (165– 170).79 Die sehr scharfen Wächter, die die Pilger durch das Grab scheuchen, und die Enge, die nur ein Hineinkriechen auf den Knien erlaubt, werden von Theodericus plastisch geschildert. Gespannt wartet der Leser darauf, dass er den ersehnten thesaurus, so nennt der Autor das heilige Grab, „erblicken“ kann. Von dem Außenraum eintretend, von dem der Leser bislang einen allgemeinen Eindruck erhalten hat, erschließt sich für den Leser der Innenraum des Grabes durch die beschriebene Bewegung und die daran anschließende Schilderung des Aussehens des Grabes. Der Ort der Sehnsucht (optabilem thesaurum, 170; optata […] oscula, 175) wird auch für den nicht vor Ort anwesenden geistigen Pilger beinahe greifbar durch die Beschreibung des Pilgerbrauchs: tria in latere rotunda habet foramina, per que ipsi lapidi, in quo dominus iacuit, optata peregrini porrigunt oscula (173f.). Im Anschluss folgt eine genauere Beschreibung des Grabesmonuments von außen. Nachdem die Neugier des geistig Pilgenden auf den Höhepunkt, das heilige Grab, gestillt ist, folgen weitere Informationen über den Bau. Durch die Architekturbeschreibung eröffnet sich für den Leser der Sakralraum der Grabeskirche, dessen Heiligkeit durch die geschilderten bildlichen Darstellungen und Inschriften aus der Heilsgeschichte rückbestätigt wird. In seinem Kapitel über Theodericus vertritt Arnulf (2004, 199) die Ansicht, dass die Architekturbeschreibung nur durch ein Realieninteresse begründet ist und wendet sich damit gegen Sauer (1993): „Die exakte Schilderung der Außengliederung des Grabmonuments wird aber wohl kaum dem kontemplativen Gebet gedient haben.“ (199)80 Dagegen lässt sich einwenden, dass es im Text des Theodericus nicht um die bloße Bereitstellung von Material für ein kontemplatives Gebet geht, sondern um die Ermöglichung eines geistigen Nachvollzuges der Reise mit dem damit verbundenen Heilserlebnis. Auf diese Funktion des Textes als geistige Pilgerfahrt weist der Widmungsbrief explizit hin. Sauer (1993) stützt ihre Argumentation, dass es sich bei dem Text um eine Memorialschrift handelt, die zu geistigem Nachvollzug anregt, nur durch die Architekturbeschreibungen des Theoderich. Markanter zeigt sich die Heilsabsicht, die dem Text zugrunde liegt, in der  79 „Aber beide Türen haben sehr strenge Wächter, die nicht weniger als sechs und nicht mehr als zwölf Personen zugleich hineinlassen – mehr kann der enge Ort nicht aufnehmen – und sie drängen, nachdem sie ihre Andacht verrichtet haben, durch die andere Tür wieder hinauszugehen. Jeder vermag den Eingang der Höhle nur durch Kriechen auf den Knien zu betreten […]“.  80 Arnulfs Bemerkung, dass es im Text keine Hinweise auf eine Architekturallegorese gibt, ist zuzustimmen. So auch Lehmann-Brauns 2010, 179, die sich dennoch bemüht, eine Verbindung dazu herzustellen.

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Einladung zur imitatio Christi im Text, auf die Sauer nur verweist (1993, 214). In den Versen 759f. kommt Theodericus zurück auf das im Widmungsbrief versprochene Mitleiden mit Christi im Nachvollzug der Passion: Nunc igitur secundum Christi passionis ordinem nostre narrationis nos oportet dirigere sermonem, qui per suam gratiam ita nobis ei donet compati, ut ei possimus conregnare.81 Theodericus lädt den Leser ein zur imitatio Christi und zur compassio, für die er als Lohn die ewige Mitregentschaft verheißt.82 Deutlich wird an dieser Stelle die Aktivität des Lesers angesprochen. Im Mitleiden, im Nachvollzug der Passion kann der Leser Heil als Lohn erhalten. Dieser Abschnitt verweist deutlich auf die Gebrauchsfunktion des Textes. In Theodericus’ Tempelbeschreibung zeigt sich bereits die narrative Strategie, den erzählten Raum in der Bewegung hindurch schrittweise zu erschließen. Bei seiner Darstellung der Passion lässt sich eine weitere Form der Raumgenerierung beobachten: die erzählte Bewegung einer Person, die den Raum Stück für Stück vor dem Leser entfaltet.83 In fünf Kapiteln (20–25) verfolgt der Erzähler den Leidensweg Christi von Bethanien bis nach Jerusalem. Die dem Bibelleser namentlich bekannten Orte werden in der Landschaft verortet und mit dem Leidensgeschehen verknüpft. Dabei arbeitet der Autor nicht mit wörtlichen Bibelzitaten, sondern paraphrasiert. In seiner Erzählung beginnt er mit der Lokalisierung der Orte Be­ thanien – Bethfage – Ölberg ausgehend von Jerusalem. Nun werden die lokalisierten Orte in den Zeitrahmen der Passionsgeschichte gestellt (in die Palmarum, 766) und der Weg Christi an diesen Orten geschildert. Seine Bewegung wird durch eine Kette aneinandergereihter Partizipien (procendens – veniens – stans – insidens) für den Leser nachvollziehbar ausgedrückt, die zuläuft auf das Ziel Jerusalem (Iherosolimam properavit): A Bethania ergo in die Palmarum dilectissimus dominus noster Iesus Christus procedens et Bethfage veniens, qui locus inter Bethaniam et Montem Oliveti medius est, ubi etiam honesta capella in ipsius honore est fabricata, […] stans super lapidem grandem, qui in ipsa capella manifeste videtur, et asino insidens per Montem Oliveti Iherosolimam properavit, cui turba multa in descensu montis ipsius obviam processit (765– 773).84 Der Leser kann die Bewegung Christi verfolgen und erhält, zwischengeschaltet, zusätzliche Informationen zu Lage (Bethfage), zur aktuellen Bebauung (capella) und zu gegenwärtig sichtbaren „Zeugen“ der Passionsgeschichte (lapis […], qui  81 „Jetzt ist es also nötig, dass wir unsere Erzählung nach der Reihenfolge der Passion Christi richten; Christus, der uns durch seine Gnade das Geschenk macht, so mit ihm mitzuleiden, dass wir mit ihm regieren können.“  82 Vgl. Mertens Fleury 2006, 41f.  83 Vgl. die Überlegungen zu einem performativen Raumbegriff in Curtis 2004, 25f.  84 „Am Palmsonntag ging also unser liebster Herr Jesus Christus von Bethania fort und kam nach Bethfage, der Ort, der in der Mitte zwischen Bethania und dem Ölberg liegt, wo auch eine ansehnliche Kapelle zu seinen Ehren gebaut wurde, […] er stand auf einem großen Stein, der in dieser Kapelle greifbar zu sehen ist, und auf dem Esel sitzend eilte er über den Ölberg nach Jerusalem. Beim Abstieg vom Berg schritt ihm eine große Menschenmenge entgegen.“

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[…] manifeste videtur). Die Bewegung Christi verbunden mit der Verortung der einzelnen Heilsstätten und dem Heilsgeschehen spannt für den Leser die Landschaft Jerusalem als Heilsraum auf. Theodericus schildert seine Christusnachfolge und gibt dem Leser durch seine Erzählung dieselbe Möglichkeit: Cum eo igitur in Montem Syon cupio ascendere et quid post hec fecerit videre […] (784f.).85 Explizit gibt Theodericus den Wunsch an, der Bewegung Christi zu folgen (ascendere). Wie tief er bei dieser Nachfolge in das imaginierte Geschehen eintaucht, zeigen die folgenden Worte: Er will sehen (videre), was Christus danach getan hat. Die Anwesenheit an der Heilsstätte versetzt den Besucher nach diesen Worten in einen Zustand der Versenkung, in dem die Heilsgeschichte vor seinem geistigen Auge sichtbar wird. Durch die Schilderung in der Ich-Form wird erreicht, dass sich der Leser an dieser Stelle selbst in den Autor hineinversetzen kann. Vor der Christusnachfolge, so Theodericus, wolle er sich in die Nachfolge des Petrus begeben: […] sed prius cum Petro volo incarcerari, ut cum eo a Christo docear non negare sed orare (785f.).86 Anlass dafür ist die Kapelle, die den Ort markiert, an dem Petrus eingekerkert gewesen sein soll (786f.). An dieser Kapelle kommt man auf dem Weg zum Berg Sion vorbei.87 Das Nachvollziehen des Heilserlebnisses des Petrus wird durch die angegebene Inschrift, die sich über dem Eingang der Kapelle befindet, initiiert (793–796). Nach dem Einschub über Petrus verfolgt Theodericus weiter den Weg Christi bis zu Kreuzigung. Er schließt die Passage mit den Worten: Et de Christo quidem et eius locis ea, que visu didicimus, pro posse narravimus (932f.).88 Damit stellt er einen engen Zusammenhang zwischen Christus und „seinen“ Orten her.

VII. Im Kontrast zu Fretellus wurde die Funktion der Texte des Johannes und des Theodericus herausgearbeitet. Hier geht es um das Festhalten des vergangenen Heilsgeschehens, dort wird zusätzlich eine konkrete Heilserfahrung vermittelt. In der Textform kann Heil nur repräsentiert werden. Präsenzeffekte können sich einstellen, wenn Texte religiöse Praktiken aufrufen und selbst Anleitungen sowie Material für diese Praktiken bereitstellen. In beiden Texten funktioniert dies durch die Inschriften und Bilder im narrativ erzeugten Sakralraum, die den Leser zur Meditation einladen. Die Texte machen somit die Stätten Jesu gegenwärtig und andernorts mittels der Narration verfügbar. Bei Johannes ermöglicht vor allem die liturgische Praxis im Nachvollzug das Heil 85 „Mit ihm also will ich den Berg Sion besteigen und sehen, was er danach tat […]“.  86 „[…] aber vorher will ich mit Petrus eingekerkert sein, damit ich mit ihm von Christus gelehrt werde, ihn nicht zu leugnen, sondern zu beten.“  87 Vgl. auch Johannes von Würzburg 1351f. Die verschiedenen Lokalisierungen der Kapelle sind diskutiert bei Pringle 2007, 349f.  88 „Und über Christus freilich und seine Orte haben wir das, was wir durch den Anblick gelernt haben, nach unserem Können erzählt.“ Vgl. Lehmann-Brauns 2010, 156.

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serlebnis. Theodericus fordert seine Leser explizit zum Mitleiden der Passion auf und zeigt den Weg zum Heil schon in seinem Widmungsbrief auf. Durch Performanz und imitatio Christi kann im Modus der geistigen Pilgerfahrt damit das Heil unmittelbar präsent und der Text auf diese Weise Medium des Heils werden.

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Sinn und Simulacra Die Manipulation der Sinne in mittelalterlichen ‚Kopien‘ Jerusalems1 Medieval and Renaissance ‘copies’ of the Holy Sepulchre are striking for their visual inaccuracies. In this essay I propose that these structures were never meant to serve only as visual copies, but that they were intended to be copies of the complete sensory experience of visiting the Holy Sepulchre. Focusing on the Jerusalem Chapel in Bruges and the Sacro Monte of Varallo, I posit that these sites functioned as sensory simulacra that replicated essential spaces, actions, and stimuli experienced in Jerusalem by pilgrims at the Holy Sepulchre. European copies enabled devotees to become actors engaged in kinetic devotional practices like those performed in Jerusalem. This study reveals that European copies of the Holy Sepulchre were both more complex and more successful than has previously been recognized.

Die Forschung hat laut Richard Krautheimer lange Zeit mit der „Gleichgültigkeit“ mittelalterlicher Nachbildungen der Grabeskirche gegenüber exakten visuellen Reproduktionen gerungen.2 Eine nähere Untersuchung dieser Kopien zeigt jedoch, dass mittelalterliche Gläubige im Gegensatz zum modernen Betrachter eine visuelle „Wahrheit“ nicht unbedingt erwarteten oder benötigten. Tatsächlich könnte für die Menschen im Mittelalter eine visuelle Nachahmung weniger bedeutsam als andere Formen sensorischer Imitation und Beschwörung gewesen sein.3 In diesem Beitrag verfolge ich den Ansatz, dass mittelalterlichen Gläubigen die sinnliche und empirische Nachahmbarkeit deutlich wichtiger war als eine mimetische bzw. visuelle Exaktheit. Bei Kopien des Heiligen Grabes ging es nicht allein, ja nicht einmal zuvorderst um das Sehen. Stattdessen beteiligten diese Architekturen durch den Anreiz und die Einbindung der Sinne den ganzen Körper des Gläubigen, um ihn die tatsächliche Erfahrung eines Besuchs der Grabeskirche in Jerusalem erfolgreich nachempfinden zu lassen. Die Bauten, die ich hier untersuche, stehen exemplarisch für viele verschiedene Formen spätmittelalterlicher Andachtskunst. Gerade zu dieser Zeit wurden zahlreiche innovative künstlerische Methoden mit dem Ziel entwickelt, die emotionalen und auf Teilhabe gerichteten Erfahrungen der Gläubigen zu steigern. Im Versuch, empathische Reaktionen hervorzurufen, hatten in sämtlichen    1 Ich bedanke mich bei den Herausgeberinnen für das Angebot, meinen Aufsatz für die Publikation dieses Tagungsbandes zu berücksichtigen. Die englischsprachige Version ist in Postmedieval: A Journal of Medieval Cultural Studies erschienen (Gelfand 2012).    2 Krautheimer 1942, 1–33.    3 Eine ganze Reihe von Autoren hat sich mit der Frage optischer Exaktheit bei sogenannten Architekturkopien der Grabeskirche beschäftigt, darunter Rosenthal 1958, 5; Krinsky 1970, 1–19.

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Medien tätige Künstler erkannt, dass eine performative Einbeziehung der Sinne maßgeblich für das Erreichen dieses Zieles war. Bezeichnenderweise bezogen diese Künstler hierfür alle Sinne, und nicht allein den Sehsinn mit ein. Gläubige, welche die heiligen Stätten besuchten, waren nicht allein Beobachter – sie wurden vielmehr zu involvierten Mitwirkenden einer theatralischen Aufführung. Als lebendige Akteure traten sie dabei gemeinsam mit fiktiven heiligen Figuren auf, um sakrale Erzählungen nachzustellen und persönlich zu durchleben. Gerade die stufenweise Einbeziehung der Sinne hatte sich als wirksam herausgestellt, um diese Wandlung vom Gläubigen zum Darsteller zu ermöglichen – und sie wurde zu einem grundlegenden Element mittelalterlicher Architekturkopien der Grabes­kirche. Dieser Artikel wird das Konzept ‚sinneseindrücklicher‘ Nachahmungen oder sensorischer Simulacra4 umreißen und eine kurze Diskussion darüber bieten, wie dieses Konzept für die Gläubigen entwickelt und angewandt worden ist. Im Anschluss an eine Untersuchung von Berichten mittelalterlicher Pilger über ihre Erlebnisse innerhalb der Grabeskirche werden wir zwei Architekturen des 15. Jahrhunderts betrachten, die als eben solche sensorische Simulacra fungierten. Zum einen bietet diese Herangehensweise einen differenzierteren Ansatz hinsichtlich der Betrachtung und des Verständnisses mittelalterlicher Architekturkopien. Gleichzeitig vermag sie aber auch offenzulegen, wie die höchst privaten Andachtspraktiken – die eigentliche Entstehungsgrundlage sensorischer Simulacra – in kürzester Zeit von Bildern und Erfahrungen überlagert wurden, die in stärkerem Maße der Kontrolle und ikonographischen Einschränkung von Seiten kirchlicher Autoritäten unterlagen. Während der Fokus meines Beitrags auf der Jerusalemkirche in Brügge und dem Sacro Monte in Varallo liegt, existiert tatsächlich eine ganze Reihe mittelalterlicher Bauten, die als sensorische Simulacra angesehen werden sollten, beispielsweise Santo Stefano in Bologna, die Heiliggrabkirche in Cambridge oder Saint-Bénigne in Dijon. Jerusalem als Ganzes und die Grabeskirche im Besonderen stehen in kausalem Zusammenhang mit der Entwicklung stationärer Liturgie – also einer Andachtspraxis, in welcher der Bewegung von einem Ort zum anderen grundlegende Bedeutung zukommt. In der Grabeskirche verband sich dieses raumbezogene Konzept mit dem zeitlichen System des christlichen Kalenders und schuf hierbei ein zeitenthobenes Erlösungskonzept, das gleichzeitig „commemoration, memorialization and recollection“5 ermöglichte. Bewegung, Gestik, die Einbindung aller Sinne und schließlich Wiederholung bildeten die grundlegenden Elemente dieses Ri­ tuals.6

   4 Im Rahmen dieses Artikels verwende ich eine Vielzahl verschiedener Begriffe und Termini, um dieses Konzept zu beschreiben. Ich bin mir jedoch noch immer nicht sicher, welcher Begriff die dahinter stehende Idee tatsächlich am besten greift.    5 Smith 1987, 92–3.    6 Einige der o.g. Baukomplexe werden von mir in noch zu publizierenden Aufsätzen auf ihre Funktion als sensorische Simulacren (sensory simulacra) hin untersucht.

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Inspirationsquellen für Architekturkopien der Grabeskirche boten die Berichte mittelalterlicher Pilger über ihre Erfahrungen im Heiligen Land.7 Akkurate Grundrisszeichnungen der Grabeskirche waren im Westen erst seit dem späten 16. Jahrhundert verfügbar, als die Schriften Giovanni Zuallardos und Bernardino Amicos mit entsprechenden Kupferstichen versehen wurden.8 Die vor 1585 entstandenen Architekturkopien der Grabeskirche basierten mithin auf allgemein recht vagen Beschreibungen. Meist besaßen die Pilger ein größeres Interesse, die Details der Altäre, Reliquien oder ihrer eigenen Erfahrungen, als die sie umgebende Architektur zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund ist außerdem zu bedenken, dass Christen seit dem 13. Jahrhundert die Grabeskirche ausschließlich zu Nachtzeiten besuchen konnten, wenn das Gebäude nur von Kerzen- oder Fackellicht erhellt wurde. Die christlichen Besucher des Heiligen Grabes zahlten beträchtliche Einlassgebühren, um drei aufeinander folgende Nächte in der Kirche verbringen zu dürfen. Die Überlieferungen variieren und auch die Einlasspolitik unterlag Veränderungen; viele der Pilger berichten jedoch, dass sie während der ersten beiden Nächte von 23 Uhr bis 3 Uhr in der Kirche eingeschlossen wurden. Allein in der dritten Nacht wurde ihnen gestattet, bis zum Morgengrauen dort zu verbleiben.9 Die Pilger eilten dann innerhalb des höhlenartigen Kirchenraums von einer Kultstätte zur nächsten und wurden mit vorrückender Stunde immer erregter und ekstatischer. Die Beschreibungen berichten von völlig überreizten und erschöpften Besuchern, die nur begrenzt Zeit im Gebäude verbringen durften, aber ein überwältigendes Bedürfnis besaßen, dieses so effizient wie möglich zu erleben. Diese nächtlichen Besucher haben das Kircheninnere niemals bei Tageslicht zu Gesicht bekommen; stattdessen wurde es als ein riesiger, schattenhafter Raum wahrgenommen, in dem die Sicht weniger hilfreich war als der Hör-, Tast-, Geruchsund Geschmackssinn.10 Tatsächlich hatte Ruß die Wände und Ausstattungsobjekte der Grabeskirche im Mittelalter so stark verdunkelt, dass eine Identifikation der darauf dargestellten Bildmotive ohne fremde Hilfe kaum mehr möglich war. Die meisten Fenster waren zudem verdeckt worden, was den Raum weiter verdunkelte und es vermutlich selbst bei morgendlichem Dämmerlicht schwer machte, die Gebäudestrukturen zu erkennen oder gar zu beschreiben.11 Der überwältigende Sinneseindruck, der sich mittelalterlichen Pilgern in der Grabeskirche bot, bestand mithin aus Dunkelheit in einem weihrauchgeschwängerten und chaotischen Raum.12 Der Dominikanermönch Felix Fabri hat uns einen detaillierten Bericht seines Besuchs der Grabeskirche in den Jahren 1483–1484 überliefert.13 Eindrücklich    7 Chareyron 2000 bietet eine wunderbare Sammlung vieler dieser Berichte.    8 Zuallardo 1595; Amico 1620. Beide Werke werden diskutiert von Rosenthal 1961, 149.    9 Casola 1855, 65, 70–72, 80, genannt bei Rosenthal 1961, 150, Nr. 201.  10 Ebenda, 150.  11 Ebenda, 135.  12 Chareyron 2000, 93.  13 Siehe hierzu Prescott 1969.

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beschreibt er den Prozess des Einschließens sowie die unterschiedlichen Aktivitäten, welche die Pilger hiernach im Kircheninneren unternahmen. Nach einer langen, kerzenbeleuchteten Prozession, die vor dem Grab Christi endete, heißt es dort: Kommt und versammelt euch, Ritter und freundliche Pilger; betretet das heiligste Grab, seht mit euren Augen, fühlt mit euren Händen und berührt mit eurem Mund jenen Ort, an dem der Herr gelegen hat. Jeder von ihnen zwängte sich hiernach halb kriechend in die Grabkammer, die von 19 Öllampen und unzähligen Kerzen erhellt wurde und aufgrund der Ruß-Ablagerungen fast völlig schwarz war. Hier küssten sie die heilige Grabplatte und erhielten Ablässe. Viele der von Felix erwähnten Aktivitäten kreisen um das Haptische, so etwa das wiederholte Erkunden heiliger Ecken und Winkel mit den Händen. Für Bruder Felix war das Visuelle bedeutsam, aber Geschmacks- und Tastsinn spielten in seinem Erleben eine noch prägendere und elementarere Rolle. Er hatte, genau wie die anderen Pilger, größere Schwierigkeiten, Details des riesigen und komplexen Raumes wahrnehmen zu können: die bekannte Tatsache, wonach sich der Mönch irgendwann auf dem Salbungsstein Christi stehend wiederfand, beweist die Orientierungslosigkeit und Konfusion, mit denen die nächtlichen Besuche einhergingen.14 Da sich die Besucher der Grabeskirche nicht auf visuelle Hinweise verlassen konnten, wurde ihre Erinnerung an das Gebäude durch andere Eindrücke geprägt: durch die Kinetik einer Prozession; den physischen Akt, sich durch die schmale Pforte der Grabkammer zu drängen; das Erkunden kalter Marmor- oder Metallöffnungen mit den Händen; und durch das Gefühl, die Lippen auf heiliges Gestein zu pressen. Diese alle Sinne einbeziehenden, performativen Erlebnisse der Pilger innerhalb der Grabeskirche beherrschten ihre Erinnerungen an den Raum – und dessen spätere Beschreibungen. Gerade weil diese Erfahrungen nicht allein körperlich-passiv und/oder vorrangig visuell gemacht wurden, besaßen sie eine besondere Intensität. Und gerade durch die ungewohnte Art und Weise dieses Erfahrungsgewinns waren die Besucher gezwungen, all ihre Sinne auch bei der Schaffung dauerhafter Erinnerungen an den Raum einzusetzen. Die Sinne, wie auch die von ihnen übermittelten Informationen, bilden laut Geurts „affairs of the whole body.“15 Sinneseindrückliche Informationen werden demnach miteinander kombiniert und verschmolzen, sodass ein Erlebnis aus weit mehr als dem visuell Erfahrenen besteht. Frieman und Gillings schreiben, dass „Perception can […] be understood as a culturally contingent and profoundly reflexive relationship between sensation and cognition.“16 Sensorische Simulacra des Mittelalters, und dazu zählen auch Architekturkopien der Grabkirche, bildeten demnach Orte, in denen ein solches Verschmelzen der Sinne genutzt wurde, um zu tieferer Erkenntnis und einer größeren emphatischen Andachtspraxis zu gelangen. Architektonische Nachbildungen der Grabeskirche wurden im Mittelalter in verschiedenen Städten in ganz Europa errichtet. Die Versenkung des Gläubigen in  14 Ebenda, 136.  15 Geurts 2005, 169, hier zitiert nach Frieman/Gillings 2007, 8.  16 Ebenda, 4–16.

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das sensorisch vielschichtige Erlebnis bei einer Besichtigung der Jerusalemkirche in Brügge (oder aber der ersten Nachbildung des Sacro Monte in Varallo) halfen den mittelalterlichen Besuchern, verschiedene Stadien wirklich gefühlter Andacht zu erreichen und gleichzeitig nachhaltige Erinnerungen an diese Erfahrung auszubilden. Gebäude, die hierfür sowohl den Tast-, als auch den Geschmacks- und Geruchssinn einsetzten, boten ihren Besuchern das Gefühl, das Heilige auf eine tiefgreifende und wahrhaftige Weise erlebt zu haben, die mit den bekannten Beschreibungen von Besuchern der wirklichen Heiligen Stätten übereinstimmte. Die Baumaßnahmen der Brügger Jerusalemkirche und des Sacro Monte in Varallo begannen in den mittleren und letzten Dekaden des 15. Jahrhunderts. Beide Stätten sollten ihren Besuchern performative und multisensorische Andachtspraktiken ermöglichen. Bei zurückgekehrten Jerusalempilgern riefen diese Orte Erinnerungen an ihre Reise wach. Die Gebäude waren aber auch in der Lage, neue Erinnerungen bei denjenigen Besuchern zu formen, die das Heilige Land nicht selbst bereisen konnten. Sowohl in Brügge als auch in Varallo spielten Sinnesreize also eine maßgebliche Rolle bei der emotionalen Einbindung der Besucher. In der Jerusalemkirche in Brügge erfolgte dies vor allem durch Einbeziehung der Besucher in eine räumliche Umgebung, die Erinnerungen an jene Sinneseindrücke wachrief, welche von den Pilgern in Jerusalem selbst gesammelt worden waren (Abb. 1). Errichtet von der Familie Adornes,17 einer aus Genua stammenden Kaufmannsdynastie, die über Generationen hinweg immer wieder Pilgerfahrten ins Heilige Land unternommen hatte, zielte das Bauwerk weniger auf eine exakte Reproduktion der Grabeskirche ab – stattdessen wiederholt es bestimmte Elemente, die jene Erinnerungen wachriefen, welche die Pilger ebendort gemacht hatten.18 Die Jerusalemkirche war als Privatkapelle nur einem eng umgrenzten Personenkreis zugänglich: Die Stifter lebten im Nachbargebäude und konnten die Kapelle über einen Gang im Obergeschoss ihres Hauses betreten, den auch die Mitglieder der Jerusalem-Bruderschaft nutzen durften.19 Die Kirche wurde somit allein von Personen genutzt, die Jerusalem bereits bereist hatten, bzw. planten, dies zukünftig zu tun – oder zum engeren Familienkreis der Adornes gehörten. Das

 17 Die Adornes-Brüder Pieter II. and Jacob (gest. 1464/1465) begannen mit der Konstruktion dieses ungewöhnlichen Gebäudes in der Mitte der 1420er Jahre, nach ihrer Reise ins Heilige Land. Die Pilgerreise von Pieter und Jacob legte den Grundstein einer Familientradition, die Pieters Sohn Anselm Adornes (1424–1483) zu einer weiteren Reise in den Jahren 1470–1471 mit dessem eigenem Sohn Jan veranlasste. Jan verfasste seinerseits einen berühmten Bericht über diese Reise. Siehe Heers/de Groër 1978; Platelle 1982, 19–28.  18 Jüngste und umfassende Beschreibung der Quellenlage und Baugeschichte bei Kirkland-Ives 2008, 1056–1057. Es existiert eine ganze Reihe von Informationsquellen zur Jerusalemkirche, darunter Devliegher 1975, 281–2 (Grundrisse der Kirche und des ehemals daneben stehenden Wohnhauses der Adornes); Noël Geirnaerts Studien, auf den Brügger Archivbeständen basierend, sind weiterhin maßgeblich: Geirnaert/ Vandewalle 1983; Geirnaert 1987. Siehe auch Penninck 1977. Die Jerusalemkirche wird kurz behandelt von Luber 1998, 29. Siehe Ron Spronk 2005, 109–11 zu Jan Provoosts Triptychon, das sich einst oberhalb des Altars der Kapelle befand.  19 Spronk 2005, 111, Nr. 16.

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Abb. 1: Außenansicht Jerusalemkapelle, ca. 1430, Brügge.

Gebäude war so eng mit Jerusalem verknüpft, dass Pilger, die von Brügge aus ins Heilige Land reisten, ihren Weg auf dem kleinen Platz vor der Kapelle begannen. Krautheimer wie auch andere Forscher haben aufgezeigt, dass die Darstellungen Jerusalems keineswegs immer – ja, noch nicht einmal im Regelfall – auf die Anfertigung exakter Kopien abzielten.20 Dabei konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass Jerusalem und die Grabeskirche gleichzeitig derart vertraut und fern waren, dass bereits bestimmte Elemente (etwa Kuppeln) als klar erkennbare Hinweise auf die Stadt und ihre Bauten ausreichen konnten.21 In Brügge jedoch handelt es sich um ein Gebäude, dessen Errichtung und Nutzung durch Menschen erfolgte, die das originale Bauwerk besichtigt hatten und bestens kannten. Den zurückgekehrten Pilgern, darunter auch den Angehörigen der Stifterfamilie, war sicherlich bewusst, dass sich das Aussehen der Brügger Kapelle deutlich von der Grabeskirche unterschied. Dies wiederum lässt den Schluss zu, dass die Jerusalemkirche in Brügge kein visuelles Abbild war (und dies auch gar nicht vorgab). Stattdessen diente der Ort zur Stimulation sinneseindrücklicher Erinnerungen an die Grabeskirche, um hierdurch emotionale Andachtspraktiken zu unterstützen. Nach Betreten des Längsschiffs der Brügger Kapelle wird die Aufmerksamkeit des Besuchers sogleich von einer Skulpturengruppe des Berges Golgatha gefangen genommen, welche sich hinter dem Hochaltar und vor dem Stiftergrab befindet (Abb. 2). Dieses großfor-

 20 Krautheimer 1942, 20. Siehe auch Goren 1995, 106–21; Krinsky 1970, 1–19; Besc-Bautier 1974, 319–342.  21 Krautheimer 1942, 50.

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Abb. 2: Innenansicht Jerusalemkapelle, Golgatha-Retabel, ca. 1430, Brügge.

matige (mehr als 3 m hohe) Werk dient gleich mehreren Zwecken, fungiert es schließlich gleichzeitig als Retabel, Reliquiar und selbst als Altar. Drei große Steinkreuze befinden sich oberhalb des Golgatha-Altars und reichen bis zu einer Oberkapelle empor, die über Treppenläufe zu beiden Seiten des Altars betreten werden kann. Die Besucher der Oberkapelle müssen also den Berg Golgatha über 14 steile Stufen in einem körperlichen Akt selbst ersteigen, um Zugang zum erhöhten Chorbereich und dessen Reliquie des Wahren Kreuzes zu erhalten. Durch seinen Aufstieg in die oktogonale Oberkapelle vollzieht der Besucher gleichsam ein Reenactment eines Aufenthalts in der Grabeskirche in Jerusalem, wo die Pilger Golgatha gleichsam über in das Gebäude gehauene Stufen ersteigen konnten. Der lichtdurchflutete und holzgewölbte Chorbereich in Brügge wird zudem von einer ausladenden Kuppel bekrönt, die das Hauptcharakteristikum des Gebäudes im Stadtbild darstellt.22 Niedrige Türöffnungen, die sich zu beiden Seiten des Golgatha-Altars und unmittelbar unterhalb der Treppenläufe befinden, führen in einen höhlenartigen, kreuzgratgewölbten Kapellenraum. Diese Kapelle, in der die Reliquie des Wahren Kreuzes aufbewahrt wurde, besitzt einen eigenen Altar sowie eine Grabplatte über einer Krypta, in der Mitglieder der Jerusalem-Bruderschaft beigesetzt werden konnten.23 An der Rückwand der Kapelle befindet sich ein nied 22 Zur Reliquie des Wahren Kreuzes und deren Aufbewahrung innerhalb der Jerusalemkirche im Jahre 1519 siehe Spronk 2005, 109. In Jerusalem erklimmen die Besucher 18 Treppenstufen bis zur Spitze des Berges Golgatha. In beiden Kirchen wurden die Stufen von einigen Besuchern wohl auf Knien bewältigt, wie es noch heute bei der Scala Sancta in Rom geschieht, deren Stufen der Legende nach im Jahre 326 von Helena aus dem Hause Pontius Pilatus’ mitgebracht worden waren. Zur Geschichte der Scala im 16. Jahrhundert siehe Witcombe 1985, 368–79.  23 Spronk 2005, 111, bemerkt: “apparently, the Palmers could be interred in a communal grave in the crypt of the Jerusalem Chapel, but it is unclear if such burials did indeed take place.” Zu dem zwischen 1517 und 1522 datierten Vertrag zwischen Jan Adornes und der Bruderschaft siehe Van de Walle 1964, 142–47.

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Abb. 3: Jerusalemkapelle, Heiliges Grab, ca. 1430, Brügge.

riger Durchgang mit einem runden Marmorstein davor, eine Referenz an die von der Tür des Grabes Christi weggerollte Steinplatte in Jerusalem. Und so wie die Pilger in Jerusalem nur in gebückter Haltung einen niedrigen Durchgang zur Grabkammer passieren konnten, müssen sich auch die Besucher in Brügge tief herabbeugen, um diesen winzigen Raum zu betreten. Hier befindet sich eine lebensgroße und farbig gefasste Steinskulptur Christi in einem offenen Grab (Abb. 3). Eine Steinplatte wurde oberhalb der Skulptur platziert und die gekrönte Figur Christi ist durch ein Metallgitter sichtbar präsentiert. Diese Grabkapelle besitzt keinerlei äußerliche Ähnlichkeiten mit der Grabkammer in Jerusalem, sie spiegelt vielmehr das Bemühen ihrer Erbauer, die physischen Erfahrungen eines Besuchs der Grabeskirche zu wiederholen und zu imitieren.24 Die räumlichen Ausmaße der Grabkapellen in Jerusalem und Brügge sind derart begrenzt, dass die darin befindlichen Personen geradezu gezwungen sind, eine intime Verbindung mit dem Grab Christi – oder seiner Nachbildung – einzugehen. Nur von Öllampen erhellt, beschwor der im Halbdunkel liegende Raum in Brügge Erinnerungen an Jerusalem hervor. Gleichzeitig bedeutet er aber auch eine theatralische oder liturgische Insze-

 24 Cynthia Hahn beschreibt, wie mit Lampenöl aus der Grabkammer gefüllte Ampullen der Kreuzesreliquie zugefügt wurden, wo das Öl so lange aus seinen Behältnissen überfloss, bis es alles bedeckte. Hahn vergleicht dieses wundersame Ereignis mit der Fülle an Glauben und Wundern, die sich über die Besucher der Heiligen Stätten ergoss. Hahn 1997, 1086.

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nierung, denn in Jerusalem ist Christus natürlich nicht mehr in seinem Grab anwesend. Einer der interessantesten Aspekte eines Besuchs der Jerusalemkirche in Brügge ist die vielschichtige Sinnlichkeit dieser Erfahrung. Die Adornes Familie wie auch andere zurückgekehrte Pilger konnten die Kapelle als vielseitige Erinnerungsstütze nutzen: sie belebte einerseits die Erinnerung an die eigene, (be)merkenswerte Reise ins Heilige Land, andererseits bot sie einen Raum, in dem die dort gemachten Erlebnisse körperlich wie geistig auch zuhause wiederholt werden konnten.25 Zudem förderte die Jerusalemkirche nicht allein das Gedenken vergangener Erfahrungen, sondern schuf selbst neue Erinnerungen – Erinnerungen, welche wiederum die gefühlsbezogenen Qualitäten „echter Erfahrung“ implementiert erhielten. Die andächtigen Besucher der Jerusalemkirche vermochten sich, durchaus zu Recht, davon zu überzeugen, dass ihr Pilgerweg innerhalb der Brügger Kapelle in gewissem Sinne durchaus das Äquivalent zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land bot. In Brügge konnten Besucher zudem in gleichem Maße Ablässe erhalten, als wenn sie tatsächlich eine Pilgerfahrt nach Palästina unternommen hätten. Die performative Einbindung, die Besucher in der Jerusalemkirche erfuhren, imitierte schließlich jene der Pilger im Heiligen Land selbst, kreierte und wiederholte sowohl die Erfahrung als auch die symbolischen Zuschreibungen einer wirklichen Pilgerfahrt. Die Jerusalemkirche wurde so konzipiert, dass sie den Gläubigen ein Nach- oder „Vor“-empfinden Jerusalems in lebendiger und emotional bewegender Weise ermöglichte. Die polychrome Skulptur Christi in seinem Grab verstärkte diesen Effekt noch, so dass die Besucher sich selbst als der Zeit enthoben und an einen Ort versetzt fanden, wo eine Begegnung mit heiligen Personen stattfinden konnte – und in ihrer Wahrnehmung tatsächlich stattfand. Der Entwurf und die Ausführung der Kapelle resultierten dabei aus den spezifischen Anforderungen der Stifter und eines sehr ähnlich ausgerichteten Publikums. Wenn wir uns nun dem Sacro Monte in Varallo zuwenden, finden wir hingegen eine gänzlich andere Situation, wie auch eine andere Art der Sinnesmanipulation vor. Episodische Andacht und extreme Abbildhaftigkeit gehören zu den Hauptcharakteristika der ersten sogenannten sacri monti in Italien. Der Sacro Monte von Varallo befindet sich auf einem Gipfel des Alpenvorlands, bei einer kleinen Ortschaft nordwestlich von Mailand (Abb. 4).26 Mehr als ein Dutzend verschiedener sacri monti sind bis heute erhalten – zumeist in der Lombardei oder dem Piemont, und häufig franziskanischen Ursprungs. Der Sacro Monte von Varallo bildet das früheste Beispiel dieses Typs und zudem das einzige mit alleinigem Fokus auf dem Leben Christi.  25 Die Bedeutung der Erinnerung im Mittelalter wurde von verschiedenen jüngeren Studien thematisiert, maßgebliche Vorreiterposition im Bereich der Mediävistik nimmt dabei das grundlegende Werk von Mary Carruthers ein (Carruthers 2008).  26 Gründlichste und umfassendste Behandlung des Sacro Monte von Varallo in Roberta Panzanellis hervorragender Dissertation von 1999. Siehe auch Vaccaro/Ricardi 1992. Weitere Diskussion und Abbildungen bei Wharton 2006, 98–126; Gregg 2004, 49–55; Hood 1984, 292–308; Wittkower 1978, 175–83.

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Abb. 4: Stadtplan von Varallo.

Im Jahre 1486 von Bernardino Caimi (1425–1500) gegründet – einem Franziskaner, der als Patriarch von Jerusalem gedient hatte – bildete Varallo einen Versuch des Stifters, die Stadt Jerusalem für italienische Gläubige nachzubilden. Caimis Quadragesimale de Articulis Fidei unterstützte die Idee, biblische Geschichten mit realen Orten zu verbinden und hierdurch ein „Theater der Imagination“ zu schaffen – und tatsächlich bezieht Varallo alle Sinne ein, um dieses dramaturgische Ziel zu erreichen.27 Zwei frühe Führer zu Varallo sind überliefert und bieten ein vade mecum mit Anweisungen, Anleitungen, Gebeten und abschließend verheißenem Sündenerlass.28 Die Besucher Varallos verbrachten einen ganzen Tag am Fuße des Berges im Gebet. Am Abend erklommen sie die Anhöhe in Begleitung eines franziskanischen  27 Vgl. Morris 2008, 361.  28 Hood 1984, 301–302.

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Abb. 5: Kreuzigungskapelle, Varallo.

Führers, der als ihr steter Ansprechpartner fungierte. Varallo ist topographisch aufgebaut: Die Besucher wurden von einer kleinen Kapelle in die nächste geführt, ganz so, als ob sie sich zwischen den Heiligen Stätten Jerusalems bewegen würden. Varallos ursprüngliche Erbauer nutzten für die durchdachte Anlage der Kapellen die natürliche Disposition des Geländes auf einem entlegenen Berggipfel. Zudem wurden die Kapellenbauten miteinander in einen Bezug gesetzt, der jenem der Heiligen Stätten in Jerusalem entsprach – die Entfernungen zwischen den Kapellen in Varallo etwa entsprechen in verkleinertem Maßstab denjenigen in Jerusalem. Die ersten drei Kapellen in Varallo entstanden im 15. Jahrhundert und zeigen Szenen des Kalvarienberges, des Heiligen Grabes und Christi Himmelfahrt (Abb. 5).29 In der Zeit zwischen 1493 und 1514 stieg die Anzahl der Kapellen von drei auf 28 an, heutzutage besitzt Varallo eine Gesamtzahl von 43 Kapellenbauten. Im 15. Jahrhundert bedeutete ein Besuch der Heiliggrab-Kapelle den Höhepunkt der kinästhetischen Andachtserfahrung von Varallo – ein Besuch, der, genau wie in Jerusalem, allein in den Abendstunden und bei Kerzenlicht erfolgte.30 In  29 Für diese Studie ist maßgeblich, dass gerade diese ersten drei Stätten auf Gedächtnis und Nachahmung hin ausgelegt waren. Der Kalvarienberg und das Heilige Grab werden auch in der Jerusalemkirche in Brügge ins Gedächtnis gerufen.  30 Hood 1984, 303.

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Abb. 6: Heiliggrabkapelle, Varallo.

Varallo mussten sich die Pilger wie in Brügge tief herabbeugen, um eine kleine Kammer mit einer Skulptur des im Grab liegenden Christus zu betreten (Abb. 6). Diese Skulptur konnte – ebenfalls wie in Brügge – durch ein Gitter hindurch berührt werden und die überlieferten Berichte bezeugen, dass viele Pilger hierbei in Tränen ausbrachen, weil sie diese Erfahrung als emotional zutiefst berührend empfanden.31 Die Skulptur Christi ist auch durch eine Glasscheibe über dem Altar eines Nachbarraums sichtbar, sodass die eucharistische Bedeutung von Leib und Blut Christi während der Messe ganz unmissverständlich ablesbar erscheint. Die Kapellen in Varallo schaffen äußerst lebensnahe Illusionen und präsentieren die Szenen aus dem Leben Jesu durch farbig gefasste, dreidimensionale Figuren vor illusionistischen Wandfresken. Die Figuren besitzen Perücken aus Pferdehaar, Glasaugen und textile Umhänge – innerhalb einer Szene wurde ein Stachelschwein sogar mit echten Stacheln ausgestattet. Echte Seile hängen von der Decke und wirkliche Backsteine oder Sträucher werden eingesetzt, um die Landschaftselemente so „real“ wie möglich zu gestalten.  31 Ebenda, 301. Heute befindet sich die Christusfigur hinter Glas und kann nicht länger berührt werden.

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Die skulptierten Figuren erscheinen – genau wie ihr Hintergrund – in lebhaften Farben bemalt und sie spielen ihre Rollen voll dramaturgischem Feingefühl. Varallo erscheint keineswegs rückwärtsgewandt, sondern eröffnet neue Blicke auf die Kunst des 17. Jahrhunderts mit ihrer dynamischen und das Publikum einbeziehenden Theatralik. Die ersten Besucher der Stätte besichtigten die Kapellen noch, um mit deren Szenerien und Ausstattungsprogramm direkt zu interagieren, eine Besichtigung der Kapellen wurde jedoch in den folgenden Dekaden zunehmend eingeschränkt und inzwischen können Besucher die vollständig eingerahmten Szenerien nur noch durch Glas und Gitterstäbe hindurch erspähen.32 Diese Art der Annäherung funktioniert rein visuell – kein anderer Sinn wird dabei angesprochen – und ist meilenweit von Bernardino Caimis ursprünglicher Intention entfernt, die auf eine den Betrachter sinnlich und emotional einbindende, interaktive Erfahrbarkeit abzielte. In gewisser Hinsicht rekurrieren diese vorgesetzten Rahmen auf eine symbolische Betrachtungsweise, wie sie etwa mit Chorschranken oder anderen Vorrichtungen zur Einschränkung des visuellen Zugangs in Verbindung gebracht wird.33 Jacqueline Jung schreibt, dass für die mittelalterlichen Betrachter „[r]evelation was effective only when something was hidden.“34 In Varallo scheinen diese Maßnahmen hingegen gegenreformatorische Ausstattungen anzukündigen, die, eng von der Kirche kontrolliert, anhand visueller und höchst thea­tralischer Darstellungen der Heilsgeschichte stärkste emotionale Reaktionen hervorrufen sollten.35 Varallo wurde als Ergänzung oder Erweiterung des empirisch-sensualistischen Konzepts der Jerusalemkirche in Brügge begonnen. Aber spätere Hinzufügungen von Gittern und weiteren Einbauten kanalisierten, reglementierten und kontrollierten die Erfahrungsweise der Besucher, sodass der persönlichen Vorstellungskraft, dem Einfühlungsvermögen und selbst der Erinnerung eine deutlich geschmälerte Bedeutung zukam. Was also ursprünglich als eine körperliche und sinnliche Erfahrung angelegt worden war, wurde dahingehend verändert, dass spätere Besucher die biblischen Geschichten nur noch in vorgefertigten und wohldosierten Präsentationen erleben konnten, welche die Art und Weise ihrer Erfahrund Interpretierbarkeit reglementierten und kontrollierten. In Varallo entschieden kirchliche Amtsträger über das Hinzutreten von illusionistischen Darstellungen und Sinneseindrücken, um die ikonographische Einheitlichkeit zu gewährleisten und eine stärkere Kontrolle über das persönliche Erfahren und Interpretieren der heiligen Szenen ausüben zu können.

 32 Gregg 2004, 49–55.  33 Jung 2006, 202.  34 Ebenda, 212.  35 Gian Lorenzo Berninis berühmte Kapelle für die Cornaro-Familie in Santa Maria Della Vittoria in Rom (1645–52) mit ihrer Verklärung der Heiligen Theresa bildet das wunderbare Beispiel eines solchen Kunstwerks. Nicht allein unser eigener Zugang und unsere Sicht auf die Kapelle sind beschränkt, zudem bedeuten die Skulpturen der Familienangehörigen der Cornaros innerhalb der Kapellenlogen dem Betrachter genau, welche Reaktionen von ihm erwartet werden. Zu Bernini und seinem Werk siehe Wittkower 1997.

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Abb. 7: Holy Land Experience, Orlando.

Als noch direkter Zugang zu den Kapellen von Varallo bestand, konnten die Besucher dort selbst zu aktiven Teilnehmern am Leben Christi werden. Nach einem Tag voller Vorbereitungen durch Gebete sowie dem langen Aufstieg betraten die Besucher hier von Fackeln und Kerzen beleuchtete Szenarien, die von lebensgroßen Figuren bevölkert wurden. Die Besucher agierten somit selbst als Darsteller innerhalb dramatischer, lebhaft bemalter und dreidimensionaler Werke, die in der Rezeption gleichsam zu „tableaux vivants“ wurden. Durch diese Beteiligung vermochten die Besucher sowohl existierende Erinnerungen wachzurufen, als auch völlig neue zu generieren. Im 16. Jahrhundert, mit Begrenzung dieser Interaktionsmöglichkeiten, wurden die Besucher Varallos von Darstellern zu Betrachtern gemacht. Das Bedürfnis mittelalterlicher Gläubiger nach sinnlicher Anleitung trieb Künstler zu immer illusionistischeren Darstellungen – ironischerweise sprach dieses Vorgehen jedoch die Vorstellungskraft und sinnliche Teilhabe weitaus weniger an. Der Wunsch, auf den Spuren Christi zu wandeln – auch wenn ein Besuch des Heiligen Landes selbst nicht möglich ist – zieht sich bis zum heutigen Tage hin. Die Holy Land Experience in Orlando (Florida, USA) präsentiert Nachbauten der Jerusalemer Sehenswürdigkeiten und verspricht ihren Besuchern eine tiefgreifende, emotionale Erfahrung (Abb. 7).36 Dieser von Trinity Broadcast Network betriebene  36 http://www.holylandexperience.com. Letzter Zugriff: März 2015.

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Erlebnispark bildet nicht nur Jerusalem nach, sondern beschäftigt auch Schauspieler, welche die Szenen des Lebens, der Passion und Auferstehung Christi zu regelmäßigen Terminen über den Tag verteilt nachspielen. Die Webseite von The Holy Land Experience präsentiert Videomaterial, das die Lebensnähe und emotionale Kraft dieser Darstellungen unterstreicht. Kommentare auf der Webseite beschreiben, dass dieser Park Besuchern ihr Verständnis der Heilsgeschichte erleichtere, indem sie sich hierin als tatsächlich anwesend fühlen könnten, zudem wird die emotionale Kraft der nachgestellten Szenen immer wieder betont. Nach Aussage der Seite werden die Besucher mithin „love and presence of God“ tatsächlich spüren können. Die Holy Land Experience bildet eine Variante des 21. Jahrhunderts zu den gleichen emotionalen Themen, die schon von der Jerusalemkirche in Brügge und dem sacro monte in Varallo aufgegriffen und behandelt wurden. All diese Anlagen resultieren aus einem starken Bedürfnis der Gläubigen nach aktiver Teilhabe und emotionalem Nachempfinden von Geschehnissen, die sich vor Tausenden von Jahren an einem weit entfernten Ort ereigneten. Die hier besprochenen Bauten sind deshalb so erfolgreich, weil sie sämtliche Sinne – und nicht allein den Sehsinn – ihrer Besucher ansprechen und einbeziehen. Erst die Erkenntnis, wie universell der Wunsch nach erlebter Andacht im Mittelalter war – und wie die Sinne ansprechende Bauten auf diesen Wunsch reagierten – erlaubt uns ein tieferes Verständnis von Andachtskunst und insbesondere jenes interaktiven Illusionismus, der im 15. Jahrhundert entstand, sich aber bis zum heutigen Tage fortsetzt. (Übersetzung: Petra Raschkewitz)

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Abbildungsnachweise Abb. 1–3: Andrew McAllister. Abb. 4: public domain image. Abb. 5–7: Autorin

Anika Höppner

Visionäre Räume Die ‚Irrfahrten‘ des Christoph Kotter The account published by Johann Amos Comenius in 1632 of the odyssey of the visionary Christoph Kotter marks the loss of the significance of sacred topographies in Lutheran visionary culture in the Early Modern Period. He makes Kotter’s visionary pilgrimage in the affective space appear as an internalized Passion piety. The vision itself becomes a place where the Passion finds a new space. Innerworldly knowledge, on the other hand, is given short shrift by the visionary account through its labyrinthine rhetoric. In this way, the account reflects Comenius’ insights from the end of his life, whereby his dedication as a publisher and polymath appears as a necessary aberration.

Als prominenter Akteur im Streit um Visionen und Offenbarungen vertritt der Pädagoge, Dichter und Universalgelehrte Johann Amos Comenius (1592–1670) die unter Theologen übliche Auffassung von der Adiaphorie der Gesichte. Was von Gott weder ausdrücklich geboten noch verboten worden ist, besteht im Protestantismus der Frühen Neuzeit als ‚Mittelding‘ auf dem schmalen Grat zwischen Aberund Unglaube. Entsprechend wandeln in Anlehnung an die alttestamentarische Wegmetaphorik religiöser Lebensführung zahlreiche neue Propheten und ihre amtsordentlichen Begleiter auf dem allein rechtmäßigen ‚Mittelweg‘. Auch Comenius lobt in seinem 1629 verfassten Wichtige[n] vnd Schrifftmäßige[n] Tractat von denen Wahren vnd Falschen Propheten die „mittlere Straße“ im Umgang mit den biblisch nicht bestätigten Medien des Heils. Zeitgenössische Visionen gläubiger Protestanten, wie sie vielfach in Flugschriften publizistisch im Alten Reich verbreitet wurden, seien in aller Bescheidenheit weder ausnahmslos zu verwerfen noch bedenkenlos anzunehmen. Für eine gewissenhafte Prüfung fordert Comenius in einer Apologie der Gesichte die uneingeschränkte Freiheit im Glauben an Visionen und an die göttliche Gabe der Prophezeiung: „Wann jemand meynet daß er sich dergestalten in der Mittel=Strasse halten könne / der mag es meinetwegen thun; Nur sehe er zu / daß er denenjenigen / so eine völlige Versicherung von dem Werk GOttes haben / kein Gesetz fürschreibe.“1 Im sogenannten ‚Gesichtsstreit‘ des konfessionellen Zeitalters ist Nebensächliches hart umkämpft.2    1 Comenius 1711, 98f.    2 Der Begriff ‚Gesichtsstreit‘ geht zurück auf den Prediger, Theologen und Protagonisten des Gesichtsstreits Jacob Stolterfoht (1600–1668) (vgl. Stolterfoht 1649, 14) und wird tradiert vom Lübecker Superintendenten August Pfeiffer (1640–1698) (vgl. Pfeiffer 1692, o. P. [Zuschrift]). Seit den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts geführt, stellt sich der Gesichtsstreit als ein weiterer Kristallisationspunkt der unzähligen Agonalitäten innerhalb der kulturellen Konfiguration eines frühneuzeitlichen Protestantismus dar. Verschiedene Maßstäbe anlegend kommen die Theologen zu unterschiedlichen Deutungen von Gesichten, berufen sich aber sowohl Befürwor-

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Comenius selbst mag sich zunächst auf dem sicheren ‚Weg der Wahrheit‘ wähnen, denn er verteidigt nicht nur allgemein die visionären Wahrnehmungen, sondern unterstützt im Besonderen auch den Sprottauer Visionär Christoph Kotter (1585–1647), dessen Gesichte er seit 1625 sammelt. Comenius gibt Kotters Visionen ab 1628 zunächst auf böhmisch und später zusammen mit den Offenbarungen der Visionärin Christina Poniatowski und denen seines ehemaligen Mitschülers Nikolaus Drabik in drei verschiedenen lateinischen Fassungen heraus. In deutscher Sprache werden Kotters zahlreiche Ermahnungen zur Buße, seine prophetischen Reden allegorischen Charakters sowie ihr chiliastisches Gedankengut unter dem Titel Die Englischen Erscheinungen vnd Reden Christoph Köttern / Weißgerbern zur Sprotta in der Schlesien / einem frommen / einfältigen Mann / zum öfftern in vnterschiedlichen Gesichten widerfahren ab 1632 verbreitet. Als „Geschenk vnd Warnung Gottes“ könne laut Vorrede des Herausgebers niemand, dessen „Verstand nicht vmbgekehrtet“, den Visionen Kotters widersprechen.3 Kotters Offenbarungen gelten Comenius als lehrreich; sie erweisen sich aber auch als regelrecht richtungsweisend. Denn die Visionen des Weißgerbers beschreiben gezielte Bewegungen, die einen eigenständigen, nämlich visionären Raum konstituieren.

I. Pilgern im visionären Affektraum Kotters Gesichte finden statt, sie ereignen sich an diversen Stätten, die als Aufenthaltsorte des Visionärs namentlich in den Englischen Erscheinungen vnd Reden das Visionsgeschehen im Raum anordnen. Kotters Stationen unterliegen keiner erkennbaren, von den Gesichten unabhängigen Ordnung. Durch eine vielmehr komplexe Bewegung im realen Lebensraum gleicht der visionäre Raum einem Labyrinth.4 Insbesondere die ausgiebigen, verworrenen Wanderungen in die nähere und weitere Umgebung von Kotters schlesischem Heimatort werden als Bedingung der Möglichkeit eines labyrinthischen Offenbarungsraums wirksam. Mit häufigen Richtungsänderungen taumelt der Visionär durch die karge Heidelandschaft. Als Kotter am 7. August von einem Engel ausdrücklich den Befehl erhält, „dz er von dato biß vber 3. Wochen nit nach Hauß gehen sol“, unternimmt der Visionär eine – wahrlich Schwindel erregende – Wanderung: „Den 8. August gehet er biß vff Newhammer […] Den 10. gehet er vff Görlitz zu / als er nu nit weit von Schönberg ist […] da geschicht ihm eben das / daß im das vorige Gesicht wider also erscheinet […]. Als er sich aber vollendet / gehet er vollends biß gen Pertzig […]. Deß Morgens / den 11. Aug. gehet er hinüber biß gen Zottel zum Pfarrern / vnd helt sich da vber Nacht. Den 12. Aug. als er von ter als auch Kritiker von Visionen auf die Adiaphorie der Gesichte. Wie auch Comenius fordern sie Freiheit im Glauben bzw. Nicht-Glauben an Gesichte und neue Propheten, um die eigene Position zu stärken.    3 Comenius 1632, o. P. (Vorrede).    4 Vgl. zur Bestimmung traditioneller Labyrinth-Vorstellungen Burrichter 2003.

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Zottel nach Görlitz gehen will / widerfährt ihm das vorige Gesicht aller Vmbständen vnd theiln nach zum dritten mal auff dem Berglein zwischen Ludwigsdorff vnd kleinen Newendorff / auff dieses gehet er zwar fort hinein nach Görlitz vmb die Vorstadt vber die Brücken zu einem Weißgerber / isset etwas bey im / sondern gehet noch den selben Tag nach Langenaw zu seiner Mutter […]. Den 13. August gehet er von Langenaw vff die Heyde nach dem Fohlenforth zu / aber als er ein wenig vor Langenaw hinauß kompt […] wird das Gesicht zum vierdten mahl widerholet. […]“5 In den nächsten drei Tagen kommt er darüber hinaus durch die Ortschaften Fohlenforth, Penzig, Lissa, Langenaw, Malnitz, Loß, Eisenberg und Pußka, bis zur Rausche. Er erlebt derweil weitere Variationen seiner Visionen, bis ihm sein Körper schließlich Einhalt gebietet. Als er am Morgen des 18. August letzten Endes zurück nach Görlitz gelangt, „wird ihm im Kopff als wann ihm schwindelete / daß er sich auch an ein Thonne / so da gestanden / anhalten muß“.6 Insofern aber der Visionsbericht die vermeintlich natürlichen Bewegungen des Visionärs durch die Heidelandschaft einzig mit dem direkten Kontakt zum Heiligen verkettet, Kotter auf seinen Reisen das Heilige sieht, stilisiert der Bericht Kotter auf unerwartete Weise zum Pilger, die visionäre Reise als peregrinatio, als Pilgerreise bzw. als Wallfahrt.7 Zumal auch Kotter wie tausende Wallfahrer am Ende einer beschwerlichen Reise durch die Lande ein Heiliges zu Gesicht bekommt, lassen sich Bezüge zwischen dem protestantischen Visionsbericht und den katholischen bzw. vorkonfessionellen Wallfahrtsberichten nicht von der Hand weisen.8 Daher überrascht es kaum, dass der Visionär Comenius’ Bericht zufolge auch ein bedeutendes Wallfahrtsziel, das Heilige Grab in Görlitz besucht hat. Am dritten Tag nach seiner ersten Erscheinung hört der Weißgerber in der Stadtkirche in Görlitz eine Predigt über die Vision des Jesaja, das heißt über den Zorn Gottes über den Unglauben seines Volkes. Anschließend „seye es ihme je länger je mehr im Kopf vmbgangen / habe es ihm mit spazieren vertreiben wollen / vnd hinauß vors Niclaus Thor / gegen dem heiligen Grab zugangen.“9 Bevor ihm sein Engel erneut erscheint, besucht Kotter eine zum locus publicus et sacer erklärte Kopie des Grabes Christi. Dieses „Lausitzer Jerusalem“ soll ihm auf seiner peregrinatio minor

   5 Comenius 1632, 35f.   6 Ebd., 36.    7 Die Begriffe ‚Wallfahrt‘ (mhd. ‚wallaere‘ = wandern, reisen) und ‚Pilgerfahrt‘ (lat. ‚peregrinatio‘ = Leben in der Fremde) werden im Folgenden mit Rücksicht auf ihre Etymologie verwendet. Der Begriff ‚Wallfahrt‘ betont den zielgerichteten Aspekt religiöser Mobilität und schließt den Gedanken an einen Wallfahrtsort mit ein; der Begriff ‚Pilgerfahrt‘ akzentuiert hingegen mehr das Unterwegssein einer religiös motivierten Reise.    8 Anton L. Mayer sieht in dem Begehren, den heiligen Plätzen nahe zu sein, eine der frühesten und ursprünglichsten Motivationen für eine Wallfahrt. Vgl. Mayer 1938. Aufgrund dieser Schaufrömmigkeit entwickelte sich neben den peregrinationes maiores die sogenannte peregrinatio minor, die „Nahwallfahrt“. Zur architektonischen Doppelung von Pilgerzielen vgl. Boockmann 1994, 254– 262.    9 Comenius 1632, 2.

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laut frühneuzeitlichen Aussagen den gleichen Blick geboten haben wie die Aedicula über dem Heiligen Grab in Jerusalem.10 Georg Emmerich (1422–1507), Sohn eines reichen Kaufmannes und späterer Bürgermeister der Stadt Görlitz, hatte heute nicht mehr existente Baupläne vom Grab Christi in Jerusalem angefertigt und diese nach Görlitz gebracht. Er begründete damit die heute noch existierende, originalgetreue Nachbildung des maurisch-romanischen Heiligen Grabes in der Stadt Görlitz, die eine um ungefähr 3/5 verkleinerte Nachbildung der hochmittelalterlichen Heilig-Grab-Anlage in Jerusalem darstellt. Wie die gesamte seit dem 10. Jahrhundert bestehende Tradition der visuell ähnlichen Nachbauten des Heiligen Grabes war auch das Heilige Grab in Görlitz Manifestation der vielfältigen auf die Passion und den Kreuzestod Jesu ausgerichteten christlichen Glaubenspraktiken.11 Darauf zielend, den Ort einer memoria passionis zu authentifizieren und durch ihre Erscheinung eine compassio anzuregen, ist es „ein Denkmal spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit“.12 Es verweist, indem es über christliche Bräuche, Glaubenspraktiken und religiöse Übungen mentale Prozesse motiviert, auf die katholische bzw. vorkonfessionelle Frömmigkeitspraxis der imitatio Christi. Mit dem Besuch dieser Wallfahrtstätte rückt Kotters Reise in die Nähe einer performativen, d. h. in Handlung räumlich realisierten Pilgerschaft.13 Dennoch endet Kotters Weg zu Gott nicht an der Endstation des Kreuzweges, ist das Heilige Grab für ihn kein Ort der Begegnung mit dem Heiligen, kein im engeren Sinne heiliger Ort.14 Bekanntermaßen ist nach Martin Luthers Frontalangriff auf die überkommene Auffassung von einer quasi-sakramentalen Welt auch der Glaube an die göttliche Präsenz, die sich in der Absenz des Leibes im Heiligen Grab realisiert, zusehends schwächer geworden.15 In seinem Sermon von der betrachtung des heyligen leydens christi beispielsweise fordert Luther zwar zu einer individuellen geistigen imitatio in „tieffen gedancken / vn groß achtung der sunden“ auf, damit die Gläubigen als „rechte Christen […] Christus leben vnd namen also in jr leben ziehen“; zugleich predigt er aber heftig gegen den Sündenablass auf einer Wallfahrt: „Darumb sihe ye zu / das du nit thust wie die verkerten menschen die sich mit jren sunden im hertze beyssen vnd fressen / vnd streben darnach / das sie durch gute werck oder gnugthuung / hin vnd her lauffen / oder auch ablaß / sich heraus  10 Vgl. z. B. [Hans von Mergenthal] 1586.  11 Die Bezeichnung ‚Heiliges Grab‘ meint das Gesamtkunstwerk mit Grabmonument, Kreuzkapelle, Salbhäuschen, Ölberg-Anlage mit Garten ‚Gethsemane‘, Jüngerwiese und einem künstlich angelegten Bach ‚Kidron‘.  12 Meinert 2004, 320.  13 In der konsequenten Realisierung der imitatio Christi liegt ein weiteres Motiv für die ersten Pilgerreisen nach Jerusalem. Vgl. Schmugge 1999, 15.  14 Klemens Richter schreibt dem sakralen Raum keine intrinsische Heiligkeit zu, sondern „Heiligkeit bzw. Sakralität besteht in der Hinordnung auf und in der Beziehung zu Gott […]. Ein Ort oder Raum kann nur insofern als sakral bezeichnet werden, als er der Begegnung mit dem heiligen Gott dient.“ Richter 1998, 45.  15 Luther rät von Wallfahrten nach Rom und auch von der peregrinatio minor ab. Vgl. Luther 2000a.

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arbeyten / vnnd der sunndt loß werden mügen / das vnmüglich ist vnd leyder weyt eingerissen ist / solche falsche zuversicht der gnugthuung vnd walfarten.“16 Das ‚Hin- und Herlaufen‘ der ‚verkehrten Menschen‘ auf einer Wallfahrt bringt nach Luther keine Erlösung. Auch gegen den in der vorkonfessionellen Passionsfrömmigkeit verankerten Nachvollzug des Leidensweges in der Prozession richtet Luther sein Wort.17 Mit dem Einzug eines nachreformatorischen Passionsgedenkens werden zahlreiche Riten abgelehnt.18 Luther übt deutliche Kritik an der Ausgestaltung und an der sinnlichen Vergegenwärtigung der Passion, die weit über biblische Schilderungen hinausgehen und damit dem sola fide-Prinzip widersprechen. Das Axiom einer compassio sowie die performative, also äußerliche Praxis einer imitatio Christi lehnt der Reformator ab. Stattdessen sei die Passion in einem ‚geistlichen‘ Sinne zu erfassen: Selbsterkenntnis und das Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit hängen für Luther allein an einer mentalen, ortsunabhängigen Begegnung mit Gott. Diese in der Reformationsforschung mit einer „Entschränkung der Erfahrbarkeit Gottes gegenüber dem exklusiven Heilsraum Kirche“ gleichgesetzte Translokalität bildet ein zentrales Element protestantischer Konfessions- wie Visionskultur.19 Gemäß dieser Translokalitätslehre wird auch Kotter, obwohl er tagelang hungert und durstet, Christus am Heiligen Grab in Görlitz nicht ansichtig.20 Da Frömmigkeitshandlungen in der protestantischen Konfessionskultur keinen Zugang zum Heil eröffnen, bleibt Kotter nur das Warten darauf, dass Gott in die irdische Welt eingreift und ihm den Engel erneut sendet. Ein metrischer Bewegungsverlauf auf einen besonderen Endpunkt hin, wo er den Engel erwartet, lässt sich daher für seine Reisen nicht bestimmen. Vielmehr ist Gott allgegenwärtig und zeigt sich unabhängig von den loca sancta auch überall präsent. Weder die Heilig-Grab-Anlage noch die Stadtkirche oder die Mönchskirche, zu der Kotter anschließend kommt, werden zum Schauplatz seiner visionären Erfahrungen. Selbst dass er auf seinen Wegen an einer Kopie der Kopie des Heiligen Grabes in Görlitz vorbeigekommen sein muss, scheint im Zusammenhang mit seinen Visionen mitnichten von Relevanz: Das sich seit der Zeit um 1600 in Sagan (Żagán) befindliche Grabmonument, das durch die in Görlitz ausgeführten Messungen von 1597 mit seinem Vorbild bis ins Detail übereinstimmt, findet keinen Eingang in den Visionsbericht.21 Die religiöse Architektur, wie sie in katholischen Gebieten streng im  16 Luther, 2000b, 139f. In Anlehnung an Luther stellen auch zahlreiche andere Prediger ihr Wort gegen die Praxis der Wallfahrt. Vgl. Habermas 1991, 25.  17 Vgl. z. B. Luther 2000c, 172–179.  18 Vgl. z. B. Luther 2000b, 139f.  19 Kaufmann 2001, 306.  20 Vgl. im Gegensatz zu Kotters Visionen jenseits der Grabanlage z. B. Peter von Amiens, der Geistliche, welcher der Überlieferung nach, durch eine Vision in der Kirche des Heiligen Grabes begeistert, die abendländische Christenheit zum ersten Kreuzzug entflammt haben soll. Vgl. Hagenmeyer 1879. Vgl. zur wallfahrtsortsgebundenen Tradition eines Visionärstum auch die Visionen von Birgitta von Schweden oder jene von Ignatius von Loyola von 1537, die ihm in einer Kirche auf dem Weg nach Jerusalem wiederfahren sind.  21 Zum Heiligen Grab in Sagan vgl. Dalman 1922 sowie Meinert 2004.

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Dienst der Frömmigkeitspraxis steht, hat keine Wirkung auf den Visionär. In Ansehung dieser Autonomie gegenüber dem heiligen Ort lässt sich die Komplexität der visionären Reise nicht auf ein altkirchliches Raumverständnis zurückführen. Eine schematische Abbildung aus dem Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, mit der die bereits angegebene Reiseroute zwischen dem 7. und 17. August 1622 graphisch aufbereitet wurde, bestätigt die fehlende Systematik von Kotters Pilgerreise. Sie erhellt, dass Kotter die Ortschaften weder unter kirchenräumlichen Gesichtspunkten noch überhaupt in einer logisch erscheinenden Reihenfolge besucht haben kann. Seine Motive sind anhand der Vorlage nicht nachzuvollziehen. Zumindest aber ist wohl nicht davon auszugehen, dass der Weißgerber die vielen Reisen ausschließlich aus beruflichen Gründen angetreten ist, denn von seinen Zeitgenossen wird ihm kein besonders großer Berufseifer bezeugt. Vor allem seine Kritiker behaupteten, „daß Kotter faul und liederlich gewesen, sein Handwerk vernachlässiget habe“.22 Zudem würde aber auch die Dauer der Aufenthalte gemäß der erforderlichen Reisegeschwindigkeit schließlich zu kurz ausfallen, um unterwegs Handel betreiben und Waren austauschen zu können. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens überschreibt die Bildstudie deshalb mit dem Titel ‚Kotters Irrfahrten‘ und apostrophiert damit die labyrinthische Struktur des visionären Raumes.23 Aufgrund des protestantischen Überschusses an göttlicher Ortlosigkeit und Transzendenz, aufgrund der gesteigerten Allgegenwärtigkeit Gottes, führt das Labyrinth Kotter, wie gesehen, nicht auf univialem Weg zum Heil, sondern als multiviales Labyrinth in den Affekt. Auf Kotters Odyssee im Labyrinth ist und bleibt der Weg das Ziel. Der Visionär bewegt sich in einem Raum, wie ihn die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in Tausend Plateaus in einer abstrakten Unterscheidung als ‚glatten Raum‘ beschrieben haben. Ohne jede mediale Einkerbung und ohne jedes architektonische Raster, „theoretisch unendlich, offen und in allen Richtungen unbegrenzt“, ist der glatte Raum nach Deleuze und Guattari von Grund auf anders organisiert als der ‚gekerbte Raum‘, führt er die entscheidende Differenz der kotterschen Pilgerreise herbei.24 Während der katholische Wallfahrtsraum auf sakralen Topographien und metrischen Bestimmungen beruht, der Wallfahrer im gekerbten Raum „von einem Punkt zum nächsten“ geht, begründet der hier entfaltete Raum eine „kontinuierliche Variation“ der visionären Ereignisse.25 So wie der glatte, visionäre Raum direktional und eben nicht dimensional organisiert ist, er „durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderungen geschaffen wird“, zählen in ihm weniger Lokalitäten als Intensitäten:

 22 Adelung 1788, 232.  23 Peuckert 1935/36, 355–359.  24 Deleuze/Guattari 1992, 659. „Kurz gesagt, Reisen unterscheiden sich weder durch die objektive Qualität von Orten, noch durch die meßbare Quantität der Bewegung, noch durch irgend etwas, das nur im Geiste stattfindet, sondern durch die Art der Verräumlichung, durch die Art im Raum zu sein, oder wie der Raum zu sein.“ Ebd., 668.  25 Ebd., 663f.

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„Der glatte Raum wird viel mehr von Ereignissen oder Haecceïtates als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt. Er ist eher ein Affekt-Raum als ein Raum von Besitztümern. […] Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien auf Kräfte oder dienen ihnen als Symptome. Er ist eher ein intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten.“26 Als ‚Affekt-Raum‘ ist der visionäre Raum nicht durch Heilige Orte vorgebildet, welche den Visionär als Wegmarkierungen auf seinen langen einsamen Wanderungen durch die wüsten Wälder der Görlitzer Heide einer Vision näher bringen könnten.27 Die visionäre Pilgerfahrt des Protestanten stellt keine mimetische Nachfolge einer schon vergangenen Reise dar, deren Anfangs- und Endpunkt sowie alle weiteren Stationen bereits präformiert sind, sondern ein affektives Unikum. Kotters Gottessuche im glatten Raum treibt das Lebensideal der asketischen Heimatlosigkeit auf die Spitze: Er bleibt bis zum Schluss homo viator.28 Nur in ihrer Unberechenbarkeit führen ihn seine Reisen ans Ziel, affizieren sie den Reisenden und statten sie den Visionär schließlich mit göttlichem, allumfassendem Wissen aus. „Im Glatten zu reisen ist ein regelrechtes Werden, und zwar ein schwieriges, ungewisses Werden“, schreiben Deleuze und Guattari.29 Sie bekräftigen damit einen Zusammenhang zwischen den Reisen im glatten Raum mit dem pädagogischen Gedanken der Vervollkommnung des Menschen durch wahre Weisheit. Nicht die praktische Erfahrung von den Dingen der Welt, sondern die kontemplative Aneignung von Wissen führt hier zur Pansophie und – in den Worten Comenius’ – zum „wahre[n] und dauernde[n] Glück der Kinder Gottes: wie selig diejenigen sind, die sich von dieser Welt und ihren Dingen abgewendet haben und nur noch allein Gott anhängen, ja allein in ihm ihren Standort haben […].“30 Damit distanziert sich der Bericht insgesamt von der katholischen Wallfahrtspraxis. Einerseits steht Kotters visionäre Reise stellvertretend für ein Pilgern in neuen Formen, für ein visionäres Pilgern, wie es auch eine Vielzahl anderer lutherischer Visionsberichte ausstellt. Andererseits eröffnet das ungelenkte Pilgern, das weder Beweggründe noch Orientierungspunkte erkennen lässt, auch einen Labyrinth-Raum, der sich mit Renate Lachmann als „Ordnungsverfremdung“, nämlich katholischer Wallfahrt, als „Parodie“ dieses Raumverständnisses bestimmen lässt.31 Denn in Comenius’ Visionsbericht verkörpert Kotter eine Figur, in welcher sich zwar der protestantische Visionär und der katholische Wallfahrer kreuzen, die  26 Ebd.  27 Zur Parallele zwischen ‚Kotters Irrfahrten‘ und Elias’ nomadischer Lebensweise vgl. Peuckert 1935.  28 Zur Heimatlosigkeit in der Nachfolge Jesu vgl. Ohler 2000, 68. Ins Extrem gewendet nährt der Christ mit der Pilgerfahrt auch seine Sehnsucht nach dem Jenseits. Vgl. Krüger 2003, 424.  29 Deleuze/Guattari 1992, 669.  30 Comenius in seinem lateinischen Widmungsschreiben für und über das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens an Karl Friedrich von Žerotín den Älteren, Landeshauptmann von Mähren und Comenius’ Gönner, zit. n. Schaller 2004a, 445.  31 Vgl. Lachmann 2006, 374.

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durch ihr Reisen aber auch und gerade die notwendige Differenz überspannt. In der Verzerrung des Bildes eines katholischen Wallfahrers im gekerbten Raum reist Kotter mehr als bedingungslos: Seiner Reise liegt nicht wie der visitatio ad loca sancta der Glaube an Orte zugrunde, an denen Gott ‚präsenter‘ ist als an anderen, der Glaube daran, dass das Göttliche sich häufiger an bestimmten Orten manifestiert, sondern Kotter erscheint – ins andere Extrem gewendet – vielmehr komplett orientierungslos oder ohnmächtig gegenüber der unendlichen, unbestimmten Heidelandschaft, in der er oftmals fern von den Orten erwacht, an denen er die Gesichte hat.32 Die konsequente Weiterführung dieser Überlegungen mündet am Ende des ersten Teils der Englischen Erscheinungen vnd Reden schließlich in eine demonstrative Überspitzung der protestantischen Translokalitätslehre: Kotter erfährt die alles entscheidende Offenbarung bei sich zuhause.

II. Visionäre Passionsfrömmigkeit Als Kotter am frühen Morgen des 1. Juni 1621 nach dem Aufstehen seine Fensterläden öffnet, erscheint der göttliche Bote erneut, um den Visionär „in seinem eygenen Hauß […] zu Gott vn[d] seiner Weißheit“ zu führen.33 Er ordnet an, Kotter möge einen Bericht über seine Gesichte verfassen und u. a. die Prophezeiung des Engels vom Sieg der drei ‚Löwen aus Mitternacht‘ aufschreiben und verbreiten. Nach einer Wiederholung dieser religionspolitischen Offenbarungen am nächsten und übernächsten Tag schließt der Engel den ersten Teil der Englischen Erscheinungen vnd Reden mit einer Predigt gegen die Werkgerechtigkeit ab. Damit lässt sich das Ende der häuslichen Visionen auch als abschließender Kommentar zu den visionären Reisen Kotters lesen. Der Bote erteilt hier der althergebrachten Ansicht, man könne im Raum der Wallfahrt göttliches Heil erfahren, beifolgend eine deutliche Absage: „Keiner kan durch seine Werck den Himmel vnd die Seligkeit erlangen / sondern dein ewiges Heyl stehet dem thewren blutigen Schweiß vnd Verdienst Christi / es ist kein ander Mittel / dadurch du kanst selig werden / als allein durch den gerechtigsten Knecht Jesum Christum / der da gerecht machet alle / die an seinen Namen glauben.“34 Doch obwohl Pilgerreisen zu Andachts- bzw. zu heiligen Orten nicht mehr heilsversprechend sind, Letztere als Verankerung der imitatio Christi in sakralen Topographien ausgedient haben und höchstens noch als Erinnerungsorte fungieren,35 bleibt die Versenkung in den ‚blutigen Verdienst‘ Christi auch für die lutherische Visionskultur der Frühen Neuzeit virulent.

 32 Vgl. Comenius 1632, 19. Peuckert 1938/41, 79.  33 Comenius 1632, 26f.  34 Ebd., 29.  35 Vgl. Anderson 1995, 25f. Zum Verständnis von Erinnerungsorten vgl. Nora 1998, 136.

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Abb.1: Radierung aus „Lux e tenebris“ (1655) von Johann Amos Comenius.

Mehrfach wird der Visionär durch den Engel dazu angehalten, Leben und Leiden Christi zu bedenken und zu betrachten.36 Eine Illustration der Begegnung Kotters mit dem Boten Gottes in Menschengestalt erinnert in ihrer Bildanordnung an die Abbildung von Schüler und Lehrer im Orbis sensualium pictus. Sie zeigt Kotters Vision eines Triangels, aus welchem Kotter während seiner Vision drei Zeiger elf Uhr schlagen hört (Abb. 1). Während der alte, bärtige Bote, seinen Blick hinter sich auf Kotter richtend, ihm mit einer Geste des Verweisens den Triangel am rechten Bildrand vor Augen führt, bringt der Visionär mit seiner Körperhaltung vor allem sein Unverständnis über das Gesicht zum Ausdruck. Zur Erklärung der Vision und des verborgenen Wissens hinter der Erscheinung des Triangels erinnert der Bote, dem Bericht nach, an die Einigkeit der Heiligen Dreifaltigkeit und weiter an die Passion Christi und deren Aktualität: Denn von der Dreizahl soll der Visionär „wissen / daß gleich wie zur Zeit des Leydens Christi / von der 6. Stund  36 Vgl. z. B. Comenius 1632, 12, 16.

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bis zur 9. vnd 3. Stunden lang eine grosse Finsternuß entstanden / […] also würde auch vmb diese 11. Stunde ein grosse Geistliche Finsternuß entstehen bei den Christen […].“37 Die Vision führt hier über die zeitliche Analogie jene akute Dringlichkeit des Passionsgedenkens vor, welcher sie im Folgenden des Berichts selbst Genüge tun wird. Nachdem der Engel den Visionär an Gottes Gerichte aus Vergangenheit und Zukunft erinnert, „vnd solches den andren vnd dritten Tag / nach dem er jhn in gewisse Oerter bescheiden / jmmer widerholet“, wird die Vision selbst schließlich zum Medium des Passionsgedenkens.38 Denn um den Visionär in seinem prophetischen Amt zu bestärken, hat „jhm der Spiritus bey dieser Erscheinung gleichsam eine Passion Predigt gethan“.39 Nicht zufällig hält der Engel den Visionär in der letzten Vision vor Ostern, am Freitag vorm dritten Fastensonntag, mit einer Passionspredigt dazu an, sich die Passionszeit ins Gedächtnis zu rufen. Zeitliche Modelle, die den Abbildcharakter der vorkonfessionellen wie der katholischen imitatio Christi betonen, werden im Gegensatz zu den räumlichen Konstellationen durch die visionären Ereignisfälle nicht hinterfragt, sondern kommentarlos affirmiert. Innerhalb der Vision allerdings, die sich damit nun als einzig heiliger Ort erweist, wird indes auch das Wissen von der räumlichen Anordnung der Passion Christi vermittelt: Der mahnende Appell des Engels an den Visionär, als getreuer Nachfolger Christi zu agieren und ein „rechter Passionsschüler“ zu sein, richtet sich auf die Betrachtung des biblisch verbürgten Geschehens an verschiedenen Stationen des Leidensweges.40 Kotter soll der Passionspredigt der Engelsfigur zufolge „betrachten / was Christus gelitten / 1. in seinem geistlichen jnnerlichen Leyden im Oelgarten / da er vor Angst blutigen Schweiß geschwitzet / 2. Bey den Hohepriestern / da er allerley Hohn vnd Spott erdulden müssen / 3. Im Richthauß Pilati / da er geschlagen / gegeisselt / vnd mit Dörnern gekrönet worden / 4. Was er am Creutz gelitten / vnd geredet“.41 In einer einfachen, durchnummerierten Aufzählung lenkt die Passionspredigt die Aufmerksamkeit des Visionärs von einer Kreuzwegstation zur nächsten. Der syntaktische Parallelismus der Predigtworte verstärkt zusätzlich den Eindruck einer metrischen Dynamik. Wenn aber gerade nicht das Heilige Grab als traditionelle Kreuzwegstation, sondern der Geist in der Vision zum Abschreiten der Leidensstationen auffordert, dann legt der Bericht eine Übertragung der Passionsvermittlung von der sakralen Heilig-Grab-Architektur auf die visionären Reden nahe. Anstelle architektonischer Orientierungshilfen einer vorkonfessionellen oder katholischen Passionsfrömmigkeit, die es in der Nachfolge Christi einzeln und nacheinander auszumachen gilt, werden die Stationen der Passion in der Vision nicht etwa bildlich vor Augen geführt, sondern nach Maßgabe der lutherischen Medienkultur an  37 Comenius 1632, 4.  38 Ebd., 13.  39 Ebd., 16. Zur Passionspredigt im 17. Jahrhundert vgl. Axmacher 2005, 11–88.  40 Comenius 1632, 17.  41 Ebd., 16.

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das Wort gebunden und also sprachlich zur inwendigen, gedanklichen Betrachtung bereit gestellt.42 Dieser Medienwechsel, die Übertragung der Passionsvermittlung von der religiösen Architektur auf die visionäre Predigt, unterstellt die Passion aber damit auch notwendigerweise den Bedingungen des neuen Mediums. In diesem Sinne leiten die hier von traditionell sieben oder vierzehn auf vier reduzierten, besonders sinnträchtigen Stationen zwar ebenfalls zum Nachvollzug des Leidensweges an, verlagern den Schwerpunkt der Versenkung aber vom körperlich-materiellen und äußerlichen auf das unkörperlich-geistige und ‚innerliche Leiden‘ Christi. Wenn der Bote Gottes die Passion auch durch Angabe der jeweiligen Schauplätze teilweise im Raum verortet, so kommen doch durch seine Unterweisung vor allem die gefühlsbetonten und affektiven Momente der Leidensgeschichte zum Tragen. Angst, Beständigkeit und Demut, Affekt und Affektkontrolle besetzen als Intensitäten den Raum der Passion Christi und lassen damit dessen Bezüge zur protestantischen Form der imitatio Christi, also zu einer tendenziell eher ortsunabhängigen mentalen Pilgerschaft erkennen. Das in der Vision lokalisierte Passionsgeschehen korrespondiert über das zugrundeliegende Raumverständnis mit Kotters visionärem Pilgern im Affektraum: Konstituiert sich der Leidensweg in der Engelspredigt vornehmlich über die Darstellung emotionaler Ereignisse, so erscheint der solchermaßen beigebrachte Kreuzweg Christi nunmehr auch als Begründungs- und Erklärungszusammenhang für Kotters affektive Bewegungen durch die Görlitzer Heidelandschaft. Gleichermaßen wird durch die sprachliche Repräsentation der Passion Christi eine an die reformatorische Rechtfertigungstheologie angelehnte Interpretation der Passion möglich. Während der Bedeutungszusammenhang der architektonischen imitatio einer uninformierten Pilgerschaft weitestgehend verschlossen geblieben sein dürfte, liefert die visionäre Passionspredigt die notwendigen Bestimmungen unmissverständlich mit. Im Rahmen fest installierter Interpretationsraster können selbst die Wunden und das Blutvergießen Christi, wie sie in der mittelalterlichen Passionsmystik ihren traditionellen Sitz haben, dem Geist zufolge zum Gegenstand der Betrachtung werden, wenn der Engel daran erinnert, „daß Christus siebenmal Blut vergossen“ hat: „1. In der Beschneidung / 2. Im Oelgarten / 3. In der Geisselung / 4. Der Crönung / 5. In Händen / 6. In Füssen / 7. Am Creutz auß der Seiten / da sie mit einem Speer eröffnet worden“.43  42 Was Friedrich Wilhelm Graf zur allgemeinen Charakterisierung aller Protestantismen schreibt, ließe sich daher auch für die lutherische Visionskultur in Anschlag bringen: „An die Stelle institutioneller Außenlenkung tritt eine allein an Gottes unverfügbarem Wort orientierte Innenleitung.“ Graf 2010, 72.  43 Ebd. Folgt man den Ausführungen Johann Anselm Steigers, so muss dies nicht zwingend als Ankündigung pietistischer Blut- und Wundenfrömmigkeit verstanden werden, sondern „[v]ielmehr hat bereits die Orthodoxie auf die mittelalterliche und mystische Passionsfrömmigkeit zurückgegriffen und eine Blut- und Wundenfrömmigkeit gestiftet, die jedoch […] reformatorisch interpretiert wurde und mit den reformatorisch-theologischen Errungenschaften vereinbart wurde.“ Steiger 1995, 139.

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Durch sinnstiftende Belehrungen und eine Lenkung der Aufmerksamkeit wird die visionäre Passionsandacht in die richtigen Bahnen gelenkt. So soll Kotter der Reihe von Direktionen und kontextualisierenden Anweisungen des Engels zufolge „in Betrachtung der Passion oder Leydens Christi auff drey Ding sehen / 1. Die Sünde deß Menschlichen Geschlechts / 2. Die grosse Lieb Gottes deß Vatters / Sohns / vnd heiligen Geistes / gegen die Menschen / 3. Die grosse vberauß wichtige Herrligkeit / welche GOtt von Ewigkeit her bereitet habe / damit nun dieselbe nicht leer bleibe / sondern die Menschen an statt der verdampten Engel / derselben theilhafftig werden / habe sie Christus durch sein Leyden erlösen wollen.“44 Mit dieser Anleitung zur richtigen Passionsbetrachtung steht die Predigt des Engels ganz in einer Linie mit der lutherischen Passionstheologie des 17. Jahrhunderts, steckt sie offenkundig ihren konfessionellen Rahmen ab. Als zentrale Elemente der lutherischen Passionsauffassung finden sich sowohl der von Luther übernommene Erlösungsgedanke und das Bewusstsein von der je eigenen Sündhaftigkeit, die Christus in den Tod geführt habe, als auch Ansätze eines Wissens um Gottes tätige Liebe, das am Ende des Jahrhunderts einen einschneidenden Wandel des Passionsverständnisses begründen wird, in dem Visionsbericht des Comenius wieder.45 In einer anschließenden Erklärung dessen, „wozu das Leyden Christi zu gebrauchen“ sei, erfährt Kotter zu guter Letzt den dreifachen Nutzen dieser Betrachtungen: Erstens soll er Christus betrachten, „wie er am Oelberge blutige Schweiß schwitzet / vnd am Creutz so kläglich vnd jämmerlich ruffet / Mein GOtt / mein GOtt / warumb hastu mich verlassen? Sol auch fleissig betrachten das Ecce Homo“, nämlich gegen die „geist- vnd leibliche Hoffarth“.46 Ziel einer geistigen Konzentration auf das der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit entlehnte Bildmotiv ist hier also nicht devotionales Gedenken, sondern die Ausbildung einer lasterfreien Gesinnung.47 Zweitens führe die Passionsbetrachtung zur „heylsamen vnd seligen Hoffnung deß ewigen Lebens“;48 sie ist damit eschatologische Vorbedeutung und Vorbereitung der in Christi Auferstehung eröffneten Erlösung von der irdischen Welt. Drittens aber, und damit zeigen sich die Gesichte noch einmal deutlich von lutherischer Passionsfrömmigkeit durchdrungen, werden Leiden und Sterben Jesu Christi zum Deutungsrahmen für das gesamte Leben des Visionärs, wie er für die orthodoxen Geistlichen eine Bedrohung ihrer Amtsautorität darstellte. Die Passionsbetrachtungen werden trotz all ihrer Dringlichkeit zwar niemals als heilsnot 44 Comenius 1632, 16. Ernst Benz dagegen erklärt, dass der Gesichtspunkt des Versöhnungsopfers und das ganze Schema der Rechtfertigung für die visionäre Anschauung der Passion kaum eine Rolle spielt. Er hat allerdings auch nur die katholisch-mystischen Visionen im Blick. Vgl. Benz 1969, 556f.  45 Vgl. Steiger 2005. Axmacher 2005.  46 Comenius 1632, 16f. Nach Ernst Benz lässt sich dieser „Kultus der Wunden“ bis in die ältesten Überlieferungen der Kirche und bis ins Johannesevangelium zurückverfolgen (Joh 19, 34). Er beruhe nicht zuletzt auf einer Metaphorik, welche die Seitenwunde als Quell der Sakramente erscheinen lässt. Benz 1969, 561.  47 Zum Laster der superbia vgl. Appuhn-Radtke 2010.  48 Comenius 1632, 17.

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wendig ausgewiesen, aber dennoch seien sie in nicht geringem Maße nützlich, denn sie führen auch den Visionär in seiner misslichen Lage „[z]ur Gedult vnd Trost in allerley Creutz vnnd Leyden / auch Widerwertigkeiten / gleich wie Christus in allem seinem Leyden gedultig gewesen / also solt er auch in allem seinem Leyde[n] / Creutz vnd Widerwertigkeit gedultig seyn / gleich wie Christus in seinem Leyden von seinem himlischen Vatter nicht ohne Trost gelassen worden / sondern jhm einen Engel gesandt / der jhn getröstet / also werde er auch in seinem Creutz vor GOtt nicht ohne Trost gelassen werden / wann er jhn / wie Christus gethan / fleissig anruffen würde.“49 Das biblische Passionsgeschehen selbst – dies sei zur Abgrenzung lutherischer von mystisch-katholischen imitatio Christi-Visionen noch einmal deutlich vermerkt – wird auch im Folgenden des Visionsberichts für Kotter niemals sinnlich wahrnehmbar. Zwar spricht der Geist die Bilder von den Stationen einzeln an, tragen sich die ortsgebundenen Repräsentationsverhältnisse also in die Vision ein, doch werden dem Visionär nicht wie in passionsmystischen Visionen die Leiden Christi auch tatsächlich gezeigt. Während vor allem spätmittelalterliche oder katholische Visionen oftmals das Leben Christi, besonders aber den gekreuzigten Christus vor Augen führen und damit die Passion Christi gegenwärtig werden lassen, bleibt die Passionspredigt im Bericht des Comenius als Sprache, Zeichen und als Erinnerung an die Passion ohne eigentliche Erfüllung durch die Vision.50 Konsequenz der Visionen Kotters ist nicht die Anschauung der Passion und damit die persönliche Teilhabe am Leiden Christi durch Mitleiden, sondern indem der Bericht Christus in moraltheologischem Sinne zum exemplum patientiae, zum nachzuahmenden Vorbild in Sachen Geduld erklärt, stellt er das leidvolle Leben des zweifelhaften Visionärs in Gänze unter das Signum der Passion. Ohne dass der Nachfolge streng genommen eine verdienstliche Valenz zukäme, setzt sich die Passion auch in Kotters Lebensbahnen fort und verleiht auch seinen Lebenswegen in all ihrer Komplexität und ihren labyrinthischen Strukturen eine religiöse Pointe. Nicht nur können ‚Kotters Irrfahrten‘ am Ende als Fortsetzung und Vollendung der Passion Christi gedeutet werden, nicht nur ist die Vision, mit einem Wort, immer schon Passion. In seinem ganzen Tun und Wirken als Visionär, der sich dem ‚rechtmäßigen‘, nämlich lutherischen Glauben angehörig zeigt, ist Kotter ‚Passionsschüler‘ und Nachfolger Christi, wenn er sich im Labyrinth seines eigenen Lebens zu bewähren hat.

 49 Ebd. Zur Kategorie des ‚Nutzens‘ als Kennzeichen der Adiaphorie vgl. Sdzuj 2005, insb. 161– 164.  50 Zur mystisch-visionären imitatio Christi vgl. Benz 1969, 540–562. Hier werden genannt 1. die Visionen der Caterina Ricci (1522–1554), die in ihren ekstatischen Visionen den Ablauf des gesamten Lebens Jesu in einer Serie von Visionen sieht, 2. die Visionen der Juliane von Norwich (1343–1413) und der Birgitta von Schweden (1303–1373), in denen ihnen die Leiden des Schmerzensmannes vor Augen stehen.

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III. Orientierungslosigkeit und Erkenntnis In den theologisch-pädagogischen Schriften des Johann Amos Comenius sind Labyrinth-Strukturen allgemein mit einem zweifachen Postulat verbunden: Sie rufen vor dem Hintergrund pansophischer Lehre sowohl den Gedanken einer enzyklopädischen Wissensordnung als auch dessen Irritation und Zersetzung auf den Plan. Comenius’ pansophische Arbeiten, wie z. B. seine Schriften Prodomus Pansophiae von 1639 oder das berühmte Lehrbuch Orbis sensualium pictus von 1658, unterstehen dem Programm einer den Gesamtbereich irdischen Wissens umfassenden Weisheit durch Gottebenbildlichkeit und durch die Teilhabe an göttlicher Weisheit. Comenius’ literarischer Text Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens von 1631 z. B. führt dagegen eine labyrinthische Pilgerfahrt zu allumfassendem Wissen vor, die den universalistischen Glauben an innerweltliche Gesetzmäßigkeiten und an die Verlässlichkeit von Regeln antizipierend ins Negative kehrt.51 Die Pilgerreise im Labyrinth der Welt stellt die allumfassende Kenntnis der Dinge grundsätzlich infrage, entlarvt die Dinge der Welt viel eher in der täuschenden Scheinhaftigkeit ihres Sinns.52 In der labyrinthischen Pilgerreise des Christoph Kotter findet dieses Labyrinth-Motiv sein nicht-literarisches Pendant und seine Erfüllung. Die Denkfigur des Labyrinths, die Comenius selbst literarisch ausarbeitet, kehrt unvermutet wieder, wo er als Herausgeber der Pilgerpassion Kotters jenem seinen Auftritt verschafft: Indem der Bericht über Kotters visionäre ‚Irrfahrten‘ den räumlich-sinnhaften Ordnungsmustern christlicher Wallfahrtspraxis den Rücken kehrt und sich stattdessen den Visionen verschreibt, die den Passionsgedanken auf das Leben ausweiten, deutet er ebenfalls die Ambiguität und Arbitrarität eines labyrinthisch angelegten Weltverhältnisses an. Wenn der Visionsbericht in seiner Auseinandersetzung mit altkirchlichen Direktiven im Raum den Bedeutungsverlust irdischer Dinge und speziell sakraler Architekturen für den protestantischen imitatio Christi-Gedanken thematisch werden lässt, bringt er im engeren Sinne die protestantische Translokalitätslehre zur Aufführung und wird exemplarisch die sichtbare Welt in ihrer ganzen Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit angesprochen. Zugleich eröffnet der Bericht über die labyrinthische Reise des Christoph Kotter einen visionären Affektraum, in dem Allwissenheit nach Comenius schließlich möglich und sinnvoll erscheint, in dem sich aber auch die ortsgebundenen sakralen Repräsentationsverhältnisse den Gesichten selbst einschreiben. Während sich der Pilger-Beobachter beispielsweise im literarischen Text schließlich aus dem Labyrinth ins Paradies des Herzens zurückzieht, bleibt das göttliche Wissen im Visionsbericht bis zum Schluss an die labyrinthischen Bewegungen durch den Raum gebunden. Die Vision wird dabei zum Ort, an dem der Passionsgedanke und mit ihm das heilsversprechende  51 Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens erschien zunächst in böhmischer Sprache als Labyrint světa a ráj srdce (1623) in Prag. Zum Labyrinth als negative Enzyklopädie vgl. Lachmann 2007.  52 Zu Comenius als Vertreter einer universalistischen Metaphysik vgl. Lachmann 2006.

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Wissen von der Welt ihren Raum finden. Sie markiert damit zugleich die Stelle, an der Comenius’ Pansophie in den Folgejahren ansetzen wird. Zweierlei Wissen lässt sich – in Comenius’ eigenen Worten zum Labyrinth der Welt zusammengefasst – auch im Labyrinth der Kotterschen Visionen gewinnen: erstens, „daß es vergeblich ist, in dieser Welt wählen zu wollen, wie man von Gott geleitet werden möchte“, und zweitens, „daß es besser ist, freiwillig […] Gott nachzufolgen und alles, Glück und Unglück, Freude und Trübsal, Lachen und Weinen aus seiner Hand dankbar zu empfangen.“53 Obwohl, wie gesehen, mit dem visionären Labyrinth der Englische[n] Erscheinungen vnd Reden ein parodistisch anmutendes ‚Gegenbild‘ zu diesseitsorientierten Wissensordnungen vorliegt, stellen sich Irrgänge nachträglich immer auch als notwendige Voraussetzung zur Erkenntnis eines allein in Gott begründeten Allwissens heraus. Die mit dem Labyrinth-Denken angezeigte ‚Unversöhnlichkeit‘54 religiöser und empirischer Erkenntnis gibt sich im Nachhinein als Kausalitätsverhältnis zu erkennen. Dies gilt nicht nur für den Visionsbericht, sondern, wie abschließend dargelegt werden soll, auch für das Leben und das theologisch-pädagogische Bestreben des Comenius selbst, wie er es in seinen Selbstzeugnissen rückblickend prüfend reflektiert. Anlass dieser Selbstbetrachtungen sind ihm die Vorwürfe aus eigenen Reihen: Weil Comenius seinerzeit mit den Zwey wunder Tractätlein über Gottes kanonisch gewordene Worte und Taten hinaus auch Gottes „jetzigen Taten und Fingerzeige“ zu bedenken gab,55 brachte ihm die Herausgabe der Offenbarungen nicht wenig Kritik ein. In der Schrift „Stimme der Trauer“ („Smutný hlas“) von 1660, in der er seinen Rücktritt vom Amt als Bischof der Böhmischen Brüder ankündigt und sich von der Bruderunität verabschiedet, nimmt er Stellung. Er sieht sich veranlasst, „über diesen Gegenstand, den manche […] als eine Täuschung ansehen, etwas zu sagen und […] Rechenschaft zu geben.“56 Nachdrücklich verteidigt er die göttlichen Offenbarungen und das chiliastische Gedankengut der neuen Propheten.57 Zwar räumt er die Möglichkeit eines Irrtums ein, doch wäre dieser in der Deutung der Visionen zu suchen und läge nicht in der Sache selbst begründet. Zwei Jahre vor seinem Tod, in seiner letzten Schrift über „Das Einige Notwendige“ („Unum necessarium“) von 1668, tritt Comenius dagegen in sehr viel deutlichere Distanz zu seiner eigenen Herausgebertätigkeit und führt dafür erneut die Labyrinth-Metapher in die Schriftzeugnisse ein. Sein Engagement für zeitgenössische Offenbarungen beschreibt er angesichts des Gespötts und des Misstrauens, das ihm entgegen gebracht wurde, gleich all seinem anderen Tun, nämlich seinen Bemühun 53 Comenius 2004a, 6.  54 Vgl. Lazardzig 2010, 138.  55 Ebd., 382f.  56 Comenius 2004b, 382.  57 Nach Hildegard Staedtke ist die chiliastische Überzeugung für Comenius’ pansophische Pläne in zweierlei Hinsicht treibendes Moment: Einerseits begründe sie die Hoffnung, das geplante, Menschenkräfte übersteigende Werk durch das zu erwartende neue Licht der Offenbarung zu erreichen. Andererseits habe das pansophische Werk dazu beitragen sollen, die neuen Zustände herbeizuführen. Vgl. Staedtke 1930, 80.

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gen um Wissen und Frieden, „als blosses hin- und herlauffen“ in einem weiteren „ungewöhnlichen Labyrinth“, in das er nach Gottes Willen geführt worden sei.58 Ratlosigkeit tritt an die Stelle von Verbindlichkeit, Verschwiegenheit an die Stelle von Rechtfertigungsversuchen. Der Einsatz für die Offenbarungen erscheint Comenius im Nachhinein als echter Irrweg seiner Existenz, als Weg ohne Ausweg auf der „Wallfahrt“ seines Lebens.59 Einmal vom rechten Mittelweg abgewichen, sei es „nicht leicht gewesen, oder noch jetzo ist, aus diesem Labyrinth zu kommen“ und dem Unverstand über die Visionen zu begegnen: „Was soll ich thun?“, fragt sich Comenius und „weiß nichts anders, als daß [er] die gantze Sache Gott befehle.“60 In Anbetracht der zweifelhaften Offenbarungen formuliert der „Lehrer der Völker“,61 indem er sich ganz zu Gott wendet, unerwartet eine eindeutige Absage an innerweltliches Wissen. Nicht aber als Misserfolg, sondern als Triumph wertet Comenius (nach anfänglichem Zweifel ob der Haltung seiner Mitstreiter) die Konversion von den unnötigen Dingen zu dem einigen Notwendigen als Ergebnis seiner ‚törichten Wanderschaft‘.62 Angekommen am Ziel seiner langen Lebensreise, erneut in Amsterdam wohnhaft, zeigt sich Comenius auffallend dankbar für die zurückliegende Zeit seiner „Pilgrimschaft“. Hier hatte er „bessere Gelegenheit, als jemals in [s]einem Leben, zu betrachten, wieviel es sey, dessen wir entbehren können, und auf diese Gedanken von dem einigen Nothwendigen zu kommen“.63 Sein Wunsch, „unter tausend Labyrinthen denen Labyrinthen zu entgehen“, erfüllt sich, insofern er durch „GOttes Gnade gelernet [zu haben meint], unter den tausenderleyen täglich von vielen tausenden gewältzten Steinen, nicht weiter [s]eine Steine zu wältzen, sondern fest zu setzen“.64 Am Endpunkt seines Lebens steht eben die Erkenntnis von der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit alles Irdischen, mit der schon das Labyrinth der Welt sowie die Englische[n] Erscheinungen und Reden Christoph Köttern Comenius’ pansophische Überlegungen durchkreuzen und hohnsprechen. Nicht seiner „besondere[n] Gelehrsamkeit“ wegen, sondern aufgrund dieses Wissens um die labyrinthischen, unergründlichen Strukturen der Welt wünscht sich der ‚Allerzieher‘ zum Exempel seiner Nachfolger.

 58 Comenius 2004c, 418f.  59 Ebd., 423.  60 Ebd., 419.  61 Zit. n. Schaller 2004b, 12.  62 „Was werden die Anbeter der menschlichen Weisheit hierzu sagen? Sie werden vielleicht den alten Narren auslachen, der von dem Gipfel seiner Ehre zu dem untersten Grund der Erniedrigung seiner selbst herabsteigt. Sie mögen lachen, wenn es ihnen gefällt: mein Hertz wird gleichfalls lachen, daß es denen Verirrungen entkommen ist.“ Comenius 2004c, 422f.  63 Ebd., 428.  64 Ebd.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: SUB Göttingen, 8 TH TH I, 830/53.

II.  Sakrale Räume

Barbara Schellewald

Ikone und Raum Die Konstituierung des Heiligen Andreas Tönnesmann gewidmet The article focuses on the relationship between icon and space in Byzantium, the dissolution of boundaries between the mortal world and transcendence. The medium of mosaic light in particular plays a major role in this phenomenon. The complex process of concealing and revealing is part of the constitution of a sacred space, shared by the beholder and the saints. This aspect of sharing is established through the specific way in which figures are constructed. By re-reading Demus’ 1948 study, his term anti-perspective is critically reflected upon and further developed by referring to the science of catoptrics. The second aim of the article is to shed light on the wider theoretical background for the Byzantine approach to the constitution of sacred space.

Otto Demus hat 1948 als Ergebnis seines englischen Exilaufenthaltes seine Schrift Byzantine Mosaic Decoration vorgelegt.1 Die von ihm verfolgte Kernthese umfasste nicht allein die systematische Organisation der mosaizierten Bilder und ein dieser zugrundeliegendes Programm im Sakralraum, als vielmehr die komplexe Relation zwischen den Ikonen und ihren Betrachtern angesichts der Verortung der Bilder. Demus konzentrierte seine Ausführungen im ersten Teil auf eine ausgesuchte Gruppe in mittelbyzantinischer Zeit errichteter Kirchen, welche alle dem Typus eines Achtstützenbaus angehören. Diesen Bautypus kennzeichnet ein oktogonal angelegter großer Kuppelraum, bei dem die Überleitung zwischen dem Oktogon und dem Rund der Kuppel über Trompen gelöst wird. Der Kuppelraum kann von einem komplexen Gefüge von Annexräumen begleitet oder umgeben sein (Hosios Loukas), in anderen Fällen jedoch (Klosterkirche von Daphni, Katholikon der Nea Moni auf Chios) allein auf den zentralen Kuppelraum konzentriert bleiben, der nur durch das östliche Bema (Chor) und den westlichen Narthex (Vorhalle) bzw. Narthices Ergänzung zu einem Rechteck findet.2 Die hierarchisch organisierten Bilder lassen sich einfach gesprochen drei Kategorien zuweisen: Christus bzw. die Gottesmutter (Kuppel/Apsis), die Ikonen der

  1 Demus 1948.    2 Alle drei Bauten sind in das 11. Jahrhundert bzw. an das Ende desselben datiert. Zu Hosios Loukas vgl. Chatzidakis 1969, Stikas 1970 u. 1974; zur Nea Moni, die im Auftrag des Kaisers Konstantin IX. Monomachos zwischen 1049 und 1055 entstanden ist, vgl. Mouriki 1985 sowie Maguire 1992; die Klosterkirche von Daphni wird zumeist um 1100 datiert, eine monographische Erschließung steht noch immer aus, zuletzt Cormack 2008.

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liturgischen Feste (Festbilder) und der Chor der Heiligen.3 Der hier zur Diskussion stehende Architekturtypus bietet in besonderer Weise Konchen und Trompen als Bildträger an. Anstelle von flachen Wandpartien sind es gemeinhin gewölbte Oberflächen, die dem Goldmosaik die Entfaltung seiner Wirkmächtigkeit erlauben. Die Mosaizierung setzt in der Regel erst oberhalb einer aufwendigen Marmorinkrustation ein, die bis an den Gewölbeansatz reicht.4 Alternative Zentralbauten, wie etwa die in Byzanz seit dem 10. Jahrhundert weit verbreitete Kreuzkuppelkirche, nutzen neben Kuppel und Apsis vor allem die Gewölbe innerhalb der Kreuzarme, um analoge Effekte erzielen zu können.5 Architektur und Bildprogramm existieren keinesfalls als voneinander unabhängige Entitäten, sondern sie stehen in einer grundständigen Abhängigkeit. Nach dem Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts sind verschiedene Aushandlungsprozesse zu konstatieren.6 Sie betreffen die Orte der Bilder und die sich zwischen den einzelnen Bildern und der Architektur ergebenden Spannungsfelder. Unter diesen Grundvoraussetzungen, die hier nur in der gebotenen Kürze referiert werden können, formiert sich nach Demus nicht lediglich eine spezifische Kommunikationsstruktur zwischen Bild und Architektur, sondern ein Beziehungsgefüge, bei dem ein Betrachter (beholder) zu einem Teilnehmer (participant), im Idealfall zu einem Teilhaber avanciert. Das partizipatorische Element, das Demus den Gläubigen attestiert, beruht seiner Analyse nach auf einer doppelten Strategie: zum einen auf der Art und Weise, wie Bild und Bildträger aufeinander abgestimmt sind, zum anderen auf einer präzisen Organisation innerhalb der Bilder, welche die Position der Gläubigen in einer räumlichen Distanz gewissermaßen antizipiert. Aufgehoben ist eine scharfe Differenz oder eine Grenze, von der wir üblicherweise zwischen Bild und Betrachterraum ausgehen. Die damit thematisierte Entgrenzung wird von Demus nur im Ansatz reflektiert, sie wird uns im Folgenden intensiver zu beschäftigen haben. An dieser Stelle sei vorab betont, dass das Objekt Bild nicht als „messbares“ erscheint, sondern dieses, d. h. die Ikone, in einem generellen Sinne für den Betrachter als Gegenüber angelegt wird. Die Welt der Erscheinungen des Heiligen wird derart mit der irdischen Welt gleichgeschaltet. Diese Aussage betrifft freilich die Anlage der Figuren, keineswegs jedoch den sie hinterfangenden Goldgrund. Die Voraussetzungen für die Möglichkeit, dem Betrachter einen derartigen Status zu verleihen, sind theologisch begründet und beruhen überdies auf bildtheore   3 Damit wird in diesem Zusammenhang lediglich die Grundstruktur erwähnt. In der Realität sind diese Kategorien durch eine größere Komplexität gekennzeichnet.    4 Wir beschränken uns allein auf den Naos und das Bema. Im Narthex gibt es diesbezüglich größere Freiräume.    5 Hier sollen allein die Achtstützenbauten stellvertretend angeführt werden. Dies vor allem, um bei den von Demus gelegten Voraussetzungen zu bleiben. Würden wir unsere Überlegungen auf andere Baustrukturen/Bildträger ausdehnen, so würden etliche Differenzierungen vonnöten sein.    6 Die Bemerkung zielt auf Beobachtungen, die man etwa in Kirchenausstattungen machen kann, die noch nicht einer derart strengen Systematik unterliegen. Hingewiesen sei etwa auf die Kılıçlar Kilise in Kappadokien, deren Bildprogramm einem solchen Übergangsphänomen angehört (Restle 1967, II, Kat.-Nr. XXIV).

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tischen Prämissen. Dem Teilhaber kommt als Mitglied der Kirche ein Platz innerhalb eines hierarchisch konzipierten Systems zu. Die Vitalität dieses Arrangements, das Nähe und Ferne zum Heiligen aufruft, beruht jedoch in hohem Maße auf einer Inszenierung des Lichtes, die Raum- und Bilderfahrung als in stetigem Wandel begriffen konditioniert. Der Teilhaber ist integraler Part eines sich jeweils neu zu Konstituierenden, in dem wir gesamthaft den heiligen Raum identifizieren. Dessen Konstituenten sind nicht allein die schon erwähnten Phänomene, sondern unter anderem ebenso die Performanz der Liturgie. Im Folgenden werden wir nur einen Bruchteil dieses komplexen Prozesseses genauer in Augenschein nehmen können:

Die Konfiguration des Geschehens Im Zentrum unserer Überlegungen stehen die Ikonen der Trompen oder Konchen, deren handelnde Figuren ausschließlich vor einem Goldgrund situiert sind (Abb. 1 u. 2). Aus der Perspektive des Betrachters sind sie jedoch, wie Demus treffend formuliert hat, diesem nicht „anhängig“. Vielmehr hat es durch die Kurvatur der Trompen oder Nischen den Anschein, als fände ihre Handlung, ihr Bezug aufeinander weit mehr im Realraum statt.7 Für Demus wird der physische Raum in das Bild integriert. Eine alternative Formulierung erlaubt eine Zuspitzung dieses Sachverhalts in die gegenläufige Richtung: Die Figuren sind nur ansatzweise einem bild­räumlichen Arrangement angehörig, stärker ist ihre Verortung im diesseitigen Räumlichen. Die goldenen Tesserae des Mosaiks hingegen indizieren eine jenseitige Welt der Transzendenz. Man gewinnt den Eindruck, als ob der Goldgrund sich auch hinter den Figuren – wie ein Grund – erstreckt. Die Figuren zählen in ihrer letztlich nur scheinbaren Leiblichkeit, im Sinne des Inkarnierens oder Sichtbarwerdens, gleichermassen zur Transzendenz wie sie augenscheinlich im physischen Raum ihre Präsenz behaupten. Die Rückbezüglichkeit der Figuren auf den Teilhaber ist jedoch durch eine zusätzliche Strategie visibel gemacht, für die Demus den Begriff der Antiperspektive ins Spiel gebracht hat.8 Wie darüber hinaus die Grenze aufgehoben ist, physischer und fingierter Raum ineinanderfließen, wird noch zu überprüfen sein. Unter anderem kommt dem Licht, von dem noch die Rede sein wird, die Funktion einer derartigen Entgrenzung zu. Anhand der beiden Mosaiken von Verkündigung aus dem Katholikon in Daphni und der Darstellung im Tempel im Katholikon von Hosios Loukas lassen sich diese grundlegenden Phänomene der Trompenikonen konkretisieren (Abb. 3 u. 4). Das tradierte Bildkonzept für die Narration der Darstellung im Tempel setzt zumeist das Ciborium mittig über den Altar. Der alte Simeon und die Gottesmutter mit dem Christuskind nähern sich diesem von beiden Seiten, das Kind wird über    7 Bei Demus 1948, 9 heißt es: „facing each other in real space, and converse with each other across that physical space which is now, as it were, included in the picture.“    8 Demus 1948, 30–35.

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Abb. 1: Hosios Loukas, Katholikon, Blick in das Gewölbe mit den Mosaiken.

Abb. 2: Hosios Loukas, Katholikon, Mosaik, Taufe Christi, 11. Jahrhundert.

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Abb. 3: Daphni, Katholikon, Mosaik, Verkündigung, um 1100.

Abb. 4: Hosios Loukas, Katholikon, Mosaik, Darbringung im Tempel, 11. Jahrhundert.

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den Altar in Richtung der verhüllten Hände des Greises erhoben. Da es den Mosaizisten jedoch daran gelegen war, die Protagonisten an der unteren Bildkante, just über dem Gesims, so zu platzieren, dass das Christuskind gleichsam in den realen Zwischenraum gereicht wird, wird ihm allein das Motiv des Altares hintergeschaltet, das Ciborium hingegen „rutscht“ nach links, so dass es allenfalls noch als narrative Annotation fungiert. Der Handlungsraum zwischen den Protagonisten ist, wie Demus zu Recht betont hat, nicht bildintern gedacht, sondern im besten Sinne externalisiert. Die Akzentuierung des Christuskindes mit dem chrysographen Gewand findet zwar durchaus ihre Begründung in der Erzählung, in diesem Kontext jedoch dient sie zugleich dazu, den offenkundigen Moment der Sichtbarwerdung der heiligsten Person – so das Mosaik im Licht aufscheint – zu unterstreichen. Fällt das Licht auf dieses Gewand, so glitzert und funkelt die Oberfläche. Der gegenüber den anderen Protagonisten erhöhte Reflexionsgrad kommt darüber hinaus an dem goldenen Kreuz auf der Altarfront zum Einsatz. Das auf Christus sowie die Passion rekurrierende Zeichen bindet sich unmittelbar an den Goldgrund zurück. Während das purpurne Altartuch als Indiz der angekündigten Passion lesbar ist, dient die Chrysographie des Gewandes dazu, der göttlichen Natur des Christuskindes sichtbar Ausdruck zu verleihen. Ohne an dieser Stelle weitere Bildteile inspizieren zu wollen, wird an diesen wenigen Elementen erkennbar, dass mit dem Rekurs auf die Doppelnatur Christi zugleich die Frage von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit tangiert ist. Bildinhalt sowie die ästhetische Anlage desselben korrelieren. Auch an der Verkündigung ließen sich analoge Momente benennen. Der Weg des Engels zu Maria erstreckt sich vor der Trompe, seine potentielle Bewegung wird gerade durch dieses Arrangement inszeniert. Den Figuren haftet jedoch eine zusätzliche, erste Bewegung an, die an einem substantiellen Detail, ihren Nimben, erfahrbar wird. Diese werden allein durch einen schmalen Streifen einzelner Tesserae geformt. Den Goldgrund durchzieht an dieser Stelle gleichsam eine Naht, an der im übertragenen Sinne eine Bewegung markiert wird. Die Naht fügt der Figur, die sich in ihrer Potentialität den physischen Raum zu eigen macht, einen Status zu, der sie zugleich mit dem Goldgrund verflicht. Ihre Heiligkeit, ihre Herkunft aus der Transzendenz wird indiziert. Die Unruhe der Oberfläche trägt zugleich Sorge dafür, dass diese Statuszuweisung dynamisch angelegt ist. Die Farbe des Nimbus, Rot, wird in Byzanz generell mit der Inkarnation und dem Feuer in Verbindung gebracht.9 Wir werden auf dieses Phänomen später zurückkommen. Die weit in der Raumhöhe angebrachten Figuren sind in ihrer unteren Körperhälfte sichtbar gelängt. Erst aus der Sicht eines unten Stehenden verkürzen sich die Proportionen derart, dass die Körper nun „regelgerecht“ anmuten. Eine derartige Konzeption zielt darauf ab, den Körper als Gegenüber des Betrachtenden anzulegen.

   9 James 1996,106. Rot kann auch im Sinne von Licht interpretiert werden.

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Die sogenannte Antiperspektive10 Die zwischen Betrachter/Teilhaber und heiligen Personen eingetretene Konstellation findet bei Demus in Rekurs auf Panofskys berühmten Aufsatz von der Perspektive als symbolische Form eine erste Erklärung.11 Unter σκηνογραφικόν wird von Geminos, einem Mathematiker und Astronomen des 1. Jahrhunderts vor Christus, auch die Methode des Malers subsumiert, nicht ihre wahren, sondern scheinbaren Maße zur Wiedergabe [zu] bringen.12 Ganz allgemein ist damit „die Anwendung der optischen Gesetze auf die bildenden und bauenden Künste in ihrer Gesamtheit bezeichnet“.13 Besonderes Interesse findet diese Methode bei dem Euklid-Kommentator Proklos Diadochos (410–485). Dieser wendet sich vor allem dem im dritten Teil ausgeführten Passus zu, in dem es darum geht, die durch die Fernsicht entstehenden Verzerrungen für den Betrachter aufzufangen.14 In seinem Prolog, dem ersten Teil seines Kommentars, fasst er dieses Phänomen in folgenden Wortlaut: Again optics and canonics are offshoots of geometry and arithmetic. The former science uses visual lines and the angles made by them; it is divided into a part specifically called optics, which explains the illusory appearances presented by objects seen at a distance, such as the converging of parallel lines or the rounded appearance of square towers, and general catoptrics, which is concerned with the various ways in which light is reflected. The latter is closely bound with the art of representation and studies what is called ‚scene-panting‘, showing how objects can be represented by images that will not seem disproportionate or shapeless when seen at a distance or an elevation.15 Die in diesen Passagen formulierten optischen Gesetzmäßigkeiten blieben auch in späteren Jahrhunderten präsent. Die durch die Distanz bedingten Veränderungen des Bildes in der Wahrnehmung der Gläubigen wird prägnant von dem byzantinischen Historiographen, Theologen und Astronomen Nikephoros Gregoras (1295–1359/61) in seiner Rhomäischen Geschichte unterbreitet. Bei der Res 10 Demus 1948, 30–35.  11 Panofsky 1924/25.  12 Panofsky 1924/25, 302, Anm. 18.  13 Panofsky ebenda.  14 Die Euklid-Rezeption in Byzanz ist unbestritten. Die älteste erhaltene Abschrift seiner Elemente, in der von Theon von Alexandria edierten Version, befindet sich heute in Oxford (Bodleian Library, MS D’Orville 301). Sie stammt von 888 und ist mit Annotationen von Leon dem Mathematiker versehen. Vgl. auch die Edition von Ver Eecke 1938.  15 Proclus (ed. Morrow 1970), prologue, part one, 40, hier 33. Ich gebe bewusst die englische Übersetzung wieder, da sie im Vergleich mit den älteren deutschen Übersetzungen näher am griechischen Original orientiert ist. In einer der deutschen Übersetzungen (von Schönberger, Proklus Diadochus 1945) heißt es etwa: Die Optik und die Kanonik hinwiederum sind Ableger von der Geometrie und der Arithmetik. Erstere bedient sich der Sehlinien und der aus ihnen gebildeten Winkel. Sie zerfällt in die eigentliche Optik, die den Grund angibt für die Täuschungen des Gesichtssinnes nach Maßgabe der Entfernung des Sehobjekts, wie für das Zusammentreffen der Parallelen oder für das Phänomen, dass Vierecke wie Kreise erscheinen; dann in der Katoptrik insgesamt, die sich mit den mannigfachen Möglichkeiten der Lichtreflexion befasst und mit der bildhaften Erkenntnis zusammenhängt, und endlich in der Kunst der sog. Theatermalerei, die zeigt, wie es zu erreichen ist, dass die in den Bildern dargestellten Dinge nicht als verworrene und verzerrte Gebilde erscheinen, sondern der Entfernung und Größe der dargestellten Objekt entsprechen.

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taurierung eines Mosaiks in der Hagia Sophia notiert er für das Christusbild: Ich glaube, dass es der Untersuchung wert ist, denn wenn man von unten in die Höhe hinaufschaut, kann man dem Geist die Grössenverhältnisse durch das Auge nicht richtig vermitteln, weil man meistens durch die Abstände zwischen Sehendem und Gesehenem betrogen wird. Das Auge möchte aber trotzdem irgendwoher Spuren und Bilder der Wahrheit sammeln, um die Krankheit jenes Betruges zu heilen.16 Fraglich bleibt allerdings, ob der von Demus für diesen optischen Sachverhalt verwandte Begriff der Antiperspektive glücklich gewählt ist. Vertrauter ist derjenige der „umgekehrten Perspektive“, der nicht zuletzt insbesondere für die (russische) Ikone angewandt worden ist.17 Referenzautoren sind nicht nur der in der jüngeren Zeit bekannter gewordene Pavel Florenskij, dessen Text allerdings erst 1967 publiziert worden ist,18 sondern auch Oskar Wulff, der schon 1907 einen längeren Aufsatz zu dieser Frage verfasste.19 Clemena Antonova vermag noch eine Reihe weiterer Autoren anzuführen, die sich insbesondere im russischen Kontext dieser Problematik zugewandt haben.20 Die Analysen divergieren durchaus in der Einschätzung, welche spezifischen Funktionen diesen Anordnungsprinzipien unterliegen. Zudem beschränken sie sich zumeist auf im Bild auftretende Divergenzen in der Proportionierung einzelner Figuren oder Architekturen. Die von ihnen konstatierte „Umkehr“ beherrscht die bildinterne Organisation. Wulff z. B. vertritt dabei die These, der externe Betrachter würde derart aufgefordert, sich mental in das Bild zu projizieren. Panofsky hat diese Lesart mit Vehemenz abgelehnt, auch unserer eigenen Vorstellung steht die These von Wulff diametral entgegen.21 Vielmehr plädieren wir dafür, die Figuren der Bilder im Falle unserer Mosaiken als zum Betrachter hin projiziert anzuerkennen. Die Differenzierung zwischen Betrachter und Teilhaber wird analog zu Demus auch von Boris Uspenskij verfolgt.22 Der Hinweis von Antonova, Uspenskijs Vorstellungen basierten im Grundsatz auf Alois Riegls Unterscheidung zwischen einem internen und externen Betrachter, ist in Hinblick auf die intellektuelle Herkunft von Demus, seiner Wiener kunsthistorischen Sozialisation, aufschlussreich.23 Welche Plausibilität wir auch immer den einzelnen Positio 16 Die Textstelle hier zitiert nach Winfield 1982, 54; vgl. auch Gregoras, Rhomäische Geschichte, Edition: Bekker 1855, 193. An anderer Stelle, in seinem Astrolabica, vermerkt er ebenfalls, dass es darum gehe, Objekte für den Betrachter erkennbar zu halten (die Textstelle zitiert bei Mango 1997, 254).  17 Bei der kritischen Inaugenscheinnahme vorliegender Studien vermag ich den Ausführungen von Antonova 2010, 29–62 zu folgen. Sie bezieht sich vor allem auf russische Autoren, einzig die besondere Position von Wulff sowie deren Rezeption werden einbezogen. Da im Zentrum bewegliche Ikonen stehen, vor allem solche russischer, postbyzantinischer Provenienz, findet die auf die Monumentalkunst bezogene Arbeit von Demus keine Erwähnung.  18 Eine deutsche Übersetzung von Florenskij erschien 1989.  19 Wulff 1907.  20 Antonova 2010.  21 Panofsky 1924/25, Anm. 30, 310.  22 Uspenskij 1976; Antonova 2010, 55–59.  23 Es würde uns zu weit von unserem Kernthema wegführen, hier dieser Spur nachzugehen. Nur soviel: Der Gegenspieler von Alois Riegl war unter anderem Josef Strzygowski, dessen Schriften zunehmend von nationalsozialistischem Gedankengut getränkt waren. Zugleich war er jedoch

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nen ablesen können, letztlich entkommen wir einem Grundproblem nicht: die Terminologie für diese Eigenheit der Mosaiken ist an der Linearperspektive als ein von ihr abweichendes Phänomen entwickelt. Darin aber verbirgt sich ein von Mellville treffend kritisierter Automatismus der europäischen Kunstgeschichte, die italienische Renaissance noch immer als Maßstab zu nehmen.24 Alternativ wäre auf den historischen Begriff der Skenographie zu rekurrieren. Haben wir damit die Proportionierung der Figuren in ihrer Genese verstanden, so bleibt jedoch ein zweiter in der Argumentation der Vertreter dieser optischen Theorien immer wieder aufscheinender Verweis aufzugreifen: gemeint ist die Katop­ trik, das Wissen um die Reflexion, die in antiken und spätantiken Theorien zumeist an Spiegeln erläutert wird. Die früher Euklid zugeschriebene diesbezügliche Abhandlung ist nach neuerer Einschätzung wohl erst später durch Hero von Alexandria kompiliert worden.25 Dass insbesondere die Goldtesserae in den Trompen derartigen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, steht außer Frage. Die Katoptrik erweist sich demnach als eben die Wissenschaft, die im Kern für die Wahl des Bildträgers mitentscheidend gewesen sein könnte. Der Einwand, hier wäre doch eher von allgemeinen praktischen Erfahrungswerten auszugehen, ist zwar letztlich nicht von der Hand zu weisen. Dennoch bleibt das Zusammenspiel zwischen der Längung der Figuren und der Verortung der Mosaiken in den Trompen in Hinblick auf die optischen Theorien auffällig. Wenn Panofsky später äußert, beim Mosaik werde die unerbittlich zweidimensionale Struktur der nackten Wand durch ein darüber hingebreitetes schimmerndes Gewebe verhüllt, so muss diese Beobachtung gerade in unserem Kontext partiell korrigiert werden.26 Es ist eben nicht die flache Wand, sondern der gewölbte Bildträger, der diesen Akt der Ver- und zugleich Enthüllung eigens provoziert. Die Steigerungsfähigkeit dieses Prinzips wird in der Gegenüberstellung des Katholikons von Hosios Loukas mit der Nea Moni auf Chios verifizierbar. Die Anzahl dieser Bildträger ist auf das Doppelte erweitert worden. Der mit dem kaiserlichen Auftraggeber Konstantin IX. Monomachos in Zusammenhang stehenden Programmatik wird aus unserer Sicht eine weit über das liturgische derjenige, der das Gebiet der Byzanzforschung in Wien etabliert hatte. Sich während des Exils im Warburg-Institut Positionen Panofskys zueigen zu machen und dabei zugleich auf Riegl zurückzugreifen, wirkt in mehrfacher Hinsicht plausibel. Ich werde an anderer Stelle diese Frage aufgreifen.  24 „[…] the Renaissance achievement of rational perspective becomes the condition for the possibility of the art historical discipline, and we are compelled to its terms whenever we look to establish another world view that would not, for example, privilege the Renaissance because we can neither ‚look‘ nor imagine a ‚world‘ view without reinstalling at the heart of our projects terms only the Renaissance can expound for us.“ Diese Passage findet sich zitiert bei Antonova 2010, 61 (Melville, Stephen: The Temptation of New Perspectives, in: October 52 [1,1990], 11).  25 In der Antike und Spätantike gibt es eine Reihe von Autoren, die sich dieser Thematik zugewandt haben. Neben der fraglichen Zuschreibung an Euklid wäre hier auf Ptolemäus zu verweisen (Smith 1996). Aber auch Smith (im einführenden Teil seiner Studie, 14–48) betont, dass vom Ergebnis her spätere Schriften kaum über die sog. Euklidischen Erkenntnisse diesbezüglich hinausreichen. Zu Hero von Alexandria und dessen Ausführungen: Lindberg 1976, 14–17.  26 Panofsky 1924/25, 274.

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und ästhetische Moment hinausgehende Dimension hinzugefügt.27 Einerseits sind es nunmehr die auf den kaiserlichen Rezipienten ausgerichteten Protagonisten, andererseits der in den Trompen bzw. Konchen erzielte Reflexionsgrad des Goldgrundes, die beide dazu führen, den Kaiser gleichsam mit dem Heiligen zu umhüllen.

Vorstellungen vom Sehen Bislang nicht thematisiert wurde die Grundlage der schon angesprochenen optischen Theorien: die Extramissionstheorie, die mit den Namen von Euklid wie auch nachfolgenden spätantiken Autoren verbunden ist.28 Die das Auge verlassenden Sehstrahlen stehen am Beginn dieses Vorgangs. Sie kommen mit dem Objekt in Berührung und kehren sodann in das Auge zurück. Dass Licht- und Sehstrahlen identisch sind, wird allerdings noch nicht von Euklid, sondern erst von Claudius Ptolemäus und anderen unmittelbar formuliert.29 Gemeinhin gehen wir davon aus, dass in Byzanz diese Theorie obsiegte. Smith hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass eine strikte Trennung zwischen Extramissions- und Intromissionstheorien bisweilen allzu sehr von einer Regelhaftigkeit der Rezeption theoretischer Vorgaben ausgeht.30 Die von Nelson und anderen Autoren vor ihm zusammengetragenen Indizien weisen ebenfalls in diese Richtung. Ptolemäus, letztlich allerdings durchaus der Extramissionstheorie verpflichtet, vermag in seinen einführenden Passagen mit einer Reihe von Beobachtungen aufzuwarten, die für unseren Kontext fruchtbar gemacht werden können. Die Grundlage für das Sehen, die Sichtbarkeit, wird von ihm explizit mit dem Licht zusammengebracht. Die Beleuchtung muss einerseits im Objekt selbst liegen oder diesem zugeführt werden.31 Erst eine präzise Erkundung des Objektes in all seinen Teilen erlaubt eine differenzierte Einschätzung, wie und wo sich das Objekt im physikalischen Raum etabliert.32 Dabei dürften die Eigenheiten der Oberfläche besonders in Rechnung zu stellen sein. Beziehen wir an dieser Stelle unsere oben angeführten theoretischen Vorgaben ein, so entsteht unweigerlich der Eindruck, dass die Wahrnehmung von Differenz zwischen dem als Spiegel (im Sinne der Reflexion) fungierenden Gold 27 Zum Bildprogramm in der Nea Moni Maguire 1992.  28 Im Überblick bei Lindberg 1976, 1–17; zu Euklid 12–14; Nelson 2000, 150–154; Schellewald 2012 u. 2013.  29 Lindberg 1976, 14, ist der Auffassung, dass Euklid möglicherweise eine analoge Ansicht vertrat. Das 1. Buch seiner Optik ist nicht überliefert, sondern kann lediglich indirekt durch die Rezeption inhaltlich rekonstruiert werden. Die anderen vier Bücher dürften in Byzanz bekannt gewesen sein. Der Admiral Eugenios von Sizilien erhält im späten 12. Jahrhundert eine lateinische Übersetzung aus einer arabischen Übertragung des griechischen Originals. Grundlegend: Lejeune 1948.  30 Wir werden noch sehen, dass eben dieser Einwand insofern sehr zutreffend ist, als z. B. Platons Timaios eine etwas andere Vorstellung von Extramissionstheorie überliefert. Die Vorstellungen über die Begegnung mit dem Heiligen könnten sich durchaus stärker an dieser Position orientieren (s. u.).  31 Buch II, 4; Smith 1996, 71; vgl. auch ebd. 26–27.  32 Ebd. 1996, 28.

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grund und den farbig gefassten heiligen Personen genauestens kalkuliert ist. Einem Umstand, dem wir noch genauer nachzugehen haben, wird ebenso Aufmerksamkeit zugewiesen: das Verschwinden der Objekte bei einem hohen Grad von Lichteinfall, d. h. einer Überblendung.33

Licht, Mosaik und Bildtheorie Angesichts dieser ersten Hinweise zu den theoretischen Voraussetzungen der Konzeptionalisierung unserer Bilder auf einen Betrachter/Teilhaber hin, scheint es unabdingbar, weiterführende Überlegungen anzustellen. Dem schon begegneten Kommentator des Euklid, Proklos, verdanken wir eine weitere Beobachtung: Der Raum, so unser Autor, sei nichts anderes als das feinste Licht.34 So nimmt es denn nicht Wunder, dass eben der Beleuchtung byzantinischer Sakralräume eine substantielle Funktion zuwächst. Folgt die Anordnung der Fenster einer hierarchischen Raumorganisation, so basiert die artifizielle Beleuchtung auf den am liturgischen Jahr ausgerichteten Reglementen.35 Mosaik ist nun in besonderem Maße ein Medium, das seine spezifischen Eigenheiten erst im und mit dem Licht zu entfalten vermag. Der in der Anlage der Farbstruktur der Tesserae gegründete divergierende Reflexionsgrad ist dabei ebenso zu beachten wie die individuellen Neigungswinkel der einzelnen in das Bett eingelassenen Tesserae, die den Wirkungsgrad zu steigern vermögen.36 Grundlegende Eigenheiten des Mosaiks sind an anderer Stelle ausführlich abgehandelt worden.37 Sie seien hier in gebotener Kürze zusammengefasst: Das Mosaik, abhängig von der Inszenierung des natürlichen oder artifiziellen Lichts, ist durch seine vitale und durchlässige Oberfläche geprägt. Die Dynamik des Wandels zwischen Sichtbarkeit und Entschwinden im Dunkeln, aber zugleich die oben bei Ptolemäus schon erwähnte Problematik des Überblendens tragen die Verantwortung für die Prämissen, unter denen sich die Präsenz des Heiligen im Raum entfalten kann. Diese Präsenz erfolgt immer neu, ist nicht statisch, sondern thematisiert in ihrer Dynamik die unauflösbare Problematik einer Sichtbarmachung dessen, was letztlich unseren Augen verborgen bleiben muss: das Göttliche. Aus der seit dem Bilderstreit (726/30–787, 815–843) in Byzanz etablierten bildtheoretischen Abbildvorstellung resultiert eine Anordnung von Bild und Licht  33 Buch II, 114–118, Smith 1996, 117–118.  34 Zitat bei Panofsky 1924/25, 273.  35 Theis 2002. Eine umfassende Publikation, die den in den Typika verfassten Anweisungen intensiv Rechnung trägt, wird von der Autorin derzeit vorbereitet.  36 An dieser Stelle wäre erneut die Katoptrik in Anschlag zu bringen, denn die Neigungswinkel sind auf eine bestimmte Lichtbrechung angelegt, der ein eigenes Kapitel im 5. Buch bei Ptolemäus gewidmet ist (Smith 1996, 228–261).  37 Schellewald 2012 u. 2013. Die folgenden Passagen sind für die Argumentationslinie unabdingbar, als sie letztlich Sachverhalte berühren, die maßgeblich für unsere Vorstellungen der Konstituierung des heiligen Raumes sind.

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auf einer Ebene.38 Das östliche Bild, die heilige Ikone, ist Abbild eines Urbildes (Prototyps oder Archetypus). In der Substanz unterschieden, sind die Dargestellten der Erscheinung nach ähnlich (Johannes Damaskenos) oder auch identisch (Theodoros Studites). Die dem Bild erwiesene Proskynesis (Ehre) geht unmittelbar auf den Prototyp über. Das Bild fungiert als Kanal oder Membran zum Heiligen. Eine auch nur im Ansatz reale oder simulierte materielle Durchlässigkeit darf daher als ein Optimum für das Abbild des Heiligen gewertet werden. Tesserae aus unterschiedlichsten Materialien (kostbaren Edelsteinen, aber auch Glas, in das dünne Gold- und Silberauflagen eingepresst sind) erfüllen diese Anforderung bestens. Irdisch wahrnehmbares Licht ist als direktes Abbild himmlischen Lichts qualifiziert. Da das Urbild oder der Prototyp das Abbild schon in sich enthält, ist Licht, östlich gesprochen, eine Emanation göttlichen Lichts. Der für die Ikone etablierte Terminus des Umschriebenen (perigraphe) darf bei diesem Medium durch denjenigen des Umleuchteten (periphotismenos) ersetzt werden. Das Wesen des Bildes erschöpft sich aus den Vorgaben östlicher Bildtheorie gerade nicht in seiner mnemischen Funktion. Was könnte besser als ein in Mosaik fabriziertes Bild dieser auf Transzendenz angelegten Vorstellung dienlich sein? Im Zusammenklang mit dem Licht kommen wir zugleich nicht umhin, den Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita kurz unsere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.39 Alles Sichtbare wird als Bild des Ungesehenen, Unsichtbaren definiert, wie er formuliert.40 Er verwendet zwar recht häufig den Begriff des eikon, ohne darunter jedoch primär materielle Bilder zu subsumieren.41 Die Lichtterminologie spielt bei ihm eine zentrale Rolle.42 Formenvielfalt wird als Umhüllung oder Verhüllung eines Ursprungs verstanden.43 Weit entfernt von Gott ist es uns bisweilen möglich, Strahlen göttlichen Lichts durch das Gebet oder auch in Bildern einzufangen. Im Grundsatz hingegen ist das uns allenthalben umgebende Licht das von Gott geschöpfte, nicht aber jenes, das mit Gott bzw. Christus identisch ist. In seinen De divinis nominibus stellt er einen Konnex zu den künstlichen Lichtkörpern her: Wir wollen uns also mit unseren Gebeten im höheren Aufschauen zu den göttlichen und gütigen Strahlen erheben, gleichsam als ob wir scheinbar, wenn eine lichtreiche Kette an der Höhe des Himmels hängen, aber bis hierher reichen würde, und wir diese immer mit abwechselnden Händen weiter hinauf faßten, diese herabzögen, in Wirklichkeit aber jene nicht herunterzögen, da sie sich ja oben und unten befindet, sondern wir selbst uns zu dem höheren Glanz der lichtreichen Strahlen emporhöben.44 Letzteres Zitat findet einen unmittelbaren Hin 38 Zum Bilderstreit: Brubaker/Haldon 2001; dies. 2011; Parry 1996.  39 Eine Studie, die die Relevanz seiner Schriften gerade für das Mosaik untersucht, steht noch immer aus.  40 Suchla 2008, bes. 141–155 zum Verhältnis von Johannes Damaskenos zu den Schriften des Pseudo-Dionysius.  41 Stock 2008, 179.  42 Stock 2008, 183.  43 Pseudo-Dionysius Areopagita: De Coelesti Hierarchia, Edition: Heil/Ritter 1991, 8, Vers 10–13; Übersetzung nach Stock 2008, 183–184.  44 Pseudo-Dionysius Areopagita: De divinis nominibus, Edition: Suchla 1990, 138, Vers 13–139, Vers 6; Übersetzung nach Stock 2008, 191–192.

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tergrund im Timaios von Platon, in dem das Sehen ebenfalls als ein aktiver Vorgang qualifiziert wird. Das Licht schlägt in seinen Vorstellungen gleichsam eine Art immaterielle Brücke zwischen Objekt und Auge. Eine strenge geometrische Optik, wie die spätere des Euklid, wird hingegen von Platon noch nicht vertreten.45 Die an den Sehvorgang gebundenen Implikationen sind jedoch ebenso zu betonen. Nicht allein im Licht wird das Heilige in Augenschein zu nehmen sein, sondern Platons Konzept besteht gerade in einer Intensivierung der Berührung mit dem Objekt, d. h. bei der Ikone mit dem Heiligen. Vermutlich greift eine rein auf die Geometrie, d. h. letztlich auf Euklid basierende Vorstellung für den sakralen Kontext zu kurz. Dies umso mehr, als bildtheoretische wie auch theologische Argumente sich bestens mit der Position von Platon in Einklang bringen lassen. Gerade die im Timaios ausführlich dargelegten Anschauungen dürften für unseren Kontext sinnfällig sein. Im Kontrast zu der euklidischen Extramissionstheorie treffen bei Platon die Strahlen des Auges auf vom Objekt ausgesandte Partikel. Die Strahlen des Auges [verwachsen] mit denen des Gegenstands zu einer Art Kette zwischen Ding und Betrachter.46 An anderer Stelle wird Platon expliziter, wobei das folgende Zitat auf ein Goldmosaik in einer Trompe bestens übertragbar scheint: Wenn aber ein heftiger Antrieb aus einer anderen Art von Feuer auf den Sehstrahl prallt und ihn bis zu den Augen hin ausdehnt und die Ausgänge des Auges selbst mit Gewalt durchstösst und zum Schmelzen bringt. […] und in dieser Vermischung vielfältige Farben entstehen, nennen wir diesen Eindruck schimmernd, das aber, was ihn bewirkt, glänzend und strahlend.47 Den Grundvorgang hatte er zuvor wie folgt skizziert: Wenn nun Tageslicht den Strahl des Auges umgibt, und damit Gleiches zu Gleichem herausströmt, dann bildet sich durch Verschmelzung ein einziger gleichartiger Körper, in gerader Richtung von den Augen ausgehend, wo immer das von innen Herausströmende auf das, was von aussen dagegen stösst, trifft.48 Platons Beschreibung dieses Vorganges ist in Hinblick auf unser Medium insofern von Relevanz, als das Licht die Goldtesserae demnach nicht nur berühren würde, sondern eben durch diesen von ihm beschriebenen Austausch Partikel desselben im Spiel wären. Da die Grenze von der Ikone zum Heiligen als durchlässig definiert wird, wird analog gleichsam eine Art Fluidum zwischen Transzendenz und Sakralraum etabliert. Der nachikonoklastische Patriarch Photios hat sich intensiv um die Schriften Platons verdient gemacht.49 Der von Nelson zitierte Textauszug aus der Homilie des Patriarchen lässt vor diesem Hintergrund dementsprechend auch eine platonische Dimension aufscheinen:50 Die essence of the thing seen könnte nicht allein mit der euklidischen Extramissionstheorie in Verbindung gebracht werden, sondern auch aus der  45 Zajonc 1993, 26.  46 Köhnen 2009, 48.  47 Platon, Timaios, 2009, Abs. 67–68, 142–143.  48 Köhnen 2009, 50–51; Platon, Timaios, Abs. 45, b–d, 76–78.  49 Vgl. Erbse 1961.  50 Nelson (2000, 150) bewahrt freilich durchaus eine Offenheit gegenüber der Frage der Genese der Vorstellungen des Patriarchen. Platon wird eigens genannt. Es geht auch nicht so sehr um die Frage, welcher Text oder welche Vorstellung dem exakt zugrunde liegt. Ich glaube, dass wir viel-

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Platon-Rezeption resultieren.51 Als im 9. Jahrhundert ein Großteil der Argumentation des Pseudo-Dionysius im Bilderstreit für die theoretische Fundierung der Ikone adaptiert wird, dürfte eine derartige Position, wie die im Timaios dargelegte, auf eine weitgehend positive Resonanz gestoßen sein. Bei dem die Oberfläche des Mosaiks vitalisierenden Licht ist der Unterschied zwischen dem göttlichen Licht bzw. Gott als Licht und dem von ihm geschöpften Licht theoretisch in Rechnung zu stellen; in der Praxis entzieht sich diese Differenz jedoch unserer Überprüfung. Bilder in ihrer Affirmation des Sichtbaren vermögen freilich kaum dem Unsichtbaren eine Bahn zu bereiten. Jedoch provoziert die Materialität des Mosaiks eine Konzentration auf das Licht, da das Bild erst in dessen Aufscheinen entsteht, enthüllt wird. In den Tesserae selbst ist kein Bild existent. Der griechische Begriff für Licht (phos) impliziert das Zur-Erscheinung-Bringen. Die Farbe als eine Epiphanie von Objekten betont auch die Souda, die byzantinische Enzyklopädie.52 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das Bild, das wir sehen/berühren, bildtheoretischen Positionen nach letztlich immer nur Abbild bleibt. Der hinter dem Abbild mit diesem verbundene Prototyp bleibt unserer Sicht entzogen. Allein mit Hilfe unserer Imagination vermögen wir mehr zu sehen, als das, was jetzt (im Augenblick) präsent ist. Nun gibt es in den angeführten Mosaiken ein schon erwähntes Bildmoment, das der Transferbewegung vom Jenseitigen zum Diesseitigen Visibilität verleiht: die Nimben.

Vergegenwärtigung und Verlebendigung im/durch das Licht Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen sind es vor allem zwei Faktoren, die nun unserer Aufmerksamkeit bedürfen: das in den Raum dringende oder dort verortete Licht in seiner Dynamik wie auch der dadurch in Bewegung geratene Raum.53 Für unseren Kontext sind insbesondere die in den ekphraseis entwickelten Parameter für die Bildwahrnehmung von Interesse.54 Zwei Zitate sollen daher unseren mehr davon ausgehen müssen, dass durchaus aus unserer Perspektive divergierende Theorien sich hier in der Rezeption praktischer Verfahrensweisen in der ekphrasis durchkreuzen.  51 Photios: Homiliy XVII (Edition: Mango 1958, 294).  52 Siehe Pentcheva 2010, Zitat in engl. Fassung auf 109. Die Autorin zitiert diesen Text jedoch in einem anderen medialen Kontext, da sie sich vornehmlich mit Email-Ikonen auseinandersetzt.  53 Isar (2011) hat aus dem Begriff χορός ein eigenes Prinzip entwickelt, das sie als ‚Chorography‘ bezeichnet. Ihrer Definition nach handelt es sich um: „the inscription of sacred space by the mystical dance χορός“ (ebenda 4). Diesem zur Seite steht ein alternativer Terminus von Hierotopie, den Alexei Lidov in seinen Forschungen seit 2001 in die Diskussion eingeführt hat (vgl. zuletzt Lidov 2011). Beide Autoren verfolgen das Ziel, eine adäquate Terminologie für die Konstituierung des heiligen Raumes zu etablieren. Eine angemessene Auseinandersetzung mit beiden wird an anderer Stelle erfolgen.  54 Grundlegend zu byzantinischen ekphraseis Macrides/Magdalino 1988; James/Webb 1991; Webb 1999.

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Ausgangspunkt bestimmen, um die einzelnen von uns berücksichtigten Aspekte in Hinblick auf die dynamische Konstituierung eines heiligen Raumes zusammenzuführen: Nikephoros Kallistos Xanthopoulos beschreibt zwischen 1308 und 1320 ein Kuppelmosaik der Zoodochos Pege (Lebensspendende Quelle) in dem gleichnamigen Kloster in Konstantinopel. Die Kuppel war über einem wundertätigen Brunnen installiert: In the picture [,] which is in the middle of the dome where there is the ceiling of the church, the artist perfectly depicted with his own hands the life-bearing Source [Zoodochos Pege], who bubbles forth from Her bosom the most beautiful and eternal infant [i.e. Christ] in the likeness of transparent and drinkable water which is alive and leaping; upon seeing it one might liken it [the Source] to a cloud making water flow down gently from above, as if soundless rain, and from there [sc. above] looking down toward the water in the phiales and rendering it [the water] active [or effective], incubating it, one might say, and rendering it [the water] fertile; and this [Source] I at least would call at present the spirit of God floating over the water. For at any rate when the plug opposite the image [of the Virgin] is raised so as to stop the water flow, and the shadowy [image] reflects on the water, one might see, as if in a mirror, the Theometer herself floating in the living water and emitting supernatural sparkling, so that one might wonder which is more believable [i.e. which is the real image not the reflection], whether out of the water the image is transferred to above, rebounding marvellously by means of the perceptible sunlight which strikes down [on the water], and is preserved on the ceiling […] 55 Es ist augenscheinlich, dass hier verschiedene Materialien im Spiel sind, die einen derartigen Effekt einer doppelten Präsenz der Gottesmutter mit ihrem Kind hervorrufen: da ist die sprudelnde Quelle, das Wasserbecken wie auch das Sonnenlicht. Von besonderem Interesse für uns ist der untere Abschnitt, in dem geschildert wird, wie sich das Bild im Wasser spiegelt und dabei eine wunderbare Reflexion erzeugt, wodurch sich zugleich eine Unsicherheit einstellt, welchem Bild ein höherer Wirklichkeitsgrad anhaftet. Was Xanthopoulos beschreibt, ist ein sich in seinem Blick ereignender Akt. Im Bild manifestiert sich eine Anwesenheit, die wie in der Bewegung des Wassers einer steten Erneuerung unterstellt ist. Die Beschreibung folgt damit einer beliebten Rhetorik, bei der die Bilder in Bewegung geraten und sich so den Raum auf eine besondere Weise zu eigen machen bzw. diesen zugleich bestimmen. Die Bewegung kennzeichnet auch eine aus dem 12. Jahrhundert stammende ekphrasis zur Hagia Sophia, die jenseits des Wassers den Aspekt einer fließenden Bewegung unterstreicht: […] the gold appears to drip down; for by its refulgence making waves to arise, as it were, in eyes that are moist, it causes their moisture to appear in the gold which is seen, and it seems to be flowing in a molten stream.56 Die Schulung an Platons Ausführungen ist kaum von der Hand zu weisen. Das Ausmaß der Dynamik ist von Isar an einer Fülle anderer Texte nachgewiesen worden.57 Eben in dieser Bewegung wird je neu ein Raum  55 Zitat und Übersetzung der Passage ist entnommen aus: Teterijatnikov 2005, 225–226. Vgl. auch Talbot 1994.  56 Das Zitat folgt der bei Mango 1960, 237 angebotenen Übersetzung.  57 Isar 2011, bes. 174–197.

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geboren. Nicht nur dass der gebaute Raum seiner eigentlichen Tektonik enthoben wird, sondern das Augenmerk gilt vornehmlich den Faktoren, die als ursächlich für die Dynamik ins Spiel gebracht werden. Eindrucksvoll ist dies den ekphraseis zur justinianischen Hagia Sophia zu entlehnen. Welche fulminante Rolle dem Licht zuwächst, ist in der jüngsten Forschung darüber hinaus von verschiedenen Seiten ebenfalls eruiert worden.58 In diesem Prozess stehen die Momente der Erhaschung eines Göttlichen im Vordergrund, dessen man letztlich nicht habhaft werden kann, es sei denn im liturgischen Akt. Umso folgerichtiger ist die Tatsache, dass unsere Ikonen auf den Trompen untrennbar an das Liturgische gebunden sind. Einen integralen Bestandteil dieser räumlichen Dynamik bilden freilich unsere Mosaiken, deren Koppelung an die Gläubigen oben debattiert worden ist. Die Ikonen der Trompen scheinen in einer vom Licht erzeugten Bewegung auf. Mit der Anwesenheit der Teilhabenden, im wechselvollen Prozess multiplizierter Sehvorgänge, konkretisieren sich eben in einer Vielfalt das Aufscheinen ebenso wie das Entschwinden; die wiederholten Momente erzeugen dabei letztlich nur eine Imagination von einer Anwesenheit des Göttlichen, die zugleich durch ihre Abwesenheit gekennzeichnet ist. Das Prinzip der Bewegung vollzieht sich jedoch auf mehreren Ebenen, so auch auf derjenigen der Zeitvorstellung, die bis an das Ende aller Tage, der Aufhebung von Zeit, der Ewigkeit, reicht. Auf der Basis der Kreisbewegung des Zentralraumes ist die Anordnung der Ikonen auf einen nicht endenden Akt hin angelegt.59 Auf eine Vergangenheit bezogen, in die Zukunft projiziert, fallen diese Zeitebenen in der dauerhaften Vergegenwärtigung zusammen. Ein Diptychon aus zwei Kalenderikonen zeigt im rundbogigen Abschluss auf der einen Seite einen Christus Pantokrator, auf der anderen Seite eine Dexiokratousa (eine das Kind auf der rechten Seite tragende Hodegetria). Beide werden von je sechs, wie Trabanten wirkenden Medaillons umkreist, in denen Festbilder erscheinen.60 Belting hat für dieses Diptychon auf ein Widmungsgedicht in einem georgischen Menologion hingewiesen. Die Handschrift (Tbilisi, MSA 48) ist konstantinopolitanischer Provenienz und dürfte um 1030 entstanden sein. Im Gedicht wird der Festkalender des liturgischen Jahres als eine Art Kosmos beschrieben.61 Als Festbilder, d. h. Bilder, die sich auf die hohen liturgischen Feste des Jahres beziehen, werden sie auf mehreren Ebenen liturgisch und zeitlich aktiviert: in der Anordnung folgen sie der Biographie Christi, zugleich referieren sie auf das liturgische Jahr und die Liturgie selbst. Die byzantinische Liturgie, so wie sie sich in den Liturgieformularen von Basileios und Chrysostomos darstellt, ist ein Re-Enactment der Biogra 58 So etwa bei Isar 2004; Fobelli 2005; Nelson 2006; Cesaretti/Fobelli 2011; Godovanec 2011 und Schibille 2014.  59 Schon Demus (1948, 30) hat die verschiedenen in eins fallenden Zeitebenen angesprochen.  60 Belting 1990, 282–283. Isar (2011, 163–164) hat ebenfalls dieses Diptychon erwähnt.  61 Zum Text vgl. Ševčenko 1962, 273–274, Anm. 97: Beholding the commemorations and feasts for the whole year inscribed in the present book day by day, do thou admire the skill of the painter. For, like unto the intelligible Heaven, this book contains Christ, the intelligible sun; like unto full moon, the Virgin who gave birth to Him; like unto a circle of beaconing stars, the choirs of all Righteous, from the beginning of time, who have really pleased Him […].

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phie Christi, die in der eucharistischen Feier kulminiert.62 Das Prinzip der Vergegenwärtigung einigt Festtagsikone und Liturgie, wie dies im Übrigen auch die Liturgiekommentare eindrucksvoll bezeugen. Wird schon im Sehakt auf eine wiederholte Aufhebung der Grenzen zwischen der Ikone und dem Teilhaber gesetzt, so vervollkommnet sich dieses Prinzip im liturgischen Akt. Mit der Bewegung einher geht die Vergegenwärtigung, die nicht allein auf der scheinbaren Präsenz des Heiligen in den Ikonen ruht, sondern vor allem in der Performanz des liturgischen Aktes gründet. Diese auf unterschiedlichen Ebenen vollzogenen dynamischen Teilprozesse münden letztlich in eine sich unweigerlich wiederholende Einheit, die eines Raumes, der sich über das alles und alle umhüllende, ver- und enthüllende Licht konstituiert.

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 62 Zur Relation zwischen Festbildern, liturgischen Rollen und Liturgiekommentaren bzw. zur Liturgie selbst vgl. Schellewald 2008 mit weiteren Literaturhinweisen.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Wikimedia, Joan. Abb. 2: Wikimedia, Jean Housen. Abb. 3: Archiv Horst Hallensleben. Abb. 4: Wikimedia, Hans A. Rosbach.

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Kartierte Immersion Ein Versuch zum imaginären Raum der Ebstorfer Weltkarte Sacred spaces emerge as metaphorical spheres based on an archetypical plot structure which may be called a “sacred narrative”. It accentuates the musical nexus as an essential part of any narrative structure; nonetheless, it is neglected by narrative theory and its visual epistemology. The historical concept of musical correlations structuring narrative material is first established in Augustine’s philosophy of number and time in which he proclaims the semantic presence to be a synaesthetic effect of aesthetic experience operating between image and words, narration and music. This effect can be demonstrated by interpreting the “Ebstorf Map” and its mediality. Being organized in a diagrammatic order, its “sacred narrative” mediates the opposing perspectives of interpreting the world in a geographical or historical manner, taking world or salvation history as a basis. The “sacred narrative” is therefore structured by a musical logic, allowing the faithful to enter an aesthetic sphere of sacred space.

I. Raum – Zeit – Immersion „Was also ist der Raum?“ – Geht man von der unübersichtlichen Gemengelage kulturwissenschaftlicher Diskussionsanregungen aus, dann müsste in dieser Frage eine tiefgreifende Verunsicherung eingetreten sein. Als Indiz dieser Verunsicherung könnte man den Versuch ansehen, einen „topographical turn“ auszurufen, der nachträglich verschiedene Ansätze unter einem Etikett subsumiert, damit aber vor allem eine Pluralität der Raumkategorien markiert – mit einem irritierenden Effekt: Die Vervielfältigung der Raumkonzepte erzeugt Dissonanzen, in denen selbst noch die phänomenale Grundlage des Raums unsicher wird: Die Frage nach dem Raum löst diesen auf.1 Hinzu kommt, dass die Dissonanzen der Raumkonzepte mit einer schwer kontrollierbaren Metaphorik einhergehen, wo vom „Textraum“, vom „Bildraum“ oder auch allgemeiner vom „Raum der Kulturen“ die Rede ist. Hält man Metaphern nur für rhetorische Redefiguren, dann muss diese Metaphorik skeptisch stimmen. Die    1 Vgl. unter dem Aspekt des neueren Interesses an Medium und Medialität von Karten die kritisch-bilanzierende Skizze von Glauser/Kiening 2007, bes. 18–22, mit weiterer Literatur. Zur postmodernen Schlagwortbildung vgl. vor allem den vielzitierten Bündelungsversuch durch Weigel 2002, in dem das abschließende Votum zugunsten einer Historiographie der Raumauffassungen hervorgehoben sei. Eine Auswahl der klassischen Bezugspunkte zur heterogenen Raumdiskussion versammelt der Reader: Dünne/Günzel 2006. Als Überblick zur Diversität des Forschungsfeldes, der indes auch noch einmal dessen Problematik repräsentiert, dass sich die forschungsgeschichtlichen Narrative in extremer historischer Vereinfachung beständig am angeblichen euklidischen Raumverständnis der Neuzeit ausrichten und dann dessen Auflösung in disziplinär jeweils unterschiedlicher Weise vorführen, vgl. den Band: Günzel 2009.

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wissenschaftliche Rede vom Raum verliert dann ihre Evidenz und Relevanz. Hält man die Metapher jedoch mit Paul Ricœur für einen hermeneutischen Schlüsseltropus,2 dann könnte gerade die Raummetapher für das Raumproblem auch durchaus hilfreich sein. Was wäre nämlich, wenn die Raumwahrnehmung selbst schon etwas Metaphorisches hätte? Wenn also in der Raummetaphorik die Struktur der Raumauffassung selbst anklingen würde? Aus der terminologischen Unschärfe ergäbe sich dann jedenfalls gerade kein methodischer Einwand. Und vielleicht könnte man zur Unschärfe des Raumbewusstseins sogar in ähnlich radikaler Weise formulieren wie dies Augustinus für das Zeitbewusstsein getan hat: „Was also ist die Zeit? Wenn mich jemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“3 Die Prominenz der zitierten Formel aus den Confessiones dürfte sich nicht zuletzt dem Umstand verdanken, dass in ihr genau jenes Dilemma eines analytischen Differenzdenkens angedeutet ist, um dessen Überwindung es Augustinus insgesamt geht. Für die Frage nach dem Raum muss diese Aufhebung des Differenzdilemmas ebenfalls interessant sein. Dies nicht nur deshalb, weil sich die Kategorien von Raum und Zeit als Korrelate ansehen lassen, sondern auch, weil sich der offenkundige Phonozentrismus des augustinischen Denkens als Komplement zum aktuellen Visiozentrismus der Kulturwissenschaften heranziehen lässt. Hinter der oft betonten narrativ-poetischen Form der Confessiones, die Augustinus’ Argumentationsschritte ebenso trägt wie immer wieder auflöst, scheint eine mediale Dialektik zu stehen. Gerade an den reflexiv auftretenden Aporien der Zeit wird diese Dialektik deutlich: Das Augustinische Nachdenken über die Zeit wendet sich an das Ohr, damit ist die Zeit in ihrer Logik ein systematisches Korrektiv für das Nachdenken über den Raum, wo dieser ausschließlich visuell begriffen wird.4 Die ohrenfällige Antwort auf die Zeitfrage lautet Augustinus zufolge: Die Zeit der menschlichen Wahrnehmung ist nicht im Hier und Jetzt definierbar. Sie ist ein paradoxer ästhetischer Prozess, der das Jetzt in genau dem Moment verfehlt, in dem er es zu greifen versucht und gerade dabei die Gegenwart konstituiert. Die paradoxe Bewegung der Zeitwahrnehmung verfährt damit nicht analytisch, sondern in spezifischer Weise synthetisch: indem sie die Differenzkategorien von Vergangenheit und Zukunft miteinander in Kontakt bringt und dabei ständig neu entwirft – im Rahmen einer klanglich-zahlhaft gedachten Dialektik. Wie der Kontakt genauer zu denken ist, der die Differenz voraussetzt und doch überwindet, zeigt Augustinus am Beispiel der Musik. Seine Zeitreflexionen sind nicht nur aus seinen Studien zur Musik hervorgegangen, Augustinus exemplifiziert die Wahrnehmung von Zeit und Gegenwart am Ende der Confessiones auch ganz konkret am Beispiel der Wahrnehmung von Gedicht (carmen), Lied (canticum)    2 Vgl. Ricœur 1986.    3 Augustinus 1998, XI, XIV. 17: Quid est ergo ,tempus‘? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. Speziell zum XI. Buch vgl. auch Übersetzung und Kommentar von Flasch 2004, 229–413.    4 Vgl. zum Forschungsstand aus musikphilosophischer Sicht Wulf 2013, 12–17.

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und Hymnus – Letzteres unter Verweis auf das auch thematisch einschlägige Deus creator omnium.5 Der Status dieser Exemplifikation dürfte ohne eine genauere Berücksichtigung des mittelalterlichen Musikbegriffs nicht recht zu verstehen sein. Musica ist nämlich eine ebenso theoretische wie praktische Disziplin, sie ist eine abstrahierende, mathematische Wissenschaft auf der Basis des sinnlich-praktischen Vermögens musikalischer Klangerzeugung und -wahrnehmung. Damit spannt sie sich auf zwischen sinnlicher Perzeption und Reflexion. Dieser Übergang zwischen Theorie und Praxis zeigt sich bei Augustinus insbesondere darin, dass seine Überlegungen zur Musik in seiner früheren Schrift De musica eine eigene Theorie ästhetischer Erfahrung enthalten.6 Inwiefern diese Theorie eine umfassende Einsicht in den epistemologischen Vorsprung ästhetischer Erfahrung vor der Reflexion indiziert, das scheinen dann gerade auch die Confessiones in ihrer meditativen Anlage praktisch vorzuführen. Denn ebenso wie Augustinus hier den schon in De musica herangezogenen Hymnus Deus creator omnium wieder aufgreift und an ihm die Aporien des abstrakten Zeitdenkens theoretisch reflektiert,7 so exemplifizieren seine Meditationen in ihren poetischen Denkbewegungen zugleich auch, wie dieser Hymnus selbst, die ästhetische Möglichkeit, diese theoretischen Aporien aufzuheben. Die Confessiones zielen also offenbar darauf, die Grenzen ihrer theoretischen Reflexionen durch ihre narrative, autobiographische Form mit ihrem spezifisch hymnisch gesteigerten Ende ästhetisch zu überschreiten. Die Zeitreflexionen spannen sich auf zwischen Erzählung und Musik. Insbesondere der vielzitierte Zentralbegriff der Augustinischen Zeittheorie, der Begriff der distentio animi, wäre in diesem Sinne zunächst musikalisch aufzufassen. Er meint eine geistige Aufmerksamkeitsspannung, in der gleichsam über der Differenz der Zeitabschnitte von Vergangenheit und Zukunft eine eigene Gegenwart aufgemessen wird.8 Diese geistige Zeitkonstitution wurde oftmals auch als subjektive Zeit im Gegensatz zur objektiv-physikalischen Zeit beschrieben. Auf diese Weise hat man zwar versucht, Augustinus als konzeptionellen Gegenspieler zur linearen Zeitauffassung der Physik des Aristoteles zu positionieren.9 Nur war dann ebenso anzumerken, dass die Unterscheidung in subjektive und objektive Zeit bei    5 Augustinus 1998, XI, XXVII. 35. Vgl. auch das ausführlichere, wörtliche Zitat des Hymnus ebd. IX, XII. 32.    6 Augustinus 2002, IV, III. 5–15. Zum Musikbegriff und der aus ihm resultierenden ästhetischen Zeitauffassung in De musica bilanzierend Wulf 2013, bes. 22–40. Zum Verhältnis zu den Confessiones vor dem Hintergrund der eigenen Thesenbildung zu musikalischen Korrelationsmöglichkeiten von theoretischer Differenzierung und ästhetischer Erfahrung recht vorsichtig ebd. 143– 145.    7 Vgl. Wulf 2013, 22f., 96f., vgl. Augustinus 2002, VI, II. 2.    8 Augustinus 1998, XI, XXVI. 33, 20; XI, XXIV. 30, 29; XI, XXVI. 33, 20. Dass der Begriff der distentio animi vor dem Hintergrund des historischen Sprachwandels im Lateinischen des 4. und 5. Jahrhunderts auf einer Verbindung von musikalischem und philologischem Denken beruht, hat Uta Störmer-Caysa auf der Grundlage von Augustinus’ Schrift De musica gezeigt, vgl. Störmer-Caysa 1996. Zu seiner ästhetischen Konzeption pointiert Wulff 2013, 126–130.    9 Vgl. Aristoteles 1987, IV, 10–14.

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Augustinus nirgends auftaucht.10 Dieser Widerspruch ist wichtig, weil in ihm auch der Mechanismus seiner Überwindung aufscheint. Orientiert man sich an der Musiktheorie, dann wird man dazu zumindest den Verdacht äußern dürfen, dass der Schlüssel zu dieser Überwindung in der Ästhetik des musikalischen Zahlbegriffs liegt. Die Zeitlichkeit der distentio animi ist nämlich über ein lineares Zeitverständnis mit einem über bloße Zählbarkeit definierten Zahlenverständnis noch gar nicht zu greifen. Zahlen fungieren im Zeitdenken des Augustinus nicht wie bei Aristoteles als zählbare Maßeinheiten einer linearen Bewegung anhand einer Reihe von differenzierenden Jetzt-Punkten, in der es um ein Mehr oder Weniger geht.11 Ein solches Zahlenverständnis ist eigentlich maßlos, weil das Mehr oder Weniger theoretisch unendlich klein oder groß sein kann. Darum geht es dem musikalischen Denken nicht um das Zählen, sondern um die Zahl als solche. Und die Zahl definiert sich nicht etwa über lineare Bewegungsverläufe, sondern über Proportionen. Für die Zeitwahrnehmung heißt das: Sie ist nicht auf das Zählen von leeren Zäsuren ausgerichtet, sondern auf die Relationierung des zahlhaften Maßes ihrer Zwischenräume. Diese werden als Einheiten aus Anfang, Mitte und Schluss aufgefasst, wobei die sich zwischen Anfang und Ende aufspannende Mitte auch in den Confessiones ebenso metaphorisch als „Zeitraum“ (spatium temporis) wie terminologisch als Intervall (intervallum) bezeichnet wird.12 Das Maß des Intervalls ergibt sich also nicht schon mit Blick auf eine räumlich gedachte Bewegung von A nach B, sondern zunächst in Relation zu anderen Intervallen. Und auf die ästhetische Zugänglichkeit dieser Relation kommt es ganz besonders an. Sie scheint den Kern des musikalischen Denkens zu bilden, da sie einen besonderen Nexus impliziert. Weil diese klanglich, also am Beispiel des sonus konzipiert ist, wird in der Zahlhaftigkeit der Relation ein Übergang zwischen Transzendenz und Immanenz ermöglicht: In der klanglichen Proportion ist die abstrakte Zahl sinnlich konkret wahrnehmbar. Erst über dieses relationale Denken in äquivalenten klanglichen Größen, modellhaft bei Augustinus zu Beginn von De musica dargestellt über die schwierigen Erwägungen, wie sich die 1 zur 2, die 2 zur 3, die 3 zur 4 etc. verhält,13 wird dann die Zahl zum Prinzip, ja zum principio des Messens. Im Prinzip ihrer Relationen, der aequalitas numerosa, liegt die Wahrheit der Zahl, die ebenso mathematisch-abstrakt bestimmbar ist, wie sie auch im Klang sinnlich aufscheint.14 Für die distentio animi bedeutet dies, dass auch sie durch die Äquivalenzbeziehung musikalischer Intervalle bestimmt ist. Sie ist gewissermaßen ein syntagmatisch gestrecktes Paradigma, das als proportional konzipiertes Zeitintervall als horizontal gewendetes Gegenstück zum Klangintervall erscheint, das später durch  10 Nachdrücklich dazu im philosophiegeschichtlichen Überblick durch Flasch 2004, 31, 45f., 73, 51.  11 Vgl. ebd., 115–124.  12 Augustinus 1998, XI, XV. 20, 1; XI, XVI. 21, 1; XI, XXVII. 34, 10 u. 16 u. ö.  13 Augustinus 2002, I, VIII. 14–I, XI. 19 u. ö.  14 Vgl. zum Begriff Beierwaltes 1975.

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Boethius auf den prägenden Begriff der consonantia gebracht werden wird.15 Ebenso wie die consonantia durch die Proportion verschiedener Tonhöhen bestimmt ist, deren Zahlhaftigkeit sich anhand des Monochords in der Proportion von Seitenlängen beschreiben lässt, so ist die gestreckte Zeitlichkeit des sonus im Rhythmus, dessen Zahlhaftigkeit der lateinische Begriff des numerus deutlich anzeigt, analog zu den Intervallen zwischen den Tonhöhen als intervallum temporum oder numerosum sonnorum zu messen.16 Und Zahl und Maß bleiben hier wie dort nicht abstrakt, denn auch in der klanglich konzipierten Zeit wird die Wahrheit der Zahl selbst sinnlich zugänglich – als zeitliche „Übereinstimmung“. Die Differenz der Zeitabschnitte wäre so in ihrer zahlhaften Konsonanz aufgehoben. Das klanglich konzeptualisierte Zeitmodell von Augustinus war genauer darzustellen, weil es nicht nur in der Philosophie Karriere gemacht hat. Es führt von der modernen Phänomenologie Edmund Husserls auch in die Erzähltheorie.17 Dass es hier in der großangelegten Hermeneutik von Paul Ricœur, in Fortführung seiner Überlegungen zur Metapher, zu einer Gründungsfigur der Erzähltheorie erklärt werden konnte,18 ist deshalb so überzeugend, weil Augustinus seine Zeitreflexionen nicht nur im musikalisch-hymnischen Schlussakkord des narrativen Entwurfes seiner Confessiones präsentiert hat, sondern auch, weil er hier schon rein praktisch die strukturelle Musikalität der Zeitwahrnehmung aus der Logik narrativer Strukturen hervorgehen lässt. Was so ästhetisch in Erfahrung kommt, das könnte damit auch theoretisch der Fall sein: Wenn sich die Geschichte als Struktur aus Anfang, Mitte und Ende beschreiben lässt, in der Anfang und Ende zueinander in einer Differenzbeziehung stehen und doch zugleich durch die Mitte, die sich zwischen ihnen aufspannt, in eine sinnstiftende Äquivalenzrelation gebracht werden können, dann wird man vor dem Hintergrund der musikalischen Auffassung der Zeit formulieren können: Auch der narrative Entwurf, mit dem Augustinus auf seine eigene Lebenszeit in den Confessiones zurückblickt, gewinnt seinen Sinn erst durch die konnektive Struktur des musikalischen Intervalls. Zeit wahrzunehmen hieße demnach zunächst immer schon, narrativ Sinn zu konstituieren: Diese narrative Grundlage des Zeitdenkens ist heute vermutlich deutlicher denn je. Nur ist dann aber auch der „melodische Kern“ der Geschichte zu betonen.19 Diese Klanglichkeit lässt sich – so wird man Ricœurs Überlegungen wohl in dessen Sinne weitertreiben dürfen – schon in der paradigmatischen Struktur der Metapher vernehmen, wo sie zwei unterschiedliche Bildbereiche zur „Übereinstimmung“ bringt, ebenso wie  15 Vgl. Boethius 1867/1966, hier zur consonantia passim, bes. I, 3 u. 8, 189–191 u. 195. Zusammenfassend dazu Hentschel 2000, 23–35, in dessen Darstellung zur weiteren Begriffsgeschichte in der mittelalterlichen Musiktheorie besonders die diagrammatischen Umsetzungen der Konsonanz in Handschriften zur „Musica speculativa“ für die folgende Argumentation wichtig sind (89–103).  16 Vgl. Augustinus 2002, VI, VIII. 21.  17 Husserl 1966, 3–134. Zur dabei auftretenden Uminterpretation durch Husserl kritisch Flasch 2004, bes. 46.  18 Ricœur 1988–1991, hier bes. 1988, 15–53. Der zustimmende Bezug darauf bei Flasch 2004, 90f.  19 Vgl. Ricœur 1988, 56–86, zit. 56.

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dann die so verstandene metaphorische Relation der syntagmatischen Sinnlinie einer Geschichte ihre klangliche Intensität verleiht.20 Doch gerade was diese musikalische Seele des Erzählens angeht, hat die weitere narratologische Klärung der narrativen Struktur ihren Preis gehabt. Durch die erzähltheoretische Differenzierung scheint diese Grundlage des Zeitdenkens verschwunden zu sein. Jedenfalls hat die Erzähltheorie das von Ricœur nochmals angemahnte, klanglich-musikalische Prinzip in Geschichte und Erzählung buchstäblich übersehen. Und mit dem Verlust der Klangstruktur beginnt auch hier die Dissonanz der Raumauffassungen. Gleichwohl ergibt das kein prinzipielles Votum gegen die Erzähltheorie, nur sind ihre Einschränkungen durch den auch in ihr wirksamen Visualitätsprimat zu beachten. So wird man aus erzähltheoretischer Sicht vermutlich relativ unangefochten behaupten dürfen, dass Augustinus im Banne eines ganz bestimmten kulturellen Erzählmusters denkt, bzw. es überhaupt erst aufklärt. Seine Zeitreflexionen sind meditativ angelegte Bekenntnisse des Glaubens, indem sie die Zeitwahrnehmung der menschlichen Seele als Kehrseite der Heilsgeschichte entwerfen. Um die in der Wahrnehmung entstehende Paradoxie der heiligen Zeit wenigstens andeutungsweise zu fassen, könnte man das damit zusammenhängende Erzählmuster im Sinne der christlich geprägten Archetypenlehre von Northop Frye und seiner musikalisch-diagrammatischen Grundschematisierung als einen den konkreten Erzähltypen vorgängigen Basis-Mythos fassen. Genauer ließe er sich als „sakrales Narrativ“ bezeichnen.21 Das soll nur andeuten: Zeit wird hier als narrativer Sinnentwurf aufgefasst, der die ewige, überzeitliche Bedeutung des Heils nicht nur für den Rahmen der menschlichen Geschichte voraussetzt, sondern diesen Rahmen selbst auch mit einer eigenen narrativen Bewegung zu überschreiten versucht. Die Geschichte als semantische Struktur aus Anfang, Mitte und Schluss ist zwar endlich, sie besitzt zugleich aber eine Dynamik, die ihr jederzeit die Möglichkeit zur Epiphanie des Heils gibt,22 und die schließlich ebenso ihr Ende übersteigt, um in der Ewigkeit des Heils aufzugehen: Das wäre eine erste Teilbestimmung des sakralen Narrativs. Erzähltheoretisch wäre sie durchaus noch konventionell. Der schwierigere Teil dieses narrativen Zeitkonzeptes beginnt denn auch erst mit dem Versuch, der impliziten Klanglichkeit und Musikalität des Erzählens eine deutlichere Geltung gegenüber  20 Vgl. zu dieser Wendung von der Paradigmatik zur Syntagmatik die Grundanregung von Jakobson 1971, 323–333.  21 Vgl. Frye 1964, zu den narrativen Archetypen 160–243. Fryes Essays gestehen ihre diagrammatische Grundanlage mehrfach ausdrücklich ein (bes.: „Dieses Buch bedient sich eines diagrammatischen Rahmens“, 244) und münden in einer Betrachtung des Diagramms (337–339), wie sie sich auch zum musikalischen Denken bekennen (135f., 160 ausdrücklich die Bezeichnung der narrativen Archetypen als „Tonarten“) und einen eigenen Abschnitt zur Musikalität literarischer Gattungen aufweisen (252–304), bleiben aber dennoch in der Verbindung dieser beiden Zugriffe undeutlich. Das Verbindungsglied scheint die Metapher zu sein (bes. 128f.), auch dies bleibt aber provozierend vage. Vgl. dazu die späte, großartige Synthese bei Frye 2007, zum basalen Erzählmuster der Heilsgeschichte 197.  22 Vgl. Frye 1964, zum „Punkt der Epiphanie“ 206–209, zu den sprachlichen Grenzen, Ewigkeit zu denken Frye 2007, 93–96.

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den narratologischen Differenzierungen zu verschaffen. Wenn die narrative Zeit in der Konsequenz des Augustinischen Denkens ganz wesentlich auf die Kontaktkategorie des Klanges zurückgeht, so ist die Geschichte erst über die Dialektik von Differenz und Konsonanz hinlänglich zu konzipieren. In Abhängigkeit von einer so verstandenen narrativen Zeitkonzeption ergibt sich ein entsprechend verändertes Raumverständnis: Der Raum ist dann als eine semantische Sphäre aufzufassen.23 Die Semantik des sakralen Narrativs wäre nämlich nichts, was einem irgendwie nur faktisch vorfindlichen, dreidimensionalen Raum nachträglich eingeschrieben würde. Der Raum entstünde vielmehr erst im Moment seines narrativen Entwurfs. Er erscheint so, wie die Zeit, als Emergenzeffekt einer semantischen Bewegung. Vermutlich ist auch diese These eines semantischen Primates der Raumwahrnehmung angesichts der jüngeren Bemühungen um die kulturell vielfältigen Determinanten von Raumkonzepten nicht überraschend, auch ließe sich aus erzähltheoretischer Sicht die Vorgängigkeit der Geschichte vor dem Raum am Beispiel des Begriffs der Diegese mit ihrer gelegentlich übersehenen Metaphorik plausibel machen. Im Ergebnis hieße das aber für die kulturelle Wahrnehmung ganz allgemein: Die Struktur der Geschichte erzeugt den Raum, und dieser Raum ist zunächst eine semantische Sphäre. Speziell am Erzähltypus des sakralen Narrativs muss sich dann aber auch genauer diskutieren lassen, inwiefern der semantische Raum immer schon ein Klangraum ist. Von der Klanglichkeit des Raumes zu sprechen zielt dabei – das ist festzuhalten – nicht auf konkrete akustische Bedingungen, sondern es geht um die Suche nach einem logischen Nexus.24 Dieser Nexus ist besonders einem mittelalterlichen Denken vertraut, das Räume im Zusammenhang musikalischer Sphären zu konzipieren vermag,25 er wird aber offenbar durch das Differenzdenken konsequent verdrängt. Besonders eindringlich hat diesen verdeckten Nexus vor über 40 Jahren die Philosophin Elisabet Ströker noch einmal herausgestellt: mit ihrem Begriff des „gestimmten Raumes“. Stimmung ist Strökers phänomenologischem Ansatz zufolge nicht nur der Vorläufer der Emotion, sie erschließt zugleich den Raum als eine Atmosphäre der Wahrnehmung. Und das Atmosphärische wird dabei eben nicht  23 Weitergehend ließe sich dazu narratologisch an den metaphorisch verfassten Begriff der „Semiosphäre“ nach Lotman 1998 anschließen. Siehe unten, Anm. 48.  24 Dies in Abgrenzung zu den Bestrebungen des sog. aural turn, wie er gegenwärtig die Geschichtswissenschaft erreicht: vgl. Müller 2011, bes. 27f.  25 Boethius, 1867/1966, I, 2, 187, 20–188, 26. Dass hinter dem sphärisch gedachten Raum ein musikalischer Nexus als eigenes Denkprinzip steht, artikuliert sich bei Johannes Scotus Eriugena, der zu seinen Reflexionswegen über die Bestandteile der Natur und ihren Relationen formuliert: musicis rationibus admonitus, in quibus conspicor nil aliud animo placere pulchritudinemque efficere, nisi diuersarum uocum rationabilia interualla, quae inter se inuicem collata musici modulaminis efficiunt dulcedinem. „Ich bin dazu durch musikalische Gründe gebracht worden, aus denen mir klar wird, dass dem Geiste nichts Anderes gefalle und Schönheit bewirke, als die vernunftgemäßen Intervalle der verschiedenen Stimmen, welche in gegenseitiger Verbindung mit einander die Lieblichkeit des musikalischen Wohlklanges bewirken.“ Eriugena 2003, V, 4782–4786. Vgl. auch die Übers.: Noack 1870/1874, 330, Modifikationen von mir, H. B.

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erst, wie heute prominent bei Gernot Böhme, mit Blick auf das Visualitätsparadigma gedacht. Vielmehr gilt bei Ströker: „Von eigenartiger Bedeutung für den gestimmten Raum ist der Ton. An raumbestimmender Macht ist er […] Farbe und Form überlegen“.26 Über den Ton strebt Ströker offenbar die Rehabilitierung einer logischen Relation an, die ihrer Kritik zufolge dem modernen geometrischen Denken abhanden gekommen ist, die aber, so die These der folgenden Überlegungen, in der narrativen Struktur im Sinne des augustinischen Zeitdenkens weiterhin wirksam bleibt. Insgesamt hieße das dann: Der Raum erscheint nicht als eine dreidimensionale Gegebenheit, in der der Mensch nach Art einer Guckkastenbühne das Drama seiner Existenz aufführt. Vielmehr könnte man sagen, dass diese Bühne erst durch das Drama der menschlichen Bewegung ihre Räumlichkeit gewinnt. Der Raum wäre dabei – wie die Zeit – eine semantische Kategorie narrativer Welterzeugung. Sie beruht über die Struktur der Geschichte, die den Raum hervorbringt, auf der narrativen Dialektik von Differenz und Konsonanz. Die medialen Manifestationen dieser besonderen Relationen sind Sichtbarkeit und Klang, ihr Zusammenspiel zeitigt die Strukturen von Metapher und Geschichte. Wenn dieses Modell vertretbar sein soll, dann müsste die intensive ästhetische Binnenerfahrung dieses semantischen Klangraumes als ein paradoxer Prozess der Immersion in Bildwelten beschreibbar sein.27

II. ex pluribus unum – Vielheit im Diagramm Was also ist der Raum? Was also ist die Zeit? – Mediävistische Literaturwissenschaftler kennen die Pluralität der Räume als praktisches Phänomen ihrer hochmittelalterlichen Texte; theoretisch ist der Raumpluralismus bereits im Frühmittelalter systematisch erörtert worden.28 Möchte man das Problem der pluralen Raumvorstellungen und ihres Zusammenhanges mit der narrativen Zeitsemantik jedoch nicht nur textlogisch oder allgemein-theoretisch, sondern auch anschaulich-konkret diskutieren, so dürfte die Kartographie, hier vor allem die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Ebstorfer Weltkarte ein naheliegendes Beispiel liefern.29 Den beson 26 Ströker 1977, 28.  27 Zum Begriff der Immersion in mediävistischer Hinsicht Bleumer 2012, siehe ausführlicher unten.  28 Vgl. das Nebeneinander verschiedener Raumauffassungen bei Eriugena 1996, 1375–2009.  29 Vgl. zur mittelalterlichen Kartographie aus germanistischer Sicht die breite Einbettung der Ebstorfer Karte in den Kontext der historischen Kartographie von Arentzen 1984, bes. 132–274; für die Kartographiegeschichte der umfassende Überblick von Harley/Woodward 1987, hier zum europäischen Mittelalter bes. die Beiträge in den Kapiteln 17–20 (283–501); vgl. ferner die konzise Gesamtdarstellung von Edson 1999, hier bes. 66–71 zur Rolle von Diagrammen. Ausführlicher, mit der grundsätzlichen Betonung des kontemplativen Charakters der Karten, Hoogvliet 2007. Als Sammelband sei der, anders als der Titel suggeriert, allgemein angelegte Band von Harvey 2006 genannt. Zur detaillierteren Orientierung über die Forschung bis dato vgl. die Nachweise aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bei Englisch 2002, bes. 15–66, zur Ebstorfer Karte

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deren Aufschlusswert der Karte hat insbesondere die Rekonstruktion von Hartmut Kugler auf geradezu wunderbare Weise gezeigt.30 Kugler hat die Karte in einen akribisch erarbeiteten, opulent ausgestatteten Atlas verwandelt und sie im Medienwechsel neu zugänglich gemacht.31 Die Kugler-Karte – wie man sie nun eigentlich nennen müsste – illustriert so gerade heute nicht nur das Nebeneinander verschiedener Raumauffassungen, sondern auch deren metaphorische Verfassung. Sie zeigt das harmonisierende Zusammenspiel verschiedener Raumkonzepte im Rahmen des sogenannten „mittelalterlichen Weltbildes“.32 Die Ebstorfer Karte macht die Welt auf verschiedene Weisen lesbar. Darum hat sie allein sechs große Außenlegenden. Die Lesbarkeit der Legenden ist jedoch schwierig. Denn deren Schrift lässt sich durch die Distanz schwer entziffern, die von der beachtlichen Größe der Karte erzwungen wird. 3,58 x 3,56 Meter – sollte die Karte, wie man plausibel vermuten darf, im Chor der Kirche des Klosters Ebstorf gehangen haben, so war die Schrift weniger zur Lektüre als zur visuellen Symbolisierung ihrer Inhalte geeignet. Die Texte und Erklärungen konnten nur idealiter vollständig in der Nahsicht gelesen werden. Und sobald der Leser von der Schrift zurücktrat und das Gelesene visuell zu kontextualisieren versuchte, musste er die Textinhalte ohnehin aus dem Gedächtnis aktualisieren.33 Dazu bot die Karte insgesamt ein Gefüge bildlich markierter Gedächtnisorte an. Der eigentliche Ort der Karte ist damit immer schon in die Imagination des Rezipienten verlegt. 468–475. Zu den Zirkelschlüssen von Englisch, in denen sie ihr wissenschaftliches Beschreibungsverfahren mit der Beobachtungsebene der Gegenstände verwechselt, d. h. ihr eigenes geometrisches Beschreibungsprinzip zum grundlegenden Konstruktionsprinzip der mittelalterlichen Karten erhebt, was dann noch zu „Widersprüchen und Willkürlichkeiten“ führt, dezidiert Kugler 2005, 449. Stellvertretend für die verschiedenen, illustrativen Bildbände mit Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Kartographie, die in den letzten Jahren erschienen sind, sei nur genannt Barber 2005.  30 Zur Forschung und Quellenlage umfassend im ausführlichen Kommentar von Kugler 2007a, Bd. 2. Die Abbildungen und Übersetzungen auch als interaktive Netzressource als Projekt an der Universität Lüneburg http://www2.leuphana.de/ebskart/ (13.11.2012), dazu die Nachschrift von Warnke 2006. Ergänzend zu den im Literaturverzeichnis seiner Ausgabe aufgeführten Einzelstudien Kuglers vgl. nur noch ders. 2007a. Zuvor die dezidiert landesgeschichtliche Einordnung der Karte von Wilke 2001, mit einem Überblick zur Forschungsgeschichte (Bd. 1, 14–19) und Übersichten zur Quellenlage (Bd. 2, 20f.).  31 Vgl. Scheuer 2009 zur historischen Verbesserung, die als visuelles Erkenntnisinstrument das Konzept deutlicher aufscheinen lässt. Die Einzelsegmente der Karte wurden – bereits mit den Texttranskriptionen der Kartentexte und erschließenden Namensverzeichnissen – erstmalig und grundlegend publiziert durch Sommerbrodt 1891. Der Umgang mit den großformatigen Segmenten vermittelt in der Tat einen gänzlich anderen, freilich nicht weniger eindringlichen ästhetischen Eindruck. Die erste ausführlichere Einordnung erfolgt im Anschluss daran wenig später: Miller 1896.  32 Die Karte kommt damit auffällig der jüngeren Forderung entgegen, über die Metapher als eigener Form der Welterfassung die kulturwissenschaftliche Multiperspektivität zu bündeln, wie sie sich in den verschiedenen turns niederschlägt, so zum Begriff des „Weltbildes“ im Überblick von Nünning 2005, 175f.  33 Die Memorierfunktion der Karte ist verschiedentlich betont worden, so bei Arentzen 1984, 226f., und unter besonderer Betonung der Dynamik des Erinnerungsprozesses bei Herberichs 2007, 214.

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Will man das Wechselspiel dieses visuellen Gefüges mit den schriftlich in die memoria vermittelten Inhalten näher beurteilen, so kann man verschiedene Wege gehen. Aus einem eher naiven neuzeitlichen Kartographieverständnis heraus bietet sich als erste Zugangsmöglichkeit diejenige Legende an, die sich auf einen historischen Perzeptionsakt beruft und den Gattungsbegriff der Weltkarte so zu definieren versucht: Mappa dicitur forma. Inde mappa mundi id est forma mundi (7/A2, 1f.), d. h. eine Karte der Welt bildet Form, Gestalt oder Umriss der Welt ab.34 Die Begriffsgeschichte zur Mappa mundi wird gleichfalls von ihrer fiktiven Gründungsurkunde her angegeben: Zuerst habe Julius Caesar die geographischen Merkmale wie z. B. Städte, Gebirge, Flüsse usw. mit Hilfe von Gesandten ermitteln lassen und sub unius pagine visione zusammengefasst (7/A2, 5f.). Der historische Begriff der Weltkarte, den diese Legende liefert, würde demnach lauten: Eine Weltkarte ist eine zusammenfassende, auf empirischer Erfahrung beruhende zweidimensionale Übersichtsskizze räumlicher Weltmerkmale. Die Legende deutet so ein Kartographieverständnis an, das in späterer Zeit auf die einfache Vorstellung einer geometrischen Vermessung der Welt schrumpft. Dieses metrische Modell hat in der mittelalterlichen Wissenssystematik, wie sie durch die artes liberales repräsentiert wird, seinen Ort im mathematischen Quadrivium, ist aber dort nur ein Teilbereich der weiter gefassten Geometrie. Nur generiert es dort gerade keine Karten. Sieht man von den jüngeren wissenssystematisch anders gelagerten Portolanen ab, ist mittelalterliche Kartographie nämlich nicht metrisch. Die schlichte kartierte Perzeption von Wirklichkeitsdaten geht so auch in der Ebstorfer Karte in verschiedenen semantischen Strategien auf. Denn die Wahrheit der Karte ist jeder messbaren Wirklichkeit vorgelagert. Den semantischen Pluralismus, zu dem das führt, hat die Forschung ausführlich verdeutlicht. Weil Geographie Naturkunde umfasst, verzeichnet die Ebstorf-Karte eine Fülle naturkundlicher Details, unter ausdrücklicher Berufung auf Plinius, d. h. auf seine historia naturalis, tatsächlich jedoch als Exzerpt aus den Etymologiae Isidors wie auch aus Honorius Augustudonensis Schrift Imago mundi. Der Orbis ist ferner gerahmt von geologischen Wissenselementen, besonders dem Schema der zwölf Winde. Die Karte ist aber nicht zuletzt – wie die verschiedenen, wegweisenden Beiträge von Anna-Dorothee von den Brinken gezeigt haben – ein flächig ausgebreitetes Geschichtsbuch: Es geht um die Kartierung der welt- und heilsgeschichtlichen Zeit, die mit ihren prominenten Stationen auf der Kartenfläche verzeichnet und markiert wird.35 Das offensichtlichste Deutungsinstrument dieser kartierten Zeit bildet dabei das übliche T-O-Diagramm, mit dem sich die Ebstorfer Karte an die Tradition von Isidors Etymologiae hält und das die Welt in heilsgeschichtlicher Perspektive nach Osten ausrichtet. Dieses Schema wird durch die Meere und Flüsse realisiert, droht indes durch deren vielfältige Verbindungen förmlich zu zerfließen und erscheint  34 Vgl. zur Wort- und Begriffsgeschichte von mappa bes. Ruberg 1980, 553f., der zugleich erstmalig in der nötigen Grundsätzlichkeit auf die Rolle der Legenden aufmerksam gemacht hat.  35 Vgl. dazu besonders die beiden frühen Beiträge: von den Brinken 2008a; dies. 2008b.

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zudem in einer verschobenen Form.36 Diejenige Außenlegende, in der die Weltteile des Orbis mit ihren Namen genannt werden, führt es darum in graphischer Form eigens noch einmal vor Augen (6/A1).37 Die zusätzliche graphische Akzentuierung macht für den Betrachter offenkundig, dass dieses Schema den Buchstaben τ ergibt und damit die Kreuzesform wiederholt. Das markiert noch einmal ganz allgemein: Die Karte liefert von vornherein keine Abschrift einer konkret vermessenen Welt, sondern sie basiert auf einer christologischen Weltdeutung. Nicht die Interpretationsform wird hier einer irgendwie empirisch-neutralen Grundlage aufgeprägt, sondern umgekehrt werden den verschiedenen Weltdeutungsmodellen physikalisch-räumliche Kenntnisse eingeschrieben. Die Ebstorfer Karte folgt darin allgemein der Tradition der Buchkarten, denen es zuerst um semantische Orientierung zu tun ist: Es geht um die Bedeutung der Welt, erst diese ermöglicht es, sich in ihr zurechtzufinden. Die zusätzliche Akzentuierung des T-O-Schemas in der Ebstorf-Karte macht aber auch ganz konkret deutlich: Das sinnkonstituierende Angebot der Karte beruht auf einem diagrammatischen Denken. Dass die diagrammatische Ordnung eine ausgezeichnete Interpretationsmöglichkeit der Karte eröffnet, hat jüngst Hans Jürgen Scheuer in seiner Besprechung zum Kugler-Atlas hervorgehoben. Dazu regt Scheuer den Weg über eine regelrechte „Genealogie des Diagramms“ an.38 Die weitreichenden Folgen dieser generellen Forderung lassen sich erst allmählich in der sich formierenden Diagrammatik-Diskussion absehen.39 Für das Folgende muss es darum genügen, stark verkürzend das diagrammatische Prinzip für den vorliegenden historischen Einzelfall anzudeuten. Im Interesse einer diagrammatischen Ordnung scheint das T-O-Schema die Kreuzesform auf den Buchstaben τ zu reduzieren: Weil sich erst so ein klares dreiteiliges Kreisdiagramm mit eigenen logischen Konsequenzen ergibt. Diese Eigenlogik des Diagramms erklärt seine praktische Mächtigkeit. Generell lassen sich Diagramme als zweidimensionale topische Sinnbildungsraster auffassen, die ganz bestimmten Verknüpfungsprozeduren Evidenz verleihen und zugleich Spielfelder  36 Zur Verschiebung Kugler 2007a, Bd. 2, 15f., und ders. 2007b, hier 176–184.  37 Ders. 2007a, Bd. 2, 81.  38 Scheuer 2009, 427.  39 Vgl. zum Begriffsverständnis grundsätzlich Bauer/Ernst 2010, bes. die Differenzierung in mentale und materielle Diagramme (18–21) sowie in das Diagramm und das Diagrammatische (31– 35) mit der sprachlich-repräsentationslogisch begründeten Kritik am primär graphischen Ansatz von Sybille Krämer, der sich als konzeptionelles Gegenstück verstehen lässt. Vgl. etwa Krämer 2009, 2010, 2011, 2012. Die weitergehende Verbindung von Narrativik und Diagrammatik über den Ansatz von Paul Ricœur bei Bauer/Ernst 2010 (100–105) ist m. E. ebenso begrüßenswert wie kurzschlüssig, weil sie die narrative Hermeneutik Ricœurs (Ricœur 1986; Ricœur 1988– 91) in eine Heuristik umzufunktionieren versucht und auch Ricœurs Aristotelesinterpretation in Zeit und Erzählung in der vereinfachenden Zuspitzung auf einen ziemlich realistischen Handlungsbegriff nicht gerecht wird. Demgegenüber wäre der semantische Primat des Mythos/der Geschichte festzuhalten, um auf dieser Basis, dann wieder ganz im Sinne von Bauer/Ernst 2010, den Experimentalcharakter des Erzählens im Diagramm zu untersuchen: freilich nicht einfach als Experiment mit fiktiven Wirklichkeitsentwürfen, sondern vielmehr als experimentelles Spiel mit Sinn und Bedeutung.

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für deren Erprobung bereitstellen. Diese Minimaldefinition vorausgesetzt, kommt es aus geographischer Sicht, wenn man so will, im T-O-Schema zu semantischen Raumkrümmungen:40 Der diagrammatischen Ordnung zufolge rücken zunächst Orte an der Peripherie des Kreisschemas in ihrem jeweiligen Segment zusammen. Ein auffälliges Merkmal ist insbesondere die detaillierte und damit vergrößerte Darstellung Norddeutschlands mit den Orten Braunschweig, Lüneburg und natürlich besonders dem Kloster Ebstorf, das auf der Kartenfläche von Soest genauso weit entfernt liegt wie von Island (50/B1f.).41 Dass die Flüsse und Gewässer einerseits als semantische Grenzen wirksam werden – die etwa Island von der Region Lüneburg-Braunschweig trennen – und dass die Gewässer andererseits wieder eigene semantische Bezirke konstituieren, deren Binnengliederung hier noch einmal durch die Ausrichtung der Ikonogramme für die Städte unterstützt wird,42 ist diagrammatisch konventionell. Auffällig ist jedoch, dass im T-O-Diagramm durch den Buchstaben τ sinnfällig wird, wovon die Macht der diagrammatischen Deutungskonvention eigentlich abhängt. Anders als etwa in neuzeitlichen naturwissenschaftlichen oder technischen Diagrammen macht das T-O-Diagramm seine epistemologische Begründung offensichtlich, statt sie diskret zu verschleiern. Außerdem verrät der Legendenkommentar zum T-O-Diagramm auch noch sehr deutlich, dass Diagramme keine bloßen graphischen Medien, sondern mentale Medialisierungen sind. Die Legende am Kartenrand verdeutlicht nämlich nichts weniger als ein Schema, das man nach der Lektüre in Erinnerung behalten muss, um es dann im Orbis wiederzufinden. Das T-O-Diagramm der Ebstorfer Karte erweist sich so als eine dezidiert mentale Projektion. Die Mittenzentrierung dieser Schemaprojektion ergibt dann einen engen Bezug zwischen dem randständigen Ebstorf und Jerusalem als zentralem Ort des Heils. Eigens werden für Ebstorf drei Märtyrergräber verzeichnet (50/B2, 14),43 womit der Ort in Analogie zum Grab Christi in Jerusalem gesetzt wird, das mit dem zentralen Auferstehungsbildnis Christi den Mittelpunkt der Karte markiert.44 Die Hoffnung auf Auferstehung eint die Christenheit und verbindet in der Karte speziell die Orte Ebstorf und Jerusalem – ein Zusammenhang, den auch die Beischrift zu Jerusalem herausstellt. In dieser Beschriftung wird zugleich auch nichts weniger als die grundsätzliche Orientierungsleistung der ganzen Karte expliziert: Das Ziel aller Bewegung ist sepulchrum Dominicum, quod pia aviditate querere desiderat totus orbis, quia nobilitavit illud resurgens a mortuis victor mortis (das Grab des Herrn, das

 40 Zum Raumkonzept anders: Englisch 2007. Ihre These des mathematisch-geometrischen Kartenkonzeptes (Englisch 2002) zusammengefasst auch in: Dies. 2006.  41 Zu den lokalen Wegstrecken in dem Versuch, die betreffende Kartendarstellung an reale Erfahrungshorizonte von Wegstrecken zu koppeln, Wilke 2001, Bd. 1, 143–156.  42 Vgl. Kugler 2007a, Bd. 2, 40.  43 Zur möglichen Einbettung in lokale Traditionen der Heiligenverehrung die Bestandsaufnahme bei Wilke 2001, Bd. 1, 185–187.  44 Dass die Zentrierung über den Ort Jerusalem in der Kartographie durchaus nicht selbstverständlich ist, betont Baumgärtner 2001, 300f.

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aufzusuchen der ganze Erdkreis mit frommem Eifer verlangt, weil der Sieger über den Tod es durch seine Auferstehung verherrlicht hat [32/A1, 2, 11–14]).45 Diese Zentrierung auf Jerusalem als Mittelpunkt gibt demnach die Richtung der Spielzüge im Kartendiagramm vor. Sie lässt die zweidimensionale Kartenfläche konzentrisch werden, aber sie verleiht der Spielfläche noch keine Räumlichkeit. Im Rahmen dieses Ordnungsverfahrens lassen sich dann auch lineare Entfernungsangaben eintragen, die einer geometrischen Auffassung der Fläche entsprechen: Gerade für die zwischen den wichtigsten Orten des Heiligen Landes zu überbrückenden Entfernungen finden sich präzise Meilen-Angaben (32/A1, 1–6; B2, 20). Sie mögen auf die Tradition der Itinerare verweisen.46 Festzuhalten ist jedoch, dass solche Raumlängen in der Exegese als Zeitlängen der Heilsgeschichte verstanden, d. h. nicht nur metrisch, sondern vor allem auch semantisch interpretiert wurden.47 Ähnliches gilt auch für andere heilsgeschichtlich wichtige Orte: Ein präzises Wissen liefert die Karte etwa über den Verlauf der Paradiesflüsse (bes. 4/B1, 8, 7–18; vgl. 2/A1, 1, 10). Auch die Paradiesflüsse sind gerade keine bloßen geographischen Daten, sondern semantische Achsen. D. h. solche geographischen Angaben in Maß und Zahl konkretisieren sich nur deshalb, weil Maß und Zahl über die Orte eine zeitliche Bedeutung haben und nicht umgekehrt: Die semantische Intentionalität der Wahrnehmung bestimmt den Sinn der Orte wie ihrer Vermessung.

III. Von der diagrammatischen Fläche zum diegetischen Raum Wie kann nun ein Raum aus der Kartenfläche emergieren? – Der Schlüssel zu diesem Problem scheint ebenfalls in der semantischen Intentionalität und ihrer Zeitlichkeit zu liegen. Offenbar muss sich die Raumvorstellung gegenüber der diagrammatischen Flächigkeit des T-O-Schemas geradezu durchsetzen. Dies zeigt sich, wenn man versuchsweise einen beliebigen Punkt der Karte aufsucht: Der Betrachter kann an diesem Punkt nämlich nicht einfach verweilen, wenn er seinen Sinn erfassen will. So wie er zur Realisierung des Diagramms ständig zur Lektüre an die Karte herantreten und zur memorialen Verarbeitung zu ihr Distanz nehmen muss, so beginnt er auch auf der Kartenfläche zur Kontextualisierung des einzelnen lokalisierten Datums eine vor- und rückgreifende Bewegung zu vollziehen, die den Einzelpunkt seiner Betrachtung paradoxerweise ebenso entgrenzt wie semantisch anreichert. Diese Bewegung ist damit aber nicht nur eine diagrammatische, sie ist zugleich auch eine narrative. Denn so wenig wie es in der Zeit ein bloßes Jetzt gibt, so wenig gibt es in der kartierten Welt ein bloßes Hier. Die jeweiligen Orte entstehen erst über eine narrative Bewegung, deren überschüssige Dynamik im Dia 45 Vgl. Hengevoss-Dürkop 1991, die sogar von einer regelrechten „Sogwirkung“ (205) des Bildelements spricht, diese Wirkung dann aber, wie zum Erweis des ästhetischen Eindrucks, sehr konkret, nämlich im Sinne einer Kreuzzugsideologie interpretiert.  46 Kritisch Kugler 2007a, Bd. 2, 58. Generell zur Herleitung der Weltkarten aus Itineraren etwa Harvey 1996, 50–53.  47 Vgl. Ohly 1977, 182–191.

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gramm noch nicht vorkommt. Es handelt sich um eine Dynamik der Grenzüberschreitung, deren allgemeines Modell sich vielleicht am besten der semantischen Erzähltheorie Jurij Lotmans entnehmen ließe.48 Ihre narrative Struktur übersteigt und bereichert die Möglichkeiten der diagrammatischen Logik insofern, als sie unter Verwendung des Diagramms neue, gewissermaßen bogenförmige Spielzüge kreieren kann, die das Diagramm selbst gar nicht vorsieht. Ein Ergebnis dieser narrativen Freisetzung der diagrammatischen Ordnung ist die Emergenz des Raumes als Diegese. So ordnet sich die Welt zwar um das Zentrum der Erlösung und Auferstehung kreisförmig-flächig an. Damit gerät aber chronologisch Fernes ebenso in die Peripherie wie Heilsfernes. Erst das sakrale Narrativ lässt hier eine differenzierte Interpretation zu. Das Paradies, im äußersten Osten gelegen, hat durch seine heilsgeschichtliche Position vor dem Sündenfall einen Ort in der Welt, es ist aber, wie eigens in der Legende dazu vermerkt wird, durch seine eigene Überzeitlichkeit der Welt enthoben und darum räumlich durch einen Flammenwall von dieser getrennt (2/A1, 12–14; 4/B1, 8, 4).49 Hier gehen diagrammatische Position und Geschichte zusammen und ergeben eine imaginäre Tiefendimension. Nur diagrammatisch bestimmt ist dagegen das heilsferne Andere, das an den Rand des Weltkreises gedrängt verzeichnet wird. So gehören die Monstra an den äußersten Rändern der Welt zwar seit der Historia Naturalia des Plinius zum naturkundlichen Wissensbestand (z. B. 9/A1, 2–3; 21/A1, 7; 28/A1 u. B1), diese Wesen bleiben aber unbegreiflich, solange sie nicht narrativ, d. h. heilsgeschichtlich gedeutet werden. Ihre Erscheinungen bleiben unbewegt flächig. Erst auf der Grundlage des sakralen Narratives werden sie nicht nur in einem einfachen Perzeptionsakt als unverstandene curiosa bestaunt, sondern als Teil der Heilsgeschichte verstanden und darum als mirabilia wahrgenommen.50 Vor diesem Hintergrund dürfte es seinen Sinn haben, wenn Weltkarten im Mittelalter generell auch als estoire bezeichnet werden. Dieser begriffsgeschichtliche „Reflex der Zusammengehörigkeit von Text und Bild“ zielt,51 narratologisch gesprochen, auf die histoire-Ebene als gemeinsamer narrativer Grundlage von Bildwie Textinterpretation. Die Position einer curiositas, die der heilsgeschichtlichen Deutung noch voraus liegt, kommt sogar auf der Karte selbst vor: In der Spur des historisch prototypischen Weltentdeckers Alexanders des Großen, dessen estoire beginnend mit seinem Herkunftsland Makedonien (39/A1, 4) verzeichnet wird.52 Alexander fungiert – wie in der verzweigten mittelalterlichen Erzähltradition zu ihm vorgeprägt – geradezu als ein Modellfall einer unzulänglichen Weltwahrnehmung. Die Schwierig 48 Dass Lotman vom Raum als einer semantischen Struktur im Sinne eines mehrdimensionalen semantischen Diagramms spricht, dass dieses Raumkonzept also kategorial anders konzipiert ist als ein primär mimetisch konzipierter narratologischer Begriff von Diegese, ist ganz entschieden festzuhalten. Vgl. Lotman 1993, 311–340.  49 Vgl. zuletzt Walther 2006.  50 Vgl. Münkler 2007, hier 163 u. 169.  51 Ruberg 1980, 554; vgl. Arentzen 1984, 226.  52 Ausführlich Kugler 2000; zuvor ders. 1987, 23–27; Elster 1997.

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keiten seiner Wahrnehmung sind doppelte: Seine Wahrnehmung der Welt ist protonarrativ und, über den Begriff der curiositas bedingt, an eine visuelle Weltauffassung gekoppelt, die der diagrammatischen Ordnung vorausliegt. So kann man sehr genau sagen: Das Problem Alexanders des Großen besteht generell in der Geschichtsblindheit seines Handelns. An dem daraus resultierenden Sinnproblem arbeiten die Alexanderromane, es zeigt sich aber auch an den Wundern der Karte: Ohne eine konzise narrative Struktur ist ihr Raum semantisch leer. Er beginnt sich darum zu weiten und von vornherein jeder diagrammatischen Ordnung zu entziehen. Die Bewegung in ihm wird rastlos, es kommt zu einer Inflation von sinnleeren Beobachtungen, zu verständnislosem Staunen, bis sich der Raum letztlich auflöst. Diese bekannte, ungerichtete Suchbewegung Alexanders dokumentiert die Karte in einer Fülle von Hinweisen und Ikonogrammen, beginnend mit dem heilsgeschichtlichen Zeitindex, er habe die apokalyptischen Völker Gog und Magog bis zum Weltende eingeschlossen (8/B2, 7). Auf der Grundlage dieser Angabe vermag der Rezipient die Stationen von Alexanders Weg im Sinne einer Geschichte zu vervollständigen, über Alexander entstehen so in der heilsgeschichtlichen Außensicht immer wieder Ansätze einer imaginären Diegese. Weil aber Alexander selbst von der Heilsgeschichte nichts weiß, wird ihm schon im Roman seine Geschichte von einer Eroberungskarriere zu einem semantisch leeren Entdeckungsgeschehen. Als Stationen seiner Reise werden etwa das Grab des Darius in der Nähe von Parthien (18/A1, 2), der Fluss Araxes, den Alexander überquert (24/A1, 2), sein Lager in Ägypten (42/A1, 7) und Ale­ xandria (41/A1, 3) verzeichnet. An das offene Ende der Reise gehört die Begegnung mit dem Volk der Ichthyophagen (13/A2, 1), und an anderer Stelle verzeichnet die Karte, Alexander habe die Tiefe des Meeres bei der Insel Miopar erkundet (36/B1, 9). Alexander hat damit alles gesehen und dennoch nichts Wesentliches verstanden. Denn eine einfache Visualität, die der Geschichte vorausliegt, hat kein Ohr für die narrative Semantik. Weil Alexanders kartierter Reiseweg damit nichts weniger als das zentrale narrative Sinnproblem der Alexanderromane aufruft, heißt das im Rückschluss auf das Wahrnehmungsproblem der Karte und ihrer diagrammatischen Ordnung: Wenn Alexanders protonarrative Weltwahrnehmung seine Schwierigkeiten mit Sinn und Raum erklärt, dann könnte wiederum das sakrale Narrativ mit seiner Dialektik aus Visualität und Klanglichkeit, aus Differenz und Konsonanz zu einer diegetischen Lösung des Raum-Problems führen: Erst wo es eine solche Geschichte gibt, lassen sich sinnvolle Räume imaginieren und diagrammatisch strukturieren, wo sie aber fehlt, bleibt die Welt flach. Und so legt die Karte durch ihren expliziten Bezug zur Heilsgeschichte einen Deutungsakt nahe, der die Sicht der Dinge grundsätzlich verändert. Die Karte erst hebt die nur erstaunlichen Perzeptionen Alexanders auf das Niveau einer christlichen Zeitdeutung, indem sie die Orte und Figuren heilsgeschichtlich einordnet und von curiosa zu mirabilia werden lässt. Diese heilsgeschichtliche Interpretationsweise ist sogar sofort mehr als nur eine narrative Verräumlichung der diagrammatischen Ordnung. Die Legende zur heilsgeschichtlichen Zeit akzentuiert die

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Karte nicht nur als Geschichtswerk, sie macht vor allem auch deutlich, dass die Vergegenwärtigung des Heils aufruhend auf dem narrativen zugleich auch einen zyklischen Zeitbegriff verwendet. Ausgehend von einem Exzerpt aus dem Schöpfungsbericht der Genesis in einer Abwandlung von Hugo von St. Victor, bildet das siebentägige Schöpfungswerk den Anfang der Heilsgeschichte, die auf ihr Ziel zustrebt. Aber das Heil ist kein narratives Ende, es ist dessen Aufhebung in Ewigkeit. In dieser Heilsgeschichte kehrt das Heil dann wie ein endloses Echo wieder: Die dominico dixit deus ‚fiat lux‘. Die dominico resurrexit a mortuis. Die dominico factus est mundus. Die dominico natus est in mundum. Die dominico baptizatus est […]. Alia multa in die dominico fecerat signa modo ineffabili (6/A 2, 13–26).53 Am Tage des Herrn vollbringt Gott die Zeichen seines Heils: Die Geschichte der Welt ist demnach Tag für Tag als eine zyklische Wiederkehr des göttlichen Offenbarungswirkens anzusehen. Für die Karte müsste dies bedeuten: Ihr Weltbild wäre als ein Zeichenensemble als Ganzes lesbar, wenn sich ihr narratives Grundmuster mit der zyklischen Zeitstruktur verbinden ließe.

V. Klang und Immersion Auf diesen zyklischen Vergegenwärtigungsprozess führen, wie Hartmut Kugler plausibel machen konnte, jene Merkmale der Karte, die in einen liturgischen Kontext mit seinem typisch zyklisch-vergegenwärtigenden Zeitverständnis verweisen.54 An zentraler Stelle verwendet die Ebstorfer Karte den Bildtypus der vera icon und kombiniert ihn, wie spätere Andachtsbilder dies tun, mit den Gliedmaßen Christi zum Sinnbild der sieben edlen Glieder, die für die sieben Gaben des Heiligen Geistes stehen (4).55 Das Haupt steht dabei für die Gabe der sapientia, das linke Auge für das consilium, das rechte für den intellectus, den Füßen sind timor und pietas zugewiesen, den Händen wären fortitudo und scientia zuzuordnen. Diese Zuordnungen werden zum Teil möglich über ein abgewandeltes Psalmenzitat (29/13; vgl. Ps. 117, 16), vor allem aber auch über zwei Zitate aus Antiphonen. Mit dem Nachweis der Antiphonen konnte Kugler wahrscheinlich machen, dass sich die Karte mit „den Bild- und den Schriftmarkierungen der Gliedmaßen Christi […] in einen liturgischen Kontext ein[knüpft]. […] Die sieben edlen Glieder des Corpus Christi boten sich den Augen der Betrachter als Ruhepunkte und Haltestationen bei ihrem spirituellen Gang um und durch die Welt. Sie waren Kreuzungspunkte von Welt- und Selbstbetrachtung.“56 Diese These vom liturgischen  53 Zu den Vorlagen genauer Kugler 2007a, Bd. 2, 84f.  54 Dazu die eindringliche Beschreibung des „liturgischen Zeitgedächtnisses“, in dem „Wort, Melodie und Gebärde der Liturgie“ erst dem Sichtbaren seinen Universalitätsanspruch verleihen, von Ohly 1977, 254–267, zit. 266f.  55 Dass die Funktion als Andachtsbild ganz wesentlich vom vera icon-Inserat abhängt, zu dessen Gunsten das Paradies auf der Karte eigens nach links verschoben wird, zeigt Ungruh 2006, bes. 308–314 u. 327.  56 Kugler 2007a, Bd. 2, 22f.

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Kontext, so bescheiden sie vorgetragen wird, bedeutet eine aufsehenerregende Entdeckung. Sie erklärt den ästhetischen Charakter der Karte nämlich auf grundlegende Weise neu. Zur Ästhetik der Karte kann man allgemein auf die Rezeptionsanweisung in der anfangs zitierten Außenlegende zur Definition der mappa mundi verweisen. Dort war den Betrachtern der Karte nicht nur non pravam […] utilitatem, sondern zuletzt sogar gratissime speculationis dilectionem, ein höchstes Vergnügen der Betrachtung, versprochen worden (7/A2, 6–9). Die Bewegung in der Karte ist damit dezidiert als ein Akt ästhetischer Erfahrung konzipiert. Nimmt man dies mit der Mahnung in der Beischrift zum Auferstehungsbildnis im Zentrum der Karte zusammen, sich zum Grab des Herrn aufzumachen, so ergibt sich die Funktion der Karte als Anleitung für eine spirituelle Reise, die der Betrachter der Karte in zyklisch-wiederholten Meditationen vollführen soll. Diese spirituelle Reise des Gläubigen hebt sich vom Typus eines Weltreisenden wie Alexander, der seine Welt nur visuell zu erfassen versucht, auf höchst charakteristische Weise ab. In Alexanders narrativem Scheitern findet sie ihr konzeptionelles Anderes. Der spirituelle Weg des Rezipienten verfügt dazu nicht nur über die diagrammatische Ordnung der Karte und die Struktur des sakralen Narrativs als Interpretationsschlüssel. Vielmehr ist seine damit ermöglichte Interpretationsbewegung zyklisch und musikalisch: Wenn sein Wahrnehmungsprozess nämlich, wie in der zyklischen Zeit der Liturgie üblich, in Verbindung mit dem Wechselgesang der Antiphonen steht, wenn die Karte also im sakralen Klangraum der Kirche des Klosters Ebstorf noch einmal zusätzlich animiert wird, dann wandelt sich auch ihr narrativ aufgespannter Imaginationsraum vollends in ein sakrales Klangphänomen. Die latente, strukturelle Musikalität der Geschichte wird im klanglichen Sakralraum der Kirche medial konkret.57 In diesen so gewonnenen sphärischen Klangraum erst vermag der Gläubige einzutauchen. Diese immersive Versenkung orientiert sich an den Leibesmerkmalen Christi und ermöglicht dem Rezipienten eine Integrations- und Imaginationsleistung, indem sie den Leib des Rezipienten selbst zum inneren Ort der Wahrnehmung macht. Anhand der Bildzeichen der sieben heiligen Glieder kann sich der Betrachter der Karte auf eine mentale Reise zum Heil begeben, die erstens diagrammatisch visualisiert, zweitens narrativ verräumlicht, letztlich aber erst klanglich zu einer räumlich erlebbaren, sakralen Sphäre wird, in die sich der Gläubige versenken kann.58

 57 Charakteristisch dafür, wie die Frage nach der Klanglichkeit des Raumes in der Mediävistik auf halbem Wege steckenbleibt, d. h. eher nach dem Medium des Klanges in Räumen als nach seiner grundsätzlichen Funktion für die Medialität des Raumes fragt, ist ihre Behandlung in der forschungsgeschichtlich folgenreichen Studie von Wenzel 1995, 105f. zur Kirche als akustischem Raum, 142–158 zur „Klanggestalt des Raumes“ (142).  58 Zur medialen Dynamik Herberichs 2007, 204–208, jedoch mit einem schriftlich konzeptualisierten Medialitätsverständnis, d. h. dem klassisch-gegenläufig zur Konsonanz angesiedelten neostrukturalistischen Insistieren auf Differenz: „In der schwer überschaubaren Kopräsenz der the-

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Dabei ist die Immersion ein zutiefst semantischer Prozess. Imaginationstheoretisch wäre dieser Befund folgenreich, weil er gegenüber der aktuellen Verwendung des Immersionsbegriffs in den Neuen Medien am historischen Beispiel des sakralen Narrativs zeigen könnte, dass Immersion nicht einfach darin besteht, sich in einen visuell konzipierten Raum hinein zu phantasieren, wie die Begriffsbildung am Cyberspace auf den ersten Blick vielleicht glauben macht. Immersion erweist sich als Praxis einer historischen Raumsemantik, die Visualität innerhalb einer klanglichen Sphärenlogik konzipiert. Schon das Wort „Immersion“ ist einem sakralen Zusammenhang entnommen. Immersion ist Eintauchen bei der Taufe.59 Folgt man der Intuition dieser Begriffsbildung, so hieße das weiter: Immersion ist eine ästhetische Erfahrung, vermittels einer klanglichen Logik in Bedeutung einzutauchen. Für den Gläubigen ist diese semantische Versenkung offenbar möglich, weil er den sakralen Raum als einen gestimmten Raum erfährt. Die klangliche Logik des gestimmten Raumes könnte die Ebstorfer Weltkarte praktisch durch die narrative Auflösung von Bild in Klang realisiert haben. In der eminenten Klanglichkeit dieser Auflösung verschwindet das Problem der Differenz. Dies gilt schließlich auch noch für den von der neuzeitlichen Wissenschaft so scharf gezogenen Gegensatz von Emotionalität und Rationalität. Dass Emotion und Kognition in der Musik eine gemeinsame Rationalität aufweisen, nach der sie zusammenspielen, ist eine musikwissenschaftliche Grundeinsicht des Mittelalters. Hält man sich vor Augen, dass Musik als mathematische Wissenschaft die Leitdisziplin des mathematischen Quadriviums ist, so zeigt dies schlagartig die historischen Verzerrungen, die sich unter der Ägide einer neuzeitlichen Zweckrationalität mit ihrem reduzierten Verständnis von Maß und Zahl ergeben. So wie die mittelalterliche Mathematik, wie man als Literaturwissenschaftler sehr unbeholfen sagen könnte, offenbar weniger syntagmatisch auf Berechnung von Ergebnissen, als vielmehr paradigmatisch auf die Erkenntnis von Proportionen ausgerichtet ist, so ist die Musik wiederum eine mathematische Wissenschaft von Konsonsanz und Harmonie, die zugleich ethisch ist.60 Diesen doppelten ethischen und theoretischen Anspruch hat jedenfalls Boethius in De institutione musica ausformuliert, und die Musik danach in die musikalische Grundordnung der Welt, die musica mundana, die innere menschliche Musik, die musica humana, sowie die Instrumentalmusik unterteilt.61 Weil dabei alle Musikbereiche dem gleichen konnektiven Prinzip der akustischen Schwingung folgen, geht die Bewegung der menschlichen matischen Ebenen wird konsequent der differenzierende Blick des Betrachters eingefordert“ (204).  59 Vgl. Wiesing 2005, 107.  60 Unde fit ut, cum sint quattuor matheseos disciplinae, ceterae quidem in investigatione veritatis laborent, musica vero non modo speculationi verum etiam moralitati coniuncta sit. „Daher kommt es, dass, weil es vier mathematische Disziplinen gibt, die übrigen gewiss mit der Erforschung der Wahrheit beschäftigt sind, die Musikwissenschaft aber nicht allein mit der Theorie, sondern auch mit der praktischen Ethik verbunden ist.“ Boethius 1867/1966, I, 1; 179, 20–23. Übersetzung H. B.  61 Ebd., I, 2; 187, 20–23.

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Seele in zwei Richtungen, ist Musik sowohl emotional hoch bewegend als auch ein ausgezeichnetes Erkenntnismedium des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt. Als Abbreviatur dieser neuplatonischen Auffassung formuliert auch Isidor: Itaque sine Musica nulla disciplina potest esse perfecta, nihil enim sine illa. Nam et ipse mundus quadam harmonia sonorum fertur esse conpositus, et caelum ipsud sub harmoniae modulatione revolvi. Musica movet affectus, provocat in diversum habitum sensus. „Darum kann keine wissenschaftliche Disziplin ohne Musik vollkommen sein, denn nichts ist ohne sie. Denn es heißt auch die Welt selbst sei in einer gewissen Harmonie der Klänge geordnet, und der Himmel selbst drehe sich nach den Regeln der Harmonie. Musik bewegt das Gemüt, sie ruft die Sinne zu unterschiedlichen Stimmungen auf.“62

Diese pluralen Vorstellungsmuster im Geiste der Musik sind aber dann nicht wesentlich different, wenn es gelingt, auf ihren Einklang zu hören. In ihnen sind Äquivalenzen nicht einfach, wie unter der Ägide der visuell markierten Differenz, äußere Gleichheiten, sie sind wesentliche Übereinstimmungen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht müsste dazu der nochmalige Hinweis auf die philologische Auffassung der Zeitwahrnehmung am ehesten verdeutlichen, was den Charakter dieser Übereinstimmung ausmacht.63 Die lateinische Metrik differenziert ihren Takt nicht durch ein Stakkato von Akzenten, sie gewinnt über das Messen von Längen einen melodischen Rhythmus: Nicht die bloße Differenz von Zeitquantitäten, sondern die qualitative Gemeinsamkeit ihrer Dauer bildet ihren Mittelpunkt. Ohne ein Verständnis dieses philologisch-musikalischen Modells bleibt nicht nur das Zeitdenken nach Augustinus völlig unverständlich, man verfehlt auch das, was Ricœur den „melodischen Kern“ der Geschichte genannt hat. Den darin angedeuteten Basisnexus dann in Anlehnung an Musik und Philologie als „Übereinstimmung“ zu bezeichnen, ist gewiss eine Metapher, aber ebenso auch ein Begriff, denn auch die Metapher ist ihrer semantischen Struktur nach nichts anderes als eine Übereinstimmungsbehauptung. Deren Struktur gilt dann im Detail wie auch für das Ganze des metaphorischen „mittelalterlichen Weltbildes“ auf der Karte: Denn dieses Weltbild ist erst dann ein visuelles Ereignis, wenn man seinen Sinn über den dialektischen Prozess der narrativ-zyklischen Selbstversenkung aus ihm herauszuhören vermag. Was es heißt, dass die klangliche Logik der Ebstorfer Karte über das sakrale Narrativ eine Immersion in ihre Semantik ermöglicht, mag abschließend noch einmal das naheliegende Beispiel der Ebstorfer Märtyrergräber und ihr Verhältnis zum Grab Christi als dem Ort der Auferstehung zeigen. Einem nur visuellen Raumkonzept zufolge müsste man sagen: Der semantische Zusammenhang ermöglicht es, sich aus dem Hier des Ortes Ebstorf zum Dort des Ortes Jerusalem zu bewegen. Dann tut man freilich so, als wäre der Raum gefaltet und man könnte die Raumfal 62 Isidor 1911/1966, III, XVII. 1f. Übersetzung H. B.  63 Vgl. zum Verständnis Störmer-Caysa 1996.

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te einfach durchstoßen. Diese Erklärung über die Faltung des Raumes klingt vielleicht nach der Rhetorik moderner Physik, aber sie verfehlt den historischen Raumbegriff, um den es ihr geht. Sie reduziert den Raum auf eine Fläche, die sie wie eine Karte faltet. Damit bleibt sie bei der Differenz von Hier und Dort, die sie – visuell gedacht – aufeinander abbildet. Im klanglichen Raum der Semantik verschwindet diese Differenz von Vorbild und Abbild, sie wird zur Übereinstimmung des Gläubigen mit Gott. Über das sakrale Narrativ gelangt der Gläubige, und nur er, in jene ästhetische Variante des gestimmten Raumes, die sich als sakraler Raum bezeichnen lässt. Dieser Raum lässt sich am Beispiel der Ebstorfer Karte diagrammatisch vorkonzipieren, dann narrativ realisieren, aber er ist ästhetisch letztlich erst in einer zyklisch-klanglichen Immersion zugänglich. Er gewinnt als eine imaginäre, mentale Konstruktion Wirklichkeit, die sich für den Gläubigen jederzeit und überall aufspannen lässt, – für alle anderen ist er niemals und nirgends zu finden.

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Hartmut Bleumer

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Nadine Mai

Leid und Licht Strategien der Imagination in der Jerusalemkapelle zu Brügge Jerusalem has always been an important subject of Christian devotion as the place of the Passion of Christ as well as the eternal City of Gold described in the Apocalypse. Transferring Jerusalem is strongly connected with monumental reproductions of the Holy Sites, bringing the believer closer to the historical places of the Passion. By tying the narrative into material reproductions, it was possible to feel the sorrow of Christ. The Jerusalem Chapel of Bruges, built by the Adornes family during the 15th century, offers such a context, being a panoramic stage for imitation and imagination, alluding as it does to Jerusalem not only through its external appearance, but also through its internal structure, iconography and liturgical use. The tower in particular, composed of a ground-level crypt and a raised choir, reveals the influence of the Golgotha chapel within the Church of the Holy Sepulchre in Jerusalem. By correlating this architectural motif with a monumental Calvary relief incorporating the cross altar, the chapel refers particularly to Jerusalem as the place of the Crucifixion. To make the redemptive power of this event visible, the chapel tries to evoke a certain atmosphere by establishing accentuated contrasts of light around the Calvary. With respect to its architectural setting, the chapel represents three different spaces of light revealing the significance of the Passion within salvific history. The crypt doors on the left and right are hidden away in the shadows of the large choir steps, thus symbolizing the darkness and mystery of the Holy Sepulchre. In contrast to this, a spotlight illuminates the choir doors at the top of the stairs. In this way, the illuminated doors show the way from the lower, dark, earthly sphere to the higher, brighter, heavenly sphere of Jerusalem, while at the same time providing a visual representation of the ascension of the soul. The sculptures of St. Mary and St. John above the choir doors therefore represent sorrowful followers of Jesus at Mount Calvary on the one hand and intercessors on the other, positioned as they are at the passage to the choir, whose isolation and illumination communicate a sacred space which clearly alludes to the heavenly city. The contrast of a dark, lower room and a bright, upper room, created here by the tower, is also a feature of other monuments dealing with Jerusalem and the Holy Sepulchre, e.g. in Görlitz. Finally, the choir light induced by the tower accentuates the three Calvary crosses. If we associate the choir wall with Golgotha, this illumination strategy alludes likewise to a symbolic representation of Christ’s triumph over death. In addition, the setting of light refers to the Ascension of Christ, an allusion which has been around since late antiquity. In this regard, the centrally displayed benefactor’s tomb in front of the Calvary must be considered as a distinct striving for resurrection by members of the Adornes family. The highly affective impact of darkness and luminosity created within the chapel must also be seen in relation to the twelve widows living next to the chapel and the liturgical events taking place within it, especially on Palm Sunday. For them, the interplay of sorrow and light offers a kind of “pilgrimage” and, at the same time, a kind of prophetic vision of heaven.

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I. Das Entstehen innerer Bilder ist ein gefordertes und zugleich immer wieder problematisiertes Phänomen der mittelalterlichen Glaubenswelt, sowohl hinsichtlich der daran beteiligten visuellen Impulse, als auch den Konturen ihrer Wirkmacht. Einerseits vom Raum abhängig, der durch ein differenziertes Reizangebot um den Betrachter herum entstand, entzogen sie sich als immanente Prozesse andererseits der Obhut klerikaler Autoritäten. Jedoch sind es gerade deren reich ausgestattete Kapellen und Kirchen, zentrale Organe der „Medialisierung des Heiligen“1, die die Vorstellungskraft in besonderer Weise beeinflussen sollten. Neben der Architektur hatten hier Bildwerke, Votivobjekte und liturgische Gefäße, rituelle Gesten und Klänge Anteil an der Einstimmung des Gläubigen und der Entfaltung seiner inneren Schau. Ob während liturgischer Feiern oder im stillen Gebet am Privataltar, das dichte Gefüge aus Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi sollte den Gläubigen mehr und mehr aus seiner materiellen Lebenswirklichkeit entheben. Die gezielte Anordnung von Lichtquellen, beziehungsweise ihre künstlerische Einfassung, der wir uns im Folgenden zuwenden, war hieran in erheblichem Maß beteiligt. Neben der künstlichen Beleuchtung durch Kerzen wurde eigens das natürliche, von außen einfallende Licht genutzt, um den Gläubigen in der Reizfülle sakraler Räume Halt zu geben. Zugleich entwickelte es ein imaginatives Potential, das sich insbesondere aus der Materialität und Disposition der Lichtquelle und seines Gegenübers schöpfte. Vor allem die vom Licht be- oder eben unberührten Ausstattungsgegenstände, Architekturformen oder Handlungssituationen wären damit als Bedeutungsträger zu befragen, worauf Daniela Mondini jüngst noch einmal hingewiesen hat.2 Unverzichtbar waren Licht und Schatten etwa für die Kommunikation zwischen Raum und Kulthandlung. Hier vermittelten sie zwischen den verschiedenen Orten, Trägern und Objekten der Liturgie, provozierten Wahrnehmungsverschiebungen und steigerten Affekte.3 Das Licht nahm aber nicht nur auf die einzelnen Bestandteile des sakralen Rahmens direkt Bezug, sondern als „aisthetisches“4 Phänomen schmiegte es sich wie ein Raumgefühl regelrecht in die Architektur ein. Einerseits Teil der materiellen Außenwelt, blieb es gleichwohl immer dem Ephemeren verhaftet und konnte so einen seelischen Eindruck hinterlassen.5 Die spezifische Bedeutung von Licht für den Kirchenbau speiste sich nicht zuletzt daraus, dass es permanent zwischen anwesend, aber andererseits nicht greifbar changierte, als sichtbare Form sakraler Liminalität sozusagen.6 Aus theologischer und philosophischer Sicht sind solche Aspekte bereits ausführlich diskutiert und unter anderem mit der biblischen Lichtsymbolik    1 Lentes 2004, 14.    2 Mondini 2013, 11, vgl. auch Stubenrauch 2004.    3 Zur Inszenierung von Liturgie durch Architektur und Licht siehe Binding 2003, 153f.; Kratzke 2005, 95f., sowie den Beitrag von Linda Eggers in diesem Band.    4 Dazu Böhme/Böhme 2004, 156f., sowie Böhme 2006, 103f.    5 Zur Imaginationsleistung in Bezug auf Licht vgl. Wandhoff 2008, 29 und Fischer-Lichte 2006.    6 Für diese Erscheinungsform des Lichts vgl. Bandmann 1951, bes. 60f.; Faensen 1985, 88. Zur Wahrnehmung des Lichts im Kirchenraum siehe v. a. Binding 2003, 152f. und 156f.

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in Einklang gebracht worden.7 Für die Kunstgeschichte birgt der mitnichten richtige Verweis auf den ontologischen Status des Lichts jedoch immer die Gefahr, das Reallicht des Kirchenraums einseitig als Sinnbild christlicher Heilsbotschaften zu lesen, und dabei narrative Fähigkeiten, sowie die Relationen funktionaler Nuancen mit spezifischen Erscheinungsorten zu verkennen.8 Demhingegen sollte das Licht, sein vom Bauwerk geregelter Ein- und Austritt in den Raum auf die jeweils vorherrschenden Deutungen, Anforderungen und Realitäten des Sakralen hin befragt und „pragmatische“ wie „semantische“ Gesichtspunkte gleichermaßen einbezogen werden.9 Auf dem Forschungsgebiet der „Jerusalemkirchen“10 und monumentalen Nachbauten des Heiligen Grabes, das uns hier im Speziellen beschäftigen soll, sind Lichtverhältnisse etwa als Zitat- und Rezeptionsmöglichkeit der Heiligen Stätten zu denken, was einen zusätzlichen Blickwinkel erfordert. Als eine unter vielen Transfer­ optionen rekurrieren Lichtinszenierungen hier auf eine spezifische Ortsauthentizität, so dass deren Analyse die Eigenschaften und Interpretationsweisen architektonischer Vorbilder einschließen muss.11 Für einen Kontext wie Jerusalem gilt es damit weniger einer atmosphärischen Wirkung nachzuspüren, sondern vielmehr danach zu fragen, wie Lichtakzente den thematischen Nukleus Jerusalem konnotieren und welche Schlussfolgerungen sich daraus ziehen lassen. In vielerlei Hinsicht offenbaren sich die folgenden Beobachtungen so als Ergänzung. Bezüglich der von Jan Pieper formulierten Thesen zur Lichtstrategie bei Jerusalemkirchen etwa, die hier rezipiert werden, um sie an einem konkreten Beispiel zu untermauern, beziehungsweise auf neue Quellenfunde gestützt sogar auszuweiten.12 Aber auch hinsichtlich der Erforschung der mittelalterlichen Nachbauten Heiliger Stätten, die zunehmend als eigenständige, im individuellen Kontext zu verortende Monumente

   7 Zur Symbolik des Lichts im Christentum sind in Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie bereits wichtige Zusammenhänge erörtert worden. In der Religionsgeschichte und Philosophie v. a. bezogen auf Joh. 1.1–10, 8.12, 12.35–36.46 und Apok. 21.9f. u. a. von Mensching 1957; Blumenberg 1957; Ratzinger 1960; Koch 1960; Dettloff 1989, 179–193; Svilar 1983. Unbedingt zu erwähnen sind die Publikationen von Gernot Böhme und Reinhard Olschanski, u. a. zu Licht und Zeit (2004). Aufschlussreich ist zudem der von Christina Lechtermann und Haiko Wandhoff herausgegebene Tagungsband Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden (2008), hier u. a. eine lesenswerte Einführung in die Geschichte der Terminologie und Symbolik des Lichts bei Thieme 2008.   8 Dies zeichnete sich unter anderem bei den gotischen Kathedralen ab. Eine beachtliche Forschungskritik zur Deutung der gotischen „Lichtarchitektur“ bei Speer 1998, 89f. Der Raumeindruck noch einmal behandelt bei Claussen 2008, hier bes. 37f. Kritisch zu den Deutungen des 20. Jahrhunderts äußert sich Schlink 1997.    9 Die Terminologie bei Faensen 1985, 87.  10 Dieser von Jan Pieper diskutierte Begriff bezeichnet sakrale Bauwerke, die sich dezidiert mit der Heiligen Stadt, deren Bausubstanz und Symbolik auseinandersetzen. Vgl. Pieper/Naujokat/Kappler 2003.  11 Zu Fragestellungen bezüglich Transfer und Translation Jerusalems sei auf die Sammelbände von Bianca Kühnel (1997), Bruno Reudenbach (2008), Alexeij Lidov (2009) sowie Gerhard Wolf und Anette Hofmann (2012) und jüngst Bianca Kühnel, Galit Noga-Banai und Hanna Vorholt (2014) verwiesen; Jerusalemvorstellungen u. a. besprochen bei Yeager 2008 und Ehbrecht 2004.  12 Pieper/Naujokat/Kappler 2003, 17f.

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befragt werden.13 Und schließlich werden sich jene kunsthistorischen Studien wiederfinden, die das Licht vor dem ganzheitlichen Charakter der Sakralräume verhandeln, Form- und Funktionsaspekte und sowie deren gegenseitige Einflussnahme thematisieren.14

II. Zahlreiche Anknüpfungspunkte für die soeben umrissene Vielschichtigkeit der Lichtrezeption bietet die Jerusalemkapelle in Brügge, ein bemerkenswerter Stiftungskomplex des frühen 15. Jahrhunderts. Von der einflussreichen Ratsfamilie Adornes initiiert, wurde bereits 1429 eine erste Kapelle mit Namen „Jheruzalem“ zu Ehren der Passion sowie des Grabes Christi geweiht.15 Zwar wissen wir über das Aussehen dieser ersten Kapelle wenig, wie die Weiheurkunde nahelegt, bestand sie jedoch von Anfang an aus zwei Teilen: einer Kapelle mit Altar und einer niedrigeren Krypta mit Heiligem Grab. Mit einem Witwenstift im Nordosten und dem großzügigen Wohnsitz der Familie im Südosten war der Kapellenbau schon damals als Zentrum eines größeren Gebäudekomplexes geplant.16 Von Anfang an sollte er damit verschiedene Lebensmodelle und Funktionsbereiche bündeln, karitative Einrichtung, öffentliche Glaubenspraxis, Repräsentation und privates Gedenken miteinander kombinieren.17 Entsprechend nahm auch die zweite, weitaus prächtigere Jerusalemkapelle, die sich bis heute erhalten hat und mehrheitlich aus den 1470–80er Jahren stammt, ausdrücklich auf diese Aufgaben Bezug (Abb. 1). Als Bauherr kann der älteste Sohn des ursprünglichen Gründers identifiziert werden: Anselm Adornes, ein einflussreicher Diplomat und Ritter, der hierin auch sein Versprechen einlöste, bei glücklicher Rückkehr aus dem Heiligen Land, die Fami-

 13 Stellvertretend etwa Freigang 2010; Naujokat 2011; Merback 2013; Schulz 2015.  14 Neben Faensen 1985; Speer 1998; Binding 2003; Suckale 2011 der von Ernst Badstübner herausgegebene Tagungsband Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums (2005), hier besonders die Beiträge von M. Büchsel, J. Jarzewicz, C. Kratzke, G. Eimer. Erwähnt sei auch der von Peter I. Schneider und Ulrike Wulf-Rheidt herausgegebene Band Licht-Konzepte in der vormodernen Architektur (2011) sowie die dem byzantinischen Raum gewidmeten Studien, u. a. Hierotopy of Light and Fire in the Culture of the Byzantine World (2013) von Alexei Lidov. Dennoch ist das Licht in der mittelalterlichen Kunst vergleichsweise selten behandelt worden, sieht man von wenigen Einzelstudien ab. Siehe etwa die Quellen- und Bildstudien zur mariologischen Deutung von Licht bei Meiss 1945.  15 SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 712, fol. 16–16v. Die Regesten zur Stiftung bis 1500 publiziert in Geirnaert 1987/89, im Folgenden werden die Originalquellen zitiert.  16 Ab 1435 wurde ein Witwenstift eingerichtet, das einen vorher an diesem Ort angesiedelten Beginenkonvent ersetzte, der eng an die Familie Adornes gebunden war. Siehe Geirnaert 1983, 16. Als „vrauwkes van Jeruzalem“ werden sie später bezeichnet, SAB, Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 769–785. Der Wohnpalast ist durch ein Testament des Gründers Pieter II. Adornes sowie einige Wappen im unteren Teil des Wohntrakts bezeugt. SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 16.  17 Zum Stiftungsprinzip des Mittelalters siehe u. a. Borgolte 1992; Oexle 1984, 394f.

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Abb. 1: Jerusalemkapelle, Südansicht, Brügge.

lienkapelle zu erneuern.18 Dessen Sohn Jan Adornes wiederum hatte seinen Vater nach Jerusalem begleitet und führte nach Anselms Tod 1483 die Arbeiten zum Abschluss.19 Vor dem Hintergrund der Pilgerfahrt nimmt es damit nicht Wunder, dass sich die Kapelle an konkreten Raummodellen der Heiligen Stätten orientiert. So erinnert sie von außen an die zweiteilige Struktur der Jerusalemer Grabeskirche mit Kreuzfahrerbasilika und der das Heilige Grab umschließenden Anastasisrotunde, während man im Inneren eher auf die doppelstöckige Golgathakapelle der Grabeskirche anspielte (Abb. 2). Zwar bleibt die Gegenüberstellung von Turmbau und Saal im Innenraum erhalten, im Einzelnen wurden sie jedoch enger miteinander verschränkt, so dass die Kapelle am Ende hauptsächlich drei Räume unterschied: Laiensaal, Hochchor und Krypta (Abb. 4). Für die Lichtszenografie war diese dreiteilige Struktur von zentraler Bedeutung. Denn nun standen sich nicht nur drei differenzierte Architektureinheiten, sondern auch drei vollkommen verschiedene Beleuchtungskonzepte gegenüber. Im Kapel 18 Zu Forschungsüberblick, Baubeschreibung und Datierung siehe grundlegend Esther 1983 und Geirnaert 1983, 33f. Für neue Ergebnisse und teilweise Neudatierungen verweise ich auf die weiterführende Diskussion dieser Kapelle in meiner Dissertation.  19 Die letzte Bauphase von 1483–85 ist durch Rechnungen ausführlich dokumentiert, vgl. Esther 1983, 61. Neben dem Hochaltar, den Treppen und dem Fußbodenbelag wurden noch die Kreuze auf den Kalvarienberg aufgesetzt, was offenbar im Zuge der Chorwandgestaltung zusammen mit der Balustrade und den Chortüren geschah. Siehe SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 769, fol. 9r-11v.

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Abb. 2: Jean Zuallart, Golgathakapelle in der Jerusalemer Grabeskirche 1587.

lensaal fand sich der Besucher zunächst von gleichmäßigem, durch sechs große Maßwerkfenster einströmendem Tageslicht umringt. Überfangen wird dieser Raum von einer im breiten Kielbogen gewölbten Holzdecke, die auf massiven, an den Wänden aufliegenden Balken ruht. So erscheint der Saal vollkommen stützenlos – keine Pfeiler, Seitenschiffe oder Emporen stören die Präsenz des Lichts.20 Hauptsächlicher Blickfang ist noch immer der durch einen imposanten steinernen Kalvarienberg eingefasste Laienaltar an der Hochchorwand, das liturgische und devotionale Zentrum der Kapelle.21 Den zweiten wichtigen Fixpunkt bot die in der Mitte platzierte Grabtumba des Stifterpaares Anselm Adornes und Margarethe van der Banck.22 Weitere Epitaphien und eine Ahnengalerie in den Fenstern kennzeichnen den Saal ganz deutlich als Gedenkort der Stifterfamilie.23 Als Platz kollektiver und individueller Gedenkpraktiken, aber auch als Versammlungsort sollte die  20 Vgl. Esther 1983, 53. Ab den 1530er Jahren wurden die Fenster erneuert und mit Glasmalereien versehen, die das Licht etwas gedämpft haben müssen.  21 Zu den zwei Altären der Jerusalemkapelle gibt es keine Weihedokumente, da der Hochaltar aber erst 1483 errichtet wurde, müssen die Messen, u. a. an Ostern, oder für die 1479 verstorbene Margareta van der Banck sowie die 1482 von Anselm Adornes gestifteten Memorien demnach am Kreuzaltar stattgefunden haben. RA, Fonds Afgeschafte Klosters, inv. 1: Copia acta fondatione par Anselm Adornes. Vgl. Anm. 31.  22 Vgl. Vermeersch 1976, Kat. Nr. 130; siehe Geirnaert/Vandewalle 1983, Kat. Nr. 49 und 50.  23 Mehrere Generationen der Stifterfamilie wurden ab 1530 in den Fenstern dargestellt, die von Charlotte Dikken als Teil des „memoria concept“ bezeichnet wurden. Vgl. Dikken 2011, 80.

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Abb. 3: Chorscheidewand mit Kalvarienberg, Jerusalemkapelle, Brügge.

Raumstruktur entsprechend Großzügigkeit und Übersichtlichkeit vermitteln, was von der Lichtwirkung entscheidend mitgetragen wurde.24 Erst zum Hochchor hin weicht der offene, helle Eindruck, denn hier rücken vielmehr Raumgrenzen und -übergänge in den Fokus. Zuerst die links und rechts unter den Chortreppen versteckten, dicht am Kalvarienberg vorbei führenden Krypteneingänge, dann die Chorschranke. Unter den Chortreppen erscheinen die schmalen Zugänge in die Krypta nicht nur bewusst verwinkelt, sondern durch diese Dunkelzone werden sie vom hell erleuchteten Saal auch sehr kontrastreich abgesetzt. Zwar nimmt die Krypta die gesamte Länge und Breite des Turms ein, jedoch ist sie sehr flach ausgeführt und wird nur durch je ein Fenster an der Ost- und Westseite beleuchtet (Abb. 4). Die tief hinabgezogenen Kreuzrippen, welche auf massiven, nur knapp über dem Boden angebrachten Gewölbekonsolen lagern, lassen sie zusätzlich drückend und kammerartig erscheinen, wie eine im Verborgenen liegende Höhle unter der Kapelle. Tatsächlich entsteht, von dem außen davorgestellten Felsrelief unmittelbar beeinflusst, ein eher submontaner Raumeindruck, mit dem sich die Krypta mehr und mehr als Verkörperung des biblischen Felsengrabes entpuppt.25  24 Zum Versammlungscharakter des Kirchenschiffes siehe u. a. Bandmann 1951, 88f. Vgl. die Thesen zur Lichtwirkung in gotischen Hallenkirchen bei Jarzewicz 2005, 98f. Zur Fenstergestaltung und Licht auf das Gebet bezogen vgl. Carruthers 2000, 260f.  25 Zur Krypta als Metapher des Heiligen Grabes vgl. Pieper/Naujokat/Kappler 2003, 12f., Merback 2012, 61f., Flemming 1971, 23f. Ähnliche Konzepte finden sich auch in den Templerkirchen des

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Abb. 4: Längsschnitt der Jerusalemkapelle, Brügge.

Wie bereits angedeutet, war hier von Anfang an ein Heiliges Grab aufgestellt, was das intensive Zusammenspiel architektonischer und ikonografischer Reminiszenzen veranschaulicht.26 In Hinblick darauf ist es zudem beachtenswert, dass sowohl den Kaplänen als auch den Frauen des angeschlossenen Stiftes schon früh ein Begräbnisplatz an dieser Stelle zugesichert wurde.27 Als die später in der Kapelle gegründete Jerusalembruderschaft eine neue Heilig-Grab-Kammer an der Nordseite der Krypta anbauen ließ und sich zudem eine Gemeinschaftsgrablege einrichtete, manifestierten sich diese Funktionsbereiche nochmals.28 Leider ging im Zuge des12. und 13. Jahrhunderts, siehe Schwering-Illert 1963, 99f. Zahlreiche Beispiele, etwa Aquapendente, Mainz, Denkendorf und Helmarshausen lassen keinen Zweifel an der Analogie Krypta – Heiliges Grab.  26 Vgl. Anm. 15. Die Beschreibung der Kapelle von 1493 durch Maarten Adornes nennt noch immer eine „similitudine sepulcri XPI“ in der Krypta. SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, 39, fol. 194r. Es könnte sich um ein größeres Truhengrab gehandelt haben, das eventuell an der Rückseite des Kalvarienberges aufgestellt war. Ein freistehender Miniaturbau in der Mitte ist allerdings in keiner Weise zu belegen, vgl. Esther 1983, 71, Pieper 2003, 46.  27 Das Begräbnis der Stiftswitwen und Kapläne war bereits 1435, also schon für den Vorgängerbau päpstlich bestätigt worden. Vgl. SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 716; inv. 778, fol. 12v.  28 Siehe Geirnaert/Vandewalle 1983, Kat. Nr. 58. Die Bruderschaft als Bauherr dieser Grabkammer ist in der Beschwerde überliefert, die Jan de la Coste Adornes 1523 notarisch zu Papier bringen ließ und die vermutlich den endgültigen Bruch mit der Bruderschaft wenige Jahre darauf einleitete. Siehe SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 1209. Vgl. Geirnaert 1983, 35; Schneider 1982, 97f.

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sen aber nicht nur das ursprüngliche Heilige Grab, sondern ein Stück weit auch das Bewusstsein für den starken repräsentierenden Charakter der Stiftsfrauen innerhalb des Brügger Jerusalem verloren.29 Und dennoch zeugt diese spätere Renovierung von einer weitgehend unveränderten und tief in der Kapellenstiftung verankerten Tradierung der Krypta als Grabort. Einen pointierten Gegensatz zu diesem unterirdischen Wirkraum bietet schließlich der Chor. Hinter einer hohen steinernen Arkadenschranke war er zwar gleichfalls abgeschirmt, blieb jedoch viel sichtbarer. Die aufwendige Rahmung dieses Übergangs akzentuierte einmal mehr die Bedeutung des Chors als Ort klerikaler Inszenierung. Umso mehr verwirrt die Schlichtheit im Inneren. Es lässt sich nur vermuten, dass eine zunächst reicher geplante Chorausstattung wegen verschiedener politischer und finanzieller Probleme nicht zur Ausführung gelangte, so dass die Backsteinwände heute entsprechend karg erscheinen.30 Zahlreiche in den Rechnungen und dem Inventar erwähnte Gardinen, Teppiche und Stoffbehänge geben einen Eindruck von der einstigen Pracht, gleichwohl die Bedeutung der spitzbogigen Blendnische über dem Altar vollkommen ungeklärt bleibt.31 Allein die Bodenverkleidung und der über zwei Stufen erhöhte Hochaltar an der Nordwand sind von der Erstausstattung überliefert.32 Im Gegensatz zum Saal war der Chor stets nur für die Familie, hohe Kleriker sowie die Ordensbrüder der Kartäuser und Karmeliter zugänglich.33 Später wurde er zudem von der Jerusalembruderschaft in Anspruch genommen.34 An der Ostseite gelangt man über wenige Stufen zum Wohnsitz der Familie sowie in ein kleines Privatoratorium, was den Gedanken hie­ rarchischer Abgeschiedenheit und Exklusivität abermals zum Ausdruck bringt. Als Refugium eines spezifischen Personenkreises transportierte der Chor daher ein Jerusalem, das auch sozial „entrückt“ und damit noch stärker heilstopologisch kodiert wurde. Formal schien der Chor daher vielmehr als geschlossene Raumeinheit präsentiert, die sich zum Laienbereich massiv abgrenzte und sich stattdessen nach  29 Zur Entstehung des Grabmals, bzw. dem Zusammenhang mit der Umbettung einiger Frauengräber siehe SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 785, fol. 7v.  30 Anselm Adornes wurde nach einem Putsch vom Rat zu einer schmerzhaften Strafe und einer hohen Geldzahlung verurteilt und setzte sich schließlich ganz nach Schottland ab, wo er noch während der Baumaßnahmen verstarb. Vgl. Geirnaert 1983, 26f.; zum Chor vgl. Esther 1982, 60f. und 65f. Die Epitaphe und Gemälde gehören späteren Epochen an. Vgl. Geirnaert/Vandewalle 1983, Kat. Nr. 32, 37.  31 SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 969; und Rechnungen, inv. 769–785.  32 In einer späteren Urkunde wird der Altar als Katharinenaltar bezeichnet. SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 1247. Einer Hypothese von Ron Spronk zufolge war der Altar mit einem Kreuzigungsretabel (um 1510) von Jean Provost versehen, das auf den Flügeln Szenen aus dem Leben der heiligen Katharina zeigte. Siehe Spronk 2005.  33 Die Bedeutung beider Orden für die Hochfeste, vor allem Palmsonntag, Kreuzerhöhung und den Sakramentstag, wird in den Rechnungsbüchern und Testamenten offenbar. Siehe SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 769, fol. 9v sowie inv. 785, fol. 6r.  34 Dies lässt sich zumindest für die Hochfeste wie den Palmsonntag nachweisen. Vgl. SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 1206. Zur Jerusalembruderschaft insbesondere Schneider 1982; Spronk 2005; Knust 2007, 191f. Die Transkription des Vertrages von 1523 bei Van de Walle 1964, 142–146.

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Abb. 5: Turmgewölbe der Jerusalemkapelle, Brügge.

oben öffnete. Er definiert sich weniger über einen prächtigen Innenraum, denn über das gewaltige und im Vergleich zur Krypta unverhältnismäßig hohe, hell erleuchtete Turminnere, das nur von dort aus in seiner Gänze erfahrbar war (Abb. 4). Auf Höhe des Kapellenscheitels formt sich der rechteckige Grundriss hier über Trompen zu einem querformatigen, überlängten Oktogon. Hoch oben wird dieses dann von einem kunstvollen hölzernen Kreuzrippengewölbe bedeckt, das auf zehn aufwendig und verschieden ornamentierten Wandsäulen ruht, deren Konsolen die Wappen der Stifterfamilie tragen (Abb. 5). Zwischen diesen Wandsäulen, also in maximaler Höhe, dringt durch acht große Spitzbogenfenster das helle Tageslicht unvermittelt ein und breitet sich langsam nach unten aus. Am Chorbogen, der vom Saal aus im Schatten liegt, kann sich diese Lichtstrategie eindringlich entfalten. Es entsteht hier der Eindruck eines gleichsam aus dem Nichts erstrahlenden Chores (Abb. 3).35 Die schmuckvolle Arkadenwand betont die mysteriöse Prove­ nienz des Lichts zusätzlich, indem sie von ihm effektvoll hinterstrahlt wird. Ähnlich miteinander kombiniert wurden Turm und Licht etwa in der Templerrotunde  35 Als „Überstrahlungseffekt“ bezeichnet Gerhard Eimer ähnliche Strukturen mit kaum einsehbaren Fensteröffnungen und an einem Ort gebündeltem Licht. Vgl. Eimer 2005, 533f.

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Abb. 6: Chorzugang der Jerusalemkapelle, Brügge.

im portugiesischen Tomar. Hier war der von Arkaden durchbrochene Mittelturm durch eine Dachlaterne ebenfalls derart von innen ausgeleuchtet, dass der gesamte Kirchenbau eine gleichsam aus sich selbst heraus strahlende Mitte erhielt.36 Auch in Brügge scheint das Licht durch die Brechung an der Choreinfassung in seiner ausnehmenden Kontrastwirkung bewusst verstärkt worden zu sein, mit allen Mitteln sollte hier der Übergang zwischen Kapellensaal und Chor hervorgehoben werden. Zudem trug, wie noch zu zeigen sein wird, diese den Kapellenbau strukturierende und mystifizierende Lichtsetzung entscheidend zur Konstituierung Jerusalems als Raumerlebnis bei.

III. Die Chorscheidewand steht nun nicht nur im Zentrum der Lichtregie, sondern fungiert mit einer über die gesamte Länge und Breite ausgreifenden Darstellung der Kreuzigungsstätte auch als ikonografische Klammer der drei Räume. Unverkennbar tritt der Kalvarienbergaltar dabei als konzeptionelle Mitte in Erscheinung,  36 Siehe Pieper/Naujokat/Kappler 2003, 31.

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womit man ausdrücklich an die Originalsituation des Golgatha in Jerusalem anzuknüpfen schien. Der natürliche Kreuzigungsfelsen erhob sich dort ebenfalls übermannshoch und wurde von einer doppelgeschossigen Architektur ummantelt, die im unteren Bereich den Berg sichtbar ließ, während er in der oberen Kapelle nur wenige Zentimeter über das Bodeniveau hinaus ragte und hier weitestgehend unter einer Bodenverkleidung verschwand (Abb. 2, 3).37 Auf diesen wahren Felsen rekurriert das Brügger Relief demnach sowohl durch seine Disposition vor der zweistöckigen Architektur des Turms, als auch durch seine Gestaltung als Bergmassiv. Nahezu aus der Chorwand heraus und durch sie hindurch wachsend, scheint das Relief den Altar daher nicht nur zu hinterfangen, sondern ihn vielmehr zu inkorporieren. Auch die bestechend naturalistische Durchformung der Marterwerkzeuge zeugt von einer bewussten Hinwendung zu Fragen der Taktilität und Materialität.38 Ebenso schien das vergitterte Nischendepositum über der Altarmensa, das authentische Heilig-Land-Reliquien beherbergte, dem Relief eine Präsenz Golga­ thas unmissverständlich einschreiben zu wollen.39 Der Realitätscharakter des Retabels ist damit einerseits Darstellungsmotiv, andererseits sollte der Fels ein Rezeptionsprinzip charakterisieren, wodurch die Passionsgeschichte nahezu apodiktisch mit der Raumstruktur verschmolz. Wahrscheinlich war nicht nur der Felsen ursprünglich farbig gefasst, sondern auch das frei liegende Mauerwerk der Chorscheidewand sowie die Stirnseiten der Chortreppen, was den Effekt einer Landschaftskulisse evozierte.40 Die Krypta schien in das Innere des Felsens eingegraben, der Saal am Fuß der Kreuzigung wurde zur Schädelstätte. So trieb man nicht nur die Verschleierung der Architektur zugunsten einer substantiellen Verankerung des Heiligen Ortes voran, sondern transferierte den Innenraum der Kapelle in ein tatsächlich begehbares Bergpanorama. Auch andere Bauelemente wie die Sandsteinarkade hinter dem Felsrelief fügten sich in dieses Setting. Als Anspielung auf die Topographie der Kreuzigung „extra muros“, also außerhalb der Stadtmauern Jerusalems, wurde der Fels hier mit einer mauerartigen Trennwand in Beziehung gesetzt, auf die mit Jerusalemkreuz und Katharinenrad das Heilige Land gewissermaßen appliziert war. Auf ähnliche Weise scheinen auch die breiten Chortreppen integriert, da sie das Kalvarienbergrelief an beiden Seiten einfassen und Jesu Aufstieg zur Kreuzigung so als Bauaufgabe nachvollziehen. Dass die Treppen in die Evokation des Kreuzigungsortes integriert sein wollen, wird besonders mit den Chortüren an ihrem Ende deutlich. Zum einen nehmen sie das Säulenmotiv der oberen Lettnerarkade wieder auf und stellen sich so optisch als Teil der Kompositi 37 In der mittelalterlichen Interpretation des Kirchengebäudes ist diese Stelle seit jeher mit dem Kreuzestod Jesu assoziiert worden. Vgl. Wünsche 1998, 42f.  38 Weiterführende Gedanken in Mai 2015.  39 Zu den Reliquien der Kapelle siehe Koldeweij 2006, 187f. Beschreibung und Abbildung auch bei Geirnaert/Vandewalle 1983, Kat. Nr. 14, 54 und 55.  40 Hinweise hierfür liefert eine Zeichnung J. Gaillards aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der die Wandmalerei jedoch nur noch in wenigen Fragmenten darstellt. Prentenkabinet Musea Brugge, inv. 0.3115. Siehe Catalogus van de tekeningen 1984, Bd. I., 161. Die Reste der Wandmalerei wurde während einer Renovierung 1903 abgetragen.

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on dar. Zum anderen wird mit den beiden Skulpturen der Maria und des Johannes darüber auch eine ikonografische Zugehörigkeit der Pforten bekräftigt. Links und rechts neben den Kreuzen positioniert, sind die Figuren als stark reduziertes biblisches Bildpersonal zu begreifen, das Kalvarienberg, Treppenaufgang und Chor szenisch ergänzte. Die gesamte Chorwand erhält durch die beiden Heiligen eine derart sinnstiftende Ordnung, dass man durchaus von einem homogenen Entwurf ausgehen kann. Da die Figuren aber stilistisch dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts angehören, muss dies zuletzt spekulativ bleiben, denn für die spätgotischen Konsolen kämen immerhin auch Stifterportraits in Frage.41 Erst nachdem ab 1511 mit Arnoud Adornes und vor allem dessen Erbe Jan de la Coste Adornes wieder stärker in die künstlerische Ausstattung investiert wurde, scheinen die Figuren ergänzt worden zu sein.42 Doch unabhängig von der Frage, ob hier eine ursprüngliche Konzeption sichtbar wird: die beiden Kreuzbegleiter ordnen Treppen und Zugänge, Chorbogen und -arkaden derart in ein monumentales Bild der Schädelstätte, dass auch ihre spätere Ergänzung nur noch einmal bekräftigt, wie stark der Innenraum als Projektion Golgathas wahrgenommen wurde. Über den Türen mögen Maria und Johannes nun ein sichtbares Vorbild der Compassio gewesen sein, wenn der Klerus – als Pendant der trauernden Anhänger Christi – direkt unter ihnen in den Chor einzog.43 Zusammen mit den liturgischen Gesten, Gesängen und Reliquienweisungen kam dies an den Feiertagsmessen sicher besonders zum Tragen.44 Beim Gang durch die Kapelle entstand so eine maßgeblich von der Ausstattung getragene Analogie zwischen Architektur und Geschichte, von Liturgie und Passion. Die abgeschirmte Feierlichkeit, mit der anschließend im Chor die Hochmesse zelebriert wurde, kam durch die Distanzierungsformeln der Treppen, Arkadenreihen und Chortüren noch einmal ganz deutlich zum Ausdruck.45 Als Teil dieser Übergangsmotivik zieht schließlich auch der architektonisch dirigierte Lichteinfall Aufmerksamkeit auf sich, allen voran die zwei großen Radfenster über  41 Hinweis dafür könnte eine noch in Besitz der Familie befindliche Zeichnung des mutmaßlichen Stifterpaares sein, vgl. Périer d’Ieteren 2012.  42 Dass de la Coste an einer repräsentativen Familiengrablege interessiert war, zeigen auch seine Bemühungen um Ablässe und die Gründung beziehungsweise Etablierung einer Jerusalembruderschaft an der Kapelle. Dies bereits in Ansätzen beschrieben bei Geirnaert/Vandewalle 1983, 34f. und Kat. Nr. 27–29, 55, 57. Eventuell könnte auch die 1518 erworbene bischöfliche Erlaubnis an einigen Feiertagen eine Heilig Kreuz Reliquie auf dem Hochaltar ausstellen zu dürfen, mit der Aufstellung der Kreuzbegleiter zusammenhängen.  43 Zum „Imitatio“-Gedanken in Liturgie und geistlichem Spiel siehe u. a. Müller 2010. Die Nutzung von Treppen, Lettnern und Durchgängen ist häufig in der Osterliturgie zu finden. Vgl. Möbius 1979, 49f. Etwa die Antiphon Cum rex gloriae, die mit der Erlösung der Seelen sowie mit einer kleinen Prozession zusammenhängt. Vgl. Wünsche 1998, 42f.; Bärsch 1998, 177f. Vgl. weiterhin Kranemann 1998, 128.  44 Der Osterkanon des Johannes von Damaskus (1. Ode) spielt mit Lichtmetaphern. Zur Zeremonie des Heiligen Feuers in der Grabeskirche, vgl. Krüger 2000, 150f. Für Besucher der Brügger Kapelle wurde an diesen Feiertagen auch Ablass gewährt, SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 712, fol. 16v.  45 Vgl. Feurer 1980, 169f. Zur Bedeutung des Lichts für die Inszenierung des Messopfers auch Jacobs 2005, 146f. und zuletzt Suckale 2011, 8f.

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den Chortreppen. Entgegen dem Beleuchtungskonzept der spitzbogigen Saalfenster, die gleichmäßige Helligkeit verströmen, lenken sie das Tageslicht als eine Art „spotlight“ in die Kapelle hinein (Abb. 6). Dabei laufen die Lichtkegel so dicht an der Chorscheidewand entlang, dass sie zunächst ganz pointiert die Chortüren illuminieren, um sich dann auf dem Kalvarienberg zu zerstreuen. Speziell die glänzenden Messingsäulchen in den Chortüren selbst, die das einströmende Tageslicht und das um sie flackernde Kerzenlicht schimmernd reflektierten, scheinen den Choreintritt material- und lichtmetaphorisch umschreiben zu wollen.46 Da sich die Dunkelheit unter den Treppen durch dieses Licht ebenfalls intensiviert, werden die Krypteneingänge zugleich noch mehr in Schatten gehüllt. Nunmehr über dem Dunkel auf einen hell strahlenden Durchgang zuführend, verdeutlichen die Treppen exemplarisch eine Hinwendung zum Licht, die zugleich Assoziationen in Hinblick auf Jerusalem weckt. Die hell erstrahlenden Türen zum mystisch erleuchteten Sanktuarium ließen sich etwa auf die johanneische Beschreibung der Gottesstadt Jerusalem beziehen: „Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die große Stadt, das heilige Jerusalem, herniederfahren aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem hellen Jaspis“47.48 Der Vergleich Jerusalem – Licht wird auch im Jüngsten Gericht (1525) des Malers Jan Provost verhandelt, der sich als Mitbegründer und Vorsitzender der Brügger Jerusalembruderschaft sehr genau mit der Jerusalemkapelle auseinander gesetzt haben musste. Provost stellte hier die Seligen dar, die neu eingekleidet und mit Palmzweigen ausgestattet, durch einen kunstvollen Spitzbogen in die hellglänzende Himmelsstadt einziehen (Abb. 7).49 Wie schon in früheren Brügger Weltgerichtstafeln, zum Beispiel des Danziger Retabels von Hans Memling, führen auch hier Treppen zum Himmelstor. Tatsächlich scheint die Brügger Architektur einer ähnlichen Verortung von Licht als Nähe zum Göttlichen verpflichtet. Dass Maria und Johannes, durch Sockel und Baldachin als Heilige konnotiert, die hell erleuchteten Türen des Sanktuariums krönen, kennzeichnet die Chorwand als entrückende Gnadenschranke. In Anbetracht der phänomenalen Höhenausdehnung des Brügger Chores und des vermeintlich darin schwebenden Lichts ließe sich dies aber noch weiter zuspitzen. Architektur und Lichteinfall geben hier nicht nur eine klare vertikale Ausrichtung von unten nach oben (Treppen) und oben nach unten (Turmlicht) vor, die der Gläubige ganz intu-

 46 Licht wurde etwa in mittelalterlichen Profanbauten für die Inszenierung des herrschaftlichen Aufstiegs genutzt. Vgl. Ley/Wietheger 2009.  47 Joh. 21, 10–11.  48 Vgl. Bandmann 1951, 68f.; Faensen 1985, 88. Inwieweit die Lichtfülle der Gotik das Himmlische Jerusalem abbildete oder nur eine respektive Vorausschau darauf beinhaltete, wird in der Kunstgeschichte vor allem an der Kathedrale breit diskutiert. Das Kirchengebäude als Vergegenwärtigung von Gottesstaat bzw. Himmlischem Jerusalem u. a. bei Bandmann 1951, 64f.; Konrad 1965, 535f.; Möbius/Sciurie 1984, 64f. und Kurmann 2002, 295f. Forschungsüberblick u. a. bei Bernet 2008, 198f. Vgl. Anm. 8.  49 Zur Ikonografie in Provosts Gemälde siehe Knust 2007, 85f.; leider ohne Bezug zu Architektur und Ausstattung der Brügger Kapelle selbst.

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Abb. 7: Jan Provost: Jüngstes Gericht, Detail, 1525, Brügge: Groeningemuseum.

itiv nachempfindet, sondern inszenieren im Choreintritt zugleich eine Art Schwellenerlebnis.50 Mitten in dieses Lichtszenario im Zentrum der Jerusalemkapelle ragen nun die drei monumentalen Kreuze des Kalvarienberges (Abb. 3). Als Mahnung an die Gräuel der Passion tritt ihre bedeutungsvolle Form zunächst hervor, um sofort vom Licht umfangen und letztlich auch überwunden zu werden. Die Zusammenschau von Kreuz und Lichtschein offenbart dabei eine Doppeldeutigkeit, die sowohl spätantike Bildformeln wie die zentralen Gemmenkreuze der Apsismosaiken in Erinnerung ruft, als auch die Vorstellung einer im Moment der Kreuzigung aufgehenden sol iustitiae oder sol invictus, sprich der das Dunkel vertreibenden „Sonne“ Christus.51 Die Erhöhung Jesu in der Passion wurde auch in den Bildkünsten vielfach durch Lichterscheinungen elaboriert. Sei es, dass bei der Beweinung des Rogier van der Weyden (um 1450) ein Sonnenaufgang im Hintergrund den nahen Sieg Christi andeutet, oder dass der Auferstandene am Isenheimer Altar (um 1512–16)

 50 Zur „intuitiven“ Dimension des Lichts verweise ich auf die Erkenntnis- und Symboltheorie Ernst Cassirers.  51 Ausführliche Quellenanalyse und weiterführende Literatur bei Heid 2001, 189f. Schon im 3. Jh. n. Chr. wurde der antike Sonnenaufgangstag mit dem jüdischen Herrentag zusammengeführt und schließlich von Konstantin in einem Erlass als „verehrungswürdiger Tag der Sonne“ bezeichnet. Dazu sowie zum Vergleich Sol-Christus und seiner Bedeutung für das frühe Christentum, u. a. bei Klemens von Alexandrien, siehe Wallraff 2011, 45–50.

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des Matthias Grünewald als tatsächliche Lichtgestalt präsentiert ist.52 Und nicht zuletzt kennzeichnet diese Ambivalenz des Martyriums Jesu zwischen Tod und Leben auch die Triumphkreuze des Hoch- und Spätmittelalters.53 Zwar könnten diese Anlagen dem Brügger Beispiel als ikonografische Referenz gedient haben, im Gegensatz zur oft reichen typologischen Ausstattung dieser Monumentalkreuze erscheint es jedoch extrem reduziert. Vor allem das mittlere Kreuz unterstreicht im Verzicht auf einen Christuskorpus stattdessen die phänomenale Lichtsetzung der Architektur, in der die ganze exegetische Bandbreite der Kreuzigung transparent wird. Durch das Chorlicht nahezu entmaterialisiert, avanciert das Kreuz nicht nur vom Marterinstrument zum Tropaion, sondern setzt mit Blick auf die Heiligen Orte zudem einen deutlichen eschatologischen Akzent.54 An dieser Stelle lohnt es auch noch einmal näher auf die Erlebnisse der Stifter an den Originalplätzen in Jerusalem einzugehen, denn offenbar war die Pilgerfahrt dem Umbau der Kapelle bewusst voran gestellt.55 In der Tat finden sich einige Motive im ausführlichen Pilgerbericht der Adornes sogar ausdrücklich bestätigt. Etwa dass einer der vier Besuche der Grabeskirche am Feiertag Exaltatio Crucis, dem Tag der Kreuzerhebung, erfolgte.56 Im Gegensatz zu den meisten Pilgern, die nur nachts an den Heiligen Stätten beten durften, konnten Anselm und Jan Adornes aus diesem Anlass sogar einen ganzen Tag in der Grabeskirche verbringen.57 Die Erkundung der Heiligen Stätten bei Tageslicht war ein seltenes Privileg, das die Lichtregie der Brügger Kapelle sicher stark geprägt hat.58 Gerade der senkrechte Lichtstrom im Chor mag durch die dortige Erfahrung inspiriert worden sein. Hier genügt es etwa die Brügger Turmkonstruktion mit der Jerusalemer Anastasisrotunde zu vergleichen, die durch eine enorme Kuppel mit zentraler Öffnung einen markanten Lichtstrahl auf die Grabädikula in ihrem Zentrum lenkte (Abb. 8).59 In der Hermeneutik des Lichts, vornehmlich seiner Flüchtigkeit, spielte dieser Lichtstrahl auf die Überwindung des Irdischen, Leiblichen und Materiellen an, und ließ das Mysterium der  52 Weitere Beispiele bei Schiller 1971, 80f.  53 Für das Triumphkreuz im mittelalterlichen Sakralraum grundlegend Beer 2005. Zum Kreuz als „Kulminationspunkt“ der im Kirchenraum verwirklichten Heilsbotschaft bes. 313f. Siehe zudem Baert 2004, 18f.  54 Zur ikonografischen Bipolarität des Kreuzes als Folterwerkzeug und Siegeszeichen vgl. u. a. Beer 2005, 255f.  55 Im Gegensatz zur bisherigen Forschungsmeinung ist der Neubau wohl nicht aus Dankbarkeit für die glückliche Rückkehr von der Pilgerfahrt entstanden. Vielmehr verhielt es sich umgekehrt, denn bereits 1469 wurde Anselm Adornes von Stadt und Klerus zu einer Pflege und Verbesserung des gesamten Anwesens verpflichtet. SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 39, fol. 90– 95.  56 Die These, die Kapelle reflektiere den Pilgerweg der Stifter durch die Grabeskirche verfolgt Kirkland-Ives 2008, 1062f. Eine maßgetreue Weganalogie ist hier nicht intendiert, vielmehr werden einzelne Raumstrukturen und damit Bewegungsmuster übernommen und neu zusammengesetzt, die das sinnliche Empfinden dezidiert ansprechen sollten.  57 Zudem scheint die Familie entgegen der bisherigen Forschungsmeinung bereits vor 1517 eine Heilig Kreuz Reliquie besessen zu haben, die die Motivik der Kapelle entscheidend beeinflusst haben könnte.  58 Siehe Heers/Groer 1978, 269ff. Vgl. Pieper/Kappler/Naujokat 2003, 17.  59 Zur Baugeschichte der Jerusalemer Grabeskirche siehe Krüger 2000, 51f.

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Abb. 8: Blick in die Anastasisrotunde mit Heiligem Grab, Grabeskirche, Jerusalem.

Auferstehung symbolisch in den Rundbau eingehen.60 Für die Brügger Kapelle, deren Krypta mit Heiligem Grab auf der vertikalen Achse ebenfalls mit einem Zentralbau und dessen stark gebündeltem Lichteinfall in Beziehung gesetzt wurde, besaß diese Anlage fraglos Modellcharakter. Viele monumentale Nachbildungen der Heiligen Stätten warteten dementsprechend mit der Verschachtelung von Räumen und/oder mit exponierten Lichtkontrasten auf.61 Die Capella Rucellai der Pankraziuskirche von Florenz beispielsweise stellte dem in ihrer Mitte aufgebauten Heiligen Grab eine ausgeklügelte Beleuchtung zur Seite. Zum einen gelangte durch drei hoch angelegte Fenster Tageslicht in die zum Kirchenraum offene Seitenka­ pelle und hinterstrahlte so den Nachbau der Jerusalemer Grabädikula in ihrem Inneren. Viele figürliche Heilig-Grab-Gruppen wurden in ähnlicher Weise vor Fenstern positioniert.62 Zum anderen umgab den tempietto in Florenz zusätzlich noch ein aus goldgefassten Lilienornamenten geschmiedeter Leuchterkranz, mit dessen Entzündung der Moment der Auferstehung sehr gegenständlich demonstriert werden konnte.63 Eine der Brügger Kapelle ähnliche Intention, das im Leid  60 Im Petrusevangelium 9.35–36 wird die Öffnung des Himmels und das Herabsteigen zweier Engel „in großem Lichtglanz“ beschrieben, vgl. Schiller 1971, 15f. Zur Lichtmetaphorik auch im Auferstehungshymnus vgl. Suckale 2011, 2; Büchsel 2005, 24f.  61 Als architektonische Topoi in Pieper/Kappler/Naujokat 2003.  62 Die Krypta von Denkendorf oder das Heilige Grab in Breisach, Michael Grandmontagne sei an dieser Stelle für Hinweise gedankt.  63 Dazu ausführlich Naujokat 2011, 99f.

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Abb. 9: Görlitz, Kreuzkapelle Querschnitt.

der Passion geborgene Heil durch Lichtwirkung zu veranschaulichen, lässt sich für die Heilig-Grab-Anlage in Görlitz konstatieren (Abb. 9). Nahe dem Heiligen Grab ist hier eine nach dem Jerusalemer Vorbild gebaute doppelstöckige Heilig-KreuzKapelle angelegt, mit einem flachen, leicht unter Bodenniveau angesetzten Raum und einem großzügigeren hellen Saal darüber.64 Die untere, so genannte „Adamskapelle“ hat zwar vier Fensteröffnungen, durch das geringe Höhenniveau und die ungewöhnlich massiven Wände bleibt das Licht jedoch in den Fensterlaibungen hängen, alles wirkt dunkel und gedrungen. Besonders deutlich wird dies im Vergleich zur oberen Kapelle, wo durch acht große feingegliederte Maßwerkfenster außerordentlich viel Tageslicht einfällt. Durch eine außen an der Kapelle entlang führende Treppe war diese Lichtsteigerung von unten nach oben zudem ganz konkret mit dem Aufstieg zum Golgatha verbunden. Auch hier implizierte das Gedenken an die dunkelste Stunde Christi eine Bewegung von der Finsternis zum Licht.65 Die Leichtigkeit und die Helligkeit der oberen Kapelle formen einen eigenwilligen

 64 Siehe Meinert 2004, 268f. und 321f. Beschreibung und Abbildungen der Räume, 32f. und 50f., obwohl Meinert leider wenig auf die Lichtverhältnisse eingeht. Die zwei differenzierten Raumvorstellungen sind im Grund- und Aufriss offensichtlich. Hierzu siehe die Abbildungen bei Pieper/Naujokat/Kappler 2003, 52. Eine Übereinanderordnung von Licht und Schatten findet auch in der Pariser Sainte-Chapelle statt, die durch ihre Reliquien eine deutliche Referenz auf Jerusalem darstellt. Vgl. Binding 2003, 129f.  65 Vgl. Pieper/Naujokat/Kappler 2003, 52.

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Widerspruch zum Kreuzestod Jesu, dem hier an drei Kreuzlöchern sowie einem „Riss“ im stark abstrahierten Kreuzigungsfelsen gedacht werden sollte. Vor dem Hintergrund dieser breiten Überlieferungstradition wird Lichtführung auch in Brügge sowohl als strukturelles Prinzip sowie als symbolische Darstellungsform der Heiligen Stätten evident. Nicht allein in der Übereinanderordnung der Räume, sondern vor allem in der Gegenüberstellung von Hell und Dunkel sowie der Zunahme der Lichtintensität von der Krypta über den Kalvarienberg hin zu dem darüber liegenden Sanktuarium ist dies klar angezeigt. Sei es als Visualisierung der Auferstehung oder als sinnbildliche Präfiguration der zu Gott strebenden Seele und deren stufenweise Annäherung an einen idealen Zustand der Läuterung, in der Lichtsteigerung wird immer auch die Hoffnung auf ewiges Leben verwirklicht.66 So ist die Brügger Kapelle grundsätzlich als eine komplexe sakrale Raumformel zu betrachten, in der Licht nicht nur ausdrücklich im Sinne der architektonischen und ikonografischen Syntax Jerusalems agiert, sondern gleichsam eine an den Bau gekoppelte Botschaft der Gnade enthüllt.

IV.  Den Originalbauten Jerusalems nachfolgend stellen die Lichtverhältnisse des Brügger Ensembles damit eine wirkliche Teilnahme an den Heilsmomenten der Passion in Aussicht. Insbesondere am Übergang von Kapellensaal, der räumliches Gleichnis der Glaubensgemeinschaft ist, zum Hochchor, dem Ort größter Transzendenz, wird dies deutlich. Der untere Teil der Brügger Kapelle hebt dabei die irdische Materialität Golgathas, als Fels, als Grabkammer und Fundort der Marterwerkzeuge hervor, während der Hochchor in seinem immateriellen Lichtglanz vielmehr die Metaphysik der Leidensorte zum Ausdruck bringt. Unter maßgeblichem Einsatz der Lichtregie werden damit zwei Diskursebenen entwickelt, die sich gegenseitig überlagern und durchdringen: der materielle Ort Jerusalem als Speicher der Ereignisse einerseits, das dem Jenseits entfahrende Jerusalem andererseits (Abb. 3). Indem Saal und Chor auf zwei über- beziehungsweise hintereinander liegende Sphären Jerusalems verweisen, stehen die Kreuze praktisch am Übergang zur Ewigkeit.67 Führt man sich nun den eigentlichen Zweck der Kapelle vor Augen, Memorialzentrum der Stifterfamilie zu sein, gewinnen diese zwei Gesichter Jerusalems weiter an  66 Licht als Symbol des Lebens, Christi, der Erlösung und des Himmels steht konträr zur Deutung der Finsternis als Tod, Hölle und Verdammnis. Vgl. Hauskeller 2004, 121f.; Büchsel 2005, 26f. Zum Licht als Metapher für den Aufstieg der Seele siehe Koch 1960, 667f. Als Motiv der Devotio Moderna u. a. Büchsel 2005, 36f.; Wandhoff 2008, 27f. Die Licht-Seele Analogie der Mechthild von Magdeburg in Beziehung zum gotischen Kirchenbau und seiner Lichtregie, siehe Eimer 2005. Meister Eckhart fordert etwa, dass sich die Seele in ihrem natürlichen Lichte in das Höchste und in das Lauterste erheben [soll] und so eintreten in das Engelslicht und mit dem Engelslicht in das göttliche Licht gelangen und so stehen zwischen den drei Lichtern in der Wegscheide, in der Höhe, wo die Lichter zusammenstoßen. Siehe Predigt 18, hg. von J. Quint 2007, 161. Weitere Beispiele aus der Literatur bei Böhme/Böhme 2004, 157.  67 Der Fokus auf beide Jerusalembilder am Chor auch bei Kühnel 2012, 113f.

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Aussagekraft. Am Kalvarienberg, über dem das Kreuz wie ein Wahrzeichen der Auferstehung inszeniert wurde, scheint dieser Aspekt besonders virulent. Auf die gegenüber dem Brügger Kalvarienberg stehende Grabtumba bezogen, entsteht hier die Illusion einer an das irdische Martyrium Christi gebundenen himmlischen Gnade.68 Mit Sicherheit waren die Erlebnisse am Tag der Kreuzerhöhung in Jerusalem entscheidend für diese Positionierung des Stiftergrabes, und doch würde dies allein zu kurz greifen. Für das hier in ewiger Anbetung gezeigte Stifterpaar stellt die Kreuzigung vielmehr eine immerwährende Mahnung zur Buße dar, zugleich verheißt gerade die Gegenüberstellung von Leid und Licht eine Chance auf Erlösung. Dass sich diese Hoffnung der Stifter am Golgatha manifestiert, wird auch durch den Pilgerbericht deutlich, wodie ansonsten knappen Beschreibungen des Jan Adornes einer Fülle von Devotionsformelnweichen: Hier ist der Ort der Vergebung, wo die alte Schrift vollendet wird. Welcher Christ kann diesen Platz ohne Tränen sehen, ohne ein Erbeben des Herzens und ohne eine mitfühlende Seele, dort wo, wie es überliefert ist, der unschuldige Heiland und Schöpfer getötet wurde. An diesem Ort wird allen reumütigen Sündern ihre Schuld vergeben: […] Dieser Ort, von dem ich spreche, ist ein Ort ausnehmender Devotion, da die Verehrungder guten Menschen für die Passion unseres Herrn unauslöschbar ist69. Der Kreuzigungsberg ist für die Adornes offensichtlich nicht nur Ort der Vergebung, sondern auch der geistigen Versenkung. Die direkte Konfrontation mit dem historischen Ort der Passion führt Jan ohne Umschweife in einen andächtigen Trauerzustand und regt ihn parallel dazu an, die visuellen Eindrücke mit seinem Wissen über den Kreuzestod Jesu zu verbinden. In der Emotionalität dieser Worte spürt man förmlich, was sich vor seinem inneren Auge abgespielt haben muss. Das Erleben des Originalschauplatzes geht hier mit einer Erinnerungsleistung einher, auf deren Evokation man scheinbar auch in der Familienkapelle großen Wert legte. In gewisser Weise fokussierten die leeren Kreuze den Blick und implizierten doch einen starken, die Andacht vertiefenden Impuls. Ganz ähnlich wurden auch die Arma Christi eher als Objekte greifbar und nahmen so auf die materielle Verankerung der Passion an diesem Ort Bezug. Noch deutlicher wird dies nur in den Hufabdrücken der Soldatenpferde links und rechts unten am Relief sichtbar. Der Betrachter muss die Werkzeuge und Geräte förmlich im Geiste aufheben, sie erst in einen Erzählstrang betten und Stück für Stück selbst rekonstruieren. Der Kalvarienberg und mit ihm die gesamte Chorscheidewand wird so als eine den geschundenen Körper Jesu zwar entbehrende, dabei jedoch immens auf körperliche und geistige Anteilnahme ausgelegte Bühne erkennbar, die  68 Zur Bedeutung des Kreuzaltars, insbesondere in Verbindung mit Stiftergräbern siehe Beer 2005, 291f. In Bezug auf das Stiftergrab und das Licht in der Brügger Jerusalemkapelle vgl. Pieper/ Naujokat/Kappler 2003, 16f. und 45f. Zu dieser Deutung von Licht und Architektur siehe Büchsel 2005, 30f.  69 Heers/Groer 1978, 265–67: Locus hic nostre est redemptionis et tocius antique scripture cosummationis. Quis religionis christiane hunc locum videre posset sine planctu et lacrimis, sine tremore cordis et sine compassione mentis, ubi redemptor ac creator innocenter traditus est morti. In eo loco latroni sero penitenti omnis culpa dimittitur […] Locus imquam, mire est devotionis, cujus devotio apud bonos passionem Domini contemplates inextinguibilis est.

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unmissverständlich auch Imaginationsprozesse anstoßen sollte. Darüber hinaus formuliert das Brügger Felsrelief Fragen der Authentizität und nährt so die Vorstellung, nur in Jerusalem, mit den wahren (Orts-)Zeugnissen der Passion vor Augen, ließe sich wirkliches Heil erlangen. In Anbetracht der verschiedenen sozialen und religiösen Identitäten, die die Kapelle in sich vereinte, scheint gerade dieser Wunsch nach Sichtbarkeit und Teilhabe an der Wirkmacht dieser Orte von Belang.70 Am Kreuzaltar, wo weniger die Familie Adornes als vielmehr die Witwen aus den angeschlossenen Stiftswohnungen zusammenfanden, die zudem in der Krypta unmittelbar am Heiligen Grab beerdigt werden durften, stehen Hoffnung und Fürbitte in unmittelbarem Zusammenhang. Die Frauen waren nicht nur zu regelmäßigen Besuchen der Anniversarmessen verpflichtet und damit fest in die Memorialvorsorge der Stifter integriert, sondern sollten das Brügger Jerusalem an jedem Tag und bei jedem Schritt er- und vor allem beleben. Damit rekurrierte das Brügger Jerusalem eher auf eine „Gesamtheit der Bewegungen“71 mit der die Heilige Stadt als ein tatsächlicher Handlungsraum nachempfunden wurde. Die in ihm lebenden Stiftsfrauen galt es daher für eine aufrichtige Verehrung der Passion zu gewinnen und zugleich für die charakteristische Medialität der Heiligen Stätten zu sensibilisieren. In ihren Gedanken, ihren Empfindungen sollte die Passion immer wieder neu vollzogen und so für das eigene, besonders aber das Seelenheil der Stifterfamilie fruchtbar gemacht werden.72 Die Kapelle sollte dafür einer sinnlich komplexen Nachfolge Christi Raum geben, äußere Imitatio und innere Imaginatio gleichermaßen fördern. Dies mag noch einmal erhellen, warum man die Passionsgeschichte weitestgehend durch eine monumentale Raum-Bild-Szenerie illustrierte, mit der eine stark assoziative Betrachtungsweise verbunden war.73 Das Licht stellte sich hierauf in besonderer Weise ein, indem es etwa den Felsen erleuchtete und im Schattenspiel dessen Taktilität hervorhob, oder mit den dunklen Eingängen zur Krypta Spannung erzeugte. In den performativen Strukturen des Brügger Jerusalem, zu denen auch der Choraufstieg sowie die Übergänge vom Wohnbereichen in den Sakralraum gehörten,  70 Für den kunsthistorischen Umgang mit Sakralarchitektur wird eine diesbezügliche Neuausrichtung auch gefordert, u. a. bei Schwarte 2011 und Nille 2012.  71 Certeau 1988, 218. Ausführlichere Angaben zum Brügger Frauenstift in meiner Dissertation.  72 Die Stiftungsurkunden und Testamente der Adornes belegen diesen Gedanken eindrücklich. So sollten die Frauen ad pulsum campane […] venire ad capellam et pro anima parentum meorum, mea et futura nostra posteritate orare….RAB, Adornes en Jeruzalem, inv. 51, fol. 3r. Zudem sollten Gefäße mit Reliquiaren des heiligen Landes ausdrücklich während der Eucharistie der Witwen, also am Laienaltar, gezeigt werden: Illud dimitti capelle de Jherusalem ut mulierule inibi illo v[o]canatur in cena d[omi]ni n[ostri] J[hesu] XPI et ut reliquie sancte quas portaminus dominus genitores et ego ex terra sancta de Jherusalem in illo reponantur., SAB, Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 39, fliegendes Blatt auf fol. 183r.  73 In Bezug auf die Brügger Jerusalemkapelle wies bereits Laura Gelfand auf diese sinnlichen Eindrücke und performativen Leitgedanken hin, siehe Gelfand 2011; ebenso vorher Kirkland-Yves 2008. Vgl. sind solche Fragen nach der Kapelle als Devotionsanleitung knapp behandelt auch bei Pieper/Naujokat/Kappler 2003, 17. Für Jerusalem generell vgl. Ousterhout 2012, 148f.; Bacci 2013. Beispiele und Techniken imaginierter Pilgerfahrten in Buch- und Tafelmalerei zudem u. a. bei Gerth 2010, Rudy 2011 sowie Schlie 2011.

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waren durch Licht evozierte Sichtbarkeits- und Stimmungsmomente damit von großer Wichtigkeit. Auch aus den „Lichträumen“ resultierte so der Effekt des Wanderns durch Jerusalem. In einer ausführlichen Studie über die virtuelle Vergegenwärtigung Jerusalems in spätmittelalterlichen Frauenkonventen hat Kathryn Rudy gerade die weiblichen Religiosen als maßgebliche Nutzer und Vermittler solcher Imaginationsstrategien ausgemacht. Für die Leidensnachfolge wies sie auf zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Architektur, Raum- und Wegstrukturen sowie Kunstwerken oder den natürlichen Rhythmen der Wochen- und Tageszeiten hin, die bei den Andachts- und Gebetsübungen zur Sprache kamen.74 Ebenso wie die Compassio des Herzens wurde hier meist ausdrücklich eine körperliche Entsprechung, in Kleidung, Haltung oder Bewegung verlangt, mit der man sich der Transzendenz und heilsgeschichtlichen Relevanz des oft tristen irdischen Daseins erinnerte. Das Gedenken der körperlichen Leiden oder aber der Erhöhung und Auferstehung Jesu überlagern sich hier nicht nur permanent, sondern fielen als Spiegel konkreter Lebens- und Seelenumstände immer wieder auf das eigene Selbst zurück. Die konsequente Verquickung von Ikonografie und Nutzung, von formalen und performativen Strukturen sowie materiellen und sozialen Diskursen sollte eine wirkliche Immersion ermöglichen. Zwar wurde Jerusalem in der mittelalterlichen Literatur vielfach als Allegorie des irdischen Lebens gedeutet, an dessen Ziel der Tod und damit der ersehnte Eintritt in das Himmlische Jerusalem stand.75 Vor allem in den Konventen wurde dieser Gedanke aber derart vereinnahmt, dass er auf nahezu alle profanen und sakralen Abläufe anwendbar war und so jeder Schritt auch in Richtung Himmlisches Jerusalem führte.76 Im Zuge dessen scheint auch die Brügger Kapelle einen Weg zu artikulieren. Nicht nur, dass der Chorraum in einer Aporie des Lichts gipfelte, die einem Ausblick auf das Heil in Jerusalem gleichkam. Ebenso markieren die Kreuzigungszeugen über den Chortüren, also unmittelbar an dieser Grenze, signifikante Eckpunkte dieses Durchgangs. Als Vorbilder der Leidensdevotion einerseits und Fürbitter andererseits weisen sie auf Überschreitungsmöglichkeiten hin. Dennoch waren die Frauen aus dem Chor meist, wenn nicht sogar gänzlich ausgeschlossen, ihre Erfahrung Jerusalems führte primär über die Rezeption der materiellen Referenzen in Saal und Krypta. Mit Einzug der Jerusalembruderschaft, der nur wirkliche Pilger beitreten durften, wurden diese Schranken weiter gefestigt. Wenn die Jerusalembrüder am Palmsonntag am Ende der mit „solemnis pompa“77  74 Rudy 2011, hier weiterf. Literatur.  75 Vgl. Auffarth 2002, 103f.; Knust 2007, 88f. Hier sei auch auf die Reflektionen über die Himmelsstadt Jerusalem durch Augustinus verwiesen, die die Heilige Stadt neben der historischen Komponente auch als Bild der menschlichen Seele und der Kirche Christi auslegen (De civitate Dei, Buch 20–22).  76 Etwa in einem Zitat der von K. Rudy untersuchten Handschriften: Ende wilt mi doch niet laten sterven du en spijses mi hier mit dijnen gebenedide licham ende bloet, dat daer bi wanderen mach sonder honger ende dorst den langen wech in dat hemelsche Jherusalem. (MS II 3688, Brüssel, Königliche Bibliothek), zitiert nach Rudy 2011, 413; vgl. 192f.  77 Die Palmsonntagsprozession um die Kapelle wurde bereits durch den mit der Stiftung eng verbundenen Brügger Karmelitern durchgeführt. KAB, Antiquus Liber Fundationum, inv. E0005,

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veranstalteten Prozession in den Chor der Kapelle traten, sollte ihnen laut Vertrag explizit kein anderer Laie folgen dürfen.78 Der zentrale hier forcierte Gedanke einer durch das irdische Jerusalem zum Himmlischen führenden Läuterung war hauptsächlich jedoch an die Stifter gebunden, die als Pilger und Augenzeugen der Heiligen Stätten schon weit in diese Richtung voran gegangen waren. Dafür ließe sich unter anderem der Wappenspruch des Anselm Adornes anführen, der in der Kapelle mehrfach erscheint, etwa am hölzernen Gewölbe des Saals oder außen am Oratoriumserker. Wie alle einflussreichen Einwohner Brügges benutzte Anselm sein Motto als persönliches Zeichen zur Markierung und Verifizierung seines Handelns, seiner Güter und seines Status. Dass die von ihm gewählten Worte „Para Tutum“ so viel bedeuten wie „bereite Sicherheit/den sicheren Ort“, kann daher durchaus auch als das statement eines Pilgers verstanden werden. Noch offensichtlicher wird dies im Verweis auf die Herkunft des Wortpaares aus der sechsten Strophe einer Marienhymne, in der es heißt: Vitam praesta puram / iter para tutum / ut videntes Iesum / semper collaetemur (Gib ein lautres Leben, sicher uns geleite, dass wir einst in Freuden, Jesus mit dir schauen).79 Zudem ist überliefert, dass die Pilgergruppe um Anselm Adornes am Tag ihres Aufbruchs ins Heilige Land vor der Jerusalemkapelle seines Vaters mit eben diesem Hynmus eingesegnet und verabschiedet wurde. Nach seiner Rückkehr scheint sich das persönliche Motto Anselms daher viel intensiver auf die Verehrung Jerusalems zu fokussieren.80 Die in dem speziellen Vers angedeutete Hoffnung auf das ewige Leben ist nicht nur mit einem generellen Reise- und Schutzgedanken verknüpft, sondern wird zugleich Chiffre für die Jerusalemfahrt des Stifters. An der Kapelle könnte der Spruch damit einerseits auf die Bedeutung der Kapelle als authentische Nachbildung hinweisen, die sich aus eigener Anschauung speiste. Andererseits macht er wiederum auf die Konnektivität von Pilgerfahrt und Seelenheil aufmerksam, die in der Kapelle in eine enge Verkettung von Materie und Licht, der realen und der prophezeiten Heiligen Stadt Jerusalem, übersetzt ist. An einer Stelle scheint das „Para Tutum“ sogar ganz explizit auf die Ikonografie der Kapellenarchitektur zu verweisen: an der Turmtür hinter dem linken Chorzugang (Abb. 10). Eher unscheinbar ist der vergoldete Schriftzug „Para Tutum“ hier an einer Schlüsselstelle positioniert, der einzigen Aufstiegsmöglichkeit zum Turm, die so nicht nur in funktionaler, sondern auch in metaphorischer Hinsicht als Scharnier sinnfällig wird. Schon von außen war die Chorwand ja durch Eingangsmetaphern und fol. 11r (Herzlich gedankt sei Jean-Pierre Debels für den Hinweis auf diese im Kontext der Jerusalemkapelle bislang völlig unbeachtete Handschrift). Ab 1522 wurde der aufwendige und topografisch erweiterte Prozessionsablauf durch die Bruderschaft bestimmt, siehe SAB, Archief Adornes en Jeruzalemstichting, inv. 1205, inv. 1207. Zu den medialen Aspekten der Prozession vgl. Gvozdeva/Velten 2011, Schlie 2011.  78 Vgl. Anm. 34.  79 Lateinische Hymnen Mone 1854, 217. Vgl. Lavaert 1984.  80 Lavaert 1984, 16. Zwar spielte der Sinnspruch bereits im vorab angefertigten Testament Anselms eine Rolle (Vgl. Poorter 1931, S. 235, 236 und 238), die Beziehung mit Jerusalem könnte, wie Lavaert vermutet, jedoch zu einer intensiveren Nutzung des Spruchs, gerade in der Kapelle, geführt haben.

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Abb. 10: Turmtür im Chor der Jerusalemkapelle, Brügge.

Lichtkonzentration gekennzeichnet, die eine heilstopologische Deutung Jerusalems zuließen. Am Turmzugang wird diese Wegmetaphorik nun ein weiteres Mal aufgegriffen. Wer den Turm genau besteigen konnte, lässt sich zwar nicht mehr präzise nachvollziehen, doch muss die soziale Differenzierung der Kapelle, ihre Teilung in den unteren Laienbereich und den Chor für den klerikalen und adeligen Stand hier abermals Beachtung finden. Dass dieser schlagkräftige Verweis auf die Turmsymbolik erst hinter der Chorschranke sichtbar wurde, wo er den Aufstiegsgedanken der Chortreppen weiterführt und sich damit bewusst an diejenigen richtete, denen die Pilgerfahrt ins Heilige Land bereits gelungen oder zumindest möglich war, macht dies offenkundig. Jerusalemreise und glücklicher Einzug der Seele ins Jenseits fallen hier noch einmal unmittelbar ineinander. Als bekrönender und höchster Teil des Kirchengebäudes verkörperte der Turm ja nicht nur sprichwörtlich die Nähe zum Reich Gottes, sondern unterstrich dies durch seine Funktion als Lichtbringer in besonderer Weise. Dass sich die Wappen der Familie später unter den reich ornamentierten Gewölbesäulen des Turms, also mitten im Licht wiederfinden, lässt deren Seelenrettung beinahe zur Gewissheit werden (Abb. 5).81 Die dem „Para Tutum“ inhärente Metaphorik des Wegbereitens spricht das hohe Turm­ innere so noch einmal ganz klar als Transferraum an und auch die Zahlensymbolik der Architektur, mit acht Wandfeldern der unteren Turmzone und die acht Fens 81 Im Sinne einer „Architekturexegese“, vgl. Bürger 2013, 12f.

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tern darüber, würde dies verifizieren.82 Vermutlich sollte die unkonventionelle Turmhaube, die mit verschiedenen Geschossen und Türmen tatsächlich eher an eine Stadtabbreviatur erinnert, als eine Art Wegweiser fungieren (Abb. 1). Mit Sonne und Mond sowie der vergoldeten Kugel am Turmabschluss nutzt sie einen bekannten Zeichenapparat des fernöstlichen Jerusalems und präsentiert sich zugleich gewissermaßen als Vorausschau der einen Heiligen Stadt.83 Dass an Türmen im spätmittelalterlichen Flandern häufig mit heilsgeschichtlichen Konnotationen gespielt, das Streben zum Himmel als Bereiten einer Gotteswohnung verstanden wurde, macht eine Form von Himmelsarchitektur auch für das Brügger Jerusalem plausibel.84 Der Kapellenturm sollte nicht nur zu den Heiligen Stätten aufrufen, sondern einen weithin sichtbaren Referenzrahmen für die Präsenz Jerusalems in Brügge darstellen, vom Ewigen im Hier und Jetzt.85 Führen wir diese Zusammenhänge noch einmal auf die Ausgangsfrage nach den vom Kirchenraum geprägten inneren Bildern zurück, lässt sich die Brügger Kapelle fraglos als eine komplexe Figuration dessen ausweisen, was sich an Vorstellungen, Kenntnissen und Sehnsüchten mit dieser Heiligen Stadt verband. Einerseits wird im Bau der Wille zur tatsächlichen Nachbildung der Heiligen Stätten sichtbar, die gerade im Innenraum von einer materiellen Wirklichkeit ausgeht, deren Spuren die Stifter selbst inspiziert hatten. Gleichzeitig lässt man die reale Umgebung, den Kontext der Stiftung unverkennbar in eine heilstopologische Raummetaphorik münden. Offensichtlich waren alle drei Teile der Brügger Kapelle mit ihrer sakralen Ausstattung, ihren Raum- und Lichtkonzepten zudem sehr sorgfältig auf spezifische Funktionen abgestimmt, woraus eine bemerkenswerte Engführung von Lebensund Imaginationsräumen resultierte. Je nach Bereich evozierte das in den Bau dringende Tageslicht eine konkrete Verortung und Einstimmung des Betrachters, wovon besonders die starken Hell-Dunkel-Kontraste an der Chorscheidewand zeugen. Die heilsgeschichtliche Permeabilität Jerusalems wurde hier greif- und erlebbar, je nach Identität des Betrachters, nach individuellem Standpunkt oder Handlungskontext und den sich im Tagesrhythmus verändernden Lichtverhältnissen konnte sie sich aber verschieben. Auch die Inhärenz von Passionsort und Heilsmacht wurde in unzähligen architektonischen, ikonografischen sowie rituellen und sozialen Antagonismen von Innen und Außen sowie Oben und Unten sichtbar, die jeweils eng mit der Emanation und Wirkung der drei beschriebenen Lichtsituationen verbun 82 Zur Zahlensymbolik vgl. Sauer 1964, 78f. Das Oktogon in Bezug auf die Auferstehung sowie die Nachbildungen der Grabeskirche und des Heiligen Grabes analysiert v. a. bei Krautheimer 1988, 153f. sowie Rossi/Rovetta 1983, 84f.  83 Für die ehemalige Vergoldung der Kugel sprechen vor allem die Stadtansichten im Hintergrund der Gemälde des Lucy-Meisters, etwa beim Heiligen Nikolaus im Groeninge Museum Brügge (c. 1490). In der Ikonografie der Heilig-Landarchitektur sind goldene Schirmkuppeln allgegenwärtig, so im Reisebuch Avis pour faire le passage d’outre mer für Phillip den Guten (Paris, Bibl. Nat., Ms. Fr. 9087, fol. 85v) oder der Kreuzabnahme und Grablegung im Stundenbuch des Étienne Chevalier (Chantilly, Musee Conde, Ms Fr 71, fol. 20 und 22).  84 Vgl. Schlie 1999, 129.  85 Die Frage nach dem Bezug Brügge – Jerusalem behandelt u. a. in Schlie 2011; Brown 2011, bes. 70f.; Trowbridge 2009; Gelfand 2008.

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den waren. Vor dem Hintergrund einer Nachbildung der Heiligen Stätten, die die Rezeption einer darin materiell verankerten Gnadenwirkung gewährleisten will, wird die Suggestionskraft des Lichts damit als eine Form der Anleitung evident, als Medium und Multiplikator des Weges nach Jerusalem. Gleichzeitig erläuterte die Brügger Lichtregie den Zusammenhang von Begegnung, Erinnerung und Erlösung an den Heiligen Stätten und damit, kurzum, das „System“ Jerusalem.

Abkürzung der benutzten Archive SAB RAB KAB

Stadsarchief, Brugge Rijksarchief, Brugge Archief van de Paters Karmelieten, Brugge

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Abbildungsnachweise Abb. 1: eigene Aufnahme. Abb. 2: Zuallart, Jean: Il devotissimo viaggio di Gierusalemme, Rom, 1587, 203. Abb. 3: eigene Aufnahme. Abb. 4: Pieper, Jan/Naujokat, Anke/Kappler, Anke: Jerusalemskirchen. Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes, Aachen 2003, 45. Abb. 5, 6: eigene Aufnahmen. Abb. 7: Knust, Cornelia: Vorbild der Gerechtigkeit. Jan Provosts Gerichtsbild in Brügge mit einem Katalog seiner Werke, Göttingen 2007, Detail aus Farbtafel 1. Abb. 8: Krüger, Jürgen: Die Grabeskirche zu Jerusalem: Geschichte  – Gestalt  – Bedeutung, Regensburg 2000, 145. Abb. 9: Pieper, Jan/Naujokat, Anke/Kappler, Anke: Jerusalemskirchen. Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes, Aachen 2003, 53. Abb. 10: eigene Aufnahme.

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Licht am Altar Formierung von sakralen Räumen und Zeiten durch Kerzenlicht in der Zeit der Romanik1 Illumination has played an enduring part in worship and places of worship throughout the ages. Both the necessity of light and its symbolism are reasons for the use of artificial lights in church. The origins of this symbolism can in part be traced back to biblical texts, in which light and darkness, day and night are portrayed as adversarial powers. Whereas light has a life-giving quality and symbolizes the good, the supernatural, God and Christ, darkness is the territory of demons and the Devil. At the same time, the origins of the Christian use of lights can also be found in the cults of antiquity, Jewish beliefs and Eastern-influenced mysteries such as the Mithraic Mysteries. As light also symbolizes the Eucharist, candles are placed around the altar, as medieval sources attest. The positioning of lights at the altar changed throughout the 11th and 12th centuries – from being a restricted practice, it gradually became common use to put lights on the altar. The altar candlestick has established itself as an inherent part and distinctive feature of the altar. It is a sign of veneration towards the altar and allows the Mass to be observed. Crucial to medieval liturgy is a grading of lights depending on the rank of the feast day. Various sources attest to this gradation – the higher the rank of the feast day, the more candles are placed on and around the altar. The gradation of lights also takes place over the course of one day within its liturgy. The lights around the altar are not a general light source for the whole church, but illuminate a clearly defined space. The light is intensified through its reflection in works of art of gold, silver and bronze. The side altars have their own illumination which is subordinate to the high altar’s. Thus isles of light are formed within the (semi-) darkness of the church. The high altar, however, becomes a stage; the celebration of the Mass is staged as an affective centre which creates emotions such as astonishment, joy, longing and hope. In a symbolic way, the illumination confines the liturgical and sacred space. But the altar space is also a showcase, a stage for the clergy in which the priest performs a mystical spectacle – a spectacle that laypeople no longer understand.

Von den frühesten Religionen bis in die heutige Zeit war das Phänomen des Lichts und die Nutzung von natürlicher und künstlicher Beleuchtung für Kult und Kultbau von wesentlicher Bedeutung. Im Spannungsfeld von praktischer Notwendigkeit und christlicher Lichtsymbolik wurden Fenster, Lichtschächte und das Licht von Kerzen, Öllampen und Fackeln bewusst eingesetzt, um bestimmte Zonen zu erhellen und die Malereien, Mosaiken und wertvollen Preziosen am Altar erstrahlen zu lassen. Umso erstaunlicher ist es, dass das Licht als Mittel der Inszenierung in christlich-sakralen Bauten in der Literatur lange Zeit kaum gewürdigt worden    1 Dieser Aufsatz ist Teil meiner noch unveröffentlichten Dissertation Altarleuchter der Romanik. Für die Einladung zur Tagung und für die Möglichkeit der Veröffentlichung dieses Aufsatzes bedanke ich mich ganz herzlich bei Elke Koch und Heike Schlie.

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ist. Erst in neuster Zeit ist dieses Thema in den allgemeinen Fokus gerückt. Dies zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen dazu aus den letzten zehn Jahren,2 aber auch aktuelle Forschungsprojekte wie Lioba Theis’ Untersuchungen zum Licht im byzantinischen Kirchenbau oder Daniela Mondinis Forschungen zu Licht und Dunkelheit in der Architektur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Erstere hat für den byzantinischen Kirchenbau nachgewiesen, dass sowohl natürliches als auch künstliches Licht eingesetzt wurde, um durch eine „Abstufung von Helligkeitszonen“ eine „Abstufung der Wertigkeit“ zu erzeugen: „Je heller ein Raum beleuchtet war, desto größer war seine Bedeutung innerhalb des Gesamtgefüges der Kirche.“3 Dabei stellt sie für die mittelbyzantinische Zeit eine Tendenz zu natürlichem Licht, in spätbyzantinischer Zeit hingegen zu künstlicher Beleuchtung fest. Ähnliche Entwicklungen einer Veränderung der Gewichtung von künstlichem und natürlichem Licht lassen sich in der mittelalterlichen Kirche des Westens beobachten. Daniela Mondini hat einen sich verändernden architektonischen Umgang mit dem natürlichen Licht von der Spätantike zur Romanik festgestellt: Von einer reichen natürlichen Beleuchtung, die wie in Byzanz hierarchisierend eingesetzt wurde, hin zu „architektonischen ‚Verdunkelungstendenzen‘“ in der Romanik.4 Der Anteil der Fensteröffnungen am Kirchenraum nahm seit 1100 sowohl in Größe als auch in Anzahl deutlich ab, so dass das Kircheninnere insgesamt in ein Halbdunkel getaucht war. Diese Entwicklung scheint auf eine Tendenz weg vom natürlichen und hin zum künstlichen Licht zu weisen; genauso wie in umgekehrter Weise mit der Zergliederung der Wandflächen durch große Fensteröffnungen in der gotischen Architektur wiederum eine Schwerpunktveränderung vom künstlichen hin zum natürlichen Licht angenommen werden kann. Genauere Ergebnisse hierzu stehen noch aus, doch scheint in der Stilepoche der Romanik das natürliche hinter dem künstlichen Licht zurückzutreten. Die Frage, inwieweit natürliches Licht im Kirchenbau der Romanik genutzt wurde, um eine für den byzantinischen Kirchenbau konstatierte „Abstufung der Wertigkeit“ durch unterschiedliche Helligkeitszonen zu erreichen, muss allerdings an anderer Stelle erörtert werden. Hier geht es um die Frage, inwieweit künstliches Licht – in erster Linie Kerzenlicht – im romanischen Sakralbau dazu eingesetzt wurde, um sakrale Räume zu schaffen und den Raum zu hierarchisieren.

   2 U. a.: Binding 2003; Gerhards 2011; Regensburger Domstiftung 2004; Vincent 2004; Vincent 2012. Auch der Beitrag von Barbara Schellewald in diesem Band beschäftigt sich mit dem Phänomen des Lichts.    3 Theis 2001, 55 und 57.    4 Mondini 2013, 6.

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Künstliche Beleuchtung in der Kirche Eine Verwendung von künstlichem Licht im Zusammenhang mit Gottesdiensten bzw. gottesdienstähnlichen Zusammenkünften findet sich bereits in den frühesten christlichen Quellen, allen voran im biblischen Bericht einer Rede des Paulus vor der Gemeinde von Troas (Apg 20,8). Der Grund für die Nutzung von Lampen ist hier freilich allein die praktische Notwendigkeit einer Beleuchtung, da Paulus bis weit in die Nacht hinein predigt. Doch bereits im 5. Jahrhundert gab es Vorschriften, die eine Beleuchtung der Kirche während der Messe nicht nur aus praktischen Gründen verlangten, sondern auch „propter figuram“, wegen der Sinnbildlichkeit des Lichts.5 Diese Sinnbildlichkeit des Lichts wird bereits in der Schöpfungsgeschichte vorgegeben, an deren Beginn die Erschaffung des Lichts und die Gegenüberstellung von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht steht. Es überrascht also kaum, das Licht und Finsternis als sich feindlich gegenüberstehende Phänomene in der christlichen Vorstellungswelt seit jeher eine zentrale Stellung einnahmen. Das Licht ist durch seine immaterielle Stofflichkeit geradezu prädestiniert, das Überirdische und Transzendente auszudrücken. Hinzu kommen seine lebensspendenden Eigenschaften (Wärme, Helligkeit, Gefühl der Sicherheit), die in Kontrast zur Dunkelheit der Nacht als dem Hoheitsgebiet der Geister und Dämonen sowie des Teufels stehen.6 Das erste biblische Urteil über das Licht – es war gut (Gen 1,4) – findet seine konsequente Weiterführung in den übrigen biblischen Schriften. Immer wieder werden Gott und Christus mit dem Licht, der Sonne oder dem Feuer in Verbindung gesetzt. Dies kulminiert in der wohl einflussreichsten Bibelpassage für das christliche Lichtverständnis: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben (Joh 8,12; vgl. auch Joh 9,5; 12,46). Das Licht ist das ultimativ Göttliche, es bedeutet die Befreiung aus der Finsternis (= Tod, Verdammnis). Es ist Lebenslicht und Symbol der Unsterblichkeit, der Auferstehung sowie des himmlischen Paradieses. Das Licht wird zum „Sinnbild der Erlösung des Menschen“.7 Eine Verwendung von Licht im Gottesdienst wird dadurch gewissermaßen zur Selbstverständlichkeit. Praktische Erwägungen wie die Notwendigkeit einer Beleuchtung während abendlicher oder frühmorgendlicher Versammlungen spielten, wie das Beispiel der Predigt des Paulus gezeigt hat, freilich keine geringe Rolle. Ebenso wenig darf der Einfluss von antik-paganen Kulten, von jüdischen Vorstellungen und von über Griechenland und Rom vermittelten östlich geprägten Mysterienkulten – allen voran der Mithraskult – für das christliche Brauchtum unterschätzt werden. Zweifellos liegen hier die Wurzeln der christlichen Lichtriten. Dennoch: Bereits seit dem 4. Jahrhundert lässt sich ein symbolischer Gebrauch von Licht und Kerzen im christlichen Ritus fest   5 Rahmani 1899, 25: Sint omnia loca illuminata tum propter figuram, tum propter lectionem.    6 Zur Bedeutung von Licht/Tag und Finsternis/Nacht vgl. u. a.: Böcher 1991; Freudenthal 1987a, Freudenthal 1987b; Jungbauer 1987; Sparn 1990; Wallraff 2010.    7 Seidel 1996, 11.

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stellen. Die bedeutendste Quelle zu diesem Thema ist der Brief des Hieronymus aus dem späten 4. Jahrhundert, in dem er von dem Brauch der Ostkirche berichtet, während der Verlesung des Evangeliums Lichter zu entzünden, obwohl die Sonne bereits scheint, um ein Zeichen der Freude zu geben (Adv. Vigilantium 7). Die Bedeutung, die dem künstlichen Licht im Gottesdienst zukommt, bringt Bernold von Konstanz im 11. Jahrhundert in seinem Micrologus de ecclesiasticis observationibus auf den Punkt, wenn er sagt: Nach dem römischen Ritus feiern wir keine Messe ohne Licht; nicht, um die Dunkelheit zu vertreiben, da heller Tage ist, sondern vielmehr als Symbol jenes Lichts, dessen Sakrament wir dort [am Altar] feiern, [und] ohne welches wir auch mitten am Tage umherirren würden wie in der Nacht.8 Bernold nennt hier nicht nur den symbolischen Grund für eine Entzündung von Lichtern in der Kirche, er nennt auch einen konkreten Kontext: Das Licht symbolisiert nicht nur in abstrakter Weise die hl. Eucharistie, sondern es ist anzunehmen, dass es diese auch ganz konkret beleuchtet. Der Ort der Eucharistie ist der Altar und so scheint es naheliegend zu vermuten, dass sich eine Beleuchtung vor allem um diesen herum zentriert.9

Licht am Altar (11.–13. Jahrhundert) Die Platzierung von Lichtern am Altar findet seine Bestätigung in den mittelalterlichen Bild- und Schriftquellen. Bereits die berühmte Elfenbeintafel des späten 9. Jahrhunderts in Frankfurt am Main (Abb. 1), die eine Messfeier des ausgehenden ersten Jahrtausends zeigt, bezeugt eine Aufstellung von Lichtträgern am Fuße des Altares. Seit dem 11. Jahrhundert finden sich zudem Darstellungen und Erwähnungen von Leuchtern auf dem Altar, wie beispielsweise eine Miniatur des Codex Vysehradensis aus dem späten 11. Jahrhundert mit der Darbringung im Tempel (Abb. 2).10 Im 13. Jahrhundert ist der Brauch, Leuchter auf den Altar zu stellen, voll etabliert. So kann Durandus von Mende es Ende des 13. Jahrhunderts als einen allgemeinen und üblichen Ritus bezeichnen (communes atque usitatiores ritus, Rat. div. off. Prol. 14), wenn er in direkter Anlehnung an Innozenz III. (De sacro altaris mysterio, 1195/98) schreibt: In den Ecken des Altares werden zwei Leuchter aufgestellt, um die Freude der beiden Völker aufzuzeigen, die sich über die Geburt Christi freuen; diese Leuchter, in deren Mitte das Kreuz steht, tragen brennende Ker   8 Bernold von Konstanz 1853, 984 C: Juxta Romanum Ordinem nunquam missam [missas] absque lumine celebramus: non utique ad depellendas tenebras, cum sit clara dies, sed potius in typum illius luminis cujus sacramenta ibi conficimus, sine quo et in meridie palpabimus ut in nocte. – Eigene Übersetzung.    9 Die Themen der Lichtsymbolik und v. a. der Lichtmetaphysik sind zu komplex, um sie an dieser Stelle weiterzuverfolgen. Es muss reichen, der Vollständigkeit halber Phänomene wie Sol-Christologie, Neuplatonismus oder Augustinus’ Illuminationslehre und Namen wie Pseudo-Dionysius Areopagita, Robert Grosseteste, Mechthild von Magdeburg, Roger Bacon, Thomas von Aquin, Albertus Magnus oder Abt Suger von Saint-Denis hier aufzuzählen.  10 Eine Auflistung der Bild- und Textquellen zur Genese des Altarleuchters im 11. und 12. Jahrhunderts geben Braun 1932, 493f. und Dendy 1959, 45–54.

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Abb. 1: Meister der Wiener Gregorplatte, Elfenbeintafel (Buchdeckel) mit der Darstellung des Messopfers (Sanctus?), 9.–10. Jh., Frankfurt am Main, Liebieghaus.

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Abb. 2: Darbringung im Tempel, Codex Vysehradensis um 1085, Prag, Nationalbibliothek, (Ms. XIV A 13, fol. 19v.).

zen.11 Dennoch herrschte vor dem Tridentinum eine bemerkenswerte Vielfältigkeit der Gebräuche, jede kirchliche Einrichtung konnte ihre eigenen Liturgien und Sonderformen herausbilden. Folgerichtig sind die Bestimmungen über den Gebrauch von Altarkerzen und jenen Kerzen, die den Altar umgeben, vielfältig. Zwei Altarleuchter, die das Altarkreuz flankieren, mögen, wie von Durandus beschrieben, der Normalfall gewesen sein.

 11 Durandus 1995, 43 (Kap. I, 3,27): In cornibus altaris duo sunt candelabra constituta, ad significandum gaudium duorum populorum de Christi natiuitate letantium, que candelabra mediante cruce faculas ferunt accensas; […]. – Eigene Übersetzung.

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Abb. 3: Heziloleuchter, 3. Viertel 11. Jh., Hildesheim, Dom.

Doch nicht nur die Altarleuchter oder Standleuchter zu Seiten des Altares trugen zu dessen Beleuchtung bei. Zahlreiche mittelalterliche Quellen erwähnen außerdem monumentale Lichtträger wie Radleuchter und christliche siebenarmige Leuchter, die sich in der Regel im Besitz von Kathedralen oder großen Abteikirchen befanden (Abb. 3 und 4). Es ist in beiden Fällen schwierig, einen einheitlichen Aufstellungsort für diese in der Kirche zu ermitteln. Peter Bloch vermutete einen Zusammenhang zwischen dem Aufstellungsort der christlichen siebenarmigen Leuchter und ihrer von ihm angenommenen memorialen Funktion – in neuster Zeit durch Vera Henkelmann unterstützt – und also ihrer Platzierung in der Nähe einer Grabstätte.12 Sofern die Quellen Hinweise zu ihrer Aufstellung liefern, scheinen die siebenarmigen Leuchter in der Regel im Chor, vor oder hinter dem Hochaltar, in selteneren Fällen in der Nähe des Kreuzaltares bzw. in medio ecclesiae aufgestellt worden zu sein. Der Terminus in medio ecclesiae (oder verwandte Ausdrücke) bezeichnet dabei Friedrich Oswald zufolge einen beliebigen Standort auf der Längsachse der Kirche.13 Da aus anderen Quellen jedoch häufig eine Nähe zum Kreuzaltar nachgewiesen werden kann, mag hier in den meisten Fällen eine eben

 12 Vgl. Bloch 1961, 120f.; Henkelmann 2007, 162–167. Henkelmann widerspricht allerdings Blochs Deutung des siebenarmigen Leuchters als Totenleuchter. Seine memoriale Funktion könne auch ohne lokalen Zusammenhang zu einer Grabstätte zur Geltung kommen.  13 Vgl. Oswald 1969, 325.

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Abb. 4: Siebenarmiger Leuchter, vor 1180er–1190er Jahre, Braunschweig, ehem. Stiftskirche St. Blasius.

solche angenommen werden.14 Auch die Radleuchter scheinen, soweit die Quellen uns Informationen dazu liefern, entweder im Chor oder ebenfalls in medio ecclesiae gehangen zu haben. Im Falle von Radleuchter-Ensembles, wie sie beispielsweise für die von Bischof Meinwerk von Paderborn († 1036) gestiftete Klosterkirche Abdinghof nachgewiesen oder im Hildesheimer Dom (Hezilo- und Thietmar-Leuchter) erhalten sind, hing offenbar meistens einer der Leuchter im Chorraum, vermutlich irgendwo vor dem Altar, der größere hingegen hing in medio ecclesiae, wiederum wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Kreuzaltar.15 Sowohl der christliche siebenarmige Leuchter als auch der Radleuchter scheinen sich also, mit aller gebotenen Vorsicht formuliert, in der Regel in einem lokalen Zusammenhang mit den wichtigsten Altären einer Kirche zu befinden, nämlich dem Haupt- oder dem Kreuzaltar. In der Kathedrale von Bayeux war sowohl ein siebenarmiger Leuchter als auch ein Radleuchter vorhanden. Der Radleuchter hing dort seit 1159 am Eingang des Chores (also vermutlich in der Vierung), während der siebenarmi 14 Vgl. den Katalog aller durch Quellen nachweisbarer siebenarmiger Leuchter bei Bloch 1961, 181–190.  15 Viele Möglichkeiten der Aufhängung wird es für die großen Exemplare von sechs Metern Durchmesser und mehr nicht gegeben haben. Für die Seitenschiffe waren sie sicherlich zu groß, so dass sich als einzige Alternative die Platzierung von zwei Radleuchtern im Langhaus anbot – eine in den meisten Fällen eher zu vernachlässigende Möglichkeit. – Zum Aufhängungsort der Radleuchter vgl. v. a. die Überlegungen von Gallistl 2009, 73–76 und die Auflistung aller romanischen Radleuchter durch Kitt 1944, 1–117.

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ge Leuchter sich einem Bericht des späten 17. Jahrhunderts zufolge in der Mitte des Chores befand. Auch die Kathedrale von Christ Church, Canterbury, die Abteikirchen von Cluny und Reims sowie der Kölner Dom besaßen beide Arten dieser Monumentalleuchter. Die Kanoniker-Stiftskirche St. Severin zu Köln wies sogar einen siebenarmigen Leuchter und zwei Radleuchter auf, die im letzten Viertel des 11. bzw. im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts gestiftet wurden.16 In unmittelbarer Nähe zum Haupt- und/oder Kreuzaltar standen außerdem die Wandlungskerzen (auch: Sanctus- oder Elevationskerzen). Sie wurden während der Elevation der Hostie am Altar entzündet und dienten einerseits der besseren Sichtbarkeit der Hostie, andererseits als äußeres Ehrzeichen für das Sakrament. Ob die Wandlungskerzen, deren Zahl anfangs vermutlich zwischen einer und vier Kerzen schwankte, jedoch auch bis zu zwanzig Stück umfassen konnte, nur während der Elevation oder noch bis nach der Kommunion brannten, wurde in den einzelnen kirchlichen Einrichtungen unterschiedlich gehandhabt.17

Hierarchisierung der liturgischen Zeiten Ein wesentliches Merkmal mittelalterlicher Liturgie ist eine Staffelung der Lichter je nach Rang des Festtages. Eine solche beschreibt der Liber ordinis der Pariser Abtei St. Viktor aus dem 12. Jahrhundert: An den Hauptfesten (u. a. Weihnachten, Mariä Lichtmess, Ostern, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Kirchweihe, Allerheiligen) wurden fünf Kerzen zur Hauptmesse auf dem Altar angezündet, zu jedem festum duplex nur drei. An Festen dritten Ranges brannten zur Hauptmesse jeweils zwei Kerzen am Altar. An allen übrigen Tagen wurde nur eine Kerze entzündet. Zu Matutin und Vesper der jeweiligen Feste sollten zwei Kerzen auf Leuchtern vor dem Hochaltar stehen.18 Ein weiteres Kapitel des Liber ordinis, das lediglich in zwei Manuskripten aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts überliefert ist und sich ausführlich mit der Beleuchtung in der Kirche beschäftigt, enthält noch ausführlichere Informationen zum Entzünden derjenigen Kerzen, die um den Altar herum positioniert wurden: So gibt es u. a. vor, dass zu Epiphanie, an allen festi duplici und an den drei Tagen nach Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowie am Johannistag neun Kerzen und sieben Lampen um den Hauptaltar herum zu entzünden waren – und diese sollten zu den Primen, den Matutinalien und zur Hauptmesse brennen. Von der ersten Vesper der fraglichen Tage bis nach der Komplet brannten zudem  16 Vgl. die jeweiligen Auflistungen bei Bloch 1961 und Kitt 1944.  17 Zur Wandlungskerze u. a.: Browe 2003a; Diósi 2008, 17–19; Vincent 2004, 235–241.  18 Jocqué/Milis 1984, 90f.: In dominicis diebus et festis nouem lectionum […], per singulos dies ad missam maiorem duo cerei in altari ardeant. In dupplicibus festis tres, in summis sollempnitatibus, […], in his tantum sollempnitatibus quinque cerei ad missam maiorem accenduntur super altare, et ad missam matutinalem duo, excepto quod in anniuersariis sollempnibus ad missam matutinalem duo similiter cerei ardeant. In ceteris diebus omnibus ad missam maiorem unus tantum cereus illuminatur. […] Ad matutinas uero et uesperas, in omnibus his supra nominatis sollempnitatibus, duo cerei ante maius altare in candelabris accenduntur, […].

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fünf Lampen ununterbrochen tags und nachts. Am Mittwoch vor Ostern hingegen wurden zu den Vespern sieben Kerzen und fünf Lampen um den Altar herum entzündet. An wieder anderen Festtagen (Johannes ante Portam Latinam, St. Johannes und Paulus usw.) erhellten zwei Kerzen die erste Vesper, die Matutin und die Hauptmesse, die zweite Vesper aber nur eine Kerze, da diese Feste mit der Non endeten, wenn sie nicht auf einen Sonntag fielen.19 Die Consuetudines der italienischen Abtei Fruttuaria aus dem 11. Jahrhundert berichten ebenfalls ausführlich über eine stark ausdifferenzierte Lichtstaffelung: Der Sakristan hatte dafür Sorge zu tragen, dass an hohen Festtagen (u. a. Weihnachten, Ostertriduum, Christi Himmelfahrt, drei Pfingsttage, Kirchweihe und Allerheiligen) sieben Leuchter vor den Altar gestellt wurden. Alle sieben gleichzeitig brannten jedoch nur zur Hauptmesse und zur Vesper. Zu den Horen außer der Komplet hingegen wurden nur drei der sieben Kerzen entzündet, und zwar so, dass sich zwischen zwei nicht brennenden immer eine brennende Kerze befand. Zu den Nokturnen hingegen entfachte man vier der sieben Kerzen, diesmal sollten zwei brennende eine nicht brennende Kerze flankieren. Zum Fest der natalis innocentium und weiteren Festen zweiten Ranges wurden fünf Leuchter vor den Altar gestellt, zu allen Festen der zwölf Lesungen und in der gesamten Oster-, Pfingst- und Weihnachtswoche drei.20 Die mittelalterlichen Consuetudines trugen also dafür Sorge, dass eine Vielzahl von Leuchtern auf dem Altar und um ihn herum positioniert war und das ihre Zahl je nach Festrang des Tages gestaffelt wurde: Je höher der Festtag, desto mehr Kerzen wurden entzündet. Auch im Verlauf des Tages fand sich eine solche Staffelung: Zur Hauptmesse brannten mehr Kerzen als zu den Stundengebeten, die Vesper und Matutin waren in der Regel stärker ausgeleuchtet als die übrigen Horen. Auch die übrigen Lichtträger gliedern sich in diese Lichtregie ein: Die Wandlungskerze brennt nur zur Messe, und auch hier nur zum wichtigsten Moment, nämlich der Wandlung der Hostie in den Leib Christi. Für die siebenarmigen Leuchter und Radleuchter ist eine liturgische Funktion ebenso schwierig zu ermitteln wie ihr Standort. Für die Kathedrale von Hereford, Herefordshire jedenfalls ist  19 Ebd., 301: In Epiphania et in toto dupplici et in tribus diebus post Natiuitatem Domini et post Pascha et post Pentecosten et in Natiuitate Sancti Iohannis Baptistae debent accendi nouem cerei circa maius altare et ardere ad primas et ad matutinas et maiorem missam. Similiter septem lampades debent ardere ad horas praedictas, et de die et nocte continue quinque lampades a primis uesperis usque post complectorium ipso die festi. […] Feria quarta ante Pascha ad uesperas debent accendi septem cerei circa altare et quinque lampades […]. 302f.: In quibusdam autem festis in quibus duo cantant inuictatoria, ut sunt Iohannis ante Portam Latinam et Sanctorum Iohannis et Pauli et similibus, debent accendi duo cerei ad primas uesperas et ad matutinas et maiorem missam; ad secundas autem uesperas non accenditur nisi unus cereus, nam festum ad nonam terminatur, nisi festum die dominica euenerit.  20 Spätling/Dinter 1987, 177: In Natale Domini [et in aliis festis primae dignitatis, d.Verf.] in omnibus his septem candelabra mittit ante altare […]; In natale Innocentum quinque candelabra mittit ante altare […]. In omnibus duodecim lectionibus tria, per totam ebdomadam Paschae, Pentecostes, Natiuitatis Domini similiter tria. […] In omnibus festiuitatibus, in quibus septem candelabra ardent ante altare, ad omnes illas horas excepto Completorio tria accendit, postquam Deus in adiutorium ceptum est, et ita semper, ut inter duo extincta sit unum quod ardeat. Ad missam maiorem et ad Uesperam omnia, ad Nocturnos quatuor, ita ut inter duo quae ardent sit unum extinctum.

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überliefert, dass ein siebenarmiger Leuchter im späten 13. Jahrhundert an allen Hauptfesten zur ersten und zweiten Vesper sowie zur Messe brennende Kerzen trug.21 Den Vorgaben des Kalendariums der Domcustodie des Kölner Doms aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zufolge, welches auf ältere Aufzeichnungen zurückgehen mag, wurden die Kerzen der beiden im Kölner Dom befindlichen siebenarmigen Leuchter an besonderen Festtagen zusammen mit anderen Lichtern angefacht.22 Vom siebenarmigen Leuchter zu Salisbury ist im frühen 13. Jahrhundert überliefert, dass seine sieben Kerzen von Pfingsten bis einschließlich Mariä Geburt entzündet wurden, allerdings ist auch hier kein näher umrissener liturgischer Gebrauch erwähnt.23 Über den Radleuchter der Abteikirche von Cluny erfahren wir hingegen aus den Statuten des Abtes Petrus Venerabilis (1122–1156), dass der in der Mitte des Chores befindliche Radleuchter nur an den fünf höchsten Festtagen des Jahres sowie am Fest der Kirchweihe und zu Allerheiligen entzündet werden durfte.24 Für den Hezilo-Leuchter in Hildesheim hat Bernhard Gallistl alle schriftlich überlieferten Kerzenstiftungen zusammengetragen. Es wurden u. a. Kerzen für alle im Hildesheimer Dom stattfindenden Stationsgottesdienste der Konventualkirchen gestiftet (1275), außerdem zur Vesper an Ostern und zu den Vigilien von Weihnachten, Pfingsten, dem Fest der Kirchweihe, Himmelfahrt Mariä und Lichtmess (1307).25 Die Radleuchter in Speyer und St. Severin, Köln, trugen wenigstens im 16. bzw. 17. Jahrhundert an den hohen Festtagen brennende Kerzen, dies erlaubt jedoch keine sicheren Rückschlüsse auf das 11. bis 13. Jahrhundert. Ein klares Bild der liturgischen Nutzung von siebenarmigem Leuchter und Radleuchter ergibt sich also aufgrund der sehr spärlichen Informationen in den Quellen nicht, man kann wohl annehmen, dass sie in der Regel nur zu besonderen Anlässen mit Lichtern versehen wurden – allein schon aufgrund der horrenden Kosten, die die Nutzung so vieler Kerzen mit sich brachte. So wiesen die kleinsten überlieferten romanischen Radleuchter zwölf Kerzen auf, in den meisten Fällen betrug ihre Zahl jedoch 36 bis 96 Kerzen, die aus edelstem Bienenwachs zu bestehen hatten. Um den großen Bedarf an Wachskerzen einer Kirche zu decken,26 wurde diese mit sogenannten Lichtergütern ausgestattet, deren Erträge entweder  21 Lehmann-Brockhaus 1955, 550, Nr. 2067a: In hiis [sc. festis principalibus, Anm. L.-B.] enim in primis et secundis vesperis, et in missa accenduntur omnes cerei, videlicet: 4 ante maius altare, 5 in bacinis, 13 super trabem, et 7 super candelabrum.  22 Vgl. die zitierten Stellen bei Bloch 1961, 120 und 144.  23 Lehmann-Brockhaus 1956, 499, Nr. 4109: A Pentecoste tamen usque ad Nativitatem b. Mariae, et in ipso festo Nativitatis, septem cerei candelabro aeneo imponuntur.  24 Petrus Venerabilis 1995, 82: Statutum est, ut magnae illi coronae ex aere, auro argentoque elegantissime compositae, quae in medio chori forti cathena sustentata dependet, accensi cerei non imponantur, nisi in quinque praecipuis festis, et festo Dedicationis Ecclesiae et Omnium Sanctorum.  25 Vgl. Gallistl 2009, 48–53.  26 Das Kapitel von Langres verbrauchte 1281 nicht mehr als 240 Pfund Wachs, im darauffolgenden Jahr 285. Eine Kirche mit angeschlossenem Kloster benötigte ungleich mehr Wachs: Saint-Denis verbrauchte zwischen 1284 und 1285 5612 Pfund Wachs. (vgl. Vincent 2004, 151f.). In Tabelle 4 (S. 185) führt Vincent außerdem die Ausgaben für die Beleuchtung der Kathedrale von Langres in den Jahren 1281, 1282 und 1326 exemplarisch auf. Die Gesamtausgaben liegen 1281 bei knapp 7000 Livres, 1282 lediglich bei ca. 5700 Livres und 1326 sogar bei fast 15.500 Livres.

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ganz oder zum Teil der Kerzenunterhaltung dienten. Weitere Quellen waren der Wachszins, Oblationen und Stiftungen von Wachs oder Kerzen durch Einzelpersonen oder – vor allem seit dem Spätmittelalter – durch Zünfte und Bruderschaften. Darüber hinaus musste immer auch ein großer Anteil Wachs käuflich erworben werden, was Wachs zu einem wichtigen Handelsgut werden ließ. Die Herstellung von Kerzen aus diesem Wachs lag anschließend – wenigstens im 11. bis frühen 13. Jahrhundert – in den Händen der Klöster und Kirchen selbst. Die hohen Kosten für Öl und Wachs führten freilich dazu, dass sich in vielen v. a. ländlichen Kirchen die Beleuchtung zwangsläufig auf ein Minimum beschränken musste.27 Neben den Kirchen und Klöstern konnte sich im Mittelalter nur der Adel Wachskerzen leisten und selbst für diesen galt Kerzenlicht als ein prestigeträchtiges Statussymbol, das nicht unbedingt zum Alltagsleben gehörte. Für die Bürger der Städte oder gar die Landbevölkerung stellten Wachskerzen einen unerschwinglichen Luxus dar. Man bediente sich in der Regel des Kienspans oder der selbst gefertigten und stark riechenden Talg- bzw. Unschlittkerze. Das Licht in den Häusern der Stadt- und Landbevölkerung war also schummrig, rauchte stark und stank zuweilen. Ein Erlebnis ganz anderer Art bot sich dem Gläubigen hingegen an, wenn er eine Kirche während des Gottesdienstes betrat. Dutzende von Bienenwachskerzen brannten dort, tauchten den Altar in ein warmes helles Licht und wurden reflektiert vom goldenen Altargerät! Auch der olfaktorische Sinn wurde angesprochen, wenn die Luft erfüllt war vom Duft nach Bienenwachs und Weihrauch. Die Staffelung der Lichter nach dem Festrang entsprach also nicht nur der symbolischen Auszeichnung der hohen Festtage, sondern war auch der praktischen Notwendigkeit geschuldet, dass eine prächtige Festbeleuchtung wie an den höchsten Tagen finanziell nicht an jedem (Fest-)Tag realisierbar war. Je größer die Mittel einer Kirche oder die Stiftungstätigkeit an einer Kirche, desto vielfältiger waren vermutlich die Anlässe, zu denen Radleuchter und siebenarmiger Leuchter, aber auch die Kerzen um den Altar herum entzündet wurden.

Die Klerikalisierung der Liturgie formt den sakralen Raum neu Wie eingangs kurz erwähnt, treten Altarleuchter im eigentlichen Sinne des Wortes erstmalig in den Quellen des 11. Jahrhunderts in Erscheinung. Vorher scheinen sie den wenigen erhaltenen Quellen zufolge, die überhaupt Leuchter im Kontext mit einem Altar erwähnen oder abbilden, immer vor, hinter oder an den Seiten eines Altares platziert worden zu sein, wie dies die Elfenbeintafel aus Frankfurt (Abb. 1) illustriert. Für Leuchter auf der Altarmensa selbst gibt es bis zur zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts keinerlei Zeugnisse. Dies entsprach der Bestimmung der Papst Leo IV. (847–855) zugeschriebenen Homilia Leonis IV., wonach auf dem Altar nichts außer den Reliquiaren mit den Gebeinen der Heiligen, den vier Evangelien  27 Vgl. Seidel 1996, 26, 45f.; Vincent 2004, 155–169, 373–424.

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und der Pyxis mit dem Viaticum aufgestellt werden sollte.28 Freilich gibt diese Vorschrift und ihre breite Rezeption bereits einen indirekten Hinweis darauf, dass vermehrt dazu übergegangen wurde, auch andere Gerätschaften auf die Altarmensa zu stellen und man gerade dies zu unterbinden trachtete. Zudem legt allein die Tatsache, dass seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts recht plötzlich über ganz Europa verteilt Text- und Bildzeugnisse auftauchten, die Leuchter auf dem Altar erwähnen bzw. zeigen, nahe, dass sich dieser Brauch langsam entwickelt und im 11. Jahrhundert schließlich eine gewisse Verbreitung gefunden hatte, bis er im 13. Jahrhundert – von regionalen oder ordensspezifischen Ausnahmen einmal abgesehen – voll etabliert war. Die Gründe für diesen Wandel in der Aufstellungspraxis sind vielfältig und nach wie vor umstritten.29 Es ist jedoch sicher kein Zufall, dass sich ein so einschneidender Wandel in der Zeit der monastischen Reformbewegungen vollzog. Im Zentrum der ganzen Entwicklung mag die veränderte Bedeutung des Altares gestanden haben, der immer mehr – v. a. auch durch das Bergen von Reliquien – in das ideelle Zentrum rückte. Dies fand seinen Ausdruck in einem gesteigerten Gebrauch äußerer Ehrbezeigungen wie der Inzensierung des Altares, Kniefall und Altarkuss. Dieser Prozess war schleichend und nahm bereits im 4. Jahrhundert seinen Ausgang. Dennoch ist das 11. Jahrhundert als ein Höhepunkt dieser Entwicklung zu sehen.30 Auch die Klerikalisierung der Liturgie und damit der Ausschluss der Gemeinde aus der aktiven Partizipation hatte seine höchste Steigerung erfahren. Der Raum um den Altar herum war ausschließlich dem Klerus vorbehalten, die Gemeinde verfolgte den Gottesdienst von Ferne und nahm nicht aktiv an ihm teil. Die Trennung des Kirchenraumes in einen Laien- und einen Klerikerbereich durch Schranken ist bereits früh nachweisbar, und so gibt es auch schon früh den Kreuzaltar als eigenen Altar für das Volk. Am Hauptaltar feierte das jeweilige Kapitel bzw. die jeweilige Ordensgemeinschaft die Stundengebete. Auch die höchsten Feste wurden am Hochaltar für die gesamte Gemeinde gefeiert. Die Gebräuche waren, wie bereits bemerkt, vor dem Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts von Kirche zu Kirche unterschiedlich. So gab es keine allgemeine Regel dafür, welche Messen am Haupt- und welche am Kreuzaltar gefeiert wurden. Dies war sicherlich auch davon abhängig, ob es sich um eine Kathedral-, eine Stifts- oder um eine Pfarrkirche handelte. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade in einer Stiftskirche nicht nur die Hauptmesse, sondern eine Vielzahl an Messen oder liturgischen Feiern abgehalten wurde. Hierzu zählen v. a. die Matutinalmesse und die Stundengebete. Einen Normaltypus der Messe hat es also nicht  28 Leo IV. 1852, 677 (Labbei Editio): Super altare nihil ponatur, nisi capsae cum reliquiis sanctorum, aut forte quatuor sancta Dei Evangelia, aut pyxis cum corpore Domini ad viaticum pro infirmis. Auch wenn die Zuschreibung zu Papst Leo IV. höchst fragwürdig ist, blieb das Dokument nicht ohne Einfluss, wie die späteren Übernahmen in andere Quellen bezeugen: Regino von Prüm, De synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis (10. Jh.); Burchard von Worms, Decretum (11. Jh.); Ulrich von Augsburg, Sermo Synodalis (10. Jh.); Ratherius von Verona, Synodica ad presbyteros (10. Jh.) – vgl. hierzu mit Quellenbelegen: Browe 2003b, 43, Anm. 33; Snoek 1995, 216.  29 Die ausführlichsten Erklärungsversuche bieten Braun 1932 und Dendy 1959.  30 Vgl. Jungmann 1962, 411.

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gegeben, eine Annährung an die Beleuchtungssituation in den Kirchen und ihre Wirkung auf die Gläubigen kann daher nur exemplarisch und mit aller Vorsicht formuliert werden. In den Fällen jedenfalls, in denen die Messfeierlichkeiten am Hauptaltar stattfanden, war die Sicht für die Gemeinde stark eingeschränkt: Altarschranken oder seit spätestens dem 13. Jahrhundert auch monumentale Lettner verstellten die Sicht, der gesamte Chorbereich, in dem sich der übrige Klerus befand, erstreckte sich zwischen Altar und Gemeinde. Eine unter dem Ostteil befindliche Krypta erhöhte diesen Bereich der Kirche oft zusätzlich, optisch durch Stufen ausgedrückt. Auf diese Ferne und mit all diesen Hindernissen im Weg war es für den Laien schwierig, die Geschehnisse am Altar zu verfolgen. Damit die Gläubigen wenigstens den Moment der Elevation visuell miterleben konnten, ermöglichten spezielle Fensteröffnungen am Lettner die Durchsicht.31 Gleichzeitig wird oft nur durch das flackernde Licht der Kerzen angedeutet, welch mystische Vorgänge hinter dem Lettner vorgehen. Das nicht oder nur unzureichend visuell erfahrbare Messgeschehen wird im Sinne der Arkandisziplin zum Mysterium. Der Ausschluss der Gemeinde von der aktiven Partizipation und die große (optische und ideelle) Distanz, die sie zum Messgeschehen einnahm, führten zu einer verstärkten Laienfrömmigkeit und einem ausgeprägten Schaubedürfnis, zu einer Intensivierung der Heiligenverehrung und v. a. der Eucharistiefrömmigkeit, deren deutlichste Ausprägungen seit dem 13. Jahrhundert die Elevation der Hostie, die Aussetzung des Allerheiligsten sowie die Entstehung des Fronleichnamsfests darstellten.32 Eingebettet in diese Entwicklung etabliert sich der Altarleuchter als fester Bestandteil der Altarausstattung. Ja, er scheint gleichsam Erkennungsmerkmal des Altares zu sein. Als Beispiel hierfür kann eine Gruppe von emaillierten Reliquienkästchen aus Limoges aus dem späten 12. und dem 13. Jahrhundert herangezogen werden, die die Reliquien des hl. Thomas Becket bergen. Sie bilden stets an einer der Längsseiten die Ermordung Beckets 1170 durch die Schergen König Heinrichs II. von England ab. Becket wird hier fast ausnahmslos an einem Altar stehend und die Messe zelebrierend dargestellt, während er von zwei oder drei Rittern mit einem Schwert niedergestreckt wird. Der Altar wird meistens durch einen Kelch – teils mit Patene – und einen Altarleuchter gekennzeichnet. Er scheint zum festen Repertoire des Altarensembles zu gehören, durch ihn wird – in Verbindung mit Altarkreuz oder Kelch – der Altar als ein solcher identifizierbar. Eine ähnliche Darstellung eines Altares findet sich auf dem Limoger Reliquienkästchen der hl. Valeria in der Eremitage zu St. Petersburg (Abb. 5). Hier ist der Altar gekennzeichnet durch Kelch, Patene, Altarkreuz und einen Altarleuchter. Der Altarleuchter ist also fester Bestandteil des Altares, zudem dessen äußeres Ehrenzeichen wie v. a. für die in oder  31 Bestimmung des Generalkapitels der Dominikaner von 1249: Poterunt tamen alique fenestre ibidem aptari ut tempore elevacionis corporis dominici possint aperiri. – Zitiert nach: Schmelzer 2004, 144.  32 Zu diesen Veränderungen in Liturgie und Kirchenraum und ihren Auswirkungen, vgl. u. a. Braun 1924, 176–179; Jungmann 1962, 279–306 und 409–413; Klauser 1965, 103–110; Nußbaum 1965, 279–306; Snoek 1995, 48f., 57, 98 und 232–240.

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Abb. 5: Reliquienkästchen der hl. Valeria (Detail), Limoges, um 1170/80, St. Petersburg, Staatliche Ermitage.

auf ihm befindlichen Reliquien. Zugleich ermöglicht er es als unmittelbarste Lichtquelle am Altar den Laien, das Messgeschehen in der Ferne nachzuverfolgen.

Hierarchisierung des Raumes durch Licht Aus der besonderen Bedeutung, die dem (Haupt-)Altar zukommt, ergibt sich die bereits festgestellte Zentrierung der Beleuchtung auf diesen Altar hin. Altarleuchter brennen auf dem Haupt- bzw. Kreuzaltar, neben ihm stehen weitere Standleuchter. Bei der Messe werden Wandlungskerzen entzündet. Im näheren Umfeld des Altares brennen, wenn vorhanden, Kerzen auf einem Radleuchter oder einem siebenarmigen Leuchter. „Für den Raum“, so konstatierte bereits Adelheid Kitt für den Radleuchter, „bedeutet diese Art von Lichtträgern kein Durchfluten mit Helligkeit, sondern ein Konzentrieren, ein Aufblühen des Lichts an der wichtigsten Stelle, über den Altären, an denen die Messe gelesen wird.“33 Und tatsächlich sollten die um den Altar herum versammelten Lichter nicht als ein allgemeines Mittel zur Erhellung des gesamten Kircheninneren dienen, sondern einen klar umrissenen Raum beleuchten. Die Gemeinde selbst befand sich nicht in völliger Finsternis. Die Obergaden und Seitenschifffenster ließen genug Licht in das Kircheninnere, damit dieses mindestens in ein Halbdunkel getaucht war. Bei Bedarf – vor allem natürlich nachts und in den frühen Morgenstunden – wurde an hohen Festtagen im Laienbereich für eine reduzierte Beleuchtung gesorgt, wie dies für den Kölner Dom aus dem Jahre 1580 bezeugt ist.34 Die Beleuchtung der symbolisch und liturgisch weniger wichtigen Orte in der Kirche, allen voran der Laienbereich, war also dem praktischen Bedarfsfall untergeordnet, eine prachtvolle oder gar dem rein

 33 Kitt 1944, 119.  34 Vgl. Amberg 1989, 80.

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symbolischen Nutzen zugrundeliegende Illumination kam nur den liturgisch wichtigsten Orten der Kirche zu. Die Lichtfülle am Altar wurde noch gesteigert durch zahlreiche Reflexionsflächen, welche sich ebenfalls um ihn herum zentrierten. Dazu zählen vor allem die Werke der Goldschmiedekunst, aus Gold und Silber gefertigte Preziosen, oft verziert mit Edelsteinen und Email, aber auch vergoldete Bronzewerke. Auf dem Altar selbst standen Altarkreuz, Kelch und Patene, Altarleuchter, die reich verzierten liturgischen Bücher und Reliquiare. In der näheren Umgebung des Altares befand sich nicht selten ein Heiligenschrein. Man kann sich vorstellen, wie sehr die Wirkung des Kerzenscheins durch das Funkeln der Schatzkunst gesteigert wurde. Metallene Antependien und weiße oder golddurchwirkte Paramente verstärkten diesen Effekt. Und auch der Weihrauch selbst, der während der Messe abgebrannt wurde, diente als Reflexionsfläche für das Kerzenlicht. Der Kreuzaltar stand möglicherweise hinter dem Hauptaltar zurück, was den Reichtum an Ausschmückung und wertvollen Reliquiaren betrifft, gleichzeitig war er, wenigstens seit dem 13. Jahrhundert, häufig von einer prächtigen Lettnerarchitektur hinterfangen, über der wiederum das monumentale Triumphkreuz seinen Platz hatte. Die Seitenaltäre erhielten ihre eigene Beleuchtung. Diese war jedoch spärlicher als die der wichtigsten Altäre. Hier wurden Öllichter als Ewige Lichter vor Heiligenbildern oder Reliquiaren entzündet, die nicht so hell brannten wie Kerzen. Außerdem kamen vor allem hier Votivkerzen zum Einsatz. Bei den an Seitenaltären abgehaltenen Privatmessen oder kleineren gottesdienstlichen Feiern wurden in der Regel nur ein oder zwei Altarleuchter angezündet. Damit war der Kirchenraum unterteilt in viele kleine Räume, die architektonisch oft als Nischen oder Seitenkapellen ausgeschieden waren, aber vor allem durch ihre Beleuchtung als solche konstituiert wurden. Der Blick wurde automatisch auf die unzähligen kleinen Lichtinseln gelenkt, welche die Altäre im ansonsten häufig dunklen oder trüben Kirchenraum betonten. Die Lenkung des Blickes durch den bewussten Einsatz von Licht gilt umso mehr für die Hauptmesse selbst. Hauptaltar und Kreuzaltar, die selbst bereits durch ihre Positionierung auf der Mittelachse und, wenigstens in ersterem Falle, durch die Erhöhung durch Altarstufen im optischen Zentrum stehen und die auch künstlerisch besondere Betonung durch Antependien, Ziborien, Paramente und den Lettner finden, werden in deutlicher optischer und räumlicher Distanz zu den Gläubigen in ein helles Licht getaucht, so dass das heilige Geschehen, zumindest aber seine Prachtentfaltung und der Höhepunkt der Messe – die Elevation – erkennbar sind. Auf symbolischer Ebene markiert das Licht die Grenzen des liturgisch-sakralen Raumes. Innerhalb seiner Grenzen werden die heiligen Handlungen zelebriert, hier strahlt das göttliche Licht und findet die Teilhabe an der Gnade Gottes statt. Im Zuge der Klerikalisierung ist es nur folgerichtig, dass die Laien aus diesem sakralen Raum ausgeschlossen sind. Damit werden Haupt- bzw. Kreuzaltar als ein affektives Zentrum inszeniert. Hier kulminieren die visuellen, auditiven und olfaktorischen Sinneseindrücke durch den flackernden Kerzenschein, der das Geschehen in eine Aura des Mystischen taucht, durch die Gesänge der Chöre und durch den

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Duft des Weihrauchs und der Bienenwachskerzen. Dieses Überfluten mit Sinneseindrücken führt gemeinsam mit dem Wissen um die Gegenwart des Göttlichen im Moment der Wandlung zu ehrfürchtigem Staunen bei der Gemeinde, zu Freude, Sehnsucht, Ergriffenheit und Hoffnung. Der Altarraum ist aber nicht nur liturgisches Zentrum und Ort des heiligen Messgeschehens, er wird auch Schauraum, eine Bühne für den Klerus, der für die auf bloßen Konsum herabgestuften Laien ein mystisches Spektakel veranstaltet, dessen liturgische Bedeutung sie in der Regel gar nicht mehr durchdringen. Dass der Einsatz von Licht eine bewusste Inszenierung des Altares von Seiten des Klerus darstellte und sich nicht zufällig ergab, zeigen u. a. Forderungen verschiedener Bischöfe, wonach der Altarraum als Ort der eucharistischen Feier deutlich durch Lichter gekennzeichnet sein sollte, ebenso wie andere bedeutsame Orte innerhalb der Kirche wie Gräber, Statuen und Reliquiare.35 Im Zusammenspiel von liturgischen Räumen und liturgischen Zeiten liegt der Fokus also auf dem Hauptaltar während der Hauptmesse. Alle anderen liturgischen Räume und Zeiten werden in genau durchkalkulierter Weise abgestuft. Dies ändert sich freilich nicht mit Ende der Romanik. Zwar scheint in der Gotik eine Bedeutungsverlagerung hin zum natürlichen Licht stattzufinden, gleichzeitig nimmt seit dem 14. Jahrhundert der künstliche Lichtreichtum dennoch massiv zu. Seit dieser Zeit mehren sich die Anweisungen zur Beleuchtung – oder sie haben sich einfach in größerer Zahl erhalten – und werden zum Teil komplexer. So zählt die Kölner Läuteordnung und Aufzeichnungen über die Beleuchtung im Dom zu den einzelnen Gottesdiensten aus dem Jahre 1580 für die große Festbeleuchtung, die u. a. an Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und zum Kirchweihfest entzündet wurde, im Domherrenchor 166 Kerzen, im oberen Chor 84 Kerzen, an dem Sängerpult, an dem das Evangelium gesungen wurde, acht Kerzen und am Choreingang und an der Orgel je eine Bienenwachskerze. Beim täglichen Hochamt wiederum brannten fünf Kerzen und die Tag und Nacht brennende Petruskerze auf dem Altar, vier Kerzen auf ebensovielen Engelleuchtern neben dem Altar sowie zwölf kleine Tortschen und zwei große Tortschen zur Wandlung.36 Und noch im 18. Jahrhundert zeigt eine Miniatur im Missale des Monseigneur de Caylus von 1737 (Abb. 6) den Lichtreichtum, der beim Einzug des Zelebranten in der Kathedrale von Auxerre um den Hochaltar herum inszeniert wurde. Der Chorbereich ist gekennzeichnet durch eine starke Durchfensterung, die erheblich zum Gesamteindruck des Altarraumes beiträgt und – sofern es Tag ist – viel Licht in den Chor lässt. Der Hochaltar selbst ist mit vier Leuchtern geschmückt, hinter dem Retabel, wahrscheinlich auf einer Leuchterbank, stehen noch einmal sechs Leuchter. Zu Seiten des Altares befinden sich nach Westen hin sechs Engelfiguren auf Säulen, die jeweils einen Leuchter in Händen halten. Am Eingang des Chores über den Altarstufen sind es neun große Leuchter, die den Chor vom restlichen Kirchenraum

 35 Vgl. Vincent 2012, 45.  36 Vgl. Amberg 1989, 83f.

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Abb. 6: Kathedrale von Auxerre, Blick in den Chor, Missel de Monseigneur de Caylus, 1737, Aufnahme von Germain Plouvier.

abgrenzen. Die Einzugsprozession des Zelebranten wird schließlich begleitet von zwei Kerzen tragenden Akolythen, wie dies bereits in den frühesten Ordines Romani des 1. Jahrtausends bezeugt ist, wenngleich in den dort beschriebenen Pontifikalämtern sogar sieben Alkolythen vorausgingen. Mag die Lichtinszenierung vielleicht im Einzelnen von früheren Zeiten abweichen, so zeigt sich doch eine Kontinuität in der reichen Ausleuchtung des Chorraumes und vor allem des Altares. Die künstliche Beleuchtung wird also auch in der Kirche des Westens zum Bedeutungsträger, wie Lioba Theis dies für den byzantinischen Kirchenbau festgestellt hatte. Wie in Byzanz weist dabei die Anzahl der Lichter und der dadurch erreichte Grad an Helligkeit jedem Raumteil eine unterschiedliche Bedeutung im Gesamtgefüge des Kircheninneren zu.

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Licht am Altar

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Linda Eggers

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Ausst.-Kat. Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Hildesheim 1993, hg. von Michael Brandt/Arne Eggebrecht, Band 2, Hildesheim 1993, Kat.Nr. IV39, Abb. S. 199. Abb. 2: Springer, Peter: Kreuzfüße. Ikonographie und Typologie eines hochmittelalterlichen Gerätes (Denkmäler deutscher Kunst, Sektion 5: Bronzegeräte des Mittelalters 3), Berlin 1981, Abb. A17. Abb. 3: Bischöfliche Pressestelle Hildesheim (bph). Abb. 4: Ausst.-Kat. Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235, Braunschweig 1995, hg. von Jochen Luckhardt/Franz Niehoff, Band 1, München 1995, Kat.Nr. D 27, Abb. S. 197. Abb. 5: Ausst.-Kat. Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235, Braunschweig 1995, hg. von Jochen Luckhardt/Franz Niehoff, Band 1, München 1995, Kat.Nr. D 100, Abb. S. 304. Abb. 6: Vincent, Catherine: Fiat Lux. Lumière et luminaires dans la vie religieuse du XIIIᵉ au XVIᵉ siècle (Histoire religieuse de la France 24), Paris 2004, Abb. 16.

Eric Hold

‚In spiritu et corpore‘ Affekt und Imagination romanischer Skulpturenräume In his “polemic” letter of 1125, Bernard of Clairvaux put the potential for the monastic meditatio of carved images on the same level as Holy Scripture: “everywhere so plentiful and astonishing a variety of contradictory forms is seen that one would rather read in the marble than in books”.1 Reading in “pre-scholasticism”, however, was an act that incorporated the words into the reader, ensnared him in the text with figurative associations and exegetic work and turned him into a medium: memoria sacra. Moreover, Bernard was not the only one who implicitly (and in his case ex negativo) recognized iconographic programs to be a highly efficient machina memoralis – i.e. a mind machine that was able to reach even the illiterati, like a laicorum lectio. Bernard wrote the Apologia ad Guilelmum one year after a journey through southern France, which had led him to Toulouse and most likely Moissac. Its great southern entrance presents distorted and idealized depictions of the body. The surrounding pictorial narration makes it clear that these bodies are the body of sin (greed and lust) on the one side and the body of Christian virtue on the other. But the immediate sacred environment (the entrance to the Ecclesia, the parochial cemetery) sets this composition against the backdrop of the dichotomy between the body of eternal damnation, like the disfigured bodies of the demons or the rotting corpse, and the transcendent body of resurrection, as it appears in early reliquaries or through the idealized figure of the abbot. But only the wider context of medieval anthropology – that is, the shaping of man ad imaginem Dei – clarifies how, in fact, the sculptures imposed a moral attitude on the spectator and inevitably established an affective relationship with him. In this regard, it could be understood that the sculptures possessed an ethical nature that was indoctrinated into the spectator via the sculptural deployment. Portal and cloister sculpture opened up a visual field that trapped the spectator not only physically (in corpore) but also, by means of a cognitive challenge and thematic associations, mentally (in spiritu).

Einleitung: „idiotis“ in einer Bildermaschine Auf der Suche nach der mittelalterlichen Bildtheorie stößt man unweigerlich auf die Bemerkungen eines der schärfsten Kritiker der skulpturalen ornamentae im Kirchenraum, des Zisterzienserabts Bernard von Clairvaux: Was sollen jene grotesken Fabelwesen, jene außergewöhnlichen, unförmigen Schönheiten und jene schönen Unförmigkeiten? […] Ja, die Vielfalt der Formen ist so groß und so wunderlich, dass man den Marmor entziffert statt in den Handschriften zu lesen, dass man den Tag damit zubringt, diese Sonderheiten zu betrachten […].2 Hierbei wird oft übersehen, dass   1 Rudolph 1990, S. 283.   2 Quid facit illa ridicula monstruositas, mira quaedam deformis formositas ac formosa deformitas? […] Tam multa denique, tamque mira diversarum formarum ubique varietas apparet, ut magis legere libeat in marmoribus quam in codicibus, totumque diem occupare singula ista mirando. Bernardus

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Lesen damals vor allem ein Prozess war, der die Wörter dem Leser leibhaftig ‚einfleischte‘ und ihn über figurative Assoziationen derart in den Text verstrickte, dass er selbst zu einem Medium wurde – eine Bewegung, die memoria sacra genannt wurde. Wenn man also den Marmor [so] entziffert wie man in den Handschriften liest, war „Sehen“ höchstwahrscheinlich eine äquivalente Meditationsbewegung, die den Betrachter über die Wahrnehmung, Assoziationen und Imaginationen ganzkörperlich einspannte: Capitella sunt verba sanctae scripturae, quorum meditationi subimur, et observantiae.3 Nun war Bernard bei weitem nicht der einzige, der, in diesem Fall ex negativo, Bildprogramme als äußerst effiziente machina memoralis anerkannte. Aber im Gegensatz zu dessen zisterziensischen Reformorden hatten die Kluniazenser diese visuelle Gedächtnismaschine auch zur Bearbeitung der idiotae und die Bilder gleichsam der Schrift (pictura quasi scriptura), im Sinne einer bildkörperlichen laicorum lectio, eingesetzt.4 Verfasst wurde die polemische Abhandlung von Bernard ein Jahr nach einer langen Reise durch Süd-Westfrankreich, während derer er sich nach Toulouse und wahrscheinlich auch nach Moissac begeben hatte. Die cluniazensische Benediktinerabtei inkarniert mit seinem ausufernden Südportal und dem 76 Kapitelle (davon 47 narrativ) und 14 lebensgroße Reliefplatten entfaltenden Kreuzgang geradezu das Prinzip einer solchen monumentalen Bildmaschine.5 Selbst wenn die Skulpturen Moissacs von der kunsthistorischen Forschung hinsichtlich ihrer ikonographischen und stilistischen Bezüge ausführlich begutachtet wurden,6 so berücksichtigte man doch ungleich weniger ihre tatsächliche „Funktionsweise“ (d. h. die sozial-spirituelle Funktion und die bildpraktische Umsetzung).7

Claraevallensis, S. Bernardi Abbatis Apologia ad Guillelmum Sancti-Theoderici Abbatem, XII, 28 (PL 128, 916A); vgl. Rudolph 1990, 282.    3 Diese Formel wurde nahezu identisch von Sicardus von Zeremona (Mitrale, PL 213, 22C) und Durannus von Mende (Rationale divinorum officiorum, I, 1 N 27) benutzt. Vgl. Kalbaum 2011, 167.    4 Hier ist sicherlich zuerst an die berühmten Sätze Gregors des Großen, aus seinem Brief an den bilderkritischen Abt von Marseille Serenus, zu denken: „Denn was für die Lesenden die Schrift, das ist für die auf das Schauen angewiesenen Ungebildeten (idiotis) die Malerei (pictura), weil sie im Bild sehen können, was sie erstreben sollen; im Bild lesen die Schriftunkundigen (ignorantes)“. Gregor der Große, Epistolae II, X, PL 77, 1128–129; vgl. Dekoninck 2004, 95; Kalbaum 2011, 162f.; Neuheuser 2001, 224.   5 Nach der gängigen Datierung des Südportals müsste dieses beim angenommenen Besuch Bernards gerade kurz vor der Vollendung gestanden haben, der Kreuzgang (ante quem 1100) aber schon seit ungefähr 25 Jahren vollendet gewesen sein.    6 Als zwei Pole seien aus der umfangreichen Bibliographie nur die teilveröffentlichte Dissertation Meyer Schapiros (1931) und ein jüngerer Aufsatz von Linda Seidel zur skulpturalen Bilderzählung genannt. Auf Spezialuntersuchungen wird an der jeweiligen Stelle verwiesen. Vgl. Droste 1996 (mit ausführlicher Bibliographie); Schapiro 2003, 233–463; Seidel 2005.   7 Für vergleichbare Ansätze zur romanischen Skulptur: vgl. Dale 2001; Rutchick 1991; Seidel 2005.

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Steinerne Anamorphose: „Wenn der Löwe einmal Christus bezeichnet […] und ein anderes Mal den Teufel“ Schon über die äußere Fassade (das Gesims, die beiden von Figuren bekrönten Halbsäulen und den abschließenden Konsolfries), die Portalwangen und die innere Portalzone (Tympanon, Türsturz, Trumeau, die beiden seitlichen Figurenreliefs) verpflichten drei bauskulpturale Ebenen des Südportals von Anfang an den Betrachterkörper und führen ihn nach einer hierarchischen Ordnung an den des Bildes heran (Abb. 1). Der Aufbau der äußeren Fassade leitet den Blick stringent zum Tympanon und verschleiert vorerst die tiefen Portalwangen. Die breiten und teilweise fast lebensgroßen Reliefs in den seitlichen Wangen treten dann erst aus der Nähe, d. h. aus der körperlichen Nähe ins Blickfeld und fügen dem Ensemble kurz vor der Türschwelle eine weitere Dimension und weitere Assoziationen hinzu, was mithin die Konnotationen wieder kippen lässt. Als eine monumental-skulpturale Anamorphose bietet insbesondere der Trumeaupfeiler ein Exempel für die visuelle und narrative Hierarchie von Frontal- und Seitenansicht (Abb. 2). In der Vorderansicht evozieren die harmonisch kreuzweise übereinanderstehenden Löwenpaare eine positive Figur der Auferstehung Christi,8 wenn der Besucher allerdings beim Überschreiten der Portalschwelle der Seite ansichtig wird, blickt er auf verzerrte Körperformen, Krallen und in geöffnete Mäuler. Auch tektonisch sieht es nicht besser aus: die Stützfunktion des Trumeaus (und der Trumeaufiguren) – die ja eigentlich das Tympanon, d. h. die gehämmerte Platte (firmamentum) über den Köpfen9 halten sollen – erscheint vom Standpunkt auf der Schwelle noch fragiler als im vis-à-vis, da die Löwen und der Prophet Jeremia nun gar keinen Stand mehr zu haben und geradezu von ihren Sockeln zu rutschen scheinen. Im Herzen des Skulpturenensembles erscheint hier eine weitverbreitete ambivalente Bildschöpfung, bei der das leoninische Raubtier seine Faszination aus der Dialektik von bedrohlicher Todesgefahr und gewaltloser Zähmung schöpft.10 Diese Figur wurde in ihrer ganzen dichotomischen Spannweite auch vom Gründervater der christlichen Semiotik verwendet: so erklärte Augusti   8 So sind beispielsweise im Physiologus zwei von drei Eigenschaften des Löwen mit der Auferstehung verbunden: Wenn der Löwe in der Höhle schläft, wachen seine Augen; denn sie bleiben geöffnet. […] So schläft auch der Leib meines Herren am Kreuz, seine Gottheit aber wacht zur Rechten Gottes des Vaters […]. Wenn die Löwin ihr Junges gebiert, bringt sie es tot zur Welt […], bis der Vater am dritten Tag herbeikommt, ihm ins Gesicht bläst und es so zum Leben erweckt. So hat auch unser Gott, der Allherrscher und Vater der Welt, am dritten Tage seinen vor aller Schöpfung erstgeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, von den Toten erweckt, auf dass er das verirrte Geschlecht der Menschen erlöse. Physiologus 1 (vgl. Physiologus 2001, 5–7); für die ikonographische Interpretation des TrumeauTürsturz-Ensembles vgl. Mézoughi 1978.    9 Ez 10, 1.  10 Zum Beispiel ist auch am Tympanon des Westportals in Jaca (ca. 1090) die Verbindung von achtspeichigem Rad (das Chrismon) und Löwen inschriftlich als Symbol der Auferstehung Christi und der Buße erklärt und war liturgisch eingebunden in Tauf- und Bußpraxis. Besonders deutlich sieht man in Sainte-Marie d’Oloron (1. Mitte 12. Jh., Abb. 3), wie die Gegenüberstellung von Tod und Auferstehung sich im dialektischen Bild von Mensch und Menschenfresser, von (gewaltloser) Bezwingung und tödlicher Aggression widerspiegelt. Vgl. Caldwell 1980, 27–29.

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Abb. 1: Südportal der Abteikirche Saint-Pierre in Moissac (gegen 1130).

nus bezüglich ambivalenter Symbole, dass jedes Ding nämlich das eine und das andere solchermaßen bezeichnet, dass es entweder Gegenteiliges oder nur Verschiedenes bezeichnet (duas habet formas) […]. Dies ist auch der Fall, wenn der Löwe einmal Christus […] und ein anderes Mal den Teufel bezeichnet.11 Um dem Dilemma der Interpretation doppeldeutiger Zeichen zu entgehen, empfahl der Kirchenlehrer den Kontext zu betrachten.12 Im dreidimensionalen Skulpturenraum ist das, was voraus 11 Huius igitur varietatis observatio duas haebt formas. […] Tale est etiam quod leo significat Christum, ubi dicitur, Vicit leo de tribu Juda’ ; significat et diabolu, ubi scriptum est, ‚Adversarius vester diabolus tanquam leo rugiens circuit, quaerens quem devoret‘. Augustinus, De Doctrina Christiana, III, 25 (vgl. Augustinus 2002, 127).  12 Dann bleibt nichts anderes übrig, als den Kontext zu befragen, nämlich die vorausgehenden und folgenden Textabschnitte, die jene Doppeldeutigkeit umgeben, damit wir sehen, welche Auslegung aus der Mehrzahl der sich anbietenden Bedeutungen durch den Kontext unterstützt wird und welche […] sich mit dem Kontext verknüpfen lässt (Quod si ambae vel etiam omnes, si plures fuerint partes, ambiguitatis secundum fidem sonuerint, textus ipse sermonis a praecedentibus et consequentibus partibus, quae ambiguitatem illam in medio posuerunt, restat consulendus, ut videamus cuinam sententiae, de pluribus quae se ostendunt, ferat suffragium eamque sibi contexi patiatur). Augustinus, De Doctrina Christiana III, 1 (vgl. Augustinus 2002, 103).

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Abb. 2: Zwei Seiten eines skulpturalen Bildes, Trumeau in Moissac, (südl. Front- und östl. Seitenansicht).

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Abb. 3: Ambivalente Konnotation des Löwen, (ca. 1130–1160, Sainte Marie, Oloron).

geht oder folgt, volatil und abhängig von der räumlichen und moralischen Position des Betrachters, die ihn für die eine oder andere Assoziation, die eine oder andere Interpretation sensibilisieren – in diesem Falle entweder für die Unsicherheit und tödliche Bedrohung (der Seitenansicht) oder die Stabilität, Domination und Auferstehungshoffnung. Die ambivalenten Figuren und der Betrachter treten zwangsläufig in eine spannungsvolle Abhängigkeit, die zu einer aktiven Auseinandersetzung führt. Nur ist zu beachten, dass im Reich des skulpturalen Bildraumes diese Verbindung um die Dimension des Körperverhältnisses (von Bild und Betrachter) erweitert ist. Und in Moissac bildet gerade der Zusammenhang zwischen der körperlich fühlbaren Dichotomie der Bildebenen und dem semantischen Changieren die Grundlage der imaginativen und affektiven Wirkkräfte der Skulpturen. Bezüglich des Kontextes ist für das Südportal nun weiterhin bemerkenswert, dass die räumliche Tiefe der Westvorhalle, bzw. die Breite der Seitenwangen, erst durch den massigen, vor den eigentlichen Westturm gesetzten Mauerblock geschaffen wird.13 Es war wohl Abt Roger (1115–1135), der nach der cluniazensischen Reform Durannus von Bredons (1048–1071) und dem Neubau des großen Kreuzgangs un 13 Vgl. Droste 1996, 221; Fraïsse 1999, 93–122, 101.

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ter Ansquitil (1085–1115) die restlichen Klostergebäude fertigstellen und vor der alten Durannus-Kirche (Moissac I)14 den zweigeschossigen Westnarthex errichten ließ.15 In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass für die lokale Geschichte und die politische Stellung der Abtei um 1100 im Wesentlichen drei Faktoren bestimmend waren. Die schrittweise Eingliederung in den Klosterverband Clunys ab den 1050er Jahren führte dazu, dass Moissac mit seinem Netzwerk von Reformklöstern zur bedeutendsten Filiale herangewachsen war, was neben dem Zuwachs an Stiftungen die konsequente Anwendung cluniazensischer Consuetudines und den Ausbau des lokalen und Einbindung in das europaweite Totengedenken bedeutete.16 Die Position auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela bestimmte zahlreiche architektonische Veränderungen (Turmvorhalle, der „Einheitsraum“ von Moissac II nach dem Vorbild von St. Etienne in Cahors, veränderter Zugang zum Kreuzgang, etc.), die insbesondere dem im Sog des ersten Kreuzzuges (1099) und der Reconquista-Bewegung in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts angeschwollenen Pilgerstrom Rechnung trugen.17 Den dritten Faktor bilden schließlich die in der kunsthistorischen Forschung bisher nicht beachteten seelsorgerischen Aufgaben einer Pfarrkirche.18 Durch den ausgedehnten Besitzzuwachs hatte Moissac zahlreiche kleinere Gemeindekirchen auch seelsorgerisch zu betreuen, konkret bedeutete dies, dass dort ca. zwei bis drei Mönche angesiedelt waren. Und da es in Moissac selbst keine gesonderte Gemeindekirche gab, übernahm demzufolge die Klosterkirche alle Gottesdienste, Tauf- und Sterbefeierlichkeiten für die parrochia. Im zwölften Jahrhundert war die Mönchsgemeinschaft daher praktisch zweigeteilt: die „eingeschlossenen“ Mönche und die obedientiarii, welche die Gemeindemitglieder und

 14 Von der Durannus-Kirche (Moissac I, Weihe 1063) ist immerhin eine Steinplatte mit der Weiheinschrift erhalten. Sie ist in die Nordwand der aktuellen Kirche eingelassen. Moissac I war ein dreischiffiger Hallenbau, ohne Querhaus und mit schmalen Seitenschiffen und halbrundem Umgangschor (vgl. Westapsis, St. Michael in Hildesheim). In der Breite glich sie dem heutigen hochgotischen Bau (Moissac III, Weihe 1455), wich allerdings in der Länge erheblich ab. Diese kürzere Kirche bot einen direkten Zugang zum Kreuzgang an dessen Süd-Ost-Ecke und über die Südgalerie gelangte man dann in die Kirche. Vgl. Favreau 1982; Müssigbrod/Wollasch 1988, 45.  15 Dies war die erste Bauphase im Neubau der Klosterkirche (Moissac II). Moissac II war ein zweikuppliger Hallenbau, über dessen Ostanlage nichts bekannt ist, da die Kirche im 15. Jahrhundert ihrerseits durch den bestehenden gotischen Bau ersetzt wurde.  16 Für Moissac dokumentiert der fragmentarisch überlieferte Liber Capituli diese Transitionsphase relativ gut. Vgl. Müssigbrod/Wollasch 1988.  17 Der Weg nach Santiago wurde auch von Cluny aus mit erschlossen, wobei Moissac als wichtige Wegestation auf dessen Via Podensis lag, die von Osten kommend, von Le Puy über Conques und Cahors nach Moissac und dann nach Spanien führte. Vgl. Bottineau 1987, 92; Droste 1996, 17 u. 221; Herbers 19986, 134.  18 Dieses Gebilde, dessen Konstellation sich in ganz Gallien unter den Karolingern zu formieren begann und im 12. Jahrhundert seinen Abschluss fand, bezeichnet eine der umwälzendsten Veränderungen des Hochmittelalters: die Versammlung der Lebenden um die Toten im Zuge der ad sanctos-Bestattungen und der Aufbau eines flächendeckendes Netzes von Gemeinden (parrochia), wobei die im geographischen Zentrum liegende Ecclesia über Taufe, Ablass, Abgaben (decenia), Bestattung und Fürbitte die stabilitatas loci absicherte. Vgl. Baschet 2008, 68f.; ders. 2006, 477f.; Noizet 2005.

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die zahlreichen Pilger betreuten,19 die durch das Südportal als „öffentlichen“ Zugang zur Kirche strömten.20 Als Transitzone zwischen profan-urbanen und geweiht-ekklesiastischen Bereichen fungierte der südlich gelegene „Schoß der Kirche“ – der dem Portal vorgelagerte Friedhof, auf den wiederholt zurückzukommen sein wird. An diesem wichtigen sakraltopographischen und sozialkonstituierenden Pol re-aktualisierte sich die congregatio hominum von toten und lebendigen Katholiken, im beständigen Rhythmus des einfachen Überquerens (beispielsweise beim Kirchgang), der Fürbittmessen, Bestattungsriten, Märkte, Gerichtsverhandlungen, Tänze, usw.21 Dieser sozio-urbane Kontext steckte die Wirkmacht und den Imaginationsraum der Portalskulpturen ab. Wie beschrieben führt schon die architektonische Gliederung des Fassadenkomplexes optisch stringent auf das Tympanon, das wie ein semantisches Gravitationsfeld alle anderen Bildfelder dominiert. Dort thront Christus als größte Figur im Zentrum des Bildfeldes, um ihn sind der Tetramorph und zwei zusätzliche Engel gruppiert, eingefasst ist diese zentrale Figurengruppe vom kleinteiligen Figurenrahmen der 24 Ältesten. Bemerkenswerterweise zeigt diese tonangebende Szene einer Majestas Domini mit der „Huldigung vor dem Thron Gottes“ (vgl. Offb 4,1–11) hier nicht so sehr das apokalyptische „Jüngste Gericht“ (Offb 14,6–20,15) oder die ebenfalls zukünftige „Zweite Parusie“ (Offb 21,1–22,5), sondern eine hoffnungstragende, immerwährende und gegenwärtige Theophanie des Gottesstaates in aeternitas, also eher ein verheißungsvolles Symbol für das Himmlische Jerusalem.22 Als Betrachter erblickt man in der Szene über dem Kirchenportal  19 Insbesondere der zweigeschossige Westnarthex nach den Vorbildern von Saint Martial in Limoges und Saint-Benoît-sur-Loire weist auf die Funktion nicht nur als Durchgangs-, sondern auch als Aufenthaltsstation für Pilger hin. Zumindest von Saint-Benoît weiß man, dass im oberen Bereich Altäre standen und die Räume von liturgischen Handlungen ausgefüllt wurden, während sich im Vorgängerbau sogar Tische für Pilger befunden hatten. Vgl. Klein 1983; zur Funktion der Hallenvorbauten allgemein: Sapin 2002; Andrault-Schmitt 1991. Von Moissac ist ferner bekannt, dass eine große Prozession am Pfingstsonntag durch den Kreuzgang führte und dass Laien regelmäßig das ehemalige Brunnenhaus benutzten. Vgl. Klein 2004, 105–158.  20 Dem sich ab dem 11. Jahrhundert um das Kloster herum entwickelten Stadtkern gegenüber hatte die Abtei (mit Spital, Kräutergarten, kleinem Kreuzgang, externem Abts-Palais usw.) beachtliche Ausmaße angenommen. Die Konventsbauten waren von einer Mauer und Gebäuden dicht umstellt und dieser Gürtel war nur südlich des Klosterbezirks gegenüber der Portalanlage geöffnet. Vgl. De la Haye 1995, 145–146; Fraïsse 1999.  21 Der Friedhof war dabei ein Ort von äußerst ambivalentem Status, denn er war auch eine juristische und spirituelle Schutzzone (omnino sunt cimeteria in pace Domini) von ca. 30 Fuß im Umfeld der Kirche (so die lokal variable Festlegung des Konzils von Toledo), der durch seine Weihe sub priori immunitatis als locus sacer eine lokale Immunität besaß. Vgl. Ariès 1977, 68; Lauwers 1999; Treffort 1996.  22 Darauf verweist schließlich auch die Präsenz von Seraphim und Cherubim an der Seite des Tetramorphs, die beiden einzigen Figuren, die nicht dem Apokalypsentext sondern einer eschatologischen Gottesvision des Jesaja entstammen. Im Todes Jahr des Königs Usija sah ich den Herrn. Er saß auf einem hohen und erhabenen Thron (super solium excelsum et elevatum). Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel aus. Serafim standen über ihm […] sie riefen einander zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr […] Die Türschwellen bebten bei ihrem lauten Ruf und der Tempel füllte sich mit Rauch. Jes 6,1–4; vgl.: Apk 11, 1–2; 21, 9–22, 5; Klein 1990, 317–349, bes. 322–326.

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demzufolge den Widerschein einer Situation, die außerzeitlich (in aevum) im Himmlischen Jerusalem statthat23 und vice versa den Kirchenbau zur Gottesstadt deklariert.24 Und zum Himmlischen Jerusalem wurde der Kirchenbau im Rhythmus der liturgischen Handlungen, die einer solchen Konzeption haptische Präsenz verliehen.25 In dieser Perspektive diente das decorum des Gebäudes dazu, den kosmischen Ordo objektiv (an)zu-zeigen und präsent zu halten, während die Teilhabe an eben diesem im Gottesdienst zelebriert und leibhaftig erlebt wurde.26 Aus der Distanz (des ehemaligen Friedhofs) betrachtet wird deutlich, wie hier – als das dominierende Thema der Majestas Domini ins Sichtfeld kam – an der mentalen Disposition des Besuchers und der Aufladung eines sich beständig verdichtenden Imaginationsraumes gearbeitet wurde, denn die Darstellung des eschatologischen Gottesthrones war den Gläubigen vor allem aus dem Inneren des sakralen Gebäudes, genau genommen aus dem heiligsten Bezirk im Altar-Decorum des Antependium am Hauptaltar und der Apsisdekoration gegenwärtig (Abb. 4)!27 In einer bemerkenswerten Operation wird dieser sakraltopographische Kulminationspunkt in Moissac nun an die Außenwand projiziert und unterhält hier eine Spannung zwischen zwei topographischen Polen. Diese thematische Dilation hat zusätzlich ihre Entsprechung in der apokalyptischen Johannesvision, wo der Thron Gottes am Beginn (Offb 4) und am Ende, bei der Beschreibung des Himmlischen Jerusalems auftaucht (Offb 22). Deckungsgleich zur Ankündigung auf dem Tympanon des Portals eröffnet die erste Evokation des Gottesthrons (Ich stehe vor der Tür und klopfe an […] eine Tür ward geöffnet am Himmel)28 die Hoffnung auf Eintritt in das Himmlische Jerusalem (Offb 21–22) und vermittelt im gleichen Augenaufschlag, dass zwischen den beiden Bildern vom Himmlischen Jerusalem erst noch das Jüngste Gericht (Offb 14, 6–20, 15) durchzustehen oder vielmehr zu durchschreiten ist. Dieser Moment moralisch-spiritueller Prüfung vollzieht sich in der architektonischen Analogie auf der Türschwelle, beim Übergang von der hellen Portalzone in den dunklen Westnarthex. Körperlich fühlbar wurde diese Anordnung durch die  23 Auf der Majestas Domini – Gruppe des Bernardus Gelduinus in Saint-Sernin in Toulouse (um 1096) benennt zusätzlich noch eine Inschrift genau diese Situation: „Ad dextram Patris Chervbin stat cunctipotentis; possidet inde sacram Serafin sine fine sinstram“. Vgl. Favreau 1982, 32.  24 Schon die zinnenbewehrte Fassadenfront des Eingangsbereichs zielt auf jene Architekturallegorese: „Auf deine Mauern, Jerusalem, stellte ich Wächter. Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen. Ihr, die ihr den Herrn (an Zion) erinnern sollt, gönnt euch keine Ruhe!“ (Jes 62, 6).  25 Besonders drückt sich diese Vorstellung in der Grundsteinlegung oder der Neuweihung eines Kirchenbaus aus. Vgl. Möbius 1995, 107–123; Speer 2000, 19–38.  26 Jean-Claude Bonne argumentiert, dass die Grundfrage der Bilderpräsenz im sakralen Raum weder auf psychologischem noch auf ideologischem Niveau zu lösen ist, sondern vielmehr in ontologischer Hinsicht verstanden werden muss. Vgl. Baschet 2008, 55; Bonne 1999, 77–111.  27 Wahrscheinlich krönte eine Majestas Domini auch die Apsischalotte von Moissac II. – wie noch in einigen Wandmalerein vom Ende des 11. Jahrhunderts im Loiretal zu sehen (z. B. St. Gilles in Montoire-sur-Loir, Saint-Genest de Lavardin). Vgl. zur Entwicklung des Typus Poilpré 2005; zur Verbreitung in Südfrankreich Shapiro 1977.  28 Offb 3, 20–4, 1. Und auch die topologische Jesaja-Referenz (Figur am rechten Türpfosten) evoziert den Übertritt vom profanen in den sakralen Raum: Die Türschwellen bebten […] und der Tempel erfüllte sich mit Rauch. Jes 6, 4.

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Abb. 4: Tetramorph in Altarnähe, (1. Hälfte 12. Jh., Lavardin).

Friedhofssituation, wenn der Kirchenbesucher zuerst das Totenreich zu durchqueren hatte, um zum Portal zu gelangen, und auf diese Weise die Wiederauferstehung von den Toten im Sinne der Offenbarung selbst nachvollzog: die Unterwelt gab ihre Toten heraus […] sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken.29 In der Distanz allerdings speist sich das Affektpotenzial der Frontalansicht aus der Spannung zwischen der positiv konnotierten, hoffnungstragenden Vision des Himmlischen Jerusalems und der Androhung des negativ konnotierten Jüngsten Gerichts. Und statt dem Besucher einen geschlossenen Bilddiskurs entgegenzuhalten, führte diese Spannung ihn (im Umkreis des Friedhofs) gleichsam auf unsicheres, destabilisierendes Terrain und eröffnete mithin einen „performativen Bild-Raum“.30 Aber ob das Bild schließlich in die erlösende oder apokalyptische Seite umkippt, entscheidet sich  29 Offb 20, 13.  30 Zum Begriff des „performativen Raumes“ siehe: Fischer-Lichte 2007, 151f.

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erst im Zuge der sukzessiven Annäherung, und zwar zuerst über das Friedhofsareal und dann in der Mitte der Portalwangen und ihrer fast lebensgroßen Figuren. Neben der Skulpturenregie konnte sich diese Situation durch persönliche oder liturgische Dispositionen noch zusätzlich besonders affektiv aufladen, so zum Beispiel im Zusammenhang mit Bestattungs-, Tauf- oder Bußzeremonien. Während die Darstellungen in der frontalen Portalzone sich also eher summarisch präsentieren und die Bedeutung aus der Platzierung und Assoziation der Bildfelder entwickelt wird, ist in den Portalwangen mit einer Kombination aus narrativer und dogmatischer Darstellung verfahren worden (Abb. 5). Dass man sich dort auf ein anderes Niveau versetzt sieht, wird dem Betrachter übrigens sofort über den Bewegungsimpuls körperlich bewusst gemacht, indem er hier zuerst einige Stufen hinaufsteigen muss, um zwischen die Bilderwände zu treten. Die beiden annähernd gleich aufgebauten Portalwangen gliedern sich in eine obere und untere Zone. Unten rahmen zwei schwere Arkaden in Dreipassform jeweils ein Bildfeld, welches noch einmal horizontal geteilt ist. In dessen oberen Teil überfängt ein Bildstreifen die beiden Arkaden und vereinigt in drei Sequenzen drei Aspekte einer Erzählung. Jede Portalwange präsentiert ein kohärentes Thema: im Osten die Kindheit Jesu,31 im Westen die Parabel vom armen Lazarus und reichen Prasser.32 Die Aufteilung der Bildfelder in eine obere und untere Zone verweist auf ein stand- und sichtpunktabhängiges Oszillieren zwischen chronologischer und diskontinuierlicher Erzählweise. Dass die Struktur von dargestellter Erzählung und erzählender Darstellung weitaus komplexer ist als oft suggeriert, lässt sich schon anhand einiger Details aufzeigen. Auf der Kindheit-Jesu-Seite (Osten) orientiert das Umwenden Josefs am Ende der Beschneidungsszene und der Blickkontakt mit dem dort schwebenden Engel nicht nur Erzähl- und Blickrichtung, sondern stößt gleichzeitig auch die Imagination an (Abb. 6). Dieser Engel evoziert nämlich zwei visionäre Träume Josefs, einmal vor der Flucht nach Ägypten und einmal danach für den Aufbruch nach Israel. Der Inhalt der Träume und der Grund für das ägyptische Exil war der zwischen den beiden Träumen stattfindende und von Jeremia prophezeite Kindermord.33 Von Jesaja wiederum wurde der Sturz der 365 Götterstandbilder beim Einzug in den

 31 Die einzelnen Sequenzen der Bild-Erzählung: „Verkündigung Mariae“ (unteres Arkadenfeld, links, Engel 1850 ersetzt), „Heimsuchung“ (unteres Arkadenfeld, rechts), die hl. Drei Könige (oberes Arkadenfeld, links) vor der hl. Familie (oberes Arkadenfeld, rechts); der Fries darüber von rechts nach links (von Außen nach Innen): „Darbringung im Tempel“, „Flucht nach Ägypten“, Sturz der Götzenbilder im „Kapitol Ägyptens“.  32 Die Erzählung beginnt rechts oben am Türrahmen mit dem Festgelage des reichen Prassers, setzt sich nach links hin fort über den Tod des Lazarus, die Darstellung von Abrahams Schoß und wahrscheinlich Moses (vgl. Lk 16, 31). Der Tod des Reichen ist rechts im oberen rechten Register der Arkadenzone dargestellt, die Höllenqualen des Reichen und seiner Frau im linken oberen Register, in den unteren Arkadenfeldern sind Laster in Doppelfiguration zu sehen: Gula und Luxuria (rechts), Avaritia (links). Vgl. Lk 16,19–31.  33 Vgl. Mat 2,13–23.

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Abb. 5: Parabel vom armen Lazarus (Fries, obere Arkadenfelder), Gula und Luxuria (untere Arkadenfelder), westl. Portalwange in Moissac.

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Abb. 6: Flucht nach Ägypten (Fries der östl. Portalwange).

Tempel prophezeit.34 Und so wie die Reliefplatten mit Jeremia und Jesaja erst jetzt, vom Standpunkt der östlichen Portalwange aus, als Paar wahrzunehmen sind (vgl. Abb. 1/2), zeigt sich, dass insbesondere jene beiden Propheten im Neuen Testament und den Apokryphen für diesen Abschnitt der Kindheitsgeschichte aufgerufen werden.35 In der Weise, wie die Tür des Tempels im Fries leicht geöffnet ist und der Betrachter auch rhythmisch vom nach innen gedrehten S-Schwung des Propheten Jesaja weiter zu Jeremia und von dessen Kopf- und Körperdrehung und der Richtung der Schriftrolle über die Türschwelle geleitet wird,36 besitzt auch der Akt des Überschreitens der Schwelle einen vergleichbar herausgehobenen Symbolwert im Text, wo in den dargestellten Szenen der Sakralraum „Tempel“ der hauptsächliche Handlungsort ist.37 Dass sich diese Szene direkt an der Türöffnung des Portals befindet, in unmittelbarer Türsturznähe, d. h. auch in Nähe des Tau-Kreuz-Balkens, eröffnet noch die weitere Assoziation, dass die einzige biblische Referenz, die das Tau-Kreuz und die Götzenbilder zusammenbringt, ja die einzige Erwähnung des Tau-Kreuzes im Bibeltext überhaupt, die Entweihung des Tempels durch Götzenbilder und heidnische Riten und die anschließende Heimsuchung Jerusalems zum Gegenstand hat  34 Da erfüllte sich was durch den Propheten Jesaja gesagt ist: Siehe der Herr wird auf einer schnellen Wolke kommen und in Ägypten einziehen, und alle Bilder die von den Händen der Ägypter gefertigt sind, werden von seinem Angesicht entfernt werden. Kindheitsevangelien, Pseudo-Matthäusevangelium 23 (siehe: Neutestamentliche Apokryphen, Schneemelcher 1990, 369); Mat 1,23, 2,18.  35 Vgl. Kindheitsevangelien, Pseudo-Matthäusevangelium (Neutestamentliche Apokryphen, Schneemelcher 1990, 367f.).  36 Die Jesaja-Figur selbst eröffnet mit der Aufforderung Ecce virgo auf der Schriftrolle am Türpfosten einen „performativen Raum“, der den Betrachter wieder zurück auf die Verkündigungs-Szene verweist. Die Inschrift der Schriftrolle prophezeit die Geburt Christi: Seht die Jungfrau wird ein Kind empfangen (Ecce virgo concipiet). Jes 7,14; vgl. Favreau 1982, 134.  37 Schon stürzen die Götzenbilder genau in dem Moment, als die seligste Maria mit dem Kind in den Tempel eintrat. Kindheitsevangelien, Pseudo-Matthäusevangelium 23 (Neutestamentliche Apokryphen, Schneemelcher 1990, 369).

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und sich vorwiegend im Vorhof (atrium) des Tempels abspielt.38 Darüber hinaus ist aber die Identifikation des Taus der Ezechiel-Vision mit Türpfosten und -sturz seit frühchristlicher Zeit (Cyprian von Karthago, † 258) „Gemeingut“ der mittelalterlichen Theologen gewesen.39 Nachdem Ezechiel in seiner Vision die Entweihungen des Tempels gezeigt bekommt (Ez 8, 5–18), werden alle nicht mit dem Tau (signa Tau) Gezeichneten erschlagen (Ez 9, 1–10, 7),40 es folgt die Vision vom Thronwagen Gottes (Ez 10) und vom Strafgericht über Jerusalems führende Männer (Ez 11). In diesem Kontext erfahren aber nun auch fast alle skulpturalen Zeichen am Portal plötzlich eine bestürzende Umwertung: die Götzenbilder, das Tau als Schutzmal Gottes, der Vorhof des Tempels, die Räder unter den Erzengeln, die Schwelle, die Evangelistensymbole – sie alle sind auf einmal eingesponnen in eine endgerichtliche Vision. Erst an dieser Stelle, an der der Betrachter die Stufe wieder hinaufzugehen hat, um über die Türschwelle zu steigen, schlägt die aus der Ferne so friedlich einladende Vision des Himmlischen Jerusalems in ein apokalyptisches Gottesgericht über dem Kopf des Eintretenden um. In diese Tonlage stimmen dann auch die beiden Kapitelle des Türsturzes ein, wo die in Rankengeflecht aufgehenden Vögel (Osten) und die von Vögeln attackierten Nagetiere (Westen) die bedrohliche Note des Ortes unterstreichen.41 So überlagern sich die drei Figuren Jerusalems oszillierend im Tympanon: die gottesgerichtliche Heimsuchung des historischen Jerusalems in der Ezechiel-Vision, verweisend auf die Wiedererrichtung des eschatologischen, ewigen Jerusalems, für welches wiederum die Kirche, respektive die Ecclesia Cluniacensis eine Allegorie und der Kirchenbau selbst eine gebaute Metapher darstellen. Auf der gegenüberliegenden Lazarus-Seite (Westen, vgl. Abb. 5) ist die Erzählung im Kontrast zur Ostseite über den ganzen Fries verteilt, was auch die Form der literarischen Vorlage widerspiegelt, da es hier nicht so sehr auf die Visualisierung  38 „Dann brachte er mich zum Eingang des Vorhofs (ad ostrium atrii) [des Tempels …] Hast du gesehen, Menschensohn, was die Ältesten des Hauses Israel im Finstern treiben, jeder in der Kammer seines Götterbildes (faciunt in tenebris unusquisque in abscondito cubiculi sui)? […] Doch von denen, die das Tau auf der Stirn haben, dürft ihr keinen anrühren (omnem autem super quem videritis thau ne occidatis). […] Ich sah: Oberhalb der gehämmerten Platte über den Köpfen der Kerubim war etwas, das wie Saphir aussah und einem Thron glich (in firmamento quod erat super caput cheruphin quasi lapsis sapphyrus). Er sagte […]: Geh zwischen die Räder unter den Kerubim (ingredere in medio rotarum quae sunt subtus cherub) […] Die Herrlichkeit des Herrn schwebte von den Kerubim hinüber zur Schwelle des Tempels. Ez 8,7–10, 5.  39 Bei Cyprian von Karthago oder später Beda Venerabilis findet sich der Verweis von Ez 9, 4 auf die Alttestamentliche „Paschafeier“ in Ex 12. Dieser Verweis ist auch für die Architektur in Moissac besonders suggestiv, da hier wie dort das Schutzzeichen nicht nur den Türpfosten, wie Wilhelm Neuss bemerkt, betrifft, sondern darüber hinaus auch den Türsturz mit einbindet: Man nehme etwas von dem Blut und bestreiche damit die beiden Türpfosten und den Türsturz (ac super utrumque postem et in superliminaribus) an den Häusern. Ex 12, 7; vgl. Neuss 1912, 32 u. 108; allgemein zur Bedeutung des Ezechiel-Abschnitts für die visuelle meditatio: Carruthers 2002. S. 303ff.  40 Zum Tauzeichen siehe: ebd., 13, Anm. 6.  41 Die innere Hierarchie der beiden Kapitelle polarisiert darüber hinaus noch einmal zwischen Neuem und Altem Testament. Während der Greifvogel auf der Prophetenseite (Osten) noch in den Ranken verstrickt erscheint, dominiert er auf der Apostelseite (Westen) das niedere Getier.

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einer Geschichte, sondern auf die prägnant konzentrierte Sichtbarmachung einer Parabel und die Akzentuierung ihres moralisch-tropologischen Aspektes ankam. So sehen wir zwar noch den „Beginn“ im Festbankett des reichen Prassers und seiner Frau, dann aber schon die eigentliche Folgeszene mit dem Tod des Reichen nicht daneben, sondern in der Arkadenzone darunter, wo sie von außergewöhnlich vielen Dämonen bevölkert ist. Im Gegensatz zum „Lazarustod“ (der Szene im Fries darüber) nehmen hier zwei Dämonen die Seele des Reichen in Empfang, und der Engel verwehrt der Seele den Aufstieg, statt ihn wie bei Lazarus zu gewährleisten. Im benachbarten Feld, das sich tatsächlich unter „Abrahams Schoß“ befindet und so das elevans oculos des Bibeltextes abbildet,42 werden der Geizhals und seine Frau in der Hölle malträtiert. Die beiden untersten Bildfelder zeigen jeweils Doppelpersonifikationen von Geiz (linkes Bildfeld) und Wollust (rechtes Feld).43 In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass die Ecclesia Clunicensis als Sünden-, bzw. Heilsverwalterin ihre ungeheuere Anziehungskraft zuerst aus der Totenfürbitte bezog. So hatte der „Schoß Abrahams“ eine weite Verbreitung als Bildformel gefunden, die im frühen 12. Jahrhundert als Metapher der erlösenden Ecclesia fast systematisch in der Nähe von Gemeindefriedhöfen dargestellt wurde und dort daran erinnerte, dass als Gremium oder Sinus Ecclesiae der der Kirche anliegende Friedhof bezeichnet wurde, da ihm die Leiber der Menschen anvertraut werden […] und der sie wie Abraham trägt.44 Die Lazarus-Dives-Geschichte hat eben auch darin ihre besondere moralische, respektive tropologische Pointe, dass der Wiedergänger aus dem Jenseitsreich bekehrenden Einfluss auf die Diesseitigen, insbesondere seine Familie, zu erlangen sucht.45 Am Portal lässt sich dieser Abschnitt in der letzten Friesszene ganz außen verorten, wo die Figur des Moses als Vertreter aller Propheten auf die alttestamentliche Schriftrolle verweist. Er steht hier komplementär zu Simeon in der gegenüberliegenden östlichen Portalwange, dem offenbart worden war, er werde den Tod nicht schauen (non visurum se mortem), ehe er den Messias des Herrn gesehen habe.46 Als Betrachter findet man sich auf diese Weise zwischen den Höllenstrafen und der Wiederauferstehung wieder, was über  42 In der Unterwelt, wo er [der Reiche] qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf (elevans oculos) und sah von weitem Abraham (videbat Abraham a longe) und Lazarus in seinem Schoß. Lk 16, 23.  43 Während Avaritia rechts am großen um den Hals gehenkten Geldsack einmal klar erkennbar in weltlicher Form auftaucht und sich für sein zerstörtes Gegenüber anhand des Stabes und Gewandes nur vermuten lässt, dass es sich vielleicht um die klerikale Form in der Inkarnation eines kirchlichen Würdenträgers handelt; erscheint die Wollust hier einmal im Aufzug der Luxuria – als sexuelle, von Schlangen und Kröte an Brüsten und Scham gepeinigte Frau rechts – und links dann als die kulinarische Form mit aufgeblähtem Bauch (Gula).  44 Honorius von Autun (zitiert nach: Ariès 1977, 49). Auch die Formel für die Liturgie der Friedhofsweihe (Konzil von Arras, 1025) beschreibt den Akt des Begräbnisses als Inkorporierung in den Schoß der Kirche nach dem Beispiel Abrahams. Vgl. Baschet 2000, 257.  45 Da rief er [der Reiche]: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus […] in das Haus meines Vaters! Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren (si quis ex mortuis ierit ad eos paenitentiam agent). Lk 16, 30.  46 Lk 2, 26.

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die räumliche Opposition den Blick zwischen östlicher und westlicher Portalwange geradezu polarisiert. Darüber hinaus durchsetzten die in unmittelbarer Nähe zur Portalanlage begrabenen Toten diese Darstellungen gewissermaßen beständig mit leibhaftiger Todespräsenz und vitaler Vorstellungskraft, da hier der exemplarische Ort der Durchlässigkeit von Diesseits und Jenseits der Ort der Wiedergänger war, die den Passanten ebenfalls aggressiv um Fürbitte angehen konnten.47 Noch schärfer profiliert ist diese visuell-moralische Zange dann auf Körper- sprich Augenhöhe des Betrachters gegenüber den schlanken Figuren im unteren Arkadenbereich. Diese sind parallel zu ihrer Einbindung in die biblische Erzählung auch in eine überzeitliche Ebene verlagert und personifizieren als Bildformeln die zentralen Kulminationspunkte der Geschichten: die Erlösungshoffnung durch die Fleischwerdung des göttlichen Logos auf der Ostseite und Luxuria-Avaritia als deren negierender Gegenpol auf der Westseite. Zusammen mit dem darüber befindlichen Fries hinterlegen die kleineren Bildfelder der oberen Arkadenzone (in der östlichen Portalwange die „Anbetung der Könige“, im Westen der „Tod des Reichen“ und die „Höllenqualen“) die emblematischen Figuren mit einem historischen Kontext und versehen ihn mit einer moralischen Konnotation. Die großen Verkündigungsfiguren (Verkündigung Mariae, Visitatio) der Ostseite sind der Anfang einer Geschichte, die bildnarrativ und moralisch zur Kirche hinführt – besonders dramatisch bewegen sich die drei Könige aus dem Morgenland auf das Geburts-Bett Marias zu, um ihre Gaben darzubringen –, während die Sündendarstellungen (Luxuria und Avaritia) auf der Westseite am Endpunkt einer vom Kirchenportal wegführenden Erzählung stehen und dort drei Dämonen die Seele des Dives von dessen Sterbe-Lager in die Hölle entführen (Abb. 7). Auf der Ostseite führt der Weg in die Gottesstadt über folgende Stationen: Inkarnation Gottes (d. h. die „Verkündigungen“), Donatio an die Ecclesia (die „Anbetung der Könige“), Auferstehungshoffnung (präsent in „Simeon“) und dann Pilgerreise (der „Auszug nach Ägypten“). Im Westen dagegen wird der Betrachter mit dem Bildensemble von Geiz, sexueller und kulinarischer Ausschweifung und den entsprechenden Höllenstrafen vom Portal weggeleitet.48 Letztlich zwingt das skulpturale Bild den Leib des Betrachters mit zwei performativen Strategien, sich der Bilderzählung körperlich auszuliefern. Der Erzählrich 47 Dass der Gemeindefriedhof sich höchstwahrscheinlich auf der Südseite der Kirche befand, lassen die (sehr limitierten) Grabungen in den 90er Jahren vermuten. Es wurden direkt vor dem Portal in mehreren Schichten Sarkophage des 12. und 13. Jahrhunderts gefunden, was auf eine ausgedehnte Nekropole hindeutet. Vgl. Ugaglia 1987a; ders. 1987b; vgl. Schmitt 1994, 203–205; Treffort 2001, 154f.  48 Schon allein die Gegenüberstellung der „Anbetung der Könige“ und des Todes und der Höllenqualen des Dives assoziiert und oppositioniert in einem Augenaufschlag Geburt und Tod, Demut und Hochmut, Geben und Geiz (des Dives, sprich das Ansichreißen seiner Seele durch die Dämonen). Die Kompositionselemente der Bilderzählung sind in ihrer antagonistischen Paarung (Maria gegen die Frau des Dives, drei Dämonen gegen drei Könige, das Bett der Geburt gegen das Totenbett, geordneter Bildaufbau und Bewegungszug gegen Chaos) mithin die visuellen Strukturelemente der moralischen Orientierung.

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Abb. 7: Gaben an die Ecclesia/Darbringung der Hl. Drei Könige (obere Arkadenfelder der östl. Portalwange).

tung (körperlich und geistig) folgend durchmisst man zwangsläufig auch einen gleichgerichteten symbolisch-moralischen Raum, d. h. vom Kirchenportal weg oder darauf zulaufend. Wenn man sich nun Christus, d. h. seiner Kindheitsgeschichte auf der Ostseite zuwendet, bedeutet dies, dass man sich zwangläufig von den Todsünden im Westen abwendet – und vice versa! Der Ausspruch Abrahams zum Reichen Büßer in der Hölle: zwischen uns und euch ist ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund (chasma magnum firmatum), so dass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann (transire), selbst wenn er wollte,49 beschreibt in dieser Hinsicht treffend den Aktionsraum der Portalskulpturen. Und schon der bildliche Abstand zwischen der Anbetung der (drei) Könige und den von zweimal drei Dämonen besiedelten Todes- und Höllenszenen könnte kaum größer sein. Doch noch weiter ist die Kluft zwischen der Maria der Heimsuchungsgruppe und der gegenüberstehenden Luxuria. Maria, deren Körper von zartem Stoff umhüllt ist und deren eine Hand signifikant auf dem Bauch ruht, hält die andere Hand in einer Demutsgeste auf Brusthöhe, während die Figur der gegenüberstehenden Luxuria, die Beine nach außen gedreht, den Kopf zur Partnerfigur umgewendet hat. In diesem Standmotiv gleicht sie ganz der Figur der Maria, inszeniert aber gerade in den  49 Lk 16, 26.

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Abb. 8: Körper der Sünde (Avaritia) versus Körper der Erlösung (Heimsuchung), westl. und östl. Portalwange, untere Arkadenfelder).

Details ein schreiendes Gegenbild50 – über die in die Höhe und nach außen gewundenen Arme, die offenen Haare, den nackten Körper und natürlich über die riesigen, in den Brüsten verbissenen und Arme umschlingenden Reptilien sowie die aus der Scham kriechende Kröte (Abb. 8). Und auch hier wird noch einmal der allgemeine Todes- und Bestattungsaspekt deutlich, da z. B. Kröten – die wie alles kriechende und wimmelnde Getier wie Insekten, Frösche, Schildkröten und Regenwürmer unter die „Würmer“ (vermis) klassifiziert wurden – in der Vorstellungswelt des Mittelalters insbesondere den verwesenden Kadaver besetzen. Sie sind in den Exempeln der Zeit oft mit Sargöffnungen verbunden, wo sie am durch die Sünden verunreinigten Fleisch (insbesondere an den damit assoziierten Gliedern) nagen: Denn nach dem Tod wird aus der Zunge der Wurm geboren, um so die Sünde  50 Die beiden Bilder sind hier zugleich ein Paar als Modell-Gegenmodell. Als institutionell-moralische Instanzen operieren die Bilder des Extremen oder der Übertretung innerhalb der bestehenden Ordnung (ordo), die sie auf diese Weise auch fundieren. Vgl. Bartholeyns/Dittmar/Jolivet 2008, S 47f.

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des Geschwätzes zu bezeichnen, aus dem Magen wird der Spulwurm geboren, um die Sünde der Völlerei (gula) zu bezeichnen, aus dem Rückgrat der Skorpion, um die Sünde der Wollust (luxuria) zu bezeichnen, aus dem Hirn die Kröte, um die Sünde des Hochmuts (superbia) zu bezeichnen.51 Im Grunde inkarnieren diese beiden Figuren oszillierend die Extreme der anthropologischen Konditionen des homo religiosus und des christlichen Bildbegriffes. Auf der einen Seite, in Leib und Seele ad imaginem Dei geschaffen, pervertiert Sünde die Teilhabe an der göttlichen Natur des Menschen und de-figuriert auch die körperliche Erscheinung (Westseite);52 die Gegenseite zeigt dann, dass die durch den Sündenfall verlorene ursprüngliche Gottesebenbildlichkeit in der Inkarnation des Gottessohns erneuert wurde,53 die aber paradoxerweise dem seit dem Sündenfall in einem beständigen Verfallsprozess (vetustas condicione) gefangenen, extrem fragilen (fragilitas) und sterblichen Menschen das Siegel der Unsterblichkeit ist – was wiederum der morbid-letalen Lasterseite gegenübersteht.54 Auf der Westseite inszenieren die Akteure der Lazarus-Dives-Parabel dieses anthropologische, köperbildliche Drama in geradezu aggressiver Weise. Das moralische Gefälle verdeutlicht nicht nur die Kleidung als „künstliche Haut“,55 sondern auch die Verdichtung des epidermalen Zeichens des Lazarus, an dessen Geschwüren die Hunde leckten,56 zu einem ikonographischen Mal im Schuppengewand der peinigenden Bestien (auf zwei Kapitellen der Arkade) und in den Kettenhemden der dämonischen Peiniger des Dives (Abb. 9).57 Diese meist übersehenen Kapitelle treiben übrigens auch den visuellen Erzählfluss noch zusätzlich an und den Betrachter weiter in dessen dämonischen  51 Alanus ab Insulis: Summa de arte praedicatoria (PL 210, 217A), zitiert nach: Berlioz 1999a, 267– 288, 271; vgl. ders. 1999b.  52 In zahlreichen mittelalterlichen Texten ist beispielsweise der (gottes-)ähnliche Fromme (consimilis) dem „entähnlichten“ (dissimilis) Sünder entgegengesetzt. Und auch Lucifer selbst, dessen Sünde ja darin lag, Gott gleichen zu wollen (per aequalitatem, similitudo imitationis), ist deshalb defiguriert und tierähnlich. Vgl. Javelet 1967, 253–255 und 258.  53 Die Liturgie, insbesondere die weihnachtliche, in der von „göttlicher Adaption“ („per adoptionem gratiae“), Wiedergeburt („sunt renati“) oder auch Neu-Formung („per gratiam in illis inveniamur forma“) gesprochen wird, erinnert beständig an diese Konstellation. Vgl. Lodi 1990, 191.  54 Ebd., 188 und 196. In diesem Sinne bezeichnete Robert Javelet Maria als „carrefour de l’image et de la ressemblance“. Vgl. Javelet 1967, 363f. Wenn die Liturgie ermahnt, dass die Gaben an Gott, resp. die Kirche, als Hilfs- und Heilmittel für die Unsterblichkeit angesehen werden (auxilium et remedium nobis immortalitatis operentur), zeigt dies, dass die fundamentale Dichotomie zwischen Tod und Unsterblichkeit in Moissac auch in die Gegenüberstellung der donatio der hl. Drei Könige an Maria-Ecclesia (obere Arkadenfelder der östl. Seite) und die Todes- und Höllenszenen (obere Arkadenfelder der westl. Seite) eingeschrieben ist. Vgl. Lodi 1990, 187.  55 Ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete (induebatur purpura et bysso)… [versus] … ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war (ulceribus plenus). Lk 16,19–20.  56 Vgl. Lk 16,21.  57 In dieser Ökonomie besetzt der mittlere Kragstein eine zentrale Rolle. Hier hält nun eine Hundebestie (die zuvor die Geschwüre des Lazarus leckte) den seinerseits mit Geschwüren überzogenen Sünder zwischen den Zähnen. In der Vertikale ordnen sich so drei Liegende übereinander an: Lazarus unter dem Tisch, der Sünder im Bestienmaul, und Dives auf dem Sterbebett.

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Abb. 9: Höllenfahrt des Prasser-Paares (mittleres Kapitell der Arkadenzone, Nord- und Südseite).

Bann. Das mittlere zeigt auf seiner dem „Tod des Dives“ zugewandten Nordseite, wie das reiche Paar von einem Dämon (aus der Todesszene) weggebracht wird. Der sich umwendende Dämon ist schon halb auf der östlichen Frontseite und verschränkt sich dort mit einem zweiten, der den Übergang zur Südseite sicherstellt, wo das Paar nun in den Flammen der Hölle schmort. Das Kapitell stellt nichts anderes als die Höllenfahrt dar und verleitet den Betrachter diesem Weg körperlich zu folgen, da man das Kapitell in Höllenrichtung umschreiten muss, um alle Seiten zu erfassen. Ausgespielt wird hier auch der Maßstabsunterschied, da man dicht an den Kapitellen sein muss, um deren faszinierende Details überhaupt wahrnehmen zu können und sich dann aber auch schlagartig in unmittelbarer Nähe der ungleich größeren Dämonen im Arkadenfeld wiederfindet. Ganz genau wie das reiche Paar wird der Betrachter auf diese Weise in den Einzugsbereich der Hölle gebracht. Auf zwei Ebenen arrangieren die Skulpturen ihren Betrachter: auf einer körperlichen und einer geistigen. Wenn man der dargestellten Geschichte detailliert folgen will, sich auf die Kompositionen, Assoziationen und Details einlässt, dann dirigiert die diachrone Entfaltung der Bilderzählung den Betrachterkörper subversiv nach einem moralisch-tropologischen Schema, das ihn infiltriert. Die anthropologische Konzeption des mittelalterlichen homo religiosus erfüllt die dargestellten Figuren und Geschichten in einem radikalen, ontologischen Sinn mit Präsenz. Sich grundlegend von der Leib-Seele-Dichotomie ableitend war der Körper nach mittelalterlicher Konzeption eine duplex hominis substantia.58 Und gerade im monastischen Milieu ging die Wertschätzung der Seele mit der Verachtung des Weltlichen Hand in Hand, insbesondere aber mit der Verachtung des Körpers, der vor allem der Körper des Sündenfalls war. Aber in diesem Misthaufen (Bernhard von Clairvaux) befand sich die Seele im Exil und innerhalb dieser Konzeption sind die körperli 58 Bernhard von Clairvaux. Zitiert nach: Köpf 1998, 65.

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chen Sinne das Einfallstor für Sünde und Versuchung, für die Gefährdung des edlen Gastes Seele.59 Der restauratio der alten Unversehrtheit (integritas) waren dann letztlich zahlreiche Kulturtechniken des christlichen Mittelalters dienstbar.60 Dies war als der verzweifelte Versuch zu verstehen, der Seele einen würdigen Ort zu bereiten, ein tabernaculum in corpore zu errichten und so den Körper neuerlich in eine Wohnstatt Gottes (habitaculum dei) zu verwandeln. In diesem Sinne waren Gesten und Riten raum-zeitliche, den Körper besetzende Überwachungsorgane.61 Und auch das Konzept eines Spiritualitäts-Raumes claustrum sollte über die körperliche Eingrenzung (claudere) den Paradiesgarten auf Erden aufrechterhalten.62 In extremer Genauigkeit banden dann die für Cluny geltende Benediktsregel sowie die Consuetudines jeweilig corpus und animus in eine spirituelle Bewegung ein.63 Auf der anderen Seite wurden die körperlichen Sinne aber auch als Fenster zur Seele genutzt.64 Zuerst über den strengen Rhythmus des Gottesdienstes, in dem der liturgische Cantus planus als erinnernde Inkorporierungsbewegung mit der Sonanz des gemeinschaftlichen Gesangs eine Re-Sonanz im (individuellen und sozialen) Körper und in der Seele auslöste.65 Und dann auch in der Lectio divina, die die psychomotorische Einverleibung der Heiligen Schrift realisierte. Die Benediktsregel, die das Bild der Jakobsleiter für den Aufstieg zu Gott benutzt, formuliert dieses Konzept so: die Holme dieser Leiter bezeichnen […] Körper und Geist. In diese Holme hat Gottes Anruf verschiedene Sprossen (gradus) der Demut und der Zucht eingefügt, die wir hinaufsteigen sollen. Auf der höchsten Stufe, wenn Mönch und Konvent die Regeln Benedikts gleichsam natürlich aus Gewohnheit (naturaliter ex consuetudine) in Fleisch und Seele eingeschrieben waren, sind beide zur Wohnung Gottes (tabernaculum) geworden, was sich dann wiederum am Körper abbildet.66

 59 Einen edlen Gast hast du, Fleisch, einen sehr edlen. Du wohnst zwar in deinem eigenen Land (habitas in regione tua), die Seele aber ist als eine Fremde und Verbannte bei dir zu Gast (anima vero peregrina et exsul apud te est hospitata). Ebd., 66. Zu der zunehmenden Polarisierung im Hochmittelalter: vgl. Dinzelsbacher 1999, 55f.  60 Diese Ausdrücke entspringen der Anthropologie Hugo von Saint-Viktors. Vgl. Faupel-Drevs 2000, 96.  61 „Par le contrôle des gestes, l’Eglise impose au corps une police dans l’espace, par les calendriers des interdits, elle lui impose une police dans le temps.“ Le Goff/Truong 2003, 43.  62 Claustra, ob eo quod claudantur est. Isidor von Sevilla, Etymologiae, 15, 7,5 (PL, 82, 548I). Zum Konzept des Paradiesgartens: vgl. Dale 2001, 409; Meyvaert 1986, 51.  63 Zu den überlieferten Kopien der Klosterregeln Clunys (Paris, B.N., ms. lat. 18353; Paris B.N., ms. lat. 2208 II; Paris, B.N., nouv. acqu. lat. 638; Poitiers, Bibliothèque Municipale, ms. 127; Paris, B.N., ms. lat. 11732 I und II) vgl. Tutsch 1998.  64 Per corporis sensus corpora sentiuntur – Augustinus sah die körperliche Schau als gleichberechtigte Erkenntnisweise an. Vgl. Schleusener-Eichenholz 1985, 959f.  65 Auf diese Weise bewegt sie [die Musik] durch nicht geringe Kraft alle Seelen zu sich hin (ut onmes animas haec in se parua potentia quadam convertat). Adelbard von Bath, De eodem et diverso, zitiert nach: Speer 1998, 101, Anm. 5.  66 Vgl. Regula sancti Benedicti, VII, 68.

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Kapitelle im Kreuzgang: im „Weinberg“ der Bilder Im Vergleich zur Portalzone werden im Inneren des Klosters Körper und Vorstellungskraft also noch auf ganz anderem Niveau engagiert. Da es/man sich um „räumliche Bilder“ dreht, findet auch die Wahrnehmung dementsprechend raumzeitlich versetzt statt. Wenn beispielsweise die vier Seiten der Kreuzgangskapitelle als Cluster erst im Bildgedächtnis assoziativ zueinander in Beziehung gebracht, sprich „animiert“ werden und dieser Prozess durch betrachterlenkende Kompositionen, diachrone Bilderzählung oder Text-Bild-Beziehungen gleichsam katalysiert wird, provoziert das neben verstärkter Imaginations- auch eine intensive Erinnerungsarbeit. Die skulpturale Machina Memoralis stand hier noch stärker im Dienst der monastischen Meditation, in deren Prozessen das Kapitell sozusagen das wichtigste Zahnrad war. Nun besitzen die Darstellungen aber noch zusätzliches Affektpotenzial, da bestimmten Bildorten durch sakraltopographische oder liturgische Dispositionen zeitweilig eine verstärkte Präsenz zukam und sich dadurch auch die Wahrnehmung der Gesamtkonstellation verschob. So sieht man beispielsweise auf dem Martinskapitell, im semiöffentlichen Nordflügel des Kreuzgangs, die berühmte Mantelteilung auf dessen Westseite,67 die dort den Beginn der umlaufenden Bild- und Texterzählungen (Inschrift auf dem Abakus) markiert (Abb. 10a). Die Bewegungsrichtung von Pferd und Schwert verweist den Betrachterblick dementsprechend nach rechts. Es mag auf den ersten Blick vielleicht irritieren, dass der Protagonist des Kapitells nicht nur auf dem Abakus, sondern auch im Bildfeld darunter tituliert wird, aber das Martinus ist hier zusammen mit dem dirimit auf dem Schwert als bildperformative Aussage zu sehen: im Akt des Lesens senkt sich das Schwert und durchschneidet den Stoff in der Imagination des betrachtenden Lesers! Ebenfalls überraschend ist auf der nördlichen Gangseite erst einmal der von zwei Engeln gerahmte Christus abgebildet, während man darüber die Worte Dei Pontifex liest (Abb. 10b). Der tatsächliche Beginn der Erzählung ist dagegen auf der benachbarten Ostseite mit der „Mantelteilung“ zu sehen, wo der religiöse Lebensabschnitt des vormaligen Soldaten einsetzt. Parallel zur Inschrift auf dem Abakus zieht die nach rechts ausgerichtete Komposition den Blick mit nach rechts, einen einheitlichen Erzählraum suggerierend. Und dieser eröffnet sich zunächst auch mit der folgerichtigen Darstellung des Stadttores von Amiens (dem Ort der Mantelteilungsszene) auf der Südseite (ein visionärer Traum Martins)68 und des Auferweckungswunders aus der zweiten Lebenshälfte Martins  67 Martinus besaß schon nichts mehr als seine Waffen und ein einziges Soldatengewand, da begegnete ihm im Winter, der ungewöhnlich rau war, so dass viele der eisigen Kälte erlagen, am Stadttor von Amiens ein notdürftig bekleideter Armer […]. Er trug nichts als den Soldatenmantel, den er umgeworfen, […] er zog also das Schwert, mit dem er umgürtet war, schnitt den Mantel mitten durch und gab die eine Hälfte dem Armen (mediam dividit partemque eius pauperi tribuit), die andere legte er sich selbst wieder um (reliqua rursus induitur)“. Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, III, 1–2 (vgl. Leben des Heiligen Martin, Smolak 1997).  68 In der folgenden Nacht nun erschien Christus mit jenem Mantelstück […] dem Martinus im Schlafe (vidit Christum chlamydis suae). Er wurde aufgefordert, den Herrn genau zu betrachten und das

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Abb. 10a: Hl. Martin, Mantelteilung (Westen), Fassade von Amiens (Süden), (Kapitell im Kreuzgang von Moissac, in der westl. Hälfte der Nordgalerie, vor 1100).

Abb. 10b: Wiedererweckung (Westen), Vision Martins: Christus mit der Mantelhälfte, (Norden).

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auf der Ostseite – womit Stationen aus der Heiligenvita in chronologischer Ordnung dargestellt erscheinen. Die sich über den Bildern erstreckende Inschrift suggeriert auf den ersten Blick dieselbe Kohärenz: Martin, erst noch Katechumene – bekleidete mich mit diesem Mantel – jener Martin erwählt – [zum] Pontifex Gottes.69 Dennoch gibt es äußerst signifikante, die Vorstellungskraft weiter befeuernde Verschiebungen in Auswahl und Platzierung der Bild- und Textelemente. Zuerst sieht man eben nicht den narrativen Beginn der Martinsgeschichte (die Mantelteilung) zum Gang hin platziert, sondern eine Imagination des himmlischen Jenseits, die ebenso gut eine Elevatio sein könnte (Martinus ist von dieser Welt geschieden, und die Engel tragen seine Seele gen Himmel).70 Dies ändert grundsätzlich die Disposition insofern, als neben der historisierenden eine gleichsam topologisch-exegetische Sichtweise in den Blick kommt, bei der das Kapitell mit der zentralen Christusfigur markiert und die Vita Martins hier unter dem Blickwinkel der Imitatio Christi gesehen wird. Und in dieser Perspektive wird nun deutlich, dass das Kapitell mit einer antagonistischen Konzeption arbeitet: die luftigen Kompositionselemente der Nordseite (die Engel und der Stoff) bilden dabei genauso das Komplement zur schweren Steinarchitektur auf der Südseite wie auch die gesamte Szene der nördlichen Gangseite und der Text auf dem Abakus eigentlich hinter den Stadtmauern Amiens (Südseite) zu lokalisieren sind.71 In derselben Axialität referieren die beiden mirakulösen Umschlagpunkte im Leben des Heiligen auf der West- und Ostseite aufeinander.72 Und allein durch diese Gegenüberstellung wird Martins Vita hier Gewand, das er verschenkt hatte, wieder zu erkennen. Dann hörte er Jesus laut zu der Engelschar, die ihn umgab, sagen: ‚Martinus, obwohl erst Katechumen, hat mich mit diesem Mantel bekleidet (Martinus adhuc catechumenus hic me veste contexit)‘.“ Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, III, 3. Dieser letzte Satz, der sich als Zitat über die West-Süd- und Ostseite des Abakus erstreckt, erlaubt die genaue Identifikation der Severus-Schrift als Quelle für die Martinusdarstellung in Moissac. Vgl. Favreau 1982, 172–173.  69 martinus adhuc catecuminus – hac me veste contexit – hic martinus electus – dei pontifex . Vgl. ebd..  70 Der Eindruck einer elevatio ad alta wird dadurch erweckt, dass auch die seitlichen Engel den Stoff halten könnten und der Ausdruck Martinus electus Dei pontifex auf dem Abakus sich sehr gut auf dieses Bild beziehen lässt. In erster Linie konstituiert natürlich die vesticula ein Substitut für Martins Körper in den Händen Christi und eine symbolische Auffahrt in den Himmel, gleichzeitig aber auch ein Symbol für Martins Identität mit Christus, da sie nun den gleichen Stoff auf dem Leib tragen (Um das Zeugnis eines so guten Werkes [der Mantelteilung] zu bekräftigen, würdigte er [Christus] sich in dem Gewände, das der Arme empfangen hatte, zu erscheinen. Vita Sancti Martini, III, 21). Im Übrigen entfernte sich die Bildtradition gerade an diesem Punkt, wo Christus eigentlich seine von Martin erhaltene Mantelhälfte nicht ostentativ vorzeigen, sondern umlegen müsste, von der Textvorlage Sulpicius Severus’ ab der Mitte des 11. Jahrhunderts. In einer Illustration zur Vita Martini, entstanden im Skriptorium von Saint Martin in Tours um 1100, findet sich bei der gleichen Konstellation wie in Moissac (Christus im Zentrum mit seiner Mantelhälfte, zwei Engel rechts und links) zusätzlich im Vordergrund der wie bei einer Entschlafungsszene liegende Martin. Vgl. Bureau 1989, 41.  71 Der visionäre Traum, dem diese Szene auf der Nordseite entspringt, ereilt Martin in Amiens in der Nacht nach der Begegnung mit Christus an den Stadttoren.  72 Der erste Umschlagpunkt ist vom militärischen-säkularen zum spirituellen Leben, der zweite vom herumirrenden zum sesshaften und gleichzeitig vom ekklesiastischen zum monastischen Leben.

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auf den Taufakt konzentriert: Martin, selbst noch Katechumene trifft Christus (auf der Westseite), da er schon als solcher agierte, und auf der anderen Seite wiedererweckt er selbst einen Katechumenen (Ostseite), denn galt er vordem allgemein schon als Heiliger.73 Die beiden oppositionellen Kapitellseiten markieren letztlich die Konversion vom einfachen Soldaten (miles) zum Streiter Gottes (miles Dei). Der zwischen diesen beiden Etappen liegende und die Verwandlung bewirkende Taufakt lässt sich im Raum der skulpturalen Bildsynopsis auf der Südseite des Kapitells, in der Stadtfassade Amiens, lokalisieren. Der wunderbare Glanz jenes spirituell-liturgischen Transformationsprozesses hatte zwar ursprünglich seinen Widerschein in den Silberblechapplikationen auf dieser südlichen Kapitellseite gehabt, doch eine besondere Präsenz und affektive Kraft erhielten die Bilder vor allem im Zuge (para-)liturgischer Riten. An diesem Ort sind dementsprechend besonders die Praktiken um das anliegende Brunnenhaus ausschlaggebend, das sich in der nordwestlichen Ecke des Gartens befunden hatte und zu dessen Umfriedung das Kapitell und insbesondere dessen Südseite ebenfalls gehört hatten.74 Neben der möglichen Benutzung für die Taufe selbst75 sind rituelle Heilwaschungen bis ins 13. Jahrhundert hinein bezeugt.76 Und beide Praktiken illuminieren weitere Facetten von Martins Vita, die ja nicht nur die Prozesse des Taufaktes und der Wunderheilung exemplifiziert,77 sondern gewissermaßen auch deren dunkle Kehrseite: den Exorzismus.78 Selbst nach 40 Tagen Katechumenat wurden die katholischen Tauf 73 Die Vita unterstreicht gerade, dass Martin noch nicht die Taufe empfangen hatte (necdum tamen regeneratus in Christo) aber sich gewissermaßen durch seine guten Werke schon als Taufkandidat verhielt (agebat quendam bonis operibus baptismi candidatum): Er half bei schwerer Arbeit mit, unterstützte Arme, speiste Hungernde, kleidete Nackte, von seinem Kriegersold behielt er nur das für sich, was er für den täglichen Unterhalt brauchte. Er machte sich keine Sorge um den kommenden Tag, er war ja schon damals nicht taub gegen die Stimme des Evangeliums. Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, 2, 8 und 7, 7.  74 Dieses im 18. Jahrhundert zerstörte Brunnenhaus wurde von einem Aquädukt gespeist, hatte, wie der Kreuzgang selbst, eine umlaufende Galerie aus Doppel- und Einfachsäulen, einen Eckpfeiler, der zwei Apostelreliefs trug. Demzufolge gehörten die Kapitelle in der westlichen Hälfte der Nordgalerie, vor allen Dingen natürlich deren zum Brunnenhaus gewandten Südseiten, gleichermaßen zur Kreuzgangsgalerie wie zum Brunnenhaus. Vgl. Cazes/Scellès 2001, 17; De la Haye 1985.  75 Vgl. Correia Leandro Perreia 2001, 598.  76 Aufgrund der zu zahlreich gewordenen Besuche von Leprakranken zwecks Heilwaschungen am Brunnenhaus des Kreuzgangs, versuchte das Kapitel, diese ab der Mitte des 13. Jahrhunderts einzuschränken. Vgl. Borzeix/Pautal/Serbat 1992, 38f. und 168.  77 Gerade im Zusammenhang mit den Heilwaschungen (der Lepra) werden die Momente in Martins Leben, in denen er als Wunderheiler wirkte, als seelsorgerische Lectio ins Bewusstsein getreten oder auch rezitiert worden sein: Die Gnade der Krankenheilung besaß er in so hohem Grad, dass kaum ein Kranker zu ihm kam, ohne sofort die Gesundheit wiederzuerlangen (vgl. Vita Sancti Martini, 16). […] Da geschah es, dass er unter anderen Kräutern Nieswurz aß, welches giftig ist; und als er schon den Tod nahen fühlte, vertrieb er alle Gefahr und allen Schmerz mit der Kraft des Gebets. […] Denn da er zu Paris einem Aussätzigen begegnete, vor dem den anderen allen grausete, küsste er ihn und gab ihm seinen Segen; davon ward der Mensch zustund rein und gesund. Jacobus de Voragine: Legenda Aurea (vgl. Benz 1979, 865); Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, 19.  78 Bei seinem Treffen mit Hilarius, und mithin noch vor seinem kirchlichen Lebensabschnitt, wird Martin von dem Bischof mit dem Exorzismus beauftragt: er legte ihm nahe, sich zum Exorzist weihen zu lassen. Diese Weihe wies Martinus nicht zurück. Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, 5, 2.

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kandidaten erst im Vollzug des Taufritus von einer dämonischen Heimstätte (domus daemonum) mithilfe des weißen Taufkleides, Insufflation (oder exufflatio), Salzgabe und Immersion in eine Wohnstätte Gottes (domicilium Salvatoris) verwandelt.79 Dieses exorzistische Prozedere dehnt die Vita Martini fast über die gesamte Lebenszeit des Heiligen aus: Du magst gehen, wohin du willst, magst unternehmen, was du willst, immer wird der Teufel dir übel mitspielen, ruft der Teufel ihm in der ersten Lebenshälfte zu, woraufhin sich der Kampf mit dem Teufel als Leitmotiv durch die gesamte Vita zieht.80 In diesem Zusammenhang gewinnt die Architekturfassade des Kapitells – die nicht nur die Außenansicht eines Innenlebens (die Vision Martins) ist, sondern als Stadtmauer auch den umfriedeten Innenbereich einer sozialen Körperschaft beschützt – die Bedeutung als Manifestation des domicilium Salvatoris: eine Schutzarchitektur, die Martin und die Benutzer von Kreuzgang und Heilquelle gleichermaßen vor dämonischen Angriffen schützte.81 Weit darüber hinausgehend ist nun aber vor dem Hintergrund der monastischen Bildpraxis zu verstehen, dass das Bild ja nicht nur einfach ein totes Symbol war, sondern die Kapitelle in einem bildperformativen Akt diesen Schutzeffekt tatsächlich selbst erzeugten, indem sie den monastischen Betrachter in ein visuell-kognitives Netz von zahllosen Querverweisen verstrickten. Beispielsweise ist eine der eindrücklichsten Szenen in der Heiligenvita, als Martin in einem Zimmer eingeschlossen in Flammen steht und aus dem Feuer alleinig durch den Schutz des Gebets unbeschadet hervorgeht.82 Diese Passage illustriert nicht nur eindrucksvoll die physische Wirkkraft des innerlichen domicilium Salvatoris Martins, sondern ist direkt verlinkt mit dem nächstliegenden Kapitell, auf dessen zugewandter Seite (Westen) große  79 Die Liturgie konzentrierte sich besonders auf den Aspekt der Entdämonisierung: Exsufflatus igitur exorcizatur, ut, fugato diabolo, Christo Deo nostro paretur introitus; et a potestate erutus tenebrarum, transferatur in regnum gloriae caritatis Dei: ut qui dudum vas fuerat Satanae, fiat nunc domicilium Salvatoris. Johanis Diaconus: Epistola ad senarium virum illustri. De variis ritibus ad baptismum pertinentibus, et aliis observatione dignis, (PL 59, 402A); vgl. Dölger 1909; Stenzel 1958, 261.  80 Vgl. Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, 17, 21–24. Übrigens nicht nur in der Vita des Sulpicius Severus, sondern auch im Kompilationswerk der Legenda Aurea: Sanct Martin hatte auch viel Gewalt, Teufel auszutreiben und erlöste viele Menschen von ihnen […] Sanct Martin hatte auch große Kunst, die Teufel zu erkennen. Sie waren ihm also sichtbar, dass er sie deutlich unter einem Bilde sah, heißt es dort jeweils am Beginn von Paragraphen, die dann die Exempel aufzählen. Jacobus de Voragine: Legenda Aurea (vgl. Benz 1979, 868).  81 Auch in dieser Hinsicht stellt die Architekturseite des Kapitells (Südseite) das Komplement zum Mantelstück auf der nördlichen Gangseite da, da diese in der Vita als Kontaktreliquie ebenfalls Heilwirkung besitzt: Es verdient auch Erwähnung, dass Fasern, die von seinem Oberkleid und seinem Bußgewand abgetrennt wurden, häufig Kranke wunderbar heilten. Wenn man sie nämlich den Kranken um die Finger band oder auf den Hals legte, dann wichen oft die Krankheiten von ihnen. Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, 18.  82 Um Mitternacht aber fing all das Stroh Feuer; und da Martinus aufwachte, wollte er [aus der Kammer] hinausgehen, vermochte es aber nicht, und ward von dem Feuer ergriffen, und brannten allbereits seine Kleider. Da kehrte er sich zu der gewohnten Zuflucht des Gebetes und machte das Kreuzeszeichen; da stund er unversehrt mitten in dem Feuer, und fühlte das Feuer nicht anders als einen kühlen Tau. Jacobus de Voragine: Legenda Aurea, (vgl. Benz, 866).

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Abb. 11: Flammen-Assoziationen: Drei Jünglinge im Feuerofen (Nord- und Ostseite) Nachbarkapitell zu Martin.

Flammenzungen zu sehen sind (Abb. 11). Doch hier sind es die Drei Jünglinge im Feuerofen, deren intensive Gebete sich geradezu zur Figur eines Schutzengels verdichten,83 der dementsprechend auf der Gangseite dargestellt ist und sich mit den Engelsfiguren des Martinskapitells verknüpfen lässt. Diese Assoziationskette reicht dann aber auch bis zum Kapitell am Rand dieser westlichen Hälfte der Nordgalerie, wo ebenfalls ein Engel auf der Gangseite des Kapitells Habakuk an den Haaren (Südund Westseite) zu Daniel in der Löwengrube (Nord-, Ost- und Südseite) bringt – eine Geschichte, die neben Exorzismus, Übelabwehr und der Evokation eines bedrohten Huis Clos als Metapher für die Bedrohungen der Seele auch die Verteidigung derselben durch göttlichen Beistand inszeniert.84 Durch die dazwischenliegenden Kapitelle, die die vier Evangelistensymbole und die Kreuzritter in Jerusalem zeigen, wird das Thema der gesamten Kette über die Nebeneinanderstellung von irdischem  83 Nachdem drei jüdische Jünglinge von Nebukadnezar in den Feuerofen gesperrt werden, da sie sich weigern, sein goldenes Standbild anzubeten (Dan 3 1–19), nehmen allein das Fürbittgebet des Asarja und der anschließende Lobgesang auf den Herrn gut zwei Drittel des gesamten Kapitels ein (Dan 3 24–90).  84 Das Thema hat in der Tat zwei biblische Referenzen (Dan 6 17–23 und Dan 14 23–42). Aber selbst wenn nur in der zweiten, wie in Moissac, Habakuk erscheint, dürfte auch die erste Bibelstelle im monastischen Milieu bekannt gewesen sein. Bei dieser Variante wird Daniel explizit aufgrund seiner Gebetspraxis von Darius in die Löwengrube geworfen (Dan 6 11–13). Und seine Gebete scheinen sich wie bei den drei Jünglingen in einem Schutzengel in der Löwengrube zu manifestieren (Dan 6 23). Am Ende des Buches Daniel wird Daniel dagegen vom persischen König Kyros in die Löwengrube geworfen, da er einen als Gott verehrten Drachen tötet, der in klarer Opposition zum lebendigen Gott Daniels steht und damit als Teufel erscheint. In der Löwengrube bezähmt Daniel die Löwen und übersteht die sieben Tage dadurch, dass der vom Engel herbeigebrachte Prophet Habakuk (als personifizierte Heilige Schrift) Daniel (Seelen-) Nahrung in die Löwengrube bringt. Vgl. Dan 14 23–42.

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Abb. 12: Monastische Assoziation: hl. Benedikt, Monte Cassino, (Osten), Wiedererweckung des Maurus (Süden), (Kapitell in der östl. Hälfte der Nordgalerie).

mit Himmlischem Jerusalem um einen eschatologischen Aspekt erweitert, da die Heilige Stadt an das Jüngste Gericht erinnert, das Schicksal der drei Jünglinge und Daniels als Jüngstes Gericht verstanden wurde, letztlich aber auch Martin als Interzessor beim Jüngsten Gericht agiert hatte.85 Das populäre Thema und die Nähe zum Brunnenhaus prädestinieren das Martinskapitell zu einer Art Gravitationspunkt in der westlichen Hälfte der Nordgalerie. In der östlichen Hälfte war dagegen das Refektorium der determinierende Ort und das seinem Zugang gegenüberliegende Kapitell mit Szenen aus der Vita des hl. Benedikt der Nukleus der dortigen Bildsequenz – und gleichzeitig der Antagonist zum Martinskapitell in der Osthälfte (Abb. 12). Sein Abakustext bezieht sich nur in der ersten Lektüre und nur auf den ersten Blick auf ein einziges Wunder Benedikts,86 das hier auf der südwestlichen Kapitellseite dargestellt ist. Dort weist Bene 85 Besonders deutlich beim Wiedererweckungswunder, dargestellt auf der Ostseite des Kapitells, in der der verstorbene Katechumene im Jenseits ad tribunal iudicis geführt wird und nachfolgend berichtet: dass er nach seinem Hinscheiden vor den Richterstuhl Gottes geführt wurde; er habe da den niederschmetternden Urteilsspruch vernommen, er sei dem Ort der Finsternis und der Rotte der Verdammten verfallen. Da hätten zwei Engel den Richter darauf aufmerksam gemacht, er sei derjenige, für den Martinus bete. Deshalb sei der Befehl ergangen, dass er durch die gleichen Engel zurückgebracht, dem Martinus wiedergeschenkt und dem früheren Leben zurückgegeben werde. Sulpicius Severus: Vita Sancti Martini, 7.  86 VIR DEI BENEDICTVS VIRGA / P(ER)CVSSIT MONACHV(M) / ET SANAVIT EV(M) / DOMINVS P(ER) ILLV(M) (Der Mann Gottes, Benedikt, schlug mit seinem Stab den Mönch, und diesen heilte Gott durch jenen). Es ist die Parabel vom Mönch Maurus, der, vom Dämon besessen, nicht im Gebet ausharren konnte und dabei überdeutlich den Gegensatz zwischen dem Drinnen des Oratoriums und der Außenwelt herausstellt, da Maurus immer wieder ins Freie ging, seine Gedanken umherschweifen ließ und sich mit irdischen und nichtigen Dingen beschäftigte (mente vaga terrena aliqua et transitoria agebat). Der ratlose Abt Pompeianus rief Benedikt zu Hilfe, der allein

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dikt mit deutlichem Gestus auf den besessenen Mönch Maurus, der um die Kapitellecke von einem Dämon auf die Westseite gezogen wird. Auf der anschließenden nördlichen Gangseite ist zwar noch die Rute zu sehen,87 mit der Benedikt diesen Dämon vertreibt, aber diese ist gleichzeitig schon Teil einer zweiten Wunderszene, die sich über die Nord-Ostseiten des Kapitells erstreckt und schon auf der Nordseite mit der Simultandarstellung einer liegenden Figur und der links dahinter stehenden beginnt. Dieser junge Mönch, der bei der Errichtung Monte Cassinos durch eine vom Teufel eingestürzte Mauer erschlagen worden war, ist von Benedikt durch ein intensives Gebet nicht nur geheilt, sondern sofort wieder an die Arbeit zurückgeschickt worden (Kapitel 11 der Vita).88 Man sieht demgemäß den erschlagenen und den auferstandenen Mönch, der sich nach rechts zur abgebildeten Klosterarchitektur begibt. Die bildliche Verschränkung beider Wunder verdeutlicht, dass auch der Abakustext kein genaues Zitat aus dem zweiten Buch der Dialoge Gregors des Großen ist, und ebenso wie die Kapitellseiten beide Kapitel (4 und 11) gleichzeitig aufruft.89 Es ist besonders das nördliche Bildfeld zum Gang, in dem die textlichen und bildlichen Handlungsräume beider Geschichten überblendet sind. Hier kommt Benedikt mit der Rute aus der Exorzismusgeschichte von rechts und der Mönch begibt sich nach links in Richtung Monte Cassino und wird so fast von der Rute in diese Richtung getrieben. So gesehen treibt die Rute des „Exorzismuswunders“ (Westseite, Kapitell 4) gleichzeitig den „Sturz-Dämon“ (Ostseite, Kapitell 11) aus. Diese Operation kreiert in der Überlagerung einen dritten (Erinnerungs-)Raum, in dem letztlich alle 38 Kapitel der Vita et Miraculi Sancti Benediktini Gregors illuminiert werden. Die beschriebene Komposition des Gangbildes gibt die gemeinsamen „Sinnebenen“ beider Passagen insofern wieder,90 als die Moral im Kampf des Vir Dei Benedikt mit dem alten Menschenfeind (antiquus hostis dominari) liegt, der jeweils nur in verschiedenen Formen und Geschichten ausgetragen wurde.91 Das Dominus per illum über diesem Bild kommentiert damit nicht sah den schwarzen Knaben (niger puerulus), der den Mönch immer wieder aus dem Oratorium ins Freie zog. Das ganze zweite Buch der „Dialoge“ Gregors des Großen ist der „Vita et Miraculi Sanct Benedictini“ gewidmet. Die Exorzismusgeschichte ist dort das vierte Kapitel: „De monacho vagae mentis ad salutem reducto“. Vgl. Favreau 1982, 167; Gregor der Große: Dialoge, II, 4, 2 (PL 66, 142).  87 Da schlug er ihn mit der Rute wegen der Blindheit seines Herzens (pro caecitate cordis sui virga percussit) […] Der Alte Feind wagte es nicht mehr, die Gedanken des Mönches zu beherrschen, als hätte er selber Schläge bekommen (si ipse percussus fuisset ex verbere). PL 66, 142B.  88 Sie konnten ihn nur in einem Umhang tragen, denn die herabstürzenden Mauersteine hatten ihm nicht nur Arme und Beine, sondern auch die Knochen zerschmettert. Dialoge, II, Kapitel 11: „De puerulo monacho parietis ruina confracto, et ejus oratione sanato.“ (PL 66, 156).  89 Beispielsweise fällt zwar in der Exorzismusgeschichte nicht der Begriff „Heilung“ (sanatio), der hier die Klosterarchitektur Montecassinos auf dem Abakus kommentiert, dennoch lässt sich die Dämonenaustreibung auch so lesen; zumal hier beide – Dämon und Kloster – auch in räumliche Opposition gestellt sind!  90 Die Moralia in Hiob, in deren Prolog der dreifache Schriftsinn beschrieben ist (vgl. Corpus Christianorum. Series Latina, 143, 4, 110–114), war einer der am meisten gelesenen Bibel­kom­ mentare und wurde auch im Skriptorium von Moissac kopiert. Vgl. Fraïsse 2002.  91 Während es in den meisten Wundern um die körperliche Abwesenheit Benedikts vom Konvent geht, da sie dann die Anwesenheit des Teufels bedeutet.

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nur beide Wunder, sondern zugleich das gesamte Lebenswerk des Heiligen Benedikts. Und dieses war ja auch der Kosmos des gesamten Konvents und die utopische Referenz der Kreuzgangskonstruktion. Schon mit der Stiftungsinschrift am zentralen Pfeiler der Westgalerie erscheint die Vita Benedikts wie ein Incipit der gesamten Kreuzgangsskulptur, während die Regula Sancti Benedictini dann das Zeit- und Körpergefühl der Mönche darin steuerte.92 Die Platzierung des Benedikts-Kapitells vor dem ehemaligen Refektorium ist ein weiterer Indikator dieser körperlichen Inanspruchnahme und musste die Darstellungen zusätzlich affektiv aufladen, sprich „präsentifizieren“,93 denn dies war ein Raum, in dem die Präsenz Benedikts besonders intensiv erfahren wurde:94 beim Tisch der Brüder darf die Lesung nicht fehlen. Dies hatte einst Benedikt selbst verfügt, und auch die Consuetudines Clunys schrieben das tägliche Vorlesen eines Kapitels der Regula Sancti Benedictini während der Mahlzeit vor.95 Diese von Ezechiel (Ez 2,8–3,3) und Johannes (Off 10,9– 10) überkommene psychomotorische Einspeisung des Textes fand in der cluniazensischen Armenspeisung der Totenmemoria ihren Ausdruck,96 wirkte aber noch eindringlicher in der von Benedikt beständig angemahnten Lectio divina fort: als Diskussion während oder kurz nach dem Essen, übrigens oft im Kreuzgang stattfindend (collatio), wurde der „verspeiste“ Text danach in individueller meditatio „verdaut“ und „wiedergekäut“ (ruminatio), unterstützt vom Lesestil, der ebenfalls den ganzen Körper mobilisierte (halblaut murmelnd und im Takt dazu schwingend).97 Eingesponnen in ein ganzkörperliches Netz von Gedächtnisarbeit sollte der Mönch ein habitaculum Dei in spiritu  et corpore errichten.98 Dieses mentale  92 Die letzten Kürzel, die Ansquitilius hier gewissermaßen der Statik seines Kreuzgangs einschrieb, sind gleichzeitig die ersten Worte der Benediktsvita: V(ir) V(itae) V(enerabilis). Vgl. Favreau 1982, 177; Schmitt 1990, 76–79.  93 Zum Begriff der „Präsentifikation“ vgl. Vernant 1996, 339passim; Assmann 2009, 84. Für zahlreiche mittelalterliche Fallbeispiele vgl. Sansterre 1998.  94 Vice versa illustriert ein anderer Abschnitt der Vita die gemeinschaftsbildende Funktion von Nahrung, indem betont wird, dass die Mönche außerhalb des Klosters weder Speise noch Trank annehmen durften (Dialoge II, 12), da auch die gemeinsame Nahrung dazu diente, den Mönch noch über die Distanz hinweg physisch an das Kollektiv zurückzubinden.  95 Regula Sancti Benedicti, Kapitel 38: „De hebdomadario Lectore“; zitiert nach: Hanslik 1977, 106. Beispielsweise wurde an dem Tag, an dem das Kapitel zum Amt des cellarius gelesen wurde (Kapitel 31: „De Cellario Manasterii“), von jenem dazu reichhaltigeres Essen (copiosa refectio) und besserer Wein (conventui meliorare vinum) gereicht. So wurde das Kapitel der Regula nicht nur leibhaftig verschlungen, sondern der cellarius des 11. Jahrhunderts war an diesem Tag lebendige Inkarnation des Urbildes, das er auf diese Weise wieder-holte. Vgl. Tutsch 1998, 187.  96 Neben den Gedenkmessen wurde ab dem späten 11. Jahrhundert jeweils ein Armer anstelle des toten Mitbruders gespeist und im Totengedenken an ausgezeichnete Stifter Fisch und besserer als der übliche Misch-Wein gereicht. Vgl. Angenendt 1984, 79–200, 196f.  97 Diese Praxis ist vielleicht am detailliertesten von Petrus von Celle (1115–1183) und Hugo von St.-Viktor beschrieben worden. Vgl. Dahan 1999, 79; Illich 1991, 57.  98 Die Einzwängung der Körperlichkeit unterlag ganz konkreten Regeln: in eine schwarze Kutte gehüllt, die den Körper (caro) der Sichtbarkeit entzog, hatte der Mönch die Augen in der Regel zu Boden zu richten, die Hände bedeckt zu halten, nicht unnötig zu sprechen, nicht zu lachen, möglichst nicht zu rennen usw. Vgl. Regula sancti Benedicti, VII, 63; Schmitt 1990, 147. Jacques Le Goff belegt eindrucksvoll, inwiefern diese Konzeption auch negativ, d. h. im Jenseits griff: ag-

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Konstrukt war visuell im Kapitell kondensiert, materialisierte sich aber insbesondere in den Mauern Monte Cassinos (Ostseite), allerdings ohne die (bildliche) Verbindung zur Auferstehungshoffnung im Bild der Widererweckungsszene (Südseite) zu verlieren. Und ebenjene Zusammenstellung schlägt dann die visuelle Brücke zum Martinskapitell am anderen Ende der Galerie, wobei nicht nur die Konstellation von Architekturfassade und Auferstehungsszene (Ost- und Nordseite), sondern auch der innere Aufbau der Letzteren (der Wundertäter stehend und der Wiedergänger in Simultandarstellung liegend und auferstanden) die Kongruenz zu Martin ausspielt. Benedikt und Martin erschienen in der monastischen Wahrnehmung als Gründungsväter der zönobitischen Lebensform: Benedikt im Okzident schlechthin, Martin in Gallien. In dieser Dynamik und im Vergleich mit der Fassade von Monte Cassino konnte die Architekturfassade auf dem Martinskapitell nun ebenso als Symbol der Klostermauern in Tours und aller Klöster im Frankenreich erscheinen. Diese (Schutz-)Mauern verkörperten aber nicht nur die soziale Abgeschiedenheit der Klostergemeinschaft, sondern auch den individuellen geistlichen Schutzwall.99 Ein assoziatives Mäandern zwischen den Kapitellen, ein Spiel der Imagination und Erinnerung (meditatio/ruminatio) und Diskussion (collatio) provozierend, engagierte die Bildermaschine über diese körperlich-kognitiven Bewegungen den meditativen Betrachter gleichzeitig in einem intellektuell-spirituellen Modus und unterhielt auf diese Weise faktisch das domicilium Dei.100

In spiritu et corpore – Imagination und Affekt Die umfangreichen skulpturalen Bildprogramme der Romanik nahmen den Betrachter ganzkörperlich gefangen. Affektiv wirkte die Skulptur dabei zuerst als raumgreifende, architektonische Inszenierung, die den Betrachter mit einer bildligressiv ausufernde und heftige Gesten werden beispielsweise von den Dämonen des Purgatoriums an ihrerseits immobilen Sündern begangen. Vgl. Le Goff 1999, 559f.  99 Die Durchdringung dieser beiden Sphären illustriert vielleicht am besten der Kragstein der Mittelzone zwischen Fries und Arkaden im Portal. Hier hält eine Hundebestie (die zuvor die Geschwüre des Lazarus leckte) den seinerseits mit Geschwüren überzogenen Sünder zwischen den Zähnen. In der Vertikale ordnen sich so drei Liegende übereinander an: Lazarus unter dem Tisch, der Sünder im Bestienmaul, und Dives auf dem Sterbebett. Im Fries ganz oben hat Lazarus seinen moralisch überlegenen Platz ebenso in der Narration, wie der hochmütigen Prasser, dem ganz unten im Arkadenfeld die Seele entrissen wird. Da aber dessen Pein erst auf die Todeszene folgt, lässt sich die malträtierte Figur des Kragsteins einmal auf die Narration beziehen – im Zuge der Umpolung der Attribute (Geschwüre und Hund) als visuelle Antizipation der Höllenstrafen des Reichen – ist aber gleichzeitig aus der Chronologie herausgelöst, zeigt den Typus „Sünder“ und spiegelt so gesichtslos faktisch jeden sündigen Betrachter. 100 Bezüglich St.-Michel-de-Cuxa argumentiert Thomas E. A. Dale, dass die fabelhaften Motive der Kreuzgangskapitelle einerseits als Externalisierung eines Imaginariums eine gewisse Bannung erfuhren, um andererseits die Vorstellungswelt der Mönche zu okkupieren und dann in Verbindung mit liturgischem Gesang und meditativen Lesungen gegen die insbesondere in der Nacht stattfindenden Dämonenangriffe auf den Geist der Mönche als Schutz zu wirken. Vgl. Dale 2001, 428f.

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chen Inundationsbewegung umspülte. Diese wird noch intensiver, wenn man detailliert der Bilderzählung und der ausufernden „assoziativen Polyvalenz“ folgt. Beide erschließen dem Betrachter zeitweise einen eigenen Bildraum. Trotz ihrer tektonischen Verhaftung lassen sich diese Bildprogramme also insgesamt eher als offenes, gleichsam volatiles Konstrukt verstehen. Doch nicht nur auf formaler, sondern auch auf inhaltlicher Ebene lässt sich eine vergleichbare Struktur erkennen. Denn wenn sich schon die inhaltlichen Bezüge topogen entfalten und dann auch liturgische Akzentverschiebungen beständig zur Bedeutungsgenerierung animierten, bedeutet dies, dass der Bildraum der Skulpturen die Imaginationskraft des Betrachters (spiritus) ebenso umklammerte, wie er einen Körper (corpus) engagierte, dem schon aufgrund seiner (bild-)anthropologischen Disposition ein affektives Bildverhalten sozusagen angeboren war – Augustinus spricht vom Menschen als ein sich beständig „annäherndes Bild“.101 Für die kunsthistorische Forschung wiederum bedeutet diese Erkenntnis einen Perspektivwechsel, der nach einer dokumentarischen und inhaltlichen Aufarbeitung des Denkmälerbestandes verlangt.

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Abbildungsnachweise Abb: 1, 2, 4–12: Eric Hold Abb. 3: Rupprecht 1984, 151 (Ausschnitt).

III. SEELENUMGEBUNGEN

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Baupläne der Andacht Meditative Architekturen in der nordalpinen Manuskriptkultur des Spätmittelalters This article focuses on the role of architectural frames and perspectival representation in late medieval book illumination. By examining the elaborated architectural frames in late medieval book illumination in relation to the newly acquired devotional literacy, it will be recognized that it is not only the joy of using the new technique of foreshortening, but that perhaps, on the contrary, the meditative architecture encountered in the texts of that time became the decisive driving force for the design of pictured architectural frames. Painted architecture as well as devotional texts operating with imaginary buildings stimulate contemplation. The new visualizations of space, plasticity, and the faithful imitation of nature which can be seen in several Psalters and Books of Hours from different regions of Europe contribute to the presence and meditative and memorative intensification of the story of salvation. In addition, it seems that the new attempts at naturalistic depiction led to an intense contemplation of the facilities of images, symbols and texts, and that the new theoretical awareness of images and art were the result of the use of images for meditative purposes.

Ein doppeltes Spiel mit visueller Fiktion offenbart die Darstellung der Verkündigung in einem Stundenbuch aus Frankreich, das noch nach der Erfindung des Buchdrucks das Potential des illustrierten Manuskripts mit seinen eigenen Gesetzen ausschöpft. Der Engel der Verkündigung erscheint in einem Bildrahmen, der sich illusionistisch von der dunkel bemalten Pergamentseite abhebt. Der goldene Bildrahmen wirft dabei einen schmalen schwarzen Schatten. Goldene Strahlen aus der linken oberen Bildecke durchqueren die Diagonale, um auf der gegenüberliegenden recto-Seite bei der Darstellung Mariens wieder aufgenommen zu werden. Diese wiederum wird von einem in die Tiefe fluchtenden Vorhang umgeben und ein goldener Rahmen mit gedrechselten Säulen und abschließendem Zierrat umfangen die zukünftige Gottesgebärerin (Abb. 1).1 Der Illusionscharakter der Anordnung tritt in diesem kurz nach 1500 entstandenen Werk deutlich hervor und fügt sich in die Tradition immer raffinierter werdender Täuschungseffekte, die das Andachtsbuch des ausgehenden Mittelalters zu einem Erprobungsort von technischen Fertigkeiten machte.2 Ist diese Doppelseite mit der zweigeteilten Darstellung der Verkündigung nur eines von vielen Bei   1 BL, Harley 2936, kurz nach 1500, dazu Zöhl 2004, 47.    2 Insbesondere die Werke von Jean Poyer, Jean Colombe oder Jean Pichore führen einen exzeptionellen Umgang mit illusionistischen Architekturen vor – wenngleich auch arbeitsteilige Verfahren angewendet wurden und der Rahmen oft von anderer Hand ausgeführt wurde. Zu den genannten Buchmalern vgl. u. a. Zöhl 2004 und Hofmann 2004.

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Abb. 1: Verkündigung, kurz nach 1500, British Library, Harley 2936.

spielen, bei denen die Seherfahrung des Betrachters herausgefordert wird, regt der gemalte Bildrahmen um Erzengel Gabriel und der Einblick in Marias Bettstatt, die offenbar durch den Vorhang angedeutet ist, zur Reflektion über die Bedeutung der präsentierten Fiktionsebenen an. Dabei überlagern sich illusionistische Effekte mit inhaltlichen Dimensionen, denn die Nutzbarkeit des Buches als topologisches Argumentationssystem war längst erkannt worden. So wie bei Lektüre eines Andachtsbuches durch fingierte Pilgerwegsabzeichen oder ähnliche Symbole die spirituelle Pilgerschaft angezeigt wird, verweisen auch viele andere Elemente auf die enge Verquickung von neuer Formensprache und ebenso neuen Formen der Devotion. Doch sind es nicht nur einzelne illusionistische Elemente, die die Aufmerksamkeit des Betenden auf sich ziehen.3 Vielmehr ändert sich die Semantik der gesamten Buchseite. Die Detailverliebtheit vieler dieser Prunkwerke erfordert alle Aufmerksamkeit des Bildbetrachters. Beispielhaft demonstriert dies das Stundenbuch des Etienne Chevalier (Abb. 2), das zudem mit Jean Fouquets charakteristischen kurvilinearen Perspektivräumen aufwartet. Die Verkündigung des Marientodes findet hier in einem zeitgenössischen Innenraum mit geflochtenem Bodenbelag

   3 Vgl. Bredow-Klaus 2005; Köster 1984. Zu früheren Entwicklungen vor allem in der flämischen Buchkunst vgl. Marrow 1996.

Baupläne der Andacht

Abb. 2: Jean Fouquet,Verkündigung des Marientodes aus dem Stundenbuch des Etienne Chevalier, Mitte des 15. Jahrhunderts, Chantilly, Musée Condé WK 6.1.3, ca. 150 mm x ca. 120 mm.

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statt, während marmorierte Wände oder ein in die Bettstatt Mariens eingewobenes IHS auf vielfältige Symbolbezüge schließen lassen.4 Nur schlaglichtartig kann hier auf den Ideenreichtum in Miniaturform verwiesen werden, zu dem sowohl die heute berühmten Buchmaler als auch unbekanntere Urheber beitrugen.5 Dabei steht die Illusionskraft der zentralen Bildfelder mit ihren avancierten perspektivischen Fluchten im Kontrast zu den feinteiligen, mit Gold oder Trompe-l’oeil-Effekten belegten Bordüren, die mehr und mehr zum Ort von Nebengeschichten, Impresen und Symbolen werden. Wie schon Eberhard König vermerkt, ist insbesondere für Buchmalereien aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts diese architektonische Einfassung des Heilsgeschehens keine Besonderheit mehr, vielmehr „wurden in unterschiedlichen Zentren Bilder im Stundenbuch wie kleine Tabernakel verstanden.“6 Auch die Inszenierung der Verkündigung in einem Tabernakel, das zugleich größte Anforderungen an die Miniatoren und ihre Fähigkeit zur Vermittlung von Plastizität und perspektivischer Dimension stellte, wurde zu einem gängigen Erscheinungsbild.7 Doch schon bei wesentlich früheren Beispielen wird deutlich, dass die Buchmalerei als Ort künstlerischer Invention nicht unterschätzt werden darf. In der insularen Buchmalerei findet man bereits im 14. Jahrhundert einige Werke, bei denen die Architekturrahmen ganz ähnliche Funktionen übernahmen. Interessant erscheint unter diesem Blickwinkel, dass bereits Francis Wormald und Otto Pächt diese Beispiele einst einer stilistisch besonderen Episode englischer mittelalterlicher Kunst zuordneten, weil der avancierte Umgang mit Rahmen, Schattierung und Plastizität offenbar ins Auge fiel und in Verbindung gebracht wurde mit der italienischen Malerei, in der schon seit einiger Zeit mit Perspektive und Plastizität experimentiert wurde.8 Statt der bisher vorherrschenden tektonischen Rahmen, die vor al   4 Schaefer 1994, 72–73. Chantilly, Musée Condé WK 6.1.3. Neben dem in den Stoff des Bettes eingestickten YHS, das ganz aktuelle Diskussionen zu Bernhardin von Siena aufnimmt, ist etwa zu überlegen, ob der geflochtene Bodenbelag, der einerseits zeitgenössische Einrichtungspraxis spiegeln soll, andererseits ein Attribut der tugendhaften Arbeit ist, wie es in zahlreichen Varianten von Guillaume de Digullevilles Pèlerinage de la vie humaine verwendet wird. Vgl. auch Reynaud 2006, 68–70.    5 Noch präsenter ist das aus dem Tiefenraum fluchtende Attributtier des Hl. Lukas in Jean Fouquets Stundenbuch Raguier?-Robertet, das aus dem rechten Mittelgrund einen perspektivisch fluchtenden Gang entlanggaloppiert, vgl. New York, Pierpont Morgan Library M. 834, fol. 1r. Schaefer 1994, 234 verweist darauf, dass Fouquets perspektivische Lösung wenige Jahre später von Colombe kopiert wurde. Vgl. auch Reynaud 2006, 248.    6 König 2001, 57. Vgl. jedoch auch frühere Beispiele von Rahmenarchitekturen, wie etwa Werke des Bedford-Meisters, dazu König 2007, 40–48.    7 Verwiesen sei auf ein Beispiel aus The Cloisters Collection, 58.71a,b, mit einer auf verso- und recto-Seite gesetzten Verkündigung in einer hochkomplexen Architekturszenerie aus einem Stundenbuch aus Bourges von 1465, die jegliche perspektivischen Raffinessen ausspielt. „Master of Charles of France: Two Leaves from a Book of Hours, Representing the Annunciation (58.71a,b)“. Weiteres dazu in Heilbrunn Timeline of Art History, New York: The Metropolitan Museum of Art, 2000–. http://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/58.71a,b (October 2006).    8 Pächt 1943 und Wormald 1943. Zu einem Beispiel englischer Wandmalerei mit möglichen Reminiszenzen an die italienische Malerei vgl. Binski/Park 1986, 28–41.

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lem durch Blattgold nobilitiert wurden, griffen die Miniatoren hier auf eine gänzlich andere, neue Ausdrucksebene zu. Im sogenannten Fitzwarin-Psalter, der Mitte des 14. Jahrhunderts in England entstand, wird die Passion Christi in gemalten zeitgenössischen Sakralarchitekturen untergebracht:9 Jede Miniatur dieses Psalters ist durch aufwändigstes Rahmenwerk gekennzeichnet: Die Ausführung der 16 ganzseitigen Bilder erfolgte mit großem Aufwand, sogar die jeweilige verso-Seite des Pergaments wurde freigelassen. Auffallend sind das gewählte steingraue Kolorit und die variable architektonische Formensprache. Bei näherem Hinsehen ergibt sich gar eine konsequente Topographie, die mittels der gemauert-gemalten Rahmen transportiert wird: Die Gefangennahme und Passion Christi findet in einer elaborierten architektonischen Umgebung statt, die zu Teilen in die Bilderzählung integriert wird. So reichen in dem Moment, in dem Judas Christus umarmt und Petrus dem Malchus das Ohr abschlägt, Schächer aus dem oberen Bereich der Rahmenarchitektur ihre Folterinstrumente bereits nach unten zu den dort versammelten Soldaten. Fast scheint es, als deuteten die Gebäudeteile mit ihren durch sorgfältige weiße Linien vergitterten Fensteröffnungen ein Verlies an, in das die Passion hier platziert wird. Die Architektur bildet über den Protagonisten der Heilsgeschichte ein Halbrund, und die Beine der Figuren verschwinden hinter den seitlichen Pfeilern, was den Eindruck eines perspektivierten Bildraumes erzeugt – abgesehen von leichten Inkonsistenzen, wenn die handelnden Figuren weiter oben doch wieder die architektonische Begrenzung überschneiden. In jeder der ganzseitigen Miniaturen wird die Bildarchitektur für die Erzählung entsprechend variiert. Die Geißelsäule etwa erscheint auf der Schwelle zum Betrachter, der Rahmen fehlt am unteren Bildrand, sodass die nackten Erdschollen bis zum Pergamentgrund reichen. Auch dies ist ein Mittel der visuellen Präsenz, das in der Buchmalerei dieser Zeit sehr sparsam und niemals ohne Grund verwendet wird (Abb. 3). Im oberen Bereich werden in den Gewölbepartien über den Säulen durch groteske Wasserspeier auffällige Akzente gesetzt. Dabei wirkt die Variation des Rahmens nicht beliebig: Selbst Himmels- und Höllen-Regionen erscheinen als fiktive Architekturen unterschiedlicher Wertigkeit. Dramatisch quillt aus allen Öffnungen der Höllenarchitektur Rauch und Feuer, als Christus Adam und Eva aus der Vorhölle führt: Der architektonische Rahmen mündet auf der rechten unteren Bildseite in einem riesigen Höllenmaul (Abb. 4). Teuflische Gestalten tummeln sich im Geschoss oberhalb der Hauptszene, während der Gewölbeabschluss direkt über Christus deutlich macht, dass es sich um ein und dasselbe Gebäude handelt. Die Himmelfahrt Christi findet durch eine sich nach oben öffnende Bildarchitektur statt, die wie ein Turm gestaltet ist, und auf einmal umfasst Christus mit beiden Armen die gesamte Breite des Bildrahmens, während sein nimbierter Kopf aus dem Obergeschoss ragt    9 Wormald 1943 rückt den auffälligen Psalter erstmals in das Blickfeld der Forschung und datiert ihn in das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts. Dennison 1986 versucht eine Rückdatierung in die 1340er Jahre in die Buchmalerei Oxfords, was Rogers 1989 bestätigt – in beiden Fällen lässt sich kritisch anmerken, dass die ungewöhnlichen architektonischen Rahmen sich kaum noch mit erhaltenen Beispielen vergleichen lassen – die Ähnlichkeiten zu genannten Handschriften müssen m. E. eher vorsichtig beurteilt werden.

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Abb. 3: Gefangennahme Christi, Fitzwarin-Psalter, England, Mitte des 14. Jahrhunderts, Paris, Bibliothèque Nationale, MS lat. 765, fol. 9r, 315 x 210 mm.

Abb. 4: Christus in der Vorhölle, Fitzwarin-Psalter, England, Mitte des 14. Jahrhunderts, Paris, Bibliothèque Nationale, MS lat. 765, fol. 15r, 315 x 210 mm.

(Abb. 5).10 Das Maßwerk mit seinen Fratzen als Verzierung ist dabei im Bildvordergrund, während das Gewölbe hinter diesem Netz noch zu erkennen ist – die Turmarchitektur wird damit in ihrer Dreidimensionalität wahrgenommen und für die Zwecke der Bilderzählung verwendet. Doch entscheidender ist der Blick auf die erste Miniatur des Fitzwarin-Psalters: Dieses abwechslungsreiche Gebäude beherbergt zu Beginn auch die Besitzerin selbst, möglicherweise eine junge Adlige des Namens Amicia de Haddon, die zum Auftakt des Gebetbuchs in einer aufwendigen Kulisse kniet (Abb. 6).11 Der hinter ihr gesetzte Ornamentgrund deutet den realen Vollzugsraum jenes Gebetes an, des 10 BNF, Ms. lat. 765, fol. 15r und fol. 20r.  11 BNF, Ms. lat. 765, fol. 7r. Der Auftakt des Miniaturenzyklus hier von einer Szene mit der lesenden Maria auf dem Arm ihrer Mutter gebildet. „Domine labia mea aperies“ steht in diesem Schriftstück, womit zugleich die ersten Worte für die in der Bildmitte kniende Besitzerin der Handschrift gesprochen sind. Vgl. zur ersten Miniatur des Bildzyklus auch Smith 2003, 260: „The quintessential Gothic image of woman’s acquisition of ‚devotional literacy‘ and mother-daughter education was St. Anne Teaching the Virgin from an open book“. Eine Beschreibung der einzelnen Miniaturen stellt Wormald 1943, 76–78, zusammen, zur möglichen Provenienz äußert sich vor allem Rogers 1989.

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Abb. 5: Himmelfahrt Christi, Fitzwarin-Psalter, England, Mitte des 14. Jahrhunderts, Paris, Bibliothèque Nationale, MS lat. 765, fol. 20r, 315 x 210 mm.

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Abb. 6: Besitzerin, kniend vor Maria auf dem Schoß Annas, Fitzwarin-Psalter, England, Mitte des 14. Jahrhunderts, Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 765, fol. 7r, 315 x 210 mm.

sen Beginn in dem aufgeschlagenen Buch vorgegeben wird: Domine labia mea aperies, wie Maria auf dem Schoß ihrer Mutter Anna exemplarisch verliest. Dabei kniet die Betende jedoch auf den nackten Erdschollen, auf denen mit feinen weißen Linien emporwachsende Pflanzen (möglicherweise sogar Getreide?) zu erkennen sind. Die Farbigkeit und die wechselnden Mustergründe der folgenden einzelnen Szenen kontrastieren das steingraue Kolorit der alternierenden Rahmen. Dabei funktionieren die sorgfältig gearbeiteten Architekturbühnen mit ihren Schattierungen, ihrem Formenreichtum mit Reminiszenzen an zeitgenössische Baustile wie Teile eines einzigen großen Gebäudes, in dem Elemente der Heilsgeschichte lokalisiert werden. Die avancierte Darstellungsweise der Bildarchitekturen – das giottesque Element, wie Pächt es bei ähnlichen Beispielen insularer Buchmalerei nannte – ist ein entscheidendes Novum in der Bildsprache des 14. Jahrhunderts: Kein erhaben glänzender Goldrahmen kommt zum Einsatz, nur graue Mauern, auf die die Miniatoren jedoch größte Mühe verwendet haben müssen.12 Dass die Besitze 12 Pächts und Wormalds Beiträge erscheinen beide in derselben Ausgabe des Warburg Journals 1943 und stärken gemeinsam die These, dass insbesondere der Einfluss italienischer Formensprache

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rin und Adressatin des Andachtsbuches in genau jener Umrahmung lokalisiert wird wie die Passion Christi, ist nicht nur eine Konzession an stilistische Gewohnheiten: Nicht mehr und nicht weniger wird damit zum Ausdruck gebracht, als dass die in Andacht befindliche Adlige und die Passion im selben Raum imaginiert werden sollen.13 Wenn sie auf denselben Erdschollen kniet, auf denen sich die Passion Christi ereignet, wird der symbolische Querverweis offensichtlich.14 Die Integration des Stundenbuch-Besitzers in die Heilsgeschichte etabliert sich zu dieser Zeit als Motiv: Ähnlich ist auch der Einstieg ins Stundenbuch der Jeanne d’Evreux konzipiert, das ebenso wie das englische Beispiel bisher als Ergebnis stilistischen Einflusses aus Italien interpretiert wurde.15 Auch im Fall von Jean Pucelle, der für die Miniaturen in diesem berühmten Stundenbuch verantwortlich zeichnete, argumentierte man mit der Kenntnis von italienischen Malereien, in denen perspektivisch fluchtende Raumschachteln wenig vorher Verbreitung fanden. Doch fraglich bleibt, ob diese stilistische Herleitung ein ausreichendes Erklärungsmodell ist für die verschachtelten und verwobenen Blicke in die Architekturbühnen, die das englische Beispiel bereithält. Für den Fall des Fitzwarin-Psalters ist zudem der Umgang mit komplexen Bildarchitekturen der wichtigste Indikator zur Datierung der Handschrift. Sowohl Francis Wormalds Zuweisung als auch die stilistische Einordnung von Laura Dennison basieren zu einem nicht geringen Teil auf der Interpretation der Architekturrahmen als perspektivisch-plastische Bildelemente, die bei Wormald auch mit einer stilistischen Einflussnahme aus Italien erklärt werden. Jedoch bietet sich im Fall der komplexen tektonischen Rahmung der Heilsgeschichte noch ein alternatives Erklärungsmodell an.

Meditative Architekturen Die tiefergehenden Implikationen der architektonischen Bildrahmen und der raffinierten optischen Spielereien späterer Beispiele erschließen sich möglicherweise durch den Einbezug von bisher vernachlässigten Textgattungen. Wird in den Stundenbüchern seit dem 14. Jahrhundert eine immer komplexere Tektonik sichtbar, so operieren auch volkssprachliche Texte mit analoger Metaphorik. Diverse literarische Baupläne der Andacht, die dem Betenden die Verwendung realer Räumlichhier ihren Weg in die insulare Buchmalerei gefunden hat. Analog wird diese Ansicht auch für die Entwicklung der französischen Buchmalerei vertreten.  13 Zu den verschiedenen Abstufungen in der Integration des Stifter-Porträts vgl. u. a. Naughton 1991, 111–126.  14 De Chapeaurouge 1964.  15 Hier partizipiert die Besitzerin Jeanne in der D-Initiale am Beginn des Textes, während sich über ihr in einer sorgfältig gearbeiteten Raumschachtel die Verkündigung entfaltet. Es sind vereinzelte Bildarchitekturen, wie das Gehäuse der Verkündigung, die die Aufmerksamkeit der kunstgeschichtlichen Forschung anzogen. Die sorgsamen Schattierungen der architektonischen Rahmen, der souveräne Umgang mit Plastizität unterscheidet sich deutlich von früheren Handschriften: vgl. zu einer genauen Analyse der Verkündigungsminiatur Logemann 2009, 194–197. Vgl. zu den Besitzerporträts auch Ringbom 1969.

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keiten zur Kartographierung von Meditation empfohlen, waren zur Entstehungszeit der bisher genannten Beispiele bereits etabliert. Was zunächst in der lateinischen Literatur des Hochmittelalters begann, wie vor allem Petrus Cellensis, Hugo von St. Viktor und weitere zentrale Autoren vorgaben, leistete einen wichtigen Beitrag zur volkssprachlichen mittelalterlichen Erbauungsliteratur, die es auch für die Bildkultur des Spätmittelalters unter einem neuen Blickwinkel zu analysieren gilt.16 So scheint es, dass die Funktion der Architektur als Metapher, als mnemotechnisches Hilfsmittel und meditativer Rahmen durch die perspektivische Darstellung entscheidend unterstützt wurde. Umgekehrt ist es aber auch so, dass die zahlreichen und immer genaueren Beschreibungen solcher Meditationsarchitekturen im 14. Jahrhundert und insbesondere auch die an der Szene der Verkündigung eingeübten Wahrnehmungs- und Andachtsverhalten dazu führten, dass die Maler intensiv mit Formen perspektivischer Darstellung experimentierten, und dass die apperzeptive Ergänzung der Bildarchitekturen durch den kontemplierenden Betrachter dieser Dimensionierung der bemalten Pergamentseiten zuarbeitete.17 Dieser Zusammenhang soll im Folgenden etwas ausführlicher an Text- und Bildbeispielen aufgezeigt werden.18 Die Allianz beschriebener und gemalter Architektur begann dabei zu wesentlichen Teilen in solchen Büchern, deren Bedeutung für den mittelalterlichen Bildgebrauch bisher kaum herausgearbeitet wurde. Da die Entwicklung der zahlreichen Seelengebäude seit Langem Gegenstand vielfältiger Studien ist, soll im Folgenden nur in wenigen Zügen skizziert werden, auf welchem Fundament die volkssprachlichen Andachtstexte des 14. Jahrhunderts erbaut wurden. Konzentrierten sich frühe Beispiele wie Robert Grosseteste noch ausschließlich auf den als Tempel gedeuteten Leib Mariens,19 ist dieses allegorische Gebäude in späteren Texten nur noch eines von vielen – selbst in der vielfach überlieferten Somme le Roi des Laurent d’Orléans20 ist die Vorstellung der Seele als ein Gebäude gängige Münze. Die Vorstellung der geschlossenen Architektur dient nun als Ausgangspunkt weiterer Architekturallegoresen, welche seit dem späten 13. Jahrhundert in fast unüberschaubarer Menge zu finden sind.21 Eingefügt erscheinen diese Texte vor allem in heute oftmals skurril anmutenden Sammelbänden, in denen offenbar die zuständigen Seelsorger der Adligen ohne Rücksicht auf  16 Einen Zusammenhang zeigte ich bereits im engeren Kontext französischer Buchmalerei des 14. Jahrhunderts auf (Logemann 2009), jedoch erweist sich dieser Gedanke auch für viele weitere Beispiele als tragfähig; zur Erbauungsliteratur vgl. Börsch-Supan 1967; Bauer 1973; Ohly 1977; Brinkmann 1980; Ohly 1986; Cowling 1998, Whitehead 2003; Ehrstine 2012.  17 Didi-Huberman 1995, 70, analog zur Bedeutung der Bildarchitekturen bei Fra Angelico; vgl. auch Feltes 1987, der sehr konsequent die Verkündigungsikonographie mit exegetischen Texten in Bezug setzt.  18 Architektur-Metaphern für die Gottesmutter lassen sich schon im ausgehenden 13. Jahrhundert in zahllosen volkssprachlichen Quellen finden. Dazu Cornelius 1930, bes. 82–83. Zur Geschichte dieser Metapher ebd. 37–48.  19 Murray 1918; Cornelius 1930; Petry 1957, 173; Whitehead 2003, 90–100.  20 Vgl. Somme le roi, Brayer/Leurquin-Labie 2008.  21 Die gängige Einleitung vieler Texte durch Intravit Jesus in quoddam castellum, quod Christus in singularis virginis venit uterum wird auf Hrabanus Maurus im 9. Jahrhundert zurückgeführt, vgl. Cornelius 1930, 37; Ohly 1986, Sp. 971–976; Cowling 1998, 57.

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literarische Schönheit ihren didaktischen Ambitionen freien Lauf gelassen haben, zudem in Manuskripten, die so unscheinbar wirken, dass sie bis heute kaum Erwähnung gefunden haben. Dabei handelt es sich beispielsweise um Stundenbücher ohne Illustrationen, die neben Speiseplänen für das Kirchenjahr verschiedene Meditationstexte und kleinere Lyriktexte folgen lassen, um literarische Schriften, die durch Andachtstexte ergänzt wurden, und vor allem um wiederkehrende didaktische Traktate, die dann um weitere unbekanntere Texte ergänzt wurden.22 Die Projektion der Seele in eine architektonische Ordnung ist dabei ein stetig wiederkehrendes Motiv, doch wird es je in einen flexiblen Bausatz eingepasst. Dabei lassen sich starke Gemeinsamkeiten bei französischer, niederländischer und englischer Tradition erkennen.23 Am Anfang vieler Texte steht die Vorstellung des Leibes als Gefäß – die Interpretation von Maria als Haus oder Tempel des Gottessohnes, die im Moment der Verkündigung zur zentralen Metapher wird, gerät damit zum Dreh- und Angelpunkt vieler Texte.24 Die bekannte Wendung Intravit Jesus in quoddam castellum ist zugleich Auftakt und Anlass vieler größerer Texte und Deutungen, in denen die bekannten biblischen Gebäudemetaphern miteinander kombiniert und an zeitgenössische Raumerwartungen adaptiert werden. Die Inkarnation Christi im Leib Mariens spiegelt nicht nur das Übertreten der Schwelle zum Himmelsreich, sondern gleichzeitig das Einkehren des Gläubigen in das Schloss oder Haus seines Herzens. Damit ergibt sich auch eine weitere Bedeutung des intravit: Die Fleischwerdung des Erlösers ist zugleich der Beginn der Christusvita und steht parallel zum Eintreten des Rezipienten in den Erzählzyklus der Lebensgeschichte. Der Verkündigung, die längst eine exponierte Position in Bildern und Texten einnimmt, kommt in den literarischen Bauplänen der Andacht eine besondere Funktion zu.25 Die geschlossene Architektur, die hier als allegorische Einheit und reale Behausung dienen kann, erhält in moralischen Traktaten und auch in literarischen Texten eine  22 Kumler 2011; Chesney 1951.  23 Vgl. jüngst Gillespie 2012 für England, wo viele Übersetzungen ursprünglich französischer und flämischer Texte entstehen. Synthetisierende Studien, die die Text- und Bildtraditionen und die auffälligen Parallelen zwischen den verschiedenen Regionen Europas zusammenstellen, scheinen ein großes Desiderat zu sein.  24 Eine weitergehende Auslegung dieser Bibelstelle findet sich bei Radulphus Ardens (ca. 1100); vgl. Cornelius 1930, 42–43: […] Mystice vero castellum in quo Dominus intravit, uterus est beatae Virginis. Quod bene congruit ei et nomine et significatione. Nomine, quoniam castellum sive castrum dicitur a castrando, eo quod propter vigilias et laborem armorum omnis libido eliminetur a castro. Ab utero quoque beatae Virginis omnis libido propter labores et honestas exercitationes exclusa fuit. Significatione, quoniam castellum dicitur quod est muris et propugnaculis circumvallatum, custodibus munitum, necessariis repletum. Castrum quoque beatae Virginis fuit propugnaculis vallatum, ut abstinentia contra ingluviem, castitate contra luxuriam, munificentia contra avaritiam, patientia contra iram, humilitate contra superbiam.Weitere wichtige Bezugspunkte in der lateinischen Literatur nennt Cowling 1998, 58, mit Anselmus und dem bereits angeführten Text des Bernhard von Clairvaux: Tractatus de interiori domo seu de Conscientia (PL 184), hier Sp. 1074.  25 Dazu Liebrich 1997, 72, die diesen Umstand auf die metaphorische Deutung Mariens als Porta Coeli zurückführt.

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aktivere und wesentlich umfassendere Aufgabe: Die starren Kompositionen, die etwa die lateinischen Autoren einige Jahrzehnte früher noch verfassten, wurden aufgelöst und flexibler gestaltet. Der als Bauwerk interpretierte Leib Mariens diente hier nunmehr als Beginn umfassenderer Texte. Exemplarisch sei nur auf die Dedication de l’ame verwiesen, ein heute kaum bekannter, aber prototypischer Text, der vermutlich schon im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts Verbreitung fand. Hier figuriert die Seele als Braut in Rekurs auf die jungfräuliche Maria, die den Auftakt zu einem langen Kontemplationsmodell bildet: Ein Engel geleitet in der dazugehörigen Miniatur die Seele an einen Altar (Abb. 7). Ganz explizit spielen Bilder und Farben in diesem Text eine Rolle. Der Kontext dieser Schrift zeigt, dass man sich dem Bereich der kostbar illuminierten Bücher des Adels nähert, die Anleitung zu Gebet und tugendhafter Lebensführung versprechen. Hier handelt es sich um eine aufwendig illustrierte und mehrfach kopierte Sammelhandschrift des 14. Jahrhunderts, die unter dem Titel Légiloque inventarisiert wurde. Die Texte und Illustrationen haben sich in identischer Abfolge in drei Handschriften erhalten und die einzelnen Traktate lassen sich in modifizierter Form noch in anderen Manuskripten finden.26 Die Weihe der Seele, also die Dedication de l’ame, vollzieht sich in mehreren Schritten: Zunächst erfolgt eine Sanierung und eine gründliche Reinigung des beschriebenen Gebäudes von Stroh und Staub kraft der Tugenden, und schließlich muss die Seelenkapelle in einem zweiten Schritt geschmückt werden. Dabei entsprechen charite und amour den Malereien jener Kapelle, die in feinsten Farben bemalt wird. Die Bilder kommen dabei nur durch eine intensive Liebe zustande, ganz so, wie Bilder eines geliebten Menschen in der ymagination produziert werden. Dieser Prozess der Ausschmückung soll durch Malen der Heiligenleben begonnen werden, aus denen sich das Fundament des Bauwerks zusammensetzt, und durch die Schilderung der Ankunft Christi auf Erden komplettiert werden.27 Zahlreiche Begebenheiten aus der Christusvita werden aufgelistet, mit denen die Kapelle der Seele ausgeschmückt werden soll. Wenn Ihr nun wollt, dass die Kapelle  26 Der Legiloque bezeichnet lediglich den ersten von insgesamt 18 moralischen Traktaten und Gedichten. Zu den drei erhaltenen Handschriften, BNF, Ms. fr. 1136 und Ms. n. a. fr. 4338; Chantilly, Musée Condé, Ms. fr. 1267, existieren keine eingehenden Untersuchungen. BNF, Ms. fr. 1136, ist bisher gar nicht weiter erwähnt worden. Die Miniaturen jener Handschrift werden auf ca. 1335 datiert und befanden sich wohl im Besitz eines normannischen Buchhändlers, Mathieu le Vavasseur, wie zuletzt Marie-Therèse Gousset, BNF, bestätigte. Ms. n. a. fr. 4338 wird stilistisch mit der Vie de saint Louis (BNF, Ms. fr. 5716) in Verbindung gebracht. Vgl. zu Ms. fr. 1136 auch Gousset 1999, hier bes. 178–180. Zu den Handschriften insgesamt und den hier zitierten Übersetzungen vgl. Logemann 2009, 157–165 mit weiterführender Literatur, eine Auseinandersetzung mit der Handschriftengruppe ebenso bei Kumler 2011.  27 Zur Transkription des vollständigen Textes vgl. Logemann 2009, 405–415. Hier vgl. BNF, Ms. fr. 1136, fol. 138v: Car charite et amour est la painturire par qui la chapelle de lame est de tres fine couleur (par qui la chapele de lame est de tres fine couleur) tres gracieusement painte et hystoriee. Et ce povez veoir et entendre par tele reson. Vous veez que quant aucune personne met especiaument sa bonne amour en une autre personne a peine puet il estre sanz i penser. Et quant il pense soigneusement en cele personne ou il a mis sa bonne amour especiaument il paint et pourtrait cele personne et ses faiz. et ses diz et ses manieres. en son cuer par ymaginacion de li ne ne sen puet lasser ne ennuier. Et tout ce li fait faire la ferveur de lespecial amour que il a a cele personne.

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Eurer Seele anmutig ausgemalt und mit Szenen aus dem sehr anmutigen und glorreichen Leben Christi geschmückt wird, dem sie ganz zugeeignet, gesegnet und gewidmet ist, verfolgt sorgfältig, dass die Kammer Eures Herzens beständig von der Glut seiner sehr sanften Liebe geheizt ist, und diese Liebe ist der Maler. Der mit dem Pinsel der heiligen Meditation und demütiger Kontemplation die Geschichte Seiner Ankunft auf Erden und Seiner gesegneten Inkarnation in der Kapelle Eurer Seele […] darstellt [pourtrera] und beschreibt [descriva]. […] So seht Ihr es auf den Wänden der Kapelle Eurer Seele gemalt und dargestellt.28 Es folgt eine Beschreibung einzelner Bildszenen und am Schluss nochmals ein Abschnitt über die Farben und den Maler dieser Kapelle: Und sein wundersamer Aufstieg und diese inbrünstige Liebe, die der Maler dieser Kapelle ist, überfangen diese Malereien. Und diese Darstellungen [sind] von Farben so erfreulich und erquickend und so anziehend, dass es dem Herz, wo Liebe und Sanftmut sind, nicht überdrüssig wird, sie zu betrachten und zu studieren.29 Aber auch negative Gefühle können das Herz und das Gewissen mit Malereien ausstatten. Doch sündhafte Gedanken erzeugen nicht nur beschämende, sondern auch hässliche optische Resultate: Und weil die Synagoge ihres Gewissens voll von Rauch ist, der ihnen in die Augen des Verstehens beißt, wissen sie nicht, wohin sie gehen und was sie tun30. Metaphorische Seelenwanderungen dieser Art ermöglichen eine kognitive Begehung und Benutzung dieser meditativen Architekturen. Die Provenienz dieses Werkes ist nicht zu benennen, und auch für viele ähnlich geartete „Seelengebäude“ lassen sich weder ein Autor noch eine lateinische Vorlage belegen. Dabei existieren auch noch andere Varianten, die die hier vorgestellte architektonische Metaphorik verwenden: Zu denken wäre an Durand de Champagnes Speculum Dominarum, später übersetzt in den erfolgreichen Miroir des Dames für Jeanne de Navarre oder Jehan Saulniers Nouvelles de Sens für Catherine d’Alençon oder die Maison de Sapience vom Beginn des 15. Jahrhunderts – neben vielen anonymen Seelenspiegeln, die die Metaphorik des Gebäudes in der Seele des Kontemplierenden betonen.31 Die Sainte Abbaie, ein nahezu populärer und vielfach übersetzter Text, zeigt in einem illustrierten Exemplar, das um 1300 entstand, welche Elemente dieser meditativen Architekturen in den Bildern eine Rolle spielen. Zwei Miniaturen veranschaulichen die Thematik des Traktates, der ursprünglich auch mit der Somme le  28 BNF, Ms. fr. 1136, fol. 138v–139r: Se vous voulez dont que la chapelle de votre ame soit painte et hystoriee gracieusement. de la tres gracieuse et glorieuse vie au tres beneoit ihesuchrist a qui ele doit estre dou tout apropriee et sacree et dediee pour chaciez soigneusement que la chambre de vostre cuer soit echaufee continuement de la ferveur de sa tres douce amour et ceste amour sera le paintre. Qui o le pinceau de sainte meditacion et de devote contemplacion pourtrera et descriva en la chapelle de vostre ame lystoire de sa venue en terre et de sa beneoite incarnacion. Et de tres sainte conversacion. Ainsi que verrez et trouverez es paroiz de la chapelle de vostre ame paint et pourtrait.  29 BNF, Ms. fr. 1136, fol. 139r: Et la merveilleuse ascension et ceste fervente amour que est le paintre de ceste chapele dait cestes paintures. et cestes pourtraitures de couleurs si plesanz si delitables et si atreanz que cuer ou il ait amour et douceur. ne se puet ennuier de les regarder ne de si estudier.  30 BNF, Ms. fr. 1136, fol. 140r: Et pour ce la synagoge de leur cuer et de leur conscience est toute plaine de fumee qui leur crieve les iex de lentendement si que il ne sevent ou il vont ne que il font.  31 Zu Durand de Champagne vgl. den Eintrag von Hasenohr 1992, 394.

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Roi des Frère Laurent und einem unbekannteren Text über Trois estaz de bonnes ameszusammengebunden war: Die erste Miniatur zum Text legt den allegorischen Status des Bauwerks offen: Die Mauern am unteren Bildrand entsprechen den festen, hohen Mauern des Textes. Diese werden aus den Steinen guter Taten und Almosen gebildet und vom guten Mörtel des rechten Glaubens zusammengehalten, wie der Text bestimmt (Abb. 8).32 Der Bildtypus dieses Titelblatts gemahnt – dem Textinhalt entsprechend – an die fest ummauerte Himmelsstadt, wie sie aus vielen anderen Zusammenhängen bekannt ist.33 Doch auffällig ist darüber hinaus die filigrane Darstellung der einzelnen Mauerteile: Das zentral auf der unteren Bildhälfte befindliche Tor scheint sich konkav zu verformen, die Rundung des architektonischen Details wurde durch die ringförmig verlaufenden Fugen kenntlich gemacht. Die steinerne Materialität, die in den Miniaturen erscheint, verweist offenbar auf die Festigkeit des Steines bzw. der ganzen Mauern, die im dazugehörigen Andachtstext als Sinnbild des festen Glaubens beschrieben werden. Das Gehäuse, die Architektonisierung der Seele bzw. des Gedächtnisses, wird hier in eine diagrammatische Struktur umgesetzt.34 In der zweiten Miniatur des Traktats bevölkern allegorische Figuren die Abtei und erfüllen dort zentrale Funktionen. In jeweils verschiedenen Teilen dieses Klosters agieren die Figuren, von deren Tätigkeit die Stabilität des ganzen Gebäudes abhängt. Dabei existieren unzählige Varianten solcher Texte: Es sind Baupläne der Andacht, die hier in Worte und seltener ins Bild gesetzt werden. Dabei handelt es sich um flexible Folgen von Schlafstätten, Treppen, Innenhöfen, Gärten, Speisesälen und Versammlungsräumen, die die Topologik dieser Texte strukturieren. So lassen sich etwa unter dem Titel Sainte Abbaie (als Abbey of the Holy Ghost erlangte der Text ab Ende des 14. Jahrhunderts noch größere Verbreitung) eine schier unüberschaubare Menge von Andachtstexten zusammenfassen. Die Texte sind variantenreich, oftmals Unikate, und vielleicht erschwerte dies bisher die Entstehung von umfassenden Texteditionen.35 Trotz ähnlicher Baupläne ist die Füllung der Architekturen unterschiedlich, gelegentlich werden, wie in einer heute in London aufbewahrten Handschrift, Royal 16 E XII, Blumen als Dekoration genannt, die dann wiederum in speziellen Meditationen aufgelistet werden.36 Besonders wichtig ist jeweils die Reinigung von sündhaftem Unrat, und auch ein Festmahl im imaginierten Refektorium darf nicht fehlen: Serviert wird das weiße Brot reinen Gewissens, das gesalzene Fleisch des

 32 BL, Add.39843, fol. 2v.  33 Vgl. BL, Add.39843, fol. 2v. Ein Beispiel nennt Långfors 1912, hier 221: Uns libres est escript, or oez qu’il y a,/ Que bien vous doint a tous ly Dieus qui vous cria./ Il dit que Sapience un temple edifia/ Et de sept grans pilliers par dedens l’apoya […].  34 Kumler 2011, 184f. verweist hier auf die metaphorische Struktur der Architekturrahmung, die bisher als intermediales Problem gedeutet wurde.  35 dazu u. a. Hall 1999; Consacro 1971; Kumler 2011, 161–237.  36 BL, Royal 16 E XII, 37v: De ceste viole te vueil ie que vous faciez .i. biau chapel en vostre cuer car se vous avez en nostre cuer la violete dumilite vous serez tout humble en cuer et en cors. ausi comme vous avez veu aucune foiz ceus qui avoient le cuer malade que le cors sen douloit tout et tous ses membres.

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Abb. 7: Die Seele wird an einen Altar geführt, Légiloque, Paris, BNF, Ms. n. a. fr. 4338, fol.190v.

Abb. 8: Eingangsminiatur zur Sainte Abbaie, um 1300, London, British Library, Add. 39843, fol. 1v.

Heiligen Vincent, und vieles mehr.37 Topoi wie jene der reinen und kostbaren Speisen werden auch in anderen Traktaten aufgenommen.38 Neben diesen großen architektonischen Einheiten existieren auch Meditationen über die Schlafstatt als besonders geschützter Rückzugsraum der Betenden, der mit dem Körper als Gefäß in Parallele gesetzt wird. Jacques Bryants Chemin de Povreté et de Richesse kombiniert etwa das Schloss der Arbeit als übergreifende Form mit einer Betonung der Bettstatt als Rückzugsort für die vorbildliche Ehefrau.39 Im Mesnagier de Paris wird  37 BL, Royal 16 E XII, fol. 151v: Le pain blanc de pure conscience. la char salee saint vincent. la char betee saint estienne. la char fresche saint jehan levangeliste frite en luile. la char rostie saint lorens . le chief saint jehan en .i. platel. les mamels sainte agace. et ausi des autres sainz.  38 In der Sainte Abbaie, BL, Add. 39843, heißt es etwa auf fol. 3v: Devocion sera celeriere qui gardera les bons vins et blans et verniaus. rosez et ferrez. Li vin blanc sunt la remembrance de dieu et de la ioie de paradis. Li vermaus et li rosez de la passion et de la mort ihesucrist et des martyrs. Li ferrez des tormenz denfer qui chirent sanz fin. Penitance sera cuisiniere et mout se travaillera. car ele puet assez de paine soufrir pour faire a dieu gre et satisfacion. Ele fera les bones viandes et pou en mengera. Atemprance sera refroituriere. et abstinence li aidera. et serviront le couvent si amesureement quil ni aura ne trop beu ne trop mengie.So auch in einem in dieser Tradition zwei Jahrhunderte später entstandenen Text von Gabrielle de Bourbon, Bibl. Mazarine, Ms. 978, fol. 037 mit einer Miniatur vom Refektorium des SeelenschlossesCy est la divise du corps de la salle et des bonnes viandes de quoy furent repeuez les bonnes ames.  39 Burger 2012 ebenso Hamburger 1998, 383–426. Pantin 1976. Zahlreiche Illustrierte Handschriften von Jacques Bryants Text, der später auch gedruckt und ins Englische übersetzt wurde, Burger ebd.,247, nennt Ms. Widener I, New York, Morgan Library, Ms. M. 396.

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Abb. 9: Seelenaufstieg, 1480/85, niederländische Ergänzungen eines französischen Stundenbuches von ca. 1460/70, London, British Library, Codex Egerton 2045.

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Abb. 10: Verkündigung mit Besitzerportraits, Beaufort-Stundenbuch, um 1400, British Library, Royal MS 2 A XVIII, fol. 23v, 216 mm x 153 mm.

gegen Ende des 14. Jahrhunderts dieses Gedicht inkorporiert und auf diesem Weg weiter verbreitet.40 Die Deutung des Bettes als kontemplativer Rückzugsort und zugleich auch als Metapher für die Seele, die als Gebäude gedacht wird, begegnet auch jenseits umfangreicher Architekturallegoresen als prominente Vorstellung und darf für den Laien als bekannt vorausgesetzt werden.41 Diese und ähnlich geartete Texte dürfen nicht als rein literarische Ausschmückungen abgetan werden. Sie prägen das Sehen und die Meditationspraktiken in nicht unerheblichem Maße – die in den Traktaten perpetuierten Metaphern betonen den Zusammenhang von Architektur, Malerei und Farbe für die Andacht. Dieses Wissen, die damit einhergehende vorgeprägte Erwartungshaltung gegenüber Bildern, unter dem Begriff devotional literacy zusammengefasst, war allgemein verfügbar, sowohl in volkssprachlicher als auch in lateinischer Überlieferung. Doch erst mit der Beachtung dieses durch Schriftquellen rekonstruierbaren Erfahrungshorizonts eröffnen sich auch uns neue Perspektiven auf die spätmittelalterlichen Bildzeugnisse.42 Die Leseempfehlungen, die etwa Jean Gerson oder Philippe  40 Burger ebd., 253.  41 Zur Vorstellung des Betts als Abbildung des inneren Menschen vgl. Ganz 2006, 113–144, hier 118.  42 Zu diesem Begriff vgl. u. a. Aston 1984, 101–133.

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de Mézières an gebildete Laien ausgaben, müssen als zentrales Denkmuster für die Betrachtung von Bildern mitgedacht werden.43 Stellte David Cowling zwar fest, dass die komplexen Andachtsarchitekturen, die sich in den zahlreichen volkssprachlichen Traktaten manifestieren, nur in Einzelfällen illustriert wurden, übersieht er dabei, dass die Malereien und Texte auf andere Weise in Bezug gesetzt werden müssen.44 Es scheint vielmehr, als hätte insbesondere die Buchmalerei schon viel früher die Ordnungsfunktion der Architektur samt ihrem metaphorischen Potential entdeckt. Gleichwohl nur wenige der Traktate mit Illustrationen ausgestattet sind, scheinen die neuen Rahmen, die sich in der Buchmalerei des 14. Jahrhunderts entwickelten, genau jene Parameter zu visualisieren, die in den beschriebenen Andachtskapellen und Seelengebäuden betont werden. Dass nämlich das Benutzen der kostbaren Stundenbücher und ähnlicher Schriften eine besondere Herausforderung an das Auge des Betrachters stellte, machen zahlreiche Quellen deutlich. Die spirituelle Seelenwanderung wurde von den gebildeten Adligen zur Genüge eingeübt, und unzählige Texte thematisieren den Dialog zwischen Körper und der zu reinigenden Seele, welche schließlich als Avatar des Betenden in die geistigen Gebäude entsendet wird. Dieser Prozess diente als Ersatz für den Eintritt in ein Kloster und auch als Ersatz für physische Pilgerschaft.45 Die Seele wird in diesen Texten als Projektionsfigur verwendet, um die fiktiven Architekturen zu begehen. Dass solche Seelenwanderungen auch den adligen Laien bekannt waren, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. Einige der bekanntesten Stundenbücher des französischen Spätmittelalters enthalten Texte mit solchen kontemplativen Seelenaufstiegen.46 Jean Gerson war schließlich mit seinen Schriften einer der Multiplikatoren der hier gehandelten Metaphorik und aus den erhaltenen Inventaren reicher Adliger lässt sich ablesen, welchen Stellenwert vergleichbare Seelenspiegel, Tugendlehren u. ä. hatten. So prominent scheint diese Vorstellung, dass noch im folgenden Jahrhundert in den späteren niederländischen Ergänzungen eines französischen Stundenbuchs 1460/70 die entkleidete und geflügelte Seele vorbildhaft drei Treppenstufen emporsteigt – vermutlich als Verweis auf die zahlreichen imaginierten Seelenaufstiege, von denen etwa in der Sainte Abbaie oder im Chastel Périlleux die Rede ist (Abb. 9).47

 43 Booton 2010, 193–211. Booton erwähnt dazu noch Geoffroy de La Tour Landry und Christine de Pizan. Randall 1996 verweist insbesondere auf die Rolle von Jean Gerson bei der Reflexion des Meditationsvorganges.  44 Cowling 1998, 7: „This relative lack of interest in the new decorative and aesthetic potential of architecture is reflected also in the paucity of illustrations of rhétoriqueur buildings.“  45 So etwa BL, Royal 16 E XII, 132v: Mout de gent voudroient entrer en religion et ne pueent ou pour pourete ou pour ce que il sont retenu par reson ( ?) de mariage ou pour aucune reson. pour ce si fais ( ?) .j. livre que cil ou celes qui ne pueent entrer en religion temporele soient en religion espirituele.  46 So beispielsweise die Petites Heures des Duc de Berry, BNF, Ms. lat. 18014, dazu auch Heck 1995; Logemann 2009, 180–185.  47 BL, Codex Egerton 2045, die Ergänzungen werden auf 1480/85 datiert, vgl. u. a. Backhouse 1985, 26–27. Eine gute Übersicht zu Seelenaufstiegen in der mittelalterlichen Literatur und Ikonographie bietet hier Heck 1997; Heck 2006.

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Das Aufrufen einer Architekturmetapher soll dabei wohlmöglich in erster Linie die Rezeptionsleistung des Betrachters herausfordern, denn Architektur im Bild verlangt das Erkennen vielschichtiger Bezüge in einem geschlossenen System, das zugleich mnemotechnische Stütze ist. Die unterschiedlichen Orte, die architektonisch im Fitzwarin Psalter genannt werden, entpuppen sich unter diesem Aspekt als visuelle Adaptionen der kursierenden Erbauungsliteratur: Die variierenden gemalten Architekturbühnen scheinen die unterschiedlichen Gebäudeteile zu reflektieren, die in den meditativen Architekturen immer wieder erwähnt wurden. In der zeitgenössischen Wahrnehmung setzten solche Bilder mit raffinierten illusionistischen Effekten damit nicht nur die neuesten künstlerischen Innovationen in höchstem Maße um, sondern eigneten sich auch hervorragend zur Meditation und theologischen Reflexion. Oder, um es zu konkretisieren: Überhaupt erst die neuen künstlerischen Errungenschaften ermöglichten, in diese Prunkstücke der Buchmalerei eine Reihe von visuellen Meditations-Elementen einzubauen. Dies führt zum zweiten, eigentlichen Kern meiner Hypothese: Die künstlerischen Neuerungen des 14. und 15. Jahrhunderts zwischen den Niederlanden, Frankreich und Italien – Perspektive, Plastizität, detaillierte Naturnachahmung, Interesse an optischen Phänomenen – scheinen insgesamt in hohem Maße durch Meditationspraktiken mitbedingt und motiviert. Eine These, die selbstverständlich auch schon andere vertreten haben, denn bereits 1882 wollte Henry Thode den Beginn der italienischen Renaissance bei Franz von Assisi und seiner neuen Religiosität sehen.48 Eine so weit greifende These auch, dass hier kaum anderes angeführt werden kann, als einige Textpassagen im Vergleich zu Bildelementen, die aber doch weitere Indizien für diese Neubewertung von Renaissance-Kunst und der Frage nach dem Raum im Bild erkennen lassen. Denn viele der aufwendigen Rahmungen, die in den Stundenbüchern des Spätmittelalters und noch der Renaissance zu finden sind, erscheinen nicht nur als technische Spielereien, sondern reflektieren den Ort des Gebetes in doppelter Weise. Ein im Beaufort-Stundenbuch eingebundenes Blatt demonstriert, wie Besitzer und Besitzerin des vormaligen Psalters oder Stundenbuchs an den Rand des Heilsgeschehens gesetzt werden: Beide flankieren sie, je vor einem Buch kniend, die Verkündigung an Maria, die sich auf der „Bühne“ vor ihnen ereignet (Abb. 10) – ähnliche Konzeptionen finden sich insbesondere in der flämischen Buchmalerei der Zeit immer häufiger.49 Zu den spirituellen Topographien gesellt sich ein weiteres Element des Bildgebrauchs: Die architektonischen Rahmen in den Buchmalereien des 14. Jahrhunderts spiegeln immer unmittelbarer die tatsächliche Situation des Kontemplierenden.50 Dabei spielen architektonisch determinierte Erfahrungsräume wie etwa das Schloss oder das Kloster eine wichtige Rolle: Die Lektüre und  48 Thode 1885. Vgl. zur Weiterführung dieser Thesen Büttner 2013.  49 BL, Royal MS 2 A XVIII. Vgl. Smeyers 1999, 188f. mit Zuweisung an Herman Scheerre und datiert kurz nach 1400, zur komplexen Überlieferungsgeschichte des Blatts und der Handschrift, die diese auffälligen Architekturbühnen ebenfalls aufnimmt, vgl. den Katalogeintrag der British Library unter http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp?MSID=6543&CollID=16&NStart=20118 (aufgerufen 8. 3. 2013).  50 Zu Stifterporträts im Kontext von Andachtsbildern vgl. Ringbom 1969; Morgan 2002.

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Verinnerlichung der Seelenkastelle und Seelenklöster dienten der Sublimation real-physischer Erfahrung. Der Eintritt in den Text wurde als Eintritt in ein geistiges Kloster vermittelt.51 Analog dazu liefern die architektonischen Schaubühnen der Heilsgeschichte das notwendige Ordnungsraster zur Konstruktion der meditativen Baupläne, wie sie im Fitzwarin-Psalter vorgeführt werden.

Die Topologik des Buches Anweisungen zur korrekten Durchführung der Andacht existierten in fast unüberschaubarer Form, und manche Handschriften präzisierten gar, welche Bilder zur Messe imaginiert bzw. realiter angeschaut werden sollten.52 Als wiederkehrendes Motiv finden sich Verweise auf das, was mit den inneren Augen der Kontemplation gesehen werden sollte. Dass die Interpretation des Buchkörpers als spirituelle Topographie dabei auch parallel zu sehen ist mit anderen Verbindungen von Meditationstexten und Andachtsbüchern, zeigt sich auch an anderen Beispielen. Genauso wie die Sainte Abbaie auf dem steinernen Grau der Mauern und der Festigkeit des geistigen Mörtels insistiert und wie im Légiloque die Farben auf den Wandfeldern der imaginierten Kapelle hervorgehoben werden, verbindet sich auch in anderen Fällen der prachtvoll ausgestattete Codex mit der Gebetspraktik. In einer Sammelhandschrift wohl aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts sind die Lamentations de Saint Bernart dem Konglomerat von verschiedensten Andachtstexten vorangestellt. Eine zwei Drittel der ersten Seite einnehmende Miniatur zeigt den hl. Bernhard, wie er am Fuße der Kreuzigung kniet (Abb. 11). Der dazugehörige Text zielt vor allem auf die Verbindung von ästhetischen Komponenten und Zielen der Andacht: Die Farben der Buchmalerei werden mit den Farben der Passion Christi verschmolzen. Das Pergament dieses Buches ist das reine Fleisch des Heiligen, der geboren wurde und starb ohne Sünde. Die Blätter dieses Buches sind die Torturen, die er sanft und liebevoll für unsere Sünden erlitten hat. Genauso, wie wir alle diese Seiten eines Buches umblättern, wenden wir unser ganzes Leben unserem wahren Freund Jesuschristus zu. […] Die Buchstaben dieses sind die sanften und liebevollen Worte die er am Kreuz sagte […]. Dieses Buch wurde mit Azur und Purpur illuminiert. Das Azurblau wird schließlich mit seinem bläulich schimmernden Fleisch nach seinem Tod verglichen. Das Rot ist dann das kostbare Blut Christi.53 Ähnlich geartete Anwei 51 Smith 2003, 122: „The idea of the castle as the centre of human experience and the site of humanity’s moral and religious development has a long tradition in medieval thought.“ Whitehead 2003, 111, führt diesen Passus weiter aus, indem sie auf die theatralische Dimension der castle-Metapher verweist. Des Weiteren Carruthers 2000. Zu diesen Topoi vgl. Chesney 1951, 13 und Zink 1976, 149.  52 Kumler 2011, 143, zu Ms. fr. 13342 und dem enthaltenen Traité sur la Messe. Hinweise zum Umgang mit Bildern während der Messe werden auch im Mesnagier de Paris bereitgehalten, dazu Logemann 2009, 223.  53 BNF, Ms. fr. 19271 und Ms.fr. 22921, hier fol. 1r : „Ci commencent les lamentations saint bernart. Li livres en quoy nous devons especialment lire sans nulle entrelaisse si est de la douce remembrance de la mort et de la passion ihesucrist. de quoy ce livre parle assez. Car vraiement li vrais amerres des ames

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sungen gibt es auch in anderen Andachtstexten, so wird beispielsweise auch im Chastel périlleux über die Farbgebung der Kreuzigung und ihre korrekte Farbgebung in der Malerei Auskunft gegeben.54 Genau diese Situation – der andächtig kniende Gläubige, der ein prachtvolles Bild gleich neben sich wähnt, wird häufig gewählt, um diese Andachtsleitfäden zu illustrieren. Eine Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts stellt einen männlichen Betenden, dessen Blick kontemplativ an einem prachtvollen Altarbild vorbeigeht, dar (Abb. 12): Zehn Dinge sind sehr nützlich für jene, die andächtig beten wollen.55 Visuelle Erfahrung und Andacht werden so miteinander verwoben, mehr noch: Diese neuen Darstellungsmöglichkeiten von Raum, Plastizität und Naturnachahmung tragen alle zur ‚Präsenz‘, zur meditativen und memorativen Intensivierung des Heilsgeschehens bei. So sehr, dass die gemalten Räume wieder zeichenhaft durchbrochen werden: die Erscheinung des Engels und die von ihm ausgesandten Goldstrahlen, das goldene Schriftband des Engelswortes holen im Stundenbuch nous ama ce fut le douz ihesucrist qui volt mourir pour nous. Et si est li livrez en trestout le monde li miendres en quoy nous aprendrons plus tost a amer nostresire cest li doulz crucifiemens ihesucrist. Li parchemins de ce livre est la pure char et la sainte (fol. 2v) qui nasqui et mouru sans pechie. Li fueillet de ce livre sont les tourmens que il doucement et amoureusement pour nous pechiez souffri. Aussi comme nous tournons touz les fueillez dun livre tournons et retournons toute la vie a nostre vraye ami ihesucrist. Ja ni trouverons se tourment non et douleur et angoisse. iusques a tant que la benoite ame li partie du corps. Les lettres de ce livre sont les douces et les amoureuses paroles et les humbles que il dist en la crois amont qui sont en levangile de sa mort. Ce livre fut enlumines dazur et de vermillon. li asurs qui est d’inde couleur signifie le precieux corps nostresire ihesucrist qui puet estre comparez a couleur ynde pource que il fut mortifiez par jeunes par vigiles par travaulz par lassete daler et de venir preschier et donner sante aus ames et aus corps des pecheurs. En telz travaux et par lassete daler et de venir mortifia tant li doulz amerres des ames son benoit corps que il convient que il changast sa belle et fresche couleur et la beaute tresgrant de sa benoite char a couleur ynde. Et pource disoit ysaies le prophet. Non est species ei neque decor. Cest adire Il navoit sur lui ne beaute ne couleur blanche. Ja soit ce que il fust li plus beaus quie onques de mere naquist. selon david qui dit deluy. Speciosus forma pre filiis hominum. Cest legier a savoir et a esprouver que il fust beaus selon lumanite pour la beneoite vierge notre dame sa mere qui fut la plus belle vierge qui onques fust selonc que nous trouvons de li ou livre qui a nom cantiques. Pulchra ut luna electa ut sol. Cest adire belle comme la lune. esleve comme le soleil entre les estoilles. et apres. Pulchra es et decora. Et tele la mere tel le filz. Celle beaute corporelle se toli pour notre amour et pour le salut de nos ames quant il mua sa char fresche et couloree en char ynde et descoloree. Cest li asurs de notre livre. Mes (3r) moult est li livres plus beaux quant lenlumineure est azur et de vermillon ensemble. Li vermillons fut li sancs precieux du precieux corps nostresire ihesucrist qui fut espanduz pour nous en la crois pour nous rachater du pechie notre premier pere qui estoit si vil et si despit et de si petit pris que il ne trouvoit qui le regardast. Si devons lire en ce livre en plourant et nous dementant que nous pourrions rendre a notre bon seigneur pour les grans bontes que il nous a faites dont nous devons dire aussi comme fist david par le saint esperit. […].  54 Brisson 1967 : La fu li Roys des angelz tout nuz despoilliez devant tant de peuple, couvert tant seulement d’un vil suaire entour les reins et dient aucuns que ce fu d’une piece du mantel sa douce mere dolente qui presente y estoit, qui en coppa une piece pour lui couvrir, et peut estre legierement creu. Dont ilz dient que em tous les lieux là ou le crucifiement est paint de main de bon maistre, le mantel Nostre Dame et le drap qui est entour les rains Nostre Seigneur, doivent estre d’une couleur. Vgl. die Untersuchung des Textes bei Brisson 1974.  55 BNF, Ms. fr. 190: Dix choses sont moult necessaires a celluy quy veult moult devotement orer.Die Handschrift ist betitelt mitSecret parlement de l’homme contemplativ avec son ame und beinhaltet mehrere Einzeltexte, u. a. eine Instruction pour entendre la messe.

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Abb. 11: Der Heilige Bernhard mit Kreuzigung, Lamentations de Saint Bernart, vor 1400, Paris, BNF, Ms. fr. 19271 und Ms. fr. 22921, hier fol. 1r.

des Etienne Chevalier bei der zweiten Verkündigung von Jean Fouquet die Illusion wieder zurück (Abb. 2); mehr noch: der ganze Raum dreht sich in der Konstruktion des Malers um dieses IHS-Zeichen56. Neben den architektonischen Meditationen, die die Seele des Christen in spirituelle Bauwerke lenken soll, existieren Gebetspraktiken, die etwa die zeichenhafte Vermittlung der Andacht favorisieren. Zahlreiche Gebete über das IHS und die visuelle Vermittlung dieser Buchstaben als Andachtsformel durchbrechen die mimetische Vermittlung der Heilsgeschichte, doch das berührt weitere Diskussionsräume, die hier nicht ausgeführt werden können.57 Dass der exzeptionell gestaltete Fitzwarin-Psalter mit der hier skizzierten Architektur-Metaphorik in Verbindung gebracht werden kann, mag ein Blick auf die reiche und länderübergreifende Tradition dieser Texte bezeugen. Doch die grauen Mauern mit ihren Blicköffnungen und Zugängen bewirken mehr: Die Miniaturen führen den Betrachter und Benutzer der Handschrift in einen komplexen Medita 56 Reynaud 2006, 70.  57 Vgl. etwa Lutton 2011. Vgl. BNF, Ms. fr. 1175, fol. 1, das sog. Livre du sacrement de mariage.

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Abb. 12: Louis de Bruges im Gebet, Sammelhandschrift, 15. Jahrhundert, Paris, BNF, Ms. fr. 190, fol.103r.

tionsraum, der zugleich die physische Erlebbarkeit realer Räume präsent hält. Dass es insbesondere im angelsächsischen Bereich für die Passionsszenen einschlägige Texte gab wie etwa den Mirour de Seinte Eglise, ist bekannt.58 Ob die Bühnenarchitektur der Passionsszenen auf eine bestimmte Quelle zu beziehen ist oder eher in ein weiteres literarisches Umfeld eingeordnet werden muss, soll hier nicht entschieden werden. Auch über die Frage, ob die gemalten Architekturen möglicherweise den realen Erfahrungsraum der Besitzerin in irgendeiner Form spiegelten, kann nur spekuliert werden. Vorausgesetzt werden kann, dass dem gebildeten Laien diverse Architekturmediationen zugänglich gewesen sein müssen. Die Analogie zwischen physischem Erfahrungsraum und Andachtspraxis, der sich bereits Mary Carruthers59 widmete, erschließt sich aus den Inventaren vieler Fürstenbibliotheken und vor allem durch die Tatsache, dass eben dieser Bezug sowohl für die profane  58 Smith 2003, 58. Smith ebd.,124, verweist zudem auf die Tatsache, dass die meisten religiösen Theaterstücke sich in einem Schloss abspielten, wie sie mit dem Spielplan des Castle of Perseverance nach Washington, DC, The Folger Shakespeare Library, Ms. V. a. 34, fol. 191v vermerkt.  59 Carruthers 2000.

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Literatur als auch für die religiösen Texte sogar nach 1600 nochmals intensiviert wird.60 Für den Bildgebrauch und die Imaginationsleistungen des Betenden spielten eben nicht nur punktuelle Bezüge eine Rolle, wie immer wieder für Stifter-Porträts, das Schweißtuch der Veronika oder Darstellungen der Gregorsmesse betont wird.61 Die Verbindung von sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung und Kontemplation muss wesentlich übergreifender verstanden werden. Dass etwa durch die hier skizzierten Baupläne der Andacht die narrative grids der Heilsgeschichte vorgegeben werden, die zugleich mnemotechnisches Gerüst und narrative Topologik bilden, wird bei Lektüre der variantenreichen volkssprachlichen Traktate deutlich. Die immer komplexer gestalteten architektonischen Schaubühnen in den Buchmalereien nehmen schließlich nicht nur einzelne Symbolbezüge auf, sondern geraten vielmehr zum inhärenten Ordnungsmuster, wie zahllose Beispiele in der spätmittelalterlichen Buchmalerei offenbaren. Hier vermischt sich malerische Fertigkeit mit religiöser Didaxe. Es scheint also nicht nur so zu sein, dass die Entwicklung neuer bildlicher Darstellungsformen perspektivisch gemalter Architektur und mimetisch überzeugender Bildgegenstände eng mit meditativen Praktiken und Seh-Erwartungen verbunden war. Vielmehr kann gezeigt werden, dass diese Entwicklungen bei allen Unterschieden – die hier überhaupt nicht ausreichend zur Sprache kamen – sich doch in vieler Hinsicht vergleichbar in den Niederlanden, Frankreich, dem deutschsprachigen Gebiet und Italien nachweisen lassen. Offensichtlich wird, dass die neuen Versuche mit naturalistischer Darstellung zu einem intensiven Nachdenken über die jeweiligen Möglichkeiten von Bildern, Zeichen und Texten führten – und also auch das neue theoretische Bewusstsein für Bilder und für Kunst mitunter aus dem meditativen Bildgebrauch resultierte.

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Abbildungsnachweise Abb. 1, 9, 10: British Library. Abb. 2: Schaefer 1994. Abb. 3–7, 11,12: Bibliothèque Nationale de France. Abb. 8: Kumler 2011.

Johanna Scheel

Sich selbst sehen – der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15. Jahrhunderts* In the context of 15th century Burgundian personal piety, reflective strategies emerge in texts like prayers and the Penitential Psalms with their accompanying images that are meant to let the praying man “see” himself. Both texts and images stress the present affective status, posture and body of the praying man; they “mirror” him to make him aware of them and subsequently aware of his inner self. They lead him from a heightened consciousness of the outer man and his affective relation to God to a knowledge of the inner man and his affective relation to Him. This process can be described as the creation of an affective space that takes place in the relations between the outer man and his surroundings, but it becomes an inward space when the praying man comes to understand this building of relations as an inward process of self-reform that is leading him upwards. With the examples of the Penitential Psalms in Dutch books of hours, it can be shown how these reflective strategies work through the combination of text and illumination for the praying beholder in a certain context: The Penitential Psalms strongly demand penitent and affective self-reflection from the praying man, describing him kneeling humbly and tearfully in his prayer. Illuminations of the kneeling King David as a penitent or the Rising of the Dead with resurrected men praying below Christ the Judge accompany them. According to contemporary sources concerning techniques of prayer and meditation, they are meant to make the praying man who sees himself mirrored in these figures reflect upon himself, examine his conscience and experience contrition, and develop and practise the right emotions with the right intensity. If a donor portrait is added to the composition, it is not a random mirror-figure but the donor’s own painted face that becomes a catalyst for this process. If the praying man is then pictured in a Last Judgment scene, the event in which his life and deeds will be weighed, the function of this image for the praying beholder is very clearly defined – seeing himself judged, he is invited to think about his deeds and to judge them, to take on an appropriate degree of fear and hope, and to relate himself in this manner to the painted protagonists – Christ as judge, the saints, the damned, and the blessed. The depicting of his body leads him through his real body into his inner self; he reflects upon body and soul until he embodies what he is verbalizing in his prayer and what is shown to him in the picture. The donor portrait completes this strategy – reception becomes reflection. The picture becomes his mirror which redirects him to his own prayer and his own emotions; between his image and his self, the praying man is able to establish an affective space in which he – if he comes to understand it as taking place in himself – may reflect himself in his relation to God.

Sich selbst zu sehen war keine Ausnahmeerfahrung im Spätmittelalter – womit nicht nur der eigene Anblick im Spiegel gemeint ist, der in bürgerlichen und adligen Haushalten des 15. Jahrhunderts nicht selten vorhanden war. Man konnte sich    * Diese Studie präsentiert einige Aspekte meiner Dissertationsschrift Das altniederländische Stifterbild. Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis, Berlin 2013.

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ebenfalls in einem religiösen Zusammenhang sehen und betrachten, im Kontext persönlicher Frömmigkeitsausübung und des Gebets. Die burgundischen Niederlande des 15. Jahrhunderts definieren den Rahmen der folgenden Untersuchung, wenn gefragt wird, in welcher Form und aus welchem Grund man sich selbst in jenem Kontext des persönlichen Gebets sehen sollte: Gebetstexte und Bilder werden nach Strategien untersucht, die auf den Betenden rückverweisen und ihm so Hilfsmittel seiner affektiven und selbstreflexiven Meditation werden können. Ein Raum entsteht im Empfinden des Betrachters durch eine Relation zwischen ihm und einem oder mehreren Bezugspunkten – in jenen selbstreflexiven Strategien werden solche Bezüge hergestellt, übereinandergelegt und so um und im Betenden als deren Zentrum aufgespannt. Wie genau dies geschieht und welche Qualitäten dieser Raum hat, soll uns im Folgenden beschäftigen.

Reflexive Textstrategien Das wichtigste Hilfsmittel persönlicher Frömmigkeit1 im Spätmittelalter ist sicherlich das Stundenbuch, das zum Beginn des 15. Jahrhunderts außer den obligatorischen, aber in ihrer Abfolge nicht definierten Texten, wie u. a. den Marienstunden, den Bußpsalmen, der Litanei oder dem Totenoffizium, einen relativ variablen Textkanon enthält. Zusätzliche Gebete, Stundengebete, Psalme und andere Texte werden je nach Geschmack und Bedürfnis des Auftraggebers hinzugefügt; dies geschieht auch oftmals als Adaption nach einem Besitzerwechsel der Bücher. Das Stundenbuch ist demnach zugleich das am besten auf den Benutzer zugeschnittene, das personalisierteste Medium spätmittelalterlicher, persönlicher Andacht. Diese Personalisierung kann soweit reichen, dass Stundenbuchtexte an das Geschlecht des Lesers angepasst2 oder sogar dessen Name in Gebete eingefügt wird (O mater dei […] respice me, philipum peccatorem.3), sodass deren allgemeine und oft gebrauchte Worte zu den eigenen werden. Dies ist aber nur Teil einer Methode, die sich bestimmter reflexiver Strategien bedient, um den Betenden auf sich selbst zu verweisen, ihn sich selbst sehen zu lassen. Exemplarisch lassen sich diese Strategien anhand einer Gruppe von Brügger Gebeten vom Beginn des 15. Jahrhunderts aufzeigen. Sie operieren mit gezieltem Bezug auf die momentane Situation und Ver   1 Die Bezeichnung persönliche Frömmigkeit wurde in der Klassischen Archäologie geprägt, vgl. dazu den Sammelband Friese/Nielsen (Hg.) 2012, und ist daher – als Bezeichnung für die Ausübung religiöser Akte wie des meditativen Gebets – innerhalb eines kunsthistorischen Gebrauchs unbelasteter als der ebendort benutzte einer „privaten Andacht“.    2 So im Stundenbuch Walters, W 169, von 1420, wo sieben Gebete durch weibliche Endungen an den Worten auf einen weiblichen Benutzer angelegt sind. Randall 1997a, 106, Kat. Nr. 229. Dort weitere Beispiele: 146, Kat. Nr. 233, W 218, um 1440; 187f., Kat. Nr. 240, W 173, 1440 bis 1450; 318, Kat. Nr. 264, W 196, 1470, hier wird bei der Marienmesse zweimal direkter Bezug auf die Betende genommen: infelix peccatrix […], orare pro me peccatrice.   3 Oratio deuota, Ave maria uirgo, O mater dei sine peccato originali concepta est pietate oculo respice me, philipum peccatorem, […].Vgl. Randall 1997b, 496, Kat. Nr. 292, im Stundenbuch W 178, fol. 241v, von ca. 1500.

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fasstheit des Betenden: seinen sündigen status, aber auch seine Emotionen und deren Ausdruck sowie besonders auf seinen Körper und die Körperhaltung im Gebet. Dem Rezipienten wird gleichsam das sprachliche Bild eines Betenden angeboten, eine „verbale“ Wiederholung seiner Situation, die ihn diese und sich selbst reflektieren lässt.4 Diese volkssprachlichen Gebete sind, wie viele, in der ersten Person verfasst, sodass der Leser die Zeilen im Beten als seine eigenen Worte empfindet. In der Annahme, dass das Lesen jener nicht total memorierten Gebete5 laut stattfand,6 wird bereits mit Formulierungen wie dies ruf ich aus meines Herzens Grund 7 oder mein Mund soll Dein Lob verkünden8 das Wort mit dem Tun in Übereinstimmung gebracht. Ebenso trifft das auf Texte zu, in denen der Beter mit der Aussage, dass er niederknie und für seine Seele bitte, exakt den Akt beschreibt, den er gerade vollzieht. Gerade die Verbalisierung des Niederkniens und Händefaltens findet man häufig in mittelniederländischen Gebeten dieser Zeit, wenn beispielsweise die Gottesmutter laut auf den Knien und mit gesenktem Haupt um Beistand gebeten9 oder der Körper im Gebet beschrieben wird,10 meist als sündig und krank    4 So enthält ein Gebet an das Lamm Gottes aus einer Brügger Handschrift von 1415 bis 1420, wohl selbst in dieser Zeit entstanden, solche Elemente: Ich bin sündig und böser Taten schuldig, / Ja, voller Missetaten, das sei Dir kund; / Dies ruf ich aus meines Herzens Grund: / Sei mir gnädig, mein Herr, mein Gott, / Ich habe gebrochen Dein Gebot / Mit meinen Sünden gegen dich, / Ich bekenne, ich ergebe schuldig mich. / Vor Deinem Angesicht ich nieder knie / und bitte für meine arme Seele / Die ich, sündige Kreatur, / häufig beschmutzt habe / In meinem jungen Leben. Übers. JS Ic bem besondicht ende mesdadich, / Ja, vul mesdaden, dats di cont; / Dies roupic uut minre herten gront: / Ghenade mijns, mijn here, mijn god, / Ic hebbe te broken dijn gebod / Met menighe zonden jeghen di, / Ic kent, ic gheift besculdicht mi. / Vor dijn anschijn ic neder kniele / Ende biddu vor mijn aerme ziele / Die ic, besondichde creature, / Hebbe besmet te menigher ure / In mijn zondelic jonge leven. / […]. Brüssel, KBR, 19.588, fol 78, ed. bei Oosterman 1995, 25. Aufbauend auf dieser Publikation von Oosterman wurde mittlerweile eine Online-Datenbank zu mittelniederländischen Reimgebeten erstellt, die aber auch aus zusätzlichen Editionen und Handschriften schöpft: http://berijmdegebeden.wordpress.com/ (zuletzt geprüft 10/2015).    5 Zu jenen total memorierten Gebeten gehörten beispielsweise das Pater Noster oder Ave Maria, während derer gleichzeitig auch über bestimmte Aspekte z. B. der Passion meditiert werden konnte und sollte, vgl. Saenger 1989, 154. Auch während bestimmter Teile der Messe, wie der Eucharistiefeier, war es üblich, eigene Gebete zu beten. Zum Beispiel gibt es besondere Gebete während der Elevation der Hostie, vgl. Oosterman 1993, 240; Aston 1984, 101–133. Auch Geert Grote beschreibt seine Meditationen während der Messe und empfiehlt sie seinen Brüdern, Geert Grote 1940–1941, 130–132.    6 In der mittelalterlichen Theologie wird eine Debatte um das laute oder stille Lesen bzw. Beten geführt. Allgemein beschäftigen sich mit der Thematik Saenger 1989, in Bezug auf Lesepraktiken des Stundenbuchs, und Schnyder 2009; zum Spätmittelalter vgl. Oosterman 1993, 243f.    7 Vgl. Anm. 4.    8 Gruuthuse-Handschrift, Den Haag, KB, fol. 2v (vgl. Anm. 15).   9 Knielic vor di vp mine knien, / Nighende metten hoofde mijn; / Sla ouer mi den mantel dijn, […]. Ebd. fol. 84r (vgl. Anm. 15). Ein weiteres Beispiel wäre: Roert u mijn tonghe, buycht u mijn knien, […]. Oosterman 1995, 41.  10 Mit einer Stimme mit großem Makel, / in einem unwürdigen Leib, / von Sünden gequält bis zum Tod, / dich anrufend in inniger Not: / O erbarme dich meiner, Vater, erbarme dich meiner […]. Eenen voys van groter blame, / In eenen onwaerdichen lechame, / Ghequetst van zonden toter doot, / Roupende an di met innincher noot: / O ontfaerme mijns vader ontfaerme mijns […]. Gruuthuse-Handschrift, Den Haag, KB, fol. 4r (vgl. Anm. 15). Zwischen den einzelnen Strophen dieses Gebets wird jeweils das Pater Noster gebetet.

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geschildert (Sieh meinen von Sünden kranken Körper an.11 Oder: […] krank, verschlissen, korrumpiert […]12). Doch nicht nur die momentane Haltung, auch die Emotionen werden in dieser Weise in das Gebet und den Beter eingeschrieben: Ganz wie ein sehr würdeloser Wurm / beuge ich mein Angesicht zur Erde; / Ich bin nicht wert, dir meine Augen / ohne Tränen zu zeigen / Doch biete ich dir meine beiden Hände: / Hilf mir, mein Vater, dass von mir scheide / dieser Erden Erinnerung, und mach mich süß / dann opfere ich dir meiner Tränen Flut.13 Affektivität ist ein Merkmal vieler dieser Gebete, so liest man in einem weiteren Fall: Herr […] / ich will mich selbst zur Buße zwingen / dass die Tränen herausspringen / aus dem Herzen und äußeren Aug’, / auf dass ich mich dadurch bessern mag.14 Reflexive Strategien klingen bereits vor dem Spätmittelalter in Gebetstexten an, zum Beispiel begegnen sie auch in dem einleitenden Vers mancher Stundengebete: Öffne meine Lippen! – Labia mea aperies! Doch entsteht gerade zu Beginn des 15. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden jene blühende, genuine Gebets- und Gebetbuchkultur, die ihr Zentrum in Brügge hat, dem Kern der altniederländischen Buchproduktion, und die eine Vielzahl von Gebeten hervorbringt, in denen sich reflexive Strukturen dieser Art häufen:15 Der Betende erlebt dabei nicht nur, dass die geschriebenen Worte in seinem Gebet seine eigenen werden, sondern durch die Spiegelung seines emotionalen und körperlichen Zustands reflektiert er diesen im Gebet; er reflektiert sich erst körperlich und im weiteren Gebetsprozess innerlich. Dem mittelalterlichen leibseelischen Anthropologieverständnis folgend, das von einem Wechselverhältnis des homo interior und homo exterior ausgeht,16  11 Zie mijn lechame van sonden cranc. Ebd. fol. 4v.  12 […] Siec versleten ghecorumpeert […]. Ebd. fol. 4r.  13 Recht als een worm van groter onwerde / Boghe ic mijn anscijn toter erde / In bem niet wert dat ic mijn oghen / Di zoude sonder tranen toghen / Doch biedic di mijn handen beide / Help mi mijn vader dat van mi sceide / Dese arde memorie en mac mi zoet / So offere ic di der traenen vloet. Ebd. Fol. 2r.  14 Heere, […] / Ende mi selven te penitencien dwinghen, / Datter die tranen uut sullen springen / Uter herten ende huten oghen, / Dat icker mede beteren moge. Oosterman 1995, 175. Ebenso: Die tranen hebben grote macht / Sie vinden gode, sie bejaghen cracht. Ebd.  15 Oosterman 1993, 234. Die meisten der Gebete sind auf mittelniederländisch verfasst und Neuerfindungen, die wenigsten Übersetzungen aus dem Lateinischen. Johannes Oosterman hat aus der dort entstandenen, massiven Textfülle als Untersuchungsgegenstand eigenständige Gebete in Versform ausgesucht und ediert: Oosterman 1995. Die Produktion dieser Gebete beginnt um 1400, die südlichen Niederlande bleiben hier für das gesamte 15. Jahrhundert eindeutig die produktivste Region, ebd. 49f. Besonders Brügge ist führend, ebd. 81f. und 87f. Die hier zuletzt zitierten Gebete stammen aus der sogenannten Gruuthuse-Handschrift aus dem Besitz Lodewijks van Gruuthuse, einem Protagonisten am Hofe von Philippe le Bon. Die Handschrift ist eine Sammelhandschrift und besteht aus acht Teilen mit sieben Versgebeten, 147 Liedern und 16 Gedichten. Besonders die Gebete tauchen in verschiedenen Handschriften in der Folgezeit wieder auf, vgl. Oosterman 1992, passim, sowie Oosterman 1995, 88–93. Hier und im Folgenden wird zitiert aus der online verfügbaren Edition der KB, Den Haag (http://www.kb.nl/bladerboek/ gruuthuse/browse/book.html; zuletzt geprüft 10/2015); eine diplomatische und kritische Neu­ edition ist 2015, erschienen lag aber für diesen Beitrag noch nicht vor: Het Gruuthuse-handschrift. Hs. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 79 K 10, kritische editie bezorgd door Herman Brinkman met een uitgave van de melodieën door Ike de Loos (†), Hilversum 2015.  16 Der Diskurs um das Verhältnis des inneren und äußeren Menschen ist im Mittelalter einerseits in monastischen Kreisen präsent. Als Quellen werden dazu gerne Davids von Augsburg De Exterioris

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bewegt er sich von außen nach innen und erklimmt so die Leiter zur Gotteserkenntnis und zu einem tugendhaften Leben. Betreffend die Gebetstexte kann man hier mit Niklaus Largier von einer „Phänomenologie rhetorischer Effekte“ sprechen, also dass die eigenen Worte des Beters aus ihrer sinnlich-anschaulichen Erfahrbarkeit Erkenntnis und Affekt hervorgehen lassen sollen;17 die körperliche Erfahrung der eigenen Rezeption lässt den Betenden sich über diesen Prozess als dessen Ursprung reflektieren. Doch es geht darüber hinaus: Nicht nur durch das Sprechen der Worte, sondern durch seine verbale Beschreibung „seiner“ Affekte und „seines“ Körpers wird der Betende sich ihrer bewusst, bis sie real geworden und tatsächlich „sein“ sind – er beobachtet sich in diesem Angleichungsprozess, er bewegt sich damit im Erkenntnisprozess von seinem alten Selbst zu seinem neuen, aktualisierten; das ist die Aufstiegsbewegung auf dem Stufenweg der Erkenntnis. Vielleicht führt dies die „Versuchsanordnung“ im Traktat De Visione Dei von Nikolaus von Kues am Anschaulichsten vor Augen.18 Hier ist der selbstreflexive Prozess als eine Bewegung durch den Raum in das Vorgehen eingeschrieben: Nikolaus empfahl den Mönchen der Tegernseer Abtei ein Bild Christi an die Wand zuheften, ein Bild im frontalen Vera Icon-Typus, das so gemalt sei, dass dessen Augen den Betrachter verfolgten. Im betenden Umhergehen vor dem Bild und der staunenden, eigenen und gemeinschaftlichen Erfahrung des allsehenden Blickes entfaltet der Betende einen Affektraum, der sich vermeintlich zwischen ihm und dem Bild, aber eigentlich in ihm selbst aufspannt: In seiner Selbstbeobachtung erfährt er sein äußerliches Verhalten und Erfahren als eine Metapher des inneren. Indem er dies erkennt und vor allem fühlt, erkennt er sich selbst in seiner Relation zu Gott und vollzieht damit den Schritt auf eine höhere Stufe, die Basis für die folgende Selbstreflexion wird.19 Vor allem die Autoren der Devotio Moderna entwickeln diesen Aufstieg und jenen Reflexionsprozess des inneren anhand des äußeren Menschen, der aus monastischen Traditionen stammt, methodisch so weiter, dass er für ein Laienpublikum adaptierbar wird und als ein Charakteristikum der religiösen Kultur der burgundischen Niederlande dieser Zeit zu benennen ist. Sie betonen die reflexive et Interioris Hominis Compositione oder das Novizentraktat De Institutione Novitiorum Hugos von St. Viktor angeführt, dazu u. a. Lentes 1999, 29f., oder sehr ausführlich Schnell 2006, dort 87f. zur Forschungsdiskussion zum inneren und äußeren Menschen; Schnell 2008, 98. Diese Texte sind auch im Spätmittelalter noch präsent, vgl. dazu z. B. Mertens (Hg.) 1993, 318, zum Einfluss von De Comp. auf die Autoren der Devotio Moderna vgl. Smits 1927, passim; Mertens 1986, 284; Metz 2001, 51; Bohl 2000, 197–208. Sowohl Davids De Compositione als auch das Novizentraktat von Hugo gehörten zum Lektürekanon der Devotio Moderna, vgl. Kock 2002, 138f. Diese Lehren werden aber ebenso in höfischen bzw. laikalen Erziehungsschriften aufgegriffen. Z. B. zitieren sowohl die Ulmer Hofzucht als auch Vincent de Beauvais aus Hugo von St. Viktor, Schnell 2006, 93f.; auch Wenzel 1995, 162.  17 Largier 2009.  18 Diesen Vorschlag machte auch Niklaus Largier in seinem Vortrag „Die Kunst des Gebets: Emotion und Imagination“, gehalten am 23.10.2010 auf der Frankfurter Tagung „Gestaltete Gefühle. Strategie, Transformation und Rezeption von Emotionen im Mittelalter.“ Vgl. zu der experimentellen Erfahrung bei Cusanus u. a. Dupré 2011, 47.  19 Vgl. hierzu die ausführlichere Besprechung in Scheel 2013, 249–295.

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Selbstexamination nicht nur des Inneren, sondern auch des Äußeren, des Verhaltens, der Taten, des Status und des Körpers, um auf diesem Wege Erkenntnis über das Innere zu erlangen. Ja, gerade der Körper im Gebet wird einer Prüfung unterzogen.20 Als Grundlage des persönlichen Gebets wird der Gebetsvorgang, das Gebetsverhalten selbst zu seinem Objekt; der Betende wird im Gebet stets von neuem auf sich selbst zurückgeworfen, um sich neu zu erforschen und sich mit jener gerade erworbenen Erkenntnis wiederum zu reflektieren. Dieser Prozess der stets anders kontextualisierten und konnotierten Selbsterkenntnis soll idealerweise nicht nur punktuell im einzelnen Gebet vollzogen, sondern zu einem ständigen Habitus transformiert werden. Daher wird eine tägliche Selbstüberprüfung fest im Tagesablauf institutionalisiert.21 Im religiösen System der Devotio Moderna ist Selbsterkenntnis keine religiöse Universalie topischen Charakters, sondern sie wird zum Spezifikum spätmittelalterlicher, persönlicher Frömmigkeit.22 Sie ist Basis für den erstrebten Erkenntnisaufstieg im Gebet, dessen Ziel Gott ist, während sie zugleich proportional mit diesem Aufstieg zunimmt. Dieser Aufstieg selbst kann als Prozess der Selbsttransformation gesehen werden. Dabei entsteht die Dynamik der Selbsterkenntnis und -transformation auch aus Emotionen. Dies ist zuerst dem anthropologischen Konzept des Mittelalters geschuldet, das den Menschen einerseits positiv als Imago Dei versteht, die andererseits allerdings durch ihn mit Sünden verschmutzt wurde. Beides gilt es zu erkennen und ob des einen zu hoffen und ob des anderen sich zu fürchten. Gleichzeitig sind Emotionen Instrument und Objekt: Objekt, weil sie erforscht, kontrolliert, gereinigt und richtig ausgerichtet werden müssen – also auf Gott; Instrument, weil sie das Mittel der gefühlten und verinnerlichten Erkenntnis und somit der Transformation des Selbst sind – der Aufstieg wird in einem bestimmten Emotionsablauf erfüllt, der den Gläubigen durch u. a. Furcht und Verzweiflung über Hoffnung zur perfekten Liebe führt. Emotionen haben eine kognitive Funktion, sie sind Bedingung für den spirituellen Aufstieg und gehen Hand in Hand mit der Selbsterkenntnis: Sie werden durch Selbstüberprüfung erforscht und erregt und führen zu ihr zurück, da sie wiederum überprüft und neu geformt werden müssen – in ein erneutes Instrument der Überprüfung und ihr Objekt.  20 So in der Schrift De Spiritualibus Ascensionibus [De Spir. Asc.] von Gerard Zerbolt van Zutphen, einem der wichtigsten Autoren der Devotio Moderna: Mit dem Hinweis, dass äußerer und innerer Mensch aufeinander verweisen, solle sich der Betende nach seinem alltäglichen Verhalten fragen; betreffend nicht nur den Umgang mit Anderen und die alltäglichen Verrichtungen, sondern auch das Verhalten während der lectio, meditatio und oratio. Item examine te de lectione, meditacione, oracione, etc., quomodo in singulis huiusmodi te habeas veleas soleas ordinare. De Spir. Asc., Kap. 7, Z. 38–40. Diese Passage ist außergewöhnlich. Denn während die Frage nach dem äußeren Status bereits aus den üblichen monastischen Forderungen nach einer disciplina corporis entspringt, hat diese Aufforderung keine Vorlage. Überhaupt macht Gerard in diesem Teil seiner Schrift verblüffend wenig direkten Gebrauch von anderen Quellen, was Verbaal 2003, 11f. nachweisen konnte.  21 Bspw. bei Gerard in De Spir. Asc. Kap. 8, bei Radewijns im Tractatulus, Kap. 9, in den Statuten der Windesheimer Kongregation, vgl. van Dijk 1994, 452, bei Thomas von Kempens in De Imi­ tatione Christi, Buch I, Kap. 19 und bei Geert Grote, vgl. Weiler 1992, 232.  22 Dies und Folgendes wurde nachvollzogen bei Scheel 2012b, sowie Scheel 2012a.

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Der betende Zeitgenosse ist mit diesen Konzepten vertraut. Indem er Gebete wie die vorgestellten benutzt, werden die Worte zu einer Beschreibung und dann einem Ausdruck seines eigenen körperlichen und emotionalen Status; jener selbstreflexive, emotionale Aufstieg wird dadurch katalysiert.

Bußpsalme als Gebetstext im Spätmittelalter Dem Beter werden neben solchen textlichen auch immer mehr bildliche Hilfsmittel für das Gebet gegeben, welche dieselben reflexiven Strukturen aufweisen: Sie bedienen sich ähnlicher Strategien, die ihn von einem äußeren Exempel zur emotionsgeleiteten Reflexion seines Inneren führen. Während jedoch die Brügger Gebetstexte meist nicht illustriert sind, findet sich ein alter und umso interessanter Text mit einer ebenso althergebrachten Ikonografie innerhalb des Stundenbuchs. Sowohl Text als auch Bild unterliegen jedoch in den burgundischen Niederlanden einer starken Veränderung in Ausführung und Kontextualisierung, sodass sie hier zur spezifischeren Veranschaulichung des eben Vorgestellten dienen können. Es handelt sich bei dem Text um die biblischen Bußpsalmen,23 die mittlerweile als integraler Teil des Stundenbuchs eine neue Position und einen Rang als persönliches Gebet angenommen haben.24 Der neu gewonnene Einfluss, den dieser Text durch die Etablierung im Stundenbuch dort gewonnen hatte, wo Stundenbücher existierten – also in Frankreich, den Niederlanden und England – und wo sie im späten 14. Jahrhundert in Volkssprache übersetzt wurden, ist nicht zu unterschätzen. Denn die Bußpsalme, und besonders die Psalmen 6 und 50, besitzen quasi prototypisch ebenjene Elemente des reflexiven Rückverweises, wie sie oben anhand von Brügger Gebetstexten herausgearbeitet wurden: Es wird auf den eigenen Körper, die eigene Vergänglichkeit verwiesen, die eigenen Emotionen und ihr Ausdruck werden beschrieben – und somit katalysiert. Ebenso wird verbalisiert, wie die Sünden im Gebet vor Gott ausgebreitet werden sollen. In dieser Art wurden die Bußpsalmen im Laufe des Mittelalters verschiedentlich ausgelegt, kommentiert und übersetzt, ob als Teil der Heiligen Schrift, der Psalmen oder für sich genommen. So sind die älteste und eine bis ins Spätmittelalter rezi 23 Als Bußpsalmen wird eine Reihe von sieben bestimmten Psalmen bezeichnet. Nach der Zählung der Vulgata sind dies die Psalmen 6, 31, 37, 50, 101, 129 und 142. Diese Zählung wird im Folgenden verwendet, für die Übersetzung wird auf die Einheitsübersetzung der Bibel zurückgegriffen.  24 Eine genaue Benennung des Zeitpunktes, ab welchem die Bußpsalmen im Stundenbuch obligatorisch sind, lässt sich nicht mehr treffen. Eigene Auszählungen von Handschriftenkatalogen haben ergeben, dass es vereinzelte Beispiele sowohl für frühe Stundenbücher mit, als auch ohne Bußpsalmen gibt. Ab dem späten 14. und im 15. Jahrhundert sind sie allerdings fraglos fester Bestandteil des Stundenbuchs.

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pierte Auslegung die Enarrationes in Psalmos des Augustinus.25 Den Psalm 50, das Miserere mei, bespricht er dort besonders ausführlich und betont zugleich das emotionale Potenzial dieser Psalme: Die eigene Sündenerkenntnis, die Reue, die humilitas und der daraus erwachsende innere, emotionale Zustand werden hoch bewertet und gelten Augustinus als einziger Schlüssel zu einer möglichen Vergebung durch Gott. Dazu stellt er stark die Person Davids heraus und betont die Wichtigkeit des historischen Kontextes der Davidsvita26 – also den Mord an Uriah und den Ehebruch mit dessen Frau Bathseba – um die Bedeutung als Exemplum für einen um Vergebung bittenden Sünder begreifen zu können. Wie Nathan von Gott zu David geschickt wurde, um ihm seine Sünden in Erinnerung zu bringen, werde David zu dem Beter selbst geschickt.27 Und weiter fordert Augustinus auf: Höre David klagen, und klage ebenso, höre ihn stöhnen und stöhne mit, höre ihn weinen und vereinige deine Tränen (mit seinen), höre ihn sich verbessern, und freue dich mit. Dabei solle aber nicht seine Heiligkeit, sondern explizit sein Unglück imitiert werden, denn als ebenfalls sündhafter Mensch gleiche man David und identifiziere sich quasi unwillkürlich mit ihm28 – eine Denkweise, wie sie für das gesamte Mittelalter gültig bleibt. Vor allem die emotionale Verfasstheit Davids wird dem Betenden immer wieder durch die Exegeten zur Nachahmung vor Augen geführt.29 Cassiodor beschreibt die emotionserzeugende Kraft der Psalmen beispielsweise mit dem sprachlichen Bild, dass Davids Tränen noch über die Wangen der Nachwelt liefen.30 Desgleichen betonen andere Autoren das emotionalisierende Potential der Psalmen, vor allem der Bußpsalmen. Bis ins Spätmittelalter, vor allem mit dem  25 Augustinus: Enarrationes, 599–616. Vgl. dazu auch Brush 1997, 8–16.  26 Dies wiederhole Augustinus nochmals in De Civitate Dei, so Kuczynski 1995, 52.  27 Ad te Nathan propheta non est missus, ipse David ad te missus est. Audi eum clamantem, et simul clama; audi gementem, et congemisce; audi flentem, et lacrymas junge; audi correctum, et condelectare. Augustinus: Enarrationes, zu Psalm 50, Abschnitt 5. Auch bei Kuczynski 1995, 52.  28 David nullum sibi ita ad exemplum proposuerat, ut tu: ceciderat lapsu cupiditatis, non patrocinio sanctitatis: tu tibi tamquam sanctum proponis ut pecces; non imitaris eius sanctitatem, sedi mitaris ruinam. Augustinus: Enarrationes, Psalm 50, Abschnitt 3. Weiterhin unterscheidet Augustinus in seiner Auslegung zum Psalm 50 zwei Themen: Zum einen die Meditation über David und die Psalmen an sich sowie weiterhin die allgemeinen Wohltaten der Psalmenmeditation, die eine komplexe Übertragung von Davids Lehren zu denen möglich mache, die ihn imitieren. Diese beiden seien komplementäre Prozesse in der Übung der Imitatio Davids. Die erste bestehe aus einer Reflexion des Einzelnen über die Psalmen und die zweite in einer tatsächlichen moralischen Aktion innerhalb der Gemeinschaft aufgrund dieser vorangegangenen Reflexion. Meditation und Reflexion werden so zu Grundlagen moralischen Handelns nach dem Vorbild Davids. Vgl. Kuczynski 1995, 51.  29 Sie fallen teils selber in einen sprachlichen Duktus, der die Wirkmacht der Psalmworte noch erhöhen soll, indem sie zum Beispiel verstärkt Imperative nutzen, wie Augustinus im eben referierten Zitat das wiederholte audi!, oder durch Wortwiederholung, Rhythmisierungen und eine eindringliche Sprache. Dies legt Kuczynski in seiner Untersuchung überzeugend als Teil einer übergreifenden Strategie der Autoren dar, den Leser zu einer Imitatio Davids zu bringen. Kuczynski 1995, 56f.  30 Ebenda 50. Cassiodor unterscheidet sich jedoch, was seine Psalmeninterpretation angeht, stark von Augustinus. Er legt ein größeres Gewicht auf öffentliches Bekenntnis und die Vermittlerrolle der Kirche sowie die Eingliederung der Reue des Einzelnen in die kirchliche Bußpraxis. Vgl. Brush 1997, 16–25.

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Einsetzen von Übersetzungen von Psaltern oder der Bibel in Volkssprache, greift man auf diese exegetische Tradition zurück. Nun aber sind, wie bereits angesprochen, die Vorzeichen geändert, unter denen die Bußpsalmen wahrgenommen werden, da sie mit der Aufnahme in das Stundenbuch eine starke Funktions- und damit Bedeutungsverschiebung erleben: Sie werden nun weniger in der Liturgie31 oder als Fürbittgebet beim Sterbesakrament und beim Totengedenken32 als in der persönlichen Andacht als Gebetstext verwendet und ausdrücklich als Gebete rubriziert.33 Als solches ist ihr Einfluss auf die Frömmigkeitsausbildung des 14. und 15. Jahrhunderts nicht zu unterschätzen – als extrem weitverbreitete Texte mit dieser Kontextbindung dienten sie sicherlich für die beispielsweise in der Devotio Moderna entwickelten Gebetskonzepte ebenso als gedankliche Anreize wie für solche Gebete, wie sie in Brügge zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden. Dies ist als ein sich gegenseitig befördernder Prozess zu verstehen: Die traditionellen Psalmentexte, deren Exegese bis zum Beginn des Christentums zurückreicht, werden durch die Aufnahme in das Stundenbuch und dessen Übersetzung in die verschiedenen Volkssprachen nun einem sehr breiten Publikum zugänglich gemacht und in den täglichen Gebetsablauf eingebunden; damit wirken sie auf die Frömmigkeit ein. Gleichzeitig wird durch diese Übersetzungen und ihre Einbindung in para-liturgischen Gebrauch und persönliche Frömmigkeit der Text der sieben Bußpsalme neu konnotiert. Dies geschieht nicht nur durch Übertragung in eine andere Sprache, sondern, wie beispielsweise in Geert Grotes Stundenbuch,34 auch bewusst  31 Die herausragendste Funktion der Bußpsalmen bestand seit dem 9. Jahrhundert, da sie Eingang in die Bußriten – besonders diejenigen der Fastenzeit – erhielten, im Kontext der öffentlichen kanonischen Buße. Schmidt 1986, 15f. Außerdem sind einzelne Bußpsalmen auch im liturgischen Kalender vertreten gewesen.  32 Mayer 2004, 13f.; Leroquais 1972, XXI; Schmidt 1986, 73f. Auf Epitaphien taucht beispielsweise das Miserere mei zuweilen auf Spruchbändern auf, Beispiele bringen Arens 1972, 334; Bäumler 1987, 237. Als Gebetsverpflichtung im Zusammenhang mit Stiftungen sind das De profundis (Psalm 128) und das Miserere mei immer wieder zu finden, vgl. Heller 1976, 41. Uwe Fleckner arbeitet die Bedeutung der Bußpsalme für einen Gläubigen des 15. Jahrhunderts anhand der Person des burgundischen Kanzlers Nicholas Rolin heraus, mit dem Ziel, die Bußpsalmen als die Stelle zu identifizieren, die Rolin im Stundenbuch in seiner Darstellung der sog. Rolin-Madonna von Jan van Eyck aufgeschlagen hat. Fleckner kommt zwar zu dem Ergebnis, dass sich hier „privates Sündenbekenntnis“ und „der Votivcharakter des Gemäldes“ zu einem „Bildgefüge von höchstem gestalterischem Rang“ durchdringen, doch bleibt er gleichzeitig auf dieser das Motiv identifizierenden Ebene stehen, ohne die Bedeutung für die auf den Betrachter bezogene Bildfunktion herauszuarbeiten, vgl. Fleckner 1996, hier 152. Zu dieser Frage an die Rolin-Madonna vgl. auch Dingeldein 2009, 82f.  33 So in einem Stundenbuch, W 246, von ca. 1440–1450, das als Incipit zu den Bußpsalmen diese als Gebet benennt: Incipit orationes septem psalmi. Randall 1997a, 164, Nr. 236.  34 Geert Grote, der „Vater“ der Devotio Moderna, entwickelte sein Getijdenboek 1383 bis 1384, dessen Text im Expansionsgebiet der Devotio Moderna als Grundlage der Laienfrömmigkeit das meist verbreitete und gebrauchte Buch wurde. Grote hat allerdings eher Gebetstexte zwischen die traditionellen Texte geschoben, als diese zu verändern. Das wird auch aus der Synopse der Vulgata mit seiner Übersetzung klar. Nähere Analysen haben ebenso keine bewusste Betonung oder Steigerung von bspw. Emotionsworten oder -beschreibungen ergeben. Grote hält sich bei der Über-

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durch Rubrizierung, die deren ohnehin reflexiven Charakter noch verstärken und sie ganz in den Kontext persönlicher Frömmigkeitsausübung einpassen.35 Teilweise wird dies auch durch Eingriffe direkt in die Psalmtexte erreicht, vor allem bei besonders emotionalen Stellen, die noch ausgeweitet oder anders betont werden.36 Eine weitere Adaption und Aneignung geschieht durch die Erweiterung und Exegese einzelner Psalme in der jeweiligen Volkssprache, die damit aus dem Zusammenhang der Psalmenreihe fallen.37 Im Niederländischen entsteht wohl noch vor 1400 eine Version des Bußpsalms 50, des Miserere mei, die als einzelner Gebetstext sehr beliebt wurde und des Öfteren in Gebetbüchern, aber auch in Stundenbüchern begegnet.38 In der bereits herangezogenen Gruuthuse-Handschrift und damit in einem Zeugnis aus den burgundischen Niederlanden ist das Miserere mei das erste Gebet.39 Auch hier wird die in dem Psalm angelegte selbstreflexive Struktur setzung nahe am Original, so z. B.: Ps. 6: gemitus–suchten– Seufzer (auch in Ps. 37); lacrimis–tranen– Tränen; vocemfletus–screyen– weinen (screyen ist möglicherweise etwas stärker konnotiert); Ps. 31: clamare–riepen– rufen; aerumna–iamer– Kummer, Mühsal; Ps. 37: iniquitas–boesheid– Unruhe; contristatus–bedroeft– traurig; conturbatus–ghestuert– bestürzt/aufgewühlt. Als Textgrundlage hierzu dient die Edition des Getijdenboek von Nicolaas van Wijk von 1940.  35 Wesseling 1993, passim. Ob die Bußpsalmen einzeln oder am Stück als ein Gebetstext gebetet wurden, ist heute nicht mehr eindeutig nachzuvollziehen. Ihre gemeinsame Struktur, der inhaltliche Spannungsbogen und ihre Siebenzahl würden sich dafür anbieten, ebenso wie für ein aufeinanderfolgendes Beten in einen größeren Kontext: So wurden sie beispielsweise mit den sieben Todsünden parallelisert oder in Gleichlauf mit diversen positiven siebenzahligen Ereignissen oder Bedeutungen gesehen. Christine de Pisan bspw. ‚allegorisiert‘ die Struktur der sieben Psalmen in ihrer Schrift Les Sept Psaumes Allegorisés mit den sieben Werken der Barmherzigkeit, mit den Sieben Gaben des Heiligen Geistes, mit den Kanonischen Gebetsstunden und mit den Sieben Letzen Worten Christi. So „eingefärbt“ werden Bußpsalme im persönlichen Gebet verwendet.  36 Wesseling 1993, ebd. u. a. 100, 107f. Teilweise wird dort auch ausgesagt, wer die Psalmen lesen solle und zu welcher Zeit mit welchem Ziel. Ein Beispiel: Die nauolgende gebet sale en mensche alle daghe lesen met innicheit ende die sal des sekers ijndat hi niet verdoemt en wort Ende men saltoec den steruenden menschen voer lesen in haeren lesten. Ebd. 108. Das nachfolgende Gebet soll ein Mensch jeden Tag lesen mit Innigkeit und der soll sich sicher sein, dass er nicht verdammt werde. Und man soll es auch den Sterbenden vorlesen in ihrer letzten Stunde. Übers. JS.  37 Diese Erweiterungen von Bußpsalmen finden sich vor allem in den Regionen, die auch Stundenbücher kennen, also in England, Frankreich und den Niederlanden. Eine Auslegung der Bußpsalmen schuf die Autorin Christine de Pisan im Auftrag des französischen Königs ca. 1410, vgl. Anm. 35, (Walters 2002; Mayer 2004, 15), die auch in der Bibliothek des burgundischen Herzogs Philippe le Bon zu finden ist. In England entwickelte sich eine besonders ausgeprägte Tradition der Bußpsalmenauslegung, sowohl in Prosa als auch in Versform. Hierin wurden, wie besonders Kuczynski und Sutherland herausgearbeitet haben, die Bußpsalmen für die Affizierung durch den Betenden noch stärker aufgeschlüsselt. Kuczynski 1995 macht in seinem sehr ausführlichen Buch klar, dass die englischen Autoren der Bußpsalmenauslegungen vor allem die Rolle Davids als Modell der compunctio für den Leser herausstellen wollten. Sutherland 2010 bespricht den Stellenwert der Performanz beim Beten der Bußpsalmen und beim Umsetzen der daraus gezogenen Lehre im alltäglichen Leben. Dazu nutzt er als Beispiel deren mittelenglische Übersetzung durch Thomas Brampton vom Beginn des 15. Jahrhunderts.  38 Das konnte vor allem Oosterman 1992, 201–204, sowie ders. 1995 zeigen. Zum Beispiel findet es sich in dem Stundenbuch W 189, von ca. 1480–1490, das eigentlich in Latein verfasst ist, am Schluss aber jenes Miserere mei beigefügt hat, siehe Randall 1997b, 419, Nr. 280.  39 Fol. 2r-3v. Siehe oben Anm. 15. Zur Gruuthuse-Handschrift vgl. den Katalog zur Ausstellung im Gruuthuse-Museum, Koldewij/Geysen (Hg.) 2013.

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Abb. 1: Miserere Mei, Stundenbuch, um 1490. Paris, Bibl. de l’Arsenal, Ms. 1185, fol. 374.

systematisch verstärkt, indem nach jedem Vers ca. 15 bis 20 Zeilen auslegende und ausweitende Dichtung in Niederländisch hinzugefügt wird. In Ich-Form wird dort häufig von den eigenen Tränen,40 den Gefühlen41 oder von der eigenen Gebetshaltung gesprochen.42 Das reflexive und affizierende Potenzial der Bußpsalmen und gerade dieses Psalms ist vor allem auf die Sündenbekenntnis und die daraus resultierende Reue und humilitas gerichtet und scheint auch tatsächlichen Emotionsausdruck geradezu heraufzubeschwören. Die eigene Sünde wird vom Betenden ausgesprochen, ebenso wie die contritio cordis: Wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. […] Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zermalmter Geist, ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.43 Ein in unserem Zusammenhang bemerkenswerter Folio in einem Pariser Stundenbuch führt exakt diese Aussage geradezu emblematisch vor Augen: Der Text des Miserere mei ist von einer  40 Ebd. z. B. Z. 12, 15, 26, 59.  41 Ebd. Z. 19, 21, 23, 26 jeweils eingeleitet mit Ic scame mi […]. – Ich schäme mich […].  42 Ebd. Z. 10: Boghe ic mijn aenscijn totter erde […] – Beuge ich mein Gesicht zur Erde […]. Z. 105: Zeer beschaemt kniele hier voor di […] – sehr beschämt knie ich vor Dir […]. Z. 69: Ic legghe mijn hooft vor uwen scoet […] – Ich lege mein Haupt vor Deinen Schoß […]. Z. 111: Bedec ic mijn hooft […]. – Bedecke ich mein Haupt […]. Z. 151: Vader om dat ic voor di kniele […]. – Vater, darum knie ich vor Dir […].  43 Bußpsalm 50, 4–5 und 19.

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Abb. 2: Jan Provoost, Der heilige Nikolaus mit einem Stifter (Detail), 1505 –1510. Brügge, Groeningemuseum.

breiten, dunkelgründigen Schmuckbordüre umgeben, auf der Herzen, Blumen und die Monogramme der Besitzer zu sehen sind. Zwischen diesen allerdings sind in Trompe-l’Œil-Manier Tränen „aufgetropft“, als seien die im Text geforderten Emotionszeichen vom Auge des Betenden direkt auf das Blatt gefallen (Abb. 1).

David Orans als Spiegelfigur Auch sonst werden die Bußpsalmen im Stundenbuch oftmals bebildert. Es verwundert nach dem vorangegangenen Blick auf die Exegese nicht, dass vor allem König David neben ihnen erscheint. Dabei ist er ab dem späten 14. und im 15. Jahrhundert nicht mehr vorrangig in einer narrativen Szene oder mit der Harfe dargestellt, sondern er nimmt die Pose des David Orans ein,44 des betenden, büßenden Sünders. In einer parallelen Strategie wie die der Brügger Gebetstexte45 oder der Psalmen wird die betende Figur des bekanntermaßen reuigen David dem betenden Bildbetrachter zum Spiegelbild, anhand dessen er seine eigene Gebetshal-

 44 Der David Orans tritt erst ab dem Ende des 14. Jahrhunderts sehr häufig auf. Vgl. Delaissé 1974, 210; Costley 2004, 1253; König (Hg.) 1998, 118; Meier/Staubach 1994, 577f.; Wieck 2001, 498; Wieck/Poos (Hg.) 1988, 97, David als Model der compunctio für den Betrachter untersuchte Kuczynski 1995.  45 In einem illuminierten Brügger Gebetbuch aus der Mitte des 15. Jahrhundert allerdings findet sich ebenjenes Miserere Mei aus der Gruuhuse-Handschrift wieder. Ende des 15. Jahrhunderts wurde eine Veränderung in dem Gebetbuch vorgenommen: eine ganzseitige Darstellung des David Orans wurde dem Beginn des Gebets gegenübergestellt. Abb. bei Oosterman 2013, 305.

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Abb. 3: David Orans und Stifter, Stundenbuch, Walters Art Gallery, W 292, fol. 152.

tung, seine Sünden und seinen Status gespiegelt sieht und reflektiert (Abb. 2)46; das Bild funktioniert als reflexiver Rückverweis auf ihn selbst, der ihn zur Sünden- und Selbsterkenntnis bringt. In diesem Fall greifen Text und Bild außerdem amplifizierend ineinander – im Sinne der augustinischen Aufforderung: Höre David klagen und klage mit.47 Intensiviert wird jener rückverweisende Spiegeleffekt auf den Betenden, wenn er dort nicht nur eine heilige Person betrachtet, sondern er selbst neben David in der Miniatur auftaucht. Das geschieht bei einigen Stundenbuchilluminationen des 15. Jahrhunderts, so in einem lateinischen Stundenbuch von 1460/1470, wo hinter dem betenden David der Stifter mit seinem Patron kniet und mit ihm zu der Gotteserscheinung aufblickt, die am Himmel erscheint (Abb. 3). In Gebetshaltung, Kleidung, Körper und Gesicht48 sieht sich der Be 46 Ein Detail eines Triptychon-Flügels von Jan Provoost illustriert diese Konstellation des Gebet eines Zeitgenossen: Ein Stifter kniet hier am Prie-Dieu mit aufgeschlagenem Stundenbuch, das in seiner halbseitigen Miniatur den betenden David zeigt. Der Text ist nicht lesbar, die Initiale nicht aussagekräftig – allerdings ist die Passage mit einer Schnur als Lesezeichen als übliche Stelle gekennzeichnet und befindet sich ungefähr mittig in dem aufgeschlagenen Buch, was der Interpretation der Textstelle als die Bußpsalmen zumindest nicht entgegensteht. Auf dem Verso der Flügel findet sich die ungleich bekanntere Darstellung des Geizhalses mit dem Tod.  47 Siehe oben Anm. 28.  48 W 292, fol. 152, vgl. Randall 1989, Kat. Nr. 137, dort Abb. 249. Es handelt sich hier um ein adaptiertes Stifterbild, wie weitere Stifterfiguren in dieser Handschrift: Das Gesicht ist übermalt, die Wappen sind von einem späteren Besitzer ausradiert. Man kann also davon ausgehen, dass der Betende hier explizit sein Gesicht sehen wollte. Weitere Beispiele von Betendem und David sind u. a. in einem Stundenbuch in Den Haag zu finden, KB 76 G 6, fol. 269r, wo beide zusammen in der Initiale einander gegenüber knien, oder in einer Pariser Handschrift, BNF, Ms. lat. 774, fol. 1, wo beide in der Miniatur zu sehen sind.

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trachter vor dem Bild durch es gespiegelt. Mit dem eigenen Bild wird ein zusätzlicher Rückverweis zu demjenigen hinzugefügt, der im Text-Bild-Gefüge durch die Kombination von David Orans und Bußpsalmen bereits besteht. Während der Betende mit dem Text der Bußpsalmen seine Sünden offenlegt und die Worte in ihrem Beten zu seinem Emotionsausdruck macht, errichtet er mit seinem Blick zwischen sich, seinem gemalten Abbild und dem des heiligen Sünders einen Raum aus Bezugspunkten, den er in der Reflektion zu einem Affektraum in seinem Inneren gespiegelt konstituiert: Der Betende wird sich mit seinem Abbild und dessen Kontext vergleichen, wie dem des David Orans als Exemplum des reuigen Sünders; von der körperlichen Darstellung seiner selbst wird er über sein Äußeres zur Reflexion seines Inneren angeregt, zur Kontemplation seiner Sünden, welche contritio, vielleicht timor hervorruft, die ihn im weiteren Verlauf des Gebets zu weiteren Emotionen führen. Die Bewegung zwischen Außen und Innen wird so zu einer Aufwärtsbewegung, der Betende nimmt damit den ersten Schritt des Aufstiegs und wird durch das physische Sehen Davids und seiner selbst im Gebet kontinuierlich daran erinnert, sich spirituell zu überprüfen und zu reflektieren.

Weltgericht und Auferstehung der Toten Ein weiteres Motiv, das die Bußpsalmen begleitet und den Betenden emotional sicherlich noch stärker ansprach, ist das Weltgericht und die Auferstehung der Toten: Christus als Weltenrichter auf dem Regenbogen thronend, die Füße auf der gläsernen Sphäre, schwebt über einer Landschaft, aus deren Boden die Toten auferstehen. Oftmals ist die Komposition als Deesis gezeigt, also mit Maria und Johannes dem Täufer, die links und rechts des Regenbogens stehen oder knien. Dieses Motiv begleitet die Bußpsalmen bereits länger als der David Orans,49 doch in den Niederlanden wird es an dieser Stelle in Form der Auferstehung der Toten mit dem Richter im 15. Jahrhundert zur häufigsten Darstellung.Vor allem bei einer Reihe niederländischsprachiger Stundenbücher aus Utrecht und Delft aus der ersten Hälfte und Mitte des Jahrhunderts scheinen Bußpsalmen und Auferstehung eine feste Einheit zu bilden.50 Der Weltenrichter mit den Auferstehenden ist dort als ganzsseitige Miniatur auf dem Verso, also links auf der Doppelseite zu sehen, während rechts der Text steht, der meist von einer großen Initiale eingeleitet wird. Die Darstellungen sind nicht unbedingt sehr qualitätvoll – gemessen an den Hand 49 Die Weltgerichtsdarstellung dominiert bis ca. 1400 die französische und niederländische Buchmalerei. Die Davidsdarstellung kommt dann hinzu und begegnet gerne, aber nicht ausschließlich, in kostbaren Stundenbüchern – was möglicherweise schlicht an der Person Davids liegt, die als König noch zusätzliche Aussagen und Anknüpfungspunkte für einen adligen Betrachter bietet. Innerhalb des 15. Jahrhunderts kommen noch die Bildthemen der Bathseba im Bade und der Auferstehung des Lazarus hinzu. Das Weltgericht wandert in den französischen Stundenbüchern eher weg von den Bußpsalmen hin zu Christusgebeten, so bspw. im Stundenbuch in der BNF, Ms. Nal 3112, fol. 56v, von 1420–1430 (Abb. 7).  50 Ein frühes Beispiel ist das Stundenbuch, KB, 76 G 23, fol. 145v–146.

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Abb. 4: Christus als Weltenrichter, Ende 15. Jh. Den Haag, KB, 132 G 38, fol. 52v.

schriften, die für höfische Kreise produziert wurden – und oftmals sind gerade die Auferstehenden sehr schematisch dargestellt. Doch ist stets mindestens einer davon in Gebetshaltung gezeigt, und oft begegnen einzelne Auferstehende als Rückenfiguren.51 Deren Aufgabe ist genauso eindeutig wie die des David Orans, allerdings hier in den existentielleren Kontext des Weltgerichts gestellt. Eindringlich wird nun der Betende gleichsam mit der späteren Konsequenz seiner aktuell auszubreitenden Sünden und seiner momentanen frommen Anstrengungen bildlich konfrontiert: Der hier dargestellte Moment wird für ihn zweifelsfrei kommen, er wird nach seinem Tun „gewogen“ werden und arbeitet in seinem Gebet und Leben darauf hin. Wenn der betende Betrachter beispielsweise in einer Delfter Handschrift aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, heute in der KB Den Haag, 132 G 38, fol. 52v (Abb. 4), mit den Worten des Psalms seine reuigen Tränen beschwört und seine Sünden ausbreitet, legt er sie nicht nur dem Weltenrichter vor, der ihm frontal präsentiert wird. Er kann sich zudem – wie in der folgenden Empfehlung zum spirituellen Aufstieg im Stufenweg des Gerard Zerbolt van Zutphen in De Spiritualibus Ascensionibus – die Situation der ebenfalls vor dem Richter sehr bewegt betenden und flehenden Seele, die hier als zentrale Rückenfigur mit hoch er 51 Bspw. bei einer Gruppe aus Delft um 1460–1480: Den Haag, KB, 132 G 38, fol. 52v–53r, und KB, 135 E 22, fol. 73v–74r; oder Den Haag, KB, 133 D 5, fol. 73v–74r, Südholland 1480–1500; weiterhin Utrechter Handschriften von ca. 1450: Den Haag, KB, 133 E 16, fol. 107v–108r; Walters W 195, fol. 70v–71r; Den Haag, KB, 133 E 22, fol. 85v–86r.

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hobenen, gefalteten Händen dargestellt ist, als spiegelnde persona nehmen, um zu den geforderten Gefühlen der Demut, Furcht und Hoffnung zu gelangen: Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Hölle übst, nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Sünders vor dem Richter an, in Angst und Zittern, als seist du schon überführt und der Richtspruch gegen dich gesprochen, und sage: ‚Verdamme mich nicht Herr, gehe nicht ins Gericht mit Deinem Diener.‘ (Psalm 142) Oder: ‚Herr, in Deiner Wut.‘ (Psalm 6).52 Ebenso sieht der Betende auf diesem Folio der Den Haager Handschrift hier eine offensichtlich deformierte Seele53 aus dem offenen Grab auf sich zu kriechen, die es versäumte, wie er seine Sünden zu bekennen und zur Erkenntnis aufzusteigen – auch sie bietet ihm eine Spiegelfläche, indem sie ihm ihr dämonisches Gesicht zeigt:54 Nochmals werden, nun im Negativbeispiel, im reflexiven Rückverweis die passenden Emotionen beim Betrachter erzeugt, indem zwischen Betendem und den Bildfiguren in Kombination mit dem Text der Bußpsalmen jene reflexive Dynamik entsteht. Dabei geht es nicht nur um bloße Identifikation mit vorbildhaft dargestellten Emotionen, die ihn diese in und an sich reproduzieren lassen – oder um eine gezielte Abgrenzungserfahrung von negativ konnotierten Exempla: Dem Betrachter wird im Erfassen und Erkennen von perfekten oder pejorativen Emotionen der Bildfiguren in einem Prozess kognitiver Reflexion vielmehr sein eigener Status bewusst. Dieses Bewusstsein und prozesshafte Erkennen der eigenen Disposition erst schafft ihm die Basis und Ausgangspunkt seiner im Gebet aufzubringenden emotionalen Abläufe, die er wiederum entlang jener Texte und zeitgenössischen Anforderungen innerhalb der Meditation orientiert, welche bereits der Konzeption des Bildwerks zugrunde lagen: in diesem Fall am Kontext spätmittelalterlicher Meditationssystematik und der Bußpsalmen. Äußeres Bild und dies spiegelnder Text bilden hier eine Einheit, die den Betrachter auf sich selbst und in sein  52 De Spir. Asc. Kap. 46.  53 Die „Deformation“ ist eine Verunähnlichung des Menschen in Bezug auf seinen ursprünglichen Zustand als imago Dei durch Sünde. Diese Deformation wird in der Ikonografie in Angleichung an Dämonendarstellungen verbildlicht, wie beispielsweise die Darstellung der verdammten Seele in der Seelenwaage des Weltgerichts der Kathedrale von Autun. Selten werden die deformierten Seelen als eigenes Motiv abgebildet und als solche betitelt; Beispiele dafür finden sich in zwei Manuskripten: BL Add Ms 37049, fol. 74, und Hatfield House Cecil Papers Ms 270, fol. 21, Abb. bei Brantley 2008, S. 293.  54 Gerade diese dämonische Figur erinnert wiederum an eines der Gebete aus der Gruuthuse-Handschrift, fol. 3v (siehe Anm. 15). Hier wird das Bekenntnis der eigenen Unähnlichkeit zu Gott mit der Erkenntnis Gottes in Abhängigkeit von Emotion eindrücklich in Worte gefasst und eingebettet in auf den Körper des Betenden rückverweisende Strukturen: Ich armer Sünder […] / Unnützer Wurm, dem die Gestalt / vom Bild meines göttlichen Vaters / durch die irdischen Wonnen / so fremd geworden ist, dass ich seinen Namen / nicht nenne und mich darüber sehr schäme / dass ich ihm nicht gleiche und ihn nicht liebe / ihn nicht liebhabe, noch ihn kenne / dass ich ihn nicht ansehe und noch ihn fürchte / und vor ihm knie wie ein Wesen / ekelhaft vor süßen Augen / O Herz […] bringe genug Tränen auf oder breche entzwei. Übers. JS. Ic aerm sondare […] / Onnutte worm die de figure / Van mijns godlijcs vader beilde / Omme dese keytiuiche erdsghe weilde / So vremde bem worden dat ic zijn name / Niet nomen en dar van rechter scame / No hem ne ghelike no hem ne mine / No hem ne ghelieue no hem ne kinne / No hem ne ontsie no hem ne vreese / Ende vor hem kniele recht als een weese / Walghelic sinen wel zoeten oghen / O herte […] Stuert tranen ghenouch of brec ontwee.

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Abb. 5: Christus als Weltenrichter und David Orans (Initiale), 1475–1500. Den Haag, KB, 76 G 10, fol. 42v-43.

Inneres zurück führen. Wie an obigem Zitat zu erkennen, sah diese Einheit auch Gerard, der die Einübung der Furcht anhand der Meditation des Jüngsten Gerichts fest mit den Bußpsalmen verbindet. Ähnlich wie im Falle der Weltgerichtsdarstellung gegenüber den Bußpsalmen funktioniert auch diejenige Bildstrategie, welche die Initiale auf der Textseite jener Handschriftengruppe nun nicht mehr unbewohnt lässt, sondern mit Figuren füllt, welche die reflexive Bildfunktion nochmals steigern. Diese Figur kann beispielsweise eine betende Seele im Fegefeuer sein, allerdings ist dies eine recht seltene Darstellung.55 In einigen Delfter und Leydener Stundenbüchern aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts wird dort allerdings der David Orans dargestellt (Abb. 5) – die obligatorische Rückenfigur eines Auferstehenden unter dem Richter wird jedoch beibehalten.56 Weltenrichter, die Auferstehenden, der betende David und der Text der Bußpsalmen greifen als verschiedene Ebenen eines nachdrücklichen Appells  55 Christus als Weltenrichter und Seele im Fegefeuer (Initiale), 1480–1500. Den Haag, KB, 133 D 5, fol. 73v–74r. Abb. bei Scheel 2013, 309.  56 Den Haag, KB, 129 F 4, fol. 55, Leyden, 1450–1500; KB, 76 G 10, fol. 44v, Leyden, 1475– 1500; KB, 76 G 13, fol. 72v–73, Leyden, 1475–1500; KB, 79 K 5, fol. 108v, Nordholland, 1489; KB, 133 H 30, fol. 130v, Delft, 1460–1480; KB, 133 M 23, fol. 106, Südholland, 1478; KB, 133 M 124, fol. 44v, Holland, 1475–1500; KB, 135 G 19, fol. 81v, nördliche Niederlande, 1495.

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zur Selbstreflexion an den betenden Betrachter ineinander, schichten mehrere Ebenen reflexiven Rückverweises aufeinander und verleihen so jenem Affektraum, den der Betende in sich errichtet, eine weitere Dimension. Bemerkenswert ist, dass in diesen Darstellungen die Auferstehenden noch nicht nach Seligen oder Verdammten geschieden werden – es wird der Moment unmittelbar vor dem Gericht dargestellt, die Auferstehung der Toten. Diese Offenheit des Ausgangs für die Dargestellten verstärkt gleichzeitig die eigene Heilsungewissheit des Betrachters und fördert so ebenfalls sein Bußgebet.

Selbst vor dem Richter stehen Diese Heilsungewissheit wird als Impetus noch eindringlicher ins Bild gesetzt, wenn bei einem solchen Weltgericht zusätzlich der zeitgenössische Beter selbst erscheint. Gleichzeitig ist damit eine Konkretisierung der eben konstatierten Deutungen der Bußpsalmen-Miniaturen gegeben. Diese Darstellungen begegnen nicht häufig, sind aber ebensowenig als außergewöhnlich zu bezeichnen; es gibt sie sogar in weniger prächtigen Stundenbüchern, beispielsweise in einem Exemplar des Getijdenboek nach Gert Groote aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, wo das Stifterpaar noch außerhalb der eigentlichen Miniatur in die Bordüre eingefügt ist (Abb. 6).57 Doch bereits früher, zum Beispiel in einem Stundenbuch von ca. 1430, kniet der Stifter in der Miniatur rechts unterhalb des Regenbogens vor dem Weltenrichter, der auf ihn hinabblickt; Maria und Johannes sind nicht anwesend.58 Die Stifter setzen sich in diesen Fällen von den auferstehenden, nackten Seelen durch ihre Kleidung ab – sie sind in ihrem augenblicklichen Status, nicht als Auferstehender dargestellt. Ebenso ist dies im bekannten Dunois-Stundenbuch der Fall, wo der Stifter in einer sehr aufwändigen Komposition – die nun auch die Aufnahme der Seligen in den Himmel und den Fall der Verdammten zeigt – ebenfalls in seiner höfischen Kleidung dargestellt ist, kniend auf einem Kissen am Prie-Dieu mit aufgeschlagenem Stundenbuch und begleitet von seinem Patron Johannes dem Evangelisten.59 Dass es sich bei solchen Darstellungen der Betenden selbst nicht um eine reine visuelle Floskel oder ein bloßes Besitzzeichen handelt, ist anhand eines Beispiels zu dokumentieren (Abb. 7), wo bei dem Stifterpaar unterhalb des Weltenrichters nicht nur die Kleidung, sondern explizit auch die Gesichter einer Adaption

 57 Eigentlich handelt es sich bei diesen getijdenboeken eher um in Serie produzierte Handschriften, sodass das Auftauchen von Stifterdarstellungen selten ist. Die Miniaturen werden in die nördlichen Niederlande verortet, der Kalender deutet auf Utrecht hin.  58 London, BL, Harley 1251, fol. 109, Rouen, 1430–1440, Abb. bei Scheel 2013, 311.  59 London, BL, Yates Thompson 3, fol. 32v, Paris, 1440–1450, Abb. ebd., 312. Diese Miniatur begleitet indes nicht die Bußpsalmen, sondern ein Gebet, das mit den Worten Herr, sei mir Sünder gnädig und schütze mich beginnt (Deus propitius esto mihi peccatori et custos mei.). Der Beginn der Bußpsalmen wird in dieser Handschrift auf fol. 157 mit dem David Orans bebildert und mit den Wappen von Dunois geschmückt.

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Abb. 6: Stifterpaar vor dem Weltenrichter, 1480–90. Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Ms. germ. oct. 33, fol. 129v.

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Abb. 7: Stifterpaar vor dem Weltenrichter, 1420–1430. Paris, BNF, Ms. Nal 3112, fol. 56v.

durch die Nachbesitzer zum Opfer gefallen sind, die nun dort zu sehen sind: Man möchte sich vor dem Weltenrichter sehen, nicht einen unbestimmten Platzhalter.60 Es ist davon auszugehen, dass vor allem in den Niederlanden, wo die Kombination von Bußpsalmen und illustrierendem Weltgericht durch die niederländisch sprachigen Stundenbücher stark verbreitet war, genau jene Verbindung zwischen diesem Text und der Weltgerichtsdarstellung (bzw. der Auferstehung der Toten) aus der Sehgewohnheit heraus dem Betrachter assoziativ gegenwärtig war. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem Umkehrschluss, dass das Weltgericht zu den materiae meditandi des täglichen Gebets gezählt wird und beispielsweise – wie eben gesehen – bei Gerard ausdrücklich zur Einübung bestimmter, zentraler Emotionen wie Furcht und Hoffnung genutzt wird.61 Denn mit der Aufforderung, sich mit Hilfe des  60 BNF, Ms. Nal 3112, fol. 56v, von 1420–1430. Zur Adaption siehe http://expositions.bnf.fr/flamands/grand/fla_103.htm (zuletzt geprüft 10/2015), dort wird als der ausführende Künstler Jean le Tavernier vorgeschlagen.  61 Z. B. empfiehlt Gerard bestimmte materiae, die zur Meditation nützlich und beim Aufstieg hilfreich seien, u. a. die memoria der Sünden, des Todes, des Jüngsten Gerichts, der Höllenstrafen, die memoria der himmlischen Herrlichkeit, der Wohltaten Gottes sowie der Passion des Herrn und derartiges. Que autem materie tibi sint utiliores ad meditandum et proficiunt tibi ad ascensum superius audivisti: Sunt enim memoria peccatorum tuorum, memoria mortis, extremi iudicii, penarum in-

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Weltgerichts in jenen Emotionen zu üben, wird der Gläubige dasjenige Hilfsmittel nutzen, das ihm zur Verfügung steht: Er wird in seinem Stundenbuch gezielt die Weltgerichtsdarstellung aufschlagen, um diese in seiner Meditation zu imaginieren. Dort findet er sie neben den Bußpsalmen, die wiederum seine reflexive, emotionale Meditation unterstützen.

Die drei Bild-Körper des Louis de Laval Dass das Weltgericht die Bußpsalmen gleichsam wie eine Inschrift nach sich zieht, demonstriert auch eine Doppelseite eines prächtigen, extrem qualitätvollen Stundenbuches, das für Louis de Laval angefertigt wurde.62 Die Doppelseite fol. 334v– 335 zeigt auf dem rechten Folio ein sehr dunkles, aber aufwändiges Kircheninneres mit dem Grabmal von de Laval, auf dem sein Gisant in voller Rüstung liegt (Abb. 8). Es ist nicht nur mit seinen Wappen geschmückt, sondern auch mit einer Grabinschrift versehen, die seinen Namen nennt.63 Der Sarkophag jedoch ist mutmaßlich leer, denn davor kniet – im Kontrast mit der Skulptur hinter ihm umso lebendiger erscheinend – auf dem Kirchenboden mit gefalteten Händen Louis de Laval als Auferstehender, ein junger Mann mit schulterlangem Haar, nur mit einem weißen Lendenschurz bekleidet. Er ist der gegenüberliegenden Blattseite zugewandt und reiht sich damit unter die Auferstehenden unter dem Weltenrichter Christus ein, die von einer Engelschar und Posaunenengeln überfangen ihren Gräbern auf einer weiten Ebene entsteigen. Dass hiermit nicht einfach ein Stifterbildnis dargestellt ist, zeigt einerseits die Nacktheit von Louis de Laval.64 Ein Blick auf dessen Lebensdaten65 sowie der Vergleich mit anderen Darstellungen des Stifters in diesem Stundenbuch machen darüber hinaus klar, dass Louis de Laval zum Entstehungszeitpunkt des Manuskripts ein alter Mann war: Auf der Doppelseite fol. 50v-51 kniet Louis de Laval mit weißen Haaren und faltigem Gesicht gegenüber der thronenden Madonna und betet zu ihr am Prie-Dieu vor einem aufgeschlagenen Kodex (Abb. 9). fernalium, memoria celestas glorie, beneficiorum Dei et passionis dominice et si que huiusmodi. De Spir. As Kap. 45, Z. 22–26. Die Gebetsmaterien finden sich parallel auch bei anderen Autoren der Devotio Moderna wie bei Florens Radewijns im Tractatulus devotus, Kap. 14–19, ed. bei Goossens 1954, 213–254. Diese materiae sind fest in den Tages- und Wochenplänen der Anhänger der Devotio Moderna integriert, welche auch von laikalem Publikum rezipiert wurden. Vgl. dazu ausführlich van Dijk 1994.  62 Das Stundenbuch befindet sich in Paris, BNF, Ms. lat. 920. Louis de Laval ließ es zwischen 1469 und seinem Tod 1489 anfertigen, wahrscheinlich um 1480. Es wird Jean de Colombe zugeschrieben. Wappen des Auftraggebers finden sich auf fol. 1r, 29v und 50r, Porträts auf fol. 45r, 51r und 129v.  63 Die Inschrift transkribierte Leroquais 1972, 20: „CI REPOSE.MESSIRE.LOYS DE LAVAL. CHEVALIER.EN.SON.VIVEN.SEIGNEUR D[E] CHATILLONET DE CO[MPER].“  64 Man denke an die normalerweise bekleideten Betenden, wie bspw. in den beiden Stundenbüchern der British Library, s.o. Anm. 58 und 59.  65 Louis de Laval wurde 1411 geboren und starb 1489. Geht man davon aus, dass das Stundenbuch um 1480 angefertigt wurde, war er zu diesem Zeitpunkt 69 Jahre alt.

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Abb. 8: Louis de Laval vor dem Weltenrichter, 1480. Paris, BNF, Ms. lat. 920, fol. 334v–335.

Hier ist nun das volle reflexive Potenzial einer solchen Darstellung entfaltet. Louis de Laval erschafft in dieser Selbstbetrachtung beim Beten mit dem Stundenbuch in verschiedenen Darstellungsweisen und Kontexten einen Affektraum: Selbst am Prie-Dieu mit dem Stundenbuch kniend sieht er sich vor Maria als höchster Interzessorin in seinem gegenwärtigen erlösungsbedürftigen, äußerlichen Zustand abgebildet,66 während er zu ihr zu Beginn der Marienstunden betet. Er stellt sich damit Maria nicht nur äußerlich gegenüber, sondern legt ihr, dem speculum sine macula, innerlich seine Sünden dar und bittet sie um Beistand; mit seinen Emotionen der Reue und der Hoffnung kann er sich zu ihr in Beziehung setzen. Er sieht auf einer anderen Doppelseite des Kodex seinen eigenen Sarg mit dem lebensechten Gisant – ein Abbild seines Abbildes – der ihn sich über diese Körpermetaphern mit seinem Tod auseinandersetzen lässt, bis er ihm affektiv vor Augen  66 Man ist an die Paele-Madonna von Jan van Eyck (1434–46, Groeningemuseum, Brügge) erinnert, wo der ostentative körperliche Verfall des Kanonikus als Ausdruck seiner Erlösungsbedürftigkeit lesbar wird, sodass van der Paele dadurch jedem erlösungsbedürftigen Betrachter als Identifikationsfigur dienen kann. Büchsel 2005, 198f. Ähnlich interpretiert auch Schmidt 2003, 237–239, die Alterszüge in Hans Pleydenwurffs Bildnis des Georg von Löwenstein aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.

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Abb. 9: Louis de Laval betet vor der Madonna, 1480. BNF, Ms. lat. 920, fol. 50v–51.

steht. In seinem jugendlichen Auferstehungsleib sieht der alte Mann, Louis de Laval, sich dann schließlich vor dem Richter knien. Er vergleicht in diesem Moment sicherlich seinen jungen, unversehrten Leib einerseits mit seinem gegenwärtigen und kontempliert den Zustand, in dem sich dieser verjüngte Körper befinden mag, der Alter und Verwesung abgestreift hat. Andererseits vergleicht Louis seine(n) Körper ebenso mit dem versehrten Leib Christi, durch den dieser zum Richter über ihn wird und der gleichzeitig seine Erlösung verheißt – und kontempliert emotional seine Verklärung67 oder Verdammung in Furcht und Hoffnung: Gemäß den Lehren der Devotio Moderna oszilliert der demütige Gläubige zwischen diesen Hauptemotionen, timor und spes, und schwingt sich mit deren Einübung zur Liebe zu Gott auf.68 In ihnen spiegeln sich die zwei Pole der Selbsterkenntnis, nämlich als

 67 Denn auch der verklärte, zukünftige Körper wird Gegenstand der Meditation bei den Autoren der Devotio Moderna, so bei Gerard Zerbolt van Zutphen in De Spir. Asc.: Cogita de dotibus corporis tui quibus ipsum corpus beatificabitur, videlicet de eius immortalitate, impassibilitate, summa agilitate et gloriosissima speciositate. Kap. 24, Z. 32–34.  68 So schreibt Gerard Zerbolt van Zutphen in De Spir. Asc. Kap. 65, Z. 28f.: Semper in tuis exercicijs inter timorem et spem et caritate mascendas et descendas. Dies wählte, ob der Aussagekraft dieser

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sündiger und dadurch Gott unähnlicher Mensch und als Abbild Gottes.69 Die Darstellung von Louis de Laval vor dem Richter vermag diesen Prozess zu katalysieren: Wieder ist hier die Entscheidung noch nicht getroffen, das Gericht hat noch nicht begonnen. Es sind die Körper, die hier begegnen, nicht die Seelen. In der Bildkomposition werden explizit nicht nur Ängste geschürt, sondern auch die Hoffnung auf die Gerechtigkeit des Richters geweckt: Die Hände des nackten Louis de Laval auf fol. 334v ragen auf die Rahmung der Miniatur hinaus und überschneiden damit die umgebende Inschrift, die genau an dieser Stelle sinngemäß lautet: Allein auf deine Barmherzigkeit hoffe ich zur Rettung 70 – seine Hände berühren das Wort misericordia und sein Blick zum Richter führt über das Wort spero, womit der Weltenrichter direkt angesprochen wird. Obwohl diese Doppelseite im Stundenbuch des Louis de Laval nicht den Bußpsalmen vorangestellt ist, sondern dem Abschnitt über das Weltgericht aus dem Matthäusevangelium (XXV, 31–46), werden Teile aus dem Psalm Miserere mei auf der Rahmung der Miniatur zitiert – der erste Vers des Miserere mei überschreibt hier die Stifterdarstellung. Dass gerade der erste und sechste Vers aus diesem Psalm gewählt wurden, unterstreicht nochmals die dialogische Struktur der Komposition: Die eigenen Sünden werden dort als direkt gegen Christus gerichtet bewertet und ihm offengelegt: Gegen Dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was Dir missfällt.71 Die Affekttiefe und emotionale Relation zwischen dem Bittenden und seinem Richter wird durch diese Personalisierung noch verstärkt. Auch hier hat sich der Textverband von Bußpsalm und Weltgericht unter umgekehrten Vorzeichen bestätigt. In der dabei außergewöhnlichen Ikonografie, die allerdings als konsequentes Weiterdenken der hier vorher vorgestellten Kompositionen zu bewerten ist, werden für Louis de Laval Text und Bild, seine drei dargestellten Körper und die emotionale Ansprache durch sie, zu sich gegenseitig amplifizierenden Instrumenten seiner affektiven, selbstreflexiven Meditation.

Aussage in Bezug auf das gesamte Traktat, Gerrits 1986 als Titel seiner Monografie zu Gerard Zerbolt van Zutphen.  69 Vgl. dazu nochmals das Gebet aus der Gruuthuse-Handschrift, Anm. 53, wo der Verlust der Ähnlichkeit mit Gott zu einem Verlust der Liebe und Erkenntnis Gottes führt. Zu Theorien der Selbsterkenntnis besonders im 15. Jahrhundert vgl. Scheel 2013, 209–319.  70 Sola misericordia tua spero salvara.  71 Über dem Stifterbild auf der oberen Rahmung ist Psalm 50, Vers 1 zu lesen: Miserere mei Deus: secundum magnam misericordiam tuam, die linke und untere Rahmung trägt Vers 6 des selben Psalms: Tibi soli peccavi, et malum coram te feci: utius tificeris in sermonibus tuis. Die Rahmung des Weltenrichters beinhaltet sowohl an Christus gerichtete Worte aus der Offenbarung des Johannes, 7,12, benedictio et claritas et sapientia et gratiarum actio et honor et virtus et fortitudo Deo nostro in saecula saeculorum, als auch aus Psalm 85,5: ostende nobis misericordiam tuam et salutare, die als Worte der Auferstehenden zu lesen sind.

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Leben in der Waagschale des Engels – Das Weltgericht Hans Memlings Eine abermals drastischere Darstellung findet sich schießlich in einem Beispiel der altniederländischen Tafelmalerei, dem Weltgerichtstriptychon von Hans Memling (Abb. 10). Hier ist nun der Augenblick des Gerichts gekommen, die Seligen werden von den Verdammten geschieden und strömen entweder nach links über eine kristallene Treppe ins Himmlische Jerusalem oder fallen rechts in den dunklen, von Flammen erleuchteten Höllengrund. In dieser bildgewaltigen Vision steht die Seelenwaage im Mittelpunkt. Der Erzengel Michael in voller Rüstung steht in einer vertikalen Achse mit dem Weltenrichter, zu dessen Instrument er in diesem Moment wird, als die Auferstanden ihren Gräbern entsteigen. Der Stifter begegnet nun nicht mehr voll bekleidet oder wie Louis de Laval wenigstens am Rande der Darstellung – er kniet nackt in der Waagschale des Erzengels. Unzweifelhaft ist hier ein Stifter dargestellt, da technische Befunde gezeigt haben, dass das Gesicht auf eine Zinnfolie porträtiert und später in die Tafel eingefügt wurde. Die Identifizierung des Dargestellten ist heute nicht mehr möglich, doch ist sie hier nicht ausschlaggebend.72 Die Verwunderung der Forschung darüber, dass sich ein Zeitgenosse – noch dazu nackt – in der Waagschale hat darstellen lassen, führte, auch aufgrund der Besitzverhältnisse und des seltsamen Schicksals der Tafel, zu verschiedenen Erklärungen, die letztendlich meist darauf hinauslaufen, dass der Dargestellte sich gleichsam als Bußleistung als Sünder hat zeigen lassen wollen.73 Eine auf den Rezipienten, ob beliebiger Betrachter oder Stifter selbst, gerichtete Funktion dieser nackten Bildfigur wird nicht thematisiert. Dabei ist, wie aus den bisherigen Beispielen zu erkennen, genau das intendiert und hier in besonderer Form realisiert: Sieht der Stifter sich selbst nackt in jener Waagschale, wird er selbst aufs Eindringlichste dazu angehalten, seine Taten nun schon abzuwägen und zunächst sein eigener Richter zu sein – ein Bild, das beispielsweise Gerard Zerbolt von Zutphen für die Selbstüberprüfung nutzt.74 Bei ihm findet sich auch ein Kapitel zu der Meditation des Jüngsten Gerichts, wo er  72 Oftmals wurde der Betende als Tommaso Portinari identifiziert, weil das dort zu sehende Gesicht Ähnlichkeiten mit demjenigen auf dem sogenannten Portinari-Altar habe. Die materielle Grundlage, auf der dieser Vergleich gezogen wird, ist jedoch denkbar schlecht: Zwar beweist die Zinnfolie, dass es sich einstmals um ein Porträt handelte, doch wurde dies bereits im 17. Jahrhundert restauriert – zwar, nach Angaben des Restaurators, in Orientierung am vorhandenen Material, aber dennoch als ein starker Eingriff. Diese Übermalung wurde dann noch einmal restauriert. Aufgrund dieses Materialbefunds eine Ähnlichkeit mit einem vorhandenen Stifterbild zu identifizieren, ist offensichtlich problematisch. Vgl. zum technischen Befund De Vos 1994, 24–26, 82–89.  73 Das Werk wurde von dem Florentiner Bankier Angelo Tani bestellt und von Hans Memling zwischen 1467–1473 gemalt. Tani war Leiter der Medici-Filiale in Brügge, bis ihn sein Nachfolger Tommaso Portinari ablöste. Als das Schiff mit dem Retabel auf dem Weg nach Florenz, seinem Bestimmungsort war, wurde es von Piraten gekapert und nach Danzig gebracht, wo es sich bis heute befindet. Vgl. dazu den Aufsatz von Lane 1991.  74 De Spir. Asc. Kap. 6.

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Abb. 10: Hans Memling: Weltgericht (Mitteltafel), 1467–1471. Danzig, Museum Narodowe.

nach einer Rekapitulation der zu erwartenden Ereignisse und ihrer Emotionen, der Angst bei den Sündern, der Freude bei den Rechtschaffenen, den Betenden in seiner Meditation selbst vor den Richter treten lässt: Dann trete hervor […] und siehe den Richter […].75 Weiterhin wird der Betende aufgefordert: Überlege, wie streng dort die Überprüfung der Werke, Reden, Meditationen und schlechter Affekte sein wird. All das wird dort nackt und offen sein, auch das, was hier verdeckt war.76 Ebendiese Überprüfungen vollzieht der Betende idealiter innerhalb seiner momentanen Meditation, er prüft sich, seinen Status, seine Sünden, Werke und Reden, sein Gebet und seine Affekte. Er öffnet sich im Gebet ganz und stellt sich nackt vor Gott. Sieht der Auftraggeber dieses Weltgerichts von Memling sich in der Waagschale während eines solchen Gebets, wird ihm mittels seines nackten Körpers in ebendieser Situation genau dies angemahnt und die für jene Meditation aufzubringenden Gefühle katalysiert. Er setzt sich in Relation zu den dargestellten Personen und deren Beziehung zueinander, und, indem er erkennt, dass er diese Beziehung in seinem Inneren ebenso errichtet und emotional nachvollzieht, erfüllt er sie.

 75 De Spir. Asc. Kap. 20, Z. 15–18: Egredere deinde, et speculando occurre, et vide iudicem venientem cum potestate magna, cum senioribus populi comitantibus universis angelis et sanctis.  76 Kap. 20, Z. 28–30: Cogita quam districte fiet ibi examinacio operum, locucionum, meditacionum et malarum affectionum. Omnia ibi nudaerunt et aperta, eciam que hic fuerunt palliata.

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Die Auferstandenen in Weltgerichtstafeln jener Zeit tragen im Einklang mit dem zeitgenössischen homo interior und homo exterior-Konzept ihren Zustand gleichsam auf dem Körper. Vor allem den Verdammten ist ihre ungeordnete Seele und sündhafte Verfasstheit am Körper abzulesen; ja, bei Rogier van der Weydens Weltgericht in Beaune ist sie es, welche die Verdammten ohne Antrieb durch Teufel oder Dämonen selbst in die Hölle streben lässt.77 Der Stifter in Memlings Triptychon hat sich in die linke Waagschale, gegenüber einem augenscheinlich Verdammten in der rechten, platzieren lassen. Doch dies ist nicht als Anmaßung eines erwarteten Status der Seligkeit aufzufassen – denn noch ist der Wiegevorgang für ihn nicht abgeschlossen. Eher ist der Augenblick des Prüfstandes eingefroren. Für den sich dort betrachtenden Stifter wird diese Darstellung im steten Abgleich zwischen sich und seinem jetzigen Zustand und jenem mit Furcht erwarteten und Hoffnung ersehnten Moment zum begleitenden Movens seiner kontinuierlichen Selbstüberprüfung im Gebet, die ihn sich selbst und Gott stufenweise und emotional erkennen lässt. Über diesen punktuellen Vollzug im Gebet hinaus soll ihm dies im alltäglichen Leben Habitus werden – der Mensch soll sein Leben gleichsam gefühlt auf der Waagschale des Engels leben.

Fazit In den Niederlanden des 15. Jahrhundert finden sich in Schrift und Bild im religiösen Kontext Beispiele für parallele und teilweise gemeinsam in einem Kodex auftretende Strategien, die den betenden Leser und Betrachter in seinem Bestreben einer emotionalen, selbstreflexiven Meditation unterstützen, wie sie in zeitgenössischen Meditationsanleitungen eingefordert wird. Dabei wird der Betende auf das leibseelische Wechselverhältnis zwischen Außen und Innen aufbauend in seinem körperlichen und innerlichen Zustand in Wort und Bild gespiegelt. Er wird anhand eines äußeren Bildes, das ihm in Handlung, Status und Haltung gleicht, über sein reales Äußeres in sein Inneres geführt. In diesem Sinne reflektiert er über den Körper die Seele, bis er das Dargestellte oder Geschriebene selbst „verkörpert“. Das Stifterbild vollendet diese Struktur – aus Rezeption wird endgültig Reflexion. Im Gebet vor dem eigenen Bild, im Betrachten des eigenen Gesichts zieht dieses den Beter nicht einfach ins Bild, sondern das Bild wird für ihn zur Spiegelfläche. In Betrachtung des Stifterbildes findet ein Rückverweis auf das eigene Gebet, die eigenen Emotionen statt: Zwischen seinem Bild und sich selbst vermag der Betende einen Affektraum aufzuspannen, in welchem er, indem er ihn als in seinem Inneren befindlich erkennt, sich selbst und seine Relation zu Gott zu erkennen vermag.

 77 Damit beschäftigt sich Christine Taxer 2011 in ihrer Dissertation.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Büttner 2002, 292. Abb. 2: Lukas – Art in Flanders VZW, photo Hugo Maertens. Abb. 3: Randall 1989, Kat. Nr. 137, Abb. 249. Abb. 4: Scheel 2013, 464. Abb. 5: Scheel 2013, 310. Abb. 6: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main. Abb. 7: BNF, Paris. Abb. 8: Scheel 2013, 465. Abb. 9: Scheel 2013, 465. Abb. 10: De Vos 1994, 86.

Michaela Bill-Mrziglod

Die Inner(welt)lichkeit des Gartens im 16. Jahrhundert Der Garten als Thema und Ort der Meditation In the Middle Ages and in the Early Modern Period, gardens as real earthly places as well as places charged with a variety of religious symbolism can be characterized as areas of sacred experience for religious individuals. Meditation and contemplation as the preferred forms of spiritual experience are connected with gardens as real places and their formation as a symbolic place for the lost paradise or the individual soul of man. This article focuses on gardens as a place and subject of meditation as well as on the renunciation of mere picture meditation during the Middle Ages and the orientation towards a real spatial and affective experience of creation. In times of crisis, such as during the Reformation and confessionalization, this development was increasingly directed to moral purposes by the churches, but at the same time it could offer religious individuals the prospect of emotional healing.

Der Garten ist kultur- und religionsgeschichtlich gesehen ein ‚Urbild des Glaubens‘.1 Nicht nur im Christentum spielten Gärten eine bedeutende reelle wie spirituelle Rolle. Der Garten ist wohl schon so alt wie die sesshafte Menschheit selbst und wurde in allen Zeitaltern, Kulturen, Religionen und Völkern als Schwelle zum Höheren in der Natur angesehen, das den Menschen übersteigt. Dies ließ Gärten stets als der Bedeutungsebene der Zeit enthoben erscheinen, was religiöse Menschen zu einer zeitlosen Kontemplation inspirieren konnte. Die Geschichte brachte eine ganze Bandbreite bedeutender Gärten hervor. Dazu zählen beispielsweise die zu einer solchen zeitenthobenen Kontemplation einladenden Zen-Gärten, die ‚hängenden Gärten der Semiramis‘, die die Griechen zu den sieben Weltwundern zählten, oder die ‚Liebesgärten‘ der griechischen Sagen, in denen Eros die Liebenden vereinte. Auch in den Metamorphosen des Ovid als eines Hauptvertreters der römischen Literatur wird die Welt als ein Garten beschrieben. Zudem ist der Garten in seiner Semantik unter anderem Ort der Prüfung, Versuchung und Gefährdung. Gerade im Mittelalter erzählen zahlreiche Ritterepen – darunter Chrétiens de Troyes Erec et Enide (um 1165) sowie Hartmanns von Aue Erec (um 1180) – von den (teils innerlichen) Kämpfen Erecs im Baumgarten. Verdichtete Gartenallegorien und Gartensymbolik spiegeln dabei oftmals das „Seelenleben“ in seinen einzelnen Stufen wider. „In ihren Kulturbedeutungen weisen Gärten so […] immer schon über sich hinaus auf etwas, das sie selbst nicht sind.“2

   1 Vgl. hierzu die Untersuchung mit gleichnamigem Titel von Hermann Kirchhoff: Urbilder des Glaubens. Labyrinth – Höhle – Haus – Garten, München 1988.   2 Landwehr 2007.

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Im Judentum entstand die Theologie des ‚Garten Eden‘ als Inbegriff der heilen, unversehrten Welt. Gott selbst wird im Alten Testament gelegentlich als Gärtner symbolisiert (2 Makk 1, 29). Schließlich besingt die biblische Weisheitsliteratur die Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Paradiesgarten. Den Höhepunkt dieser Sehnsucht stellt das Hohelied der Liebe dar. Im Neuen Testament als Ankerpunkt christlicher Theologie wird Gartensymbolik zwar nur noch an wenigen Stellen erwähnt – so der Garten Gethsemane, Jesus als Gärtner oder Rückbezüge auf den Garten Eden in der Johannesapokalypse –, jedoch erfährt er seit den ersten Kirchenvätern eine zunehmende Beliebtheit und Ausdeutung. Die frühe Katakombenmalerei ist Zeugnis dieser Beliebtheit, die sich durch die Darstellung blühender Gärten auszeichnet.3 Clemens von Alexandrien (ca. 150–215) allegorisierte erstmals Christus als ‚geistigen Garten‘ und das (Seelen-)Leben des einzelnen Christen als ‚blühenden Garten‘. Gärten sind in der religiösen Tradition also Orte der Besinnung und in alttestamentlicher Tradition Orte der Erkenntnis, nicht der Erholung.

1. Die Innerlichkeit des Gartens Vor allem das Hohelied fand rasch Eingang in die christliche Ikonographie. Speziell Hld 4, 12 wurde zur zentralen Bezugsquelle für die Liebe Christi zur Jungfrau Maria, das Urbild der Kirche: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut,/ ein verschlossener Garten,/ ein versiegelter Quell. Neben der Besingung Mariens als Garten wurde spätestens seit dem Mittelalter auch der konkrete Gartenraum bedeutsam, in dem sich Maria und weitere Personen befanden, die sich mit Maria assoziieren lassen. Bis ins späte Mittelalter wurde Maria in einem abgeschlossenen Garten, umgeben von Zäunen, Mauern oder Dickicht, dargestellt. Sogar die legendäre Einhornjagd wurde in den hortus conclusus verortet, denn das Einhorn war Sinnbild der Jungfrauengeburt (Abb. 1).4 Harald Schwillus wies in seiner Untersuchung zu Gartenkonzepten in der christlichen Spiritualität und Theologie auf die zunehmende Bedeutung dieser Analogie auch für Laien hin. Neue gesellschaftliche Entwicklungen im Mittelalter hätten zu dem Wunsch nach evangelischer Lebensweise auch außerhalb der traditionellen Klosterumgebung geführt.5 Spiritualität musste nachvollziehbarer werden, indem sich insbesondere die Bettelorden in ihren Volkspredigten der reichen Bilderwelt der Gartensymbolik bedienten. Doch auch die höfische Dichtung des Mittelalters wirkte sich entscheidend auf die mit Maria verknüpfte Gartenmotivik aus. Die Vorstellungen der höfischen Dame und des Gartens als Ort der Minne (locus amoenus) übertrugen sich auf Maria und die neu entstehende ‚Christusminne‘. Schwillus spricht in diesem Zusammenhang von einer „Inkulturation“, die mit der kommunikativen Übermittlung christlicher Theologie mit den Bildern und    3 Vgl. Kirchhoff 1988, 85. Etwas detaillierter noch bei Schwillus 2007, 64f.    4 Vgl. Kirchhoff 1988, 85.    5 Vgl. Schwillus 2007, 66.

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Abb. 1: Niederländischer Künstler, Hunt of the Unicorn Annunciation, aus einem niederländischen Stundenbuch, ca. 1500, New York, Morgan Library.

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Abb. 2: Tapisserie: Mystische Verkündigung; Maria mit Fons signatus im Hortus conclusus, Antependium, Niederrhein um 1500, München, Bayer. National Museum, Inv.-Nr. T 1687, Foto Nr. D19435.

Sprachmöglichkeiten der Zeit einherging.6 Die Sprachmöglichkeiten nährten sich entscheidend aus der jüdisch-christlichen Tradition: Ich komme in meinen Garten, Schwester Braut; ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam; esse meine Wabe samt dem Honig,/ trinke meinen Wein und die Milch. (Hld 5, 1). Und weiterhin: In seinen Garten ging mein Geliebter / zu den Balsambeeten, um in den Gartengründen zu weiden,/ um Lilien zu pflücken. (Hld 6, 2) Wenig später, und ebenfalls infolge der Laienpredigten und ihres seelsorglichen Impetus wurde der Garten dann zur Allegorie der Seele und der Tugenden.7 Vertreter der Renaissance erkannten den Nutzen des Gartens der realen Welt sowie der Imagination als Ort des Naturgenusses und gleichzeitig der Affektbeherrschung. Doch erst das 16. Jahrhundert brachte den Garten verstärkt mit der „Kultivierung der Seele“8 in Verbindung. „Über das Bild vom verschlossenen Garten wird aber

   6 Vgl. ebd., 68.    7 Vgl. Kirchhoff 1988, 86.    8 In ihrem Beitrag zur Verwendung des Gartenmotivs im humanistischen Tugenddiskurs formulierte Christiane Lauterbach diese Metapher in Bezug zu dem Philologen und Philosophen Justus Lipsius (1547–1606). Die Ausdrucksstärke dieses Bildes soll hier auf die allgemeine Spiritualität des 16. Jahrhunderts Anwendung finden. Das verwendete Zitat ist entnommen aus: Lauterbach 2007, 52.

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nicht fromme Denkungsart allein, sondern Theologie transportiert.“9 (Abb. 2.) Zudem trat seit dem späten Mittelalter das Konzept der Kultur mit der Verselbständigung des Naturbegriffes in Verbindung. Das Verhältnis des Menschen zur Natur änderte sich. „Das kontemplative, rezeptive Verhältnis des erkennenden Subjekts zur Natur geht über in ein produktives.“10 Natur sollte kultiviert werden, was einen erheblichen Einfluss auch auf die religiöse Inanspruchnahme der Natur mittels des Gebets hatte. Selbst neu aufkeimende mystische Strömungen konnten hier kein Gegengewicht mehr bilden, auch meditative Versenkung wurde zunehmend instrumentalisiert. Der Bildreichtum in Literatur und Kunst sollte beim Betrachter eine reiche Imaginationskraft wecken, er sollte imaginativ einer der Pflanzen des Gartens gewahr werden, sie in ihrer symbolischen Bedeutung erkennen und sein Leben entsprechend gestalten, ‚kultivieren‘. Doch bei aller Angleichung profaner Wissenschaft und sakraler Frömmigkeit darf das religiöse Potenzial einer wertschätzenden Auffassung von Natur nicht vergessen werden. Die Naturauffassung prägte das auf religiösen Strukturen wurzelnde Welt-Bild entscheidend, das kein anderes als das der Welt als Schöpfung war. Ich bezeichne die vorgestellten Sachverhalte, die sich im Mittelalter entwickelten und gerade wieder im 16. Jahrhundert zentral waren, als „Innerlichkeit des Gartens“, da der Garten symbolisch für das innere Wesen des Menschen und seine innere Gesinnung wie auch seine Tugenden stehen konnte. Gerade im 16. Jahrhundert kam es zu einer Rückbesinnung auf derartige mittelalterliche Bilder, vor allem im Katholizismus, häufig aber auch in den protestantischen Konfessionen.11 Dies ist in hohem Maße auf die spirituellen Reformen zurückzuführen, die mit Reformation und beginnender Konfessionalisierung einhergingen. Spätmittelalterliche Reformen, die insbesondere aus dem Geist monastischer Neuerungen, vor allem aber durch die Betonung des Innerweltlich-Geistlichen durch die Laienbewegung der Devotio moderna entstanden, wurden im 16. Jahrhundert fortgeführt. Alte Vorstellungen des Gartens brachen sich Bahn und konnten zu einer neuen Blüte gelangen, bis sie ihre Bedeutung im späten Barock wieder zunehmend verlieren sollten. Gerade die Rückbesinnung auf die Mystik im Katholizismus wie Protestantismus, die Exerzitien des Ignatius von Loyola (1491–1556) und die Popularisierung des ‚mentalen Gebets‘12 durch Teresa von Ávila (1515–1582) trugen zu dieser spirituellen Blütezeit und zu einer Stimmung der Verinnerlichung und Individualisierung der Frömmigkeit, gleichzeitig aber auch zu einer methodischen Einübung    9 Schmiedl 2011, 138.  10 Kann 2003, 41.  11 Ich beschränke mich in der vorliegenden Untersuchung auf die christlichen Konfessionen.  12 Das ‚mentale Gebet‘ (span. oracion mental), bisweilen auch als „inneres Gebet“ oder „Sammlung“ (span. recogimiento) bezeichnet, ist eine Meditationstechnik, die sich vom laut gesprochenen Gebet durch eine innere Versenkung unterscheidet, die mit Hilfe der Konzentration auf äußere und innere Sinne detailliert eine biblische Szene nachempfindet und letztlich in eine Gedanken- und Wortlosigkeit des Meditierenden führen sollte. Vgl. ausführlichere Erläuterungen bei: Kavanaugh 1997.

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in dieselbe bei. Über Meditationstechniken wie das ignatianische afectarse13 sollte das fromme Individuum zur Selbsterkenntnis und zur Verbesserung der Tugenden gelangen. Im Nachsinnen über einen konkreten Betrachtungsgegenstand sollte in einem gleichzeitig stattfindenden Akt des Verstandes, des Herzens und des Willens ein heilsamer Affekt entstehen, der letztlich in tugendhaften Entschlüssen gipfelte. Die Seele wurde als Spiegel der Tugenden verstanden. Die Methodik der ignatianischen Meditation setzte bei der Composición viendo el lugar – dem „Entwerfen eines Schauplatzes“ – ein, um schließlich in einer Vergegenwärtigung konkreter Sinneserfahrung fast schon synästhetischer Qualität zu gipfeln. In zahlreichen Bildern, Andachtsbildern, Emblemen, Erbauungsbüchern, der Poesie und auch im Theater wurde letztlich versucht, auch den Garten mit allen Sinnen zu meditieren und so ‚die eigene Seele zu kultivieren‘. Dies ist jedoch im 16. und frühen 17. Jahrhundert zu keiner Zeit ohne einen mystischen Bezug zu Gott zu denken, der Mensch ist hier nicht – wie später in der Aufklärung – ‚ohne Gott und Teufel‘ der alleinige Seelengärtner und dadurch absolut eigenständig.14 Zudem darf die normierende und kontrollierende Wirkung impliziter Anleitungen zur räumlich kontemplativen Vorstellungswelt – insbesondere in der jesuitischen propaganda fidei durch Bild und Theater – nicht aus dem Blick geraten. Die äußere Betrachtung eines konkreten Bildes oder Textes wie auch des Gartens an sich sollte zur Verinnerlichung führen und eine innere Umkehr des Menschen bewirken, um zu Gott zu gelangen. So beschreibt es Teresa von Ávila (1515–1582) im Buch ihres Lebens (11, 6) (1565): Einer, der anfängt, muß sich bewußt machen, daß er beginnt, auf ganz unfruchtbarem Boden, der von ganz schlimmem Unkraut durchwuchert ist, einen Garten anzulegen, an dem sich der Herr erfreuen soll. Seine Majestät reißt das Unkraut heraus und muß dafür die guten Pflanzen einsetzen. Stellen wir uns nun vor, daß dies bereits geschehen ist, wenn sich ein Mensch zum inneren Beten entschließt und schon begonnen hat, es zu halten. Mit Gottes Hilfe haben wir als gute Gärtner nun dafür zu sorgen, daß diese Pflanzen wachsen, und uns darum zu kümmern, sie zu gießen, damit sie nicht eingehen, sondern so weit kommen, um Blüten hervorzubringen, die herrlich duften, um diesem unserem Herrn Erholung zu schenken, und er folglich oftmals komme, um sich an diesem Garten zu erfreuen und sich an den Tugenden zu ergötzen.15 Ähnlich umschrieb der bedeutende spanische Theologe und Laienprediger Luis de Granada (1504–1588) in Rückgriff auf das Hortus-conclusus-Motiv den Sachverhalt: Lauffe derhalben O du mein Seel / lauffe mit fleiß vnnd sorgfeltigkeit / gleich wie die Impen thun / durch alle Blumen der volkomenheit dieses schoenesten Gartens / der inn der warheit ein verschlossener Garten mag genent werden.16 Die impen – die Bienen – sind dabei ein Bild der christlichen, jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits katholisch-konfessionell vereinnahmten Tugend der Jungfräulichkeit (Abb. 3).

 13 von Loyola 2005, Die Exerzitien, 12 (Nr. 16) und 38 (Nr. 97).  14 Vgl. zum Seelengarten seit dem späten 17. Jahrhundert Tabarasi 2007, 346.  15 von Avila 2006, 185.  16 Deutsche Übersetzung von de Granada 1588.

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Abb. 3: Paolo Aresi, Api volanti, Delle Sacre Imprese Di Monsigr. Paolo Aresi Vescovo Di Tortona. Libro cvarto, 1. In cui le fatte in lode di Chro. Sgnor N. e di altri Santi, e Beati si contengono, da singolari Discorsi …; Con le solite Tavole …, Tortona 1630, 82.

Aber auch in der profanen Literatur spielte der Garten in ganz ähnlicher Funktion eine besondere Rolle, wie man an der Poesie des weltlichen Dichters Jean Antoine de Baïf (1532–1589) erkennen kann, so beispielsweise im Gedicht Amymone, eine Figur der griechischen Mythologie: Dans ce Cyprien jardin Amour vint trouver sa mere, Comme pour son chef diuin, Auecque sa troupe chere, Vn tortis elle tissoit Des fleurs qu’elle choisissoit.17 (V. 122–127)

Die Liebe (eine Amor-Gestalt) fand im Garten ihre Mutter, die aus den Blumen (= Tugenden) des Gartens einen Strauß fertigte. Gartensymbolik spielte also auch in  17 de Baïf 1573, 77v.

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weltlicher Dichtung noch des späten 16. Jahrhunderts eine nicht zu unterschätzende Rolle. Geistliche Poesie findet darüber hinaus zu einer lyrisch-meditativen Betrachtung des geistlichen Gartens. In erneutem Rückgriff auf das Hohelied evozierte etwa der Karmelit Johannes vom Kreuz (1542–1591) in seinem Geistlichen Gesang (El cántico espiritual) das mystische Bild des Paradiesgartens als Utopie der Nähe Gottes und des Ortes der Gottesbegegnung (1577): BRAUT Halt ein, du toter Nordwind, komm Südwind, der du an die Liebe gemahnst, wehe durch meinen Garten, und seine Düfte mögen hinziehn, und der Geliebte wird unter Blumen weiden. GATTE Eingetreten ist die Gattin in den schönen, ersehnten Garten, und nach ihrem Verlangen ruht sie, ihren Hals zurückgelehnt in den süßen Armen des Geliebten. Unter dem Apfelbaum wurdest du mir angetraut, dort gab ich dir meine Hand, und wurdest du neu geschaffen, wo deine Mutter geschändet worden war.18 (V. 129–143)

Das affektive und sinnenbehaftete Nachempfinden in Anlehnung an die ignatianischen Exerzitien und die darin enthaltene Forderung des afectarse, damit zugleich Beispiel eines Erklärungsversuches des göttlichen Ursprungs der Natur und der damit zusammenhängenden vernunftgeleiteten Betrachtung derselben, kann zudem in Form poetisierter „Geistlicher Übung“ deutlich werden, so beispielsweise in einer Geistlichen Redondilla (~1600) der semireligiosen Spanierin Luisa de Carvajal y Mendoza (1566–1614), eine „Welt-Geistliche“, die ein religiöses Leben karitativen und missionarischen Engagements außerhalb verschlossener Klostermauern in der Welt leben wollte: Ich war so begünstigt, dass er mich bei der Hand fasste und sich in meinen Garten begab: O unbegreifliches Glück! Wenn die Blumen vor sich die Realpräsenz spürten,  18 vom Kreuz 2003, 179.

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schütteten sie mit hastiger Sorgfalt einen durchdringenden Geruch aus. Die Lilien zeigten sich so perfekt wie nie zuvor, und die Jasmine und Muskatrosen erneuerten ihr Weiß. […] Und das Grün, mit Freude und Frische bekleidete es sich, dass sich deutlich zeigte, dass es seinen Urheber kannte. […] Und überall im Garten verstreut breitete sich sein Duft aus; und in einen Himmel verwandelte sich mit dem, was ich sage, die Wüste.19 (V. 133–144; 161–164;173–176)

Das Nachempfinden der Natur mit allen Sinnen – das Riechen der Blumen, das Spüren der Präsenz Gottes, das Sehen der Farben – dokumentieren bereits einen Übergang weg von der bloßen Bildmeditation des Mittelalters hin zur sinnlich-rekapitulierten Schöpfungserfahrung, die bereits eine Form der natura experimentalis sein konnte, jedoch noch abgehoben von jeglicher real-räumlichen Erfahrung, die schließlich seit Beginn neuer spiritueller Bewegungen in Katholizismus wie Protestantismus im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung an Raum gewinnen sollte.

2. Die Innerweltlichkeit des Gartens So sehr sich die Forschung neuerdings den Meditationstexten und Meditationsanleitungen der Frühen Neuzeit widmet,20 so wenig waren bisher die konkreten Orte von Interesse, an denen meditiert wurde.21 Sie bilden im Zuge dieses Beitrags einen weiteren Schwerpunkt als „Orte der Imagination“. Und da Meditation stets Effekte evozieren und Emotionen in Form von Affekten wecken soll, können diese „Orte der Imagination“, bezogen auf den Garten, wahrlich auch zu „Räumen des Affekts“ werden. Imagination, Affekt und Raum gehen hier eine innerliche wie äußerlich sichtbare Verbindung ein. Der Garten wird nicht nur innerlich – und mitunter mittels Zuhilfenahme eines Bildnisses – meditiert, sondern er erhält seine

 19 Die deutsche Übersetzung der Geistlichen Redondilla Luisa de Carvajals ist entnommen aus: Bill-Mrziglod 2010, 55–57.  20 Vgl. in exemplarischer Auswahl: Sträter 1995; Kurz 2000.  21 Eine Untersuchung des Gartens als Meditationsraum im 17. Jahrhundert liegt vor von Tausch 2000.

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wahre Bedeutung erst durch die ‚sinnen-hafte‘ Erfahrung des realen innerweltlichen Ortes oder Raumes. Es gibt kaum ein anderes Thema der Meditation, das sich in einem entsprechenden Ort konkretisiert. Dieser Ort lässt sich in zweifacher Hinsicht klassifizieren. Garten wurde im 16. Jahrhundert zum einen nutzbar gemacht als Meditationsraum,22 er fand sich andererseits aber auch symbolisch im für das Christentum zentralen Gebets- und Meditationsraum, der Kirche. Dabei wurde er visuell erfahrbar beispielsweise in Wandmalereien, aber auch in Form illusionistischer „Paradiesmaschinen“23 im Innern von Kirchen. a) Garten im Meditationsraum Dass Kirchen in Bezug zum (Paradies-)Garten gestaltet wurden, hat eine lange Tradition. Noch heute werden die Vorhöfe vor allem großer Kathedralen, aber auch kleiner Kirchen als ‚Paradiese‘ bezeichnet, auch wenn sie mit einem Garten letztendlich nur noch wenig bis nichts mehr gemein haben.24 Die Kirche als sakraler Raum gehörte nicht unbedingt zu den behaglichsten Orten, und so schuf man sich – gerade in Krisenzeiten – illusionistische Darstellungen von Räumen der Alltagswelt. Dazu eigneten sich Natur und Garten als geordnete Form der Natur in besonderer Weise, ist er doch eine Art Ort außerhalb aller Orte, da er überall auf der Welt vorkommen kann. Somit wurde die Kirche zu einer „leibräumlich begehbaren Utopie“,25 um es mit den Worten Silke Leonhards auszudrücken. Alle Bereiche der Kirche wurden genutzt, um den Paradiesgarten sozusagen in die Kirche zu verlagern. Garten- und Pflanzendarstellungen finden sich an der Decke, auf dem Boden, an Altären, an den Wänden und an Pilastern. Interessant für die Frömmigkeitsgeschichte ist dabei, dass Pilaster und Säulen nicht selten dem paradiesischen „Lebensbaum“ nachempfunden wurden. Man griff hier sogar häufig auf altgermanische mythologische Motive wie das der „Irminsul“ (Irmensäule) zurück. Kirche wurde bisweilen als der Garten schlechthin verstanden. So schrieb der franziskanische Domprediger Johann Wild (1497–1554): Mein geliebter (spricht die liebhabende Seel) ist herab kommen in seinen Garten. Dieser Gart ist anderst nichts dann die heylig Christenliche Kirch oder versamlung der Glaubigen / den Garten hat Gott von alters mit seynem Zaum verwaret.26 Da nun religiöse Erfahrungen gerade auch in Kirchenräumen gemacht wurden und die Kirche somit zum Erfahrungsraum avancierte, verstanden als Interaktion zwischen dem betenden oder meditierenden Subjekt mit den symbolischen (Pflan 22 Zwar berichten bereits mittelalterliche Quellen über Meditationen im Garten – fast ausschließlich jedoch innerhalb des abgeschlossenen Klostergartens –, hier ging es aber weniger um die bewusst gesuchte Sinneserfahrung und die Einübung in religiöse Affekte, vielmehr stand hier das kontemplative oder mystische Gebet im Vordergrund.  23 Dazu ausführlicher bei Nelle 2005, 54.  24 Vgl. Kirchhoff 1988, 87.  25 Leonhard 2006, 296.  26 Wild 1557, 110v.

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zen-)Formen und Figuren, die in der Kirche dargestellt waren, kann davon ausgegangen werden, dass solche Räume bewusst als Gartenräume gestaltet wurden, um theologische Inhalte – beispielsweise eines Paradiesgartens – besser vermitteln zu können und so den Glaubensvollzug des Einzelnen anzuregen und zu vertiefen. Die Sehnsucht nach dem Paradies sollte geweckt, eine entsprechende sittliche Ausrichtung des Lebens sollte angeregt werden. Somit wurde auch im Kirchenraum der Garten beziehungsweise Pflanzenmotivik moralisch-spirituell vereinnahmt und diente der Formung des religiösen Individuums. Der Garten erscheint in der Kirche durch die Kirchenmauern als begrenzter Raum, konnte jedoch als Kontemplationsraum auch zu entgrenzenden mystischen Erfahrungen führen und eine Welt nicht von dieser Welt evozieren. Aber auch hier darf bei aller Hinwendung zur Verinnerlichung des Glaubens und Erschaffung einer räumlich-kontemplativen Vorstellungswelt im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts nicht vergessen werden, dass gerade die künstlerische Gestaltung des Kirchenraumes wie auch die zunehmende kämpferische Einsetzung des Theaters als propaganda fidei – insbesondere durch die Jesuiten –, bei der der Garten Eden auf der Bühne künstlerisch nachgebildet wurde, zunehmend stark moralisierende, kontrollierende und normierende Züge annehmen konnte. Naturbeherrschung stand hoch im Kurs. b) Garten als Meditationsraum Mit dem Garten in seiner Räumlichkeit geht der Aspekt der Geborgenheit und des Schutzes einher. Damit hängt die Definition des Gartens als begrenzter und geordneter Raum zusammen: das Individuum grenzt sich vom Chaos der Außenwelt ab und schafft zugleich ein geordnetes Inneres, in dem sich Heiliges offenbaren kann27 und das eine Orientierung in Krisenzeiten wie derjenigen der Reformation und Konfessionalisierung bot. Da die Religiosität und Spiritualität im 16. Jahrhundert zunehmend individueller wurden, ist es eine wenig überraschende Folge, dass nicht mehr nur die Kirche oder das Innere des heimischen Hauses als Meditations- und Gebetsraum genutzt wurden, sondern dass zunehmend der reelle Garten als Medi­ tationsraum diente und dies nicht wie im Mittelalter, wo Meditation von Nonnen oder Mönchen meist im verschlossenen Klostergarten praktiziert wurde, sondern mehr und mehr auch von Laien in der nicht eingezäunten Natur, in Flur und Feld. „Dadurch, dass der Garten wesentlich mehr Bewegungsfreiheit bietet, aber auch dadurch, dass in ihm die natürlichen Kräfte der Veränderung (Tageszeiten, Witterung, Wachsen) wesentlich deutlicher am Werk sind als in der Wohnung [oder in der Kirche (Anm. d. Autorin)], verlangt er geradezu danach, immer wieder aufs Neue körperlich wahrgenommen zu werden, indem er besichtigt und durchschritten wird, indem der sich darin aufhaltende Mensch riecht und schmeckt und hört und die verschiedenen Stimmungen [meditativ] in sich aufnimmt.“28 Nichts anderes versuchten die geistlichen Autoren des 16. Jahrhunderts den Menschen zu ver 27 Vgl. Hartig 2004, 69.  28 Ebd., 84.

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mitteln. Angefangen bei Ignatius von Loyola, der in seinen „Geistlichen Übungen“ bewusst die „Anwendung der Sinne“ forderte, über protestantische Autoren wie Hugh Latimer, der eine dezidierte Anweisung zur Meditation im Garten lieferte, bis hin zu weiblichen Autoren, die konkret über eine tatsächlich absolvierte Medi­ tation in der Natur berichteten – hier im Speziellen Teresa von Ávila und Luisa de Carvajal. Hugh Latimers (ca. 1485–1555) Anleitung zur Gartenmeditation verfolgte in humanistischer Tendenz didaktische Zwecke und sollte eine praktische Ausrichtung der Frömmigkeit und eine Einübung in die Tugenden bewirken: Our Saviour Christ had a garden, but little pleasure in it. You have many goodly gardens; I would you would in the midst of them consider what agony our Saviour Christ suffered in His garden. A goodly meditation to have in your gardens! It shall occasion you to delight no farther in vanities but to remember what He suffered for you. It may draw you from sin. It is a good monument, a good sign, a good monition, to consider how He behaved Himself in this garden.29 In memorativer Vergegenwärtigung der Todesängste Jesu im Garten Gethsemane sollte der Mensch seine eigenen Handlungen überdenken und in einer Imitatio Christi ein vollkommeneres Leben erlangen. Dieses Ziel verfolgte sicherlich auch Luisa de Carvajal, die in jesuitischer Manier der Composición viendo el lugar in Wald und Feld über den sich im Garten Gethsemane aufhaltenden Jesus meditierte: Mein Onkel, seine Töchter, sein Sohn und seine Schwiegersöhne gingen gewöhnlich zu den Feldern, Ufern und Baumgruppen der Flüsse; es gefiel mir außerordentlich, mich dort ein wenig abzusondern zwischen irgendwelchen Bäumen und schattigen, ruhigen Plätzen, um zu beten und über die Person des fleischgewordenen Wortes zu meditieren, während mich eine Erinnerung an ähnliche Orte, an denen ER gebetet hatte, rührte. Und wenn ich bemerkte, dass irgendjemand mich sehen konnte, meditierte ich beim Spazieren, um es besser verheimlichen zu können. Zu den Streuobstwiesen des Hauses ging ich mit Erlaubnis meines Onkels; und dort betete ich und meditierte, unter einem Baum sitzend und mit einem Leintuch über dem Gesicht wegen der enormen Helligkeit des Ortes.30 [Übers. d. Autorin aus dem Spanischen] Teresa von Ávila schätzte insbesondere die Lehrkraft der von Gott beseelten Natur, die ihr zum Gebet der inneren Sammlung dienlich war: Mir nützte es, Felder oder Wasser oder Blumen zu sehen. In diesen Dingen fand ich eine Spur des Schöpfers, ich meine, sie weckten mich auf und sammelten mich und dienten mir als Buch.31 Die Natur diente ihr „als Buch“, wurde Lehrmeisterin auf ihrem Weg zur Vollkommenheit und zu Gott.

 29 Latimer 1844, 225.  30 de Carvajal y Mendoza 1966, 168.  31 von Ávila 2006, 166 (9, 5).

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Schlussbemerkungen In der Beschäftigung mit der Thematik des Gartens und des ihm innewohnenden spirituellen – heute würde man vielleicht sagen psychisch heilsamen – Potenzials eröffnet sich ein breites Feld bisher kaum berücksichtigten Quellen- und Bildmaterials. Die Weiterentwicklung der Gartenidee vor allem seit der Epoche des Barock bis zur heutigen Wiederentdeckung des Gartens als Ort der innerlichen Ruhe und Selbsterkenntnis deutet auf ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Naturnähe hin, die nicht nur menschliche Emotionen und Affekte zu evozieren vermag, sondern die Natur ganzheitlich jenseits kommerzieller Interessen neu zu schätzen lernt. Der Verzwecklichung der Natur einerseits, ein Resultat des neuen Naturverständnisses seit dem ausgehenden Mittelalter, tritt somit nicht nur in der Frühen Neuzeit ein ebenfalls auf der ‚gottgegebenen‘ Vernunft – so die Vorstellung der noch nicht-säkularisierten Welt des 16. Jahrhunderts – basierendes Interesse an natürlichen Ordnungen entgegen, deren Mikrokosmos sich im kultivierten Garten als sakralem Raum spiegelt, welcher auch jenseits aller scientia experimentalis mittels kontemplativer Verinnerlichung erfahrbar werden konnte. So gelangt auch das neuplatonische Modell eines Nikolaus von Kues (1401–1464), der in der Natur die Entfaltung göttlicher Schöpfermacht erkannte, zu neuer Bedeutung. Garten wird in der heutigen Gesellschaft als Ort der Selbsterfahrung zunehmend wiederentdeckt. Die Bandbreite an Literatur, die sich dem Thema der Meditation im Garten nach Prinzipien des Feng-Shui oder mit dem Bezug zur Erneuerung des individuellen Seelen- und Herzenlebens widmet, ist kaum überschaubar. All diese ‚spirituellen Ratgeber‘ sind Resultat eines neuzeitlichen Verständnisses des Gartens spätestens seit dem 16. Jahrhundert als Ort der Imagination und Raum des Affekts sowie der Affektbeherrschung. Als Thema und Ort der Meditation hat der Garten also nichts an seiner Aktualität eingebüßt.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Hunt of the Unicorn Annunciation Joseph Zahavi/Morgan Library via http://www.suite101.com/view_image.cfm/358493. Abb. 2: Mystische Verkündigung, Maria mit Fons signatus im Hortus conclusus Nach: [3] Abb. S. 175 (Gesamtabb.), in: RDK 10 2004, Sp. 173/74. Abb. 3: Api volanti Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Hom. 121–4, 1, S. 82.

Martin Kirves

Die Einsiedelei als topischer Ort Johan und Raphael Sadelers Eremiten-Darstellungen This article sets out to question the notion of topos regarding its affinity to pictorial representation due to the implicit intersection between locus and argumentum. On the basis of the image sequence created by the Sadeler brothers, various pictorial embodiments of the topoi “desert” and “hermit” will be discussed in a second step. The inner relationships in these embodiments, I will argue, present the possibility of pictorial manifestations to transform the inherent locus into the topos. Furthermore, this transformation, with the assistance of the rhetorical capacity of the image, brings about a heightened understanding of the content of the topos.

In die Wüste gehen Der Gedanke daran, sich ohne Hilfsmittel und Begleitung in die Wüste zu begeben, weckt Vorstellungen von sengender Hitze und klirrender Kälte, von heillosem Verirren und täuschenden Halluzinationen, von schutzlosem Ausgeliefertsein an eine lebensfeindliche Umwelt, das notwendigerweise – sollte sich nicht das Wunder einer Errettung ereignen – zum elenden Verschmachten führt. Aber eben einen solch absurden wie selbstmörderischen Gang in die Wüste tritt der Einsiedler an und zwar nicht, um einen bestimmten Ort innerhalb der Wüste, sondern die Wüste als solche aufzusuchen. Sein Ziel ist der Topos ‚Wüste‘, dessen Beschaffenheit als vorgestellter Ort sich aus den oben angeführten Assoziationen speist. In solche topischen Wüsten wird der Betrachter von Johan und Raphael Sadeler geführt, um die dort lebenden Einsiedler aufzusuchen. Mit den zwischen etwa 1585 und 1600 erschienenen, insgesamt 118 Blätter umfassenden druckgrafischen Bildfolgen haben die Gebrüder Sadeler eine bildliche Fassung der weit verbreiteten Altväter-Bücher geschaffen.1 Die nach Zeichnungen von Maarten de Vos gestochenen Grafiken wurden – mit anspruchsvollen Frontispizen versehen – in vier Einzelfolgen herausgegeben.2 Darüber hinaus wurde der Bildbestand nach dem Tod Johans durch seinen Sohn Justus erweitert, was zusammen mit den Nachstichen und Adaptionen durch andere Hände von einer anhaltenden Nachfrage zeugt.

   1 Zur Corpusbildung und Diversität der ‚Vitaspatrum‘-Literatur siehe: Battle 1972, Klein 1984, Schulz-Flügel 1987, Konrad/Williams/Kaiser 1987 und Williams 1996.    2 Das Berliner Kupferstichkabinett bewahrt einige der Vorzeichnungen von Maarten de Vos auf.

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Bevor wir mit den Gebrüdern Sadeler den Gang in die Wüste antreten, gilt es jedoch, zunächst das Ziel dieses Ganges zu konturieren und nach dem Status des topischen Bildortes zu fragen.

Topische Orte Im Folgenden sollen weder die verschiedenartigen Bedeutungen des Topos-Begriffs und die mit ihm assoziierten Themenfelder dargelegt noch eine eigenständige Theorie des Topos entwickelt werden.3 Ziel ist es, durch Herausstellung des Zusammenhangs zwischen rhetorischem Topos und Bildlichkeit ein Instrumentarium zu gewinnen, mit dem die spezifische Örtlichkeit der Sadelerschen Stiche erschlossen werden kann. Durch diesen Zugriff werden die Stiche zugleich als Paradigmen einer charakteristischen Form des Bild-Ortes perspektiviert, wodurch ihnen eine übergeordnete bildtheoretische Relevanz zuwächst. Die beiden in den antiken Wurzeln des Topos-Begriffs angelegten miteinander verflochtenen Bedeutungsdimensionen, aus denen sich seine potenzielle Bildlichkeit speist, sind der Topos als Lokalität und der Topos als Sitz des Arguments. In der ars memoria erleichtern die auf bestimmte Weise miteinander verknüpften Erinnerungsorte (Topoi oder Loci) das Wiederauffinden des Memorierten. Durch den Topos ist das Wissen an einem metaphorischen Ort innerhalb einer imaginären Topographie verankert, sodass es im Gedächtnis an diesem Ort aufgesucht werden kann. Um die Korrelation zwischen dem zu Memorierenden und dem Topos zu stärken, kann der Topos – im Sinne einer Eselsbrücke – auf einen Ähnlichkeitsbezug entweder mit der zu erinnernden Sache oder dem sie bezeichnenden Wort hin ausgeprägt sein. Generell ist die memorierende Wirkung eines Topos dann besonders intensiv, wenn dieser ein affektauslösendes Potenzial aufweist.4 Die Anordnung und Verbindung der metaphorischen Orte kann wiederum durch die Raummetaphorik eines Gebäudes erfolgen, innerhalb dessen dem zu Memorierenden ein bestimmter Raum als Ort zugewiesen wird. Tritt die Vernetzung der metaphorischen Orte in den Vordergrund, nimmt die imaginäre Topographie die Form eines grafisch darstellbaren Schemas an, welches das Wissen nicht nur räumlich lokalisiert, sondern zwischen den zu memorierenden Einzelheiten Bezüge aufzeigt und damit einen inhaltserschließenden visuellen Begründungszusammenhang etabliert. Bereits innerhalb der ars memoria sind Topoi folglich nicht nur wissensverwaltend, sondern gerade aufgrund ihrer Bildlichkeit auch wissenserzeugend. Dieser generative Charakter der Topoi wird nun vollends dadurch aktiviert, dass Aristoteles den ursprünglich in der ars memoria beheimateten Topos-Begriff in das Arsenal

   3 Zum Facettenreichtum des Topos-Begriffs siehe: Pichler 2009, 13–66.   4 Zur ars memoria: Carruthers 1998.

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der Dialektik aufnimmt.5 Die Topoi sind nun Findemittel, um Prämissen für ein Argumentationsziel ausfindig zu machen, wozu Aristoteles in seiner Topik verschiedene Kategorien entwickelt. Die Topoi sind aber kein rein methodisches Instrumentarium, das mit dem Auffinden der gesuchten Prämissen seinen Zweck erfüllt hätte. Entsprechend ihrer wissenserschließenden Kapazität in der ars memoria gehen sie ihrerseits in die Argumentation mit ein.6 Daher fasst Cicero die Topoi als Sitz des Arguments (sedes argumentum), wobei er zugleich die Kategorien, vermittels derer die Prämissen einer Argumentation überhaupt erst aufgefunden werden sollen, in einen Katalog von loci communes verwandelt, die als Prämissen für eine mögliche Argumentation dienen können.7 Diese Gemeinplätze sind für Cicero keineswegs zu überwindende Vorurteile, vielmehr handelt es sich um allgemein geteilte Wahrheiten, was die Gemeinplätze nicht allein legitimiert, sondern zu geforderten Mitteln einer überzeugenden Beweisführung macht.8 Das methodologische wie bildtheoretische Potenzial des skizzierten Topos-Begriffs liegt in der skizzierten Verschränkung von Argument und Ort, die sowohl innerhalb der ars memoria als auch innerhalb der Dialektik respektive der Rhetorik gegeben ist und es erlaubt, der Inhalt-Form-Dichotomie zu entgehen: Das Argument erfährt durch den Topos eine örtliche Rückbindung, wobei der Topos selbst argumentativ wirksam wird, was Aristoteles durch die Verben ‚sehen‘, ‚blicken‘ und ‚schauen‘ verdeutlicht, mit denen er die Topoi als Hinsichtnahmen umschreibt und damit zugleich darauf aufmerksam macht, dass ihre argumentative Leistung auf einer Form der Visualität beruht.9 Das In-Hinsicht-Stehende – der locus communis – ist aber keineswegs selbst visuell verfasst. Indem der metaphorische Merkort der ars memoria als sedes argumentum seinerseits zum memorierenden Gehalt wird, verliert der Topos seine metaphorische Qualität. Er ist nicht mehr metaphorischer Ort, sondern bloß metaphorisch Ort. Ein Ort, der ein Einsehen ermöglicht, das ebenfalls ein bloß metaphorisches Sehen ist. Damit ist der rhetorische Topos zwar nicht genuin auf Bildlichkeit angewiesen, es besteht aber dennoch eine Affinität zur Veranschaulichung, die vom Merkort auf den argumentativen Gehalt übergegangen ist und sich in dem Verlangen kundtut, die Relevanz des abstrakten Gemeinplatzes durch ein anschauliches Beispiel lebendig vor Augen gestellt zu bekommen. Eine solche visuelle Exemplifikation des Topos vermag – der ars memoria entsprechend – zuvor nicht gesehene Bezüge aufzuzeigen und Begründungszusammenhänge zu stiften, die das argumentative Potenzial des Topos nicht allein aktivieren, sondern auch um   5 Denn wie der Mnemoniker nur die mnemonischen Örter vor sich zu haben braucht, um durch sie sofort an die Sache selbst erinnert zu werden, so werden einen auch diese Stücke im Schließen geschickt machen, weil man die gedachten Prinzipien und Sätze in bestimmter Zahl vor sich hat (Aristoteles 1995 Bd. 2, 201).    6 „In gewisser Weise sind aber auch die […] Hilfsmittel Sätze“ (Aristoteles 1995 Bd. 2, 16).    7 Cicero 1983, 7.    8 In dieser Hinsicht kommt den Gemeinplätzen sogar eine gesellschaftsbildende Kraft zu (Bornscheuer 1976, 89).    9 Bornscheuer 1976, 28.

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neue Aspekte erweitern, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Veranschaulichung nicht allein in Form einer Metapher, sondern anhand eines gegenständlichen Bildes erfolgt. Im Bild konkretisiert sich der Topos als bloß metaphorisch zu verstehender Ort zum realen Bild-Ort, sodass das metaphorische Sehen zum tatsächlichen Betrachten wird. Da es sich bei Topoi aber keineswegs – wie im Fall der Wüste – einzig um Lokalitäten handelt, ist der Bild-Ort, zu dem der Topos konkretisiert wird, im umfassenden Sinne eines bildlichen Gegebenseins zu verstehen. Bei der Konkretion fungiert der Topos aber nicht als Urbild seiner bildlichen Veranschaulichung. Die Wüste als solche ruft zwar bildliche Vorstellungen hervor, ist aber nicht selbst konkretes Bild. Der Topos ist eben kein imaginärer Ort, sondern ein Ort der Imagination, welche durch den kulturell geprägten Gehalt des Topos ausgerichtet wird.10 Nur weil der Topos in diesem Sinne un-bildlich ist, vermag er ein Ort der bildlichen Fülle zu sein, der ein Bildpotenzial birgt, das zu je diesem spezifischen Bild-Ort konkretisiert wird. Ebenso wenig wie sich der Bild-Ort auf ein Urbild bezieht, ist er also einem realen Ort nachgebildet, auch wenn die Konkretion des Topos durch einen solchen Ort inspiriert sein mag. Der Bild-Ort stellt den Topos dar, indem er ihn gemäß einer seiner möglichen Erscheinungsformen bildlich herstellt. Für seine bildliche Präsenz ist es bereits hinreichend, ihn einzig durch eine emblematische Abbreviatur aufzurufen. Hierin unterscheidet sich der topische Bild-Ort von einem Landschaftsbild, das sich ja gerade dadurch als Landschaftsbild konstituiert, dass es die Landschaft in extenso veranschaulicht. Um demgegenüber etwa den Topos eines locus amoenus ins Bild zu setzen, kann bereits die Andeutung von Hain, Blumenwiese und Quelle hinreichend sein.11 Vermag eine minimale Ortsmarkierung dieser Art innerhalb der Literatur ein dichtes Vorstellungsbild zu evozieren, beschneidet im Bereich der Bildlichkeit eine derartige rein indikative Darstellung jedoch das visuelle Explikationspotenzial des Bildes, das erst dann seine volle Überzeugungskraft entfaltet, wenn der Topos zu einem visuellen Erlebnisraum ausgeformt wird, der einen affektiven Nachvollzug des topischen Gehalts eröffnet.  10 Ernst Robert Curtius hat als Erster den Topos-Begriff als wissenschaftsmethodisches Instrument fruchtbar gemacht und eine „historische Topik“ skizziert, die den Topos als das kulturspezifisch variabel Invariante auffasst, sodass sich kulturelle Umbrüche zwar anhand von neu aufkommenden und untergegangenen Topoi ablesen lassen, vor allem aber bilden die Topoi in ihrer für Revitalisierungen offenen Persistenz ein charakteristisches ‚Strukturgefüge‘ für solche Großzusammenhänge wie den „abendländisch-europäischen Kulturkreis“ (Curtius 1938, 129–143; Curtius 1948, 13–26, 92. Kritisch dazu: Jehn, 1972, VII-LXIV). Lothar Bornscheuer sieht in den Topoi gar Manifestationen einer gesellschaftlichen schöpferischen Einbildungskraft (Bornscheuer 1976, 19). Im Gegensatz zur Kunst traute Curtius der Literatur eine „zeitlose Gegenwart“ zu, in der das Vergangene gegenwärtig ist, während die bildende Kunst durch ihre Form einzig das Zeitbedingte zur Darstellung bringen könne (Curtius 1948, 24 f.). Daraus haben sich Missverständnisse zwischen Curtius und Warburg ergeben, dessen Pathosformel ein dem Topos-Begriff affines Konzept darstellt. Siehe dazu: Pfisterer 2003, 21–47. Wie sich der hier anvisierte Topos-Begriff zur „absoluten Metapher“ Hans Blumenbergs verhält, die Blumenberg kritisch dem Topos-Begriff entgegensetzt, kann hier nicht eigens behandelt werden.  11 Curtius 1942, 222–227.

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In diesem Drang zur phänomenalen Fülle liegt eine Tendenz des topischen Ortes zur Landschaftsmalerei. Eine Tendenz, die durchaus zu einer sukzessiven Transformation des topischen Ortes in die Landschaftmalerei beigetragen haben mag und damit ein entscheidendes Initial bei der Etablierung der Landschaftsmalerei als eigenständige Gattung bildet. Trotz der Tendenz zur visuellen Fülle und der damit gegebenen Affinität zur Landschaftsmalerei erfolgt die Erzeugung des Bildsinns vermittels topischer Orte dennoch auf eine der Landschaftsmalerei geradewegs entgegengesetzte Weise. Um dies zu verdeutlichen, stellen wir die Landschaftsmalerei und den topischen Ort in einer idealen Polarisierung gegenüber: Mag auch die Landschaft des Landschaftsbildes auf etwas die konkrete Landschaft Übersteigendes verweisen, geht die Landschaftsmalerei von einem realen Ort aus, den sie daraufhin transformiert, dass der Bildsinn aus der phänomenalen Erscheinung eben dieser Landschaft hervorgeht. Der Bildsinn des topischen Ortes hingegen speist sich nicht aus der Fokussierung eines zunächst semantisch offenen realen Ortes, sondern aus dem seitens des Topos vorgegebenen Gehalt. Sein spezifischer Realitätscharakter ist also nicht real geerdet, sondern liegt darin, ein auf seinen topischen Gehalt hin fokussierter ‚Ideal‘-Ort zu sein, der als Bildrealität veranschaulicht wird. Und – was ganz entscheidend ist – der Topos wird überhaupt nur ins Bild gesetzt, um einen bestimmten argumentativen Zweck zu erfüllen, der auf etwas anderes als die Landschaft selbst zielt, in unserem Fall auf die Lebensform des Einsiedlers. Aufgrund seiner argumentativen Bedeutsamkeit ist der topische Ort aber auch nicht als bloße Kulisse zu verstehen, die nun einmal vom Darstellungsgegenstand als Dekorum gefordert wird. Freilich sinkt der Bild gewordene Topos zu einer solchen Kulisse herab, wenn das Bildargument nicht inhaltlich durchdrungen, sondern einzig der Form halber vorgetragen wird, sodass der Topos tatsächlich zum inhaltsleeren Klischee verfällt. Da der topische Ort als sedes argumentum also der bildlichen Argumentation bereits bildintern Mittel zum Zweck ist, weist er einen per se anderen Status als die Landschaft der Landschaftsmalerei auf. Vor dem Hintergrund der skizzierten Bestimmung des topischen Bildortes muss die Klärung, was ein visueller Topos sei, gar nicht von der Frage ihren Ausgang nehmen, wo im Bild die Topoi ihren Ort haben und wie sie bildintern vom Nicht-Topischen abgegrenzt werden können oder, wenn sich eine solche Abgrenzung als unmöglich erweist, ob Bilder nicht stets lückenlose Konglomerate von Topoi seien oder möglicherweise sogar das Bild als solches den gesuchten Topos darstellt. Um welchen Topos es sich auch immer handelt, er lässt sich als solcher weder im noch am Bild auffinden. Er ist einzig in einer auf die jeweilige Argumentation hin zugespitzten Ausformung als topischer Bildort gegeben, der innerbildlich deutlich ausgestellt, ebenso gut aber auch ins Bildgefüge eingeflochten oder auch nur als eine den Bildraum atmosphärisch bestimmende Einfärbung präsent sein kann.12  12 Wilhelm Schmidt-Biggemann beschreibt „die Topik in der klassischen Kunst als Arrangement von gegebenen Topoi (Elemente, Motive, Themen) nach der Maßgabe von Schönheit und Proportion“ (Schmidt-Biggemann 2003, 17).

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Hatte der Seitenblick auf die Rhetorik gezeigt, dass ein Topos nicht um seiner selbst willen gegeben, sondern stets in einen Argumentationszusammenhang eingebunden ist, so hatte der Seitenblick auf die ars memoria wiederum verdeutlicht, dass Topoi innerhalb eines topographischen Verbundes stehen. Die spezifische Verbindung der im Plural gegebenen Topoi wird durch die Logik der Argumentation festgelegt, so dass ein auf das Argumentationsziel ausgerichtetes hierarchisch organisiertes Bezugssystem entsteht, welches im Bereich der Bildlichkeit die Bildordnung herstellt. Eine so verstandene Bildtopographie ist ein visuell verfasstes argumentatives Strukturgefüge. Dabei verwässern auch höchst differente Konkretionen der Topoi und ihrer Relationen untereinander die Argumentation nicht in ihrer Stichhaltigkeit, sondern legen das eingeholte Argumentationsziel auf eine gleichermaßen inhaltserschließende wie immer wieder neu affizierende Weise aus. Die variierende Wiederholung des ‚Immer-Gleichen‘, wie sie bei den Einsiedlerdarstellungen der Gebrüder Sadeler zu beobachten ist, führt mithin keineswegs zur Entleerung des topischen Gehalts, sondern zu seiner multifokalen Verfestigung. In diesem Zusammenhang kann ganz allgemein festgehalten werden, dass die Überzeugungsintensität, die ein Bild durch eine affektiv eröffnete Tiefenerschließung des argumentativen Gehalts freizusetzen vermag, ein primäres Qualitätskriterium darstellt, an dem die jeweilige Konkretion der Topoi im Vergleich mit anderen Ausformungen bemessen werden kann. Werden Bilder wie die hier zur Betrachtung stehenden also als ein um seiner rhetorischen Überzeugungskraft willen argumentativ ausgerichtetes topographisches Strukturgefüge verstanden, ist es zur Verwendung des Topos-Begriffs als quellenerschließendes Instrument weder notwendig, die seitens der Rhetorik erfolgende Einteilung der Rede in exordium, narratio, argumentatio und conclusio auf das Bild zu übertragen und womöglich innerbildlich zu sondieren, noch muss eine kategoriale Abgrenzung gegenüber Begriffen wie ‚Motiv‘, ‚Symbol‘, ‚Allegorie‘ oder ‚Metapher‘ erfolgen. Was hinsichtlich begrifflich gefasster rhetorisch-hermeneutischer Zusammenhänge vermittels des hier skizzierten Topos-Begriffs allerdings durchaus geleistet werden kann, ist eine dem vierfachen Schriftsinn folgende Auslegung des topischen Ortes, hinsichtlich seiner literalen, typologischen, tropologischen und anagogischen Bedeutung, die daraufhin untersucht werden können, inwiefern sie sich innerhalb des argumentativen Bildgefüges durch ihre wechselseitige Explikation gegenseitig begründen und auf diese Weise zur Verdichtung des Bildsinns führen. Die Reflexion darauf, dass ein topischer Bild-Ort einen Topos bildlich konkretisiert, um ihn innerhalb einer topographisch organisierten Bildargumentation wirksam werden zu lassen, erweist den zu verbildlichten Topos – um dies nochmals zu betonen – als eine erst zu modellierende Größe, die im Bild verschiedenartigste Ausformungen annehmen kann, weshalb der Topos ‚Wüste‘ keineswegs stets unsere heutige, am Paradigma der Landschaftsmalerei orientierte Erwartung erfüllt, es müsse sich bei der Veranschaulichung des Topos ‚Wüste‘ um die Darstellung einer tatsächlichen Wüste handeln. Um das argumentative Potenzial des Topos ‚Wüste‘ freizusetzen, kann die Wüste ebenso gut als schier auswegloser Wald erscheinen, was bei den Bildfolgen der Gebrüder Sadeler häufig der Fall ist.

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Nach diesen Vorüberlegungen zum Topos ist unser Blick nun hinreichend vorbereitet, um die Einsiedler in ihren Wüsten aufzusuchen. Dabei werden wir uns allerdings nur wenigen Grafiken unter ausgewählten Gesichtspunkten zuwenden können, da für eine detailliertere und tiefergehende Betrachtung eine umfassende monographische Untersuchung der Bildfolgen erforderlich wäre.

Un-Ort Suchen wir den Einsiedler Zenon auf, der bei Antiochia in einem leeren Grab gelebt haben soll, finden wir uns in den Tiefen eines Waldes wieder, in dem sich Zenon heillos verirrt hat (Abb. 1).13 Die mächtigen Stämme der Bäume scheinen mit schier unbändiger Kraft ordnungslos in ihren Krümmungen gegeneinander anzuwachsen, wobei sich das dichte Laubwerk derart zusammenschließt, dass das Walddickicht hinter Zenon zur dunklen Wand wird.14 Der Wald als undurchdringlicher und zugleich auswegloser Ort voller lauernder Gefahren war das der Wüste entsprechende lebensfeindliche Gebiet des Nordens, was sich in der Gleichsetzung von Wald und Wüste niederschlug.15 In ihrer Ausformung als Wald ist die Wüste nicht weniger existenzbedrohend, weshalb Zenon um Nahrung betet. Daraufhin erscheint ein Engel, der ihm Brot darbietet und den Weg aus der Wüste weist. Trotz seines Verlangens bleibt Zenon jedoch ungerührt. Der himmlische Jüngling, so teilt der Untertitel mit, ist dämonischer Art. Und eben die Standhaftigkeit, nicht der Versuchung erlegen zu sein, sondern dem als diabolisch durchschauten Engel widerstanden zu haben, stärkt Zenon innerlich. Hat sich der vermeintliche Engel herabgesenkt, wovon das noch von unten aufgewehte Gewand zeugt, scheint sich im Gegenzug der von der Erscheinung unangefochten weiterbetende Zenon zu erheben: Sein Niederknien ist ein Aufrichten, das zum Aufsteigen wird, was der leichte S-Schwung seines Körpers anzeigt, der in der Stellung der himmelwärts gerichteten Augen kulminiert und auf seine Weise die Pathosform der aufschwebenden Maria in Tizians Assunta erfüllt. Zenons Aufstieg vollzieht sich bildintern jedoch nicht als reales Geschehen, was hieße, dass sich der Betrachter Zenon als tatsächlich aufschwebend zu denken hätte. Der Aufstieg ist innerlicher Art und kann als solcher äußerlich nur im Modus der Allegorie überzeugend zur Darstellung kommen, wobei die Allegorie zusätzlich symbolisch flankiert wird: Am linken Bildrand breitet jene Taube ihre Flügel aus, die in der Vita Zenons mit dem Bezug auf Psalm 55,7–8 erwähnt wird und von seinem Verlangen kündet, „in die ewige Ruhe hinaufzufliegen.“16 Und gegenüber sitzt ein Eichhörnchen, das aufgrund seines rot zu denkenden Fells und seiner geräuschlosen Geschwindigkeit für den Teufel einsteht. Wie der vermeintliche Engel  13 Holl. (=Hollstein XLVI, XLVI: Maarten de Vos) 1055, Rosweyde 1691, 923–925.  14 Vgl. zur Darstellung des Waldes: Franz 1968, 15–38.  15 Hamburger 1990, 153; Wunderli 1991, 87.  16 Rosweyde 1691, 923.

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Abb. 1: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Zenon, 1600.

ist der Teufel plötzlich gegenwärtig und hat es darauf abgesehen, von einem Augenblick auf den anderen die jahrelangen Anstrengungen des Einsiedlers zunichte zu machen. Daher bedeutet die Schneise nicht den gesuchten Rückweg zur Klause, sondern die vom Versucher eröffnete Rückkehr in die Welt. Aus dieser Perspektive ist das angebotene Brot keineswegs die notwendige Nahrung, die Zenon aufgrund seiner menschlichen Natur einzunehmen gezwungen ist, sondern ein Brot, das Zenon gar keine sättigende Speise sein kann, da es sich um jene weltliche Nahrung handelt, deren Verweigerung das Empfangen des göttlichen Mannas überhaupt erst ermöglicht. Der in die Welt führenden Schneise gegenüber zeichnet sich ein anderer, erleuchteter Pfad ab, welcher den wahren, über die Welt hinausführenden Weg darstellt. Damit ist Zenon – wie Herkules – an einem Scheideweg positioniert. Doch anstelle der Tugend, die Herkules zu überzeugen trachtet, sitzt hier ein Salamander und versperrt Zenon den zur Lichtquelle führenden Weg, indem seine Kälte das Feuer des Glaubenseifers zu erlöschen droht. Zenon wird mithin von beiden Seiten bedrängt. Will er weder den Versuchungen der Welt nachgeben noch seinen Glaubenseifer erkalten lassen, ist er gezwungen, an eben jenem Ort zu verharren, an den

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ihn seine äußerste Not, die diesseitig unstillbare Sehnsucht nach Gott, geführt hat. Das Ausharren an eben diesem Ort – der Wüste als solcher – mit all seinen lebensbedrohlichen Entbehrungen und dämonischen Anfechtungen ermöglicht es, in höchster, auf Gott hin ausgerichteter Angespanntheit sich selbst, das heißt seine Weltverhaftetheit, so weit zu überwinden, dass bereits diesseitig eine Erhebung zur himmlischen Seelenruhe, zur requies animae erfolgen kann, welche die Einsiedler einem Widmungstext der Gebrüder Sadeler entsprechend exemplifizieren.17 Am Ort einer konkreten Ausformung des Topos ‚Wüste‘ hat Zenon die durch diesen Ort gegebene Möglichkeit der Selbstüberwindung realisiert. Eichhörnchen und Taube – die beiden entgegengesetzten Bedeutungspole – sind voneinander abgewandt, wobei die vom Licht erleuchtete Taube auf dem Pfade der Wahrheit – jenseits des Salamanders, den Zenon durch seine Standhaftigkeit überwunden hat – die Flügel zum Flug ausbreitet. Die Zenon aufgrund der bestandenen Prüfung zuteilwerdende Gnadenwirkung, die neben der Aufstiegsbewegung subtil durch die wie ein Heiligenschein wirkende Hutkrempe angedeutet wird, ist das göttliche Manna, das ihn tatsächlich sättigt. Zenon hat sich also mitnichten heillos in der Wüste verirrt, vielmehr ist er an jenem Zielort angelangt, an dem er der über die Welt hinausführenden göttlichen Gnade teilhaftig wird. Dass sich Zenon am Zielort befindet, verdeutlicht seine Position in der Bildmitte, wo er durch die hügelartige Erdscholle hervorgehoben wird, die zugleich als Fundament seines Aufstiegs fungiert. Auch die Zenon beidseitig überwölbenden Bäume binden ihn eben dort, wo er situiert ist, wobei er zusätzlich durch das keilartige Dreieck, welches das von den beiden Schneisen abgeteilte Waldstück bildet, in den Vordergrund gerückt und an seinem Ort gehalten wird. Die beiden Zenon im Hintergrund flankierenden Bäume weichen hingegen leicht zur Seite und geben eine aus der Dunkelheit hinausführende Öffnung nach oben frei. Es gibt mithin keinen innerweltlichen Weg, der weiter führen könnte. Zenon hat Pilgerstab und Buch abgelegt, er ist, in der Wüste als solcher, am Ziel angelangt. Dies wird nochmals ausdrücklich durch die Darstellung von Possidonius hervorgehoben, der von Hunger getrieben seinen Ort verlässt und, von einem geharnischten Ritter zurückgetrieben, in seiner Höhle die reichen Früchte der göttlichen Gnade findet.18 Angesichts einer solchen stabilitas loci, die das Verharren in der Wüste als solcher bezeichnet, geht mit der Formierung des Bild-Ortes nicht der Anspruch einher, die innerweltliche Lokalität, an der sich der Einsiedler gemäß seiner jeweiligen Vita aufgehalten hat, so zu veranschaulichen, wie dieser Ort tatsächlich beschaffen gewesen ist. Der topische Ort entfaltet seinen Gehalt dadurch, dass er einer solchen Verortung prinzipiell enthoben ist. Daher muss die Darstellung, um topisch wahrhaftig zu sein, keinesfalls mit den Ortsinformationen der Viten-Texte übereinstimmen, zumal sich diese Ortsangaben ohnehin in der Regel auf die Nennung der Behausungen wie Höhlen, Gräber und Ruinen beschränken und somit ihrerseits zum topischen Gehalt der Wüste gehören. Die Unabhängigkeit der Veranschauli 17 B (=The illustrated Bartsch 70,2) 408.  18 Holl. 1056.

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chung der Wüste als solcher von der tatsächlichen Beschaffenheit des realen Ortes kann, wie dies in älteren illustrierten Altväter-Büchern der Fall ist, so weit gehen, dass für die Verbildlichung völlig unterschiedlicher Orte dieselben Darstellungen verwendet werden, wobei dann allerdings nicht mehr die je exemplarische Anschaulichkeit gegeben ist und das Bild eher als Gerüst einer zu konkretisierenden Vorstellung dient.19 Aber selbst in diesem Fall wird der reale Ort, an dem der Einsiedler gelebt hat, weder in ein imaginäres Nirgendwo verlegt noch für irrelevant erachtet. Die Nennung der jeweiligen Gegend, in der sich der Einsiedler aufgehalten hat, ist ein konstitutives Moment seiner Vita und geht in der Regel in die Untertitel der Eremitendarstellungen ein. Erst als sich unter der Einwirkung der kritischen Philologie auch der Blick auf die Bilder dahingehend gewandelt hatte, zwischen ‚historischer Tatsache‘ und ‚erzählerischer Einkleidung‘ zu unterscheiden, wurde das Verhältnis von topischem und realem Ort problematisch. Um vor diesem Hintergrund das Potenzial des topischen Bildortes zu bewahren, hat Anthony Earl of Shaftesbury am Beginn des 18. Jahrhunderts die historische von einer poetischen Wahrheit abgehoben und beide dahingehend ins Verhältnis gesetzt, dass der von den kontingenten Umständen purifizierte Gehalt der historischen Wahrheit durch die poetische Wahrheit zum Ausdruck gebracht werde. Um eben dies zu leisten – so können wir ergänzen –kann der topische Ort durch die Aktivierung des gesamten symbolisch-allegorischen Arsenals präzisiert werden, ohne dass es dadurch – wie dies bei der Landschafsmalerei der Fall wäre –zu Brüchen in der Bildrealität käme. Daher betonen die Gebrüder Sadeler in dem ‚Paragramma‘ betitelten Widmungstext, die seit Langem vergessenen Orte der Einsiedler wiedererrichtet zu haben.20 Aber trotz des poetischen Freiraums, den Shaftesbury der Kunst um der Wahrheit willen einräumt, war er ein Initiator der im Namen der Wahrheit erfolgenden Reinigung des topischen Bild-Ortes von allegorisch-symbolischen Einsprengseln, die eben nicht einem Bild-Ort entsprechen, wie er tatsächlich historisch gegeben gewesen sein könnte, was im Verlauf der Aufklärung zu einer am Paradigma der Landschaftsmalerei orientierten Umformung des Bildraums führen sollte.21 Die Ausführungen zum Topos ‚Wüste‘ gelten ebenso für den Topos ‚Einsiedler‘. Weder in den Viten noch in den Bildern geht es, wie bei der heutigen Biographie, um das in seiner facettenreichen Individualität einzigartige Leben, sondern um die Erfüllung einer in höchstmöglicher Weise auf Gott ausgerichteten Lebensform, die freilich individuell je anders ausgeprägt war.22 Sind wir dieses dezidiert topischen Charakters gewahr, zeigt das eingangs betrachtete Bild Zenon nicht im Moment einer temporären Prüfung an einem konkreten Ort, sondern in der Wüste als solcher, in der er sich dauerhaft im Zustand der Prüfung aufhält. Eine Prüfung, die er durch

 19 Anonymus 1482, ohne Paginierung.  20 B 379.  21 Vgl. Kirves 2012, 272–340.  22 Vgl. Jolles 1930, 39–41.

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seine von Glaubenseifer getragene Standhaftigkeit – seine sancta constantia 23 – siegreich überwunden und dadurch die himmlische Seelenruhe antizipiert hat.24

Nicht-Ort Ist der topische Ort der Wüste in seiner Lebensfeindlichkeit ein Un-Ort, ein Ort der Entbehrungen und dämonischen Anfechtungen, ist er zugleich Zielort, über den hinaus es keinen weiteren diesseitigen Ort gibt. Der Pfad der Wahrheit, der sich Zenon auftut, führt an keinen weiteren innerweltlichen Ort, er ist rein allegorisch als über die Welt hinausführender Weg, als Himmelsleiter zu verstehen. Damit ist die topische Wüste der Ort, an dem sich Himmel und Erde berühren. Betrachten wir, um diese Dimension des Topos ‚Wüste‘ zu fokussieren, eines der vier programmatischen Frontispize (Abb. 2).25 Hinter dem großen Steinkreuz, den ‚Monumenten der heiligeren Philosophie, welche die strenge Lebensweise und die Gottgebundenheit der Anachoreten lehrt‘, beginnen die ‚Heiligen Wälder‘, in denen die Anachoreten leben. Das Kreuz versperrt den ins unergründliche Dunkel führenden Pfad, den es zugleich sinnbildlich veranschaulicht: Über den Gebeinen Adams ist die den Kreuzestod antizipierende eherne Schlange gezeigt, am Kopf des Kreuzes das Christogramm und schließlich, im göttlichen Licht, das dem griechischen Tau und zugleich dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets Tew nachgebildete Antonius-Kreuz. Mit diesem Kreuz werden die Auserwählten der Offenbarung besiegelt (Offb. 7,2). Zudem war es in eben jener Region verbreitet, in welcher die Einsiedler der ersten Stunde lebten. Der Weg in die Heiligen Wälder vermag der skizzierten Bedeutungsachse entsprechend also zu einer bereits auf Erden antizipierten Erlösung zu führen, zumal Christus selbst den Gang in die Wüste angetreten hat, wo er, wie es die auf beiden Seiten des Kreuzes dargestellten Binnenszenen zeigen, den Versuchungen des Teufels widerstand. Links antwortet er nach vierzigtägigem Fasten dem Versucher: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“ (Mt. 4,4). Rechts führt ihn der Teufel auf eine Anhöhe und offeriert Christus die Herrschaft über die Welt, wenn er sich ihm – dem Herrn der Welt – unterwerfe. Zugleich wird Christus – die zweite und dritte Versuchung sind hier in eins gesetzt – von Engeln gehalten, die ihn, so die versuchende Verhöhnung des Teufels, beim Sprung von der Zinne des Tempels ohnehin auffangen würden, hier jedoch Christus in seinem Entschluss, nicht zu springen, dienend beistehen.

 23 Holl. 977.  24 Cassian charakterisiert die Standhaftigkeit daher näher, indem er sie – zwischen skopos und telos unterscheidend – als intentional ausgerichtet bestimmt: Skopos ist die Beharrlichkeit, mit der die Realisierung des telos angestrebt wird (Cassian 1877, 290).  25 Holl. 994.

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Abb. 2: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Sylvae Sacrae, 1594.

Neben seinem Rückzug in die Wüste, wodurch Christus zum nachzueifernden Prototyp des Einsiedlers wird, kommt den drei Versuchungen, denen er in der Wüste ausgesetzt war, der Charakter erklärender Urszenen zu, aus denen sich der topische Gehalt des Einsiedlers speist, den wir bei Zenon bereits herausgearbeitet haben: Es gilt, die Welt wie Zenon um des göttlichen Mannas willen auszuschlagen und nicht nachzulassen in dem Bestreben, die stets präsente dämonische Versuchung abzuwehren. So wie sich Jesus in der Wüste auf seine Passion vorbereitete und die letzte sich dem Willen des Vaters hingebende Bejahung in der anachoretischen Situation des Ölbergs erfolgte, kann der Gang in die Heiligen Wälder nur eine die Nachfolge Christi antretende Passion sein, was abermals das Steinkreuz verdeutlicht: An jener Stelle, wo über der ehernen Schlange, dem Anti-Typus des Kreuzestodes, der Ort Christi ist, ist der Anachoret mit seiner spezifischen Lebensform eingesetzt, die die Bedingung seiner sanctior philosophia darstellt. Diese Verortung des Einsiedlers beleuchtet den Topos ‚Wüste‘ in einer neuen, vertiefenden Weise: Wie Christus am Kreuz ist der Anachoret zwischen Himmel und Erde eingespannt. Damit befindet er sich in der Wüste als solcher weder auf Erden noch im Himmel. Er selbst ist der Ort, der zwischen Himmel und Erde zerrissen wird, wie

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es Rubens in seinen grandiosen Versionen des Christus in der Einsamkeit vor Augen stellt. Das Aufgespannt-Sein zwischen Himmel und Erde wird zum Ausgangsort, sich durch die Wirkung der göttlichen Gnade selbst zu übersteigen. Ein Ort der Wandlung, der in der äußersten Gottverlassenheit (Mk. 15,34) zugleich die Erlösung herbeiführt (Lk. 23,46). Diese Stellung als dauerhafte anachoretische Lebensform veranschaulicht Simon Stylitis, der auf einer Säule stehend mit ausgestreckten Armen zwischen Himmel und Erde aufgespannt ist. Dementsprechend zeigt ihn die Darstellung der Einsiedlerfolge über den Horizont in den Himmel hineingehoben.26 Er ist aber noch nicht in den sich ihm geistig öffnenden Himmel eingegangen, sondern – wie Christus am Kreuz – im Nirgendwo zwischen Himmel und Erde situiert. Dieser Ort ist keine irgendwo im Nirgendwo liegende Utopie, sondern das Nirgendwo als solches. Damit erweist sich der Un-Ort der topischen Wüste als Nicht-Ort. Ein Nicht-Ort, der jeden Ort, damit die Welt und mit ihr die Wüste als solche – insofern sie zur Welt gehört – negiert. In dieser Negation liegt der Kern des topischen Gehalts der Wüste: Durch die qua Negation erfolgende Aufhebung der irdischen Raum-Zeit-Verhältnisse ist die Wüste als solche ein Ort des Transzendierens, der es dem Einsiedler ermöglicht, auf das ewige göttliche Licht hin zu existieren. In den patristischen Quellen wird die nur mit Hilfe der göttlichen Gnade mögliche Selbsttranszendierung, die das Ziel der anachoretischen Lebensform ist, als Selbstumformung beschrieben, bei der der äußere Mensch als alter Adam zugunsten des Auflebens des inneren Menschen abstirbt. Dabei erfährt der innere Mensch eine purifizierende Läuterung, die mit dem alchemistischen Umschmelzungsvorgang verglichen wird.27 Die sich vollziehende Wesensverwandlung bewirkt, dass sich der Einsiedler bereits auf Erden einem engelsgleichen Zustand anzunähern vermag, auch wenn der Wandlungsprozess diesseitig niemals vollständig abgeschlossen werden kann.28 Vielmehr bleibt der Anachoret auch weiterhin stets den Versuchungen ausgesetzt. Aus diesem Grund hat der Einsiedler in der berühmten Darstellung in Herrad von Landsbergs Hortus Deliciarum zwar die Himmelsleiter beinahe vollständig erklommen und dennoch droht er mit nach unten gerichtetem Blick hinabzustürzen. Für den Einsiedler bleibt der Nicht-Ort immer auch ein zur Welt gehörender Un-Ort und er muss es bleiben, da der Nicht-Ort nicht nur lebensfeindlich ist, sondern als Ort einer das Diesseitige transzendierenden Negation das irdische Leben als solches negiert. Und dennoch sucht der Einsiedler die Wüste auf, um an diesem Un-Ort den Nicht-Ort und damit jene Wandlung zu antizipieren, die sich ereignet, wenn er ihn tatsächlich erreicht haben wird. Der Nicht-Ort ist das eigentliche ‚örtliche‘ Ziel des sich aus der Welt und mit ihr aus dem Diesseits zurückziehenden Anachoreten. Einzig hier findet der Eremit die gesuchte Einsamkeit, die – wie Christus am Kreuz – nicht nur eine Welt- sondern auch eine Gott 26 Hollst. 1026. Siehe zu Simon Stylites: Renger/Stellmacher 2010.  27 Vgl. etwa Cassian 1877, 459, 496.  28 Zwei aus einer Vielzahl von Beispielen herausgegriffene Belege zur Engelsähnlichkeit: Theodoret 1926, 22 und Chrysostomos 1869, 356.

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verlassenheit einschließt, aus der heraus sich die göttliche Fülle zu offenbaren vermag. Der topische Nicht-Ort dieser geistigen Antizipation ist – innerhalb der Grafikfolge – die Höhle.

Innen-Ort Der sich hinter dem monumentalen Kreuz öffnende Wald (Abb. 2) weist einen ebensolchen höhlenartigen Charakter auf wie jener auf dem Bild Zenons. Als Nicht-Ort vermag er – wie sich gezeigt hat – die Welt aufzuheben, was sich in gewisser Weise beim Betreten einer Höhle ereignet: Die Höhle tritt an die Stelle der Welt und ist – allegorisch verstanden – bei fehlender Lichtquelle gar nicht gegeben, wodurch sie sich als Ort selbst aufhebt und den sich in ihr Befindenden ganz auf sich selbst zurückwirft. So führt für Makarius den Ägypter der Pfad in den Heiligen Wald tief in den ‚Nicht-Ort‘ der Höhle hinein (Abb. 3).29 Der Gang in die Höhle ist nicht allein Flucht vor den durch das Aufsuchen des Einsiedlers Heil und Heilung Suchenden, die zum topischen Arsenal des Einsiedlers gehört; sich in die Höhle zu begeben besagt, dass der Gang in die Wüste stets das Aufsuchen des eigenen wüsten Inneren bedeutet. Um diesen Gang zu vollziehen, müssen zur Aktivierung der inneren Wahrnehmung die Kanäle der äußeren Sinne verschlossen werden.30 In dieser Hinsicht ist Makarius‘ Flucht vor dem Lärm der Welt – wie es im Untertitel heißt – ein Sich-Entziehen der äußeren Sinne, die die auf Gott gerichtete Konzentration des inneren Menschen zerstreuen, was sie zugleich als Werkzeuge des an der Welt orientierten äußeren Menschen kennzeichnet.31 In der Höhle zu sein, heißt also nicht allein die Welt auszuschließen, sondern – dies macht ihren Charakter als Nicht-Ort aus – jede mögliche Verbindung mit der Welt zu kappen, um ganz bei sich selbst seiend in sich die göttliche Natur des inneren Menschen zu gewahren und, durch Lesung und Gebet angeleitet, zur meditativen Gottesschau emporzusteigen. Die Reflexion über die Stellung des Menschen innerhalb der Welt und die wahrhaftige Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit sind mit diesem Aufstieg unablöslich verbunden. Die Interdependenz von Selbst- und Gotteserkenntnis kennzeichnet die Höhle als einen Ort der Wissenschaft, als Ort der Heiligen Sophia. Von hier aus eröffnet sich die umfassende symbolische Dimension der Höhle: In der Höhle wird Christus geboren, der als göttlicher Logos, wie es das erste Frontispiz mit Joh. 1,9 hervorhebt, das wahrhaftige Licht ist, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.32 Zugleich ist die Höhle als  29 Holl. 986. „Um sich abzutöten, tat Makarius auch folgendes: Lange Zeit hindurch war er damit beschäftigt, von seiner Zelle weg einen unterirdischen Gang von der Länge eines halben Stadiums und an dessen Ende eine Höhle zu graben“ (Palladius 1912,35).  30 Vgl. Theodoret 1926, 24.  31 Vgl. Cassian 1877, 93. Theodoret berichtet von Eusebius, dass er bei der gemeinsamen Bibellektüre mit Ammanius durch die Aussicht auf eine Ebene mit Feldarbeitern abgelenkt wurde und daher mehr als 40 Jahre nur zu Boden blickte (Theodoret 1926, 64).  32 Holl. 964.

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Abb. 3: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Macharius, 1586.

Ort der Geburt des Logos mit Maria gleichzusetzen, die die heilige Weisheit als Kirche verkörpert. Damit steht die Höhle des Einsiedlers nicht außerhalb der Kirche, sondern ist ihr innerster Innenraum, innerhalb dessen sich mit der Aufhebung der Welt die göttliche Fülle offenbart, womit die Höhle zugleich die esoterische Innenseite der anachoretischen Lebensform bezeichnet. Dies wird exemplarisch durch eine interne Teilung des Topos ‚Wüste‘ auf dem Euthimius und Theoctistus gewidmeten Blatt veranschaulicht (Abb. 4).33 Theoctistus steht im Zeichen Marthas für das Koenobitentum, während Euthimius im Zeichen Mariens die sacra mystica verkörpert. Der Leserichtung entsprechend steigt Theoctistus, das weltliche Licht im Rücken, über einen steinigen Pfad lesend und meditierend zur Höhle hinauf, wo sich ihm die Fülle der Weisheit mitzuteilen vermag, während Euthimius innerhalb der Höhle unter dem Altar, vom ewigen Licht inspiriert, über die Geheimnisse der Wandlung nachsinnt. Diese Abfolge entspricht der Darstellung des Hortus Deliciarum, auf welcher der Einsiedler über dem Mönch steht, wodurch der Mönchsstand aber zugleich auch als  33 Holl. 1030.

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Abb. 4: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Euthimius und Theoctistus, 1598.

Vorstufe zum anachoretischen Leben bestimmt wird. Erst die Bewährung in der koenobitischen Lebensform qualifiziert zum Einsiedlerleben, an dem so viele Unvorbereitete gescheitert sind.34 Damit ist der Mönchsstand kein reglementierter Gegenentwurf zum Einsiedlerleben, sondern das Einsiedlerleben die Erhöhung der mönchischen Lebensform, welche als Einführung in die esoterischen Geheimisse sich zwar auch selbst genügt, aber dennoch eine Vorstufe zur diesseitig erreichbaren Höhle bildet.35 Daher vollzieht sich, in Umkehrung zum Höhlengleichnis Platons, auf dem Bild nicht ein Aufstieg aus der Höhle heraus, sondern in sie hinein. Entsprechend liegen auch die Höhlen auf den anderen Einsiedlerdarstellungen nicht unter der Erde. Der Einsiedler Johannes schwebt in seiner Höhle regelrecht über der Welt, womit der Nicht-Ort der Höhle dem Nicht-Ort des Kreuzes zwischen Himmel und Erde entspricht, was innerbildlich durch das die Höhle mit der Sonne  34 dazu beispielsweise: Cassian 1877, 127–128. Vgl. auch: Grundmann 1963, 65.  35 Diese Stufung schlägt sich auch in der Abfolge von Cassians Werken nieder: Auf die Schrift Von den Einrichtungen der Klöster folgen die Vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern, mit denen er ausdrücklich vom äußeren zum inneren Menschen übergeht (Cassian 1877, 285).

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Abb. 5: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Iohannes, 1586.

verbindende Kreuz hervorgehoben wird (Abb. 5).36 Die Höhle ist nicht der platonische Ort der gefesselten geistigen Fremdbestimmung, sondern der vermittels eines inneren Aufstiegs erreichte Nicht-Ort, an dem der Eremit an seiner vom Frontispiz gezeigten Position des Kreuzes zwischen Alpha und Omega ausgespannt ist und an der Heiligen Sophia partizipierend um den Anfang und das Ende aller Dinge weiß. Dieses Wissen ist eine Heilswirkung, die um das Wirken des Heils weiß, weshalb der Wissende selbst im Wissen aufgehoben ist. Ein Wissen, das durch die mit der Erkenntnis erfolgende Angleichung des Abbildes an das Urbild nicht einzig epistemischer Natur ist, sondern den Erkennenden auf existenzielle Weise mit umfasst. Eben hierin besteht die vom Frontispiz formulierte heiligere Philosophie der Einsiedler, die, im Gegensatz zur heidnischen Philosophie, tatsächlich zum Heil zu führen vermag.37 Die Fülle der Weisheit ist aber einzig in einem durch die Höhle eröffneten Erkenntnisvollzug gegeben, weshalb es sich um ein dezidiert eso 36 Holl. 970.  37 Antonius wird von heidnischen Weltweisen besucht, denen er entsprechend Kor. 1,19 und Jes. 29,14 – „Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen“ – beweist, dass der Wortbeweis keineswegs den zur Weisheit führenden Weg

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Abb. 6: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Oraculum Anachoreticum, 1600.

terisches Wissen handelt, das mit Worten einzig angedeutet werden kann. Diesen Aspekt veranschaulicht das Oraculum Anachoreticum betitelte Frontispiz (Abb. 6).38 Für Außenstehende sind die Mitteilungen der Anachoreten die zu Orakelsprüchen geronnene Seelenruhe.39 Die gesammelten Aussprüche der Einsiedler sind als Gerontikon oder Verba Seniorum fester Bestandteil der Vitaspatrum-Literatur. Zur bildlichen Veranschaulichung des Gehalts des Orakelwissens tritt Christus als erlösender Guter Hirte wie aus einer Höhle hervor, die zugleich für die Heiligen Wälder einsteht. Zurück auf die Höhlendarstellung geblickt (Abb. 4), entströmt dem Inneren der esoterischen Höhle die Quelle, welche das exoterische Außerhalb speist und dort zu jenem Fluss anwächst, dem Theoctistus in die Höhle hinein folgt. Von hier aus gesehen wird die Welt durch die Höhle gerahmt, wodurch jene wahrhaftidarstellt (Athanasius 1917, 80–83). Dazu Cassian 1879, 216: „Wer […] seine Bildung mit der Untersuchung anfängt, wird nie in das Wesen der Wahrheit eindringen […]“.  38 Holl. 1050.  39 Cassian spricht von himmlischen Orakeln, deren Aussprüche ermutigen (Cassian 1877, 480), während nach Athanasius „die Orakel der Helenen von Dämonen getäuscht wurden“ (Athanasius 1917, 45).

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ge Perspektive eröffnet wird, aus der sich die Welt in toto als Wüste zeigt, über der die Sonne der Erlösung scheint. Es handelt sich also auch insofern um eine Umkehrung des Höhlengleichnisses, als erst aus der Höhle heraus die wahre Verfasstheit der Welt einsichtig wird. Die in der Höhle zugängliche Heilige Sophia ist das große Rahmenthema, welches die Einsiedlerbildfolgen mit den drei ihnen vorausgegangenen Grafikfolgen der Gebrüder Sadeler verklammert, die die Genesis von der Schöpfung der Welt bis zur Sintflut veranschaulichen.40 Das erste für alle Folgen programmatische Frontispiz zeigt die Personifikation der Heiligen Sophia, die das Buch mit den sieben Siegeln hält, in welchem jedes Wort ein Geheimnis bedeutet.41 Die folgenden Frontispize veranschaulichen allegorisch die Wissenschaft vom Guten und Schlechten. Und eben dieses Wissen haben sich die Einsiedler dank ihrer Partizipation am göttlichen Logos angeeignet. Ein Wissen, das sich zugleich als Fähigkeit niederschlägt. Immer wieder wird in den Viten hervorgehoben, dass die Anachoreten über die Gabe der Unterscheidung verfügten.42 Eine Unterscheidungsfähigkeit, die auf einer beständigen Unterscheidungsnotwendigkeit beruht, die Thomas von Kempen folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Es ist sehr schwer, richtig zu unterscheiden, ob dich der Heilige Geist, ein fremder Geist oder dein eigener Geist treibt, dieses oder jenes zu verlangen.“43 Eine solche Unterscheidung ist jedoch unabdingbar, um die adäquaten Mittel zur Erreichung des Seelenheils zu bestimmen, denn nur dann kann der Forderung Folge geleistet werden: „Was der Zeit unterworfen ist, das gebrauche; was ewig ist, danach strebe!“, mit der sich Thomas von Kempen auf Augustinus’ Unterscheidung zwischen frui und uti bezieht.44 Da Zenon über eben diese Fähigkeit der unterscheidenden Kritik verfügt, vermag er – im Gegensatz zum Bildbetrachter – den Engel als Dämonen zu durchschauen. Da das Kriterium nicht dem weltlichen, sondern dem göttlichen Wissen entspringt, kommt der vita contemplativa eine Prävalenz vor der vita activa zu, wobei im Folgenden gezeigt werden soll, das die göttliche Erkenntnis gerade durch eine Form der vita activa mit hervorgebracht wird.

 40 Holl. 11–18, 25–36, 41–55.  41 Hieronymus 1937, 260.  42 Theodoret hebt entsprechend Heb. 5,14 – „Den Vollkommenen aber gehört starke Speise, die durch Gewohnheit haben geübte Sinne zu unterscheiden Gutes und Böses“ – an Markianus hervor, dass „er den Unterschied der Tugenden, wie die eine der andern nachsteht und welche zur rechten Zeit den Sieg über die andere davonzutragen habe“ wisse (Theodoret 1926, 57). Und Palladius berichtet von Stephanus: Er hatte „die Gabe der Unterscheidung in solchem Grade, daß jeder Trauernde, mit welchem Leid belastet er auch kam, getröstet fortging (Palladius 1912, 59). Symeon soll sogar Recht gesprochen und wahre und gerechte Urteilssprüche gefällt haben (Theodoret 1926, 169).  43 Kempen 1960, 126.  44 Kempen 1960, 128. Augustinus 2002, 16–18.

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Kult-Ort In seinen Etymologien hebt Isidor von Sevilla hervor, dass die Dichter den Wald zu Recht als ‚silva‘ (Holz) bezeichneten, da es sich um jenen Stoff handele, aus dem die Wälder bestünden, wobei ‚Stoff‘ auf den als ‚materia‘ übersetzen ‚hyle‘-Begriff zurückverweise, der das noch Ungeformte darstelle.45 Das Ungeformte aber ist erst durch einen Kultivierungsprozess in eine Form zu überführen. Damit wird die der Kontemplation notwendig korrespondierende Aktivität thematisch: Innerhalb der Heiligen Wälder ist das zu Formende nichts anderes als das je eigene, eben auch körperlich verfasste Selbst, das sich am Un-Ort der Wüste unausweichlich als ein Ungeformtes aufdrängt und durch eine beständige Bearbeitung von seinem wüsten Zustand zu läutern ist. „Liebet nicht diese Welt, noch das, was in der Welt ist. So jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm“ (Joh. II,15). Dieses Johanneswort kommt einer Präambel des Anachoretentums gleich. Um der göttlichen Liebe teilhaftig zu werden, ist es mit der bloßen Abwendung von der Welt allerdings nicht getan, da der äußere Mensch als alter Adam die Welt in sich trägt und nur sein Tod zum Leben führt, wie es die Inschrift am Sockel des Monuments vor den Heiligen Wäldern verkündet: ‚Mortui Vivimus‘. In eben diesem Sinne mahnt Thomas von Kempen: „Betrachte dich als einen Toten auf Erden.“46 Der alte Adam ist jedoch keinesfalls einfach mit dem menschlichen Körper gleichzusetzen, dessen herbeigeführtes Absterben nichts anderes als Selbstmord wäre. Sich um seiner selbst willen sich seiner selbst entledigen bedeutet, das weltlich bestimmte Selbst durch die auf das göttliche Ur-Bild hin ausgerichtete Selbstumformung von sich abfallen zu lassen. Durch seine Diesseitsgebundenheit steht der physische Körper zwar symbolisch für den zu überwindenden äußeren Menschen ein, er ist physisch aber zugleich ein zu erhaltendes Umformungsinstrument für die tatsächliche Umbildung des Selbst, bei der sich der innere Mensch symbolisch einen neuen Körper formt.47 Die Ebenen der symbolischen und der physischen Körperlichkeit können allerdings – und dies führt nur allzu oft zu Konfusionen – nicht strikt voneinander  45 Schnyder 2008, 123. Vgl. auch: Stauffer 1959, 7–8.  46 Kempen 1960, 184.  47 Diesen Unterschied hebt Cassian hervor: „[…] denn es ist nicht ebenso schlechthin von dem sündigen Menschen gebraucht, wenn gesagt wird: „Das Fleisch begehrt wider den Geist“. Er spricht ja nicht von den Substanzen, sondern von den Thätigkeiten, die in einem und demselben Menschen entweder zugleich oder einzeln mit Zeitwechsel und Veränderung sich bestreiten. […] Deßhalb müssen wir hier unter Fleisch nicht den Menschen, d. i. die Substanz des Menschen, sondern den Willen des Fleisches und seine argen Begierden verstehen wie wir auch unter Geist nicht irgend eine Substanz, sondern die guten und geistigen Begierden der Seele zu meinen haben (Cassian 1877, 394). Zur Angewiesenheit auf den physischen Körper bei diesem Kampf nochmals Cassian: „Wie nämlich nach überstandener Krankheit Leib und Seele in ihrer gegenseitigen Verbindung wieder Kräfte erlangen, so kann nur, wenn beide zusammen kämpfen, dieser Streit ausgefochten werden (Cassian 1877, 134). Und Theodoret „[Die Einsiedler] zwangen den Körper, mit der Seele ein Bündnis zu schliessen. So beendeten sie den der Natur eingepflanzten Krieg und schlugen durch solchen Friedensschluss den Haufen der Widersacher in die Flucht (Theodoret 1926, 24).

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Abb. 7: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Paulus, 1586.

getrennt werden, da sie faktisch ineinander greifen. Wie auch das göttliche Manna eine körperliche Seite als nicht nur geistig, sondern auch physisch sättigendes Gnadenbrot aufweist und die Hostie nach der Wandlung buchstäblich Christi Körper ist, vermag sich die symbolische Umformung des Körpers des Einsiedlers auch physisch niederzuschlagen. So berichtet Athanasius von Antonius, dass dieser durch seine 20jährigen Fastenexerzitien einen noch weit edleren Körper gewonnen habe.48 Entsprechend weist Paulus von Theben, der täglich mit göttlichem Manna gespeist wird, einen geradewegs heroischen Körper auf (Abb. 7).49 Vermittels dieses Körpers, der nicht der Körper des äußeren, sondern der vom Geist her bestimmte Körper des inneren Menschen ist, können gerade körperliche Übungen die Konzentration der Schau Gottes intensivieren, da dieser Körper eben nicht im Wider-

 48 Athanasius 1917, 28–29. Und Palladius berichtet von Isidor: „Bis an sein Ende trug er keine Leinwand außer einer Binde, berührte kein Bad und genoß nie Fleisch. Dennoch sah sein Leib so blühend kräftig aus, daß jene, die seine Lebensweise nicht kannten, der Meinung waren, daß er Überfluß habe (Palladius 1912, 22).  49 Holl. 965.

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spruch zum Geist steht.50 Zugleich wird durch einen solchen Körper die Fähigkeit zur Standhaftigkeit erhöht. Veredelt der errungene symbolische den physischen Körper, ist dieser zur Erlangung des symbolischen Körpers jedoch zugleich zu überwinden, da der physische Körper eine tatsächliche diesseitige Gebundenheit bedeutet, sodass seine symbolische Vernichtung bis zu einem gewissen Grade wortwörtlich zu erfolgen hat. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grade, da der Körper diesseitig eben nicht vollständig seiner Bindungen an die Welt enthoben werden kann. Aus diesem Grund wird in den patristischen Texten immer wieder zu einer individuell zu bemessenden Mäßigung bei der Selbstkasteiung gemahnt.51 Eine zu große körperliche Schwächung führt nicht über den Körper hinaus, sondern forciert die Bindung an ihn, sodass dem Körper nunmehr einzig in seinem physischen Aspekt Relevanz zugemessen wird, während der eigentliche Gegner ja nicht der physische Körper als solcher ist, sondern die durch ihn symbolisierte Bindung an die Welt. Damit verläuft die Frontlinie eben nicht zwischen Körper und Geist, sondern innergeistig, auch wenn der physische Körper notwendigerweise in solches Ringen einbezogen ist. Den für die Bindung an die Welt einstehenden symbolischen Körper gilt es hingegen tatsächlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unerbittlich zu bekämpfen. Dieser Kampf ist ein fortschreitender Selbstkultivierungsprozess, da durch ihn die Kriterien dessen, was zum Guten führt oder dem Bösen dient, zunehmend bis zur esoterischen Gewissheit hin eingesehen werden. Der Kampf wird geradewegs durch ein stoisches Quantitätsverhältnis bestimmt, bei dem die Überwindung eines quantitativ höheren Widerstandes eine Qualitätssteigerung des sich selbst Überwindenden bewirkt. „Der vollkommene Mensch, der den Kampf mit sich selbst vollendet hat, kann“, bemerkt Thomas von Kempen, „seinen Geist immer festhalten in der Betrachtung himmlischer Dinge.“52 Die damit erreichte Seelenruhe, die einen Didymos über die Dämonen hinwegschreiten lässt, ohne dass er sie im Geringsten beachtete, ist vom Affekt des heiligen Glaubenseifers getragen und bedeutet daher die höchstmögliche Angespanntheit auf Gott hin, die die Seele mit einer tiefen Freude erfüllt.53 Hierin gründet das den Betrachter affizierende Potenzial der dargestellten erlösenden Seelenruhe, die im Gegensatz zu den Martyrien der Heiligen der Legenda Aurea prinzipiell durchaus erreichbar ist, zumal das Martyrium, wie Cassian betont, nicht per se die Vollendung eines Läuterungsprozesses darstellt.54 Die Seelenruhe ist allerdings kein Zustand, in dem man sich, hat man ihn einmal erreicht, bequem geistig ausruhen könnte. Vielmehr vermag er einzig, wie es der Salamander bei Zenon anzeigt,  50 Vor dem Hintergrund eines solchen leibhaften Geistkörpers ist ein dezidiertes ‚Körperwissen‘ (Renger/Stellmacher 2010) zu modifizieren.  51 Cassian 1877, 316.  52 Kempen 1960, 151.  53 „Denn es ist unmöglich, dass die göttliche Weisheit jemand erlange, der nicht feurige Liebe zu Gott besitzt. Ja diese selbst ist Weisheit“ (Theodoret 1926, 191), weshalb die immerwährende Ruhe eine immerwährende Freude ist (Cassian 1877, 303).  54 Cassian 1877, 366.

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Abb. 8: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Trophaeum Vitae Solitariae, 1598.

durch einen nicht erkaltenden Glaubenseifer aufrecht erhalten zu werden. Damit er aber gemäß dem stoischen Quantitätsverhältnis angespornt und gefestigt werden kann, ist er notwendigerweise auf prüfende Versuchungen angewiesen. Der Kampf ist mithin ein ununterbrochener Kampf gegen den schier übermächtigen inneren Feind55 und die Wüste als solche der Kampfplatz, auf dem die Einsiedler als Athleten der göttlichen Aletheia ringen.56 Entsprechend lautet die Formulierung in der Vita Zenons, dass er als siegreicher Kämpfer die Schranken des irdischen Rennplatzes verlassen habe.57 Der neben dem Athleten omnipräsente Vergleich mit dem Soldaten beruht auf dem Paulus-Wort von der geistlichen Waffenrüstung (Eph. 6,11–17).58  55 Cassian 1877, 114.  56 Als ein Beispiel unter vielen: Theodoret 1926, 41. Siehe dazu: Eisler 1961, 82–98.  57 Rosweyde 1691, 925.  58 Zum Soldatenvergleich siehe: Harnack 1905. Theodoret bezeichnet die Einsiedler auch immer wieder als Helden.

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Damit kommt der Lebensform des Einsiedlers ein heroisch-triumphaler Charakter zu, der auf einem weiteren Frontispiz thematisiert wird (Abb. 8).59 In Allusion auf die Trajanssäule ist die zum Triumph des anachoretischen Lebens führende Passion Christi dargestellt. Neben der Säule sitzen die englischen Verkörperungen der vita contemplativa, für welche Hostie und Kelch sowie die Zwiesprache mit Gott am Ölberg, diesen Kelch doch vorübergehen zu lassen, stehen, während sich gegenüber die vita activa befindet, welcher der Kalvarienberg als tatsächlich vollzogene Passion zugeordnet ist. Kam auf dem Höhlenbild der contemplatio gegenüber der actio eine Prävalenz zu, ist die Gewichtung hier umgekehrt: Letztlich wird erst durch die actio, dem nach Golgatha hinaufführenden Passionsweg, aus der kontemplativ antizipierten die tatsächliche Wandlung. Und doch gehören beide Seiten komplementär zueinander, keine ist ohne die andere zu denken: Kontemplierend erfolgt eine auf das göttliche Urbild hin ausgerichtete Selbstumformung, welche durch die sancta constantia erreicht wird, die einen aktiven Nachvollzug der Passion bedeutet und den diesseitigen Selbstumformungsprozess vollendet. Die anachoretische Nachfolge Christi ist damit jene privilegierte Lebensform, die vita contemplativa und vita activa synthetisiert, so wie der die Triumphsäule umlaufende Passions-Fries bildintern beide Seite unauflöslich miteinander verschmilzt, was sich auch im Begriff der Passion als eines erleidenden Handelns, das zugleich ein handelndes Erleiden ist, niederschlägt. Im Einlösen der menschenunmöglichen Aufgabe, vermittels einer sowohl kontemplativen als auch aktiven Nachfolge Christi durch den Nicht-Ort des eigenen Todes hindurch sich selbst bereits diesseitig auf das Jenseits hin umzuformen, erlangt der Anachoret einen engelsgleichen Zustand. Aus diesem Grund sind die Personifikationen der vita contemplativa und der vita activa ebenso Engel wie die Personifikationen der precatio und der abstinentia als die zu diesem Zustand führenden Mittel (Abb. 2). Sie schauen über das Kreuz auf das göttliche Tau und verweisen zugleich auf die Engel im Hintergrund, die Christus nicht allein schauen, sondern in der Wüste auch aktiv dienen. Entsprechend der neu zu gewinnenden Körperlichkeit sind die Engel keine ätherisch-körperlosen Wesen, sondern leiblich äußerst präsent. Die anachoretische Selbstkultivierung zu einer neuen Wesensform wirkt sich wiederum auf den topischen Ort der Wüste aus, der als das nach außen gewendete geläuterte Innere aufblüht und die Früchte des Glaubens trägt, an denen sich andere erlaben können, wie dies bei Copres und Fiacrius (Abb. 9) der Fall ist.60 Entsprechend verweist das erste Frontispiz auf Jesaja 35,1: „Aber die Wüste und Einöde wird lustig sein, und das dürre Land wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien.“ Führt der Gang ins Dunkel der Heiligen Wälder in das lebensfeindliche Gegen-Paradies, wird durch die mit dem Absterben des alten Adam erfolgen 59 Holl. 1024.  60 Holl. 1068. „In den bereits gebrachten Erzählungen haben wir gezeigt, wie die unfruchtbare Wüste Gott reife und fette und ihrem Pflanzer wohlgefällige und allen wohlgesinnten Menschen liebliche und begehrenswerte Früchte hervorgebracht hat (Theodoret 1926, 60).

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Abb. 9: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Fiacrius, 1600.

de Angleichung des Anachoreten an sein göttliches Urbild die Wüste ihrerseits wieder dem verlorenen Paradies angenähert, sodass sich die Wüste als solche in einen Ort der fruchtbaren Fülle verwandelt. Folglich vermag sich der Topos der Wüste in seinen Ausformungen von einem locus horribilis zu einem locus amoenus zu transformieren; von einem Un-Ort, an dem der Einsiedler seinem wüsten Inneren ausgesetzt ist, über den Nicht-Ort seiner Umwandlung, die sich im Innen-Ort vollzieht, in einen Kult-Ort, dem auch nach dem Ableben des Anachoreten eine heilige Aura zukommt.61 Jeder Aspekt ist im jeweils anderen enthalten, wobei sich der Topos der Wüste und derjenige des Einsiedlers in ihrer gegenseitigen Auslegung zum Topos der Einsiedelei zusammenschließen.

 61 Hieronymus 1914, 59–61. „Die Stille des „Bergs des heiligen Antonius“ spiegelte endlich die gewaltige Heiterkeit wider, die über sein Herz gekommen war“ (Brown 1994, 228).

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Imaginärer Ort Der Gang in die Einsiedelei, mag er gedanklich, schriftlich, bildlich oder real vollzogen werden, bedeutet – und dies ist für ihren topischen Gehalt bestimmend – stets einen Gang ad fontes. Zum ursprünglichen Glauben der Altväter zurückblicken heißt, ihn als Maßstab an die eigene Zeit anlegen, weshalb der Gang ad fontes mit einem aus den Ursprüngen abgeleiteten Reformbestreben einhergeht, das eben jene verlorenen Ursprünge zu revitalisieren sucht. Die eingestreuten Zitate von Thomas von Kempen verdeutlichen, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann, dass die Bildfolgen der Gebrüder Sadeler an die Devotio Moderna anschließen, die die ursprüngliche Glaubensintensität wiederherzustellen trachtete.62 Zugleich werden die Bildfolgen aber auch von der Gegenreformation getragen: Das Oraculum Anachoreticum-Frontispiz ist im Heiligen Jahr 1600 dem Reformpapst Clemens dem VIII. gewidmet. Vor diesem Hintergrund ist die piktorale Wiederherstellung der Einsiedeleien das bildliche Gegenstück zu Heribert Rosweydes groß angelegtem Projekt einer Aufarbeitung aller Heiligenviten, die philologisch-quellenkritisch zusammengetragen und überprüft die wahre Gestalt der Heiligen zur Erscheinung bringen sollten. Die von Jean Bolland und den Bollandisten fortgeführten Acta Sanctorum begannen charakteristischerweise mit einem Band zu den Altvätern (1615), den Rosweyde noch selbst herausgegeben hat. Der durch den Topos des Einsiedlers mögliche Ursprungsbezug ist aber nicht konfessionell gebunden. So tauchen Ausschnitte der Grafiken der Sadeler als Holzschnitte in der 1604 erschienenen deutschen Übersetzung eben jenes Altväterbuchs auf, das 1544 von Georg Maior im Auftrage Martin Luthers herausgegeben worden ist.63 Auch der Pietist Gottfried Arnold ediert ein Altväterbuch, um damit zur Rückkehr zum wahren Glauben zu mahnen.64 Aus eben diesem Beweggrund beschreibt bereits Heinrich Seuse in seiner für die Devotio Moderna überaus wichtigen geistigen Biografie, dem Horologium Sapientiae, eine Kapelle mit Darstellungen der Altväter, die als Einsiedelei innerhalb des Klosters fungiert.65 Maarten de Vos und die Gebrüder Sadeler haben diese imaginären Bilder, die bei Seuse metaphorisch für den Imaginationsort des Topos Einsiedelei stehen, zu Dutzenden tatsächlich bildlich vorhandenen topischen Orten ausgeformt. So wie Marianus die Wüste als solche in eine Kapelle verwandelt (Abb. 10), sollen die Grafiken dem Betrachter zu Bildern seiner eigenen imaginären Einsiedelei werden.66 Frei nach den Worten Frithjof Schuons: „Jeder Mensch aber sollte ein geistig Schauender  62 Vgl. Ditsche 1960, 128.  63 siehe dazu: Brückner 1986, 297–299.  64 Vgl. Benz 1963.  65 Seuse 1907, 60. Siehe zur Präsenz der Altväter im Werk Seuses: Gnädinger 1980 und Williams-Krapp 1992. Die Relevanz Heinrich Seues für der Devotio Moderna arbeiten heraus: Wolfs 1966, Hoffmann 1994.  66 Holl. 1052. Theodoret von Cyrus Mönchsgeschichte hebt mit den Zeilen an: „Schön ist es, die Kämpfe der trefflichsten Männer und Tugendstreiter zu sehen und mit dem Blicke des Auges daraus Nutzen zu ziehen.“

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Abb. 10: Johannes und Raphael Sadeler nach Maarten de Vos, Marinus, 1600.

sein und unter seinesgleichen wie ein Einsiedler leben, denn das ist seine wahre Bestimmung.“67

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Bartsch 70/2, 411, bzw. British Museum. Abb. 2: Bartsch 70/2, 378. Abb. 3: Bartsch 70/2, 370. Abb. 4: Bartsch 71/1, 117, bzw. British Museum. Abb. 5: Bartsch 70/2, 354. Abb. 6: Bartsch 70/2, 407, bzw. British Museum.

354 Abb. 7: Bartsch 70/2, 349. Abb. 8: Bartsch 71/1, 114. Abb. 9: Bartsch 71/1, 135. Abb. 10: Bartsch 71/1, 127.

Martin Kirves

IV.  URBANE UND LOKALE SAKRALISIERUNG

Brice Gruet

Holy blood, sacred city Naples and San Gennaro, a multisecular story1 Naples is one of the major Italian cities, and the permanent threat of earthquakes and eruptions has created a very special and peculiar local culture. In such a context, San Gennaro’s cult has played a prominent role up to the present day. Indeed, the saint has been the official protector of the city since his martyrdom in 305. And his famous relics, with the so-called “blood”, documented since 1389, are the focal point of the devotion to the saint, and never more so than in the Baroque period, “climaxing” in the eruption of 1631. The blood forms a junction between the sacredness of the saint and the city. But how does this work? I will focus on three main themes: Firstly, the emergence of San Gennaro’s popularity as a protector of Naples against natural and non-natural disasters, secondly, the presentation of the prodigy of the “liquefied” blood and its implications for the symbolization of space and places, and thirdly, the question of the interpretation and signification of the process as a whole.

Introduction Naples is one of Italy’s most important cities, as well as being one of its oldest. Many different cultures have intermingled here and the local religiosity is of a very special and particularly intense kind. San Gennaro’s cult emerged soon after his martyrdom in 305 and quickly became an essential part of the religious life of Naples. The circumstances and events of the saint’s life are far from clear,2 but the story and fate of his relics has been studied in far greater depth and is of much more relevance to us. In fact, the life and deeds of the saint belong as much to folklore as to scientific and historical knowledge. A wealth of literature, apologetic and critical, has been dedicated to the saint. According to the tradition, a pious woman collected two phials of the precious blood just after the saint was beheaded with his two companions in Pozzuoli, a city not far from Naples where, to this day, a church still commemorates the execution of the young bishop, who was probably born in the Ianuaria gens, hence his name, Ianuarius. Those two small bottles became the focal point for the worship of the people of Naples in times of great hardship, such as plagues, wars, earthquakes and, especially, eruptions from Mount Vesuvius. The relics were stolen on account of the

   1 This paper is a work in progress based upon research I am currently undertaking in the Naples region, using the methodology of historical and cultural geography. The following lines should be regarded as notes which set out the initial results of my inquiry.    2 Many versions of the saint’s life are available. Some fake biographies have even been written. See Luongo 2006 for more details.

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power that was attached to them: the head and the bones were to be found alternately in and outside Naples throughout the Middle Ages, and finally “came back” to Naples in 1497 to remain for good in the cathedral. The story of the blood is far less well-attested because we have no real mention of it before 1389. The “miracle” first appears in a chronicle,3 and from that time on, its importance steadily grew, particularly after the Counter-Reformation.4 The relics thus represent the special relationship, forged very early on and deeply rooted, between Naples and the saint. But they also represent a territory, because San Gennaro is from the region and protects “his” region above all else.5 During the medieval period and through into early modern times, San Gennaro was also the patron of the whole Neapolitan realm. The sacredness of the relics have created an intensely strong bond between the people of Naples, the saint, and ultimately, of course, God. This sacredness has a certain territoriality, because if the blood is the symbol of both catastrophic events (and especially Mount Vesuvius) and the saint, this is inscribed in various deeply meaningful places.

Importance and significance of San Gennaro’s relics The first testimonies of San Gennaro’s place as a protector in the religious life of Naples go back to as early as 472, the year of a violent eruption of Mount Vesuvius,6 but at no point are the relics of the saint mentioned. Later, in 685, another testimony certifies the use of the head of the saint by the bishop of Naples.7 An interesting aspect of this is the implicit analogy between the head of the saint and the “head” of the volcano, as if a tête-à-tête between the two entities was the only way to avert disaster. This detail is highly significant because it establishes a very early equivalence between a person and a geographical entity. This analogical comparison will be developed in greater depth later on. In many cases of protection, it is, of course, the notion of intercession that is involved in the process. But what exactly is intercession? In Christianity, it is the idea that a certain entity, and above all Jesus Christ, can act in order to obtain

   3 The blood is first mentioned in the Chronicon Siculum in August 1389: “… et sequenti die XVII facta fuit maxima procexio propter miraculum quod ostendidit dominus noster Jhesus Xps de sanguine beati Januarii quod erat in pulla et tunc erat liquefactum tamquam si eo die exisset de corporebeati Januarii…”, in Sanfelice di Bagnoli 2007, 8 and Petrarca 2006, 166, note 2.    4 Nowadays, San Gennaro’s cult is still very much alive and kicking in Naples, so much so that the celebrations of the saint in May and September are covered by all the national media.    5 San Gennaro was possibly born in Naples, and he was Bishop of Benevent. But San Gennaro is revered throughout Campania.    6 See Alfano 1924, 12.   7 In the Greek Legend of San Gennaro, in Alfano 1924, 23–24. San Gennaro is called “Liberator of the fire”.

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something from the divinity for different people.8 In the case of Naples, the intercession takes on a vital importance, and San Gennaro plays a crucial role in all of this. The activity of Mount Vesuvius after the infamous and devastating eruption of 79 A. D. has not been regular and the magnitudes of its eruptions’ have varied. After some further serious episodes that occurred between 203 and 1270,9 the volcano lay notably dormant until its modern reawakening in 1631. This is to say that the threat of Mount Vesuvius in the late Middle Ages was modest, and the volcano was rather seen as a mountain and nothing more. But with the great eruption of 1631 everything changed, and Mount Vesuvius became, once again, one of the most famous and feared volcanoes in Europe. Several apparitions are attributed to San Gennaro during the eruption, culminating in him being associated with the “cancellation” of the eruption. Huge clouds of burning ash were directly threatening the city, but the intercession of the saint is said to have stopped them.10 These episodes, present in different sources, are absolutely essential to our understanding of the importance and popularity of San Gennaro in modern times because the “miracle of 1631” was taken as a definitive proof of the saint’s efficacy. The apparition of the saint over the crowd in Naples Cathedral and his action against the eruption are considered to be a true and valid miracle by the inhabitants of the city. During the Baroque period, worship of the saint was one of the best attended, but it was not the only one. If San Gennaro remained a major saint in Naples, other saints were also protecting the city.11 This protection might be directed against earthquakes or volcanic eruptions, but it could equally be concerned with heavy rains, starvation, plagues and political upheavals. In a certain way, any extraordinary or abnormal event that could pose a threat to the community was San Gennaro’s domain. This kind of classification is indeed very archaic because it is similar to the Roman prodigia, already known in Etruscan times and by the Romans themselves.12 The problem of the signification of disasters was a real issue because traditional, pre-industrial societies did not understand the natural hazard as a pure hazard, but as a real sign requiring an accurate interpretation.13    8 Scannell, T. (1910), Intercession (Mediation), in: The Catholic Encyclopedia, New York: Robert Appleton Company. Retrieved August 24, 2012 from New Advent: http://www.newadvent.org/ cathen/08070a.htm.    9 The main eruptions are those of 203, 472, 512, 685, 787, 968, 999, 1007, 1036 and 1139. From the website of the Dipartimento di Scienze della Terra, http://www.dst.unina.it/en/25000ac-1631. Consulted in August 2012.  10 Novi Chavarria/Fiorelli 2006, 78.  11 Idem, passim.  12 Distelrath, Götz: Prodigium, in: Brill’s New Pauly, Antiquity volumes edited by Hubert Cancik/Helmuth Schneider. Brill Online, 2012. Reference. Université de Paris 1 Sorbonne. 24 August 2012 http://referenceworks.brillonline.com.janus.biu.sorbonne.fr/entries/brill-s-new-pauly/prodigiume1009420.  13 See Gruet 2006.

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In the case of Naples, the main problem for the city was, and still is, Mount Vesuvius. Directly situated on the outskirts of the city, the most famous volcano in the world was a constant threat to Naples. And yet in spite of this situation, the population of Naples did not decrease. On the contrary, Naples became the second most populated region in Italy. Indeed, during the Middle Ages, Naples was already one of the most powerful and prosperous cities in the Mediterranean region. This presents us with a very strong case of spatial resilience, i. e. a remarkable example of resistance to a very harsh environment.14 But how is this possible?

The symbol of the blood, or the strength of faith It is both a well-known and little-known fact: the “miracle of San Gennaro’s blood” or the “prodigy”, as it is now called in the official terminology of the Church, has existed since 1389 at the latest, but in fact the liturgy of San Gennaro changed quite a lot over the centuries.15 The eruption of 1631 established a certain type of devotion and ritual, still in use today. It is a good example of a popular devotion more or less controlled by the Church but not really promoted by it, even if, officially, the feasts of San Gennaro were fully integrated into the liturgical calendar of the Neapolitan Church. Officially, three times a year, the remains of the so-called “blood” liquefy: once in May, in commemoration of the translation of the relics to Naples; once in September, in remembrance of the martyrdom of the saint; and a third time in December, to commemorate the special intercession of the saint in 1631. So one can logically infer that the ritual part of San Gennaro’s annual celebrations was elaborated between 1497 and 1631, even if the processions for exceptional circumstances are far more ancient. So what exactly happens? The relics consist of three distinct elements: the remains of the body, the head, and the blood of the saint. The remains of the body stay permanently under the main altar in the succorpo chapel of the cathedral. But for the three official occasions, the reliquaries of the head and the blood, now conserved in the cappella del tesoro in the cathedral are brought together.16 The reliquary of the head is a silver-gilt bust, made in the Middle Ages by French craftsmen. The reliquary for the blood, called teca in Italian because the two phials of blood are “stored” in it, is a sort of crowned receptacle made out of crystal and silver. The priest handles the whole receptacle, but he never directly touches the phials, which can nevertheless be clearly seen through the glass. A kind of short handle allows the priest to mani­ pulate the item easily and, above all, to tilt it in both directions in order to clearly show if the “blood” has actually liquefied or not. Inside the receptacle, two small glass bottles can be seen which are filled with a reddish-black solid substance very similar to coagulated blood, and hermetically  14 See Dauphiné/Provitolo 2007.  15 See Petrarca 2006.  16 See Cerino 2009.

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sealed. Some kind of herb can also be seen in one of the phials, and scholars think that this could be a balsamic herb used in funerary rites. This detail and the shape and style of the phials lead us to suppose that the two items are indeed contemporary with the martyrdom of San Gennaro.17 If the bust of the saint is stored in a part of the chapel, the blood is stored in a strongbox locked by two keys: one belonging to the Archbishop of Naples and the other belonging to the delegates of the chapel, i. e. the lay institution representing the city. The strongbox can only be opened using both keys.18 The phials are taken out of the strongbox at the beginning of the feast and are held in procession with the bust. Usually, after prayers and collective petitions, the contents of the two phials may liquefy… or not. For those who believe in the “prodigy”, the blood becomes liquid again, as if it were fresh. Certain records even claim that in some cases, the blood boiled and left a sort of residue. The volume of the substance inside the two phials can also change. An entire phenomenology of the prodigy exists,19 setting out various interpretations.20 If the blood becomes liquid, the crowd poured out its joy and gratitude towards the saint. But the interpretation of the miracle has always varied. In May, a solemn procession filed through the streets of Naples from the cathedral to one of the sedili, the head of a Neapolitan community.21 The procession is inscribed in the urban pattern. It was a dialogue between the Church, the saint and the populace. But this was only the case when nothing serious was happening; if there was a danger, such as an eruption, a special procession, or even several processions, might be organized and directed at the source of the danger. One famous painting depicts a procession to the Ponte della Maddalena, the furthest point before the city ends and the “wilderness” begins, at least on a metaphorical level: the domain of the volcano, outside the eastern part of the city. This very typical procession headed to this particular bridge because, once again, it allowed a “tête-à-tête” with Mount Vesuvius, and a kind of special dialogue between the saint and nature. The intercession can then be validated and the action of the saint immediately witnessed and verified by the people. In this context, the head is more important, perhaps, than the blood. But the liquefied blood can be a proof of the presence of the saint. In modern times, it is often presented as this. During the September celebration, the relics do not leave the cathedral. Everything takes place between the chapel and the main altar. Large numbers of people attend the celebration, and until very recently, the “parenti” – women who were specially dedicated to San Gennaro – encouraged the saint or  17 See Fasola 1985.  18 This custom has been observed at least since the erection of the chapel in 1527.  19 See Alfano/Amitrano 1950, passim.  20 A later poem of the 18th century by a certain Gennaro Radente relates the distinct visible states of the blood and their respective interpretations.  21 There were six sedili, with one added at a later date for the popolo: Nowadays, since the suppression of the sedili in the 19th century, the procession goes to Santa Lucia, one of Naples’ most ancient churches.

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threatened him if the expected prodigy was not forthcoming. In modern times, the Church has once again insisted on the importance of expiation, or the balance between sins and redemption through the saint’s action. Finally, the symbolism of blood, linked to martyrdom, is deeply rooted in Neapolitan culture, and has been for a very long time.

Scales of signification and hermeneutics of space The prodigy of the blood must be understood as the cornerstone of Neapolitan faith and devotion. Catholicism has always been very strong in Naples, even if many other influences are still present, notably the cult of the dead. In the case of San Gennaro’s devotion, the parenti played a prominent role. These pious women, who were placed closest to the relics in the cathedral during the September celebration, were like the saint’s vanguard because they were the true intermediaries between the people of Naples and the liturgy. Being drawn from the people, they were like the true deputies for the city with the saint. It is uncertain when exactly they made their first appearance, but it is highly likely that they were already present in the modern age, and possibly even earlier. They prayed to the saint in the Neapolitan dialect, and their prayers were (and still are) rigorously in line with Counter Reformation Roman Catholicism. This small group is in itself representative of this function of a junction between different scales of space and signification.22 It is difficult to understand how something as small as two phials of an unknown substance can become the whole crucible of faith and religiosity for a large city, and at the same time be the symbol of martyrdom, sanctity and disaster. Indeed, the “boiling blood” – or, put more simply, the liquefied substance inside the phials – is regarded as an equivalent of the eruption. It is a pure analogy because during the Middle Ages (and even at the beginning of the modern period), the physics of volcanoes was very poorly understood. In the theories of natural philosophy, lava, for instance, was not seen as molten rock, but as a kind of “fire”. But it is easy to understand the force of such an analogy and its capacity to encapsulate a highly complex superposition of meanings. Firstly, the relics themselves, head and blood, when reunited are a symbol of completion and pristine unity.23 However, the independent behavior of the blood is entirely uncontrollable because it is said that, on various occasions, the blood, rather than being in its solid state, had already liquefied in the strongbox. At the other extreme, the blood may not liquefy at all, even after many hours of collective prayers and petitions.24 Secondly,  22 In geography, each scale of analysis can be also viewed as a kind of discourse. And this discourse needs a special interpretation.  23 The ancient sources insist on the importance of the proximity of the relics. See Petrarca 2006, 167, note 5.  24 This phenomenon can still be observed if you visit the cathedral during one of the celebrations. The relic is shown seven days after the prodigy, and each person who attends the mass can see it before the Eucharist.

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there are the priests, as the representatives of the Christian population, and the place where the prodigy occurs, i. e. the cathedral or the sedile piazza.25 It can also occur outside, towards the volcano, for example. Thirdly, the open space of the city and its streets are a significant theater for the efficacy of the relics: the whole population is involved in the prodigy, and how this affects the behavior of Neapolitans is quite remarkable. Collective expiation vows and many secondary processions could take place in the city at the same time. Fourthly, the disaster itself, and especially the landscape and territory of Mount Vesuvius, resemble the “outside” world, but are directly linked to the territory of the city. In Naples, the volcano is everpresent, literally at the gates of the city. And fifthly, the whole world may also be involved in the prodigy because its interpretation was considered to be a kind of great omen for the whole of Christian world – and even beyond. Each level has its own meaning and logic. Each spatial scale corresponds to a social scale and to a certain level of signification.26 But each level is linked to the other without a solution. This means that, on a symbolic level, the phials are actually in direct relation with the disaster. At the same time, the saint himself is in direct contact with the danger. In the special case of the eruptions of Mount Vesuvius, the “boiling blood” is seen as an equivalent of the “boiling” volcano, but kept under the watchful eye, so to speak, of the saint. This could be called a geosymbol27 because it is like a concentrate of a landscape, a population, and the collective behavior of this population towards a dangerous and changing landscape. The French geographer Augustin Berque adapted Watsuji Testsuro’s concept of fudosei and proposed the term “mediance”,28 to express the central relationship between man and nature manifested through both technique and symbolism, intertwined in a permanent movement inward and outward. Mediacy is a good way to understand the importance of the analogy and symbolization of nature in human environments. This point of view blurs the secular opposition of objectivity and subjectivity because mediacy implies a constant input and output to and from human societies and nature. In such a case, San Gennaro’s blood is strongly linked to the Naples region and territory through the different processes of worship (prayers, processions, etc.), urban management and the understanding of natural disasters. This mediatization of the world has its counterpart in a deeper understanding of nature – nature not seen as opposed to the human world, but seen as a part of human world, which is an entirely different vision. We are within nature and nature is within us. This is closer to the Far Eastern animist vision of nature (especially the Shintô), but the concept of mediacy can be adapted to many other cultures.

 25 Many beautiful but non-permanent architectured scenographies were imagined in the 1600s.  26 For this reason, it is possible to talk of space hermeneutics. Space is understood as a meaningful entity (eine bedeutende Wirklichkeit).  27 Bonnemaison 1981.  28 Berque 1990. This could be translated into German as “Vermitteltheit”.

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Sacredness, through the holy blood of San Gennaro, plays a crucial role. Blood in Christianity is considered to be a very precious and valuable sign in the Passion of Christ. The symbolism of blood is extremely rich and the value of sacrifice makes up an essential part of it. The blood, as a sign of life and a symbol of the soul, constitutes a highly complex reference. The Last Supper proposed an equivalence between the sacrifice and the memory of Christ. It is then presented by the Church through the Eucharist as the most perfect and ultimate form of sacrifice, creating a sort of paragon of sacredness. And the transfer of sacredness from Christ to his saints manifests itself through martyrdom: the martyr is the imitator dei because of his/her accepted death. In San Gennaro’s case, the saint’s blood is a metonymy of the saint, the city and the danger. Thus the analogy between the eruption and the ebullition of the blood is a fascinating mirror of the peculiar situation of Naples. If the relics create a sacred space through their own supposed inner power and efficacy, they also make the space sacred where the ritual takes place. Hence, the sacredness is metaphorically transferred to other spaces and persons, linked to the first ones by symbolic media, or, more accurately, through mediacy. It is for this reason that the “blood” can simultaneously represent a volcano and a saint. The superposition of significations is quite remarkable and seemingly unlimited. The interplay between the saint, his blood, the city and the volcano makes a kind of cross of interactions.29 Thus a progressive transfer of sacredness makes the whole process possible. The sacred relics create a sacred space during the processions, like a shell of sacredness around the relics and those who “use” them. To recapitulate: the strongbox, the chapel, the cathedral, the streets of the city and finally the whole realm of Naples are all encapsulated one within the other. Finally, the universe acts as a witness to the prodigy and its consequences. The intercession acts directly on the disaster and mitigates it through different, contingent ways.30

Conclusion The collective memory of disasters and the symbolic legacy through the sacredness of the “holy blood of San Gennaro” are intimately intricate. These two small phials are in themselves a source of sacredness that irradiates out over the whole city. A recent book was even entitled Urbs Sanguinum, the “city of blood”, because San Gennaro is not the only saint capable of performing the miracle of the liquefied blood. The prodigy is also attributed to other saints31… But the significance of San Gennaro’s is far more important because it played (and still plays) a crucial role in  29 This cross, after Saint Anselm, was called a semiotic square by Greimas. See Greimas/Courtés 1979.  30 For example, during the 1631 eruption, after the apparition of the saint, a strong wind blew the burning ashes out to sea.  31 See Malafronte/Maturo, 2008. An archive has been kept by the deputation of the chapel since the 17th century to preserve the memory of the miracle. This is part of my on-going research.

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the protection of the people of Naples. The social insertion of the prodigy was extremely strong throughout the Middle Ages and into the modern period. Because an earthquake or an eruption cannot be prevented and both are quite unpredictable, the devotion to the saint can be seen as the only way to achieve a sense of comfort and relief, and even to survive. During the very first period of devotion to the saint, the theme of protection was already quite evident. But the legend was completed during the late Middle Ages and found its apogee with the Counter-Reformation movement. The polemic period began in the late 17th century, partly as a result of Protestant criticism. After the eruption of 1631, a vast number of books about the eruption and the devotion to the saint were published. It was one of the most significant natural disasters in Europe of its time. The idiosyncrasy of Naples is quite remarkable and it has always fascinated visitors, especially during the Age of Enlightenment, if only to sharply criticize or even deny the phenomenon of the “miraculous blood”. The so-called “naive people” and the “squalid clergymen” were often evoked to explain the fortune of the prodigy. How simple this is, when compared to the complexity and richness of the phenomenon! But superstition is not a relevant term to understand this: the internal logic of this cult is rooted in the Christian theology of salvation and redemption and in a secular culture centered on natural hazards. San Gennaro’s devotion is shared, though perhaps not in the same way, by the people and the clergy. The symbolism of the blood merges together a city, a people, a saint and especially, but not only, a volcano. The relationships between those elements draw a unique mental landscape in which the sacred still plays an essential part.

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Gruet, Brice: Le Cyclope et l’Atlante. Phénomènes tectoniques et sociétés humaines en Campanie du Ier au XVIe siècle. (Mémoire de maîtrise soutenu en Sorbonne en 1993 sous la direction de MM. Jean-Marie André et Jean-Robert Pitte), Paris 1993. [URL: https://www.academia.edu/2102470/Le_Cyclope_and_lAtlante_Societes_humaines_et_ phenomenes_telluriques_en_Campanie_du_Ier_au_XVIe_siecle (09.05.2014)] Gruet, Brice: Les sociétés face aux catastrophes naturelles, in: Les sciences de la vie et de la terre au XXIe siècle: enjeux et implications (les actes de la DESCO), Buc 2006, 139–146. [URL: http://eduscol.education.fr/cid46151/le-point-de-vue-de-l-historien-geographe %C2%A0-les-societes-face-aux-catastrophes-naturelles.html (09.05.2014)] Luongo, Gennaro (ed.): San Gennaro nel XVII Centenario del martirio (305–2005), Naples 2006–2007, 2 vol. Malafronte, Lucia, Maturo, Carmine: Urbs Sanguinum. Itinerari alla ricerca dei prodigi di sangue a Napoli, Naples 2008. Mileto, Santa/Speranza, Fabio: I luoghi di san Gennaro. Catacombe, chiese e cappelle dedicate al patrono di Napoli, Naples 1997. Novi Chavarria, Elisa/Fiorelli, Vittoria: I santi del Vesuvio, in: Alla scoperta del Vesuvio, Naples 2006, 77–85. Petrarca, Valerio: Morfologie rituali del culto di san Gennaro: costanti e trasformazioni tra età moderna e contemporanea, in: San Gennaro nel XVII Centenario del martirio (305– 2005), ed. by Gennaro Luongo, Naples 2006–2007, II, 165–183. Ricciardi, Giovanni P.: Diario del Monte Vesuvio, Naples 2009. Sanfelice di Bagnoli, Pierluigi: San Gennaro. Vescovo e martire, santo protettore della città di Napoli, Naples 2007. Scannell, T.: Intercession (Mediation), in: The Catholic Encyclopedia, vol. 8, New York 1910. [URL: http://www.newadvent.org/cathen/08070a.htm (24.08.2012)]

Sources Fig. 1: Photo Brice Gruet Fig. 2: Roberto di Stefano, La Cattedrale di Napoli, Naples 1975. Fig. 3: Photo Arte tipografica Napoli. Fig. 4: Photo Arte tipografica Napoli (www.museotesorosangennaro.it). Fig. 5: Alla scoperta del Vesuvio, a cura di Giovanni P. Ricciardi e Titti Postiglione, Electa, Naples 2006. Fig. 6: Giovanni and Riccardo Lamberti. Fig. 7: Photo Brice Gruet.

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Fig. 1: San Gennaro between two other saints. San Gennaro’s catacombs, fresco, 6th century, Naples.

Fig. 2: General map of the cathedral complex with the chapel. Reconstruction of the 17th century.

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Fig. 3: San Gennaro’s silver bust, given by Charles II d’Anjou to the cathedral in 1305. Work by the craftsmen Étienne Godefroyd, Guillaume de Verdelay and Milet d’Auxerre.

Fig. 4: A detail of the reliquary of the blood. The larger phial can contain approx. 60 ml.

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Fig. 5: San Gennaro ferma la lava del Vesuvio, unknown artist, from the second half of the 17th century, Oil on canvas, Naples, Santangelo collection, 99 x 126 cm.

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Fig. 6: Domenico Gargulio, aka Micco Spadaro (Naples 1609–1672). Il trasporto delle reliquie al ponte della Maddalena durante l’eruzione del 1631. Oil on canvas; Private collection, 125 x 178 cm. The saint is clearly visible in the upper right-hand section of the picture.

Fig. 7: Francesco Grimaldi, Cappella del Tesoro, Naples Cathedral.

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Sounds of Urban Memory Music and Sacred Space in Medieval Abruzzi Two Abruzzese medieval sources, MS Vitt. Em. 349 of the Biblioteca Nazionale Centrale of Rome, from l’Aquila, and MS 1 of the Museo Diocesano in Sulmona, are able to shed light on the existence of seminal links between music, ritual and urban space, revealing the path of ancient processions. Comparing these data with recent studies of urban archeology in medieval Abruzzi, both rites show clear traces of the archaic lustratio, through which the ancient community fixed the urban sacred space, ‘purifying’ its borders.

In the historical process of forming local identities, the paradigm of a city usually coincided with the image of its walls. Indeed, from ancient times, walls recur in the founding myth of numerous settlements, not only as defensive structures but also as the materialization of a perimeter whose significance was enhanced by specific purification rites.1 Starting from the Middle Ages, this concept gradually developed, and the idea of city walls as the confines of a sacred space, the image of the town, brought new evidence in the visual arts: frequently, for instance, representations of patron saints as urbis custodes bear in the palm of their hand a model of the city stylized within its fortifications.2 On occasions, the city’s destiny was entrusted to more than one patron, as in the case of l’Aquila which, on a banner painted in 1579 by Giovanni Paolo Cardone, is portrayed against a wide panoramic view, borne by as many as four saints (Plate 1). This may give a measure of the devotion still existing in the town chosen on August 29 1294 by the hermit Pietro del Morrone to host his papal consecration as Celestine V. On that occasion, which took place in the basilica of Santa Maria di Collemaggio, he also granted the first perpetual plenary indulgence – known today as the Perdonanza Celestiniana and a direct forerunner of the Grand Jubilee of Boniface VIII – to all who visited the place on the anniversary of his coronation. In the text of the privilege,3 a special role was assigned to the music, destined to accompany the arrival of the penitents by virtue of the invitation, universis Christi fidelibus, to celebrate that day with hymnis et canticis.4    1 See, for example, Le Goff 1982, or the interesting historical excursus entitled Un recinto di identificazione: le mura sacre della città dell’età classica al Medioevo, published by Mantini 1995, 25–35.    2 On the origins of this iconographic tradition, cf. Camelliti 2010 with annexed bibliography.   3 The bull Inter sanctorum solemnia, preserved at l’Aquila in the tower of the town hall, was published in Potthast 1957, no. 23981.    4 This expression is attested in two of St. Paul’s epistles (Eph 5,19 and Col 3,16), but also recurs in several Franciscan sources, such as the Legenda maior by Bonaventura da Bagnoregio (XV,5) and the Legenda perusina (CIX).

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Plate 1: Giovanni Paolo Cardone, Banner of l’Aquila (1579). L’Aquila, Museo Nazionale d’Abruzzo (ph: Gino Di Paolo).

The citizens of l’Aquila interpreted this musical requirement not only with an abundant production of vernacular laude, but also by organizing an expiatory dance involving the whole people, appointing three dance masters for each district. Although in the Middle Ages dances were generally condemned by public opinion

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and especially by the Church,5 in May 1434, in defence of this custom, a municipal statute even sanctioned cutting out the tongues of any detractors and their perpetual banishment from the surrounding area.6 In subsequent centuries, the tradition itself flagged: only the music of such dances (the so-called soni) were preserved and continued to be performed by several groups of players from various parts of Italy, who in the eight days before both Celestine festivals (the said indulgence on August 29, and his name-day on May 19) processed along a prescribed path from the town hall to the basilica of Collemaggio, playing their instruments (Plate 2).7 The importance of this itinerary should also be considered in connection with the tradition, documented from the Cinquecento onward, according to which the foundation of l’Aquila was based on the layout of Jerusalem:8 from this point of view, comparing the respective sites, Collemaggio would represent the Holy Sepulchre. Apart from the issue of authenticity, this legend – related to the medieval founding myth of various Italian cities9 – probably flourished at the arrival of Celestine V, whose election gave rise to a millenarian ferment since it was believed that it indicated the beginning of the Age of Holy Spirit which, according to the Liber figurarum of Gioacchino da Fiore, would take place in a new Jerusalem. It is thus, perhaps, no coincidence that on the occasion of his coronation Celestine V, duly advised, entered the city riding a white donkey, id est imitating the entry of Christ into Jerusalem.10 However that may be, for l’Aquila at least, those years effectively saw the beginning of a new era. Founded in the mid-thirteenth century close to the border between the Kingdom of Sicily and the Papal States for anti-feudal reasons, the city was razed to the ground as early as 1259 by Manfred of Swabia as a result of its accession to the Guelph party. It was, in fact, being rebuilt at the bidding of the Angevin dynasty, which also authorized the building of a much more extensive circle of walls, completed around the first quarter of the fourteenth century. In the absence of any visible remains of the early settlement, a reading of these transformations – highly topical after the earthquake on April 6 2009 – has so far been the preserve of archeologists and town planners. But to support their investigations, new evidence is now available in the city’s devotional repertory. In this regard, special attention should be paid to the principal literary source of laude in honour of St. Celestine: MS Vitt. Em. 349 at the Biblioteca Nazionale Centrale in Rome, which belonged to the Aquilan confraternity of the Disciplinati di San Tommaso d’Aquino, active in the chapel of the same name in the church of the Dominicans.11 The codex, a paper volume that can be dated, on palaeographic evidence, to the half of the fifteenth century, consists of 57 pieces, arranged substan   5 On the reactions – often highly contradictory – that dance provoked in religious literature from the Middle Ages and Early Modern Era, see Arcangeli 2000, 69–105, and Zimei 2010, 322–338.   6 Statuta Civitatis Aquile, ed. Clementi 1977, 367–368.    7 See Zimei 2015, chapter 6.    8 See Pasqualetti 2013.    9 See Benvenuti/Piatti 2013.  10 Cf. Pasqualetti 2013.  11 A summary of this manuscript is published in De Bartholomaeis 1924, 335–344.

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Plate 2: Itinerary of soni for Celestine festivals at l’Aquila, from the town hall to the basilica of Santa Maria di Collemaggio, identified on a city map engraved by Giacomo Lauro (Rome 1622).

tially in the order of the liturgical calendar. As a result, the coinciding of several feast-days indicates a more stringent chronology: in particular, the fact that Con reverentia disse Ave Maria, on f. 24v, for the Feast of the Annunciation (March 25), is placed between the lauda for the Canonical Hours of the Adoration of the Cross, to be sung at Vespers on Holy Saturday, and the Devotione della festa de Pasqua, for Easter Sunday. It follows that, in the year in which the manuscript was compiled, the Feasts of the Annunciation and Easter fell on two consecutive days – and

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throughout the Quattrocento this happened only in 1448. An interesting corroboration of this hypothesis comes from the final part of the laudario, where the text in honour of St. Benedict, Glorioso confessor san Benedicto (f. 72v) immediately precedes the one for the third Sunday of Lent, a sequence that is wholly analogous to that of 1449, when the two feast-days were in a row (March 21 and 23). A greater problem, on the other hand, would have been posed by ff. 55v–57v, a set of ten pieces – nine of which comprising a single strophe – with rubrics featuring the use of the preposition ‘ad’ rather than the more usual ‘de’, skipping from St. Augustine (August 28) back to St. Mark (April 25), then forward to St. Francis (October 4) and back again to St. Peter (June 29), and so on, if l’Aquila had no churches with these precise dedications. Enlightening in this connection is the presence of two laude in honour of the Apostle: the title of the first, Ad Sancto Petro de Popplito, refers to the parish built intra moenia by the inhabitants of Coppito, one of the villages – now a suburb – that took part in the foundation of the city. The second, however, Ad Sancto Petro, this time de Saxa, concerns another church, not far from the previous one, built by the inhabitants of Sassa. But more is to come. The entire sequence shows a precise topographic consistency, revealing what was clearly a processional itinerary, which the text previous to it – Virtù divina di·llassù venisty, with the rubric Laude del Corpo de Christo (f. 55) – allows us to assign confidently to the feast of Corpus Christi. At this point, the use of ‘ad’ clearly implies that each lauda was to be sung before the church with which it was associated:  Laude del Corpo de Cristo

Lauda of the Body of Christ

Virtù divina di·llassù venisty, c’amasti tanto l’umana natura: per trarela dalla pena aspera e dura su nella croce morire volisty.

O Divine Virtue from Heaven come down, Thou who so loved human kind: To redeem them from Hell’s harsh pains Didst die upon the Cross.

Humanità na Vergene prendisty: facto Dio et homo per nostra salute, l’anime che erano perdute dello tou sangue tu le redemisty.

Thou wast incarnate in the Virgin: God become man for our salvation And the souls that were lost Thou hast redeemed through Thy Blood.

O Yhesu Cristo, lassare volisty ally cristianj el sancto Sacraminto et lu tou corpo ad nostro salvaminto per conmunione ally apostoly desty.

O Jesus Christ, Thou didst leave To Christians the Holy Sacrament, And Thy Body for our salvation In communion gavest Thine Apostles.

[i] Laude ad Sancto Augustino

Lauda before Sant’Agostino

 Poy che credisti nella Trinitate, o glorioso doctore Augustino, fusti di fore dello infernal domìno: ày alluminata la cristianitate.

When in the Trinity thou didst believe, O glorious doctor [of the Church] Augustine, No longer under Hell’s dominion, Thou hast enlightened Christendom.

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[ii]  Laude ad Sancto Marco

Lauda before San Marco

 San Marcho, pietuso vangelista, da sancto Petro apostolo imparasty, evangelista doctrina predicasty: chi che la serva el paradiso acquista.

Saint Mark, compassionate Evangelist, From Saint Peter Apostle thou has learnt, His Gospel doctrine thou didst preach: That those who practice it reach Heaven.

[iii]  Ad San Francisco

Before San Francesco

 Francischo confessore da Dio electo tra li beati nella sancta gloria, nello tou corpo ad eterna memoria le stìmata mandò ch’erj perfecto.

O Francis, confessor elect by God Amongst the blessed in holy glory, On thy body as eternal reminder Of thy perfection, He sent the stigmata.

[iv]  Ad Sancto Petro de Popplito

Before San Pietro di Coppito

 Ad sancto Petro Signore dicistj: “Petrj te chiami e sopre questa preta, perché la mente ày scì mansueta, la Ecclesia in te porrò perché cridisty”.

To Saint Peter, Lord, Thou said: “Peter thy name and on this rock” – Thou whose mind is calm itself – “I build my Church, for thy belief ”.

[v]  Ad Sancto Dominicho

Before San Domenico

 Sancto Tomasci de Aquino doctore, lume de sancta Ecclesia et della fede, cercha per tuct’i peccator mercede ad Cristo ch’è lu nostro redemptore.

O Doctor, Saint Thomas Aquinas, Light of holy Church and Faith, Seek pardon for all sinners From Christ, who is our Redeemer.

[vi]  Ad Sancto Sebastiano

Before San Sebastiano

 O martire glorioso Sebastiano, o cavaleru de Dio, che tucti satia, per tuct’i fidely demanda la gratia e non te scorde el populo aquilano.

O glorious martyr Sebastian, Knight of God, who satisfies all, For all the faithful ask for grace And don’t forget the Aquilan people.

[vii]  Ad Sancto Quinçano

Before San Quinziano

 Sancto Quinzano cavalerj de Deo, tu fusti per la fede tormentato. El populo tou te sia ricomendato, che Dio li scampe d’onne penser rio.

O Saint Quinziano, knight of God, Thou wast tormented for thy faith. Commend thy people That God protect them from all bad thoughts.

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[viii]  Ad Sancto Petro de Saxa

Before San Pietro di Sassa

 San Petro primo nella santa Sede, Cristo del papatu te fe’ digno: donòte le chiavj dello sancto regno. Per li toy servj cercha a Dio mercede.

Saint Peter, of the Holy See Christ made thee worthy as first Pope: Gave thee the Holy Kingdom’s keys. Beseech God to pardon thy servants.

[ix]  Ad Sancto Blaxio

Before San Biagio

 O gloriosi martirj biatj, san Blasio e ’l pretïoso Victorino: o martiry iacete in Monte Armino, sciate denantj a Dio nostry advocatj.

O glorious and blessed martyrs, Saint Biagio and precious Saint Vittorino: O martyrs that rest on th’Armenian mount (Ararat), Be our advocates before God.

[x]  Ad Sancto Massimo

Before San Massimo

 Rendamo gratie al martir glorïoso: san Maximo dell’Aquila è patrone. Denanti a·dDio per nuy faccia oratione che·nne dea pace et eterno riposo.

We give thanks to the glorious martyr: Aquila’s patron, Saint Massimo. Pray to God for us To give us peace and eternal rest.

Lu ’mperadore assay desiderosu tuct’i cristiani scì persequitava. Quagiù in Forcone ad Maximo mandava unu offitiale: o quanto era furioso!

The emperor (Decius), with great zeal All Christians persecuted. Here below at Forcona he sent Massimo An officer: how furious he was!

San Massimo, diacono gratioso, dallo offitiale ractu fo chiamatu: “Chi è quisto Cristo de chi ày predicatu? Dici che sopre li altry è più famoso”.

Saint Massimo, a deacon full of grace, By the officer was called at once: “Who is this Christ that you preach, Saying He is greatest of all?”

El martire beato virtuoso responde con parole honeste e scorte, non curando recepere morte: “Cristo è vero Dio sempre pietuso.

The Blessed Martyr, of virtue full, With honest, prudent words replied, Unbothered by death’s sentence: “Christ is true God, ever full of compassion”.

Cristo è quil Verbo che stette rechiuso nel corpo della Vergene mandatu et di po’ parto quil corpo beatu vergene rimase pretioso”.

“Christ is that Word that being sent Was closed within the Virgin’s womb: After childbirth that blessed body Retained its precious virginity”.

Quillo offitiale fo tanto innogiuso: voleva che renunzasse il vero Dio. san Maximo, perché non consentìo, fe’·llu gectare dalla rupe in giuso.

The officer, profoundly full of hate, Ordered the saint to renounce the true God. Since Massimo did not consent, The officer had him hurled from a cliff.

The singular brevity of the intermediate laude, all comprising a quatrain of hendecasyllables with the rhyme ABBA, thus clarifies their function as pieces of ‘transition’, to be sung to the same music, which the confraternity members probably took, in

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accordance with the practice of contrafactum, from a repertory of interchangeable settings based on contemporary models of the so-called canzonetta giustinianea.12 A plausible example of the genre, applicable to a certain extent to the Aquilan context, is provided by a text – with the very same rhyme scheme – attributed to Giovanni da Capestrano, one of the major protagonists of the Friars Minor Reformed Observance, a native of the area and often present in the city as a preacher and tireless promoter of devotional and charitable activities: Amor Yhesù perché ’l sangue spargisti. An important fifteenth-century source of ‘cantasi come’,13 the MS Chigi L. VII 266 in the Vatican Library, suggests that it should be sung to the music of Madre che festi colui che te fece, here in a version for two voices handed down to f. 30v of MS Ital. IX, 145 in the Biblioteca Nazionale Marciana in Venice:

 12 Cf. Zimei 2015, 132, 145–146.  13 This expression, frequently attached to lauda texts of the Renaissance, concerns instructions as to a song, clearly known by heart, whose melody should be used in singing the piece. For a comprehensive database of the major occurrences, see Wilson 2009.

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Example 1: Musical reconstruction of the lauda Amor Yhesù perché ’l sangue spargisti by Giovanni da Capestrano according to the ‘cantasi come’ written in the MS Chigi L. VII 266 of the Biblioteca Apostolica Vaticana.

But let us return to the procession. As we can see (Plate 3), the series described a perpendicular route which, starting from the Cathedral of San Massimo, winds its way through the main thoroughfares of the city centre – cardo and decumanus, corresponding to the present-day Corso Vittorio Emanuele II and Via Roma, plus the parallel Via Sassa, halting in succession at the churches of Sant’Agostino, San Marco, San Francesco a Palazzo, San Pietro di Coppito, San Domenico (to which, as the seat of the Confraternity, a lauda in honour of St. Thomas Aquinas is actual-

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Plate 3: Itinerary of the Corpus Christi procession in l’Aquila, highlighted on a city map engraved by Giacomo Lauro (Rome 1600).

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ly dedicated), San Sebastiano, San Quinziano di Pile, San Pietro di Sassa and San Biagio d’Amiterno, then returning to the main square. This itinerary was, moreover, still in use at the beginning of the nineteenth century, when its main function had become the Good Friday procession, along which the townsfolk processed, bearing a catafalque with a statue of the Dead Christ.14 This could lead us to think that this shift of devotions merely reflects the continuous centuries-old use of the same route. If, however, we compare our data with the results of surveys carried out years ago on the particular structure of the urban centre delimited by it, we discover that this space largely coincides with what several scholars have deduced must have been the early perimeter of the city: a “quadrante”, whose “trama stradale […], a differenza di quelli angioini, tende a convergere e a chiudersi su vertici reali o virtuali.”15 In other words, its symbolic value, reaffirmed periodically by ceremonies, served as a memorial of the foundation rite. A case dense with interesting analogies is documented – moreover in a far more explicit fashion – in nearby Sulmona, a city of far more ancient origin. At the time of the poet Ovid, whose birthplace it was, the city was already a Roman municipality and, during the medieval period, gave rise to a complex procession in the area within the original walls, starting from the Cathedral of San Panfilo with stations in front of all the town gates and the principal religious buildings.16 It is handed down in the contents of MS 1 of the Museo Diocesano, a small parchment codex created in the Quattrocento by assembling several gatherings on ritual subjects, compiled largely during the previous century. The texts, all of them in Latin, introduced by rubrics almost always featuring – just as at l’Aquila – the use of the preposition ‘ad’, consist of versiculi and responsoria, with alleluia refrain, followed by an oratio. The existence of two different drafts, located on ff. 35v–42 and 64–67v respectively and featuring additions and interpolations, reflects the compiler’s need to adjust the itinerary to the growing housing expansion which, between the thirteenth and fourteenth centuries, involved radical transformations,17 showing, from a technical point of view, “il passaggio della città dalla sua forma di impronta essenzialmente romana a quella medioevale.”18 On ff. 48v–50, preceded by a page set to music in square notation, the following tabula summarizes the various stages of the rite, indicating the rubric for each station together with the first words of the corresponding prayer, here supplemented by the related verses:

 14 Cf. Emidio Mariani, Notizie storiche della città dell’Aquila, l’Aquila, Biblioteca Provinciale “S. Tommasi”, MS 583, 20–21.  15 Clementi/Piroddi 1986, 32: “a quadrant” whose “road network […], unlike Angevin [town centres], tends to converge and end in real or virtual vertices.”  16 Cf. Pansa 1894 and Di Tirro 1999.  17 Cf. Mattiocco 1994, 40–48.  18 Di Tirro 1999, 16: “the transition of the town from its essentially Roman to its medieval form.”

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 [Alleluia; Exurge Domine adiuva nos]  Ante altare Sancti Pamphilj. Oratio [V. Dicite in gentibus; R. Quia Dominus regnavit a ligno] j  Deus qui pro nobis filium tuum Deinde pro civ[ita]te et pro sancta Maria  [V. Regina celi letare R. Quia quem meruisti portare] j  Deus qui per unigeniti filij tuj Pro sancto Pamphilo [V. Ora pro nobis beate Panphile; R. Ut digni efficiamur promissionibus Christi] j  Deus qui beatum Pamphilum Pro sancto Pelino [V. Ora pro nobis beate Peline; R. Ut digni efficiamur promissionibus Christi] j  Omnipotens sempiterne Deus Ad Sanctum Amicum  [V. Iustum deduxit Dominus per vias rectas: R. Et ostendit illi regnum Dei] j  Devotionem populi tui Ad Portam Sancti Amici [V. In te Domine speravi, non confundar in eternum; R. In tua iustitia libera me] j  Populum tuum Domine Ad Sanctum Andream de fore [V. Antreas Christi famulus dignus Dei apostolus; R. Germanus Petri et in passione socius] j  Maiestatem tuam Domine  Ad Sanctam Mariam de fore  [V. Dignare me laudare te virgo sacrata; R. Da mihi virtutem contra hostes tuos] ij  Concede nos famulos tuos Ad Sanctum Agustinum [V. Amavit eum Dominus et ornavit eum; R. Stolam glorie induit eum] ij  Deus qui beatum Agustinum Ad Sanctum Matheum [V. In omnem terram exivit sonus eorum; R. Et in finis orbis terre verba eorum] ij  Beati evangeliste Mathei Ad Portam Romanam  [V. Fiat Domine misericordia tua super nos; R. Sicut speravimus in te] ij  Protege Domine populum tuum Ad Portam Sancti Pamphilj [V. Salvum fac populum tuum Domine; R. Et benedic hereditati tue] ij  Via sanctorum omnium Ihesu Christe

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 Ad Sanctam Mariam Pretallune [V. Ora pro nobis santa Dei genetrix; R. Ut efficiamur promissionibus Christi] iij  Deus qui virginalem Ad Sanctum Petrum [V. Petrus apostolus et Paulus doctor gentium; R. Ipsi nos donaverunt legem tuam Domine] iij  Deus cuius dexteram beatum Petrum Ad Portam Iohannis bonj hominis [V. Ostende nobis Domine misericordiam tuam; R. Et salutare tuum da nobis] iij  Omnipotens sempiterne Deus  Ad Sanctum Andrea de Postergula  [V. Maximilla Christo amabilis tulit corpus apostoli; R. Optimo loco cum aromatibus sepellivit] iiij  Quesumus omnipotens Deus Ad Postergulam [V. Converte Domine captivitatem nostram; R. Sicut torrens in austro] iiij  Gregem tuum  Ad Sanctam Mariam novam [V. Ave Maria gratia plena Dominus tecum; R. Benedicta tu in mulieribus] iiij  Omnipotens sempiterne Deus  Ad Portam Finamabilis [V. Fiat pax in virtute tua; R. Et abundantia in turribus tuis] v  Veniat super nos, quesumus Domino Ad Sanctum Angelum [V. In conspectu angelorum; R. Psallam tibi Deus meus] v  Deus qui miro ordine angelorum  Ad Portam Sancti Antonij [V. Domine in nomine tuo salvum me fac; R. Et in virtute tua libera me] v  Respice, quesumus Domine, plebem tuam  Ad Portam Sancte Marie [V. Eripe me de inimicis meis Domine; R. Et ab insurgentibus in me libera me Domine] v  Virginis matris tue  Ad Sanctam Mariam de Tumba [V. Post partum virgo inviolata permansisti; R. Dei genetrix intercede pro nobis] vj Deus qui hodierna Dei

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 Ad Sanctam Mariam de Porta Nova [V. Diffusa est gratia tua; R. Propterea benedixit te Deum in eternum] vj Dirigantur, quesumus Domine  Ad Portam Novam  [V. In te inimicos nostros ventilabimus cornu; R. Et in nomine tuo spernemus insurgentes in nobis] vj Da, quesumus Domine, ut expurgatis  Ad Sanctam Luciam [V. Specie tua et pulchritudine tua; R. Intende prospere procede et regna] vj Exaudi nos Deus salutaris noster  Ad Sanctum Antonium [V. Iustum deduxit Dominus per vias rectas; R. Et ostendit illi regnum Dei] vij Deus qui concedis obtentu  Ad Sanctam Claram [V. Adiuvabit eam Deus vultu suo; R. Deus in medio eius non commovebitur] vij Famulos tuos quesumus Domine  Ad Sanctum Franciscum pro sancta Maria Magdalena [V. Ora pro nobis beata Maria Magdalena; R. Ut ea te Mariam] vij Beate Marie Magdalene  Ante Portam Salvatoris [V. Esto nobis Domine turris fortitudinis; R. A facie inimici et persequentibus] vij Civitatem istam quesumus omnipotens Deus  Pro rege nostro n. [V. Salvum fac regem nostrum Domine; R. Exaudi nos in die in qua invocaverimus te] viij Quesumus omnipotens Deus ut famulj tuj19 n.  Ad Portam Pace[n]dranam [V. Dominus virtutem populo suo dabit; R. Et benedicat populo suo in pace] viij Quesumus omnipotens Deus  Ad Portam Fontis [V. Laudans invocabo Dominum; R. Et ab inimicis meis salvus ero] viij Quesumus omnipotens Deus ut corpus  Ad Sanctum Thomasium  [V. Gloria et honore coronasti eum Domine; R. Et constituisti eum super opera manuum tuarum] viiij Deus pro civitatis ecclesia gloriosus

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 Ad Sanctam Chatarinam [V. Veni sponsa Christi; R. Accipe coronam vite] viiij Deus qui dedisti legem Moysi  Ad Portam Manere[s]cham  [V. Da pacem Domine in diebus nostris; R. Quia non est alius qui pugnet pro nobis nisi tu Deus noster] viiij Benedictio tua Domine  Ad Sanctum Bartholomeum [V. In omnem terram exivit sonus eorum; R. Et in finis orbis terre verba eorum] viiij Omnipotens sempiterne Deus qui huius  Ad Sanctum Dominicum [V. Os iusti meditabitur sapientiam; R. Et lingua eius loquetur iudicium] viiij Deus qui ecclesiam tuam  Ad Sanctum Nycolaum [V. Elegit eum Dominus sacerdotem sibi; R. Ad sacrificandum ei hostiam laudis] x Deus qui beatum Nicolaum  Ante Portam Johannis Paxarj [V. Laudate Dominum omnes gentes; R. Et collaudate eum omnes populi] x Civitatem hanc quesumus Domine  Ad Sanctum Leonardum [V. Iustus non conturbabitur; R. Quia Dominus firmat manum eius] x Maiestati tue quesumus Domine  Ad Sanctum Onufrium [V. Iustum deduxit Dominus per vias rectas; R. Et ostendit illi regnum Dei] x Omnipotens sempiterne Deus qui

As observed in the codex of the Disciplinati di San Tommaso d’Aquino, here too the sequence of texts is perfectly consistent from a topographic viewpoint, allowing us to observe the stratification of the perimeter walls (Plate 4). Despite there being many more sites than those mentioned at l’Aquila (remembering, however, that the urban structure had begun its development long before), the route is also divided into ten stations – which are also numbered – so that each one must have represented a fairly vast area overlooked by the various buildings, or from which they could at any rate be seen. Rites of this kind are also mentioned in other Italian cities, especially for the Minor Rogations, as a symptomatic alternative to the propitiatory processions held in the countryside during the three days prior to the Ascension to beseech a good  19 In superscript, an alternative ending is given with a feminine declension. In the preceding version of this oratio, however, king Charles II of Anjou and then his son and successor Robert are mentioned.

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Plate 4: Stations of the Ash procession in Sulmona, highlighted on a city map printed by Pierre Mortier (Amsterdam 1704).

harvest. We need look no farther than Lucca, where the city’s twelfth-century clergy processed repeatedly around the first circuit of the walls,20 or in Milan, where “Le solenni antiche Processioni ne’ tre giorni detti delle Litanie, o delle Rogazioni, uscivano in ciascun dì da una Porta delle vecchie nostre Mura, e rientravano da un’altra; ma ogni volta, che nella partenza, o nel ritorno passavano da tali Porte sempre si arrestavano per recitare una divota Orazione.”21 In the case of Sulmona, a link with Rogations has so far been taken for granted,22 albeit a different, and apparently contradictory, celebratory context, suggested by two passages with music on f. 48: the antiphon for the procession, Exurge Domine adiuva nos, is indeed prescribed by the Roman gradual, both in Litaniis Majoribus (i.e. for the Major Rogations, on April 25) and in Minoribus, whereas the psalm associated with it, Exurge quare obdormis, is utilized, although with a different tune, only for the Introit of the Mass for the Dominica in Sexagesima, during the Carnival period.  20 Cf. Repetti 1835, 893.  21 Giulini 1760, vol. IV, 443: “The former solemn Processions during the three days of the Litanies, or Rogations, would each day go out from one of the gates in our ancient walls and re-enter through another; but whenever, either in starting out or in returning, they passed through these gates, they always halted to recite a devout prayer.”  22 Cf. Pansa 1894, 3; Di Tirro 1999, 16.

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Example 2: Sulmona, Museo Diocesano, MS 1, f. 48: musical settings for the local procession (ph: F. Zimei).

This combination is actually documented, with a relevant degree of musical concordance, in MS 34 of the Biblioteca Capitolare di Benevento,23 a Gradual-Troparium compiled in the second half of the twelfth century, where, on f. 61, it appears in reference to Feria IIII in capite ieiunii, i.e. on Ash Wednesday. In view of the wide diffusion of the so-called Beneventan Chant in the Sulmona area,24 it is quite plausible that the procession around the city walls was held on that very day, set aside for purification, left over from some archaic lustratio, that is precisely the rite by means of which the ancient community would have purified the borders of its urban space. This appears all the more evident on considering that all the codex’s prayers Ad Portam are aimed at beseeching divine protection for the territory from external dangers, as can be seen, for example, from the text to be  23 Facsimile edition: Paléographie Musicale 15.  24 Consider the fragments of a Gradual-Troparium of the Benedictine monastery of San Nicola, kept in the Library of the Convent of San Giuliano at l’Aquila and published by Planchart 1994, which should probably also be associated with sheets of the same provenance utilized as flyleaves for several Abruzzese codices in the Biblioteca Nazionale at Naples.

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recited Ad Postergulam: Gregem tuum ad tui laudem nominis civitatem istam processionaliter circumdantes quesumus Domine tua dextera divina protege et adunantia ibi cuncta tuo victoriosissimo crucis signo quo suos ingressus omnis hodierna die devotione precipua munit benigne repellere pastor eterne dignare, which must have been followed by sprinkling with ashes. This gesture, understood nowadays as a penitential rite and thus a prodrome of inner purification, originally had quite another meaning: one may just think of the Palilia described by Ovid himself, connected with the foundation of Rome,25 or else of the Old Testament, which directs that the water to be used for purification should be mixed with the ashes of sacrificed animals.26 This latter theme is also taken up in the Epistle to the Hebrews, but developed so as to emphasize the highly different effectiveness of the blood of Christ for this purpose: “The blood of goats and bulls and the ashes of a heifer, sprinkled on those who have incurred defilement, may restore their bodily purity. How much more will the blood of Christ, who offered himself, blameless as he was, to God through the eternal Spirit, purify our conscience from dead actions so that we can worship the living God.”27 It is in this vein that, at l’Aquila, the passage of the original rite at the Corpus Christi procession should probably be interpreted (not to mention the other, of great symbolic impact, with the statue of the Dead Christ): the exposition of the Most Holy Sacrament along the length of the ancient pomerium would assuredly have secured maximum spiritual defence for the community. What is surprising is that this only occurred starting from 1349,28 i. e. a good 90 years after the destruction of the city at the hands of Manfred. During some of this time – as we have seen – there was an absence of any real demic reorganization, evidencing the inhabitants’ tenacity in keeping alive, with sounds and songs, the memory of their sacred space.

Bibliography Arcangeli, Alessandro: Davide o Salomè? Il dibattito europeo sulla danza nella prima età moderna, Treviso/Roma 2000. Bonaventura da Bagnoregio, Legenda maior s. Francisci Assisiensis et eiusdem Legenda minor, Florentiae 1941. Come a Gerusalemme. Evocazioni, riproduzioni, imitazioni dei luoghi santi tra medioevo ed età moderna, ed. by Anna Benvenuti/Pierantonio Piatti, Firenze 2013. Camelliti, Vittoria: Patroni ‘celesti’ e patroni ‘terreni’: dedica e dedizione della città nel rituale e nell’immagine, in: Städtische Kulte im Mittelalter, ed. by Susanne Ehrich/Jörg Oberste, Regensburg 2010, 97–121.  25 Fastorum IV, 721–781. See also De Francisci 1959, 225.  26 Num 19, 9.  27 Heb 9, 13–14.  28 Cf. Zimei 2015, p. 49.

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Clementi, Alessandro/Piroddi, Elio: L’Aquila (Le città nella storia d’Italia), Roma/Bari 1986. De Bartholomaeis, Vincenzo: Il teatro abruzzese del Medio Evo. Bologna 1924. De Francisci, Pietro: Primordia Civitatis, Roma 1959 (Pontificium institutum utriusque iuris. Studia et documenta, 2). Di Tirro, Roberto: La processione delle Rogazioni di Sulmona secondo una fonte trecentesca, in: Città medievali: orientamenti e metodi di ricerca (Urbanistica delle città medievali italiane, 3), ed. by Enrico Guidoni, Roma 1999, 16–31. Giulini, Giorgio: Memorie spettanti alla storia, al governo ed alla descrizione della citta e campagna di Milano ne’ secoli bassi, 9 vols, Milano 1760. Le Goff, Jacques: L’immaginario urbano nell’Italia medievale (secc. V–XV), in: Storia d’Italia. Annali, 5 (Il paesaggio), Torino 1982, 3–43. Mantini, Silvia: Lo spazio sacro della Firenze medicea. Trasformazioni urbane e cerimoniali pubblici tra Quattrocento e Cinquecento, Firenze 1995. Mattiocco, Ezio: Sulmona. Città e contado nel Catasto del 1376, Pescara 1994. Le Codex VI.34 de la Bibliothèque Capitulaire de Bénévent (XIe–XIIe siècle): Graduel de Bénévent avec Prosaire et Tonaire (Paléographie Musicale: Les principaux manuscrits de chant grégorien, ambrosien, mozarabe, gallican, 15), Solesmes 1937, reprint Berne 1971. Legenda seu Compilatio Perusina, Speculum perfectionis, éd. Jaen-François Gaudet (Corpus des sources franciscaines, 4), Louvain 1978. Ovid, Fasti. With an English translation by James George Frazer (The Loeb Classical Library), Cambridge Mass./London 19764. Pansa, Giovanni: Di un antico rituale membranaceo della chiesa cattedrale di Sulmona e di Alcune ricerche storiche sulla topografia di questa città nei tempi di mezzo, Sulmona 1894. Pasqualetti, Cristiana: L’Aquila come Gerusalemme? Alle origini di una tradizione storiografica, in: Architettura e identità locali, I, ed. by Lucia Corrain/Francesco Paolo Di Teodoro, Firenze 2013, 773–792. Planchart, Alejandro E.: Beneventanum Troporum Corpus, I: Tropes of the Proper of the Mass from Southern Italy, A.D. 1000–1250 (Recent Researches in the Music of the Middle Ages and Early Renaissance, XVI), Madison WI 1994. Regesta Pontificum Romanorum inde ab a. post Christum natum 1198 ad a. 1304, 2 vols, ed. by August Potthast, Graz 1957 (reprint of the Berlin 1874–1875 edition). Repetti, Emanuele: Dizionario geografico fisico storico della Toscana, contenente la descrizione di tutti i luoghi del Granducato, Ducato di Lucca Garfagnana e Lunigiana, 6 vols, Firenze 1833–1846, vol. 2, 1835. Statuta Civitatis Aquile (Fonti per la storia d’Italia, 102), ed. by Alessandro Clementi, Roma 1977. Wilson, Blake: Singing poetry in Renaissance Florence: the cantasi come tradition (1375– 1550), Firenze 2009. Zimei, Francesco: «Tucti vanno ad una danza per amor del Salvatore». Riflessioni pratiche sul rapporto fra lauda e ballata, in: Studi Musicali, new series, 1 (2010), 313–343. Zimei, Francesco: I «cantici» del Perdono. Laude e soni nella devozione aquilana a san Pietro Celestino («Civitatis Aures». Musica e contesto urbano, 1), Lucca 2015.

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Sources Example 1: Author. Example 2: Author. Plate 1: Gino Di Paolo. Plate 2: ed. by Author. Plate 3: ed. by Author. Plate 4: ed. by Author.

Maximilian Benz

Die Geburt des Purgatoriums im Medium legendarischen Erzählens* St Patrick’s Purgatory emerges as a place where the faithful can follow the saint, who for his part is imitator Christi. As sainthood is in principle an unavailable quality (a fact that makes imitatio difficult), Patrick’s sainthood and the consequences of his deeds in the history of salvation are hypostasized in a holy place. The saint who acts in the world but transcends all immanent orders is replaced by a holy place that allows a transcendence of the boundary between this world and the afterlife. Thus, the paradoxical configuration of the saint is transformed into a “relic of sacred space”.

Der Heilige ist eine paradoxe Figur. Er ist in der Welt und doch nicht von ihr. In allem, was er bis in den Tod und auch darüber hinaus tut, handelt er in und an der Welt zu ihrem Heil, ohne allerdings an die Bedingungen dieser Welt gebunden zu sein. Sei es, dass der Heilige zu Lebzeiten und nach seinem Tod Wunder wirkt, sei es, dass er über ein grausames Martyrium triumphiert (und es keineswegs erleidet): In diesen Handlungen und Ereignissen, allesamt Entscheidungssituationen zwischen Heil und Verdammnis, wird immer wieder oder einmal und letztgültig1 sichtbar, erzählbar und tradierbar gemacht, was es heißt, Heiliger zu sein. Denn der Heilige ist transzendent, will sagen: er übersteigt all die immanenten Ordnungen und Begrenzungen, in denen diese Welt gefangen ist.2 Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit: Was für den Menschen Grenze ist, die er zu Lebzeiten nicht überschreiten kann, spielt für den Heiligen nicht nur keine Rolle, vielmehr existieren diese Unterschiede für ihn nicht. Er steht zwischen der Welt und Gott, der in seiner absoluten Transzendenz „unbedingt, unverfügbar und nicht verobjektivierbar“3 und zugleich Grund alles Immanenten ist: Der Heilige stellt in seiner Person das Paradox vom Ewigen in der Zeit, vom Unendlichen im Endlichen, vom

  

* Der Beitrag wurde im Zusammenhang meiner Disseration über die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter verfasst, vgl. Benz 2013, bes. 182–207.    1 Vgl. Feistner 1995.    2 Insofern unterscheidet sich das hier rekonstruierte transzendenzreligiöse Konzept des Heiligen von dem Peter Strohschneiders, der unter Transzendenz all das versteht, was dem Immanenten entzogen ist (vgl. Strohschneider 2002, 111; so auch im Anschluss daran Hammer/Seidl 2008). Mein Begriff scheint mir gerade insofern, als er stärker als Strohschneiders Konzept christlichen Diskurstraditionen verpflichtet ist, für die hier verfolgten Zwecke adäquat zu sein – freilich zu Lasten seiner interkulturellen Applizierbarkeit (vgl. Strohschneider 2010, 144).    3 Danz 2005, 551.

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Universalen im Konkreten dar und folgt darin Christus, dem medium und mediator schlechthin, nach.4 Insofern Heiligkeit in einer umfassenden, universelle Gültigkeit beanspruchenden imitatio Christi ihren Grund findet, wird der Heilige, indem er auf Christus verweist, selbst zur persona imitabilis, der die Gläubigen auf ihrem Weg zum Heil nachfolgen. Was die Nachhaltigkeit der Heilswirkung und damit auch der Nachfolge betrifft, spielen seine weltlichen Reste, das legendarische Erzählen vom Heiligen und seine Reliquien, eine zentrale Rolle. Die Legende macht das Leben und Sterben des Heiligen und seine Wunder narrativ verfügbar. Sie (re-)präsentiert den Heiligen; es geht von ihr dort, wo das Charisma des Heiligen selbst nicht mehr unmittelbar erfahren werden kann, eine analoge Kraft aus. Das Konzept der imitatio ist für die Legende in zweifacher Hinsicht von Bedeutung.5 Man kann zwischen imitatio in figuren- und ereignisbezogener textimmanenter Hinsicht (der Heilige als imitator Christi) und imitatio in rezeptionsästhetischer Hinsicht (die Nachfolge der Gläubigen) unterscheiden.6 Neben den legendarischen Erzählungen bleiben nach dem Eingang des Heiligen ins Jenseits natürlich auch all seine materiellen Hinterlassenschaften in der Welt. Sie stehen in Verbindung mit dem ins Jenseits eingegangenen Heiligen und verfügen somit über „himmlische Kraft“.7 Den Reliquien, seien es Körper- oder Berührungsreliquien, ist somit die paradoxe Struktur des Heiligen in doppelter Hinsicht eingeschrieben: Zum einen sind auch sie Objekte in der Welt, die aber durch ihre besondere Kraft die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt transzendieren. Zum anderen fassen sie gerade als verehrungswürdige Heiltümer des Heiligen die Erinnerung an sein Leben und Sterben. In den Reliquien erscheint Heiligkeit somit hypostasiert. Heiligkeit als Transzendierung immanenter Ordnungen im Zeichen der imitatio, Legenden als narrative (Re-)Präsentationen der Heiligkeit, Reliquien als Hypostasen der Heiligkeit: Dies sind Aspekte eines Beziehungsgefüges, die keineswegs scharf voneinander zu trennen sind, sondern die ineinander übergehen und sich miteinander verbinden. In den Fällen etwa, in denen die Legende auf eine Auto­ hagiographie des Heiligen zurückgeht, berühren sich legendarisches Erzählen und Reliquien in Textreliquien.8 Wo Räume nicht nur durch Kontakt mit dem Heiligen sakralisiert, sondern durch ihn respektive im legendarischen Erzählen über ihn in einem Akt der imitatio Christi erst geschaffen und als Stätten der Nachfolge eingerichtet werden, entstehen Raumreliquien.

   4 Im Zusammenhang einer Theorie der Heiligkeit fällt die in christologischer Perspektive wichtige Differenzierung „zwischen einer konstitutionellen, ontologischen Mittlerschaft (medium) und einer funktionellen, kommunikativen (mediator)“ (Kiening 2010, 21) in eins.    5 Vgl. Jolles 1968, 34–38; Strohschneider 2010; Weitbrecht 2012.    6 Wie Strohschneider 2009 anhand der Legende von Ursula und den elftausend Jungfrauen zeigt, kann imitatio als Nachfolge auch im Text der Legende selbst dargestellt sein.    7 Angenendt 1998, 72.    8 Vgl. umfassend Strohschneider 2002.

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Eine solche Raumreliquie stellt das Purgatorium des Heiligen Patrick in Irland dar. Im Spätmittelalter ein weithin bekannter Pilgerort,9 ist es bis heute als Ort der Imagination und Raum des Affekts erhalten geblieben.10 Seine Entstehung lässt sich in einer diachron-komparativen Analyse legendarischer Erzählungen über den Heiligen Patrick nachvollziehen. Dabei zeigt sich, dass die legendarischen Erzählungen das Risiko,11 vom Heiligen im Rahmen dieser Welt erzählen zu wollen, durch intensive Rekurse auf Episoden aus dem Leben Jesu zu balancieren versuchen. Für die folgenden Zusammenhänge ist das vierzigtägige Fasten Jesu in der Wüste samt der anschließenden Versuchung durch den Teufel von zentraler Bedeutung: In dem Maße, in dem Patrick zunehmend als imitator Christi erscheint, erfährt der Ort seiner Handlungen eine spezifische Aufladung: Das Purgatorium entsteht als Raumreliquie, in der die Gläubigen Patrick, dem imitator Christi, ihrerseits nachfolgen können. Nach sechsjähriger Gefangenschaft in Irland kehrt der Heilige Patrick zusammen mit Heiden nach Britannien zurück, wo sie achtundzwanzig Tage in einer unwirtlichen Gegend verbringen. Seinem Status entsprechend handelt Patrick dort als intercessor, indem er für seine Mitreisenden um Nahrung bittet, selbst aber fastet, da die Nahrung als Opferfleisch missbraucht wird. Damit befolgt Patrick ein paulinisches Gebot (vgl. 1 Kor 10,28). Noch um einiges deutlicher als Patrick in seiner Confessio12 stellt Muirchú in seiner kurz vor 700 n. Chr. verfassten Vita S. Patricii in der eigentümlichen Form legendarischer bricolage die Befolgung dieses Gebots dar, indem er es nicht nur mit den Speisungen des Volkes durch Wachteln während der Wüstenwanderungen hybridisiert, die in den Büchern Exodus und Numeri erzählt werden (vgl. Ex 16; Num 11), sondern auch mit dem Leben Johannes’ des Täufers in der Wüste von Judäa, der sich von wildem Honig ernährt (vgl. Mt 3,1–4), und mit dem vierzigtägigen Fasten Jesu in der Wüste und der anschließenden Versuchung durch den Teufel (vgl. Mt 4,1–11): Ternis itaque diebus totidemque noctibus quasi ad modum Ionae in mari cum iniquis fluctuans . postea bis denis simul et octenis diurnis luminibus Moysico more alio licet sensu per desertum fatigatus . murmurantibus gentilibus quasi Iudaei fame et siti paene deficientibus conpulsus a gubernatore temptatus . atque ut illis Deum suum ne perirent oraret rogatus mortalibus exoratus turbae misertus spiritu contribulatus .    9 Vgl. de Pontfarcy 1988; Walsh 1999; Paravicini 2007.  10 Vgl. Easting 1986, 23.  11 Vgl. Köbele 2012.  12 Vom Heiligen Patrick selbst sind zwei Werke, die Confessio und die Epistula ad milites Corotici, erhalten (vgl. zum Stil Patricks Berschin 1988, 225–230). Die hier interessierende Passage findet sich in Kapitel 19.

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merito coronatus . a Deo magnificatus . abundantiam cibi ex grege porcorum a Deo misso sibi uelut ex coturnicum turma Deo adiuuante praebuit . mel quoque siluestre ut quondam Iohanni subuenit . mutatis tamen pessimorum gentilium merito porcinis carnibus pro locustarum usu . (Muirchú, Vita, I,2,1–17)13

Der achtundzwanzig Tage dauernde Aufenthalt in der Wüste, das Fasten Patricks und die anschließende Versuchung durch den Teufel beziehen sich auf eine Vielzahl alt- und neutestamentlicher Stellen; dass die Ereignisfolge von Wüste, Fasten und Versuchung in Muirchús Darstellung einen Zusammenhang bilden kann, der gerade für das Erzählen vom Heiligen Patrick von Bedeutung ist, ist letztlich durch einen nur impliziten Rekurs auf das Leben Jesu begründet. Während bei Muirchú das vierzigtägige Fasten Jesu in der Wüste und die anschließende Versuchung durch den Teufel im Verweisungsdickicht lediglich aufscheinen, ist die neutestamentliche Ereignisfolge in einem Kapitel der Collectanea de sancto Patricio, die Tírechán vor 700 n. Chr. zusammenstellte14 und die wie Muirchús Vita im Liber Ardmachanus überliefert sind,15 deutlicher aufgegriffen worden. Dort begibt sich der Heilige Patrick zum Berg Cruachán Aigle, um vierzig Tage und Nächte zu fasten. Nach dem Tod seines Wagenlenkers Totmáel und der Bestattung in der angrenzenden Ebene geht der Heilige erneut zu diesem Berg und besteigt den Gipfel des Cruachán Aigle, um dort weitere vierzig Tage und Nächte – wohl fastend – auszuharren. Der Bezug auf die Ereignisfolge im Leben Jesu wird dadurch zum einen deutlich hergestellt, zum anderen aber auch in Hinsicht auf die Figur des Heiligen Patrick transformiert: Das vierzigtägige Fasten wird, den Begebenheiten Irlands entsprechend, von der Wüste auf einen Berg verlegt und zugleich verdoppelt. Es rahmt eine Episode, in welcher der Handlungszusammenhang durch die Bestattung des Wagenlenkers um einen eschatologischen Aspekt erweitert wird. Zugleich wird die Versuchung Jesu durch den Teufel allegorisiert, wenn davon erzählt wird, dass Patrick  13 Übersetzung: „Drei Tage und ebenso viele Nächte lang trieb er gleichsam wie Jona im Meer mit den Ungerechten; danach wurde er achtundzwanzig Tage wie Moses, aber in einem anderen Sinne, in der Wüste ermattet. Von den Heiden, die wie die Juden murrten und aus Hunger und Durst beinahe starben, wurde er angeklagt und vom Steuermann versucht. Und als er gebeten wurde, dass er für jene seinen Gott bitte, dass sie nicht zugrunde gingen, erbarmte er sich der Menge auf die inständige Bitte der Sterblichen hin, weil es ihm geistig zusetzte. Durch seine Tat wurde er erhoben und von Gott geehrt. Er reichte ein Übermaß an Speise dar aus einer Herde von Schweinen, die ihm der Herr geschickt hatte, wie aus einem Schwarm Wachteln mit Gottes Hilfe, auch Waldhonig, wie er einst dem Johannes half, nachdem dennoch das Schweinefleisch an die Stelle der Heuschrecken getreten war, da es sehr schlechte Heiden waren.“  14 Mit der Benennung von Tírecháns Text als Collectanea folge ich einem Vorschlag Ludwig Bielers (vgl. hierzu Bieler 1986, 4). Häufig wird der Text als Vita bezeichnet, vgl. Birkett 2010, 26 (Anm. 3): „Although Tírechán’s text is not really a vita but a collected record of local traditions, for ease of reference it will be referred to as Tírechán’s Vita throughout this study.“ Vgl. auch Herbert 2001, 330f.  15 Das Verhältnis von Muirchús Vita und Tírecháns Collectanea ist nicht leicht zu bestimmen, vgl. Bieler 2004, 42.

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von schwarzen Vögeln bedrängt wird. Durch eine Lücke im Text ist nicht erhalten, wie diese Situation durch Patrick gelöst wird; gleichwohl wird sein Handeln, das als imitabile ausgestellt wird, mit der Segnung des irischen Volkes in Verbindung gebracht: Et perrexit Patricius ad montem Egli, ut ieiunaret in illo quadraginta diebus et quadraginta noctibus, Moysaicam tenens disciplinam et Heliacam et Christianam. Et defunctus est auriga illius hi Muiriscc Aigli, hoc est campum inter mare et Aigleum, et sepiliuit illum aurigam Totum Caluum et congregauit lapides erga sepulcrum et dixit: „Sit sic in aeternum, et uissitabitur a me in nouissimis diebus.“ Et exiit Patricius ad cacumina montis super Crochan Aigli et mansit ibi quadraginta diebus et quadraginta noctibus, et graues aues fuerunt erga illum et non poterat uidere faciem caeli et terrae et maris quia Hiberniae sanctis omnibus praeteritis praesentatis futuris Deus dixit: „Ascendite, o sancti, super montem qui inminet et altior omnibus montibus qui sunt ad occidentem solis ad benedicendos Hiberniae populos“, ut uideret Patricius fructum sui laboris, quia corus sanctorum omnium Hibernensium ad eum uenit ad patrem eorum uissitandum […]. (Tírechán, Collectanea, 38)16

Bei Tírechán sind die Bezüge zur neutestamentlichen Ereignisfolge gegenüber Muirchú expliziert und dabei insofern auf die vita des Heiligen ausgerichtet, als das Fasten und die Überwindung dämonisch-teuflischer Anfechtung mit dem zentralen Gegenstand des Heilshandelns Patricks assoziiert werden, der Missionierung Irlands. Die paradigmatische Episode vom Geschehen auf dem Cruachán Aigle wird dabei auf den übergreifenden Zusammenhang hin geöffnet. Nicht zuletzt weil nicht erhalten ist, wie Patrick die Anfechtung überwindet, bleibt bei Tírechán aber dunkel, inwiefern auch Patricks Handeln auf dem Cruachán Aigle zur Mehrung des fructus laboris beigetragen hat. Eben diese bei Tírechán fehlende explizite Einordnung in den Zusammenhang der Irlandmission wird in der zwischen dem späten 9. und dem 12. Jahrhundert entstandenen mittelirisch-lateinischen Vita Tripartita (Bethu Phátraic) hergestellt,17 indem das Heilshandeln zur zentralen Funktion des Fastens auf dem Cruachán Aigle wird – mit weitreichenden Konsequenzen. Denn anders als in den Collectanea resultiert Patricks Entschluss, auf dem Berg zu fasten, nicht ausschließlich da­ raus, Moses, Elias und Christus nachfolgen zu wollen; vielmehr handelt er instru 16 Zitiert wird nach der Ausgabe von Bieler 2004. Übersetzung: „Und Patrick brach auf zum Berg Cruachán Aigle, um auf jenem vierzig Tage und vierzig Nächte zu fasten und dabei dasselbe Opfer wie Moses, Elias und Christus zu bringen. Und sein Wagenlenker starb in Muraisc, das ist die Ebene zwischen dem Meer und dem Cruachán Aigle, und er bestattete jenen Wagenlenker Totmáel und häufte Steine neben seinem Grab auf und sagte: ‚So sei es in Ewigkeit, und er wird von mir am Jüngsten Tage aufgesucht werden.‘ Und Patrick ging weg zum Gipfel des Berges auf den Cruachán Aigle und blieb dort vierzig Tage und vierzig Nächte, und Beschwerden bringende Vögel waren neben jenem und er konnte nicht das Antlitz des Himmel und der Erde und des Meeres sehen Denn Gott sagt allen gewesenen, gegenwärtigen und zukünftigen Heiligen Irlands: ‚Steigt herauf, ihr Heiligen, auf den Berg, der höher aufragt als alle Berge, die im Westen liegen, um die Völker Irlands zu segnen‘, damit Patrick die Frucht seiner Mühen sehe, da die Gemeinschaft aller Heiligen Irlands zu ihm kommt, um ihren Vater zu besuchen.“  17 Vgl. zur Datierung Dumville 1993; Herbert 2001, 341.

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mentell. Durch sein Fasten auf dem Cruachán Aigle will er Gott dazu bringen, seinen Bitten stattzugeben.18 Diese petitiones Patricii finden sich in je unterschiedlicher Gestalt bereits in Muirchús Vita und in den wohl von Tírechán selbst verfassten Notae suppletoriae ad Tirechanum.19 Während die Bitten in Muirchús Vita als Kompensationsleistung dafür gewährt werden, dass Patrick dem göttlichen Willen entsprechend nicht in dem von ihm geliebten Armagh bestattet werden soll, ereignen sie sich in den Notae situationslos. In der Vita Tripartita (Bethu Phátraic) werden die petitiones Patricii, die in dieser Form zum Teil auf die der Notae zurückgehen, neu kontextualisiert, so dass die Ereignisfolge auf dem Cruachán Aigle in Hinsicht auf die Heilswirkung von Patricks Handeln perspektiviert wird; die Plausibilität dieser Verbindung resultiert dabei aus der konkreten eschatologischen Dimension, die in der von asketischen Vollzügen auf dem Cruachán Aigle gerahmten Bestattung Totmáels bei Tírechán ebenso angelegt ist wie in den petitiones Patricii selbst, die – trotz allen Unterschieden – bei Muirchú wie auch in den Notae zumindest zum Teil ein eschatologischer Bezug auszeichnet. Dieser wird in der Vita Tripartita (Bethu Phátraic) deutlich ausgebaut, so dass die gesamte Episode vom Aufenthalt auf dem Cruachán Aigle in der Heiligung der lebenden wie der toten Iren durch den Heiligen Patrick gipfelt, der hier weniger als imitator Christi denn vielmehr als impertinenter und renitenter intercessor figuriert. Während die bei Tírechán nicht überlieferte oder fehlende Verbindung von Fasten und Heilshandeln in der Vita Tripartita (Bethu Phátraic) narrativ hergestellt wird, ist die Bedeutung der imitatio Christi für die Figur des Heiligen allerdings zurückgenommen und damit der Zusammenhalt der Ereignisfolge gelockert. Denn die eigentümlich autonome Figurenzeichnung der Vita Tripartita (Bethu Phátraic) lässt auch die Überwindung der dämonischen Anfechtung, die wesentlicher Bestandteil der Ereignisfolge im Leben Jesu ist, in den Hintergrund treten. Zwar wird Patrick am Ende des vierzigtägigen Fastens von schwarzen Vögeln angegriffen; auch kann er sie mit Hilfe seiner Glocke vertreiben. Diese individuelle Befreiung aus der Bedrängnis führt aber nur zu einer temporären Heiligung des Landes. Dazu fügt sich, dass die allegorische Lösung der Situation – das Erscheinen weißer, lieblich singender Vögel – allein Patrick Trost spenden soll. Der Kern seines Heilshandelns liegt demgegenüber in den Verhandlungen, die er mit einem Engel um die Gewährung der petitiones führt. In der Vita Tertia, die irgendwann zwischen dem 9. Jahrhundert und spätestens 1130 in Irland entstand und auch auf dem Kontinent weite Verbreitung fand,20 werden die einzelnen Fäden aufgenommen und synthetisiert. Die in der Vita Tripartita (Bethu Phátraic) etablierte Zusammenführung des Fastens und der Gewährung der auch eschatologisch bedeutenden petitiones Patricii werden handlungslo 18 Eine englische Übersetzung der gesamte Passage, die die Ereignisse auf dem Cruachán Aigle umfasst, findet sich in The Tripartite Life of Patrick, 113–121.  19 Vgl. Bieler 2004, 44, der dazu tendiert, dass Tírechán selbst die Notae suppletoriae verfasst hat.  20 Vgl. Bieler 1971, 13; 25f. Die Vita Tertia geht zurück auf die Vita Tripartita (Bethu Phátraic), der Verfasser hatte wohl aber auch Zugang zu Patricks eigenen Schriften und zu den Texten Muirchús und Tírecháns (vgl. Birkett 2010, 26).

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gisch eng an die dämonische Anfechtung und ihre Überwindung angebunden. Somit wird das umfassende Heilshandeln Patricks im Zeichen der imitatio Christi verdichtet. In eben dieser übt sich der Heilige Patrick nach seiner Rückkehr aus Rom, von wo er nicht nur die Reliquien der Heiligen Petrus, Paulus und Stephan, sondern auch das Tuch mitbrachte, super quod fuit sanguis Iesu Christi Domini nostri.21 Dass der Heilige Patrick Christus nachfolgt, wird im Text programmatisch angekündigt: Deinde sanctus Patricius secundum exemplum Domini exiit in desertum, id est hi Chrochan Aigle, in tempore quadragesimae ante Pascha, et erat ibi super lapidem sedens et quatuor lapides circa ipsum a quatuor partibus. Tunc magna multitudo de auibus nigris, id est demonibus, uolabant super eum et grauiter impediebant orationem eius. Patricius uero percussit cymbalum suum et fugauit eos trans mare. Et statim repleuit totum montem multitudo angelorum in formis candissimis auium et suauia carmina cantabant. In isto monte tres petitiones rogauit. Prima, ut omnes habitatores huius insulae, si quis ex ipsis una hora paenitentiam egerit, infernus non claudatur super eum. Secunda, ut alienigenae in hanc insulam non habitent usque in diem iudicii. Tercia, ut quatuor annis ante diem iudicii istam insulam mare operiat. Cum uero de monte illo descendisset, benedixit hanc insulam percussitque cimbalum suum, et omnes habitatores huius insulae siue uiui siue mortui audierunt sonum cimbali illius. (Vita Tertia, 85)22

Der Heilige Patrick wiederholt somit explizit, was sich je nachdem, ob man dem linearen Verlauf der Heilsgeschichte folgt oder ob man sich am Zyklus des Kirchenjahres orientiert, zu einer anderen beziehungsweise zu derselben Zeit ereignet hat (nämlich in der Fastenzeit vor Ostern) und was je nachdem, ob man von der konkreten Topographie ausgeht oder ob man die Struktur des Ortes fokussiert, an einem anderen beziehungsweise doch demselben Ort stattfand (nämlich an einem unwirtlichen Ort). Dass Patrick fastet, muss nicht eigens erzählt werden, da es sich angesichts des Rekurses auf das exemplum Domini von selbst versteht. Patrick befindet sich auf dem Cruachán Aigle an einem Ort der Weltüberwindung, in deren aussagekräftigstem Symbol er Platz nimmt: Er sitzt, ohne dass dies explizit gesagt würde, in der Mitte eines durch Steine gebildeten Kreuzes, das auf das Begräbnis seines Wagenlenkers Totmáel zurückzuführen sein dürfte, zugleich aber die heilsge 21 Vita Tertia, 84. Die Vita Tertia wird nach der Fassung zitiert, die aus den auf dem Kontinent zirkulierenden Handschriften rekonstruiert wurde; vgl. Bieler 1971, 14–21.  22 Übersetzung: „Hierauf ging der Hl. Patrick dem Beispiel des Herrn folgend in die Wüste, das heißt auf den Cruachán Aigle, in der vierzigtägigen Fastenzeit vor Ostern, und er saß dort auf einem Stein und an vier Seiten lagen vier Steine um ihn. Dann flog eine große Menge schwarzer Vögel, das heißt Dämonen, über ihn und störten heftig sein Gebet. Patrick aber schlug sein cymbalum und vertrieb sie über das Meer. Und plötzlich erfüllte den ganzen Berg eine Menge von Engeln in sehr heller Vogelgestalt und sang liebliche Lieder. Auf diesem Berg bat er um drei Bitten. Die erste, dass alle Einwohner dieser Insel – wenn einer von ihnen eine Stunde lang büßte, dass sich die Hölle nicht über ihm schließe. Die zweite, dass Fremde bis zum Tag des Gerichts nicht auf dieser Insel lebten. Die dritte, dass vier Jahre vor dem Tag des Gerichts das Meer diese Insel bedecke. Als er aber von jenem Berg herabgestiegen war, segnete er diese Insel und schlug sein cymbalum, und alle Einwohner dieser Insel, seien sie lebendig oder tot, hörten den Klang jenes cymbalum.“

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schichtliche Funktion seines Handelns in der Nachfolge Christi anzeigt. Denn Weltabschied meint immer auch Disambiguierung, die eine Voraussetzung für das Heilshandeln ist. Das Böse muss sich vom Guten scheiden, um als solches erkannt und überwunden werden zu können: Wie Jesus in den Ausnahmeraum der Wüste geführt wird, um vom Teufel verführt zu werden und eben dieser Versuchung zu wider­stehen, so wird Patrick auf dem Cruachán Aigle von den Dämonen angegriffen, eben um das Böse vertreiben zu können: In beiden Fällen folgen auf den Teufel respektive auf die Dämonen die Engel. Patricks Heilshandeln weist aber wie auch das Leben Jesu im Zeichen des Kreuzes eine universale Komponente auf. Beide Komponenten werden in der Vita Tertia in ihrem Zusammenhang dargestellt: Indem Patrick die Dämonen durch das Schlagen seines cymbalum vertreibt und auf dieselbe Weise im Anschluss an die drei Bitten einen Klangraum konstituiert, der als Heilsraum die gesamte Insel umfasst, wird betont, dass er in seinem Fasten, der dämonischen Anfechtung und ihrer Überwindung nicht nur selbst als Heiliger handelt, sondern als solcher auch die gesamte Insel der Iren geheilt hat. Dieser in der Vita Tertia erreichte Grad an Verdichtung und Stringenz hat auch die späteren Transformationen des Erzählens vom Heiligen Patrick geprägt. So greift etwa der zisterziensische Historiograph Jocelin von Furness im 17. Kapitel seiner um 1185 geschriebenen Vita S. Patricii diese in der imitatio Christi verdichtete Ereignisfolge auf 23 und pointiert die paradigmatische Episode in Hinsicht auf den übergeordneten Zusammenhang: Die Heiligung des missionierten Landes wird allegorisiert, indem nicht nur die schwarzen Vögel, sondern sämtliche giftigen Tiere vertrieben werden und diese Vertreibung als vorgeordneter Zweck des vierzigtägigen Fastens Patricks erscheint, mit dem Patrick Moses, Elias und vor allem Christus nachfolgen will. Auch bei Jocelin entscheidet er sich, zu der im Kirchenjahr dafür vorgesehenen Zeit, in der quadragesima, zu fasten und zugleich die Funktion dieser Memorial- und Heilshandlung auf dem Cruachán Aigle äußerlich sichtbar zu machen. An dieser Stelle wird bei Jocelin – anders als in der Vita Tertia – die Intentionalität des Handelns betont: Der Heilige nimmt nicht nur in der Mitte von fünf Steinen Platz, sondern ordnet bewusst sie so an, dass sie ein Kreuz ergeben. Indem bei Jocelin nicht nur Patricks Handeln in Erzählerkommentaren im Sinne der Christusnachfolge eingeordnet, sondern die entsprechenden Intentionen auch dem Figurenbewusstsein zugeschrieben werden, erhält die Verdichtung der Ereignisfolge in der imitatio Christi eine Vertiefung. Nachfolge wird als handlungsleitendes Prinzip ausgestellt, was rezeptionsästhetisch die Figuration Patricks als eines imitator imitabilis bedeutet. Die im Leben Jesu angelegte Verbindung des Fastens am Ausnahmeort mit der teuflischen Anfechtung zum Zweck ihrer Überwindung bildet den Grund der von Muirchú und Tírechán ausgehenden Transformationskette, in der diese Ereignisfolge zur Erzählung einer paradigmatischen Episode der Vita des Heiligen Patrick in Teilen allegorisiert, durch spezifische Aspekte der Irlandmissionierung erweitert  23 Die Vita Jocelins geht wohl von einer nicht erhaltenen Fassung der Vita Tertia aus (vgl. Birkett 2010, 26).

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und in ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung modifiziert wird, bis sich ein geschlossener Zusammenhang bildet, der in einer umfassenden imitatio Christi seinen Grund findet. In dem Maße, in dem unter anderem durch die Betonung von Intentionalität Nachfolge als handlungsleitendes Prinzip etabliert wird, eröffnet sich die Möglichkeit, die Nachhaltigkeit von Patricks Heilshandeln nicht nur in den drei petitiones auszudrücken, sondern in der Erzählung von Nachfolgehandlungen darzustellen. Bereits bei Tírechán ist dies angelegt, wenn in der Rede Gottes alle Heiligen aufgefordert werden, wie Patrick zum Zwecke der Heiligung den Cruachán Aigle zu besteigen und darin den fructus laboris Patricii auszudrücken. Gegenüber dieser exklusiven Lösung bei Tírechán, in der nur Heilige in die Nachfolge-Handlungen einbezogen werden, wird bei Jocelin das Prinzip der imitatio universalisiert. Da aber personal konkretisierte Heiligkeit eine prinzipiell unverfügbare Kategorie ist, wird die Heiligkeit Patricks samt der heilsgeschichtlichen Relevanz seiner Handlungen in einem heiligen Ort hypostasiert. An die Stelle einer Figur, die in der Immanenz handelnd alle immanenten Ordnungen transzendiert, tritt ein heiliger Ort, an dem Transzendierung als Überschreiten der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits gefasst und somit die paradoxe Konfiguration des transzendenzreligiös begriffenen Heiligen in die Struktur einer Raumreliquie überführt werden kann. Diese Hypostase transzendenten Handelns in einem heiligen Ort des Überschreitens bedeutet die Emergenz eines noch immanent lokalisierten Purgatoriums im Medium legendarischen Erzählens und gründet sich ihrerseits auf drei Aspekte, die sich allmählich als Spezifika der Ereignisfolge auf dem Cruachán Aigle herausgebildet haben. Zugleich erhellen diese Aspekte die Funktionsweise und die Struktur des Purgatoriums. Dadurch dass die in Patricks vierzigtägigem Fasten manifest gewordene Transzendierung immanenter Ordnungen, also das Öffnen immanenten Geschehens auf einen transzendenten Heilszusammenhang hin nicht ortlos, sondern an einer bestimmten lokalisierbaren Stelle geschehen ist, kann diese Stelle – erstens – als Erinnerungsort fungieren und zum Ort der Vergegenwärtigung von Patricks Heilshandeln im Zeichen der imitatio werden. Dabei ist die Spitze des Berges – zweitens – nicht nur Ort der Transzendierung immanenter Ordnungen, sondern auch der Disambiguierung von Welt: Was in der Welt untrennbar verbunden ist, wird während des vierzigtägigen Fastens geschieden. Erzählt wird dies in der koordinierten Abfolge englischer und dämonischer Wesen, die Patricks gezieltes Heilshandeln, also die Reinigung vom Bösen, erst ermöglicht; diese Disambiguierung und Sichtbarmachung entlang der fundamentalen Differenz von Heil und Verdammnis stellt dabei zugleich – drittens – eine Antizipation eschatologischen Geschehens, nämlich bereits im Diesseits realisierte liminale Scheidungsprozesse dar, die condiciones sine quibus non des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits sind. All diese Elemente verdichten sich in der vergegenwärtigenden imitatio der Gläubigen. Da also mit dem Gipfel des Cruachán Aigle ein Ort gegeben ist, an dem an den Heiligen Patrick erinnert werden kann und an dem prämortal die Disambiguierung von Welt und das heißt auch Heiligung möglich ist, nimmt es kaum wunder, dass die imitatio Patricii auf eine derart immanentisierte eschatologische Funktion hin konkretisiert wird:

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In huius igitur montis cacumine ieiunare, ac vigilare consuescunt plurimi, opinantes se postea numquam intraturos portas inferni: quia hoc impetratum a Domino existimant meritis et precibus S. Patricij: referunt etiam nonnulli, qui pernoctauerant ibi, se tormenta grauissima fuisse perpessos, quibus se purgatos a peccatis putant, vnde et quidam illorum locum illum purgatorium S. Patricij vocant. (Jocelin, Vita, 150)24

Mit dem Gipfel des Cruachán Aigle hat Patrick eine Raumreliquie hinterlassen und mit dem Purgatorium den Gläubigen einen heiligen Ort gegeben, an dem der fructus laboris Patricii sichtbar wird, wie er schon bei Tírechán in Aussicht gestellt wurde: Die missionierten Iren finden zum Heil, indem sie ihrerseits zur Raumreliquie pilgern, somit dem Heiligen Patrick in seiner imitatio Christi an den Ausnahmeort des Cruachán Aigle nachfolgen und sich dabei auf die Gewährung der ersten petitio der Vita Tertia berufen können – ut omnes habitatores huius insulae, si quis ex ipsis una hora paenitentiam egerit, infernus non claudatur super eum (Vita Tertia, 85).25 Die Hypostase des Heilshandelns Patricks in der Raumreliquie bedingt demzufolge auch eine Transformation vom Aspekt der teuflisch-dämonischen Anfechtung hin zur Bußleistung, die das Prinzip der imitatio Christi mit einer petitio Patricii verbindet. Auch wenn Jocelins Text am Ende eines Transformationsprozesses steht, so handelt es sich bei der Geburt des Purgatoriums als Raumreliquie im Medium legendarischen Erzählens keineswegs um einen teleologischen Prozess. Die Kontingenz der Vorgänge zeigt sich mit Blick auf Geralds von Wales Topographia Hibernica. Anders als in der vorausgehenden Tradition, aber in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der künftigen Lokalisierungen26 verortet Gerald das Purgatorium des Heiligen Patrick nicht auf dem Gipfel des Cruachán Aigle, sondern auf einer Insel in einem See in Ulster. Die Patrickslegende spielt primär keine Rolle; nur in Textzeugen, die der zweiten oder dritten Überarbeitungsstufe der Topographia Hibernica angehören, findet sich eine Ursprungs­erzählung, die in die Beschreibung inkorporiert ist und das Purgatorium an die Irlandmission Patricks rückbindet. Das Purgatorium des Heiligen Patrick dient demnach dazu, die ungläubigen Iren mit eigenen Augen die jenseitigen Konsequenzen diesseitigen Handelns sehen zu lassen. Da in Geralds Darstellung keine hagiographische, sondern eine topographische Ordnung strukturbildend ist, werden die Prozesse des Purgatoriums in eine binär-synchrone Struktur überführt. So ist die Insel – anders als der Berg in Jocelins Darstellung –  24 Übersetzung: „Auf dem Gipfel dieses Berges fasten und wachen für gewöhnlich sehr viele in dem Glauben, dass sie später niemals die Pforten der Hölle betreten werden, weil sie glauben, dass dies beim Herrn so durch die Verdienste und Bitten des Hl. Patrick erreicht worden sei. Einige, die dort übernachtet hatten, erzählen sogar, dass sie sehr schlimme Strafen durchlitten, durch die sie, so glauben sie, von ihren Sünden gereinigt wurden. Deshalb nennen einige von jenen jenen Ort Purgatorium des Hl. Patrick.“  25 Übersetzung: „dass alle Einwohner dieser Insel – wenn einer von ihnen eine Stunde lang büßte, dass sich die Hölle nicht über ihm schließe.“  26 Dies hat sich seit Peter von Cornwall im frühen 13. Jahrhundert durchgesetzt, vgl. Easting 1979, 402.

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bei Gerald zweigeteilt, wobei einer von Engeln bevölkerten amönen Seite eine den Dämonen zugeschriebene grauenerregende Seite gegenübergestellt wird. Die dämonische Hälfte ist dabei funktionsäquivalent zum Gipfel des Cruachán Aigle. Wer in einer der Gruben eine Nacht verbracht und dort schreckliche Qualen erlitten hat, muss im Jenseits keine Höllenstrafen erleiden: Est lacus in partibus Ultoniæ continens insulam bipartitam. Cujus pars altera, probatæ religionis ecclesiam habens, spectabilis valde est et amœna; angelorum visitatione, sanctorumque loci illius visibili frequentia, incomparabiliter illustrata. Pars altera, hispida nimis et horribilis, solis dæmoniis dicitur assignata; quæ et visibilibus cacodæmonum turbis et pompis fere semper manet exposita. Pars ista novem in se foveas habet. In quarum aliqua si quis forte pernoctare præsumpserit, quod a temerariis hominibus nonnunquam constat esse probatum, a malignis spiritibus statim arripitur, et nocte tota tam gravibus pœnis cruciatur, tot tantisque et tam ineffabilibus ignis et aquæ variique generis tormentis incessanter affligitur, ut mane facto vix vel minimæ spiritus superstitis reliquiæ misero in corpore reperiantur. Hæc, ut asserunt, tormenta si quis semel ex injuncta pœnitentia sustinuerit, infernales amplius pœnas, nisi graviora commiserit, non subibit. Hic autem locus Purgatorium Patricii ab incolis vocatur. (Gerald, Topographia, II,5)27

Der Raumreliquie des hagiographischen Texts Jocelins, für die die Abfolge von Askese, Versuchung und Heiligung wichtig ist, steht im topographischen Zusammenhang bei Gerald von Wales eine Raumreliquie gegenüber, die die Dichotomie von Heil und Verdammnis räumlich hypostasiert. Trotz diesen Unterschieden haben die beiden Darstellungen auch eine Gemeinsamkeit: Sowohl bei Jocelin als auch bei Gerald handelt es sich um einen immanent lokalisierten Ort, der aber noch in den 1180er-Jahren im einflussreichen Tractatus de Purgatorio S. Patricii als jenseitig konzeptualisiert werden wird.28  27 Übersetzung: „Es gibt einen See im Gebiet Ulster, in dem eine zweigeteilte Insel liegt. Auf der einen Hälfte steht eine Kirche des rechten Glaubens; diese Seite ist sehr schön und angenehm. Unvergleichlich hervorgehoben wird sie durch den Besuch von Engeln und die sichtbare große Menge an Heiligen, die sich dort aufhalten. Die andere Hälfte ist sehr schroff und schrecklich und soll allein den Dämonen gehören. Sie ist beinahe immer den sichtbaren Scharen böser Geister und ihren Umgängen ausgesetzt. Dieser Teil besteht aus neun Gruben. Wenn jemand sich vorgenommen hat, in irgendeiner der neun Gruben zu übernachten – und es steht fest, dass dies manchmal von leichtfertigen Menschen erlebt wurde –, so wird er plötzlich von bösen Geistern angegriffen und während der ganzen Nacht durch so schwere Folter gequält, ja muss so viele, derart große und so unaussprechliche unterschiedliche Feuer- und Wasserqualen ununterbrochen ertragen, dass am frühen Morgen kaum oder nur sehr wenige Überreste des verbleibenden Lebensgeists in einem elenden Körper gefunden werden. Wenn jemand – wie versichert wird – einmal diese Qualen als auferlegte Bußleistung ausgehalten hat, wird er keine Höllenstrafen mehr erleiden, vorausgesetzt, dass er nicht zu schwer gesündigt hat. Dieser Ort wird von der Lokalbevölkerung Patrickspurgatorium genannt.“  28 Auch wenn die Thesen Le Goffs 1991 zur „Geburt des Fegefeuers“ im Einzelnen widerlegt bzw. korrigiert wurden (vgl. etwa Edwards 1985; Easting 1986; Angenendt 1997, 711; Auffarth 2002, 151–198), ist ihm dennoch darin zuzustimmen, dass sich das Purgatorium im 12. Jahrhundert als eigener – aber wohlgemerkt nicht „dritter“ – Ort ausdifferenziert (vgl. zu dieser Einschätzung Weitbrecht 2011, 151f.); es mag sein, dass „ein örtlich gedachter und satisfaktorisch begriffener Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung“ (Merkt 2005, 11) ebenso wie der dazugehöri-

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Die Geburt des Purgatoriums

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Erik Wegerhoff

Geschichtskonstrukte Die Erfindung des Kolosseums als Martyriumsort in Text und Architektur The popular myth that early Christians suffered their martyrdom in the arena of the Colosseum in Rome is a good example of how a building’s history can be successfully fabricated. Still held up to be true by the Vatican today, no ancient source actually attests to the fact that any Christian was ever killed in this Roman amphitheatre. On the contrary, inspired by the Counter Reformation, writers actually invented a Christian history for this prominent building in the late 1500s with the intention of sanctifying every bit of Rome’s topography. At first, publications such as Giovanni Andrea Gilio’s Le persecutioni della chiesa (1573) and Cesare Baronio’s Martyrology (1584/1586) as well as his Annales ecclesiastici (from 1588) begin to link the stories of indivi­ dual saints with the Colosseum, then guidebooks popularized the idea of the Colosseum as a venerable place from 1600 onwards. In the Jubilee year of 1675, the idea would manifest itself architecturally when the ancient building had modest but significant interventions made to it such as the closure of the lower arcades and the installation of new inscriptions. This transformation can be seen as a prototype for Carlo Fontana’s grand design from around 1700 for a church dedicated to the martyrs inside the Colosseum in which those who had died for their beliefs would monumentally triumph. His plans were, however, never carried out. It was not until 1750 that the arena was first encircled with Stations of the Cross, thereby establishing the sanctity of the Colosseum and the soil on which it stood. This status went on to be repeatedly confirmed in the regular celebrations of the congregation of the Amanti di Gesù, e di Maria. Significantly, the Catholic interpretation of the Colosseum came to an end with the end of the pope’s territorial power in the 1870s when the Stations were torn down and the Colosseum became the archaeological object we know today.

Wenn es dunkel wird am Karfreitagabend in Rom, wenn Tausende von Gläubigen sich beim Kolosseum versammeln und den Abhang besetzen um die Ausgänge der U-Bahn-Station Colosseo, wenn der Papst kommt und die Kreuzwegandacht feiert, während eine Schar rüstigerer vatikanischer Funktionäre ein Kruzifix tragend aus der Arena des Kolosseums zum Tempel von Venus und Roma zieht, dann wird für einen Abend eine Fiktion Wirklichkeit. Die alljährliche Kreuzwegandacht zu Ostern, die einzige regelmäßig außerhalb einer Kirche vom Papst zelebrierte Andacht, ist der letzte Nachhall der ungemein erfolgreichen Erfindung des Kolosseums als Martyriumsort. Denn die vermeintlichen Leiden der frühen Glaubenskämpfer im Kolosseum sind der Grund, weshalb die katholische Kirche gerade an diesem Ort die Passion Christi nachvollzieht. Damit beherrscht der Papst für einen Abend noch einmal die Topographie Roms und besitzt mit der territorialen auch die Deutungshoheit. Auch für die Päpste des 21. Jahrhunderts gilt das Martyrium zahlreicher früher Christen im antiken Amphitheater, allen voran des heiligen Ignatius

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aus Antiochien, noch als Tatsache.1 Dabei dekonstruierten Hippolyte Delehaye und Paul Allard schon im späten 19. Jahrhundert die Berichte von Martyrien im Kolosseum als Legenden.2 Das aktuelle Geschichtsbild der katholischen Kirche hingegen folgt einer gegenreformatorischen Perspektive, die in dem antiken Bau ein Zeugnis der Standhaftigkeit früher Christen erkennen wollte. Der Einzug der christlichen Märtyrer in das prominente antike Bauwerk wurde in zahllosen Schriften des späten 16. Jahrhunderts vorbereitet, sollte gut hundert Jahre später in den Plänen des Architekten Carlo Fontana gipfeln, eine monumentale Märtyrerkirche ins Kolosseum zu bauen, und Mitte des 18. Jahrhunderts zur Einrichtung eines Kreuzwegs entlang des Arenarands führen. Die Konjunktur dieser bis heute wirksamen Geschichtsfiktion lässt sich anhand von Martyrologien, der Kirchengeschichtsschreibung und der Guidenliteratur, aber auch an der Architektur von ersten Ein- und Umbauten bis hin zu den grandiosen Plänen für eine komplette Transformation des Baus ausmachen. Die Deutungsgeschichte des Kolosseums zwischen 1550 und 1750 manifestiert sich in Texten wie auch in Bauten und offenbart so – über die Geschichte des einzelnen Bauwerks hinaus – das komplexe Zusammenspiel dieser beiden Ausdrucksformen der Neuimagination eines Orts.

Zwischen mittelalterlichen Legenden und gegenreformatorischem Impetus Auch wenn die spätere Kirchenliteratur und bisweilen noch heutige wissenschaftliche Texte das glauben machen wollen – das Kolosseum galt keineswegs zu allen Zeiten als verehrungswürdiger Ort.3 Mittelalterliche Scribenten sahen darin einen Tempel des Sol bzw. der Roma, der einst überwölbt gewesen sei von einer Kuppel mit künstlichem Firmament und ausgestattet mit einem zauberhaften Mechanismus zur Beherrschung des römischen Imperiums. Zugleich richtete die Adelsfamilie Frangipane in den oberen Stockwerken des antiken Baus ein palatium ein.4 Dieser Nutzung und Sichtweise entsprechend wird das Kolosseum in der vor 1143    1 Vgl. etwa die Ansprache Benedikts XVI. anlässlich der Kreuzwegandacht am Karfreitag 2006 beim Kolosseum: „Liebe Brüder und Schwestern! Wir haben Jesus auf dem Kreuzweg begleitet. Wir haben ihn hier, auf dem Weg der Märtyrer begleitet – im Kolosseum, wo so viele Menschen für Christus gelitten, ihr Leben für den Herrn hingegeben haben, wo der Herr selbst in so vielen von Neuem gelitten hat.“ Benedikt XVI. 2007a, 53. Zu Ignatius von Antiochien als prominentestem Märtyrer des Kolosseums vgl. Benedikt XVI. 2007b.    2 Delehaye 1897 und Allard 1911, 209f., Anm. 4: „Le martyre d’Ignace eut-il lieu dans l’amphithéâtre Flavien (le Colisée), comme [210:] on le pense généralement? Aucun texte le dit d’une manière précise.“    3 So konstruierte etwa der Theatiner Carlo Tomasi 1675 eine fiktive Geschichte der Verehrung des Kolosseums: „E stato poi questo luogo in grandissima veneratione […]. Il Beato Pio Quinto soleua dire, che chi voleua reliquie andasse à prendere della terra del Coliseo, che era impastata del sangue de Santi Martiri.“ Tomasi 1675, 5. Eine stete Verehrung des Kolosseums seit der Spätantike postuliert auch noch Occhipinti 2007, 136–146.    4 Wegerhoff 2012, 34–59.

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Abb. 1: Inschrifttafel (1750) und darunter das Zeichen der Bruderschaft des Salvatorbilds von Sancta Sanctorum am Lateran (spätes 14. Jh.), Rom, Kolosseum, Ostfassade.

kompilierten Urfassung der Mirabilia, der ältesten mittelalterlichen Beschreibung der antiken Wunderwerke Roms, auch nicht unter den Schauplätzen von Martyrien erwähnt.5 Erst im späten 14. Jahrhundert erhielt es seine erste christliche Prägung: Über zwei der äußeren Arkaden wurden Reliefs angebracht, die eine Christusbüste zeigen, Besitzzeichen der Bruderschaft des Salvatorbilds von Sancta Sanctorum am Lateran.6 (Abb. 1) Diese hatte die Kontrolle über den antiken Bau und dessen Umgebung übernommen, nachdem der Adel das Kolosseum verlassen hatte.7 In den fast verschwindend kleinen Salvatorbüsten kann man eine Art Ankündigung der christlichen Beanspruchung des antiken Bauwerks sehen, denn ein Jahrhundert später wählte eine andere Bruderschaft, die Arciconfraternita del Gon   5 In der Auflistung de locis que inveniuntur in sanctorum passionibus kommt das Kolosseum nur zur Bestimmung eines Orts der Passion des heiligen Sebastian bei Septizonium vor, Mirabilia 1143/1910, I, 264. Gleichwohl findet sich in der das Mirabilia-Manuskript beschließenden predicatio sanctorum ein Martyrium der heiligen Abdon et Sennen in amphitheatro, ebenda, I, 273. Dass sich dieser Hinweis nicht in dem Kapitel über die Martyriumsorte Roms findet, verwundert, ließe sich aber vielleicht damit erklären, dass man im Mittelalter nicht wusste, was ein amphitheatrum in der Antike gewesen war, und den Bau nicht mit Kampfspielen und folglich auch nicht mit dem Tod dort auftretender Christen assoziierte.    6 Reliefs über dem axialen Eingang gen Lateran und über der Arkade mit der antiken Nummer LXIII. Eine dritte Salvatordarstellung ist zwei Bogen weiter rechts aufgemalt und noch heute schwach auszumachen.    7 Ilari 1997; Helas 2011.

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Abb. 2: Jan Asselyn: Kolosseum (1632–1637), Kassel, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett.

falone, das Kolosseum als Schauplatz ihrer umfangreichen Passionsspiele. Mit diesen verwandelte sich das Kolosseum alljährlich zu Ostern in die Landschaft der Evangelien. Mit ungeheurem Kulissenaufwand richteten die Gonfalonebrüder hier den Garten von Gethsemane, das Tribunal des Pilatus, den Hof des Herodes und Golgatha ein.8 Als dauerhaftes bauliches Zeichen über die saisonale Bespielung hinaus blieb im Kolosseum ein winziges Kirchlein bestehen, S. Maria della Pietà. Zunächst nicht mehr als ein zum Kultraum ausstaffiertes Gewölbe neben dem axialen Ostausgang an der einstigen Arena, sollte die Kapelle auch nach dem Ende der Passionsspiele 1539 fortbestehen und bis ins 19. Jahrhundert hinein eine permanente Stätte des christlichen Kults in dem übergroßen Bauwerk bleiben. (Abb. 2) Gleichwohl besaßen weder die Passionsspiele noch das daraus hervorgegangene Kirchlein irgendeine Verbindung mit frühchristlichen Martyrien. Die Dokumente der Gonfalonebrüder machen dazu keinerlei Aussagen;9 und die zeitgenössische humanistische und architekturgeschichtliche Guidenliteratur zeichnet sich durch    8 Siehe die Archivdokumente in Vattasso 1903 sowie Newbigin 2000; Wisch 2002; Wisch/Newbigin 2013. Selbst die zeitgenössische topographische Literatur assoziierte das Kolosseum mit den Passionsspielen: Fulvio 1527?, lib. III, fol. LIII, bezeichnet die Arena als den Ort, ubi hodie Christi dei saluatoris cruciata (quá passionem uocant) representatur.    9 Archivdokumente der Gonfalonebruderschaft in Adinolfi 1857, 148f.; Vattasso 1903; Esposito 1984.

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eindrucksvolle Quellenkenntnis und -treue aus. Und in diesen Quellen – vor allem Sueton und Martial – fand sich kein Hinweis auf Martyrien im Kolosseum, sondern eine Menge Material über die kaiserlichen Bauherren Vespasian und Titus, die antike Sitzordnung in der Cavea, die Gladiatorenkämpfe in der Arena. Dank einer genauen Kenntnis und Lektüre dieser Texte entlarvten grundlegende Bücher wie Flavio Biondos erstmals in den 1440er Jahren erschienenes und auch im 16. Jahrhundert immer wieder publiziertes Roma ristaurata die mittelalterlichen Geschichten vom Sonnentempel als Legenden und referierten das antike Wissen über den Bau und die Kampfspiele, aber von Martyrien im Kolosseum weiß Biondo nicht zu berichten.10 Besonders eindrucksvoll präsentiert sich das vorsichtige Quellensezieren in zwei speziell den antiken Bauten Roms gewidmeten Werken von Architekten, Pirro Ligorios De’ circi, theatri, & anfitheatri (1553) und Andrea Palladios L’antichità di Roma (1554). Ligorio nennt zum Kolosseum Augustus als Ideengeber sowie Vespasian und Titus als Bauherren und beschreibt die geographische Lage und Neros Gärten der Domus Aurea als Vorläufer. Zu Martyrien im Kolosseum aber findet sich kein Wort, denn dazu fand er im Gegensatz zu den anderen von ihm referierten Fakten keine Quellen.11 Dabei schenkt der Text den Leiden der frühen Christen durchaus Interesse, wenn diese glaubhaft bezeugt sind. So schreibt Ligorio zu einem Circus in der Nähe der Porta Salaria: Ne i sermoni de i Martiri di san Hieronimo, & di Beda, auttori approuati, si legge, che nell’Hippodromo, che era fuor della porta Salara, furono martirizzati dugento sessanta Martiri, sotto l’Imperio di Claudio secondo […].12 Ähnlich ist es bei Palladio. Er versäumt es nicht, im Abschnitt über antike cerchi das Martyrium des heiligen Sebastian im Circus des Maxentius an der Via Appia zu erwähnen. In Zusammenhang mit Amphitheatern und dem Kolosseum jedoch ist kein Martyrium genannt.13 Antiquarisches Interesse allein führte also durchaus nicht dazu, im Kolosseum einen Martyriumsort zu erkennen. Erst aus einer Perspektive, in deren Fokus die Geschichte der frühen Christen stand, begann man im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts auch danach zu forschen, wo christliche Martyrien zu verorten seien. Herausgefordert durch die Reformation sah sich Rom gezwungen, seinen Primat auch in seiner einzigartigen Heiligentopographie zu behaupten. Die Gegenreformation verlangte nach von Reliquien und Heiligenblut durchsetztem Boden, und so ergründeten römische Antiquare und Kirchengelehrte die Schauplätze der frühen Glaubenskämpfe. Als Frucht dieses kreativen Prozesses sollte sich bis 1700 ein weitgehend akzeptierter Kanon von etwa zwanzig Märtyrern und Märtyrergruppen für das Kolosseum etablieren. Die Ursprünge dieser Märtyrervielfalt lassen sich in der Kirchengeschichtsschreibung und topographischen Literatur seit dem letzten  10 Biondo 1527, lib. III, 1–15, fol. 33–35 ; ähnlich Fabricius 1551, 114.  11 Ligorio über das Kolosseum: [Q]uella superbißima Mole, che si chiama uolgarmente il Coliseo, disegnata prima d’Augusto, & alcuni anni dopò edificata da Vespesiano di sasso Tiburtino, & da tre lati cinta da tre colli; cioè dal Palatino, dal Celio, & dall’Esquilie, & posta presso la Subura, et le Carine, doue gia furono li stagni di Nerone. Ligorio 1553, 5v.  12 Ebd., 2v.  13 Palladio 1565, 9r und 9v.

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Viertel des 16. Jahrhunderts ausmachen, indem man die Karriere der später kanonischen Kolosseumsmärtyrer nachverfolgt.14 Ein frühes und typisches Produkt gegenreformatorischer Kirchengeschichtsschreibung und in Hinsicht auf das Kolosseum der Auftakt zur Erfindung des Bauwerks als Martyriumsort ist Giovanni Andrea Gilios Le persecutioni della chiesa (1573), eine umfassende Geschichte der Christenverfolgung seit dem frühesten Christentum bis zu den byzantinischen Kaisern. Von den ein Jahrhundert später für das Kolosseum beanspruchten Märtyrern finden hier allein die heiligen Abdon und Sennen ihren Tod im bzw. beim Amphitheater: In Roma Abdone, e Sene […] [e]ssendo menati nell Amfiteatro innanzi la statua del [99:] Sole acciò sacrificassero, ricusando essi, e sputando nell’Idolo. furono battuti crudelmente co i piombati, e poi dati alle bestie. Ma non hauendo riceuuta offesa alcuna furno decollati à dì trenta d’Agosto.15 Die Sol-Statue, der Abdon und Sennen opfern sollen, steht hier im Amphitheater. Als Strafe für ihre Verweigerung gegen den heidnischen Kult werden die Heiligen ausgepeitscht und den wilden Tieren vorgeworfen und letztlich, da ihnen all das nichts anhaben kann, enthauptet – ob im Amphitheater oder anderswo, ist nicht deutlich zum Ausdruck gebracht. Zentral für die Verortung des Martyriums ist zunächst auch nicht das Amphitheater, sondern die Statue. Diese existierte in der Antike tatsächlich, stand aber nicht im, sondern westlich vor dem Kolosseum. Der Grund für Gilios Verortung des Martyriums dürfte denn auch darin liegen, dass sich an der Stelle der einstigen Statue mindestens seit dem 12. Jahrhundert und noch bis 1566 eine den heiligen Abdon und Sennen geweihte Kirche befand.16 Gilios Lokalisierung eines Martyriums im bzw. beim Kolosseum speist sich demnach aus zwei Quellen: Einmal aus der Kirchentopographie Roms, andererseits aber auch aus den mittelalterlichen Erzählungen vom Kolosseum als Sonnentempel. Wie schon im Laufe des frühen Mittelalters die Kolossalstatue und der Bau miteinander verbunden wurden, um dem amphitheatrum seinen nach-antiken Namen Kolosseum zu verleihen,17 so liefert Gilio hier eine zeitgemäße Version dieser Verschmelzung. Der Standort der Statue nicht im, sondern vor dem Kolosseum kann Gilio eigentlich kaum unbekannt gewesen sein. Doch geht es offenbar darum, das Kolosseum in Zusammenhang mit der Statue als Martyriumsort zu etab 14 Fontana 1725 nennt zwanzig Märtyrer/gruppen im Kolosseum. Die ersten acht bildeten um 1700 so etwas wie einen festen Kanon, weitere zwölf finden sich nur bei Fontana und sind in anderen Publikationen durch andere ersetzt. Für die vorliegende Untersuchung wurden Fontanas zwanzig Märtyrer als Maßstab genommen und untersucht, ob diese auch früheren Publikationen zufolge im Kolosseum umkamen. Der feste Kanon ist: Abdon und Sennen; 262 Märtyrer (manchmal auch als 260 Märtyrer bezeichnet); Ignatius von Antiochien; Almachius; Eustachius und Familie; Tatiana; Symphronius, Olympius, Exsuperia, Theodolus; und Martina. Außerdem nennt Fontana noch: Euphemia; Placidus; Zeno; Genesius; Dominica Vergine; Vitus, Modestus und Crescentia; Eusebius und Marcellus; Restitutus; Felicitas; Mennas; Johannes; sowie andere, unter Valerian gestorbene Märtyrer.  15 Gilio 1573, 98f.  16 Vgl. Huelsen 1927, 163f. und 98, Nr. 86.  17 Der Bau wird in antiken Texten immer nur als amphitheatrum bezeichnet, erst in mittelalterlichen Texten (evtl. schon im 8., mit Sicherheit ab dem 11. Jh.) als coloseum, vgl. Wegerhoff 2012, 27–31.

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lieren. Gilios Persecutioni bringen damit jedoch noch keineswegs eine verbreitete Auffassung des Kolosseums zum Ausdruck. Zum Heiligen Jahr 1575 erschienene Romführer kennen das Kolosseum noch nicht als Element der christlichen Topo­ graphie, und auch ein zeitgenössischer Pilgerbericht übergeht den Bau.18

Cesare Baronios päpstlich sanktionierte Wahrheiten Ein bedeutendes Referenzwerk für die Konstruktion Roms als alleiniges Zentrum der Christenheit sollte das vom Kardinal Cesare Baronio mitherausgegebene und kommentierte Martyrologium Romanum (Erstausgabe 1584, mit Kommentaren 1586) sein. Diesem oblag es, den Wahrheitsgehalt verschiedenster Martyrologien auszuloten und auf eine einzige, päpstlich sanktionierte Wahrheit zu konzentrieren. Das Martyrologium ergänzten wenige Jahre später die vielbändigen Annales ecclesiastici, eine ausführliche, zahlreiche Quellentexte versammelnde Kirchengeschichte von den Anfängen bis ins Mittelalter. Auch wenn Baronio bei weitem nicht all die Märtyrer im Kolosseum auftreten ließ, die spätere Autoren mit Hinweis auf ihn dort verorten sollten, findet sich doch auch im Martyrologium bereits ein Martyrium im römischen Amphitheater. Unter dem 1. März heißt es: ROMAE sanctorum Martyrum ducentorum sexaginta, quos iussit primo Claudius pro Christi nomine damnatos extra portam Salariam arenam fodere, deinde in amphitheatro militum sagittis interfici.19 Interessant ist, dass es sich genau um die 260 Christen handelt, die Pirro Ligorio 1553 noch in einem Zirkus bei der Porta Salaria sterben ließ. In Andrea Gilios Persecutioni von 1573 werden die christlichen Zwangsarbeiter einfach direkt in der Sandgrube umgebracht, in der sie arbeiteten, wohingegen das 1632 erschienene Roma sotteranea von Antonio Bosio und Giovanni Severano hervorhebt, dass sie in einem Amphitheater an Ort und Stelle hingerichtet worden seien, also nicht im Kolosseum.20 Zu dieser Konfusion mag beigetragen haben, dass das lateinische arena sowohl den Sand bezeichnet, den diese 260 Märtyrer schaufeln mussten, als auch den Kampfplatz im Amphitheater. Der erstmals 1590 erschienene zweite Band der Annales ecclesiastici jedoch ist affirmativer und deutlicher in seinen topographischen Angaben zu den 260 Märtyrern. [D]uctos Romam, & in amphitheatrum inclusos milites sagittantes interfecerunt, schreibt Baronio hier. Damit kann es keinen Zweifel geben, dass diese Märtyrer seiner Ansicht nach im Kolosseum umkamen.21 Zugleich wird die ganze Gegend  18 Vgl. Le cose maravigliose 1575, Serranus 1575, Rabus 1575/1925.  19 Martyrologium 1586, 104 (1. März).  20 Vgl. Ligorio 1553, 2v, wie oben zitiert; Gilio 1573, 118: [F]urono condennati fuora della porta Salaria à cauar l’arena […] [e] con le saette ammazzati; und Bosio/Severano 1632, 485f.: „[T]enuit ducentos sexaginta Chri- [486:] stianos Via Salaria, qui arenam fodientes damnati fuerant pro nomine Christi, quos iussit ut in figlinas foras muros Portae Salariae, in eodem loco includerentur in Amphitheatro; & iussit ibi eos milites sagittis interficerent.“ Dabei muss dann allerdings unklar bleiben, um welches Amphitheater es sich handeln könnte.  21 Baronio 1588–1605, II, 1590, 588.

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um das Kolosseum als eine Topographie der Martyrien beschrieben. Denn im selben Band berichtet Baronio, die vier Heiligen Symphronius, Olympius, Exsuperia und Theodolus seien bei der Sol-Statue neben dem (iuxta) Amphitheater verbrannt worden.22 Ebenso iuxta amphitheatrum hätten auch Marcellus Diaconus und Eusebius Presbyter ihren Märtyrertod erlitten; die beiden hätte man auf einem als petra scelerata bezeichneten Stein enthauptet.23 So führt Baronio die Überschreibung der Topographie um das Kolosseum fort – auch wenn er später sehr prominente Patrone des flavischen Amphitheaters, allen voran den heiligen Ignatius, durchaus nicht dort auftreten lässt.24 Nicht nur im Text, auch im Bild kam diese neue Sichtweise auf, die im Kolosseum einen Leidensort früher Christen erkennen wollte. Das zeichnet sich in Antonio Gallonis Trattato de gli instrumenti di martirio ab, der mit zahlreichen Stichen von Antonio Tempesta illustriert ist. Zwar nennt Galloni in seinem Text der Erstedition von 1591 nur Theatri und altri luoghi als Orte, an denen christliche Märtyrer den wilden Tieren vorgeworfen worden seien; erst in der drei Jahre später erschienenen lateinischen Ausgabe ist auch das Amphitheater erwähnt.25 Doch Tempestas Stiche zeigen einen ganzen Qualenkatalog, dem man als früher Christ ausgesetzt werden konnte, vor schönstem klassischem Hintergrund (Abb. 3). Die Antike war, das wird in diesen Darstellungen deutlich, nicht mehr nur die Epoche, in der bauliches Idealmaß auch einem Werteideal entsprach. Vielmehr stellt eine solche Bildpropaganda die Unanfechtbarkeit der Antike in Frage und differenziert zwischen der Vorbildlichkeit des Bauwerks und dem moralisch verachtenswerten Geschehen darin oder davor. Dass manche Bauten auf Tempestas Stichen dem Kolosseum ähneln, mag völliger Zufall sein, zumal selbst in der lateinischen Edition von 1594 nicht dieses, sondern andere Amphitheater als Martyriumsorte genannt werden.26 Doch der Blick auf das klassische Altertum begann sich grundlegend zu verändern. Zeitgleiche Texte und Ereignisse allerdings zeigen, dass die schrittweise Neuerfindung des Kolosseums im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts noch längst nicht allein gültige Wahrheit war – selbstverständlich nicht aus protestantischer, nicht aus altertumswissenschaftlicher Perspektive, und zudem nicht einmal in Rom und am Heiligen Stuhl. Parallel zu Baronios und Gallonis Geschichtsversionen kursierten noch ganz andere Auffassungen des antiken Bauwerks. So geht John Foxe in seinem erstmals 1570 in London gedruckten Book of Martyrs ausführlich auf den  22 Decreta itaque in eos sententia, vt igne comburerentur, ad statuam Solis iuxta Amphitheatrum ducti sunt, ibiq. fixis stipitibus, congestis sarmentis, nauium stuppa, igne apposito, cremari iussi, cum illi flammis vallati dicerent: Gloria tibi Christe, ebd., 514.  23 [D]ucti sunt ad Petram sceleratam, iuxta amphitheatrum, ad lacum Pastoris: ibidé decollati sunt beatus Eusebius presbyter & Marcellus diaconus decimotertio Kalendas Nouembris. Corpora illorum relicta sunt canibus, ebd., 510.  24 Zu Ignatius Martyrologium 1586, 63.  25 Vgl. Galloni 1591, 136, mit Galloni 1594, 211f.  26 Galloni zitiert an der entsprechenden Stelle aus Eusebius’ Kirchengeschichte, dass Maturus und Sanctus in amphitheatro omne genus tormentorum denuo subeunt und auch ein gewisser Alexandro medico & martyre in amphitheatro umgekommen sei. Das bezieht sich auf das Amphitheater von Lyon, nicht aufs Kolosseum.

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Abb. 3: Antonio Tempesta: Christliche Märtyrer (1591).

später als zentralen Patron des Kolosseums geltenden Ignatius von Antiochien ein, aber er erwähnt das Kolosseum nicht als dessen Martyriumsort. Das ließe sich noch mit Foxes protestantischer Motivation erklären. Doch es mag auch einfach daran gelegen haben, dass er die von ihm verwandten Quellen vorsichtig auslegte: Weder Hieronymus’ de viris illustribus noch Eusebius’ Kirchengeschichte nennen das Kolosseum in Zusammenhang mit Ignatius’ Passion.27 Streng an seine Quellen hielt sich auch der in Glaubensfragen weitaus weniger leicht festzulegende Gelehrte Justus Lipsius, der 1584 ein Büchlein über die Amphitheater Roms und eines über Amphitheater außerhalb Roms veröffentlichte. Bezeichnenderweise findet sich in ersterem kein Wort über Martyrien, in letzterem hingegen schon auf den ersten Seiten. Das erklärt die später von ihm angegebene Quelle, denn diese ist abermals die Kirchengeschichte Eusebius’, die kein christliches Martyrium im Amphitheater von Rom, durchaus jedoch in dem von Lyon bezeugt.28 Dass die Erfindung des Kolosseums als Martyriumsort allerdings selbst noch in Rom im Entstehen begriffen war, bezeugt der widersprüchliche Umgang mit dem Bauwerk durch Papst Sixtus V. (Pontifikat 1585–1590). 1587 eröffnete dieser den Römern, es sei seine Absicht,  27 Foxe 1570, 71. In einer Marginalie zu dem Bericht von Ignatius’ Martyrium nennt er seine Quellen: Ex Euse. li. 3. Cap. 35,36 [,] Ex Hiero. In catalogo Scrip ecclesiast. Vgl. Hieronymus 1896, 18, und Eusebius 1999, 274f.  28 Vgl. Lipsius 1584/1972b mit Lipsius 1584/1972a, 7. In letzterem, S. 20, ein Verweis auf Eusebius’ Kirchengeschichte (in der modernen Edition Eusebius 1999, 417).

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das Kolosseum instandzusetzen und eines Tages dem christlichen Glauben zu widmen: il pensiero che ha, [è] di risarcirlo tutto et dedicarlo un giorno al culto divino con una piazza bella d’ogni intorno senza invidia di quelle bellezze de suoi primi architetti et fondatori.29 Doch dass es sich dabei um eine Umwandlung in eine Märtyrerkirche gehandelt hätte, ist mehr als unwahrscheinlich. Sixtus’ Versicherung nämlich sollte eine wohl durchaus nicht unbegründete Befürchtung der Römer entkräften, der Papst könne einen Teil des Kolosseums zugunsten seines ambitionierten Straßenbauprogramms niederreißen lassen. Die vage Weihe al culto divino sagt nichts über ein Patrozinium aus, und im Hinblick auf Sixtus’ Umgang mit anderen Antiken mag man sich allenfalls eine Bekrönung mit einem Kreuz vorstellen. Dass der Papst das Kolosseum keineswegs für verehrungswürdig hielt, belegt sein solchen frommen Versprechen völlig entgegenstehender und beinahe realisierter Plan von 1590, das Kolosseum in eine Wollspinnerei zu verwandeln. Sixtus’ Architekt Domenico Fontana hatte schon die Pläne gezeichnet, und erste Arbeiten waren im Gange, als der Papst starb.30 Die Spinnerei sollte ein Gespinst bleiben, die Sakralisierung wie auch Profanierung von päpstlicher Seite blieben aus.

Die Jesuiten als moderne Märtyrer Die Interpretation des Kolosseums als Martyriumsort motivierten letztlich weniger historische Quellen als vielmehr die aktuellen Umstände der katholischen Kirche und nicht zuletzt die Brisanz nicht nur frühchristlicher, sondern zeitgenössischer Martyrien. Insbesondere die Jesuiten zeichneten sich durch einen internationalen missionarischen Eifer aus, der selbst den Tod im Glaubenskampf nicht scheute. Zahlreiche Schriften wie auch Fresken bezeugen die aufmerksame Wahrnehmung solcher moderner Martyrien in Rom.31 Historia del glorioso martirio di sedici sacerdoti martirizzati in Inghilterra per la confessione, & difesa della fede catolica, l’anno 1581.1582 & 1583 lautet so etwa der Titel einer stete Neuauflagen erfahrenden Übersetzung aus dem Englischen vom glorious martyrdom katholischer Geistlicher in Großbritannien. Auch Texte über Martyrien in Japan sind überliefert, und in Indien wie in Deutschland starben Katholiken für ihren Glauben.32 Derlei Ereignisse aber fanden sich nicht nur in Druckform, sondern manifestierten sich auch im Stadtraum Roms. 1577 wurde der Collegio Inglese eingerichtet, eine Ausbil 29 Avviso, publiziert in Orbaan 1910, 300.  30 Vgl. den avviso in Orbaan 1910, 311, sowie Fontana 1604/1978, II, 18f. Fagiolo 2010, 27–29, geht allein auf Basis einer Papstvita des späten 18. Jh. davon aus, Sixtus V. habe eine Kirche im Zentrum des Kolosseums bauen und mit vier darin gelegenen Abteien verbinden wollen. Das scheint die Quellenlage jedoch nicht herzugeben.  31 Grundlegend Mâle 1932/1984, 118–121, und Haskell 1963/1980, 67f.  32 Allen 1583, das englische Original Allen 1582. Der übersetzte Text findet sich in zahlreichen Editionen, etwa Neapel 1584 und Mailand 1584. Über Martyrien in Oxford berichtet die Breve relatione 1590, davon erschien auch eine französische Ausgabe in Paris 1590; über Martyrien in Japan de Santa Maria 1599; über Martyrien in Deutschland Nouorum, in inferioris Germaniae 1581.

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Abb. 4: Giovan Battista Fiammeri/Tarquinio Ligustri: Heiliger Ignatius von Antiochien (um 1600), Rom, S. Vitale.

dungsstätte für Missionare, die England für den katholischen Glauben zurückgewinnen sollten. Die dazugehörige Kirche wurde entsprechend mit Fresken von englischen Märtyrern geschmückt.33 Die Verbindung zeitgenössischer und frühchristlicher Martyrien kennzeichnet die Ausstattung der Jesuitennoviziate um die Kirchen S. Andrea al Quirinale und S. Vitale.34 So waren die Novizen im Speisesaal bei S. Andrea etwa umgeben von Darstellungen von 39 nach Brasilien entsandten Jesuiten, die schon auf See ermordet wurden, vom Massaker an Padre Rodolfo Acquaviva in Goa, vom Tod der japanischen Jesuiten Iaques Guisai, Paul Michi und Iean Got.35 Die Kirche S. Vitale hingegen statteten die Jesuiten mit Szenen frühchristlicher Märtyrer für ihre Bedürfnisse aus. Auch diese Darstellungen waren zur imitation gedacht, wie eine zeitgenössische Beschreibung der Fresken betont, Louis Richeomes La peinture spirituelle ou L’art d’admirer aimer et louer Dieu en toutes ses oeuures von 1611.36 In S. Vitale ist es auch, wo sich an der rechten Wand erstmals das Kolosseum als Martyriumsort in einem Fresko findet (Abb. 4). Neben  33 Siehe hierzu Martin 1581/1969, 109–112, sowie über ähnliche Einrichtungen für andere Nationen ebenda, 119–121. In Vesey 1999/2000, 173, ein zeitgenössisches Dokument, das über die Fresken de’ Santi Martiri dell’istessa natione in der zugehörigen Kirche berichtet.  34 Grundlegend dazu Behrmann 2011.  35 Richeome 1611, Buch III, 191–211 (39 Jesuiten), 211–225 (Acquaviva), 235 (japanische Jesuiten).  36 Richeome 1611, Buch VII, 752, dort auch die maliziöse Frage an die Novizen: „Mes bien-aymez, ne tirez-vous pas du Tableau de cette histoire vn nouueau desir, d’exposer vostre vie aux tormens & à la mort, pour IESVS […]?“

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einem hoch aufragenden Baum kniet der heilige Ignatius. Ihn umspringen einige eher kätzchenhaft wirkende Löwen, einer hat sich bereits in seinem Mantel festgebissen. Dahinter ist das Kolosseum zu erkennen. Die Szene findet streng genommen nicht im, sondern vor dem Kolosseum statt, das zudem nicht in seinem antiken Zustand, sondern als Ruine dargestellt ist. Doch sollte damit zweifellos eine Verortung des Martyriums betont werden, zeigt sich der antike Bau hier doch genau aus der Perspektive, wie ihn die damalige Darstellungskonvention kennt.37 Näher identifiziert ist die Szene zudem in einer Inschrift darunter: S. IGNATIVS EPISCOPVS ROMAE | TRAIANO IMP. DIE I. FEBR. Das entspricht nicht wörtlich, wohl aber der Betonung von Datierung und Lokalisierung nach dem Martyrologium Romanum. Verantwortlich für diese Projektion des neu geordneten Heiligenkalenders auf die Wand von S. Vitale war Claudio Acquaviva, 1581 bis 1615 Ordenschef (Preposito generale) der Jesuiten. Er entwickelte das Ausstattungsprogramm der Kirche in enger Zusammenarbeit mit dem Maler Giovan Battista Fiammeri, während wahrscheinlich Tarquinio Ligustri das Ignatius-Fresko ausgeführt hat. Wer genau für die Einfügung des Amphitheaters verantwortlich ist, lässt sich nicht rekonstruieren, doch dessen große Aufmerksamkeit für das Bildprogramm und die besondere Bedeutung, die solchen Gemälden zur Instruktion der jungen Jesuiten zukam, legt eine Entscheidung Acquavivas nahe. Datieren kann man das Fresko auf um 1600.38

Ottavio Panciroli und die Überscheibung der Topographie Trat das Kolosseum also mit dem neu anbrechenden Jahrhundert erstmals bildlich als Martyriumsort in Erscheinung, so sollte sich mit dem Jahr 1600 auch ein Wandel in der Literatur vollziehen: Mit Ottavio Pancirolis Tesori nascosti nell’alma città di Roma fand die neue Interpretation des Amphitheaters erstmals ihren Weg von der kirchengeschichtlichen in die topographische Literatur. War die Überschreibung des Kolosseums bislang aus einer Logik hervorgegangen, die nach der Geschichte des frühen Christentums forschte, ging die Assoziation mit dem Martyrium nun tatsächlich vom Ort des Geschehens aus. Welche Bedeutung man diesem Wandel beimessen muss, offenbart die Tatsache, dass Pancirolis Buch zum Heiligen Jahr 1600 erschien und mit seinem handlichen Format vielen Pilgern als Führer  37 Fast ausnahmslos zeigen alle illustrierten Guiden dieser Zeit den Bau, wie man ihn vom Forum kommend sieht, vgl. etwa Fulvio 1588, 120.  38 Zu den Fresken von S. Vitale siehe Zuccari 1984, 159–164, sowie Gunter 2005, 39–48, zum Ignatius-Fresko 45f. Eine zeitgenössische Interpretation des Freskos in Richeome 1611, Buch VII, 747–753. Richeomes Buch ist Claudio Acquaviva gewidmet. Wie intensiv sich dieser mit der Ausstattung von S. Vitale auseinandergesetzt hat, schildert Gijsbers 1998, insbes. 33. Zuccari 1984, 141, betont Acquavivas besonderes Interesse für die Orte von Martyrien. Die Datierung um 1600 erlauben Rechnungen von 1599 und 1603, vgl. Zuccari 1984, 163f. Als Vorläufer der Martyriumsdarstellungen mit teils krassen Details entstand schon 1582 der Freskenzyklus in S. Stefano Rotondo. Auch in diesem tritt Ignatius auf, allerdings nicht in einem Amphitheater, siehe Monssen 1983.

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gedient haben mag – ganz anders als die für Bibliotheken und Kirchen produzierten gewichtigen Bände der Annales bzw. des Martyrologium. Im Angesicht des antiken Bauwerks konnte man nun bei Panciroli lesen: O quanti, per piantar in Roma la fede di Christo, qui furono sbrannati dalli Leoni, ò con che spirito, e feruore d’Antiochia ci venne il glorioso martire Ignatio, le cui sante reliquie conserua questa Chiesa di S. Clemente; e, nel passar per questo luogo col pensiero de cose tali, come non inalzarai la mente à questi cotáti benemeriti soldati della Chiesa di Christo, e forti difensori della nostra santa fede?39 Das Kolosseum wird zum christlichen Erinnerungsort gemacht, und der Leser wird aufgefordert, hier der frühen Glaubenskämpfer zu gedenken. Damit wird es nicht nur in die christliche Topographie Roms aufgenommen, um einem vorher unbeschriebenen Ort eine neue Bedeutung zu verleihen. Vielmehr geht es Panciroli auch darum, andere und ältere Konnotationen auszulöschen. Die Glorifizierung des Kolosseums als, wie er an anderer Stelle formuliert, luogo si famoso, doue tanti cóbattendo per Christo gloriosamente sono morti nämlich setzt er einer äußerst abfälligen Schilderung der Kapelle S. Maria della Pietà entgegen. Diese, so notiert er, diene allenfalls der Bequemlichkeit der Bruderschaft des Gonfalone, die hier einst die Passionsspiele aufgeführt hatte.40 Pancirolis Ambition war es also auch, die bisherige Verbindung mit den Passionsspielen, die der Papst schließlich verboten hatte und die sich nicht kirchengeschichtlich mit dem Monument in Verbindung bringen ließen, abzulösen durch eine kirchenhistorisch vermeintlich gesicherte Geschichte des Bauwerks. Ihm sollte großer Erfolg beschieden sein. Während andere Guiden oder Reisebeschreibungen von 1600 noch nichts von Märtyrern im Kolosseum zu berichten wissen, änderte sich das schon kurze Zeit später.41 1610 schreibt Pietro Martire Felini in seinem L’antichità dell’alma città di Roma, im Kolosseum seien einst heilige Märtyrer wilden Tieren ausgeliefert worden. Im Vergleich mit älteren Guiden lässt sich feststellen, dass Felini seinen Abschnitt übers Kolosseum größtenteils aus Andrea Fulvios L’antichità di Roma in der Edition von 1588 übernommen hat; dies allerdings mit der bezeichnenden Änderung, dass Felini dort über die Märtyrer schreibt, wo Fulvio noch die Passionsspiele schilderte. Insofern vollzieht sich hier genau die von Panciroli anvisierte Umwidmung des Bauwerks.42 1625 dann, aber 39 Panciroli 1600, 273.  40 Ebd., 269. Dort auch zur Kapelle der Gonfalonebrüder: „[D]i quella Chiesa non parlo, per non esser dedicata à memoria d’alcun Santo, ma fatta solo per commodità de quelli, che già qui sopra rappresentauano ogn’anno nel venerdì Santo la passione di Christo.“  41 Vgl. Francino/Parisio 1600; Schickhart 1603, 32v und 33.  42 Vgl. Felini 1610, 28, mit Fulvio 1588, 121. Felini: „Tutto il spacio, ouero piazza del detto Anfiteatro era sparsa d’arena, accioche quelli che combatteuano insieme, ouero lottauano, fermassero bene il piede, & se erano feriti, s’imbrattassero d’arena per non smarirsi vedendo il proprio sangue, & perciò ben spesso per l’arena si piglia l’istesso Colosseo, come anco non di raro osserua la Chiesa trattando delli Santi Martiri quando erano esposti à combattere con le fiere da gli tiranni.“ Fulvio: „Dentro allo spacio dell’Anfiteatro vi si gettaua di molta Rena, accioche i gladiatori, & quelli che combatteuano, ò l’vn con l’altro ò con fiere, appiccassero bene il piede in terra, & non isdrucciolassero. Et se pure e’cadeuano, che e’ venissero à farsi manco male, & cadere più soffici. Et perciò molte volte in Latino si piglia la Arena per l’Anfiteatro. Molte persone ch’erano condannate à morte, ò prese in guerra, ò pagate, ò si veramente, che voleuano dimostrare quanto e’fus-

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mals in einem Heiligen Jahr, verbreitete sich diese Lesart des Kolosseums noch weiter: Felinis Führer erscheint mit demselben Text wie fünfzehn Jahre zuvor, Panciroli überarbeitet seinen Abschnitt übers Kolosseum vollkommen und baut ihn aus, und Giulio Mari berichtet in seinen Grandezze della città di Roma antiche & moderne nicht nur von Ignatius, sondern auch von zahllosen anderen Märtyrern im Kolosseum: […] Sant’Ignatio […] nobilitò questo luogo con’il suo santo martirio. Et infiniti altri li quali per breuità tralascio. Darin, dass die Kürze des Texts ihm nicht erlaube, die anderen zu nennen, darf man zweifelsohne eine Ausflucht hören. Doch mit dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts begannen die Geschichten der Märtyrer eine legendenhafte Vielfalt zu entwickeln. Das ist nicht zuletzt der nun immer deutlicher interessegesteuerten Lektüre der antiken Quellen zuzuschreiben, aus denen man sein Wissen bezog. Die Sorgfalt und Vorsicht, mit denen Baronio und seine Zeitgenossen noch Ende des 16. Jahrhunderts trotz ihres Interesses einer Rechtfertigung des katholischen Glaubens vorgegangen waren, geriet immer mehr außer Acht. Ein interessantes Beispiel dafür stellt das von Paolo Aringhi herausgegebene Roma subterranea dar, 1651 in Rom publiziert. Dem Titel nach eine Überarbeitung von Antonio Bosios und Giovanni Severanos Werk über die Katakomben von 1632, erweitert Aringhi das Buch ganz wesentlich.43 Das zeigt sich nicht zuletzt am vollkommen neu eingefügten Abschnitt über Theater, Amphitheater und Circus als Orte frühchristlicher Martyrien.44 Hier rekurriert der Text immer wieder auf das Kolosseum, das in einer langen Argumentation mit ausführlichen Quellenzitaten als Martyriumsort beschrieben wird, hervorgehoben durch die Marginalie: „In Amphitheatro Titi Ignatius à leonibus discerpitur“.45 Trotz dieser unmissverständlichen Aussage nimmt es der Autor im Folgenden mit dem Unterschied zwischen Theater und Amphitheater nicht so genau. Wenn es nur der Argumentation dient, werden dem Text Zitate von Simeon Metaphrastes und Johannes Chrysostomos sowie Abschnitte aus dem Martyrologium Romanum einverleibt, obwohl diese allesamt ein Theater als Martyriumsort nennen.46

sero animosi, si rappresentauano sopra il detto campo à combattere, oue hoggi si rappresenta la passion di Christo.“  43 Vgl. Bosio/Severano 1632 mit Bosio/Aringhi 1651.  44 Bosio & Aringhi 1651, Buch 2, Kapitel 1: Ex antiquis Vrbis Romae monimentis Sacra Coemeteria, & martyriorum loca innotescunt. Das Kapitel existiert so nicht in der Version von 1632.  45 Bosio/Aringhi 1651, I, 193.  46 Bosio/Aringhi 1651, I, 193f. Das Martyrium des Genesius siedelt das hier zitierte Martyrologium Romanum eigentlich in theatro an; der hier auf Latein zitierte Simeon Metaphrastes schildert Ignatius’ Leiden in medium theatrum; im hier ebenfalls auf Lateinisch wiedergegebenen Chrysostomos-Zitat heißt es in medio theatro, doch Aringhi liest in all dem das Urbis Romae amphitheatro.

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Ignatius von Antiochien und die Selbststilisierung zum Märtyrer Roma subterranea und auch die weniger ausführlichen und seltener ihre Quellen offenlegenden Guidentexte machen deutlich, dass die Konstruktion des Kolosseums als Martyriumsort immer wieder mit dem Martyrium des Ignatius verbunden wurde, indem man die antiken Quellen dazu eher großzügig auslegte. Gleichwohl hatte schon Ignatius selbst die besten Voraussetzungen seiner Beanspruchung für das Kolosseum geschaffen. In einem Anfang des 2. Jahrhunderts während seiner Reise von Antiochien nach Rom verfassten Brief an die römische christliche Gemeinde beschwört er wortgewandt sein Martyrium bei den wilden Tieren herauf und bezeichnet sich als Weizen Gottes, der von den Bestien gemahlen werden müsse.47 Ignatius’ Vision seines Martyriums, der die Realität natürlich keineswegs entsprochen haben muss, fand als unumstößlicher Tatsachenbericht entsprechenden Widerhall in der frühchristlichen Literatur. So wird sein Heldentod schon in Hieronymus’ de viris illustribus verlebendigt, indem Ignatius hier einige Zeilen seines Briefs als wörtliche Rede angesichts der wilden Tiere in den Mund gelegt werden: Cumque iam damnatus esset ad bestias et ardore patiendi rugientes audiret leones, ait: ‚Frumentum Christi sum, dentibus bestiarum molar, ut panis mundus inveniar.’ 48 Freilich hält sich Hieronymus ansonsten an den Ignatiusbrief und weiß ebenso wenig wie sein Zeitgenosse Johannes Chrysostomos in einer Predigt über Ignatius etwas vom römischen Amphitheater als Martyriumsort zu berichten.49 Anders stellt sich das im 400 Jahre später verfassten, weit verbreiteten Martyrologium des Ado von Vienne dar. Dieser beschreibt einen langen Qualenkatalog, dem Ignatius zuvor ausgesetzt worden sei, und lokalisiert Ignatius Tod dann in amphitheatro. So übernimmt es kurz danach auch Flodoard de Reims in sein De triumphis Christi Antiochiae gestis.50 Weit reduzierter ist die Version im wenig später verfassten Martyrologium von Usuard. Dieser weiß allein von der Anwesenheit Trajans und dem umgebenden Senat zu berichten und kürzt Ados Qualenvielfalt auf einen schnellen Verweis ab.51 Auch beim wenig später schreibenden Simeon Metaphrastes findet sich kein Hinweis aufs Amphitheater.52 Das von Baronio mitherausgegebene Martyrologium von 1584 schließlich, dem es oblag, mit derlei Divergenzen und phantasievollen Auswüchsen der Überlieferung aufzuräumen, gibt fast wortwörtlich die Version von Usuard wieder, in der letztlich auch Hieronymus paraphrasiert wird.53 Der Version Ado von Viennes hin 47 Ignatius 1956, 186f.  48 Hieronymus 1896, 18.  49 Johannes Chrysostomos 1862, 593f.  50 Ado 1984, 16, und Flodoard de Reims 1879, 553.  51 Usuard 1965, 172f.  52 Simeon Metaphrastes o. J., 1283.  53 Martyrologium 1584, 34 (1. Februar): […] in persecutione Traiani damnatus ad bestias, Romam vinctus mittitur, vbi praesente Traiano, circumsedéte Senatu, immanissimis poenarum supplicijs primo affectus, leonibus dehinc obijcitur; quorum dentibus praefocatus, hostia Christi efficitur. Derselbe Text findet sich im Martyrologium 1586, 63.

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gegen misstraut Baronio ausdrücklich.54 Entsprechend findet sich in den Annales auch ausschließlich die Lokalisierung in medio theatro aus einer Predigt von Johannes Chrysostomos und in medium theatrum aus der Ignatius-Vita von Simeon Metaphrastes.55 Auch wenn die Annales also das Theater nennen und das Martyrologium gar keinen spezifischen Ort, sollten die Werke eine entscheidende Referenz für die Re-Interpretation des Kolosseums im 17. Jahrhundert werden. Baronio wirkte gewissermaßen wider Willen mit. Aringhi lieferte er, wie aus der oben besprochenen Passage aus Roma Subterranea offenbar wird, die Quellen. Und im Martyrologium von 1586 findet sich unter dem Eintrag zu Ignatius ein ausführlicher Kommentar zur Verurteilung an die wilden Tiere.56 Die Heraushebung Ignatius’ als Prototyp des den Bestien ausgelieferten Märtyrers verbanden die Baronio folgenden Autoren mit einem topographischen Argument: Die wenige hundert Meter vom Kolosseum entfernte Kirche S. Clemente bewahrte die Reliquien des heiligen Ignatius. So vereinten sich Textauslegung und topographische Tradition zum Bedeutungswandel eines Bauwerks. Während dem Kolosseum in der Literatur immer mehr Heilige zugeschrieben wurden, verfiel der Bau am Rande der bewohnten Stadt. Auch wenn der antike Bau wohl nicht systematisch geplündert wurde, profitierte die Salvatorbruderschaft noch 1604 auf wenig fromme Weise von dem ihr gehörenden Drittel des Bauwerks, indem sie der Kommune einige Steinbrocken des Kolosseums zum Bau des neuen Kapitolspalasts überließ und dafür eine Spende an ihr Hospital kassierte.57

Der Prototyp einer Märtyrerkirche (1675) Erst zum Heiligen Jahr 1675 gelang auf Initiative des Theatinerpaters Carlo Tomasi eine erste, noch provisorische Umgestaltung. Diese bildete den Vorläufer und Prototyp der grandiosen Pläne für eine Märtyrerkirche in dem antiken Bauwerk durch den päpstlichen Architekten Carlo Fontana von um 1700. Realisiert wurden 1750 letztlich aber nur Kreuzwegstationen entlang des Arenarands. Diese sollten gut hundert Jahre Bestand haben, bis der neue italienische Staat das Bauwerk von fast allen Spuren christlicher Interpretation bereinigte und den Bau zu dem archäologischen Objekt machte, das man heute kennt. Als zwei Unternehmer 1671 die päpstliche Genehmigung erhielten, im Kolosseum Stierkämpfe aufzuführen, nutzte der Theatiner Carlo Tomasi die Situation, um einen Skandal zu inszenieren und mit Unterstützung zweier Kardinäle die erste bauliche Transformation des Kolosseums zu erreichen.58 Die Kampfspiele im Ko 54 Baronio 1588–1605, II, 1590, 44: haec & alia vnde acceperit, non inuenimus, & certaene sint fidei dubitamus.  55 Ebd., 44f.  56 Martyrologium 1586, 64, damnat ad bestias.  57 Siehe Marangoni 1746, 56, und die Unterlagen im Archivio di Stato, Rom, 54, Osp. SS. Salvatore, b. 407, Armario I, mazzo III, n. 20 (28. Juni 1604).  58 Vgl. Marangoni 1746, 63 und 72, und Hager 1973, 323.

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Abb. 5: Carlo Fontana: Kolosseum von Osten (um 1708).

losseum verteufelt Tomasi als „cose, non solo ripugnanti al luogo, bagnato dal sangue de’ Martiri, mà anco alla Città di Roma, alla quale vengono i Christiani da tutte le parti del Mondo, per visitare la sante Basiliche, e non per fare vn continuo Carneuale“.59 Der angeblich vom Märtyrerblut durchtränkte Boden sollte immer im Fokus Tomasis bleiben und auch die Umgestaltung des Amphitheaters 1675 bestimmen. Diese ist eher ein erstes materielles Kondensat der ein Jahrhundert lang entwickelten Neuinterpretation auf den antiken Mauern als ein umfangreicher architektonischer Entwurf. Im Vordergrund stand die Schließung des Bauwerks, hinzu kamen eine neue Anschrift, Märtyrerdarstellungen und die Bekrönung mit einem Kreuz. In einem zeitgleich mit dieser Umgestaltung erschienenen Pamphlet über Art und Gründe der Transformation des Kolosseums zum christlichen Venerationsort hebt Tomasi das Märtyrerblut wie auch die bauliche Abgrenzung des Amphitheaters sogar in den Titel: Breue relatione dell’anfiteatro Flauiano detto communemente il Coliseo consecrato col sangue pretioso d’innumerabili santi martiri, serrato, e dedicato ad onore, e gloria de’ medesimi gloriosissimi martiri l’anno del giubileo 1675. Spätere Zeichnungen lassen eine sichtdurchlässige Vermauerung der äußersten Arkadenreihe erkennen (Abb. 5), in der pro Arkade jeweils drei senkrechte Schlitze ausgespart waren, die den Blick ins Kolosseumsinnere zuließen. Der so gewährleistete Schutz bei gleichzeitiger Präsentation erinnert kaum zufällig an ein Reliquiar, war das Kolosseum laut Tomasis Pamphlet doch „mit wertvollem Blut  59 Tomasi zitiert nach Bagatta 1702, 187.

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Abb. 6: Carlo Fontana: Kolosseum von Osten (um 1708), Detail.

geweiht“. Tomasi ging sogar so weit zu behaupten, schon Papst Pius V. (Pontifikat 1566–1572) habe dem Boden des Kolosseums Reliquienstatus zugesprochen, was allerdings eher eine invention of tradition zu sein scheint.60 Um den Status eines heiligen Ortes, den das Kolosseum keineswegs schon seit dem späten 16. Jahrhundert genoss, allen Besuchern vor Augen zu führen, wurden die axialen Arkaden an der Ost- und Westseite, also Richtung Innenstadt bzw. Richtung Lateran, als Portale offengelassen und mit einer Art neuer Fassaden versehen (Abb. 6). Über der Eingangsarkade zur Stadt hin verkündete eine lateinische Anschrift, das Kolosseum sei weniger berühmt für seine architektonische Kunstfertigkeit als vielmehr für die zahllosen Märtyrer, und appellierte an den Besucher, dieser hier zu gedenken und zu beten; auf der Seite gen Lateran forderte die Anschrift, den Bau nicht mehr auf den Koloss Neros rekurrierend als Kolosseum, sondern als Siegeszeichen des Kreuzes zu begreifen.61 So sollte offensichtlich Bil 60 Vgl. oben, Anm. 3.  61 Zur Stadt hin: AMPHITHEATRVM. FLAVIVM.|NON. TAM. OPERIS. MOLE. ET ARTIFICIO. AC. VETERVM.|SPECTACVLORVM. MEMORIA.|QVAM. SACRO. INNVMERABILIVM. MARTYRVM.|CRVORE. ILLVSTRE.|VENERABVNDVS. HOSPES. INGREDERE.|ET. IN. AVGVSTO. MAGNITVDINIS. ROMANAE. MONVMENTO.|EXECRATA. CAESARVM. SAEVITIA.|HEROES. FORTITVDINIS. CHRISTIANAE.|SVSPICE. ET. EXORA.|ANNO. IVBILAEI. M.DC.LXXV. Zum Lateran hin: AMPHITHEATRVM. HOC. VVLGO.|COLOSSAEVM.|OB. NERONIS. COLOSSVM. ILLI.|APPOSITVM.|VERIVS. OB. INNVMERABILIVM. SS. MARTYRVM.|IN EO. CRVCIATORVM. MEMORIAM.|CRVCIS. TROPHAEVM.|ANNO.

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dungsarbeit geleistet werden. Das hochkomplizierte Latein der Anschriften wandte sich an ein belesenes Publikum und bemühte sich, die bisherigen, auf dem Studium der heidnischen Antike beruhenden Kenntnisse durch einen Fokuswechsel auf die Märtyrer zu ersetzen. Insofern spielen die Anschriften auf einen komplexen Widerspruch an: Einerseits hatte die klerikale Literatur das Monument mit einer christlichen Geschichte versehen, andererseits galt das aus einer grausamen heidnischen Kultur hervorgegangene Bauwerk seit der Renaissance als vorbildhaft.62 Was die im Verhältnis zum übergroßen antiken Bau lächerlichen Umgestaltungen architektonisch nicht leisten konnten, sollte nun offenbar argumentativ ausgeglichen werden. Die neuen Fassaden waren insofern eine Umetikettierung des bestehenden Bauwerks. Zu den Anschriften kamen darüber angebrachte Darstellungen von Märtyrern und abschließend als Symbol des christlichen Triumphs ein Kreuz; spätere Abbildungen zeigen auch ganz oben auf den antiken Mauern ein oder mehrere Kreuze.63 Dass es sich bei all dem um nicht mehr als ein Provisorium handelte, zeigt die fragile materielle Existenz dieser Umgestaltung. Die Anschriften wie auch Märtyrerdarstellungen, offenbar zunächst nicht mehr als in den oberen Geschossen aufgestellte Chiaroscurogemälde auf Karton, verblassten auch in ihrer Übertragung als Malerei auf die Mauern des Baus; und die Kreuze fegten Wind und Wetter immer wieder vom Bau.64 Auf einen ursprünglich in der Arena vorgesehenen kleinen Kultbau (tempietto), die einzige Komponente innerhalb der antiken Mauern, verzichtete man und nutzte stattdessen S. Maria della Pietà für Messen und Andachten zu Ehren der Märtyrer.65 Die Zahl der Martyrien war mittlerweile auf ganze dreizehn angeschwollen, die Tomasi in seiner Breue relatione im Kolosseum verortete.66 Dazu gehörten die in IVBILAEI. M.DC.LXXV. Zitiert nach D’Overbeke 1763, III, 54. Ich danke Katrin Siebel und Felix Mundt für ihre Hilfe beim Verständnis der Anschriften.  62 Zur Rezeption des Kolosseums als architektonisches Ideal und Vorbild seit dem 15. Jahrhundert siehe Denker Nesselrath 2005 und Follmann 2009.  63 Etwa eine Ansicht des Kolosseums von Canaletto in der Galleria Borghese, Rom, vgl. Camesasca 1974, Nr. 327 B.  64 Caetano 1691, 62 berichtet von Cartelloni, à chiaro e scuro, vgl. auch Hager 1973, 324. Anschriften und Bilder müssen nach 1675 auf den antiken Bau gemalt worden, aber auch so von begrenzter Haltbarkeit gewesen sein, wie spätere Quellen bezeugen. D’Overbeke 1763, III, 54, berichtet von einer „Inscription […] qui n’est pas gravée, mais peinte, sur la face du Colisée“. Marangoni 1746, 67, bezeugt, dass die Anschriften deshalb Mitte des 18. Jh. nicht mehr lesbar waren: „non più legger si possono“. Ähnlich Roma antica, e moderna 1750, I, 427. Zum heiklen Zustand der Kreuze Marangoni 1746, 66.  65 Vgl. Marangoni 1746, 66: „[Il] Tempietto, che si dissegnava d’ergere nel Colosseo, […] fatti non fu, per essere in buono stato l’antidetta Chiesa [der Gonfalonebruderschaft].“ Clemens X. belohnte den Besuch einer Messe in S. Maria della Pietà in Erinnerung an den Märtyrer Telemach mit einem Ablass, vgl. Piazza 1675, I, 475.  66 Neben Ignatius (S. 3) zählt Tomasi zu den Märtyrern des Kolosseums: „S. Alessandro Vescouo, S. Adone, S. Senon, S. Martino Senatore Romano, s. Sinforiano, s. Olimpio, s. Esuperantio, s. Theodolo, s. Potito, s. Eustachio con Teopiste sua moglie, & Agabio, e Teopisto suoi figliuoli, s. Martina, s. Titiana, s. Prisca, s. Daria, duecento sessanta Martiri saettati […]. E finalmente s. Almachio detto da Greci Telemaco“, Tomasi 1675, 4.

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der kirchengeschichtlichen und topographischen Literatur über das Kolosseum mittlerweile kanonischen Ignatius von Antiochien, Abdon und Sennen und die 260 Märtyrer. Besonders deutlich wird in Tomasis Text aber auch, dass neben der eher frei auf Baronio gestützten kirchenhistorisch begründeten Lokalisierung eines Martyriums im Kolosseum auch der Topographie des Umraums besondere Bedeutung für die Eingemeindung der Märtyrer zukam – was ja schon bei Abdon und Sennen und im Hinblick auf dessen in S. Clemente aufbewahrte Reliquien auch für Ignatius gegolten hatte. So finden sich unter Tomasis im Kolosseum versammelten frühen Glaubenshelden auch Symphronius, Olympius, Exsuperia und Theodolus, deren Reliquien seit dem 15. Jahrhundert in S. Maria Nova (S. Francesca Romana) wenige Schritte vom Kolosseum entfernt bezeugt sind.67 Und auch der heiligen Martina beschert Tomasi einen Auftritt im Kolosseum, was sich kaum anders als damit erklären lässt, dass ihr infolge der Wiederauffindung ihrer Reliquien Mitte des 17. Jahrhunderts auf dem Forum Romanum eine komplett neue Kirche erbaut wurde.68 Zur generellen Brandmarkung des Ortes aber bezieht sich Tomasi auf Cesare Baronio. Auf den angesehenen Kirchenmann, dessen Martyrologium mittlerweile in zahllosen aktualisierten Editionen erschienen war, beruft sich Tomasi, indem er ausführlich Baronios Ausführungen über die damnatio ad bestias zitiert.69 Eine Ironie dieser Geschichtskonstruktion ist, dass Baronio sich an den von Tomasi zitierten Stellen keineswegs auf das Kolosseum bezieht und ja nur eines von Tomasis dreizehn Martyrien im Kolosseum verortet.

Carlo Fontanas Entwurf zwischen Architekturideal und Märtyrermemorial (um 1700) Sollte Tomasis Märtyrerversammlung unzuverlässig und die provisorische Umgestaltung mit den kümmerlichen Fassaden unzulänglich sein, so waren damit doch die Parameter für den Entwurf gesetzt, mit dem Carlo Fontana den antiken Bau schließlich architektonisch vollkommen umwerten sollte. Als 1676 mit Benedetto Odescalchi einer der Kardinäle, der Tomasis Mission einer Transformation des Kolosseums von Beginn an unterstützt hatte, als Innozenz XI. zum Papst gewählt wurde, erhielt Carlo Fontana den Auftrag zu einem dauerhaften und monumentalen Umbau. Fontanas Lehrer Gianlorenzo Bernini scheint sich noch 1675 für den Auftrag disqualifiziert zu haben, indem er das Umbauvorhaben vor allem als Chance pries, den großartigen Bau zu erhalten, und eindringlich davor warnte, irgendetwas daran zu verändern. Doch nicht nur Bernini galt das Kolosseum als idea

 67 Indulgentiae 1488/2003, 114; Planck 1489/1925, unpag.; Cose maravigliose 1540, unpag.; Cose maravigliose 1565, 21v; Palladio 1554, unpag.  68 Zur Kirche siehe Merz 2007.  69 Tomasi 1675, 3.

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dell’architettura, als gebautes Ideal.70 Selbst für Tomasi war es „fra le gran machine di Roma, e consequentemente dell’ vniuerso […] la maggiore; Marauigliosa per la magnificenza“.71 Insofern musste Fontana der Spagat gelingen, eine dem ursprünglichen Bau diametral entgegenstehende Interpretation architektonisch zum Ausdruck zu bringen und doch zugleich den Respekt vor einem stets bewunderten Kunstwerk zu wahren. Wie ihm das gelang, zeigt schon die posthume, aber von Fontana so vorgesehene Publikation des Entwurfs von 1725. Dieser erscheint als Teil eines gewaltigen Foliobands mit dem Titel L’Anfiteatro Flavio, descritto e delineato dal cavaliere Carlo Fontana. Darin widmet der Architekt sich ausführlich der Rekonstruktion des antiken Bauwerks, breitet das gesamte damalige Wissen einschließlich der Märtyrergeschichten zu dem Bau aus, und stellt erst auf den letzten zwölf von 171 Seiten seinen Entwurf vor. Diesen betitelt er als Del restituir l’onore all’Anfiteatro Flavio; cioè, descrizzione dei edifici sacri da fare nella sua residual parte. Fontana präsentiert seinen Entwurf also als eine Rekonstruktion. Tatsächlich kann man ihn als eine solche begreifen, wenn auch eine Wiederherstellung unter umgekehrten Vorzeichen. Auffallend ist zunächst, dass der Architekt Innen- und Außenseiten vollkommen anders behandelt. Von außen wird das antike Bauwerk lediglich von einem Mäuerchen umschlossen (Abb. 7). Ansonsten jedoch werden die altehrwürdigen Arkadenreihen überhaupt nicht touchiert, ja, Fontana zeigt seinen Entwurf nicht einmal in einer Außenansicht (die Mauer erschließt sich nur aus Grundriss und Schnitt). Grund hierfür ist in Fontanas Worten, dass er die verehrten Oberflächen des Bauwerks unversehrt erhalten wolle, „far restare illese quelle venerate Sacre Superficie“.72 Was zunächst nach einer zimperlichen Antikenabzäunung klingt, zeigt im Innern jedoch eine vollkommen andere Seite. Hier scheut sich der Architekt nicht vor radikalen Eingriffen in die antike Struktur und macht deutlich, dass „restituir l’onore“ als eine Wiederherstellung im Sinne der damaligen Perspektive zu begreifen ist, in welcher der Bau als Memorialort der Märtyrer erschien. Eine grandiose Wirkung entfaltet Fontanas Entwurf im Schnitt (Abb. 7). Inmitten des mit vagem und zittrigem Strich dargestellten ruinierten Amphitheaters erhebt sich scharf umrissen ein überkuppelter Zentralbau, flankiert von zwei Glockentürmen und einer Arkadenreihe, die das einstige Arenaoval neu umfasst. Die Bogengänge schließt eine Balustrade ab, auf deren Pfeilern Statuen der Märtyrer stehen; Engel auf den Glockentürmen tragen das päpstliche Wappen, und die Kuppel krönt eine

 70 Bernini lobte das Umbauvorhaben Tomasi zufolge „non solo per la deuotione à Santi Martiri, ma anco per la conseruatione d’vna machina che come mostraua la grandezza di Roma, così anch’ era idea dell’ architettura, che perciò bisognava non solo non toccare niente del vecchio ma ne anco nasconderlo“, Tomasi 1675, 5. Auch Hager 1973, 325, glaubt: „The choice of Fontana, instead of Bernini, as architect was probably due to Bernini’s opposition to any drastic alterations to the Colosseum.“  71 Tomasi 1675, 1.  72 Fontana 1725, 160.

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Abb. 7: Carlo Fontana: Entwurf einer Kirche im Kolosseum, Querschnitt und Grundriss (um 1708).

Verkörperung der Santa Fede Cattolica trionfante.73 In der Tat ist Fontanas Architektur ein Siegeszeichen für den Triumph des christlichen Glaubens über das heidnische Rom, für den Triumph der Märtyrer über ihre Peiniger. Keine Darstellungsform könnte das deutlicher zum Ausdruck bringen als der Querschnitt, der den Kontrast zwischen den verfallenen antiken Sitzrängen – die gut erhaltene Nordfassade ist hier bezeichnenderweise nicht zu sehen – und dem in scharfer Perfektion gezeichneten Kirchenbau als barockes Drama inszeniert. Wenn die so gut erhaltene Außenfassade von der immer noch aufrechten Größe des antiken Rom kündete, so bot das Innere doch ein Bild der Zerstörung – ein Zeugnis der Vergänglichkeit jeglicher irdischer Größe, das genau dem damaligen Vanitasdenken entsprach.74 Die Aussagekraft der Ruine nutzte Fontana effektvoll als Grundlage seines Entwurfs. Dieser nimmt die für das Amphitheater in der Antike konstitutive Dialektik von Cavea und Arena auf und verkehrt sie ins Gegenteil. Während einst das auf  73 Vgl. No. 1 in der Zeichnungsbeschreibung, Fontana 1725, 169. Siehe auch Hager 1973, 329 und 332.  74 Vgl. etwa die Notizen des Romreisenden Blainville 1743–1745, II, 537, angesichts der Umgebung des Kolosseums: „[T]he whole Ward may be called a most frightful Desart: A Sight the more shocking, as this Part was in former Ages the very Center of proud Rome.“ Das veranlasst ihn zu Reflexionen über die „Inconstancy and Vicissitudes of human Affairs, upon the strange Revolutions to which the greatest Monarchies and Cities are subject.“

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den Sitzstufen versammelte heidnische Publikum über die Arena triumphierte, erheben sich in Fontanas Entwurf die Märtyrer in neuem architektonischem und skulpturalem Glanz über die in Trümmern daliegende umgebende Cavea.75 Fontanas Entwurf ist zweifellos auf diese Wirkung im Querschnitt berechnet, gleichwohl wäre das räumliche Erlebnis ein anderes gewesen, hätten sich die Pläne realisiert.76 Denn die begrenzte Weite der Arena und deren komplett neue Einfriedung mit Kolonnade und Balustrade hätten bedeutet, dass man von der zum Ehrenhof mutierten Arena aus fast nichts mehr vom antiken Bau gesehen hätte. Fontanas Architektur kleidet das Innere des Baus wie ein Schirm aus. Der visuelle Eindruck eines Besuchers von Fontanas Kirche wäre damit reduziert auf den völlig unveränderten antiken Bau von außen, dessen dunkle Gewölbe beim Durchschreiten der vier axialen Zugänge, und schließlich das komplett erneuerte, gleißend helle Innere. Den Betrachter von Fontanas Buch über das Kolosseum bewegt der Entwurf im Querschnitt mit seinem theatralischen Effekt in der Gegenüberstellung von ruinierter Cavea und der daraus aufragenden perfekten Architektur des neuen Einbaus. Für den Besucher des realiserten Bauwerks hingegen hätte sich dieses Spiel aus Effekt und Affekt in einem nicht minder dramatischen Kontrast aus Hell und Dunkel umgesetzt, wie er sowohl die zeitgleiche Architektur mit ihrer Theatralik als auch die Malerei etwa eines Francesco Solimena auszeichnet. Damit ging Fontana wesentlich über die provisorische Umgestaltung des Baus von 1675 hinaus. Wo Bernini noch Skrupel angemeldet hatte und man sich damit begnügte, die vorhandene Kapelle der Gonfalone umzunutzen, verwandelt Fontana das Innere vollkommen. Und doch bezieht er sich mit seinem Entwurf auf die ersten Spuren einer christlichen Aneignung des Bauwerks, mochten diese auch noch so armselig erscheinen. Die axiale Ausrichtung des Zugangs, die schon die beiden improvisierten Portale von 1675 aufgebaut hatten, nimmt Fontana mit seinen vier axialen Zugängen auf. Diese bestimmten auch die Lage des runden Kirchenbaus am Ostende der Arena, gleichwohl hebt Fontana in seiner Entwurfsbeschreibung hervor, die neue Kirche erhebe sich contigua alla Chiesola presente, gleich neben der Kapelle der Gonfalonebrüder.77 Nicht zuletzt aber ist der ungemein enge Bezug von Fontanas Entwurf zu dem in seiner Publikation so ausführlich erforschten antiken Bau bemerkenswert.78 Die Stockwerkshöhen der Kirche orientieren sich, wie im Schnitt ganz deutlich wird, an denjenigen des antiken Bauwerks: Auf Höhe des Bodens des ersten Kolosseumsgeschosses befindet sich das den Arkadengang abschließende Gebälk, auf Höhe des Bodens des zweiten antiken Geschosses schließen Türme und Tambour ab und setzt die Kuppel an. Auch in der  75 Eine solche Gegenüberstellung von bröckelnder paganer Antike und diese mit neuer Kraft übertrumpfendem Christentum wurde im barocken Rom gern inszeniert, in kleinerem Maßstab beispielsweise bei S. Lorenzo in Miranda, wo sich die Kirchenfassade mit Voluten- und Sprenggiebelschwüngen über die Kolonnade des Tempels von Antoninus Pius und Faustina erhebt.  76 Hager 1973, 325, unterstreicht, dass Fontanas Pläne keine Papierarchitektur, durchaus zur baulichen Realisierung gedacht waren.  77 Fontana 1725, 160.  78 Dazu grundlegend Hager 1973, 327–331.

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Gesamthöhe liegen Kolosseum und Kirche mit der bekrönenden Statue gleichauf (Abb. 7). Komplexer noch sind die Referenzen im Grundriss. Der Arkadengang zeichnet nicht nur den einstigen Umfang der Arena nach, die Konstruktionslinien und -punkte der inneren Ellipse determinieren zudem die Maße des eingefügten Neubaus. In einem Brennpunkt der Ellipse befindet sich ein Brunnen, am anderen der Eingang zur Kirche; die jeweils ein Kreissegment der Ellipse begrenzenden radialen Geraden bestimmen die Breite des Kirchenportals und die Tiefe des Arkadenumgangs. Diese geometrischen Kongruenzen sind Fontana so wichtig, dass er sie nicht nur eigens im Text erwähnt, sondern sogar in einen detaillierten Grundriss seiner Arenaeinbauten einzeichnet.79 Einen ironischen Gipfelpunkt dieser Referenz des Kirchenbaus an das antike Amphitheater ist die Zahl der Statuen, die die Balustrade über dem Arkadenumgang schmücken: Ganze vierzig Märtyrer versammelt Fontana hier, eine Anzahl, die selbst sein Text (der zwanzig Märtyrer nennt) nicht kennt und die offenbar allein planimetrische Gründe hat, weist der antike Bau doch genau doppelt so viele Arkaden auf. So war Fontana eine inhaltliche Umkehrung des antiken Bauwerks bei gleichzeitiger Reverenz gelungen. Einziger Makel des Projekts sollte bleiben, dass es nicht realisiert wurde. Sowohl der das Projekt anstoßende Innozenz XI. (Pontifikat 1676–1689) als auch Clemens XI. (Pontifikat 1700–1721) waren finanziell und politisch in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, die Zweite Belagerung Wiens bzw. den Spanischen Erbfolgekrieg, was eine Realisierung verhindert haben könnte.80 Zugleich aber kam Fontanas Projekt mit all seiner barocken Opulenz gewissermaßen zu spät. Die Zeit der großen päpstlichen Bauaktivität gelangte mit dem 18. Jahrhundert an ihr Ende.

Eine Bühne für die Kreuzwegandacht (1750) Das bedeutet jedoch nicht, dass die christliche Interpretation des Kolosseums sich überhaupt nicht in dem Bau manifestieren sollte. Nur kam die Realisierung weitaus später zustande und kann weder in Umfang noch in Komplexität mit den Plänen Carlo Fontanas verglichen werden. Dem besonderen Interesse Papst Benedikts XIV. (Pontifikat 1740–1758) und dem Eifer des Missionars Leonardo da Porto Maurizio ist es schließlich zuzuschreiben, dass 1750 entlang des Arenarands vierzehn Ädikulen mit den Kreuzwegstationen aufgestellt wurden, 1767 ergänzt um ein zentrales Kruzifix (Abb. 8).81 Zugleich gründete sich die Kongregation der Amanti di Gesù, e di Maria, die hier jeden Freitag und Sonntag die Kreuzwegan 79 Der Plan ist gegenüber von Fontana 1725, 165; daselbst im Text: „Distribuzioni, Longitudini, Latitudini, Qualità di Proporzione, e Misure, […] vengono regolate dalli medesimi Ponti, overo Centri, che hanno assegnato l’altre antiche dell’Anfiteatro.“  80 Hager 1973, 325f. und Hager in Fontana 2002, XI.  81 Die Genehmigung Benedikts zum Bau der Via Crucis in Statuti 1773, 59; die zur Errichtung des zentralen Kreuzes im Cerasoli 1902, 313.

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Abb. 8: Giovanni Battista Piranesi: Veduta dell’Anfiteatro Flavio detto il Colosseo (1740–1778). Aus: Giovanni Battista Piranesi: Vedute di Roma (1740–1778).

dacht abhielt.82 Planimetrisch und der rituellen Praxis nach drehte sich also alles im Arenarund um die Passion Christi, nicht spezifisch um die im Zuge der Gegenreformation entwickelte Vergangenheit des Kolosseums als Martyriumsort. In der Tat fanden zur Realisierung zwei recht unterschiedliche Interessen zusammen. Dem Papst war daran gelegen, den Ort des Martyriums auf Dauer in den christlichen Kult einzubinden. Die Vernachlässigung des Kolosseums hatte 1742 einen traurigen Höhepunkt erreicht, als auf den beim Kirchlein hausenden Eremiten ein Anschlag verübt wurde, den dieser nur knapp überlebte;83 wiederholte Edikte des Papstes gegen die Profanierung des heiligen Orts hatten keine Wirkung gezeigt.84 So stimmte Benedikt XIV. zu Beginn des Jubiläumsjahrs 1750 dem Anliegen des Missionars und Massenpredigers Leonardo da Porto Maurizio zu, entlang der Arena vierzehn monumentale Ädikulen mit den Szenen des Kreuzwegs einzurichten. In seiner Genehmigung unterstreicht der Papst, dass diese Entscheidung motiviert sei von seinem Anliegen, „an diesem Ort die Heiligkeit aufrecht zu erhalten und  82 Statuti 1773.  83 Rovira Bonet 1759, Widmung (unpag.).  84 Benedikt kritisiert in seinem Edikt, dass „l’antico Anfiteatro, […] luogo degno di tutta la Venerazione per la memoria di tanti Santi Martiri, quali in difesa della Fede Cattolica spargendo il proprio Sangue, vi hanno gloriosamente riportata la Palma del Martirio, venga profanato da tal’uni figli d’iniquità, che […] vi commettono gravi eccessi“, zitiert nach Marangoni 1746, 69.

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jegliche Profanierung zu verhindern“.85 Für Leonardo da Porto Maurizio hingegen war die Vergangenheit des Kolosseums sekundär. Ihm war allein an der ubiquitären Verbreitung der Kreuzwegandacht gelegen – ganze 572 Kreuzwege richtete er im Laufe seines Lebens ein.86 Ein Brief offenbart die wahre Motivation. Darin bezeichnet Leonardo das Amphitheater als den Bau, „in dem 444.000 Märtyrer gemartert wurden“ und bittet einen Ordensbruder, für die Genehmigung des Papstes zu beten, denn damit bekäme die Kreuzwegandacht einen gehörigen Popularitätsschub: „[S]e ciò riesce, farà un bel risalto la Via Crucis […], non solo in Roma, ma in tutto il mondo cattolico, perchè da per tutto si saprà“.87 Leonardo ging es also um eine prominente Bühne, auf der er die Via Crucis positionieren konnte; die vollkommen fiktive Zahl der Märtyrer belegt sein Desinteresse an der in katholischen Kreisen einst so bedeutenden Geschichte des Martyriumsorts. Der Papst hingegen verlieh seiner Perspektive mit der Erneuerung der Anschriften am Außenbau Ausdruck. Bis heute verkünden über den axialen Eingängen monumentale Tafeln, dass Benedikt die Weihe des Monuments und die verwaschenen Anschriften von 1675 nun in marmorner Form erneuern und damit auch materiell verewigen wollte (Abb. 1).

Interpretationskonjunkturen Diese Aussage von Benedikts Inschrifttafel kann man als Summe der Aneignungsgeschichte des Kolosseums lesen. Lassen sich erste Neuinterpretationen des Bauwerks erst verstreut in Texten ausmachen, so fanden sie zunehmend Widerhall und verfestigten sich zu einem neuen Bild des antiken Baus, dessen vermeintlicher Geschichte und zeitgenössischer Bedeutung. Ähnlich zeigten sich auf dem Kolosseum selbst erst versprengte Zeichen des christlichen Glaubens wie die Salvatorbüsten, dann wurde der Bau in das saisonale Ritual der Passionsspiele einbezogen, und als diese nicht mehr haltbar waren, manifestierte sich 1675 in Vermauerung, Anschriften und Symbolen die neue Lesart des Baus. Diese hätte mit Fontanas Entwurf eine Monumentalisierung und Verfestigung erfahren, doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Baulich gesehen ist die Einrichtung der Via Crucis ein Rückschritt, die Deutung des Kolosseums als Martyriumsort stand nicht mehr allein im Mittelpunkt. So durchläuft eine jede Neuinterpretation unterschiedliche konjunkturelle Phasen, als deren Hausse man die Übersetzung der in Texten entwickelten Interpretation in eine architektonische Transformation sehen kann – und als deren Baisse den Abriss der Einbauten. Als die Regierung des jungen italienischen National 85 „[…] per mantenere in questo Luogo la Santità, e bandirvi ogni profanità.“ Das Schreiben Benedikts ist publiziert in den Statuti 1773, 59.  86 Generell zu Leonardo da Porto Maurizio siehe Merlonghi 1999; zur Zahl der Kreuzwege Leonardo da Porto Maurizio 1868/1869, II, 201–211.  87 Brief Leonardos vom 28. Oktober 1749 an P. Marc’Antonio da Venezia, publiziert in Leonardo da Porto Maurizio 1929, 421f. Dort wird das Kolosseum bezeichnet als „il luogo dove sono stati martirizzati quattrocento quaranta quattro mila martiri.“

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staats 1874 die Kreuzwegstationen aus dem Kolosseum räumen ließ, sollte damit auch die christliche Auffassung von dem Bauwerk getilgt werden. Die nun ziellos in der Arena umherirrenden Amanti di Gesù, e di Maria mussten sich von den Abbrucharbeitern als „filgi di preti“ beschimpfen und sich sagen lassen, „che era finito il botteghino“: dass der Laden nun dicht gemacht hätte.88

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 88 Meldung im Osservatore Romano, 25. Januar 1874, Abschnitt Cronaca Cittadina: „Ma quest’atto pietoso procurò a quei divoti le più basse ingiurie e le più sconvenienti beffe degli operai, che attendevano ai lavori, alcuni de’ quali apostrofarono i Confratelli come filgi di preti! …… e gridarono che era finito il botteghino!“

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Eigene Aufnahme, März 2008. Abb. 2: Niederländische Zeichnungen des 16. bis 18. Jahrhunderts, hg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Kassel, bearb. von Lisa Oehler, Fridingen 1979, Kat. 3. Abb. 3: Galloni 1591, 147. Abb. 4: Eigene Aufnahme, März 2008. Abb. 5: Fontana 1725, gegenüber von 43. Abb. 6: Fontana 1725, Ausschnitt aus Abbildung 5. Abb. 7: Fontana 1725, gegenüber von 63. Abb. 8: Archiv des Autors.

V. TransFormationen Symbolischer Raumordnungen

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Inszenierung und Transzendierung von Räumlichkeit im Passionsspiel The medieval Passion Play, like every form of theatre, is a spatial medium. Its spatiality can be described by three space structures: 1. the performance location, i.e. the church or (a public place in) the town, both of which represent the heavenly and earthly Jerusalem in Christian allegory; 2. the stage setting with its tripartition into heaven, earth, and hell as a symbolic image of the divine cosmos; 3. the performance space, constituted by the separation of the actors and the audience. The play is performed within these structures, but the performance tends to transcend them; in doing so, it allows for a religious experience that may be called the theatrical counterpart to the unio mystica. Such a unio, being theatrical, not only takes place in the mind of an individual, but also within the time and space of the performance. More than any other memorial and devotional practice, the Passion Play is able to make present the past suffering of Christ.

Wie keine andere Form der Literatur ist das (moderne wie vormoderne) Schauspiel ganz wesentlich von Räumlichkeit geprägt. Dieser Grundzug, den die Literaturwissenschaft lange vernachlässigte, hat die Theaterwissenschaft seit ihrer Entstehung Anfang des 20. Jahrhunderts – also lange vor dem aktuellen spatial turn in den Kulturwissenschaften – als entscheidende Komponente der Theatralität hervorgehoben. Bekannt und vielzitiert ist das Diktum ihres Begründers Max Herrmann: „Bühnenkunst ist Raumkunst“.1 Und schon Herrmann differenziert die spezifische Räumlichkeit des Theaters weiter: Der Raum, den das Theater meint, ist […] ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustande kommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.2

Diese Grundunterscheidung zwischen dem realen Raum und einem durch die Aufführung hervorgebrachten Kunstraum trifft auch Erika Fischer-Lichte, wobei sie den einen den „architektonisch-geometrischen“3, den anderen, für das Theater spezifischen den „performativen Raum“ nennt. Der geometrische Raum ist der Raum, in dem eine Aufführung stattfindet. […] Als solcher ist er bereits vor Beginn der Aufführung gegeben und hört mit ihrem Ende nicht auf zu bestehen. Er verfügt über einen bestimmten Grundriß, weist eine spezifische Höhe, Breite, Länge,

   1 Herrmann (1931) 2006, 501.   2 Ebd., 502.    3 Fischer-Lichte 2004, 187, Anm. 73.

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ein bestimmtes Volumen auf, ist fest und stabil und im Hinblick auf diese Merkmale über einen längeren Zeitraum unverändert.4

Der performative Raum bestimmt sich durch das je unterschiedlich austarierte Verhältnis zwischen den Darstellern und den Zuschauern, durch Licht, Klang, Bewegung usw.: Jede Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten vermag ihn zu verändern. Er ist instabil, ständig in Fluktuation begriffen. Räumlichkeit einer Aufführung entsteht im und durch den performativen Raum, sie wird unter den von ihm gesetzten Bedingungen wahrgenommen.5

Wenn Erika Fischer-Lichte den vom performativen Raum letztlich nicht tangierten, ihm aber zugrundeliegenden Raum als geometrischen Raum bestimmt, bleibt sie einem bestimmten neuzeitlichen, von Descartes und Newton geprägten Raumbegriff verhaftet, der dem Verständnis eines vorneuzeitlichen Theaterraums womöglich gar nicht gerecht zu werden vermag. Ein abstrakt-mathematischer Raumbegriff erscheint als Grundlage von Bedeutungszuschreibungen, die selbst frei von jeder Bedeutung zu sein beansprucht. Hilfreicher für einen historischen Zugang zur theatralen Räumlichkeit ist die – freilich auf einer anderen Ebene ansetzende – Unterscheidung, die Kirsten Kramer und Jörg Dünne vorschlagen: Sie sprechen von „Raumordung und Raumpraxis“.6 Die Raumordnung ist dabei zu verstehen „als jeweiliger kultureller Rahmen der Raumorganisation, für den die Medialität eine entscheidende organisierende Rolle spielt.“7 Erst innerhalb dieses Rahmens kann sich die Raumpraxis, d. h. die „körperliche [] Interaktion“,8 als solche entfalten, indem sie sich dem vorgegebenen Ordnungssystem einfügt oder es übertritt und unterläuft. Die Raumpraxis ist also immer auf die Raumordnung bezogen, und die Raumordnung vermag nur in der Raumpraxis als solche in Erscheinung zu treten. Gerade im neuzeitlichen, institutionalisierten Theater könne sich das dargestellte raumtheoretische Spannungsverhältnis von vorgegebener Ordnung, die sich im Theater als Rahmen der Bühnenarchitektur manifestiert, und Raumpraxis, die diese Bühnenarchitektur ‚bespielt‘, dabei aber auch vorgegebene Grenzen überspielen kann, voll entfalten. Jedoch ist auch in Aufführungssituationen vor der Institutionalisierung eines eigenen Spielorts zumindest ansatzweise eine Grenzziehung vonnöten, die ein theatrales Geschehen aus dem festlichen Zusammenhang, in dem es stattfindet, heraushebt und somit als Inszenierung deutlich werden lässt […].9

Das Spannungs- und Wechselverhältnis zwischen Raumordnung und Raumpraxis muss also auch das mittelalterliche Theater prägen, das gerade noch keinen institu  4 Ebd., 187.   5 Ebd.    6 Kramer/Dünne 2009, 19.   7 Ebd.   8 Ebd.   9 Ebd., 20.

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tionalisierten Theaterraum kennt, sondern in der Kirche oder auf dem Marktplatz aufgeführt wurde und diese vorgegebenen Ordnungsräume ‚bespielte‘.10 Doch das sind nicht die einzigen vorgegebenen Ordnungsräume. Insgesamt lassen sich beim geistlichen Spiel des Mittelalters drei Ordnungsräume erkennen, die unterschiedlich konstituiert werden: 1. der Aufführungsort, d. h. der feste, auch außerhalb der Aufführungen bestehende Raum der Kirche oder des Marktplatzes, auch der ganzen Stadt; 2. der Bühnenraum, wie er in den überlieferten Bühnenplänen festgehalten ist; 3. der performative Raum, der nicht eigentlich räumlich zu verorten ist, sondern eine imaginäre Grenze zwischen Spiel und Realität, Darstellern und Zuschauern setzt. Diese drei Raumordnungen des geistlichen Spiels werden im Folgenden mit Blick darauf untersucht, wie die Aufführungen, soweit sie sich aus den überlieferten Spieltexten (hier dem Alsfelder Passionsspiel) rekonstruieren lassen, sich in diese Raumordnungen einfügen und wie sie sie auch überschreiten – gerade im Überschreiten dieser vorgegebenen Ordnungen liegt das Spezifische des mittelalterlichen geistlichen Spiels und seine religiöse Bedeutung.

1. Der Aufführungsort Das mittelalterliche Theater war nicht institutionalisiert und kannte somit auch keine eigentliche Bühnenarchitektur; gespielt wurde im Kirchenraum, auf dem Vorplatz der Kirche oder auf dem Marktplatz der Stadt, d. h. im Zentrum des zeitgenössischen religiösen und sozialen Lebens. Während die moderne institutionalisierte Bühne an sich als ‚neutral‘ und offen für alle Bedeutungen erscheint, die ihr die jeweilige Aufführung zuweist,11 sind die Aufführungsorte der geistlichen Spiele von vornherein mit kultureller und religiöser Bedeutung aufgeladen. Das Kirchengebäude ist geweihter Raum und versinnbildlicht allegorisch, als Versammlungsort aller Gläubigen, das Himmlische Jerusalem.12 Die Stadt ist zwar per se kein Sakralraum, kann jedoch in der christlichen Allegorese ebenfalls als Bild des Himmlischen Jerusalem verstanden werden.

 10 Dieser Ansatz ähnelt demjenigen, den Kreuder 2009 für seine Untersuchung der Medialität und insbesondere der Räumlichkeit des geistlichen Spiels entwirft, wobei er sich auf die dynamisch-relationalen Raumtheorien Martina Löws und Michel de Certeaus stützt. Trotz des ähnlichen Ansatzes kommt er, wie sich zeigen wird, doch zu unterschiedlichen Ergebnissen, da er die Prozessionalität als Schlüsselkategorie in den Vordergrund rückt. Das hat bereits Kirchner 1985 versucht. Das Prozessionale ist für die mittelalterlichen Frömmigkeits- und Memoria-Praktiken, zu denen auch das geistliche Spiel gehört, ohne Zweifel von großem Belang. Es wird nur zu fragen sein, ob man damit das Spezifikum trifft, das das geistliche Spiel von den anderen Praktiken unterscheidet.  11 Sie erscheint nur so, da natürlich auch die moderne Theaterbühne bereits gedeuteter Raum ist, etwa als Ausdruck der Autonomie, die die moderne westliche Kultur dem Theater und der Kunst überhaupt einräumt.  12 Vgl. dazu Meyer 2003.

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Wie zwischen dem Himmlischen und dem irdischen Jerusalem ein typologisches Verhältnis besteht, verweist die Kirche bzw. die Stadt nicht nur voraus auf die eschatologische Gottesstadt, sondern auch zurück auf den heiligen Ort des historischen Erlösungsopfers. Bereits das frühchristliche Rom kopierte die heilige Stadt Jerusalem, indem es die Anordnung der Kirchen derjenigen in Jerusalem nachbildete, um so auch den dortigen Stationengottesdienst als Erinnerung an die Heilsgeschichte übernehmen zu können.13 Städte, die im Mittelalter neugegründet oder ausgebaut werden, kopieren wiederum Rom (und damit Jerusalem);14 besonders deutlich zeigt sich das an Bischofsstädten wie Köln und Konstanz im 10./11. Jahrhundert.15 Auch das einzelne Kirchengebäude für sich kann als Kopie von Rom bzw. Jerusalem betrachtet werden.16 Eine solche allegorische Verweisungsbeziehung zum irdischen und Himmlischen Jerusalem gilt für die Kirche bzw. die Stadt im christlichen Verständnis grundsätzlich, unabhängig davon, wie deutlich und ob überhaupt sie durch bewusste Nachbildungen sichtbar gemacht wird. Entscheidend für ihre Erfahrbarkeit ist die liturgische Performanz, insbesondere in den dynamischen Formen des Stationengottesdienstes und der Prozession. Durch die Bewegung im Raum werden die einzelnen Erinnerungsorte der kopierten Topographie miteinander verknüpft und so diese Topographie aktualisiert oder, falls sie nicht vorgegeben ist, überhaupt erst konstituiert.17 Man könnte die liturgische Performanz nach dem oben genannten Modell als Raumpraxis bezeichnen, die die vorgegebene (allegorische) Raumordnung ‚be 13 Vgl. dazu Kohlschein 1998, 16–20.  14 Vgl. dazu Borger 1973; Ehbrecht 2001.  15 Vgl. Odenthal/Stracke 1998, 143f.: „Ohne eine vollständige Kopie erreichen zu wollen, zeigt Konstanz wie Köln alle fünf stadtrömischen Patriarchalkirchen im Kirchenkranz: Santa Maria Maggiore entspricht St. Marien in Konstanz und St. Maria im Kapitol in Köln; San Giovanni in Laterano den Tauf- bzw. Palastkapellen an beiden Domkirchen […]. San Paolo fuori le mura gleicht St. Paul vor den Mauern in Konstanz und St. Aposteln (sprich: St. Paul und Maria) vor dem römischen Westtor in Köln. San Lorenzo entspricht beide Male St. Lorenz bzw. St. Laurenz und schließlich San Pietro in Vaticano auf der anderen Tiberseite dem Petershausen in Konstanz und der Gründung Heriberts auf der anderen Rheinseite in Deutz. […] Beide Male soll keineswegs dem Petruspatrozinium der Domkirche der Rang abgelaufen werden. Vielmehr will man die topographischen Züge einer Rom-Landschaft nachzeichnen. So wollen sich um die Jahrtausendwende auch Aachen, Trier und Bamberg als ‚Roma nova‘ oder ‚Roma secunda‘ verstehen.“  16 Vgl. Kohlschein 1998, 12f.: „Ein künstlerisch-baulich und transzendent-theologisch gewichtiges Ensemble wie die Kathedrale kann […] als Gedächtnis-Kunstwerk verstanden werden. Durch die Konstruktion von Gedächtnisfiguren mit Hilfe von Zitaten konnte die Kathedrale – wie jede Kirche, Kirchenfamilie oder Stadt – ‚Jerusalem‘ oder ‚Rom‘ werden. Die Originale verhalten sich dabei zu den Zitaten wie Muster zur Nachahmung, wobei Zitat und Original im Mittelalter sehr wenig Ähnlichkeit zu haben brauchten. So genügt etwa zur Zitation der Grabeskirche in Jerusalem ein irgendwie zentrierter Raum oder zur Zitation Roms die Westung wie in der Basilika St. Peter, um die angezielte Wirklichkeit anwesend zu sehen.“  17 Vgl. dazu Kranemann 1998, 129, über die mittelalterliche Palmsonntagsliturgie im Münsteraner Dom, in der der liturgische Raum Jerusalem darstellt: „Bemerkenswert ist, daß die liturgische Inszenierung keineswegs primär über Raum- oder Bauelemente läuft, […] sondern daß […] über Ortswechsel, und damit natürlich auch über den Raum, und durch Texte, hier durch das Evangelium, aber ebenso durch Orationen oder Gesänge, eine bestimmte Situation imaginiert wird.“

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spielt‘ und dadurch allererst in Erscheinung treten lässt. Die Prozession, ob innerhalb der Stadt von Kirche zu Kirche oder innerhalb der Kirche von Altar zu Altar – oder aber auch im individuell vollzogenen Kreuzweg von Station zu Station18 – lässt im von ihr abgeschrittenen Raum Jerusalem aufscheinen, sowohl das irdisch-historische als auch das Himmlische.19 Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Zeitebenen – die heilsgeschichtliche Vergangenheit der Passion, die Gegenwart der Prozession und die heilsgeschichtliche Zukunft der Parusie – ununterscheidbar ineinander auflösten und so die Linearität der Heilsgeschichte gesprengt würde:20 Vergangenheit und Zukunft, irdisches und Himmlisches Jerusalem werden als die Verweisungspunkte der liturgischen Gegenwart in diese hineingespiegelt; das Hier und Jetzt des liturgischen Augenblicks wird durchlässig für die heilsgeschichtliche Vergangenheit und Zukunft, was impliziert, dass der Raum der Kirche bzw. der Stadt durchsichtig wird hin auf das irdische und das Himmlische Jerusalem. Die verborgene allegorische Verweisungsbeziehung wird in der liturgischen Raumpraxis offensichtlich und erfahrbar gemacht. Das müsste grundsätzlich auch für die theatrale Raumpraxis gelten, und es stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich diese von der liturgischen unterscheidet.

2. Der Bühnenraum Aus dem deutschsprachigen Spielgebiet sind insgesamt vier Bühnenpläne überliefert, die einen ungefähren Eindruck von der typischen Szenographie mittelalterlicher Passionsspiele vermitteln.21

 18 Vgl. dazu Kreuder 2009, 155f.; Kiening 2009, 181, über Heinrich Seuses Kreuzwegandacht in seinem Kloster: „Das Kloster wird zum Ort, an dem die Passion sich wiederholt und der Diener der Weisheit sie miterlebt. Er versetzt sich in das Geschehen und gleicht dieses im selben Atemzug den vertrauten liturgischen Formen – Psalmen, Gebete, Episteln – an. Raum und Zeit als elementare symbolische Formen dienen dazu, Einst und Jetzt, Ferne und Nähe füreinander durchlässig zu machen.“  19 Vgl. zur Überblendung der Zeitebenen Kranemann 1998, insbes. 128–133: In der Prozession etwa des Palmsonntagsgottesdienstes „wird Heilsgeschichte vergegenwärtigt und gleichzeitig auf die endzeitliche Wiederkehr Christi vorausgeschaut. Der liturgische Raum verweist auf das historische Jerusalem und ist gleichzeitig Abbild des himmlischen Jerusalems“ (129). – Diese Vorstellung wird in Hans Memlings Turiner Passion widergespiegelt, wie Schlie 2009 zeigt; „in der Prozession verbindet sich der imaginäre Raum der Mnemotechnik mit der ‚natürlichen‘ Erinnerungslandschaft der realen Stadt, in die sich eine zweite Erinnerungslandschaft, das Mnemotop Jerusalem, einschreibt“ (154).  20 Vgl. Kranemann 1998, 133: „Die verheißene Zukunft und die Gegenwart werden miteinander verbunden, aber auch gegeneinander abgegrenzt.“  21 Auf einen von diesen soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden: denjenigen, den Vigil Raber für eine Aufführung am Palmsonntag 1514 in der Bozner Pfarrkirche skizziert hat und „den wir ungeachtet vieler Bemühungen bis heute nicht verstehen“ (Linke 2008, 481). Grundsätzlich weist er wie die anderen das Simultanprinzip auf, nicht jedoch die in ihnen erkennbare symbolische Topologie, und dies vermutlich deshalb, weil der Plan nicht für ein komplettes Passionsspiel konzipiert ist, sondern nur für den Palmsonntagsteil desselben. Da in diesem Teil der

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Abb. 1: Alsfelder Bühnenplan, fol.104v, Kassel, Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Ms. poet. et roman. 18, Bl., 2°.

Der älteste erhaltene Bühnenplan ist derjenige für das Alsfelder Passionsspiel von 1501. (Abb. 1) Auffällig ist eine zweifache Gegenüberstellung: Auf der einen Seite (links) befinden sich das Haus des Herodes, das des pater familias, wo das Abendmahl gefeiert wird, das des Pilatus und das von Martha, Magdalena und Lazarus, auf der anderen (rechts) Annas, Jerusalem, Synagoge, Caiphas sowie Nicodemus und JoTempel im Zentrum der Handlung steht, nennt Zielske 1994 ihn „Tempelspiel“ (298) und erklärt daraus auch die ungewöhnlich zentrale Stellung, die der Bühnenplan dem Tempel zuweist.

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seph.22 Die mit dieser überkreuz liegende Gegenüberstellung besteht aus dem Thron Gottes mit den drei Kreuzen davor einerseits (unten) und aus dem ortus, d. h. hortus und damit dem Garten Gethsemane,23 andererseits (oben).24 Wo die Wüste des Johannes angesiedelt sein soll, überlässt der Plan explizit dem Ermessen der Inszenierenden (Desertum Johannis disponatur ad placitum). Verglichen mit dem gewaltigen Umfang des Alsfelder Passionsspiels ist der Plan sehr knapp und skizzenhaft gehalten;25 immerhin verzeichnet er aber „Bühnenorte aller drei Spieltage“26, und mit Blick auf die anderen Bühnenpläne kann man durchaus sagen, dass er „die wesentliche Struktur der Bühne bei den späten Passionsspielen schlechthin“27 wiedergibt. Ein genaueres Bild gewinnt man, wenn man den sog. Donaueschinger Bühnenplan (Abb. 2) hinzuzieht, der zwar vermutlich erst im 16. oder gar 17. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, von dem aber Heidy Greco-Kaufmann jüngst plausibel machen konnte, dass er die Bühnensituation der frühesten Luzerner Passionsspiele darlegt, d. h. der Spiele bis 1495.28 Auf der einen Seite der Himmel, davor das Heilige Grab und die Kreuze; auf der anderen die Hölle, der Ölberg und der Garten Gethsemane; dazwischen befinden sich Pilatus, Kaiphas und Annas einerseits, Herodes und das Haus des Abendmahls andererseits; im freien Raum dazwischen stehen die Säule mit dem Hahn und die Geißelsäule. Wenn man mit Heidy Greco-Kaufmann die Skizze in Luzern auf dem Platz vor der Peterskirche (dem heutigen Kapellplatz) verortet, kann man feststellen, dass der Bühnenplan sich den topographischen Gegebenheiten anpasst: Die erhöhte Lage der Kapelle und des westlichen Vorplatzes mit den Schauplätzen Himmel, Kalvarienberg und Heiliggrab bildet die Vorstellung ab, dass das Heilige „oben“ und die Hölle, die auf der gegenüberliegenden Seite des in nördlicher Richtung abfallenden Platzes aufgebaut ist, „unten“ liegt. Der unter dem Vordach der Kirche angelegte Himmel verdeutlicht aufs Sinnfälligste, dass der Zugang zum ewigen Heil mit dem Gotteshaus eng verknüpft ist.29  22 Nowé 1995, 7, erkennt hierin die Aufteilung in eine heidnische (links) und eine jüdische (rechts) Seite.  23 Vgl. Freise 2002, 488, insbes. Anm. 460.  24 Bezüglich des Luzerner Bühnenplans von 1583, übertragbar aber auch auf den Alsfelder, erklärt Moser 1990, 99: „Das Vorbild für den ‚Bühnengrundriß‘ lieferte mit seiner Kreuzform das Kirchenschiff.“ Schulze 2012, 39, vermutet, dass die Kreuzaufteilung der Spielstätten im Alsfelder Plan mit der Ost-West- bzw. Nord-Süd-Achse zusammenfällt (Thron und Kreuze im Osten, Gethsemane im Westen, die linke Mansionenreihe im Süden, die rechte im Norden). Mit Blick auf die im Folgenden ausgeführte Lokalisierung der frühen Luzerner Passionsspiele muss man jedoch mit Linke 2008 sagen: „Die West-Ost-Ausrichtung sollte […] nicht verallgemeinert werden“ (481, Anm. 11); skeptisch auch schon Freise 2002, 490, Anm. 467.  25 Vgl. Freise 2002, 489: „Es fehlt nicht nur die Hölle, es fehlen auch Gefängnis und Grab des Johannes, es fehlt der Brunnen, an dem die Begegnung mit der Samariterin stattfand, das Haus der Kanaaniterin, das Grab des Lazarus, der Aufenthaltsort der Marien, das Grab Jesu.“ Detailliertere Rekonstruktionsversuche bei Nowé 1995.  26 Freise 2002, 489, Anm. 466.  27 Michael 1963, 36.  28 Vgl. Greco-Kaufmann 2009, Bd. 1, 167–173.  29 Ebd., 170f.

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Abb. 2: sog. Donaueschinger Bühnenplan, Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Don. 137

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Abb. 3: Renward Cysats Bühnenplan zum zweiten Tag des Luzerner Passionsspiels 1583, Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, BB Ms. 180 gol.

So wird der städtische Platz mit seiner vorgegebenen Lage zum Symbolraum für das dargestellte Geschehen. Weil bei dieser Rekonstruktion keine Zuschauerplätze vorstellbar sind, von denen aus man die ganze Aufführung überblicken könnte, nimmt Greco-Kaufmann an, dass die frühen Luzerner Spiele prozessional aufgeführt wurden, die Zuschauer also zu jedem Spielstand mitgingen.30 Anders ist das bei den späten Luzerner Passionsspielen zwischen 1500 und 1616, die auf dem Weinmarkt aufgeführt wurden. Für die zwar sehr späte, aber im  30 Vgl. ebd., 173.

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Grunde noch traditionell-mittelalterlich gehaltene Aufführung von 1583 ist ein vom Spielleiter Renward Cysat aufgezeichneter Bühnenplan für jeden der beiden Passionsspieltage erhalten. (Abb. 3) Hier befindet sich ein recht großes Zuschauergerüst an der Westseite des Platzes; vermutlich war auch um die Spielstände herum ein wenig Raum für die Zuschauer, außerdem an den Fenstern der den Platz umgebenden Häuser. Der Platz verläuft recht genau der West-Ost-Achse entlang, was erlaubt, den Himmel im Osten, die Hölle im Westen zu verorten; hinzu kommt auch hier eine passende Neigung des Platzes, so dass der Bereich der Hölle tiefer liegt als der der heiligen Stätten.31 Sinnigerweise befindet sich der Himmel im ‚Haus zur Sonne‘. Heidy Greco-Kaufmann spricht angesichts der engen Verschränkung von profan-bürgerlichem Lebenszentrum und religiöser Weltordnung von einer „umfassende[n] Sakralisierung des Weinmarktes“32. „Die Situierung der Aufenthalts- und Spielorte an den nördlichen und südlichen Seiten des Platzes erfolgte je nachdem, ob es sich um gottnahe oder heilige Figuren handelte oder um profane und gottferne.“33 Dies zeigt sich auf dem Plan zum zweiten Spieltag besonders gut an der linken, der Nordseite: Richtung Osten bzw. Himmel befinden sich u. a. die Spielstände von Simon Cyrenaeus, Lazarus, Magdalena, Martha, Maria Salome, Maria Jacobi, Veronica, der Gottesmutter Maria, Joseph von Arimathia, Nicodemus; Richtung Westen bzw. Hölle u. a. diejenigen von Annas und Herodes, außerdem der Baum, an dem sich Judas erhängt. Auf der rechten, der Südseite ist eine solche Aufteilung nicht so klar erkennbar, da sie fast ganz von den Juden (Cayphas an ihrer ‚Spitze‘ Richtung Himmel) eingenommen wird. Aus den wenigen überlieferten Bühnenplänen lässt sich zumindest so viel erkennen, dass der Bühnenraum symbolisch gestaltet war: Gut und Böse, Seligkeit und Verdammnis auf entgegengesetzten Seiten, was am Aufführungsort wiederum durch die Ost- bzw. West- oder die höhere bzw. niedrigere Lage versinnbildlicht werden konnte.34 Auf diese Weise verschmilzt die Topographie der Stadt mit der  31 Vgl. ebd., 453.  32 Ebd., 457.  33 Ebd.  34 Über die Frage, ob diese Aufteilung obligatorisch für alle Passionsspiele ist, kann nur spekuliert werden. Konigson 1975, der auch die französischen Spiele in den Blick nimmt, geht von einer grundsätzlichen räumlichen Polarität von Himmel und Hölle aus und versucht dies mit zehn Rekonstruktionen der Bühnenanordnung von deutschsprachigen (Frankfurt 1350, Luzern 1583, Alsfeld, ‚Donaueschingen‘) und französischen (u. a. Romans 1509, Rouen 1474, Paris 1540, Valenciennes 1547, Bourges 1536) Spielen zu belegen (97). Ehrstine 2001 bezeichnet die Antithese, insbesondere die zwischen Himmel und Hölle, als „topologisches Grundprinzip“ aller geistlichen Spiele (435). In ihrer Kontroverse über die Lokalisierung des Frankfurter Passionsspiels berufen sich Wolf und Linke gleichermaßen auf die Entgegensetzung von Himmel und Hölle sowie auf die Rechts-Links-Symbolik (vgl. Wolf 2002, 20–62; 2008; Linke 2007; 2008). Zu einer gewissen Vorsicht vor solchen Grundannahmen mahnt Freise 2002, da die räumliche Polarität von Himmel und Hölle genau genommen nur aus zwei der vier aus dem deutschen Sprachraum überlieferten Bühnenpläne hervorgeht, nämlich den beiden Luzerner Plänen, während der Alsfelder Plan die Hölle gar nicht verzeichnet und der Bozner Plan sie „dem Kreuz nicht gegenüber, sondern sehr wahrscheinlich unmittelbar benachbart“ lokalisiert (490, Anm. 467). Dass die Ost-WestAchse keine obligatorische Ordnungsstruktur bildet, zeigt die genannte Verortung des sog. Donaueschinger Bühnenplans in Luzern durch Greco-Kaufmann 2009.

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Ordnung des göttlichen Kosmos, und die Stadt wird zu ihrem Medium.35 Der ganze, aus Himmel, Erde und Hölle bestehende, Kosmos wird mitten in der und durch die Stadt abgebildet. Am Ort ihres täglichen Lebens können die Menschen während der Aufführung sozusagen Gottes Sicht auf die Welt in symbolischer Vermittlung einnehmen. Himmel und Hölle, die zu Lebzeiten dem Blick verborgen sind, werden hier sichtbar. Die Form der Simultanbühne, auf der immer alle Spielstände und Personen gleichzeitig zu sehen sind, entspricht dem nunc stans, in dem Gott, da er der Zeitlichkeit enthoben ist, alle Dinge gleichzeitig vor Augen stehen.36 Die Bühnenanordnung und die zu ihr gehörende Aufführungsform vermitteln den Spiel-Teilnehmern den Blick Gottes auf die Schöpfung und lassen so die geistige Wahrheit ihrer eigenen Welt auf symbolische, sinnenfällige Weise sichtbar werden.

3. Der performative Raum Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Darstellern und den Zuschauern lässt sich kaum aus den Bühnenplänen heraus beantworten, auch wenn dort – wie im Fall des Luzerner Bühnenplans von Renward Cysat – die Zuschauerplätze teilweise mit eingezeichnet sind. Da das nicht-institutionalisierte mittelalterliche Theater keine architektonisch vorgegebene Aufteilung in Bühnen- und Zuschauerraum, also keine Rampe, kennt, muss die Grenzziehung performativ, sprachlich und gestisch, erfolgen. Greifbar wird sie daher am ehesten in den Prologen der Spiele, in denen die Spielsituation überhaupt erst konstituiert wird.37 Besonders aufschlussreich ist hier der Prolog des Alsfelder Passionsspiels von 1501. Nachdem, so die Regieanweisung, alle Personen ihre Spielstände eingenommen haben, singen die Engel: Silete! Der Proclamator tritt in medio ludi und verkündet allen, die hie vorsampt syn (V. 3), dass kein Mensch sich vor dem ewigen Tod und der höllischen Pein retten könne, wenn er nicht Christi Passion bedencke (V. 8), d. h. andächtig betrachte. Gleich in diesen ersten Worten wird deutlich, dass es dem Spiel um nichts weniger geht als um das Seelenheil der Zuschauer. Der Proclamator ruft die Zuschauer dazu auf, das folgende Spiel mit ynnikeyt (V. 47) und mit andacht (V. 52) anzuschauen, damit sie beim Jüngsten Gericht Gnade erfahren werden (V. 38–41). Nach dem Proclamator ergreift der regens, der Spiellei-

 35 Vgl. Konigson 1975, 79: „Né de la cité, se formant avec elle, le théâtre manifeste son espace à travers l’espace de la cité. Il en est l’image. Et parce que la Cité est aussi une image du Cosmos, qu’elle s’accroche à lui par les axes cardinaux, qu’elle en est le centre, et que le théâtre religieux a précisément pour but de représenter l’Univers de la Création, les images de la Cité, du Cosmos et du Théâtre fusionneront.“  36 Grundlegend für diese Vorstellung in der mittelalterlichen Theologie Boethius, Consolationis Philosophiae, V.6.p., 61–73. Schmid 1975 versteht die Simultanbühne mit ihrer Aufteilung in Himmel, Erde, Hölle als Darstellung des gradualistischen Weltbildes (19–24).  37 Vgl. dazu Ehrstine 2007, insbes. 63f.

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ter, das Wort und ruft das Publikum ebenfalls zum Schweigen und zur andächtigen Betrachtung des Passionsspiels auf: mer woln hude spielen von der martel Ihesu Crist, der aller wernt eyn erloszer ist! dar vmb solt er alle innigk synn vnd eben bedencken die groissze pynn, die Ihesus al an dem crucz gelidden hot vmb vnser sunde vnd missetad. want alle vnser heyl dar an lyt nu vnd vmmer zu ewiger zyt. nu stehet stille vnd swiget schone, das vch got von hymmeln lone. want wer hie zu siet mit ynnikeyt, dem wirt das hymmelrich bereyt. (V. 91–102) „Wir wollen heute ein Spiel von der Passion Jesu Christi aufführen, / der ein Erlöser der ganzen Welt ist! / Darum sollt Ihr alle andächtig sein / und Euch den großen Schmerz genau ins Gedächtnis rufen, / den Jesus am Kreuz erlitten hat / für unsere Sünde und Missetat. / Denn unser ganzes Heil liegt daran, / jetzt und in alle Ewigkeit. / Nun steht still und schweigt angemessen, / damit euch Gott im Himmel dafür belohne. / Denn wer hier mit Andacht zusieht, / dem öffnet sich das Himmelreich.“

Der Beitrag der Zuschauer zur Aufführung liegt demnach darin, sich ruhig zu verhalten und andächtig das Spiel zu betrachten. Als Lohn für dieses Verhalten wird das hymmelrich, die Seligkeit, versprochen. Das Spiel beansprucht also, heilsvermittelnd zu sein. Nachdem alle, Mitwirkende und Zuschauer, sich noch einmal durch das gemeinsame Singen der Pfingstsequenz Veni sancte spiritus verbunden haben, um den Heiligen Geist um Beistand zu bitten, zieht der Proclamator nun eindrucksvoll die Grenze zwischen Spielern und Zuschauern: Ir liebenn mentschen alle, swiget nu vnd lat vwer kallen. ich wyl vch vorkundigen eyn gebott, das der her schultheys thut: wer da betredden wirt in dissem kreyß, er sij Heyncz adder Concz adder wie er heyß, der do nit gehoret in dit spiel, vor war ich vch das sagenn wel, der muß syn busze groiplich entphan, mit den tufeln muß er yn die helle gan. vngefug sal nymmant hie tribenn, wel hie anders yn der herrenn holde blibenn. hyr vmb szo swiget vnd horet vnszer redde vnd stehet stille, des woln mer vch gutlich bidden, vnd swiget auch dar zu, szo moget er das spiel deßdu basz vornemmen nu. her schultheys, macht ir den slagk,

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do sich eyn iglicher nach richten magk, nu wyt gnung wol vmb die wyde vnd auch die krumme, die lenge vnd auch die ferre. vns sal nymmants irren, mer woln vngedrungen syn. ir hot wol gehoret der herren pynn, die der schultheys hot gethon. dar vmb rumet vnß dissen plann. (V. 107–132) „Ihr lieben Menschen alle, / schweigt nun und lasst euer Schwatzen. / Ich will Euch eine Anordnung verkünden, / die der Herr Schultheiß erlässt: / Wer in diesem Kreis angetroffen wird / – ob Hinz oder Kunz oder wie immer er heiße –, / obwohl er nicht zum Spiel gehört, / der – das will ich euch wahrlich sagen – / muss seine Buße schmerzlich erhalten: / Mit den Teufeln muss er in die Hölle gehen. / Unruhe soll hier niemand veranstalten, / der in der Huld der Herren bleiben möchte. / Deshalb schweigt und hört unsere Worte / und steht still; darum wollen wir euch freundlich bitten, / und schweigt auch dabei: / So könnt Ihr das Spiel jetzt um so besser aufnehmen. / Herr Schultheiß, zieht Ihr die Grenze, / nach der sich ein jeder zu richten hat: / rundherum weit genug, / sowohl in Umfang und Rundung / als auch in Länge und Breite. / Niemand soll uns bedrängen; / wir wollen genügend Platz haben. / Ihr habt die Strafe der Herren genau gehört, / die der Schultheiß festgelegt hat. / Darum räumt uns diese Fläche!“

Nach diesen Worten beginnt endlich das Spiel. Hier lässt sich idealtypisch verfolgen, wie die Spielsituation hergestellt wird: Der Schultheiß markiert „in einem symbolischen Rechtsakt (V. 123: slagk)“38 vor aller Augen eine ausreichend weite Spielfläche, die kein Unbefugter – ‚weder Hinz noch Kunz‘ – betreten darf. Performativ wird hier die Grenze gezogen zwischen Spiel und Realität, Darstellern und Zuschauern, und diese Grenze scheint nicht weniger fest zu sein als die neuzeitliche, architektonisch markierte: Denn wer sie übertritt und ungefug treibt, der wird von den Teufeln in die Hölle geführt. Diese Stelle ist von humorvoll-spielerischer Doppeldeutigkeit: Gemeint ist zunächst einmal lediglich, dass Zuschauer, die sich nicht in ihre Zuschauerrolle fügen, sondern die Aufführung stören, bestraft werden, indem sie von den Teufelsdarstellern an den Spielort der Hölle abgeführt werden. Diese rein organisatorische, spielexterne Maßnahme für einen geregelten Ablauf der Aufführung wird aber in der Formulierung mit den spielimmanenten Figuren der Teufel verbunden; es wird – wohl bewusst – nicht unterschieden zwischen den Teufeln innerhalb des Spiels und einer Art Theaterpolizei. Spiel- und Publikumsrealität werden ineinandergeblendet, zumal ja auch die bösen Figuren innerhalb des Spiels von den Teufeln in die Hölle geführt werden.39 Nach den Anfangsworten des Proclamators und dem Heilsversprechen des Spielleiters hat aber auch die andere, weniger harmlose Lesart eine gewisse Berech 38 Vogelgsang 2008, 64. Freise 2002, 262, versteht slagk als „einfache Absperrung“.  39 So z. B. später Herodias und ihre Tochter (V. 1121a); vgl. dazu Freise 2002, 433.

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tigung: Wenn diejenigen, die das Spiel still und andächtig betrachten, auf diese Weise das Himmelreich erwerben können, dann bedeutet das, dass diejenigen, die das Spiel stören und sich nicht andächtig verhalten, am Jüngsten Tag in die Hölle fahren werden. Mit dieser eigentlich todernsten Konsequenz treibt der Proclamator ein erstaunlich augenzwinkerndes Spiel, ebenso wenn er die Strafe für den Störenfried als busze (V. 115) bezeichnet und deutlich macht, dass der herrenn holde (V. 118) auf dem Spiel steht – gemeint sind die Stadtherren, aber man meint, des herrenn holde mitzuhören. Der Witz dieser Rede liegt darin, dass der Proclamator im selben Moment, in dem er Spielrealität und Zuschauerrealität trennt, beide doch wieder ineinanderblendet. Die Hölle ist in den Proclamatorreden zweimal vertreten: Zu Beginn war von der Heilsrealität des ewigen Todes und helscher pynn (V. 7) die Rede, die den ereile, der nicht andächtig und dankbar der Passion Christi gedenke, und am Schluss ist der auf dem Aufführungsplatz symbolisch markierte Spielort der Hölle gemeint, wo diejenigen, die das Spiel stören, der herren pynn (V. 130) zu spüren bekommen. Der Proclamator trennt zwar humorvoll zwischen der realen Hölle und der symbolisch im Spiel verorteten – das Wortspiel funktioniert nur aufgrund dieser Trennung –, doch diejenigen, die es betrifft, sind identisch: nämlich diejenigen, die nicht andächtig zuschauen. Es besteht also durchaus ein über die bloße Symbolik hinausgehender Zusammenhang zwischen der Hölle als Ort des Spiels und der realen Hölle. Im Prolog zum Alsfelder Passionsspiel werden demnach zwei Raumordnungen konstituiert und zugleich überstiegen: Die eine Raumordnung ist die symbolische des Bühnenplans, wo eine Hölle lokalisiert ist, die zugleich als Strafort für störende Zuschauer fungiert; jedoch wird diesen Zuschauern genau so die reale Hölle angedroht. Die andere Raumordnung entsteht durch die performativ gezogene Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum, die jedoch dadurch überschritten wird, dass der diese Grenze verletzende Zuschauer in die spielimmanente Hölle geführt und damit selbst Teil des Spiels wird – oder aber, in umgekehrter Perspektive, dass die Spiel- auf die Zuschauerrealität übergreift. Es mag zuerst spitzfindig und übertrieben scheinen, diese augenzwinkernd doppeldeutige Rede des Proclamators schon als Transzendierung der inszenierten Räumlichkeit zu begreifen, aber letztlich kann man sie doch als humorvolles Gegenstück zu den vielbehandelten ritualartigen Szenen der Passionsspiele verstehen. Als Beispiel sei hier eine recht typische Marienklage aus dem Alsfelder Passionsspiel herausgegriffen.40 Als Christus begraben wird, wendet sich Maria ad populum, d. h. (auch) ans Publikum, mit folgenden Worten: Ir lieben frauwen vnd ir man, mercket hude alle dar an: ab man vwer kynde finge vnd jemmerlichen erhinge gar an ere schulde,  40 Zum Status der Marienklagen zwischen Theatralität und Ritualität, Repräsentation und Präsenz vgl. Petersen 2004; Eming 2009.

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des musten sie sich dulden. sehet, das ist mer hude gescheen. das leyt kan ich nummer volniehin, sint das em genommen ist syn leben. vch syn hude vorgeben alle vwer sunde gemeyn, die hude myt mer armen weynen. das helffe mer der milde gott dorch synen vnschuldigen doit. (V. 6825–6838) „Ihr lieben Frauen und Männer, / stellt Euch dies heute alle vor: / wenn man Eure Kinder gefangen nähme / und jämmerlich aufhängte / völlig ohne ihre Schuld, / wie sie das erleiden müssten – / seht, das ist mir heute geschehen. / Dieses Leid kann ich niemals ganz ausdrücken, / da ihm [meinem Kind] sein Leben genommen ist. / [All denen von] Euch seien heute / alle Sünden vergeben, / die heute mit mir Armer weinen. / Dazu verhelfe mir Gott in seiner Großzügigkeit / um seines unverschuldeten Todes willen.“

Maria spricht mit diesen Worten das Publikum direkt an, überschreitet also die anfangs gezogene Grenze zwischen Spiel und Realität und hebt die Gegenwärtigkeit des Geschehens hervor: „heute“ sollen sich die anwesenden Frauen und Männer in ihre Situation versetzen; „heute“ habe sie den Verlust ihres Kindes erlebt; „heute“ erführen alle die Vergebung ihrer Sünden, die „heute“ mit ihr weinten. D. h.: Das Passionsgeschehen, das Mitleiden der Zuschauer und die Vergebung ihrer Sünden finden gleichzeitig statt, in der Gegenwart der Aufführung.41 Hier wird unmittelbar klar, was die räumlich-imaginäre Grenze zwischen Spiel und Realität eigentlich bedeutet: Sie meint die heilsgeschichtlich-zeitliche Grenze von Vergangenheit und Gegenwart. Demnach definiert diese Grenze das Spiel als ein Erinnerungsmedium, so wie es der Prolog explizit tat: das Spiel als Medium des bedenckens. Die Wahrheit liege in der Vergangenheit; sie werde durch das Spiel lediglich ins Gedächtnis gebracht. In Szenen wie dieser Marienklage jedoch wird die Grenze zwischen den Darstellern und den Zuschauern, zwischen Spiel und Realität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben. Diese Transzendierung der dritten Raumordnung hat Folgen für die beiden anderen: Wie die Hölle in der Proclamatorrede, ist auch der Himmel zweimal im Spiel vorhanden, zum einen als symbolischer Ort auf dem Bühnenplan, als Spielstand, zum andern als reales Himmelreich, das in dieser Szene in die Aufführung hineinragt, wenn Maria, wie der Proclamator zuvor, den andächtigen, mitleidenden Zuschauern das Seelenheil verspricht. In dieser Szene ist das Himmelreich nicht nur ein Ort im Spiel, sondern die Zuschauer können real mit ihm in Berührung kommen. Die im Spiel bloß symbolisch abgebildete Weltordnung wird in dieser Szene real erfahrbar. Die symbolische Raumordnung des Bühnenplans wird  41 Vgl. auch Petersen 2004, 57: „In den compassio-Appellen wird die Differenz zwischen dem darstellenden und dem dargestellten Geschehen aufgehoben. Im Mitleiden wird […] die Erlösung zu einem Ereignis, das heute stattfindet. Im Vollzug des Leidens und Mitleidens erlangt die Erlösung Präsenz.“

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auf ihre Wahrheit hin überstiegen, das Symbol erfüllt und aufgehoben. Das Spiel vermittelt nicht nur ein Abbild des Himmels, sondern diesen selbst. Man kann noch weitergehen, wenn man Folgendes bedenkt: Mindestens bei den frühen Luzerner Spielen ist der Spielort Himmel beim Kirchengebäude lokalisiert – von der symbolischen Stadttopographie her gedacht dürfte das, wo immer es spieltechnisch möglich war, der Normalfall gewesen sein. Beim Alsfelder Passionsspiel ruft der Proclamator jeweils am Ende des ersten und am Ende des dritten Aufführungstages (seine Schlussworte am zweiten Tag sind nicht überliefert) alle am Spiel Beteiligten, Darsteller und Zuschauer, dazu auf, in die Kirche zu gehen (V. 2915; V. 8090). nu sollet er zu husze ziehen, fladen essen vnd drincken wyn vnd solt zu der kirchen bedden gan. gott musze vch ablaß thun. alle vwer misstaid mussze vch hie entbynden vff disser stad. (V. 8088–8093) „Nun sollt Ihr nach Hause gehen, / [Oster-]Fladen42 essen und Wein trinken / und zum Beten in die Kirche gehen. / Gott möge Euch Ablass geben. / Von all Eurer Sünde / möge er Euch sogleich befreien.“

Wenn die Kirche nun im Spiel den Himmel bedeutet hat und die andächtigen Zuschauer nach dem Spiel in die Kirche einziehen, dann drängt sich auch hier die Vorstellung einer Überblendung der Ebenen auf: Wie die nicht andächtigen Zuschauer in die Hölle des Spiels geführt werden und zugleich mit der realen Hölle rechnen müssen, so betreten die andächtigen Zuschauer nach dem Spiel den als Himmel gekennzeichneten Ort, der überdies tatsächlich ein sakraler Raum ist und das Himmlische Jerusalem repräsentiert. Wer – so der Anspruch des Spiels – während des Spiels andächtig war und dementsprechend nach dem Spiel in die Kirche geht, dem ist das hymmelrich bereyt, was sich in der ablaß-Verheißung ausdrückt. Die in Aussicht gestellte Erlösung wird durch den gemeinsamen Gang in die Kirche, die eben noch im Spiel den Himmel symbolisierte, sinnfällig vermittelt – so wie die Abführung der störenden Zuschauer in die Hölle des Spiels ihre drohende Verdammung vor Augen führt. Wenn die andächtigen Zuschauer in die Kirche einziehen, ziehen sie, vom Spiel und seinem Heilsversprechen her gedacht, in den Himmel ein. So führt die Überschreitung der dritten, performativen Raumordnung zur Überschreitung der zweiten, symbolischen. Doch auch die erste, allegorische Raum­ ordnung wird transzendiert: Wie gesagt, steht die Stadt schon immer in einem allegorisch-verweisenden Bezug zu Jerusalem, ist selbst ein Gedächtnisraum; Spiele und Prozessionen, die ihrerseits als Erinnerungsmedien konzipiert sind, machen diesen Bezug offensichtlich: Die Stadt wird auf ihre Wahrheit hin durchsichtig. Eine Szene wie die genannte Marienklage tut aber noch mehr: Sie stellt diese Ver 42 Vgl. Vogelgsang 2008, 696.

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weisungsrelation nicht nur heraus, sondern sie lässt sie kollabieren – „heute“ findet die Passion statt, und „heute“ wird sie miterlitten. Wenn es keinen zeitlichen Unterschied mehr zwischen dem Passionsgeschehen und dem Gedenken gibt, dann fällt auch der räumliche Unterschied zwischen dem heiligen Ort und der mittelalterlichen Stadt. Die Wahrheit und ihre Repräsentation scheinen eins zu werden! Dieses Kollabieren der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse ergibt sich von zwei Seiten her: Zum einen, wie gezeigt, durch das Überschreiten der Grenze zwischen Spiel und Publikum durch Maria, zum anderen durch die entsprechende Reaktion der Zuschauer. Sie werden von Maria dazu aufgerufen, sich an ihre Stelle zu versetzen und zusammen mit ihr zu weinen. Es sind also die Imagination und der Affekt der Zuschauer, in denen der heilige Ort und ihre Stadt, das vergangene Geschehen und ihre Gegenwart ineins fallen. Und dann ist es nur konsequent, dass diese affektiv-imaginative Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens mit der Vergegenwärtigung auch ihrer Heilswirkung einhergeht: Wie die Passion findet auch ihre Heilswirkung hier und jetzt statt. In der affektiven Imagination der Zuschauer ist das Spiel Realität, ist ihre Stadt Jerusalem und ist der Himmel real gegenwärtig. Diese affektive Imagination ist gemeint, wenn der Proclamator im Prolog zu andacht und ynnikeyt aufruft. Es scheint das Charakteristische des geistlichen Spiels auszumachen, dass die Raumordnungen von beiden Seiten, den Zuschauern wie den Darstellern, transzendiert werden, und gerade hier liegen die Unterschiede im Vergleich mit anderen Medien wie etwa der Prozession. Friedemann Kreuder hat jüngst mit guten Gründen die Frömmigkeitspraxis des Kreuzwegs zum Vorbild des Passionsspiels erklärt, bei dem die Stationen der Passion körperlich-räumlich abgeschritten und auf diese Weise „buchstäblich inkorporiert“43 werden. Der Kreuzweg ist also zu sehen als ritueller Vollzug, der den Sinn der Schrift unmittelbar in die Selbstwahrnehmung, in Affekt und Imagination, in die körperliche Inszenierung eines heilsgeschichtlichen Dramas überführt. Als mögliches Vorbild für das die Geschehensfolge ausweitende Bibliodrama des Geistlichen Spiels meinte der Kreuzweg eine Vergegenwärtigung, die eine ‚reale‘ Unmittelbarkeit zum leidenden Gott im nachahmenden körperlichen Vollzug der Nachfolge herzustellen suchte.44

Der Kreuzweg ist also eine körperlich vollzogene Mnemotechnik,45 und als solche würde Kreuder auch das Passionsspiel beschreiben. Das würde aber bedeuten, dass alle Passionsspiele als Prozessionsspiele hätten ablaufen müssen, was erstens schwer zu beweisen wäre und zweitens zumindest für die späten Luzerner Spiele mit ihrem Publikumsgerüst nachweislich nicht zutrifft. In jedem Fall ist ein Unterschied zwischen Kreuzweg und Prozession einerseits und Passionsspiel andererseits zu bedenken: Kreuzweg und Prozession werden zwar körperlich vollzogen; die eigentliche  43 Kreuder 2009, 155.  44 Ebd., 155f.  45 So auch Schlie 2009, 152–156, über die englischen Fronleichnamsspiele, die Heiligblutprozession in Brügge und die prozessionsartige Gestaltung von Memlings Turiner Passion.

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Vergegenwärtigung der Passion findet aber, wie Kreuder sagt, in „Selbstwahrnehmung, Affekt und Imagination“ statt; der körperlich-räumliche Vollzug unterstützt diese Vergegenwärtigung, wird ihr aber letztlich funktional untergeordnet. Die Vergegenwärtigung bleibt in der Imagination jedes einzelnen Gläubigen; dabei kann es zu individuellen Visionen und unio-Erfahrungen kommen.46 Anders beim Passionsspiel: Hier spielt die Imagination des einzelnen Zuschauers zwar ebenfalls eine entscheidende Rolle, aber das vergegenwärtigte Geschehen findet nicht nur in seiner Imagination, sondern auch in seiner räumlichen Umgebung statt; sie ist nicht nur Teil der Selbstwahrnehmung, sondern auch der Außenwahrnehmung: Figuren wie Maria in der vorgestellten Marienklage sprechen ihn direkt an und binden ihn in das vergegenwärtigte Geschehen ein. Imaginativ überschreitet er zwar durchaus die Grenze zwischen Spiel und Realität, zwischen der symbolisch dargestellten und der realen Weltordnung und zwischen seiner Stadt und Jerusalem, aber die für das theatrale Medium unabdingbare Räumlichkeit kann und muss er nicht überschreiten. Bei aller Transzendierung der Raumordnungen bleibt das Passionsspiel ein Raumerlebnis. Die Visions- und Präsenzerfahrungen finden im Hier und Jetzt statt, und zwar nicht nur individuell, sondern kollektiv. Das Passionsspiel bietet zumindest in bestimmten Szenen die Möglichkeit immanenter Transzendenzerfahrungen, kollektiver und räumlich stattfindender Visionen, die der Realität so nahe kommen, dass man kaum mehr zu bestimmen vermag, worin sich Spiel und Realität eigentlich noch unterscheiden. Das liegt insbesondere daran, dass beim Passionsspiel das, was der Gläubige sich innerlich vorstellen soll, und das, was er äußerlich wahrnimmt, in einer Beziehung so großer Mimesis und Ähnlichkeit zueinander stehen, wie sie keine andere mediale Praxis erreichen kann: Beim Kreuzweg etwa befindet sich der Gläubige in der an sich unscheinbaren Räumlichkeit des Klosters oder der Stadt, die er durch seine eigene Imagination erst mit Bildern füllen muss; wenn seine Meditation durch Bilder und Skulpturen unterstützt wird, muss er diese zumindest selbst innerlich verlebendigen.47 All diese Imaginations- und Verlebendigungsleistung entfällt beim Theater:48 Der Gläubige sieht äußerlich und in lebendiger Weise genau das, was er sich innerlich vorstellen soll. Die Gefahr der Verwechslung von Innen und Außen, auch von Zeichen und Bezeichnetem, von Gegenwart und Vergangen-

 46 So in Heinrich Seuses „zwischen Körperlichem und Geistigem oszillierenden“ Kreuzweg; vgl. dazu Kiening 2009, 180f.  47 Das hebt auch Kiening 2009, 194, hervor: „Selbst die konkreten Anlagen [der originalen heiligen Stätten wie auch ihrer Nachbildungen] sind nur Hilfsmittel für eine Betrachtung, die sich innerlich zu vollziehen hat: in einem Raum, in dem ‚visio‘ und ‚imaginatio‘ ineinandergreifen.“  48 Vgl. Müller 1998, 556: „Was wenige in Visionen erfahren, stellen die Spiele vor aller Augen. […] Die szenische Repräsentation nimmt dem Betrachter die Anstrengung der Imaginationen ab, indem sie zur Sprache (die in den Spielen wie in den Passionstraktaten die Imagination durch Ausmalen der Greuel reizt) das anschaubare Geschehen fügen. Die Spiele ersetzen die zu kontrollierende und kontrollierbare Autosuggestion durch ein kollektives Spektakel.“

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heit – vor der etwa in der Devotio moderna explizit gewarnt wird49 –, wird vom Passionsspiel geradezu provoziert, indem es selbst, von sich aus die Grenze zwischen Spiel- und Publikumswirklichkeit überschreitet. Der Gläubige muss seine räumliche Umgebung gar nicht innerlich transzendieren; er muss nur das theatrale Als-ob ignorieren – eben darin besteht die geforderte und mit dem Seelenheil belohnte andacht – und kann auch imaginativ im Hier und Jetzt der Aufführung bleiben. Mit Max Herrmann kann man das eine „innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes“ nennen, doch aufgrund des hohen religiösen Anspruchs der Spiele zögert man, hier von einem „Kunstraum“ zu sprechen. Denn die Zuschauer nehmen dabei eigentlich nicht an einer fiktiven oder Kunstwelt teil, sondern am als real geglaubten Wendepunkt der Heilsgeschichte, auf den ihre eigene Zeit stets bezogen ist. Während beim neuzeitlichen Theater laut Max Herrmann und Erika Fischer-Lichte der reale Raum die Grundlage für den theatral inszenierten Kunstraum bzw. den performativen Raum bildet, führt der performative Raum des geistlichen Spiels letztlich die metaphysische Grundlage des als real verstandenen Raums vor Augen: In den Präsenz-Szenen wird Gottes Schöpfungsordnung erfahrbar, und die Zuschauer befinden sich in Jerusalem, im Zentrum der Welt. Die christlich verstandene Räumlichkeit tritt als solche in Erscheinung. Fraglich bleibt, wie diese Räumlichkeit überhaupt noch begrifflich zu fassen ist, da sie sich ja gerade erst aus der Transzendierung der beschreibbaren Raumordnungen ergibt. Um es noch einmal zu präzisieren: Die Präsenz-Szenen finden im Hier und Jetzt der Aufführung statt, doch dieses Hier ist bei andächtiger Rezeption, die die Passion als real performierte wahrnimmt, sowohl die mittelalterliche Stadt als auch das Jerusalem der Passion, ein Ort, der weder nur die mittelalterliche Stadt ist – denn dann wäre die szenische Darstellung lediglich die Nachbildung eines eigentlich fernen Ortes – noch nur das irdisch-historische Jerusalem – denn die geographische Trennung kann räumlich nicht aufgehoben werden. Ebenso das Jetzt der Präsenz-Szenen: Es ist sowohl die Gegenwart der Aufführung als auch die Vergangenheit des Erlösungsopfers, aber so, dass es weder völlig mit der Alltagsgegenwart zusammenfällt – denn dann wäre die szenische Darstellung lediglich die Nachbildung eines vergangenen Ereignisses – noch mit der Vergangenheit – denn in der linear verlaufenden Heilsgeschichte kann man nur voran-, nicht zurückschreiten. Im Hier und Jetzt der theatralen Performanz und der mit ihr einhergehenden andächtigen Rezeption lassen sich der Raum und die Zeit der Darstellung nicht von dem Raum und der Zeit des Dargestellten trennen und demzufolge auch keine Verweisungsbeziehungen mehr zwischen ihnen herstellen. Damit werden die durch  49 Vgl. dazu Schuppisser 1993, 184: Geert Grote, der Begründer der Devotio moderna, warnt davor, bei der Passionsmeditation „Christi Gegenwart vor dem inneren Auge zu verwechseln mit einer leiblichen Gegenwart und damit, modern gesprochen, einer Halluzination zum Opfer zu fallen, indem die Wahrnehmung durch die inneren Sinne gleichsam auf die äußeren Sinne überspringe und man vermeine, Christus in körperlicher Gegenwart mit den eigenen Sinnen sehen, hören und berühren zu können. Dies hieße, einer gefährlichen Täuschung zu erliegen, indem man die Zeichen mit dem Bedeuteten, das Bild Christi mit Christus selber verwechselte.“

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die Geographie bedingten räumlichen und die durch die Heilsgeschichte bedingten zeitlichen Trennungen überwunden. Die in den Präsenz-Szenen hergestellte Räumlichkeit und Zeitlichkeit scheinen mystischen Vorstellungen nahezukommen: Sie inszenieren einen ewigen, da der Zeitlichkeit enthobenen, Augenblick und einen nirgends lokalisierbaren, vielmehr die gesamte christlich verstandene Räumlichkeit umfassenden und bestimmenden Ort, dies aber – und das muss gegenüber der eigentlich mystischen Erfahrung hervorgehoben werden – innerhalb der für das Theater unabdingbaren Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Das hat weitreichende Konsequenzen: Das Zusammenspiel von theatral-mimetischer Performanz und andächtiger, d. h. das Theatrale auf seine Wahrheit hin durchschauender, Rezeption sprengt die Historizität der Passion Christi, die in deren räumlicher (Jerusalem) und zeitlicher (Mitte der Heilsgeschichte) Verortung liegt und die in der Liturgie – bei aller Realpräsenz – grundsätzlich bewahrt wird.50 Wenn man diese Historizität als dasjenige Merkmal ansieht, durch das sich das Christentum von mythischen Religionen unterscheidet,51 dann gleicht das Passionsspiel, das die Historizität in eine räumlich erfahrbare Überräumlichkeit und eine zeitlich erfahrbare Überzeitlichkeit auflöst, einem mythischen Ritual, in dem der heilige Raum und die heilige Zeit immer wieder reaktualisiert werden.52 Es wäre also gerade diese mystik-analoge, Raum und Zeit transzendierende und zugleich notwendig in Raum und Zeit verbleibende Theatererfahrung, die zu einer ‚Remythisierung‘ des Christentums im geistlichen Spiel führte. Grundbedingung dieser Theatererfahrung ist, wie gesagt, die Überschreitung der Grenze zwischen Spiel und Realität. Von den Darstellern bzw. Figuren wird die Grenze performativ, von den Zuschauern imaginativ-affektiv überschritten. In dieser beiderseitigen Überschreitung der Grenze zwischen Medium und Rezipienten unterscheidet sich das geistliche Spiel von jedem anderen christlichen Erinnerungsmedium wie etwa dem Kreuzweg, der Prozession, dem Andachtsbild, dem Meditationstext: Imaginationsraum und realer Raum werden hier eins. Die Transzendierung der  50 Freilich ist es ein Kennzeichen aller Erinnerungsmedien der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, sich die Durchlässigkeit der Medialität zunutze zu machen und die Zeitebenen so ineinander zu blenden, dass visionsartige Erfahrungen der Präsenz von Vergangenem und Zukünftigem möglich werden; vgl. dazu Kiening 2010. Das Medium Schauspiel geht hierbei jedoch so weit, dass derartige Erfahrungen eine neue Qualität annehmen.  51 Vgl. Eliade 1998, insbes. 93–99. Auf einer solchen Unterscheidung zwischen der Zyklizität des mythischen und der Linearität des christlichen Zeitverständnisses und dem darauf basierenden Gegensatz von Mythos und Kerygma baut Warnings These von der Remythisierung des Christentums im geistlichen Spiel auf (Warning 1974).  52 Vgl. dazu Eliade 1998, 23–99, insbes. 73–80. – Mit Koch 2007 könnte man dies eine „Inszenierung des Heiligen“ nennen, wobei sie jedoch eine solche Inszenierung eher in der bewussten Thematisierung und Reflexion der Medialität des Spiels und der Nichtdarstellbarkeit des Heiligen sieht. Tatsächlich betonen die Spiele in ihren selbstreflexiven Passagen oft ihre bloße Repräsentationalität und damit ihr Unvermögen, das Heilige als solches darzustellen; gleichwohl unterlaufen sie ihre Selbstaussagen durch die räumlichen und zeitlichen Überblendungen sowie durch die der Aufführung generell inhärente Präsenz- und Ereignishaftigkeit (vgl. dazu Fischer-Lichte 2004, insbes. 281–362), die gerade in den Präsenz-Szenen erfahrbar und auch textlich greifbar wird.

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performativen Raumordnung zieht die Transzendierung der symbolischen wie auch der allegorischen Raumordnung nach sich, und zumindest für Augenblicke eröffnet sich die Möglichkeit einer – vielleicht sogar über alle spezifisch christlichen Rauminterpretationen hinausgehende – fundamental religiösen Raumerfahrung.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Alsfelder Bühnenplan Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Ms. poet. et roman. Abb. 2: sog. Donaueschinger Bühnenplan Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Don. 137 Abb. 3: Renward Cysats Bühnenplan zum zweiten Tag des Luzerner Passionsspiels 1583 Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, BB Ms. 180 gol.

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„was sall dir bedewtten der drawm?“ Theatralisierung als Sakralisierung im Heidelberger Passionsspiel This article focuses on sacralizing strategies in late medieval passion plays, using the tableaux vivants of the Oberammergau Passion Play as a point of departure. These tableaux follow a hermeneutic Christian tradition in which episodes from the Old Testament are understood as harbingers – prefigurations – of New Testament events, particularly the Passion of Christ. The tableaux vivants not only frame the subsequent stage action and charge it with meaning, they also create a sense of the eternal and the presence of unquestionable authority, all within an aura of holiness. In the Heidelberg Passion Play, the Old Testament scenes are part of the theatrical plot itself. Scenes from the Old and New Testament are presented on the same theatrical and medial levels with regard to body, language, and plot. This has the important consequence that the events in the Old Testament seem to be within the same time frame, and have basically the same standing as those from the New Testament. A comparison with the prefigurative tableaux vivants in the Oberammergau Passion Play makes this clear: there the prefigurations dialectically convert their segregated stage space into a distant temporality. In the Heidelberg Passion Play the theatrical realization of scenes out of the Old Testament leads to a veritable suggestion of their contemporaneity, and, as such, a presence of the sacred.

Die Vorbereitung des Oberammergauer Passionsspiels von 2010, der 41. Inszenierung seit 1634, hat in internationalen Medien Beachtung gefunden wie vorher wohl nur – aus anderen Gründen – die Produktion des Jahres 1934.1 In erster Linie ist diese Aufmerksamkeit auf geschickte Werbe- und Vermarktungsstrategien zurückzuführen, wie sie unter anderem in der 2011 in die Kinos gekommenen begleitenden Dokumentation einsichtig werden.2 Die Fragen, um die es 2010 und im Jahre der Vorbereitung ging, waren jedoch nicht neu. Sie betrafen den Umfang, in dem sich Regie und Dramaturgie gegenüber einem traditionsreichen Text und Aufführungskonzept auch Innovationen und Änderungen erlauben und wie sie diese gegenüber dem einflussreichen Oberammergauer Rat vertreten und durchset-

   1 Vgl. Jaron/Rudin 1984, 137: „Die Aufführung von 1934 (anlässlich des 300jährigen Jubiläums) wurde von den Nationalsozialisten als Propagandainstrument eingesetzt: Sie sollte gegenüber dem christlichen Bevölkerungsteil Hitlers Entgegenkommen in der Glaubensfrage belegen und international zur Reputation des Regimes beitragen.“ Dass Hitler eine Aufführung besuchte und sich begeistert darüber äußerte, hat nachhaltig dazu beigetragen, dass das internationale Ansehen der Oberammergauer Passionsspiele schweren Schaden genommen hat. Vgl. dazu Shapiro 2000, 153–204.   2 Adolph, Jörg: Die große Passion. Hinter den Kulissen von Oberammergau, DVD, Regie Jörg Adolph (2011); if… cinema, (DVD 2012).

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Abb. 1: Vertreibung aus dem Paradies. Copyright: Bilder Oberammergauer Passionsspiele 2010 / Foto: Brigitte Maria Mayer.

zen konnten. Die Änderungen galten zum Beispiel dem Spieltext und der besonderen Akzentuierung von Jesus als Juden, im Weiteren den Kostümen, Szeneneinrichtungen usw. Eine alte Inszenierungskonvention wurde von Regisseur Christian Stückl, dem Aktualität ansonsten ein besonderes Anliegen war, dabei nicht grundsätzlich in Frage gestellt: die sogenannten Lebenden Bilder zu Episoden des Alten Testaments, welche einzelne Stationen des Passionsgeschehens unter Musikbegleitung präludieren (Abb. 1).3 Diese Konvention orientiert sich tatsächlich nicht nur an einer längeren Oberammergauer, sondern auch an einer mittelalterlichen Spielpraxis, und darüber hinaus an der typologischen Tradition christlicher Hermeneutik, welcher der Gedanke zugrunde liegt, dass Schlüssel-Szenen des Alten Testaments die zentralen Stationen der Geschichte des Neuen Testaments, insbesondere der Passion Christi, antizipiert haben, um nun – auf einer qualitativ höheren Stufe – wiederaufgenommen und vollendet zu werden. Auffällig an der Inszenierung des Oberammergauer Passionsspiels ist das ‚Einfrieren‘ der Präfigurationen zum Tableau. Neben der Funktion, die biblische Lehre anschaulich zu machen, soll auf diese Weise eine sakrale Wirkung erzeugt werden. Die Sistierung der Geschichten zum Lebenden Bild verschafft nicht nur dem prophetischen und heilsgeschichtlichen Charakter der Geschehnisse Geltung, es erzeugt auch die Suggestion von Ewigkeit und fragloser Autorität. Wie ein Andachtsbild rahmen und auratisieren die Tableaux, unterstützt durch Musik im Stil eines barocken Oratoriums, die jeweils danach einsetzende theatrale Handlung und    3 Sie sind seit 1750 fester Bestandteil der Aufführungen, vgl. Shapiro 2000, 72.

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Abb. 2: Judaskuss. Copyright Bilder: Oberammergauer Passionsspiele 2010 / Foto: Brigitte Maria Mayer.

transformieren diese zur Aufführung eines geistlichen Dramas. Auffällig und die Feierlichkeit womöglich unfreiwillig konterkarierend ist allerdings die Farbwahl der Lebenden Bilder, über deren Psychologie sich streiten ließe.4 Möglicherweise soll die lebhafte Farbgebung das insbesondere im zweiten Teil des Oberammergauer Spiels zunehmend sinistre und entsprechend dunkler inszenierte Passionsgeschehen konterkarieren (Abb. 2) und in die optimistische Perspektive der christlichen Erlösungsbotschaft rücken.5 Die typologischen Bezüge im Oberammergauer Passionsspiel eignen sich als Ausgangspunkt, um im Folgenden am Beispiel des Heidelberger Passionsspiels eine Verbindung zu Aspekten der Konstruktion von Sakralität auf der Grundlage spätmittelalterlicher Aufführungskonventionen herzustellen. Im Mittelalter sind Typo   4 Es ist auffällig, dass diese häufig als Konzession an den Geschmack des ‚einfachen Volkes‘ aufgefasst wird. Dies bedient das Klischee der ‚schlichten Oberammergauer Gemüter‘, vgl. zu Letzterem Shapiro 2000, 134f. So urteilt Friedrich Düsel 1922 im 66. Jahrgang von Westermanns Monatsheften unter dem Einfluss der neuen Theaterästhetik Max Reinhardts in Berlin: „Ich würde es begreifen, wenn manche dieser Bilder in ihrer wie für den Photographen erfundenen ‚Gestelltheit‘ dem empfindlichen Auge des großstädtischen oder sagen wir allgemein: des modernen Geschmäcklers geradezu als ‚Kitsch‘ erscheinen, und doch bin ich überzeugt, dass der volkstümliche Geschmack bei diesen gefrorenen Staffagen, die in Gruppen und Farben schwelgen, am besten auf seine Kosten kommt […]“. Zitiert bei Jaron/Rudin 1984, 114. Ähnlich dann Erich Kuby in den Frankfurter Heften 5 (1950): „Mit diesen Lebenden Bildern werden Gipfelpunkte des Kitsches erreicht, aber er wird so ohne Augenzwinkern und ohne schlechtes Gewissen dargeboten, er entspricht so genau dem, was das Volk ‚schön‘ findet, daß man sich zum Schluß fragt, ob schöner Kitsch nicht vielleicht doch schön sein kann.“ Zitiert bei Jaron/Rudin 1984, 148.    5 Die Stilisierung der Passion scheint auch unter dem Einfluss von Mel Gibsons The Passion of the Christ zu stehen. Vgl. auch Zwick/Lenthes 2004.

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logien, die Rekonstruktion von Bezügen zwischen alttestamentlicher Präfiguration und neutestamentlicher Erfüllung durch die Lebensgeschichte Christi, nicht nur in der religiösen Literatur und Ikonographie allgegenwärtig. Auch geistliche Spiele stellen regelmäßig Bezüge zum Alten Testament her, und insbesondere Fronleichnamsspiele arbeiten mit Präfigurationen in Form von Lebenden Bildern. Grundsätzlich allerdings ist in den Spielen „[die Darstellung einer figura] körpergebundene Performanz.“6 Typisch ist der Auftritt von Gestalten aus dem Alten Testament, häufig Propheten, die zu Beginn oder am Ende der Spielszenen dem Publikum heilsgeschichtliche Zusammenhänge erläutern. Weil Wert darauf gelegt wird, auch kürzere Bezüge mit theatralen Mitteln, etwa durch einen Monolog herzustellen – statt sie in narrativierter Form zu erläutern –, kann es, wie zu Beginn des Frankfurter Passionsspiels, zu einer regelrechten Verschachtelung von Rollen kommen, welche das Publikum gleichsam spiralförmig weiter in die Als-Ob-Welt des Spiels hineinzieht. So erklärt der Darsteller des Propheten David, kurzfristig Jesus zu repräsentieren, doch wechselt er nicht einfach die Rolle, sondern spielt den einen in der Figur des anderen: Ich heissen Dauid, gottes knecht, vnd heben an, das ist wole recht. disz wort kunden ich uch schone in der persone gottes sone, wie er zu sinem vatter sprach, da er kunfftiglichen sache sine phin vnd sinen doit. also sprach er gein dieser noit: […] (V. 33–40)7

Die Funktion dieses ‚Spiels im Spiel‘ ist letztlich also nicht theatral, sondern theologisch zu begreifen, denn sie liegt weder darin, eine Illusion zu verstärken, noch darin, sie reflexiv zu brechen, sondern sie soll den typologischen Bezug von Jesus als der ‚neue David‘ akzentuieren. Auch das Heidelberger Passionsspiel von 1514 wird im Folgenden auf Verfahren untersucht, in denen die Körper der Schauspieler in verschiedenen figurae auf heilsgeschichtliche Bezüge verweisen, sie zugleich vermitteln und auf diese Weise das Spiel zum Ort von Sakralität werden lassen.8 Das Heidelberger Passionsspiel verfügt über 13 alttestamentliche Szenen, welche in die Passionsgeschichte inseriert wurden (anstatt diese geschlossen den Stationen des Neuen Testaments voranzustellen, wie etwa im Luzerner Passionsspiel). Durch diese Eigenart zeichnet sich das Heidel   6 Ehrstine 2001, 417. Ehrstine verweist auch auf die semantische Breite des in den Spieltexten häufig verwendeten Begriffs figura, vgl. 416: „das Wort bezeichnete u. a. ein ganzes Spiel, einen Spielabschnitt, die dazugehörige szenische Kulisse oder auch ein tableau vivant“.    7 Zitate nach der Ausgabe Frankfurter Passionsspiel, Janota 1996.    8 Vgl. Ehrstine 2001, 422. Ehrstines Argumentation wendet sich an dieser Stelle auch gegen kurzschlüssige Vorstellungen von einer Präsenz des Heiligen.

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berger Passionsspiel zugleich innerhalb der Hessischen Passionsspielgruppe aus, der es auf Grund vieler Parallelen in Handlungsaufbau und Wortlaut zugerechnet wird.9 Das Oberammergauer Passionsspiel zeigt tatsächlich mehr Verbindungen zu mittelalterlichen Spieltraditionen als sich angesichts der Tatsache vermuten ließe, dass die Geschichte des europäischen geistlichen Spiels durch die Einführung der Reformation als beendet gilt und keine historisch-genetische Verbindung zum frühneuzeitlichen Theaterbetrieb herzustellen erlaubt.10 So legt der traditionelle Oberammergauer Spielbetrieb Wert darauf, den Eindruck zu vermitteln, dass die Spiele in erster Linie von der Gemeinde für die Gemeinde inszeniert werden, und dies trotz der Tatsache, dass der überwiegende Teil des Kartenkontingents schon seit Jahrzehnten von amerikanischen Touristen abgenommen wird.11 Wer an einer der in zehnjährigem Rhythmus veranstalteten Aufführungen mitwirken möchte, muss aus Oberammergau gebürtig oder dort längere Zeit ansässig sein, einschließlich des Regisseurs. Die Darsteller sind im Allgemeinen keine professionellen Schauspieler, sondern kommen aus der Gemeinde. Sie mischen sich allerdings durchaus gerne unter das ortsferne Publikum, wie zum Beispiel der Jesus-Darsteller mit Regisseur Christian Stückl (Abb. 3).12 Wer den Salvator nach der Pause wieder auf der Bühne als Jesus identifizieren möchte, wird nach der Rückkehr aus dem lebhaften Pausengeschehen eine gewisse emotionale und intellektuelle Transferleistung erbringen müssen. Dieser Transfer wird durch die Inszenierungsstrategien unterstützt, auch durch das direkt nach der Pause gezeigte alttestamentliche Tableau. Grundsätzlich geht es dann auch in Oberammergau darum, in einem öffentlichen und säkularen Raum eine religiös tingierte Atmosphäre zu schaffen, welche die Wahrnehmung von Außeralltäglichkeit ermöglicht. Der Oberammergauer Spielbetrieb vollzieht sich zwar in einer festen Spielstätte auf einem eigens dafür reservierten Platz, hält jedoch trotz einer teilweisen Überdachung des Zuschauerraums und der bei Bedarf, zum Beispiel bei einsetzendem Regen, ausfahrbaren Glasüberdeckung der riesigen Bühne an der Illusion fest, das Spiel vollziehe sich unter freiem Himmel. Das räumliche Setting spielt auch für Untersuchungen mit-

   9 Schmid 1975, 72: „Das Phänomen der Praefiguration, Vorbildung und Vorausdeutung einer alttestamentlichen Gestalt oder Szene auf eine entsprechende des Neuen Testaments, bildet das Bauprinzip im Heidelberger Passionsspiel von 1514. Es sind im wesentlichen Sequenzen von Praefigurationen und Figurationen, die hier als Passion zu einem Ganzen gefügt wurden.“  10 Vgl. zuletzt die Untersuchung von Schulze 2012.  11 Aus der Untersuchung von Shapiro geht allerdings hervor, dass es schon in den 90er Jahren Befürchtungen gab, dass das amerikanische Interesse an Oberammergau nachgelassen hatte, vgl. Shapiro 2000, 47f. Die Film-Dokumentation zeigt eine Promotion-Reise von Ensemble-Mitgliedern, unter anderem des Jesus-Darstellers Frederik Mayet, in die USA, wo sie im Fernsehen auftreten, um der angesichts der Wirtschaftskrise bedrohlich gewordenen Stagnation des Kartenverkaufs entgegen zu wirken.  12 Die Möglichkeit, ‚Jesus auf der Straße zu treffen‘, gehört schon seit dem 19. Jahrhundert zum Mythos von Oberammergau, vgl. Sponsler 2004, 128. Vgl. auch das Kapitel „Die Mythen Oberammergaus“ bei Shapiro 2000, 115–151.

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Abb. 3: Privat.

telalterlicher Aufführungsbedingungen eine Rolle, auf die ich jetzt zunächst zu sprechen komme, um danach die Präfigurationen des Heidelberger Passionsspiels zu diskutieren.

1. Sakralität als Funktion theatraler Handlung Johannes Janota hat kürzlich dafür plädiert, sog. Spielnachrichten, also Dokumente über Aufführungen von Passionsspielen, wie sie in Stadtarchiven überliefert sind, stärker als bisher auf die vorhandenen Spieltexte zu beziehen – auch wenn das in keinem Fall direkt möglich ist, weil sich kein Beleg einem überlieferten Text konkret zuordnen lässt.13 Nach Auffassung Janotas ist eine Korrelierung dennoch grundsätzlich erforderlich, weil die bis heute vorliegenden Interpretationen der Spiele eine potentielle Wirkung auf die Zuschauer durchgängig aus den Spieltexten selbst rekonstruierten und dabei stets unterstellen würden, dass der Spielablauf reibungslos und ungestört vonstatten ging. Die Beschreibungen von Publikumsreaktionen in den Spielbelegen vermitteln einen anderen Eindruck: Sie berichten von Zuschauer-Einmischungen, Störungen, Lärm, bis hin zu tätlichen Übergriffen auf Leib und Leben mal der Spielträger, mal der Zuschauer. Für die theatergeschichtliche Forschung der letzten Jahre, die Präsenzeffekte und Performanz der Spiele in  13 Janota 2008.

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besonderem Maße reflektierte, waren diese Annahmen von nicht geringer Relevanz, schienen doch insbesondere die Thesen zu einer mangelnden Rollendistanz dazu beitragen zu können, den theatralen Status der Spiele zu bestimmen.14 Auf der anderen Seite ist der Realitätsbezug dieser Berichte in hohem Maße umstritten, denn sie sind konfessionell geprägt und demnach interessegeleitet. Janota hat die Bedenken, die aus diesen Gründen gegen eine Auswertung der Spielbelege als Zeugnisse für eine historische Spielpraxis bestehen, durch seine Argumentation nicht ausräumen können. Er hat jedoch an einen wichtigen Aspekt erinnert, der in Zusammenhang mit den Aufführungen geistiger Spiele berücksichtigt werden muss. Gingen sie, wie zumeist, im Freien und im Rahmen der mittelalterlichen Festkultur auf zentralen Plätzen der mittelalterlichen Stadt vor sich, waren sie anderen visuellen, auditiven, klimatischen und materiellen Rahmenbedingungen ausgesetzt als Aufführungen, die für den Theaterbetrieb der Moderne charakteristisch sind und die deshalb auch nicht ohne weiteres unterstellt werden sollten. Insbesondere Geräuschkulissen scheinen das Spielgeschehen beeinträchtigt zu haben, denen man durch die in den Spieltexten fest etablierten Silete-Rufe und Proklamatoren zu Szenenbeginn vermutlich teilweise entgegenzuwirken versuchte.15 Die Frage, welche Rückschlüsse aus diesen performativen Elementen auf ein Verhalten der Zuschauer zu ziehen sind, das sich grundlegend von dem des modernen Theaters unterscheiden würde, ist indessen ebenfalls strittig. So gibt Glenn Ehrstine zu bedenken: „[…] like contemporary reminders for theater attendees to silence their cell phones, such reminders were perfunctory, followed by a performance with few or no interruptions.“16 Das Problem des allgemeinen Störniveaus und Geräuschpegels ist im Übrigen unabhängig von dem Umstand, dass die Zuschauer sich während der Aufführung vermutlich körperlich-expressiv engagierten – es spricht einiges dafür, dass sie diesbezüglich den anders konditionierten Theaterbesuchern der Moderne nicht entsprechen.17 Von einem Bedürfnis nach Ruhe während der Aufführung der Spiele wird auch deshalb ausgegangen, weil ihnen grundsätzlich eine liturgische oder Andachts-Funktion zugeschrieben wird. Diese Andachtsfunktion wird mit dem theatralen Charakter der Spiele kontrastiert und gehört zu ihren konstitutiven ‚Ambivalenzen‘.18 Auch dies ist durch den Wortlaut der Spieltexte zu stützen, so durch häufige Aufforderungen zu Memoria, Umkehr oder Gebet. Die Annahme, dass Andacht, Ein 14 Bekannt wurden insbesondere die Arbeiten von Enders 1999 und 2002. Instruktiv für den Zusammenhang von Rolle und Rollenträger ist Freise 2002.  15 Gerade die Rolle der Proklamatoren ist komplex, vgl. dazu Ehrstine 2007.  16 Ehrstine 2012, hier 311.  17 Auch dies ist das Thema von Ehrstine 2012. Vgl. außerdem Fischer-Lichte 2007, hier 5f.: „Es wird offensichtlich davon ausgegangen, dass Theater durch eine strikte Trennung der Darstellervon der Zuschauerrolle charakterisiert sei, dass eine klare Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern gezogen sei, so dass die Zuschauer das Spiel nicht zu beeinflussen vermögen. Nun ist, wie ein einziger Blick sowohl auf das Theater der Gegenwart als auch in die Theatergeschichte erweist, eine solche Voraussetzung keineswegs generell, ja, noch nicht einmal in der Mehrzahl der bekannten Fälle gegeben.“  18 In Anlehnung an Warning 1974.

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gedenken und in letzter Instanz Sakralität vor allem durch Stille zu erzielen seien, beruht allerdings erneut auf der nicht unproblematischen Voraussetzung einer größtmöglichen Zurückhaltung der Zuschauer. Um historische Möglichkeiten zu ermitteln, eine sakrale Stimmung im Rahmen des geistlichen Spiels herzustellen, sind – neben der letztlich schwer zu verifizierenden Hypothese, dass die Zuschauer entsprechend disponiert zur Vorführung kamen –19 deshalb verschiedene Inszenierungsstrategien in Betracht zu ziehen. Dass Sakralität nicht nur durch den Eintritt in abgegrenzte Räume entsteht, sondern als ‚raumatmosphärischer Stimmungswert‘ an unterschiedlichen, auch temporär errichteten Orten wie einer Spielbühne erzeugt werden kann, darauf ist in letzter Zeit hingewiesen worden.20 Bei der mittelalterlichen sogenannten Simultan-Bühne, die vielfach zu allen vier Seiten offen und einsichtig ist und auf der die Spielträger die Bühne für die Dauer der Aufführung nicht wieder verlassen, sondern sich auf verschiedene symbolisch angeordnete loci zurückziehen, handelt es sich zudem um einen abgegrenzten, aber nicht per se um einen sakralen Raum. In meinen folgenden Überlegungen zu den Präfigurationen des Heidelberger Passionsspiels möchte ich zeigen, dass Sakralität mit ihnen in erster Linie weder durch das Medium der andächtigen Ruhe, der Ruhigstellung der Körper oder des Raums hergestellt werden soll, noch durch eine Stillstellung von Zeit, wie sie in den Tableaux des Oberammergauer Passionsspiels suggeriert wird. Dabei setze ich ein Verständnis von Sakralität voraus, das auf der Konstitution eines bestimmten Zeitbewusstseins im Raum beruht, genauer: auf einem Wissen um die heilsgeschichtliche Relevanz oder heilsgeschichtliche Geltung einer mit theatralen Mitteln repräsentierten Handlung. Es geht im Heidelberger Passionsspiel wie auch im Oberammergauer Passionsspiel darum, durch Wort bzw. Text, darstellerisches Spiel und Deutungsappelle an die Zuschauer den Raum der Bühne zum Medium einer intensiven Verdichtung verschiedener Zeitebenen werden zu lassen. Dabei kann ich in vielfältiger Weise an die intensive Spielforschung der letzten Jahre anschließen. In ihr wurde etwa gezeigt, dass die heilsgeschichtliche Geltung des Geschehens und ein damit verbundenes Zeitempfinden sowie liturgienahe Präsenzeffekte sich bei der Aufführung eines geistlichen Spiels nicht automatisch einstellen, sondern der rhetorischen und inszenatorischen Unterstützung bedürfen.21 Es ist nicht gerechtfertigt, für die Spiele eine undifferenzierte Rezeptionshaltung vorauszusetzen, wie Reiner Schmid dies in seiner bereits in der Mitte der 70er Jahre erschienenen wichtigen Studie zu Raum, Zeit und Publikum des geistlichen Spiels getan hat. Schmid zufolge war „dem räumlich gebundenen Zeitbewußtsein des  19 Vgl. Ehrstine 2012, 311: „The great majority of participants understood that the grace offered by performances was contingent upon a devout disposition […]“.  20 Vgl. Jäggi 2007. Paradox ist die Entwicklung der Kirche als heiliger Raum nach Jäggi deshalb, weil die frühen Christen – aufgrund ihrer spezifischen Situation im 1. Jh. nach Chr. in Palästina, in der sich die Beziehungen zwischen Juden und Christen grundlegend verschlechterten – sich ursprünglich gerade nicht an spezifische Räume gebunden haben.  21 Dies zeigen, bei unterschiedlichen Ansätzen im Einzelnen, Petersen 2004[a]; Ehrstine 2007; Koch 2007a.

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mittelalterlichen Menschen ein Empfinden zeitlicher Distanz und damit ein ausgeprägtes historisches Bewußtsein fremd […] zeitliche Abstände, auch solche von immenser Dauer [konnten] einfach verschwinden“.22 Dagegen sprechen spielimmanente Inszenierungsstrategien, die sich aus den überlieferten Spieltexten rekonstruieren lassen: feierliche Auf- und Abgänge der Spielträger, Publikumsanreden und -appelle, Wechsel zwischen verschiedenen Tempusformen auf der sprachlichen Ebene, Rahmung und Exegese der theatralen Handlung durch Kommentare der Proklamatoren. Vielfach scheint Zeit nicht horizontal voranschreitend oder logisch-sukzessiv repräsentiert, sondern in einer vertikalen Tiefendimension angeordnet, die auf Wiederholungen oder ‚Verdoppelungen‘ beruht: In ihnen wird ein Vorgang gleichsam in immer neuen Anläufen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Begründungen zur Geltung gebracht.23 Die Verschaltung verschiedener Zeitebenen im Raum: gegenwärtige, historische, liturgische, heilgeschichtlich-eschatologische Zeit,24 gilt allgemein für das geistliche Spiel als konstitutiv. Zwei allgemeine Strategien lassen sich jedoch unterscheiden. Die Zeitebenen können ‚verschmolzen‘ werden zu zeitlicher Simultaneität,25 oder kontrastiert zur Spannungserzeugung. Eine solche hat Elke Koch am eschatologisch ausgerichteten Weltgerichtsspiel nachgewiesen, in dem die Ereignishaftigkeit der Aufführung zur Antizipation von Künftigem in Kontrast tritt.26 Dies gilt jedoch umgekehrt auch für das Einholen einer historisch-heilsgeschichtlichen Dimension des Geschehens, wie sie im Heidelberger Passionsspiel vorliegt. Es handelt sich um eine spezifische Form der „Memoria, die im Rückgriff auf die Vergangenheit zugleich den Ausgriff auf die Zukunft und die Verwandlung des Zeitlichen ins Überzeitliche perspektiviert“.27 Mit dieser Wirkungsabsicht steht das Heidelberger Passionsspiel dem Fronleichnamsspiel nahe, dem es um „die Vermittlung exemplarischer Aspekte der Heilsgeschichte“ zu tun ist;28 allerdings setzt es anders als das Fronleichnamsspiel dabei in besonderem Maße auf theatrale Handlung. Die Präfigurationen des Heidelberger Passionsspiels und die Techniken ihrer Relationierung mit dem Passionsgeschehen sind außerordentlich vielgestaltig und wären in dieser Hinsicht einer eingehenden Untersuchung wert. Sie sind von unterschiedlicher Länge – teils sehr lang – und kontrastieren das neutestamentliche Geschehen in keiner dem Oberammergauer Passionsspiel vergleichbaren klaren Form. Dies liegt daran, dass die alttestamentliche Handlung jeweils die Bühne ‚übernimmt‘ und das entsprechende Geschehen weitgehend als mimetisches Spiel aufführt. Erst gegen Ende tritt ein alttestamentlicher Prophet vor, erklärt dem Pub­ likum, wo in der Bibel die jeweilige Szene zu finden ist und wie sie sich auf die direkt anschließende Episode aus Jesu Leben bezieht, und schafft damit einen  22 Schmid 1975, 71.  23 Vgl. Eming 2007.  24 Kiening 2007, 154.  25 Vgl. Wolff 1929; Eming 2007.  26 Vgl. Koch 2007b, 234–262.  27 Kiening 2007, 149.  28 Kiening 2007, 154.

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Übergang zur wieder einsetzenden Passionshandlung. Je näher die Passionshandlung ihrem Höhepunkt kommt, nämlich der Kreuzigung, desto höher wird die Dichte der eingefügten alttestamentlichen Episoden. Die theatrale Neigung des Heidelberger Passionsspiels zeigt sich auch an der Selektion der alttestamentlichen Szenen. Einige zentrale Episoden, deren Bezug zum Neuen Testament besonders sinnfällig wird und die das Oberammergauer Passionsspiel aufnimmt, sind im Heidelberger Passionsspiel nicht vertreten – zum Beispiel die Vertreibung aus dem Paradies, der Auszug aus Ägypten, die Opferung Isaaks. Dafür erscheinen im Heidelberger Passionsspiel Episoden „aus den kanonischen und apokryphen Büchern des Alten Testaments“, die „im 16. Jahrhundert zu den beliebtesten Stoffen der dramatischen Literatur [gehören].“29 Zu diesen im Spielbetrieb des 16. Jahrhunderts prominenten Geschichten zählen die um Joseph und Susanna, die beide im Heidelberger Passionsspiel in einiger Länge zur Darstellung kommen.30 Dabei werden, wie ich im Folgenden zunächst an der Josephs-Geschichte zeigen möchte, signifikante Akzente gesetzt.31

2. Traumdeutung und antijüdisches Ressentiment: Die Praefiguratio um Joseph und seine Brüder Sequitur prefiguracio vendicionis Cristj a Iuda pro driginta denarijs  Silete. Ioseph stett vff vnnd spricht zcu seinen bruderenn:  Audite sompnum meum: Putabam nos ligare manipulos in agro – Genesis xxxvij˚. Ich bin ewer bruder, Ioseph genantt, vnnd vch bruderenn all woll bekandt. wie woll ir mir seyt allsampt feindt, so sagenn ich doch, mir ist gedramet heyntt vnnd duchtt mich inn meinem synnen, wie wir all inn einem acker gingenn  29 Kartschoke 1988, 79.  30 „Isaak und Judith, Joseph, Tobias und Susanna erfreuen sich der Aufmerksamkeit nicht nur des lateinischen wie des deutschen Schuldramas, sondern auch des ‚Bürgerspiels‘ in der Tradition des spätmittelalterlichen geistlichen Schauspiels.“ Kartschoke 1988, 79.  31 Aufschlussreich ist die Geschichte der Einrichtung des entsprechenden Tableaus im Oberammergauer Passionsspiel. Shapiro artikuliert heftige Kritik an den Inszenierungskonventionen bis in die 80er Jahre hinein: Das Bild orientiere sich am Klischee des geldgierigen Juden, dem Gold über Menschenleben gehe, vgl. Shapiro 2000, 111f. Für die Aufführung von 2000, für die ebenfalls bereits Christian Stückl als Regisseur und Otto Huber als Dramaturg verantwortlich zeichneten, wurde es ganz gestrichen; die Inszenierung von 2010 zeigt nicht mehr den Verkauf Josephs durch die Brüder, sondern präsentiert Joseph als König von Ägypten. In Shapiros Buch und in der Film-Dokumentation von 2011 wird ausführlich darauf eingegangen, dass Vertretern jüdischer Organisationen, insbesondere der American Anti-Defamation League (ADL) und dem American Jewish Committee (AJC), seitens der Oberammergauer Spielleitung ein Mitspracherecht bei der Szeneneinrichtung eingeräumt wird. Wie auf der Website beider Organisationen nachzulesen ist, gelingt es trotzdem nicht immer, zu einem für beide Seiten zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen: Beide distanzieren sich ausdrücklich von der 2010er Inszenierung.

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vnnd bundenn garben zcusamenn, vnnd mein garb wer vff gestannden vnnd ewer, die vmb mein garb stunden, die selbenn neichtenn sich vnndenn vnnd betthent all mein garb ann. solichs ich im drawm gesehenn hann. (V. 2823–2834)32 Leui antwortt:   Numquid rex noster eris? Aut subiciemur dicionj tue? Nu sag vnns allenn hie on scham, was sall dir bedewtten der drawm? meinstu nitt vff diesser erdenn vnnser aller konig zcu werdenn, oder meinstu onn allenn spott, wir sollenn vnderthenig sein deinem gebott? (V. 2835–2841)

Durch die Text- und Szeneneinrichtung der neuen synoptischen Ausgabe des Heidelberger Passionsspiels von Johannes Janota wird die häufig beschriebene Tendenz zur Rahmung des theatralen Spiels durch die Konstituierung einer liturgienahen Atmosphäre einsichtig: Dazu zählt neben den Silete-Rufen die typische Verdoppelung der ersten Teile der jeweiligen Sprechersequenzen in Latein. Darüber hinaus zeigen sich Verschaltungen von Zeitebenen und Sprecherinstanzen, da Joseph kurzfristig den Part einer auktorialen Erzählinstanz übernimmt und sein Wissen darüber preisgibt, dass seine Brüder ihm schon längst feindlich gesinnt sind. Es handelt sich um ein Wissen, über das er in der Bibel gar nicht verfügt und das seiner üblichen Figurenzeichnung als somnambuler Gestalt auch wenig entspricht. Etwas später heißt es in der gleichen Szene: Iacob, der vatter, spricht: Quid tibi vult hoc sompnum? Num ego et mater tua Ioseph, lieber soen, antwortt mir, was bedewdtt diesser drawm dir? bedewdtt er, das dein mutter vnnd ich, dar zcu auch dein bruder sicherlich, sollenn dich vff diesser erdenn annbethenn, ehe wir sterbenn? (V. 2849–2854)

Die Replik von Josephs Vater Jakob bietet ein Beispiel für die große Rolle, die das Thema des Deutens und Bedeutens nicht nur für die Josephs-Geschichte spielt, sondern das auch sonst im Heidelberger Spiel immer wieder explizit benannt wird.33 Wann immer die Szenen-Konstellationen es erlauben, erfolgen Appelle an Erken 32 Zitate nach der Ausgabe Heidelberger Passionsspiel, Janota 2004.  33 Vgl. V. 2291f.; zur Auferweckung des Sohns der Witwe von Sarepta: O du gottes mann, Helias, / was bedeutt dir vnnd mir das?; V. 2687f., zum Einzug in Jerusalem: Wie sintt ir so freuelich lewtt. / oder sagennt mir, was das bedewtt; V. 2791–2798: Simon soll das Kaufmannsexempel deuten.

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nen, Glauben oder Sehen;34 auch das Thema der Zeichen und Wunder wird akzentuiert.35 Häufig geht es in den Dialogen der Figuren, insbesondere in den Dialogen mit und über Jesus um Sehen und Erkennen, es erfolgen jedoch auch direkte Appelle an das Publikum, richtig zu sehen. In allen Fällen geht es darum, Geschichte und Heilsgeschichte in das Hier und Jetzt der Aufführung einzuholen. Im Zusammenhang dieser Techniken ist ferner auf interne Verschmelzungen der Zeitebenen hinzuweisen. An der Josephs-Praefiguratio ist sie an der Form zu be­ obachten, in welcher der Verrat der Brüder an Joseph gestaltet wird. Die Brüder sind, der biblischen Geschichte folgend, auf Joseph eifersüchtig, weil er der Lieblingssohn ihres Vaters Jakob ist. Durch seine Träume, in denen sie einen Machtund Herrschaftsanspruch zu erkennen meinen, werden sie zusätzlich angestachelt. Sie beschließen deshalb, Joseph heimlich zu ermorden, um dann von dieser Absicht wieder abzurücken und ihn stattdessen an ismahelitische Kaufleute zu verkaufen. Einer der Brüder nun, die Josephs Verkauf aktiv betreiben, heißt Judas (Juda in der Bibel). Während er Joseph an der entsprechenden Stelle der Bibel für zwanzig Pfennige verkauft, rechnet das Passionsspiel die Summe in dreißig Silberlinge um. Die Selektion der alttestamentlichen Präfigurationen erfolgt also auch mit Blick auf Gelegenheiten, Binnen-Paradigmen zu errichten und durch leichte Umarbeitungen noch zu unterstreichen (Genesis, Kap. 7). Auch die Verkaufsgespräche zwischen den Ismaheliten und Judas spielen für die Verknüpfung von Zeitebenen eine wichtige Rolle: Der Ismaheliter zellett die pfenning vnnd sprichtt: Deß halbenn habtt guttenn mudtt, dy xxx pfenning sintt alle gutt. sehett hin, das ist einer, zwenn, drey, iungher, kom her zcu mir er bey. vier, funff, sechs, siebenn, echtt, die zcall ist zwar gerechtt. der sintt newen, der sintt zcehenn, es will sich der bezcallunng nehenn. eylff, zwelff, xiij etc., xxx mit schall, sehtt hin, nu habtt ir die pfenning all. (V. 2953–2962)

Durch Aus- und Aufführung des Verkaufs werden weitere Zeitebenen konstituiert. So verschmilzt durch die Insistenz, dass Judas genau 30 Geldstücke abgezählt werden, die historische mit der zeitgenössischen Negativ-Figur des geldgierigen jüdischen Pfennigfuchsers, darüber hinaus hat das aktuelle Durchzählen der Summe  34 Vgl. V. 2311f.: Nu erkennen ich zcu dieser frist, / das du einn man gottes bist; V. 2457f: Martha, hann ich dir nit gesaigt an spott, / glawbstu, so sichstu die ere vonn gott?; V. 5908f.: O ir mann vnnd frauwenn / alle, die do iczundt schauwenn.  35 Vgl. V. 4669: kannstu zeychenn vnd wonnder / die saltu hy treybenn besunder; V. 5467f.: Nu sehent, ist das der gottes sonn, / der das groyß zeychen woltt thun?; V. 5483f.: Freundt, sag mir, bistu gottes sonn, / so magstu zwor vill zeychen thonn. Auch die Praefiguratio zu Moses und der ehernen Schlange ist für dieses Thema besonders relevant, vgl. V. 5229f.

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eine performative Dimension, welche den Verkauf in die Präsenz einholt und zum Ereignis werden lässt. Der Josephs-Praefiguratio korreliert zwei Szenen weiter, und damit wieder auf der Ebene des Passionsspiels, die Pfennigfuchserei von Judas gegenüber den Hohepriestern. Mosche antwortt: Dreyssigk pfenning wollenn wir gerenn geben vnnd wollenn nitt dar widder strebenn. sehe hin, do haistu der pfenning eyn, so ist das der ander, denn ich meyn. sehe hin, nu hoistu ir woll drey, der viertt muß auch dar bey. sich, der sintt funff, sechs, siebenn. haltt, ich will mehe her fur schiebenn. ist die zcall ganntz gerechtt, so sint der pfenning nu woll echtt, der sint newn, der sintt zehenn, du bedarffts dich nit vast blehenn. (V. 3131–3142) Iudas antwortt: Meinstu, das ich vmb sonst sthee hy bey? ich muß ye sehenn, ob das geltt gutt sey. wie, haistu denn nu den rittenn? sichstu nitt, das diesser ist beschnitten? (V. 3143–3146) Mosche antwortt: Hey, ist er woll einn wenig zcu clein, er gett doch hin inn der gemein. der sinnt xj, xij, xiij, xiiij, xv, sechßzehen. sich, den saltu auch nitt verschmeen. sich, do hoitt der einn clein schartt, du bist aber doch woll mit bewartt. (V. 3147–3152)

Es geht in den Szenen mit ‚Präfigurationen‘ also ebenso wie in denen mit ‚Figurationen‘ bzw. in der thematischen Verklammerung beider darum, an Handlungen und Äußerungen der Darsteller, durch Allusionen, Responsionen, Reprisen und Parallelen zwischen den Spielebenen heilsgeschichtliche Konstellationen sichtbar zu machen. Der Anspielungsreichtum erschöpft sich dabei jedoch nicht in typologischen Bezügen: In der vorliegenden Szene wird neben dem Exempel des in die Betrachtung der Beschaffenheit der Geldstücke verlorenen jüdischen Schächers auch der Gegensatz zwischen Materialität der Verräter und einer Spiritualität behauptet, die ihnen nicht zugänglich ist.

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3. Der ambivalente Salvator der Iob-Präfiguration An der Iob-Szene des Heidelberger Passionsspiels ist an den Gelenkstellen zwischen Präfiguration und Figur von Schmid ein Moment des ‚Übergreifens von der ersten zur zweiten Spielsphäre‘ benannt worden, welches er als ‚Erstarrung‘ auffasst.36 Damit bezieht er sich auf die Hinführung zur Handlung des Alten Testaments, die im Heidelberger Passionsspiel so verläuft, dass der Jesus-Darsteller von einer auf die nächste Zeitebene gleichsam mitgenommen wird. Der Iob-Szene geht eine bekannte Station aus der Passion voraus, in der sich Jesus in der Gewalt der Soldaten befindet, die ihn im Haus des Caiphas quälen und verspotten. Unter anderem werden Jesus die Augen verbunden und er soll, in Verhöhnung seiner prophetischen Kräfte, trotzdem identifizieren können, wer von den Männern ihn schlägt. Am Ende der Szene heißt es in der Bühnenanweisung: Die Iudden stellenn sich bey Caiphas. Ihesus bleybtt siczenn verbundenn. Dann setzt die Iob-Präfiguratio ein: Sequitur prefiguracio flagellacionis Cristj  Silete. Lucifer leyfft vß der hellenn mit den tuffelenn […] Der Saluator sprichtt:   Ecce, vniuersa que habet, in manu tua sunt. Sathanas, nym war, was ich dir sage, vnnd vermerck mein wortt an diessem tag. alles, das Iob hoitt inn seinem behaltt, das gebenn ich dir inn deinen gewaltt. machs alles nach deinem gefallenn. sein hab vnnd gutt saltu schallen vnd wallen, auch sein kinder vnnd weyp. allein saltu schonen seinen leyp, denn saltu loyssenn sauber vnnd rein. das gebiettenn ich dir allein, du saltt dein handt nitt strecken vber in, das sagenn ich dir. nu far do hin. (4151–4162)

Solchermaßen von Gott autorisiert, verliert Iob durch die Wütereien Satans zunächst Haus, Hof und sein gesamtes Vieh sowie alle seine Kinder. Schließlich wird Satan von Gott ausdrücklich die zunächst verweigerte Erlaubnis erteilt, Iob körperlich zu quälen. Iob wird daraufhin von Satan gegeißelt. Als er trotz allem immer noch an seinem Glauben festhält, wendet seine Frau sich von ihm ab. Seine Freunde suchen ihn auf, bemitleiden ihn, doch ermutigen ihn zugleich, in seinem Glauben nicht nachzulassen. Der Sinn der Praefiguratio um Iob und sein Bezug zur Passion werden im Allgemeinen im Thema der unverdienten Qual gesehen, die sowohl Iob zu erleiden hat

 36 Vgl. Schmid 1975, 72.

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als auch Christus.37 Der Epilog des Propheten Jesaja zu der Szene macht die Parallele explizit: sollich leydtt Iob inn grosser gedoltt vnnd wartt vber sein leyb geslagenn mitt grosser kranckheytt vnnd plagenn, als das Iob selber beschreybenn ist. also wertt ir sehenn zcu diesser frist, wie Pilatus verhengtt seinen knechtten, das sie rudenn vnnd geysselnn flechtten vnnd zcuslagenn Ihesum seinen leyb, das nichts ganntz an im beleybt. sollich leitt Ihesus in gedultigkeytt, als die ewangelistenn da vonn thun bescheydtt. dar vmb schweygent stiell, habenntt rwe vnnd sehennt diessenn dingenn ebenn zcw. (V. 4502–4514)

Gleichsam unterhalb der offenkundigen Parallele, die auch in der gerade zitierten Passage gezogen wird, werden in der Binnen- und Feinstruktur der Darstellung durch den extremen Kontrast zwischen der Figur des Jesus, die mit verbundenen Augen aus einer Szene des Passionsspiels übernommen, und der des Gottvaters, in die er in der folgenden Szene überführt wird, subtilere Verknüpfungen zwischen Stationen der Heilsbotschaft hergestellt. Aus der Bühnenanweisung geht hervor, dass es sich um ein und denselben Darsteller handelt, der eine Szene des Passionsgeschehens in der Rolle des gepeinigten und verspotteten Jesus beendet, indem er mit verbundenen Augen am Tisch Platz nimmt, und in der direkt anschließenden Szene in eben dieser sitzenden Position mit immer noch verbundenen Augen die beinahe umgekehrte Rolle des überlegenen, scheinbar willkürlichen Gottes übernimmt, der mit Satan eine Wette um die Standfestigkeit Iobs eingeht und sich dafür ein Spiel um die Emotionen eines seiner frommsten Anhänger liefert. Dass der identische Spielträger kurz hintereinander zwischen beiden extremen Rollen wechselt, ist nach Auffassung von Schmid nicht weiter erklärungsbedürftig: Die Figur des Salvators sei „hier wie in allen Spielen eine dogmatisch zu interpretierende Figur, die je nach der Situation, Christus auf Erden oder Gott ganz allgemein bedeuten kann. Und zum anderen nimmt der mittelalterliche Zuschauer […] ja nur die gerade stattfindende Handlung als im Augenblick gegeben und aktuell wahr.“38  37 Grundsätzlich weist dieses Thema so, wie es an Hiob exemplarisch wird, über typologische Bezüge weit hinaus auf ältere Überlieferungszusammenhänge, die in jüngster Zeit in interdisziplinärer Perspektive erörtert wurden, so im Juni 2012 während einer Tagung des Potsdamer Einsteinforums: Hiobs Botschaften – Reflections on the Book of Job. Das biblische Hiobbuch steht durch Prolog, Epilog und einen ausführlichen Dialog zwischen Hiob und Gott im Kontext altorientalischer, jüdischer und altgriechischer Diskurse über Gotteserkenntnis, göttliche Gerechtigkeit und den Sinn menschlichen Leidens. Vgl. dazu auch Witte 2012.  38 Schmid 1975, 73.

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Aber es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Gestalt des dreifaltigen Gottes hier kurz hintereinander in einer extremen Spannbreite entfaltet wird – eben noch als physisch hilfloser, von den Schächern gedemütigter Gefangener auf dem Wege zum Tiefpunkt seiner Passion, jetzt als mächtige, ja willkürliche Herrschergestalt, die mit Satan ein sadistisch anmutendes Spiel um das Schicksal eines ihr treu ergebenen Menschen treibt. Die Verknüpfung solcher konträrer Wirkweisen Gottes steht im Dienste eines übergreifenden Anspruchs an Darstellungsstrategien des Passionsspiels: die Doppelnatur Christi als Gott und Mensch und seine daraus resultierenden Positionen zwischen Überlegenheit und Ohnmacht ständig präsent zu halten. Es gehört zu den größten Herausforderungen der Inszenierungsstrategien geistlicher Spiele, dieser Ambivalenz Rechnung zu tragen und sie auch noch in die Stationen der Passion zu integrieren, in denen Jesus zum gepeinigten Opfer wird.39 Auch damit wird eine heilsgeschichtliche Dimension eingeholt, die Auferstehung und ewige Herrschaft Christi. Indem die Szenenfolge des Heidelberger Passionsspiels über das je anders zu kontextualisierende Symbol der verbundenen Augen eine Erscheinungsform unmittelbar auf die andere folgend abbildet, verweist sie auf die Machtfülle, die Christus wieder erlangen wird, schon voraus. Weit entfernt davon, in den Bezugnahmen zu ‚erstarren‘ (Schmid), hält sie diese flexibel und in gewissem Maße offen.

4. Offenheit als Konstituente des Heidelberger Passionsspiels Wird dem bislang vorgeschlagenen Deutungsmuster zu Präfigurationen und Figurationen als multiplen Sinnangeboten zur Konstitution von Sakralität gefolgt, welche die Rezipienten auf verschiedenen Ebenen einbeziehen, ist ein Problem des Heidelberger Passionsspiels tangiert, das nicht zuletzt die Frage seines medialen Status’ betrifft: das vermeintlich offene Ende. Der letzten Präfiguration zu Jonas im Bauch des Wals nämlich korreliert keine entsprechende Figur im Passionsgeschehen. Zu erwarten gewesen wäre hier die Darstellung der Auferstehung. Es war unter anderem diese Besonderheit, die zu der These geführt hat, dass die überlieferte Handschrift keinen Aufführungs-, sondern einen Lesetext repräsentiere.40 Zuletzt hat Elisabeth Meyer die zwei wesentlichen Argumente, welche belegen sollen, dass es sich beim Heidelberger Passionsspiel um einen Lesetext handelt (Überschriften über jedem Spielabschnitt und lateinische Bibelzitate mit Quellenangaben),  39 Ein wichtiges Mittel für die theatrale Repräsentation solcher Ambivalenz ist die Relationierung von Sprechen, Schweigen und Gewalt, vgl. dazu Eming 2008.  40 Vgl. Meyer 2001, hier 148. Die Abschrift des Heidelberger Passionsspiels wurde 1514 von Wolfgang Stüeckh möglicherweise im Auftrag eines in der Handschrift genannten Auftraggebers, Konrad von Waldeck-Yben, angefertigt. Der Text ist in rheinfränkischem Dialekt geschrieben, möglicherweise mit Mainzer Einschlag. Mainz gilt als sein Herkunfts- und eventueller Aufbewahrungsort, wobei für die Jahre 1498, 1504 und 1510 tatsächlich Passionsspielaufführungen für Mainz belegt sind (Meyer 2001, 148). Sein Titel verdankt sich allein seinem heutigen Aufbewahrungsort.

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allerdings einer kritischen Revision unterzogen und als nicht stichhaltig bezeichnet.41 Wie Ehrstine bemerkt, sind der Präfiguration selbst schon hinreichende Interpretamente inhärent, welche die Inszenierung der Auferstehung selbst in gewisser Weise entbehrlich machen: „Hier […] werden […] die durch die Marterszenen aufgerüttelten Gemüter durch das Beispiel des Jonas beruhigt, der nach drei Tagen im Bauch des Walfischs freikommt und somit auf die Auferstehung des Herrn vorausweist.“42 Es kommt hinzu, dass die Absenz des Corpus Christi in Liturgie, Spiel und ihren Übergangsformen ein eingeführtes Mittel darstellt, in paradoxer Weise seine Präsenz gerade zu thematisieren.43 Die Abwesenheit des Corpus Christi am Ende des Heidelberger Passionsspiels lässt sich vor diesem Hintergrund als eine kompositionelle Entscheidung begreifen, welche die Imagination der Rezipienten bewusst mobilisiert. Dafür spricht auch, dass der Spieltext mit den Szenen der Bestellung der Grabwache und der Gefangennahme des Joseph von Arimathäa endet, in denen wiederholt die Gefahr angesprochen wird, dass der Leichnam Jesu entwendet werden bzw. Joseph sich befreien könnte, weshalb beide Stätten besonders gesichert werden müssten (V. 5926–6125). Die letzte Regieanweisung des Spiels, welche die Übergabe des Gefängnisschlüssels an Caiphas beschreibt, wird so zu einem hochgradig symbolischen Akt, in dem eine verblendete weltliche Macht sich der Illusion hingibt, heiliger Körper habhaft werden zu können. Der Spieltext des Heidelberger Passionsspiels, wie immer performativ realisiert – ob als private Lektüre oder als kollektive Aufführung –, weist damit eine konstitutive Offenheit auf und rechnet mit einem Publikum, das eigene imaginäre Anteile in die Bedeutungserzeugung investiert. Wenn an die vielen Möglichkeiten eines körperlichen oder kinästhetischen Mit-Vollzugs von Lektüre und Aufführung gedacht wird, stellen die Verhältnisse sich noch komplizierter dar.44 Eine strikte Abgrenzung zwischen Lesetext und Aufführungstext ist, wie die Spielforschung auch schon seit einer Reihe von Jahren betont,45 also ähnlich obsolet wie eine strikte Entgegensetzung von öffentlichen und privaten Räumen. Es ist denkbar, dass das Manuskript des Heidelberger Passionsspiels nicht nur als Konzept für einen Aufführungstext gedacht war,46 sondern dass es darüber hinaus um 41 So sind Bibelverweise nur sporadisch eingefügt, finden sich typisch dramaturgische Texteinrichtungen wie „etc.“, an zwei Stellen Fragezeichen, was für einen Konzepttext spricht. Darüber hi­ naus sind lateinische Angaben für einen durchgängigen Lesetext ungewöhnlich. Schon Schmid 1975, 21, weist darauf hin, dass die Abschrift von 1514 mit einer Bühnenanweisung beginnt, die bereits ein Gerüst voraussetzt.  42 Ehrstine 2007, 78.  43 Vgl. zu diesem Aspekt besonders Petersen 2004[b].  44 So generell das Thema von Ehrstine 2012.  45 Dies diskutiert zuletzt Ehrstine 2012, 316f. Vgl. auch Kiening 2007, 147, zur „prinzipielle[n] Ereignishaftigkeit eines Vollzugs, der dem Text eingeschrieben ist: in seinen sprachlichen, dialogischen und szenischen Dynamiken, seinen präsentativen, evokativen und signifikativen Dimensionen, seinen syntagmatischen und paradigmatischen Spannungen“. Spieltexte sind „selbst in ihrer materiellen Realisierung nicht zu trennen von der imaginativen Dimension, in der sie sich ‚abspielen‘“ (Kiening 2007, 149).  46 So die ältere These von Milchsack, für die Meyer 2001, 159, noch einmal plädiert.

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gekehrt als Skript für eine private Andacht benutzt werden konnte,47 wodurch nicht zuletzt die Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Andachtsräumen verwischen. Die ‚Raumbühne‘ des Mittelalters,48 so Reinhard Schmid, „ist eine Bedeutungsbühne“.49 Sie wird zu einer solchen ‚Bedeutungsbühne‘ jedoch weder durch mimetisches Spiel allein noch durch Reminiszenzen an liturgische Vollzüge, sondern durch eine spezifische Verschaltung von Zeit und Raum auf der Basis unterschiedlicher Inszenierungsstrategien. Am Heidelberger Passionsspiel wird gleichsam unterhalb des evidenten typologischen Deutungsmusters von Präfiguration und Erfüllung auf Mikroebenen der Handlung über Binnenbezüge Bedeutung konstituiert. Damit ergehen ständige Appelle an die Fähigkeit der Zuschauer zum Mitvollzug dieser Bedeutungsproduktion. Dadurch wird Konzentration gebunden, aber nicht unbedingt Ruhe hergestellt, Partizipation ermöglicht, aber sicher keine fraglose Gültigkeit behauptet, wie durch die Sistierung des Geschehens zu einem einprägsamen Lebenden Bild – wie im Oberammergauer Passionsspiel. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Rekurs auf Präfigurationen im Oberammergauer Passionsspiel und im Heidelberger. Wo das Oberammergauer Passionsspiel gleichsam keine Fragen mehr zulässt, sondern Geschehen zum Andachtsbild einfriert, hält das spätmittelalterliche Passionsspiel durch die Formen der Umsetzung von Präfiguration und Figuration in Handlung diese offen für Deutungen, Bezüge, und die Erkenntnis heilsgeschichtlicher Konstellationen – eine Form aktiver, partizipierender Frömmigkeit, die der Zuschauer mit nach Hause nehmen kann.

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 47 Vgl. Ehrstine 2012, 318.  48 Vgl. Schmid 1975, 50.  49 Schmid 1975, 51.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Vertreibung aus dem Paradies. Copyright Bilder Oberammergauer Passionsspiele 2010 / Foto: Brigitte Maria Mayer. Abb. 2: Judaskuss. Copyright Bilder Oberammergauer Passionsspiele 2010 / Foto: Brigitte Maria Mayer. Abb. 3: Privat.

Carla Dauven-van Knippenberg

Der Papst ist schwanger Ein Raum für religiöses Tauziehen? Reading Dietrich Schönberg’s Spiel von Frau Jutten with its preface and epilogue, this article discusses how ideas of the Reformation are imposed by the paratext on the Catholic elements expressed in the play. Based on the composition, it can be demonstrated how the Catholic text in dialogues, called the play text (Spieltext), is transformed by these operations into a text for reading (Lesetext), promoting ideas of the Reformation. The purpose of this medial transformation is to be identified in the construction of a polemical affective space. The deconstruction of the Catholic and the construction of the Protestant perspective relies less on the mere reproduction of the Catholic play as a pamphlet associated with such paratexts, but rather on the fact that the „Spieltext“ is entirely tailored to suit the religious polemic.

I. Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte in Engelland. Es war sehr klug, studierte viele Jahre und wurde schließlich Papst. Mit diesen Zeilen könnte ein Märchen zusammengefasst sein, doch wird es zum erwarteten Happy-End „So lebte sie noch lange und glücklich …“ nicht kommen. Es handelt sich um die abenteuerliche, seit dem ersten Chronikbericht im 13. Jahrhundert bis in die heutige Zeit immer wieder neu gefasste Narration über eine Frau, die Päpstin – Peter Stanford spricht von einer She-Pope – wurde.1Nach der Darstellung des in meinem Beitrag näher betrachteten Schernbergschen Spiel von Frau Jutten2 ist diese Laufbahn, die Jutta mithilfe der Verstellung ihres Geschlechts einschlagen kann, selbstverständlich nur als Werk des Teufels denkbar. Der erfasst früh den Wissensdrang der jungen Frau und nutzt aus, dass Frauen diesen nicht ohne Weiteres stillen konnten. In Begleitung ihres Freundes absolviert Jutta als Mann unter dem Namen Iohan von Engelland (V.230)3 in Paris ihr Studium, promoviert zum Doktor und begibt sich nach Rom, wo sie ihre Dienste dem Papst    1 Stanford 1998. Die populärwissenschaftliche Abhandlung über die Päpstin wurde auch ins Deutsche übertragen: Die wahre Geschichte der Päpstin Johanna. Berlin 2002. Zum ersten Mal trifft man auf die Päpstin um 1250 beim Dominikaner Jean de Mailly, doch sollte sie noch Jahrhunderte lang die Phantasie vieler Autoren, seien es Dichter, Chronisten, Maler oder Filmemacher, anregen. Etwa kommt sie in Boccaccios berühmtem Werk De claribus Mulieribus (um 1360 entstanden) vor, das Heinrich Steinhöwel ins Deutsche überträgt. Diese Übertragung wurde 1473, mit Holzschnitten versehen, gedruckt. Zu Rezeption und „Vorgeschichte“ der Legende vgl. zuletzt und ausführlich Kerner/Herbers 2010; vgl. auch Gössmann 1998.    2 Benutzt wird die Edition von Manfred Lemmer; vgl auch Linke in 2VL.    3 Die Verszahlen verweisen auf die Edition von Manfred Lemmer [Lemmer Edition].

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anbietet. Dieser weiht die beiden Gelehrten schon nach kurzer Zeit zu Kardinälen und als er stirbt, wählt man Jutta wegen ihrer herausragenden Bildung sogar zum Papst. In dieser Funktion muss sie alsbald eine Teufelsaustreibung vornehmen, was das Ende ihrer Würde bedeutet. Denn dieser ausgetriebene Teufel mit dem passenden Namen Vnversuen verkündet aus Rache: Der Bapst der tregt fuerwar ein Kind (V. 758). Jetzt setzt der im Verhältnis zur Schilderung ihrer Karriere ausführlich gestaltete Abschnitt ein, in dem es für Jutta zur Wende und Rückkehr zu Gott kommt. Und so selbstverständlich Juttas Karriere nur vom Teufel gelenkt möglich war, ebenso selbstverständlich ist es nun, dass die Bekehrung nur mit Hilfe Mariens zu denken ist. Der hier fokussierte Text, der als Spieltext eingerichtet überliefert ist, scheint durch das nachahmenswerte Bußverhalten Juttas dazu geeignet, eine Identität zu gestalten, welche, wie Erika Fischer-Lichte es in ihrer Geschichte des Dramas formuliert, „die Zuschauer als ihre [Hervorhebung CD-vK] künftige Identität be- und ergreifen und entsprechend auch realisieren“.4 Allerdings ist dieses von Grund auf katholische Spiel nur deswegen bewahrt geblieben, weil es als reformatorisches Pamphlet eingesetzt wurde, wie bereits das Titelblatt des Drucks in ironisch-beißenden Formulierungen und Andeutungen überdeutlich verkündet (Abb. 1). Übertragen hieße dieser Text soviel wie: Die Verklärung Johannes VIII., des römischen Papstes. Ein schönes Spiel von Frau Jutten, die Papst zu Rome gewesen ist und aus deren päpstlicher Brust, auf dem Stuhl zu Rom, ein Kind zum Vorschein kam. Vor achtzig Jahren gemacht und geschrieben, jetzt jedoch neu gefunden und aus Gründen, die in der Vorrede genannt werden, in den Druck gegeben. Apokalypse XVIII [18,6f ]. Bezahlt sie, wie sie euch bezahlt hat und gebt ihr doppelt nach ihren Taten, denn sie spricht in ihrem Herzen: Ich sitze und bin eine Königin.

Die auf dem Titelblatt angekündigte Vorrede, in der der „christliche Leser“ über den Grund der Drucklegung mehr erfährt, ist durch den im schlesischen Hirschberg geborenen Hieronimus Tilesius (1529–1566) namentlich unterschrieben.5 Dieser Tilesius war als Eiferer im Hinblick auf die Verbreitung der lutherschen Reformation weithin bekannt.6 Inhaltlich greift die polemische Vorrede drei Punkte auf, die ebenfalls in der 1562 verbreiteten gegenreformatorischen Schrift Christliche Ermahnung des um Ausgleich in der religiösen Polarisierung bemühten Naumburger Bischofs Julius Pflug zur Sprache kamen: die Fürbittfunktion der Heiligen, das Primat des Papstes und das Zölibat. Der Spieltext dürfte den Angaben auf dem Titelblatt zufolge in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts erstellt worden sein. Tilesius’ ausdrücklich antipäpstlich eingestelltes Vorwort nennt auch den Autor des Juttenspiels: der Mespfaffe Theodoricum Schernberck. Dieser sei im Jahre 1480 in einer Reichsstadt – angenommen wird, dass es sich hierbei um Mühl   4 Fischer-Lichte 2010, 10.    5 Lemmer Edition, 89–97.    6 Ausführlich geht Manfred Lemmer in der Einleitung zur Textedition auf die historischen Kontexte ein. Lemmer Edition, 10–15.

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Abb. 1: Dietrich Schernberg, Spiel von Frau Jutten, Titelblatt, Hannover, Landesbibliothek, Signatur V, 227, Blatt A 1 r.

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Abb. 2: Dietrich Schernberg, Spiel von Frau Jutten, Titelblatt, Hannover, Landesbibliothek, Signatur V, 227, Blatt E 4 r.

hausen in Thüringen handelt – als Priester tätig gewesen und habe das Spiel geschrieben. Auch sei es approbiret, dass das Stück aufgeführt gewesen sei.7 Allerdings lassen sich ansonsten keine Belege einer Aufführung des Juttenspiels finden. Auch wurde in der Forschung bisher kaum thematisiert, ob die politisierende und polarisierende Aufbereitung für den Druck mit Texteingriffen im Spieltext selbst einher ging; so wäre beispielsweise zu fragen, inwiefern die Zwischentexte als Bühnenanweisungen oder aber als Szenenüberleitungen für die lesende Rezipientenschaft verstanden werden sollten. Tilesius’ befreundeter Kollege und Gesinnungsgenosse Christoph Irenäus (Mitte 16. Jh.) schrieb für den Druck darüber hinaus noch ein Nachwort.8 Dieses Nachwort schlägt selbstverständlich in die gleiche, antikatholische Kerbe. Doch wo Tilesius die Institution Kirche in seinen Schmähreden fokussierte, ist dies bei Irenäus die Frau. Er setzt in ausgesprochen frauenfeindlichen Tönen Jutta und ihre Kirche in eins mit der Hure von Babylon und trägt weitere unflätige Vergleiche an.

   7 Lemmer Edition, 92.    8 Lemmer Edition, 98–105.

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Nun könnte man meinen, dass die idealtypische Sünderbiographie – wie sich die nach der Art eines Schauspiels9 aufgemachte Darstellung von Juttens Lebenslauf verstehen ließe – durch die Überlieferungslage ad absurdum geführt wäre. Doch man kann sich ebenso gut umgekehrt fragen, ob dieses Teufelsbündlerspiel nicht gerade durch sein hohes Identifikationspotenzial zusätzliche Kampfkraft als antikatholisches, als reformatorisches Pamphlet erhielt. Kann doch Exklusion, Verwerfung oder Ausschließung zwecks Konstruktion von Hegemonien nicht extrem genug durchgeführt werden, um einen wirkungsstarken Affektraum zu kreieren. Durch die mediale Transformation oder auch die Präsentation eines Spieltextes als Lesetext im Druck gibt es eine Veränderung des Raumes, die auch eine Veränderung der Imagination und der mit ihr verbundenen Affekte bedeutet, so dass gewissermaßen ein neuer, nämlich durch Polemik anders aufgeladener Affektraum entsteht. Der Raum des Schauspiels lässt sich durch die simultane Kopräsenz aller dargestellten Orte in der mittelalterlichen Spielpraxis als ein Raum verstehen, der Identifikation anbietet, eine Identifikation, die vom Spieler über die Rolle bis zu den Rezipienten reichen kann. Demgegenüber ist der objekthafte Textraum des gedruckten Spieltextes ein anderer. Er hat andere imaginative und affektive Valenzen. Er ist durch die Paratexte eingerahmt, das heißt zum einen abgegrenzt und zum anderen definiert. Durch die konfessionelle Polemik laden die Paratexte den Imaginationsraum des Spiels, der nur durch Leser ohne weitere realräumliche Wirkungsdimensionen realisiert wird, affektiv auf. Dabei wird die Affektdynamik umgelenkt, von der Identifikation auf die Abgrenzung. Die These, die sich aufstellen ließe, wäre nun, dass der Identifikations- oder imitatio-Appell nicht einfach aufgehoben wird, sondern im Gegenteil in seinem Affektpotential genutzt wird, um durch Verwerfung (reformatorische) Identität zu stiften. Des Weiteren finden sich Strategien einer reformatorischen „Infiltration“ des vermeintlich katholisch besetzten Imaginationsraums des Spieltextes. In unvergleichlicher Weise sind im Juttenspiel die medial abweichend formulierten paratextuellen Erweiterungen dazu angetan, den im Haupttext entworfenen imaginierten, virtuellen Raum der mustergültigen Bußpraxis einzureißen. Eine textnahe Analyse möchte aufzuzeigen versuchen, wie die Dekonstruktion des Katholischen verfährt, wobei weniger der Bereich des Sündhaften als vielmehr der Bereich der Bekehrung und Sündenvergebung durch Maria und alle Heiligen im Mittelpunkt stehen wird, ist es doch dieser, der den Reformatoren ein Dorn im Auge war.10

   9 Genauer könnte man hier von Mirakelspiel sprechen. (vgl. Ukena 1975), doch geht es mir bei der hier benutzten mehr allgemeinen Gattungsbezeichnung „Schauspiel“ vor allem darum, dass durch die perfomative Präsentation der Nachahmungseffekt größer sein konnte.  10 Vgl. einleitend hierzu die RGG-Artikel Beichte (RGG, I, Sp. 1220–1226) sowie Buße (RGG, I, Sp. 1903–1924, hier v. a. Abschnitt IV, Christentum).

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II. Nach der öffentlichen Bloßstellung Juttas, sie trage als Papst ein Kind, schwenkt die Handlung zu einem erbosten Christus, der sich bei seiner Mutter darüber beklagt, dass eine Frau Papst sei und dass diese sich bislang noch nicht habe bekehren wollen. Deshalb solle sie in seiner Ungnade enden. … Darumb wil ich das nu abwenden / Vnd jhr leben sol nemen ein ende/ Vnd sol klegelich ersterben / Vnd mein vngnade erwerben. (V. 793–796)

Mit dieser Positionierung im Hinblick auf Juttas Sünden platziert sich die Christusfigur durchaus in die Denkwelt des Reformatorischen, denn gerade Luther stand der Beichte und der Lossprechung von Sünden durch priesterliche Instanzen skeptisch gegenüber.11 Der Auftritt Mariens in ihrer Rolle als Fürsprecherin entspricht dagegen wieder dem vorreformatorischen Denken. Sie erinnert Christus daran, dass er um der Sündenerlösung willen den Kreuzestod erlitten habe, Darumb du liebes kind mein / Las mich gegen dir jhr Versuener sein. (V. 811–812)

Nochmals wiederholt Christus gegenüber Maria, dass Jutta sich wohl arg versündigt habe, denn sie habe sich immer nach dem Rat des Teufels gerichtet, doch er will sich ihrer, seiner Mutter Bitte, beugen. Nachdem Maria sich für diese Barmherzigkeit bedankt hat, ruft nun Christus den Engel Gabriel zu sich, der Jutta verkündigen soll, wie sie ihre Sünden büßen könne. Sie sei ja schwanger geworden, … Darum sol sie nu sterben. Wil sie nu hier der Welt schande erwerben / Vmb solche gethane missethat / So mag jhr Seelen werden rath / Wo sie aber das nicht thut / So sol sie ewiglich bernē in der Hellēglut. (V. 869–874)

Gabriel, der auch Maria damals die frohe Botschaft brachte, übermittelt nun der Päpstin diese Botschaft Christi. Mit Worten, die das allbekannte „Dein Wille geschehe“12 assoziieren, akzeptiert Jutta: Sindt das mein Schoepfer haben wil also (895): wenn der Schöpfer das so will, soll es geschehen. Die dann folgenden Worte Juttas  11 Vgl. Michael Root, RGG-Artikel Beichte, Abschnitt III: Dogmatisch 3 (RGG, I, Sp. 1223f.).  12 Es handelt sich um eine Zeile aus dem Vaterunser-Gebet, das nach Mt 6,9–13 von Jesus selbst stamme.

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dürften der religiösen Praxis eines jeden katholischen Gläubigen entsprochen haben: … Darumb rewet mich von hertzen sehre / Das ich erzuernet habe Gott den Herren. Noch wil ich anruffen Maria die reine Magd / An der ich noch nie hab verzagt / Vnd hoffe sie lasse mich gnade finden / Bey jhr vnd bey jhrem lieben Kinde. Auch wil ich lieber zur weltlichen schande kiesen / Denn das ich Gottes gnad solt ewig verliesen / Sindt es nicht anders mag gesein / So erbarm sich vber mich die himlische Koenigin / Vnd vergeb mir gnediglich meine suendē / Die ich gethan hab zu aller stunde. (V. 897–908)

Praktisch jede Zeile dieser ausformulierten Bußbereitschaft ist als Gemeinplatz der katholischen Beichtpraxis zu lesen und von daher als Selbstaussage auf jedes Individuum dieses Glaubens übertragbar: mich reut zutiefst, dass ich Gott erzürnt habe; Maria, die mich noch nie im Stich gelassen hat, auf deren Fürsprache ich immer hoffen kann; die Zustimmung, Buße auf sich zu nehmen; das Anrufen der himmlischen Königin. Zurück im Himmel teilt der Erzengel Christus Juttas Beschluss mit, sie wolle lieber die weltliche Schande über sich ergehen lassen, als Gottes Gnade auf ewig verlieren, woraufhin Jesus den Tod beauftragt, die Frau bald zu holen. Mit einem langen Monolog positioniert Mors, der Tod (930a) sich zunächst als Gottes Untertan. Er sei grausam und verschone niemanden. Danach begibt er sich zu Papst Jutta, der er erklärt, er sei in Gottes Auftrag zu ihr gekommen, weil sie ihm zuwider gelebt habe: sie sei wie ein Mann gegangen, habe mit der Christenheit ihr Unwesen getrieben, sei keine Frau (994: Weibsbild) geblieben und schließlich (doch) schwanger geworden. Mit anderen Worten: Jutta „richtet sich gegen die gottgewollte innerweltliche Ordnung und erzeugt Verwirrung und Unordnung im Weltgefüge“.13 Schon früher im Spieltext sind diese Vorwürfe gegen Jutta geäußert worden, allerdings nicht an die Sünderin selbst gerichtet, dafür vom Gottessohn selbst gesprochen: zu seiner Mutter, zum Engel Gabriel, zum Tod, immer in sehr ähnlichem Wortlaut, in dem nun gerade der Tod diese Vorwürfe Jutta persönlich vorhält. Diese Wiederholung des Sündenregisters aus dem Mund der göttlichen Instanz ist ein wirkungsmächtiges Mittel zur Positionierung sowohl der Sündigen als auch der Vermittelnden. Denn wie Michael Root betont, war Luther weniger überzeugt von der Lossprechung von Sünden durch angemessene Beichte, Reue und Satisfakti-

 13 Ukena 1975, I, 204.

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onsleistungen, sondern „ausschließlich von der Kraft der Lossprechung als dem Wort der Vergebung, das von Gott selbst gesprochen wird“.14 Der folgende Monolog Juttas präsentiert sich wieder wie ein langes Gebet, in dem sie Gott und Maria um Beistand anfleht. Interessant ist, dass sie in dieser Rede (V. 1001–1044) zahlreiche andere Sünder auflistet,15 die ebenso schwere Vergehen auf sich geladen hätten und die dennoch Gnade finden konnten: Das da gesuendigt hat mancher Man / Der doch deine huld wider gewan (V. 1013–1014). Man ist geneigt anzunehmen, dass hier wiederum der reformatorische Bearbeiter des so genannten mittelalterlichen Spieltextes ein Zeichen setzen wollte, indem er die abzulehnende Mittlertätigkeit im Bereich der Sündenvergebung derart übertreibt. Der Tod lässt sich denn auch nicht erweichen und kündet ihr nochmals an, er werde seine Arbeit an ihr gnadenlos verrichten. In ihrem Todeskampf singt nun Jutta ein Marienlied, das wie ein gesungenes Gebet klingt. Sie bekennt in der Ich-Form, dass sie eine Sünderin sei, blutige Tränen weinte, und sie fleht Maria an, als Mittlerin für sie bei Jesus zu bitten. Es ist die einzige Stelle, an der dem Text Noten beigegeben sind, die einzige Stelle, an der dem häufigeren Teufelsgesang, immer ohne Noten gehalten, ein ernsthaftes musikalisches Gegengewicht geboten wird, das dadurch umso stärker wirkt (Abb. 2).16. Der nun folgende Sprechtext ist ebenfalls in subjektivem Gebetston gehalten und wendet sich voller Inbrunst direkt an Maria, beim barmherzigen Gott ihre Fürsprecherin zu sein: … Ich befehle mich dir alleine / … Wenn ich stehe in grosser not / Vnd bin aller suenden vol / … Erbarm dich vber mein hertzleid / … Des bitt fuer mich Mutter heere / (V. 1063–1079)

Maria spricht nun Jutta unmittelbar an: Ich wil alle diesen tag / Bitten fuer dich was ich mag (V. 1081f.). In einer Aufführungssituation müsste diese Ansprache für die räumliche Performanz bedeuten, dass die Fürsprecherin entweder den Himmelsbereich verlassen hätte oder aber aus diesem heraus ihre Stimme in Rom erklingen ließe; der Text selbst gibt hier keine Anhaltspunkte. Wohl aber ist der Spruch Mariens für Jutta ein solcher Trost, dass diese zuversichtlich ihrer Bestrafung entgegen sieht:

 14 RGG, I, Sp. 1223.  15 Adam, Petrus, Thomas, Paulus, Matthäus, Theophilus, Maria Magdalena, Zachäus, Longinus, der Schächer.  16 Die Abbildung wurde für diese Publikation aus Lemmer Edition, 28, abfotografiert.

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… Darumb befehle ich on argen wan / Meine Seele zuhand Maria zu einem Pfand. (V. 1092–1094) Der Tod waltet nun seines Amtes: … Fall nieder zu der Erden / Vnd las dein Kind geborn werden (V. 1013f.)

Der Zwischentext, den man als Bühnenanweisung lesen könnte, aber auch durch seine wiederholende Formulierung als narratives Mittel zur nachdrücklichen Hervorhebung der Ungeheuerlichkeit, besagt, dass Jutta auf die Erde fällt und ein Kind gebiert: Hie felt Bats Jutta zu der Erden / gebiert jr Kind vnd spricht (V. 1118a–c). Wie die zahlreichen Abbildungen zu diesem Motiv zeigen, ist gerade dieser Moment auch in den Chroniken und den davon abgeleiteten Bearbeitungen beliebt (Abb. 3 und 4).17 Im Moment des Sterbens zeigt Jutta ebenfalls ihre bußfertige Charakterstärke und betet zu Maria mit gantzem herzē inniglich (V. 1126). Der Tod droht noch, dass ihr Lohn sich wohl nach ihrem Erdendasein richten wird, was den Teufel Vnversuen sofort zur Stelle sein lässt, die Seele der Päpstin mit zur Hölle bzw. zum Fegefeuer (vgl. Anweisung 1340g) zu führen. Wie eine Umkehrung des himmlischen Gerichts wird sie zunächst vor Luzifer geführt, der abermals betont, dass Jutta jetzt für die missethat / die sie wider Gott begangen hat (V. 1181f.) ihren entsprechenden Lohn bekommen wird. Diverse Teufel quälen nun Jutta aufs Grausamste, doch stets setzt sie dem ein flehentliches Beten zu Maria entgegen, denn Mariam der reinen Magd / An der hab ich noch nie verzagt (V. 1241f.). Die Höllenszene wird nach einem Spruch Luzifers unterbrochen. Er schickt seine Teufel in die Welt, um Verderben zu sähen, was im darauf folgenden Abschnitt schon umgesetzt zu sein scheint, denn Rom ist nach dem schmachvollen Tod der Päpstin großen Plagen ausgesetzt. Die Kardinäle planen eine Bittprozession. Darüber hinaus bemühen sie sich um einen neuen Papst, der allerdings ein wahrhaftiger Mann zu sein habe, weshalb man eigens einen stul [hat] lassen machen / Der da dienet zu solchen sachen / Da soll sich der new Babst begreiffen lahn … Das man da erkenne / Ob er sey Han oder ein Henne. (V. 1323–1328). Auch die Kardinäle beten zu Maria und zudem zum heiligen Nikolaus vnverzagt (V. 1340). Nikolaus, wahrscheinlich ist der heilige Nikolaus von Myra gemeint, war (auch) im späten Mittelalter einer der beliebtesten Heiligen und Nothelfer. Pikanterweise rettete Nikolaus von Myra, so liest man in der Legenda Aurea, drei Frauen vor der Prostitution, indem er deren Vater durch einen Klumpen Gold vor der Not der  17 Die Abbildungen sind aus Kerner/Herbers 2010 abfotografiert, hier Tafel II aus der Hs. Paris, BN Ms. fr. 598. fol. 151 und ein Holzschnitt des Ulmer Frühdruckers Johannes Zainer (Kerner/Herbers 2010, 86). Beide Abbildungen stammen aus Boccacios Frauenschrift De mulieribus claris. Letztere war dem Druck der Steinhöwel-Übertragung von 1473 beigegeben.

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Abb. 3: Die gebärende Päpstin aus Boccacios „De mulieribus claris“, Paris, Bibliotèque Nationale de France, Hs. Paris, BN Ms. fr. 598. fol. 151.

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Abb. 4: Holzschnitt des Ulmer Frühdruckers Johannes Zainer „Die gebärende Päpstin“, aus Boccacios „De mulieribus claris“ (Steinhöwel-Übertragung von 1473).

Armut rettete und so den daraus geborenen Plan, die Töchter in die Prostitution zu schicken, zu verhindern wusste.18 Nach diesem Aufruf um Hilfe bei der nächsten Papstwahl vollziehen die Kardinäle nun mit jhrem gesinde (V. 1340b) eine Prozession mit Kerzen und Fahnen. Von Rom schwenkt die Handlung wieder zur Hölle, wo sich unter der Leitung Luzifers diverse Teufel immer weiter die grausamsten Strafen für Jutta überlegen, auf das sie wiederum Gott leugne. Allerdings bleibt Jutta standhaft, betet zu Maria: Nu hilff mir Maria Himlische Magd / An dir hab ich noch nie verzagt / … (V. 1455f.). Auch den soeben ins Spiel getretenen Nikolaus ruft sie jetzt in ihrer höllischen Pein um Hilfe an. Es kommt zu einem abermaligen Ortswechsel, als nun Maria im Himmel Christus bittet, endlich barmherzig zu sein. Nikolaus schließt sich der Bitte an, doch Christus verharrt im Schweigen, weshalb Maria von Neuem ihren göttlichen Sohn bittet und ihn daran erinnert, er habe ihr die Gewalt gegeben, armen Sündern zu helfen. Wer mir nu die gewalt benem / Das were mir hart vnd vnbequeme (V. 1510–1511). Sie gemahnt, sie habe ihn gehegt und gepflegt, habe unter seinem Kreuz gelitten, daher möge er Gnade walten lassen und Jutta in die Englische schar (V. 1536) aufnehmen. Endlich lässt Christus sich von Maria und Nikolaus erweichen und sendet den Erzengel Michael, Der sie schnelliglich sol entbinden / Von dem Teuflischen gesinde (V. 1553f.).

 18 Legenda Aurea, 27; vgl. auch LThK VII, 994–995.

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Michael ist der Engel, der nach der Apokalypse (Offenbarung 12,7) mit einem Feuerschwert den höllischen Drachen besiegt, der die Taten der Menschen registrierte und beim Jüngsten Gericht als Seelenwäger die Guten von den Bösen trennt. Daher eignet er sich wohl in besonderem Maße dazu, Jutta Von den boesen Hellehunden (V. 1606) zu holen, denn Maria mein Mutter thet fuer sie bitten (V. 1611). Zunächst gestaltet sich das Abholen der Seele Juttas ruhig, doch dann bemerkt der Teufel Astarot den Weggang und wehrt sich dagegen. Doch Michael schlägt ihn mit seinem Schwert. Daraufhin begibt Astarot sich zu Luzifer, um sich zu beschweren, doch dieser meint, Ich fuercht wir muessen schweigen stille / Wenn er ist vnser Herr vnd wir seine Knechte (V. 1676f.), und schlägt vor, man möge sich mit dem Verlust abfinden, Auff das wir nicht fuerder schadē empfahn (V. 1682). Indessen ist Michael mit der Seele Juttas im Himmel angekommen und präsentiert sie Christus. Dieser heißt sie herzlich willkommen, betont aber noch einmal, dass es die Fürbitten Mariens und des heiligen Nikolaus waren, die als Mediatoren die Gnade bewirkt hätten. Der letzte Spruch des Juttentextes gehört Juttas Seele. Es ist ein inbrünstiges Gebet und zugleich ein nahezu predigthafter Aufruf an alle Frauen und Männer, sich ebenfalls an Maria zu halten, denn man habe an ihrem, Jutten, Fall gesehen, dass sie des Teufels gewesen wäre, hätte es Mariens und des heiligen Nikolaus’ Fürbitten nicht gegeben.19 Deshalb wolle sie sie täglich loben und preisen und gottgefällig bleiben.

III. Wie die vorgeführten Textabschnitte zeigen konnten, ist die Haltung der Figur Jutta einerseits textintern, aber anderseits durchaus auch textüberschreitend, aus katholischer Sicht durch die Selbsterkenntnis Juttas richtungweisend, und zwar für die Hauptperson selbst wie für die Rezipienten des Schauspiels. Dadurch, dass viele Sprechtexte der geläufigen katholischen Bet- und Bußpraxis entstammen bzw. ihr nahe stehen, verliert sich der Abstand zwischen Rolle und Realität. Wobei noch zu unterstreichen wäre, dass es sich normalerweise im Schauspiel des Mittelalters nicht um die Illusion einer scheinhaften Welt handelt, sondern um eine wahrnehmbar gemachte Heilsrealität. Die drei Orte dieser Realität, Himmel, Hölle und die dazwischen angeordnete Welt des menschlichen Agierens, die kurz in England (Engelland), dann in Paris, schließlich für den Hauptteil der Handlung in Rom platziert war, sind imaginiert auch für den lesenden, aber mit der Schaupraxis geistlicher Spiele vertrauten Rezipienten stets simultan präsent, wodurch textintern und -extern der gesamte Raum des Heilsplans repräsentiert wäre. Es sind diese Orte, die den Raum bestimmen, weniger die Zeitabläufe, denn diese scheinen im Verlauf der

 19 Gössman schreibt, dass das letzte Gebet die Päpstin ausweise „als sehr bewandert in der Geschichte reuiger Büßender“; Gössman 1998, 90.

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Handlung an Bedeutung zu verlieren.20 Dabei ist offenbar größter Wert darauf gelegt worden, die beiden Extreme Himmel und Hölle spiegelbildlich zu verkehren.21 Die Wege zwischen den einzelnen Orten, scheint es, spielen gar keine Rolle, so dass man sich fragen kann, ob jeder Ort für sich ein geschlossenes System darstellt, das nur von einigen wenigen ausgesuchten transzendenten, einerseits dem Höllischen (die diversen Unterteufel), anderseits dem Himmlischen (die Engel) zugehörigen Figuren durchbrochen werden kann. Konstitutiv für die Biographie Juttas sind Maria und die Marienverehrung. Es wird die Biographie Mariens in die Biographie Juttas eingeschrieben, zunächst spiegelbildlich verkehrt und vom Teuflischen gelenkt, nach der Kehrtwende aber überindividuell, katholisch-idealtypisch und von daher auf tatsächlich gelebtes Leben referierend. Nun könnte man meinen, dass diese katholisch-idealtypische Sünderbiographie sich wie eine Kettenreaktion auf den Verfasser und seine Figur, auf die Figur und ihre Repräsentierenden, von den Repräsentierenden auf den Zuschauer und den Leser übertragen ließe. Entsprechend ließe sich sagen, dass mit der Figur der Jutta in diesem Schauspiel ein Affektraum für Autobiographismen geschaffen wird. Doch das hieße, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Die Vor- und Nachrede setzten ja das Spiel gerade als Gegenexempel ein: Was der Spieltext als katholisch-mustergültiges Verhalten präsentiert, ist in den Augen der beiden Verfasser dieser Paratexte aus reformatorischer Sicht ein Paradebeispiel für verwerfliches Verhalten. Sie wollten anprangern, was in dem Spieltext als nachahmenswert erscheint: die Bußpraxis der Sünderin, die Rolle Mariens als Mediatrix und Fürbitterin, die Mittlerfunktion eines Heiligen, hier des beliebtesten, des heiligen Nikolaus. Ihre missbilligende Position gegenüber dieser Bußpraxis scheint in die Rolle der Christus-Figur eingegangen zu sein. Dieser nimmt die von Luther propagierte Position ein, dass die Lossagung von Sünden lediglich durch Gottes Wort zu bewirken sei. Es ist der Verführungskraft des Weiblichen zu verdanken oder auch – um im Duktus der Nachrede zu bleiben – zu verübeln, dass der Sohn Gottes sich zur Vergebung jener Sünden Juttas überreden lassen muss durch Maria: Die sterbliche Frau dominiert über den göttlichen Sohn, sagt ausdrücklich, es wäre ihr hart vnd vnbequeme (V. 1510), wenn jener ihr die Macht des Gnadenspendens nähme.22 Wenn also durch die Christus-Figur selbst, doch auch durch die Vorstel 20 Auch die Zeitkomponente bei den höllischen Qualen ist im Spieltext nicht ausgearbeitet, was anzeigen könnte, dass diese für den Heilsplan an sich irrelevant, da ewig ist.  21 In dem hier nicht behandelten Spielabschnitt vor dem Romaufenthalt Juttas lässt sich feststellen, dass die Handlung in der Hölle, die Dialoge zwischen Luzifer und Lillis, durchaus als Verkehrung der Dialoge zwischen Christus und Maria aufgebaut sind. Enden erstere Dialoge damit, dass Jutta sich versündigend zu ihrer Geschlechtsvergessenheit entschließt und als Mann durchs Leben geht, so führen letztere dazu, dass Juttas Sünden vergeben werden. Beide Male sind es die Frauenstimmen, welche die männlichen Herrscher ihrer Reiche zur Tat verführen. Vgl hierzu auch Ukena 1975, I, 182f.  22 Schon Valerie R. Hotchkiss weist darauf hin, dass nicht die Tatsache, dass sich eine Frau als Mann ausgibt, die größte Sünde sei, die angeprangert würde, sondern dass sich eine Frau vermisst, Macht über Männer auszuüben (Hotchkiss 1993, 202). Allerdings bezieht sie diese Aussage auf die Päpstin, und nicht, wie hier, auch auf Maria in ihrer Position als co-redemptrix.

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lungen von Buße und Lossagung, reformatorisches Gedankengut in den Raum des Katholischen eingedrungen ist, werden auf subtile Weise durch die gewählten Figurenkonstellationen und Handlungsabläufe tradierte Konfessionsgrenzen durchbrochen. Man denke hier etwa an die in die Höllenszenen eingeblendete Kardinäle-Szene, in der die katholischen Würdenträger einen neuen Papst suchen. Sie rufen nicht nur Maria um Hilfe an, sondern sie bringen auch jenen Heiligen ins Spiel, der Frauen vor Prostitution beschützen soll. Diese Überblendung ist derart vernetzt mit der Gesamtkonstruktion des Spieltextes, dass sie Anlass dazu gibt, die eingangs gesetzte Bemerkung, es sei unklar, ob und inwiefern Tilesius für die Drucklegung des Spieltextes in diesen eingegriffen habe, zu differenzieren. Der Medienwechsel von katholischem Schauspiel zu reformatorischem Pamphlet muss wohl mit einer umfassenden Bearbeitung des Spieltextes einhergegangen sein. Nicht nur ist der Druck expressis verbis für ein ganz bestimmtes Lesepublikum gedacht, der Inhalt ist darüber hinaus den theologischen Debatten und Wirren der Zeit angepasst. Der Spieltext wurde nicht bloß funktionalisiert,23 sondern er ist zum Versatzstück in einem Gesamtwerk geworden. Dieses Gesamtwerk ist durch die hier in Ansätzen vorgeführten raffinierten Bearbeitungstechniken aus einem Guss aus dem Vorwort, dem Juttenspiel und dem Nachwort komponiert.24 Sogar so komplex, dass man sich fragen kann, inwiefern der im Vorwort genannte Dietrich Schernberg tatsächlich noch als Autor des Spieltextes gelten kann. Dichtet etwa Tilesius ihm lediglich das Verfassen dieses für seine Ideen so brauchbaren Textes nur zu? Schernberg wäre durch die Nennung im Paratext als eine historisch belegte Person in den imaginierten Raum des textlichen Triptychons mit hineingezogen und würde dort die „Rolle“ desjenigen spielen, der durch seine unerhörte Erlösungsgeschichte vom gebärenden Papst die Notwendigkeit reformatorischer Neuerungen auto­risierte.

Bibliographie Benz, Richard: Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt, Köln 1955 [Legenda Aurea]. Fischer Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik, Tübingen/ Basel 32010. Gössmann, Elisabeth: Die Päpstin Johanna. Der Skandal eines weiblichen Papstes. Eine Rezeptionsgeschichte, Berlin 1998.

 23 Auch Michael Obenaus spricht noch von einem Funktionalisieren des Spieltextes durch die reformatorischen Herausgeber; Obenaus 2008, 227.  24 Diese Praxis ist in der Bildkunst ebenfalls nicht unbekannt. Als beliebig gewähltes Beispiel möge das im Utrechter Museum Catharijnekonvent ausgestellte Gemälde Hooiwagen von Gillis Mostaert dienen, das um 1575 entstanden ist. Auf diesem satirischen Gemälde sind Versatzstücke aus der katholischen Religionspraxis dergestalt mit der metaphorischen Wiedergabe von Lastern verwoben, dass sie der reformatorischen Polemik dienen.

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Hotchkiss, Valerie R.: Dietrich Schernberg’s Ein schön Spiel von Frau Jutten: The Salvation of the Female Pope, in: Canon and Canon Transmission in Medieval German Literature (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 573), hg. von Albrecht Classen, Göppingen 1993, 195–206. Kerner, Max/Herbers, Klaus: Die Päpstin Johanna. Biographie einer Legende, Köln 2010. Lemmer, Manfred: Dietrich Schernberg. Ein schoen Spiel von Frau Jutten. Nach dem Eislebener Druck von 1565 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 24), Berlin 1971 [Lemmer Edition]. Linke, Hansjürgen: Schernberg, Dietrich, in: Deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon VIII, hg. von Kurt Ruh et al., Berlin 1992, 647–651 [2VL]. Lexikon für Theologie und Kirche, hg. von Josef Höfer/Karl Rahner,Freiburg21962 [LThK]. Obenaus, Michael: Hure und Heilige: Verhandlungen über die Päpstin zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit (Schriften zur Mediävistik 13), Hamburg 2008. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. von Hans Dieter Betz et al., Tübingen 41998 [RGG]. Stanford, Peter: The She-Pope: A Quest for the Truth behind the Mystery of Pope Joan, London 1998. Ukena, Elke: Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 1), Frankfurt a. M. 1975.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Lemmer (1971), 27. Abb. 2: Lemmer (1971), 28. Abb. 3: Kerner/Herbers (2010), Tafel II: Hs. Paris, BN Ms. fr. 598. fol. 151. Abb. 4: Kerner/Herbers (2010), 86.

Hans Jürgen Scheuer

Sakrale Räume im Schwank „Diese Reisen und Ekstasen außerhalb der überkommenen Bedeutung […] liefern dem Verstand kein mentales Objekt: sie bringen den Geist in Bewegung, indem sie ihm seine Objekte wegnehmen.“ (Michel de Certeau, Mystische Fabel ) Pietro Lorenzetti’s wall painting of the Last Supper, late medieval miracle stories and fabliaux on the (desecrated) Eucharist share a common sense of sacred space. Dealing with the mystery of the incarnated God, the disappearance of his corpse, and the consecration/profanation and circulation of Christ’s supplementary bodies, they develop a range of small-scale space models which allow us to observe the traces left behind by the sacred within the frame of everyday life. Here, sacred space is no demarcated and exclusive sanctuary. It rather emerges where the divine seems to be entirely out of place – in kitchens, cheese baskets or dough troughs. By thus disfiguring the holy places of salvific history, the exempla chosen in the following article reconfigure the theological concept of kenosis – God’s self-renunciation as he enters the realm of the mortal world equipped with used and dirty tools, worn-out utensils and odds and ends, among which the presence of the sacred remains both unseen and evident to the attentive and faithful beholder or listener.

I. Küche statt Kirche Nichts schräger, obliquer, Zwerchfell erschütternder in dieser Welt als das Heilige. Sobald es sich aus der Sphäre der Transzendenz ins Diesseits begibt, nimmt es aus christlicher Sicht, die sich auf die Paulinische kenosis-Lehre berufen kann, Knechtsgestalt an. Wie es im Brief an die Philipper heißt (Phil. 2,5–11), zeigt sich die forma Dei auf Erden, aller göttlichen Attribute entäußert und sich selbst erniedrigend, als forma servi im grobschlächtigen, notwendig entstellten Körperkleid, d. h. in umgekehrter Gottesebenbildlichkeit: in similitudem hominum factus et ha­ bitu inventus ut homo (Phil. 2,7). Die forma Dei lässt sich so unter den Menschen zugleich überall und nirgends sehen. In ihrer angenommenen Kreatürlichkeit stellt sie selbst am Körper des gesalbten Herrschers Sterblichkeit aus, bleibt zweckgebundener Dienstkörper und steht gelegentlich merkwürdig quer zu den Ordnungen des Profanen, wenn sie als ein deplatzierter, unnützer oder gar nichtsnutziger Fremdkörper in den irdischen Regionen des Schmutzes und der Dürftigkeit erscheint: Als ein solcher Fremdkörper drängt sie sich dann entweder aus anfänglicher Marginalität heraus auf und behauptet sich durch ihre sperrige, mitunter empörende, ja geradezu obszöne Präsenz, die alle normalen Abläufe aufhält und durcheinander bringt; oder sie entzieht sich der Sichtbarkeit und dem Zugriff, so-

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bald ihr Wert erkannt und ihre Berührung mehr als alles begehrt wird.1 Deshalb ist das Heilige in der Welt nur als Hyperbel darstellbar: als Überschreitung oder Unterschreitung des rechten Maßes – als ein Körper zu viel, der dauernd im Weg steht, oder als einer zu wenig, den man vergeblich sucht. Entsprechend verhält es sich mit den Räumen, die das Heilige zu seiner innerweltlichen Verkörperung braucht oder um darin im Fall seines Ausbleibens einen Vorschein zu erzeugen bzw. im Fall seines Verschwindens eine Spur zu hinterlassen.2 Pietro Lorenzettis Abendmahlsdarstellung in der Basilika San Francesco zu Assisi (1320–30) lässt sich als Modell dafür betrachten (Abb. 1):3 Um die Szene der sakramentalen Einsetzung von Brot und Wein durch den Messias zu erfassen, genügt ihm nicht eine gedeckte Tafel mit andächtiger Festgesellschaft. Lorenzetti konstruiert vielmehr zwei Räume – einen repräsentativen Saal und eine angrenzende enge Küche. Während sich in dem einen die Jünger um ihren Meister zum Pessah versammelt haben und zusätzlich Wirt und Wirtin anwesend sind, sieht man im Nebenraum Hund und Katze über den Resten der Mahlzeit und den Küchenknecht beim Säubern des Geschirrs. In seiner Arbeit wird er unterbrochen von einer vermittelnden Figur, die ihn möglicherweise auf das benachbarte zentrale (und doch durch den Nebenschauplatz leicht aus dem Zentrum gerückte) Geschehen aufmerksam macht. (Vielleicht klappert er ja gerade bei den entscheidenden Worten Jesu zu laut mit seinen Tellern.) In einem Diskussionsbeitrag zu Wolfgang Kemps Stuttgarter Vortrag ‚Kontingenz und Koinzidenz. Realismuseffekte in Malerei und Fotografie‘ (29.10.2010)4 hat Kristin Rheinwald darauf hingewiesen, dass dieses räumliche Nebeneinander mit Zufälligkeit (als modernem „photographischen“ Realismusindex) nichts zu tun hat. Beide Räume seien gleichermaßen Orte des Heilsgeschehens, das sich im Saal ikonisch vergegenwärtige, während es sich in der Küche indexikalisch andeute oder verberge: in Gestalt des Tonkrugs im oberen Regal der Abstellkammer, der vor allem Anderen die Auserwähltheit des Raumes und des von ihm umfangenen Ereignisses bezeuge. Denn im Lukas-Evangelium wird von Jesus eigens jene Amphore

   1 Die beiden extremen Ausprägungen jener Alternative finden sich im Mittelhochdeutschen exemplifiziert im Schwank vom ‚Nonnenturnier‘ und in der Legende von ‚Alexius‘, auf die der genannte Schwank rekurriert. Beide platzieren das Heilige und sein Mysterium so, dass es sich aus dem Nebenraum unter der Treppe des Klosters oder Wohnhauses heraus zeigt bzw. zum Verschwinden bringt: einmal als auferstandener (und zugleich obszöner) Körper des zagels, der sich im Kloster den Nonnen aufdrängt und am Ende entzieht; das andere Mal als sich selbst aus der Welt ausklammernder Körper des verlorenen Sohnes, der sich erst im Tod seinen Eltern und seiner Braut als Bewohner ihres Hauses offenbart. Vgl. zum ersten Beispiel Scheuer 2009; zum zweiten Beispiel Strohschneider 2002.    2 Zum nicht-abstrakten Verhältnis von Körper und Raum in der mittelalterlichen Adelskultur vgl. Lechtermann 2005.   3 Zur Raumkonzeption Lorenzettis im Kontext der Malerei der Frührenaissance vgl. Kwastek 2005. Eine hervorragende Reproduktion des Bildes und seines kompositorischen Umfeldes findet sich bei Poeschke 2003, 126–139 (mit Tafel 64).    4 Wolfgang Kemps Vortrag ist inzwischen unter dem modifizierten Titel ‚Koinzidenz und Kontingenz. Realitätseffekte in Malerei und Fotografie‘ erschienen; Kemp 2013.

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Abb. 1: Pietro Lorenzetti, Das Abendmahl, Assisi, San Francesco, Unterkirche.

benannt als Erkennungszeichen des Ortes, an dem das Opfer (das letzte Pessah und die erste Eucharistie) gefeiert werden solle: ecce, introeuntibus vobis in civitatem occurret vobis homo amphoram aquae portans. sequimini eum in domum in qua intrat / et dicetis patri familias domus: dicit tibi magister: ubi est diversorium, ubi pascha cum discipulis meis manducem? / et ipse vobis ostendet cenaculum magnum stratum et ibi parate. (Luk 22,10–12)5 Er sprach zu jnen / Sihe / wenn jr hin ein kompt in die Stad / wird euch ein Mensch begegen / der tregt einen Wasserkrug / Folget jm nach in das Haus / da er hin ein gehet / vnd saget zu dem Hausherrn / Der Meister lesst dir sagen / Wo ist die Herberge / darinne ich das Osterlamb essen müge mit meinen Jüngern? / Vnd er wird euch einen grossen gepflasterten Saal zeigen / da selbs bereitet es.

Das wichtigste Merkmal für die Authentifizierung der Szene (dass es sich nicht um irgendeine pictura, sondern um das letzte Abendmahl selbst handele) findet sich also just im „niederen“, dem Knecht und den Tieren zugewiesenen Nebenraum: in der Küche, nicht in der prototypischen Kirche. Aus diesem Grund interessieren mich im Folgenden die Nebenräume, in denen sich verdinglicht und körperlich konkretisiert, was sonst nur der spirituellen Elevation in höhere Räume jenseits aller Darstellbarkeit zugänglich wäre. Wir werden dabei dem Heiligen begegnen, wo und in welcher Gestalt man es am wenigsten vermuten würde: im Käskorb und im Backtrog, in ungeahnten Transformationen und Contrefakten, die den sakralen Raum – seine Wahrnehmung und unsere Vorstellung davon – im Innersten betreffen. Sie werden es erforderlich machen, ihn    5 Text der Vulgata, Übers. Biblia Deutsch 1545.

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anders denn als Abbild eines herausgehobenen heilsgeschichtlichen oder liturgischen Ortes zu denken. Literarisch verorten möchte ich meine Suche folglich in derjenigen Form mittelalterlicher Exempeldichtung, die sich dezidiert wie keine andere dem „Niederen“, also der forma Dei, wie sie sich in der forma servi präsentiert, verschrieben hat: im Schwank.

II. Eucharistiemirakel und Schwank Nicht von ungefähr stößt man in den Erzählräumen des Schwanks immer wieder auf Versionen – Inversionen und Perversionen – der Eucharistie. Denn im sakramentalen Geschehen der Wandlung verdichtet sich eine paradoxe, ja absurde Logik, die das christliche Verständnis der kenosis aufgreift, es noch einmal umkehrt und eine gestufte Re-Sakralisierung des geopferten irdischen Körpers Gottes in Gang und Geltung setzt: 1. Ausgangspunkt ist das corpus historicum Jesu, das in verschiedenen kanonischen wie apokryphen Szenen seiner Vita als Körper des Mensch gewordenen Gottes beglaubigt wird.6 Unter den damit verbundenen Räumen ragt das diversorium des letzten Abendmahls heraus als Sitz und entscheidende Instanz für die Formation christlicher Symbolkörper in der Liturgie. 2. Ziel des von hier angestoßenen Transformationsprozesses ist das corpus vivum des auferstandenen Christus, dessen erste räumliche Evidenz just das leere Grab darstellt, aus dem der Körper des Gekreuzigten verschwunden ist. 3. Liturgisch vermittelt wird diese Transformation vom menschlichen in den entrückten, transfigurierten Körper über das corpus sacrum/verum der Hostie, die sich in der Eucharistiefeier substantiell vom Brot in den Leib Christi, des wahren Opferlamms, verwandelt. Im 13. Jahrhundert erhält dieser Zweitkörper ein eigenes Fest: Fronleichnam.7 Hier greift er Raum durch Prozessionen, bei denen das Mysterium des transsubstantiierten Körpers, das Allerheiligste, in der Monstranz „ausgesetzt“ und die Hostie selbst angebetet wird. 4. In der Abendmahlsfeier bildet sich schließlich um das eucharistische Sakrament als weiterer Zweitkörper des Heils auf Erden das corpus mysticum der Kirche. In Gestalt des Messopfers memoriert die Gemeinde Leiden und Triumph des Got­ tessohnes; sie wird dabei Zeuge, wie der Priester vor dem Altar die Wandlung zelebriert, und verleibt sich dann die konsekrierte Hostie ein, ein Akt der rituellen Tischgemeinschaft (koinōnía), in dem die verheißene Erlösung der Gläubigen von Tod und Erbsünde antizipiert ist.8    6 Zur Beglaubigung der Menschnatur Christi durch das Betonen und Ausstellen seiner Körperlichkeit vgl. Steinberg 21996.    7 Vgl. Rubin 1991, 164–212 u. 243–271.    8 Zum Spiel der (Ersatz-)Körper im Kontext des Inkarnationsmysteriums vgl. das dreiteilige Modell bei Michel de Certeau 2010, 124–148, und seine Bezugnahme auf die grundlegende Studie zum corpus mysticum von Henri de Lubac 21949 (dt. 1969).

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An jener hyperbolischen Bewegung, die auf das Fehlen des (historischen) Körpers im Grab mit einer Multiplikation (symbolisch-imaginärer) Körper und mit entsprechenden rituellen Transformationen des Raumes reagiert, haben unter den exemplarischen Formen des mittelalterlichen Erzählens das Eucharistiemirakel und der Schwank gleichermaßen Anteil: Beide sind aufgrund derselben Hyperbolik – auch wenn sie in entgegengesetzte Richtungen ausschlägt – eng miteinander verwandte Formen. Das kann man beispielhaft studieren an der so genannten Schweizer Kleinepiksammlung des Codex 643 der Stiftsbibliothek St. Gallen aus dem 3. Viertel des 15. Jahrhunderts,9 wo Schwank und Mirakel in direkter Nachbarschaft überliefert sind. Zwar scheint die Disposition der 21 Exempel durch einen Prolog und eine Zwischenrede des Erzählers profane Stoffe und Formen (wie Tierbîspel, Kasus und Schwank) von Mirakeln trennen zu wollen: Die ersten sechzehn Erzählungen – der Prologsprecher bezeichnet sie als bischaft – werden als torentat und narrenwort charakterisiert (I, V. 2; 10), die fünf anschließenden Wundererzählungen – auch sie versammelt unter dem Begriff der bischaft – dagegen als Predigtmärlein (als ich ein bredgi han gehort, XVIII, V. 4). Doch genügt eine solch inhaltlich-pragmatische Unterscheidung nicht, um dem übergreifenden Anspruch exemplarischen Erzählens gerecht zu werden. Deshalb setzt Hans-Joachim Ziegelers Analyse an der gedanklichen Form der Texte an.10 Er kann so drei Typen der Beweisführung als Grundlage einer gemeinsamen Erzählintention freilegen.11 Im Vergleich zu Boners ‚Edelstein‘, dem die anonyme Sammlung angehängt ist, vermisst Ziegeler allerdings eine zwingende kompositorische Kohärenz, die erst „durch mehr oder weniger deutliche Querbezüge und einheitliche Stilisierung einer gemeinsamen Konzeption“ herzustellen wäre. Aus diesem Grund kommt er für die St. Galler Exempla zu dem Schluss: „so empfängt keine der Erzählungen des Anonymus ein sinnstiftendes Element von einer anderen Erzählung oder einer übergeordneten Konzeption.“12 Auch wenn es mir nicht darum geht, eine solche Konzeption zu behaupten,13 sehe ich anders als Ziegeler dennoch die Möglichkeit, zwischen den räumlich getrennten Teilen der Sammlung Interferenzen aufzudecken, die zeigen, dass die hyperbolische Denkbewegung des Schwanks auf die Mirakeldichtung übergreifen kann und umgekehrt das Schwankkalkül sich an die Symbolik des    9 Zitiert nach der Ausgabe Eine Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts, Fischer 1965.  10 Vgl. Ziegeler 1985.  11 Dabei handelt es sich um die allgemeinste Bestimmung der „Sprachgebärde“ des Exempels, das als fabula und argumentum zugleich operiert, indem es aus einer Menge etwas herausgreift (eximere) und es neben der Menge ausstellt und zeigt (paradeíknymi). Zu den Schlussfiguren, die exemplarischem Erzählen zugrunde liegen, sind inzwischen historisch und epistemologisch orientierte Arbeiten erschienen, die Bausingers Formtypen des Schwanks, mit denen Ziegeler arbeitet, hinter sich lassen und einen weiteren starken Beleg dafür liefern, warum der Begriff des Schwanks einer Revision und „Rettung“ bedarf; vgl. Agamben 2009, bes. 11–39 (Kap.: Was ist ein Paradigma?) sowie Ruchatz/Willer/Pethes 2007.  12 Siehe Ziegeler 1985, 99.  13 Zum Versuch, ein umfassendes Kohärenzkriterium aus der Boner-Lektüre des Anonymus zu entwickeln, vgl. Schlecht 2010.

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Mirakels anlehnt, und zwar genau in der Art, wie es den Raum behandelt, in dem der Körper, sei es als heiliger, sei es als profaner, ausgestellt wird. Im Exempel vom geschändeten Sakrament (XXIII) geht der erste Erzählimpuls von einer Notiz aus, die sich wie ein Chronikeintrag liest: In Friesenland das geschach / das das mer ungestüm usbrach / und versankt des lands ein michel teil. (V. 1–3) Im Folgenden wird der Naturkatastrophe zusätzlich zu ihrer geographischen Position ein tropologischer Ort im Rahmen einer Ökonomie ausgleichender göttlicher Gerechtigkeit zugewiesen, wie sie einer frommen klosterfrowen im Traum durch Maria offenbart wird. Dass jene Gerechtigkeit nicht von dieser Welt ist, zeigt sich in der Unverhältnismäßigkeit von punktuellem weltlichen Vergehen und umfassender sündflutähnlicher Vergeltung. Ausgelöst wird die todbringende Überschwemmung Frieslands nämlich dadurch, dass ein Priester, der sich mit mines kindes fronlichnam / zuo einem siechen (V. 11f.) begibt, um ihm das Sterbesakrament (viaticum) in Form der Hostie zu spenden, von einem Betrunkenen aufgehalten und zum Wetttrinken aufgefordert wird. Als der Priester, seiner Mission entsprechend, die keinen Aufschub duldet, unbeirrt seinen Weg fortsetzt, schlägt ihm der Säufer das helig sacrament / […] uss siner hend, so dass der Leib Christi, das corpus sacrum, zu Boden fällt. Die Reaktion des Angegriffenen darauf ist bemerkenswert: der priester do uflesens pflag / und truog es mit wirdikeit – nun keineswegs weiter zu dem Siechen, sondern, auf dem Absatz kehrtmachend, wider hein, won im was leid / des helgen sacraments uner. (V. 28f.) Daraufhin habe Gott seinen Zorn über die Friesen kommen lassen, ihr Land versenkt und darzuo vil guots ertrenkt (V. 32). Der Einbruch des göttlichen Zorns in die Welt wird als Folge einer doppelten Zäsur dargestellt: Zum einen betrifft sie den heiligen Körper, der durch den Angriff des Trinkers entweiht worden ist. Es handelt sich um ein beiläufiges, lokal eng begrenztes Ereignis, das an sich reversibel erscheint. (Der Priester könnte kraft seines Amtes die befleckte Hostie neu weihen.) Zum anderen bedeutet der Abbruch des priesterlichen Auftrags einen weiteren, weitaus tieferen Einschnitt. Er kommt als Reaktion auf die Hostienschändung einer Verwerfung Frieslands gleich, betrifft also den gesamten topographisch-innerweltlichen Raum und all seine Insassen, indem durch den plötzlichen Richtungswechsel des Priesters die Bedingung religiöser Kommunikation in Form des Sakraments wegbricht. Die leibliche Präsenz des Heils mit seiner Bestimmung, einem Sterbenden den Übergang aus der Welt zur Erlösung zu ermöglichen, wird zurückgenommen und den Bewohnern des Landes unwiederbringlich entzogen: Nicht einmal dem Sterbenden kommt sie mehr zugute. Nur in dieser Perspektive lässt sich die Dramatik des Geschehens und die Wucht des Strafwunders verstehen: Die Schändung des Sakraments vereitelt die Gabe des Viaticums. Aber erst die Unterbrechung seines Weges zur erlösungsbedürftigen Menschenseele bringt den sakralen Raum, jenen irdischen Einschluss des Heiligen, das im Leib Christi den profanen Raum halbwegs schon durchquert hat, schlagartig zum Einsturz und überlässt die entsakralisierte Welt mitsamt ihren trunkenen, heilsvergessen agierenden Körpern ihrer eigenen, natürlichen Gewaltsamkeit.

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Den umgekehrten Weg einer Sakralisierung des Raumes schlägt der zentrale Schwank der St. Galler Sammlung ein am Fallbeispiel eines deplatzierten Körpers in einem durch und durch profanen Behälter: der ‚Pfaffe im Käskorb‘. Pfaffe und Bauersfrau setzen dem Ehemann Hörner auf, wann immer der sich außer Haus befindet. Eines Tages unterbricht seine unerwartete Rückkehr ihr Liebesspiel jäh; der Pfaffe findet inmitten der Stube noch Zuflucht in einem (von der Decke herabhängenden) Käsekorb,14 bevor der Bauer eingetreten ist. In der Eile gelingt es dem Liebhaber aber nicht, sich vollständig zu verstecken. Ohne dass er es bemerkt, ragt sein erigierter zagel aus einem Loch in der Korbwand und stellt das corpus delicti, statt es zu verbergen, umso krasser vor Augen. Doch gelingt es der Bäuerin, das Unübersehbare verschwinden zu machen, indem sie den Pfaffen durch ein Lied ganz unverschlüsselt auf das Missgeschick aufmerksam macht. Der Pfaffe zieht sein Körperglied hurtig zurück, während der Hahnrei, unbekümmert um die buchstäbliche Botschaft des Liedes, in den Gesang seiner Frau einstimmt und von allem nichts mitbekommt. Wieder einmal ist damit der alte Witz vom Ehebruch erzählt, der im Beisein des Betrogenen durch Frauenlist invisibilisiert wird. Gelacht werden darf über die offensichtliche Tumbheit des Bauern, die bloßgestellte Geilheit des Geistlichen und den weiblichen Einfallsreichtum bei der ungehemmten Befriedigung sexueller Gier: Kein Klischee der Ehebruchszote, so scheint es, das hier nicht bedient würde. Allerdings zielt das Lied durch seine Vortragsform noch auf einen anderen Raum jenseits der Zote, in dem der obszöne Körper mit dem heiligen koinzidiert: Der Text enthält nämlich – extra metrum – ein quer zu seiner nur allzu offensichtlichen Intention stehendes, irritierendes Element: Unser her der pfarrer in ein kesboren entran do hiengent im die hoden unden ver hindan nun tuond es durch minen willen und ziechents hinuf baß wurd es der meier innen er wurd uns gehaß kyrieleyson. (o. V.; S. 55)

Wie die Fürbittformel „Kyrie eleison“ zu kontextualisieren sei, gibt die Bäuerin selbst vor, als sie ihren Mann zum gemeinsamen Singen auffordert: elieber man, nu sag an, was went wir morn tuon, so der pfaff wirt mit dem krüze gan? went wir nit ouch mit im singen, das wir lob für ander lüt gewünnent? (V. 64–68)

 14 Vgl. dazu die Definition des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm: „Käsekorb, m. korb für käse, aber besonders ein kastenartiges behältnis mit durchlöcherten oder vergitterten seiten, oder von spänen geflochten, in dem die käse an die luft gestellt, gehängt werden“ (DW 11, Sp. 253).

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Hier beginnt die Pointe des sexualisierten Witzes sich schwanktypisch zu drehen: Der Bauer nämlich reagiert auf die Kontextvorgabe seiner Frau zwar leichtgläubig, aber völlig adäquat. Er begreift, dass es sich beim anschließenden Gesang um ein Prozessionslied handeln soll.15 Deshalb weiß er, worauf es ankommt und worauf nicht: auf das Verschmelzen mit dem corpus mysticum im Unisono der singend prozedierenden Gemeinde, nicht aber auf das Nachvollziehen eines vom rituellen Vollzug abgehobenen Textsinns: Die lateinische Liturgie bleibt den Bauern ja ohnehin unverständlich. In einem der bedeutendsten Prozessionslieder des Mittelalters, dem Fronleichnamshymnus Pange, lingua, gloriosi / Corporis mysterium des Thomas von Aquin,16 wird eine solche Haltung gegenüber dem besungenen Glaubensgeheimnis der Wandlung von Brot in Leib und der Realpräsenz des corpus sacrum in Brotgestalt ausdrücklich als Ausweis eines reinen, gläubigen Herzens gerechtfertigt: Et, si sensus deficit, / Ad firmandum cor sincerum / Sola fides sufficit. (IV,4f.) In der Fronleichnamssequenz Lauda, Sion, salvatorem heißt es entsprechend: Quod non capis, quod non vides, / Animosa firmat fides / Praeter rerum ordinem. (V b,1–3)17 Denn was gegen die natürliche Ordnung der Dinge verstößt und dadurch Glauben schafft, ist ein Wunder. Das NichtVerstehen des Bauern erscheint vor diesem Hintergrund nicht als lächerliches intellektuelles Defizit, sondern als Frömmigkeit, die das Wunder, das sich in der Welt zeigt, wahrt, ja, ihm überhaupt erst Raum darin gewährt, damit das fleischgewordene Wort Gottes hervortrete (Verbum supernum prodiens) und als Opfer (hostia) den ganzen Menschen in doppelter Gestalt nähre (Ut duplicis substantiae / Totum cibaret hominem, III,2f.), wie es in einem dritten Hymnus des Aquinaten heißt.18 Zudem wissen wir bereits, dass sich die Göttlichkeit des Wunders in der Welt stets sub utraque specie manifestiert: Als forma Dei scheint sie noch in der niedersten forma servi auf. Insofern ist das Obszöne des Liedtextes als Kontrafaktur eines Prozessionshymnus selbst noch keine Blasphemie.19 Zum Zeichen heilloser Weltverfallenheit und sündiger Gottvergessenheit wird er erst in dem Moment, in dem der Hymnus nur als Botschaft genommen, als Gesang aber recht eigentlich ignoriert und zerstört wird. So will es die Bäuerin, so versteht es der Pfaffe und mit ihnen jeder Dritte im Bunde, der vom Exempel nichts als die Zote erfasst (und sie dadurch erst konstituiert). Sie genau sind es, die dem Trunkenbold des Eucharistie 15 Zur Geschichte der „theophoren“ Prozessionen, die das corpus Christi „aussetzen“, vgl. Browe 2003.  16 Zitiert nach Analecta hymnica medii aevi, Blume/Dreves 1961 [1907], 583–591, hier: 586f. (Nr. 386).  17 Ebd., 584f. (Nr. 385).  18 Ebd., 588 (Nr. 388).  19 Das bestätigt ein Blick auf die weitere Rezeptionsgeschichte der Melodie, die in geradezu hemmungsloser Weise recycelt worden ist. Vgl. Salmen 1965. Salmen listet für den Zeitraum zwischen 1556 und 1840 sechs Kontrafakturen mit folgenden Incipitia auf: „Unser liebe frawe vom kalten brunnen“ – „Unser lieber Pfarrherr der hat der pfennig viel“ – „Gelobt sey Gott der Vater in seinem höchsten thron“ – „Unsre lieben Hünerchen, die suchten jhren Han“ – „Tröst die Bedrängten und hilf den Kranken, Sanct Raphael!“ – „Horcht, horcht der Glockenstimme, eilt zu den Waffen hin.“ (146).

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Abb. 2: Melodienotation in ‚Der Pfaffe im Käskorb‘,St. Gallen, Stiftsbibliothek, cod. 643, Ausschnitt aus p. 112b.

mirakels entsprechen: Sie profanieren das Mysterium des Leibes, das der Bauer dagegen so stark in seiner Vorstellung antizipiert, dass für ihn der historische, materiell exponierte Körper aus den Augen und aus dem Sinn verschwindet,20 während Pfaffe und Bäuerin nur an dessen allerweltlichsten sinnlichen Gebrauch zu denken vermögen. Das stillt zwar einerseits ihre sexuelle Begierde (sofern niemand dazwischenkommt und sie dabei unterbricht), zerstört aber auch die Bedingung der Möglichkeit religiöser Kommunikation: die unbeirrbare Transzendenzzugewandtheit, die der liturgische Sang fordert.21 Auch wenn diese, wie an der Figur des singenden Bauern vorgeführt, in der Schwankerzählung so missbraucht wird, dass sie nur den Betrug deckt, wird sie im Rahmen der Exempelsammlung dennoch lesbar als profanes Analogon zur Verehrung des corpus sacrum. Die besondere Räumlichkeit, die der Schwank dadurch exemplifiziert, lässt sich auch im Schriftbild des Manuskripts ablesen (Abb. 2): Das Lied ist zusammen mit  20 Caroline Walker Bynum hat mit Blick auf das eucharistische Sakrament die Beweiskraft der Unsichtbarkeit prägnant formuliert: „The presence of the material, human, living Christ in the elements was […] guaranteed by its unseeability. Anything seen would by definition be accident, not substance.“ (Bynum 2011, 157).  21 Wiederum gibt ein Fronleichnamshymnus des Thomas Aquinas – Analecta hymnica medii aevi, 589–591 (Nr. 389), die ‚Oratio in praesentia Corporis Christi‘ mit dem Incipit Adoro te devote, latens deitas – den Topos an, von dem aus die Kommunikation der verborgenen Gottheit über Gesang und Gehör und gegen den Anblick des körperlich sichtbaren Skandalons evident wird: Visus, gustus, tactus in te fallitur / Sed auditu solo tute creditur. (III,1f.).

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Abb. 3: Illustrationen zu Ulrich Boners ‚Der Edelstein‘, Nr. 52: ‚Von einenman und sînemsune und einem esel‘, St. Gallen, Stiftsbibliothek, cod. 643, p. 46.

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Abb. 4: Aussparung für Illustration innerhalb der ‚Schweizer Kleinepiksammlung‘, St. Gallen, Stiftsbibliothek, cod. 643, p. 98.

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einer Melodienotation überliefert, die in das zweispaltige Layout der Seite 112b inseriert ist. Mit dunklerer Tinte, aber von gleicher Hand nachgetragen, füllt es eine der Lücken im fortlaufenden Verstext, wie sie durch die gesamte Sammlung hindurch offenbar nach dem Vorbild der illustrierten Bonerüberlieferung (Abb. 3) für spätere Federzeichnungen freigelassen worden sind (Abb. 4). Wichtiger als die Beobachtung der Nachträglichkeit des Inserats scheint mir der Befund, dass die Melodie die Stelle einer pictura einnimmt (und zwar der einzigen, die in der angehängten Kleinepiksammlung wirklich ausgeführt worden ist). Sie steht dadurch keineswegs für Kontingenz und Versatzstückhaftigkeit,22 sondern markiert die Einlassstelle eines diagrammatischen Kalküls,23 durch welches das Exempel zwischen obszönem und heiligem Körper hin- und herschwingt. So öffnet sich – sichtbar in der Materialität der Schrift – ein imaginärer Raum, in dem es nicht darum geht, eine der involvierten Parteien zu verlachen. Vielmehr entfaltet der ‚Pfaffe im Käskorb‘ sein exemplarisches Potential erst dann, wenn man seine gesamte Gedan­ kenbewegung in der Amplitude zwischen Knechts- und Gottesgestalt erfasst. Als verqueres Specimen eines Eucharistiemirakels stellt der Schwank eine groteske Bricolage des Fronleichnamsmysteriums dar: In seiner Konfiguration mit dem Pfaffen als deplatziertem corpus historicum, dem Käsekorb als Raum seiner strotzenden Ausstellung und frommen Elevation, mit der Bäuerin als erster Beobachterin des libidinösen Aggregats und dem Bauern als zweitem Beobachter des Mysteriums sowie mit dem Lied beider als litteraler Botschaft und spirituellem Signal zugleich zeichnet sich im obszönen Kompositkörper für den schwankerprobten Leser die Verschränkung von corpus sacrum und Monstranz in einem dem profanen kopräsenten, ihm inhärenten sakralen Raum ab.

III. Leichnam und Hostie Der ‚Pfaffe im Käskorb‘ ist nicht der einzige Schwank, der das Eucharistiemysterium sub utraque specie betrachtet und so den Raum des Heiligen im Profanen am Beispiel einer Bricolage exemplifiziert, die nach Claude Lévi-Strauss nimmt und verknüpft, was gerade greifbar ist.24 Das aber kann in einer Welt, in der es keinerlei  22 Siehe Schulz-Gobert 1993, 66: „Ursprünglich dürfte der durch das Lied ausgefüllte Raum für eine Illustration vorgesehen gewesen sein. […] Während aber mindestens eine Federzeichnung die entsprechenden Boner-Texte illustriert, wurden die im Anonymus-Teil vorgesehenen Illustrationen an keiner einzigen Stelle ausgeführt. Wohl hauptsächlich deshalb ließ sich das Lied auch noch nachträglich versatzstückhaft so günstig platzieren.“  23 Zu einer mentalistisch-wahrnehmungstheoretischen Konzeption des Diagramms vgl. Bauer/ Ernst 2010; zu seiner topischen, iocoseriösen Funktionalität im vormodernen Erzählen vgl. Bleumer 2014.  24 Siehe Lévi-Strauss 1981, 30: „die Welt seiner [sc. des Bastlers] Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d. h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bie-

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substantiellen Anhalt für die Existenz des Heiligen gibt, nichts anderes sein als durchweg unreines, vom alltäglichen Gebrauch abgenutztes Material, das in engen, niederen, schmutzigen Räumen anfällt und in verqueren, jeder unmittelbaren Brauch- und Verwertbarkeit zuwiderlaufenden Aggregationen ausgestellt wird.25 Auf den gleichen Prinzipien der Verkörperung und Verräumlichung beruht Hans Rosenplüts Schwank ‚Vom Pfarrer, der zu fünfmaln starb‘ (‚Der fünfmal getötete Pfarrer‘). Der deutschen Version liegt ein französischer Exempelstoff des 13. Jahrhunderts über einen Sakristan zugrunde, der in Zusammenhang mit einer Lie­ besaffäre getötet und dessen Leiche in mehreren Anläufen Unschuldigen als vermeintliches Opfer ihrer Aggression untergeschoben wird. Mit jeder Station werden Todesart und Todesort monströser, zeigt sich zugleich umso schärfer die Verworfenheit gerade der Unschuldigen, die immer neue Strategien finden, ihre – wenn auch fälschlich vermutete – eigene Schuld anderen in die Schuhe zu schieben. Bei Rosenplüt stirbt der Pfarrer zunächst wirklich und wahrhaftig durch den Stich mit einem Pfriem, als der Schuster beim Versuch, dem Geistlichen zu Pferd ein Loch im Stiefel zuzunähen, eine Ader trifft: hin zu der erden sank der pfaff / und plutet sich aldo zu tot. (V. 38f.) Die Schustersfrau rät daraufhin, die Leiche zu beseitigen, um den Unfall zu vertuschen. Der Pfaffe wird deshalb wieder auf sein Pferd gesetzt und in einem Haferfeld abgestellt, als ließe er das Tier dort unerlaubt grasen. Als der Bauer, dem der Acker gehört, den Schaden sieht und seine Klagen und Drohungen nichts fruchten, wirft er mit einem Stein nach dem Eindringling, so dass der ein weiteres Mal – selbstredend tot – vom Pferd fällt. Wiederum auf Anraten einer Frau, der Bäuerin, wird die Leiche nun bei Morgengrauen an das Gatter vor der Tür des Nachbarn angelehnt. Als jener bemerkt, dass der Pfarrer den Eingang blockiert und sich partout nicht entfernen möchte, stößt er das Gatter mit solcher Wucht auf, dass der Pfaffe dernider fallt, / das er vor im gestrecket lag (V. 151f.) – tot, wie nicht anders zu erwarten. Ein drittes Mal findet eine Frau den Ausweg aus der Klemme: Bei Nacht schaffen sie und ihr Mann die Leiche ins angrenzende Haus in des meßners gemach (V. 191), wo sie den Körper in einem Backtrog mit Teig verstauen, und zwar so, dass sie ihm den Mund mit der zum morgendlichen Backen vorbereiteten Teigmasse vollstopfen, als hätte er sich in einem Anfall von Heißhunger überfressen, piß das er daran wer erstickt. (V. 206). Kaum findet die Frau des Küsters in aller Herrgottsfrühe den Toten, weckt sie ihren Mann und verfrachtet mit ihm zusammen – Frauenlist Nr. 4 – das Opfer der Völlerei in die Kirche, wo sie den toten Körper in vollem Ornat und wie verzückt / in grosser andaht (V. 272f.) vor dem Altar drapieren. Dort fasst in der Frühmesse ein altes weib (V. 280) das Messgewand, um es nach peurischem sit (V. 286) zu küssen, und

tenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen.“  25 Das geht bis hinab in die Bereiche der Skatologie, vgl. Morrison 2008. Eindrucksvolle deutschsprachige Beispiele dafür finden sich unter den Nürnberger Fastnachtsspielen etwa im ‚Spiel vom Dreck‘ oder im ‚Ulenspiegel‘-Buch.

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wird vom umstürzenden Pfaffen zu tod erschlagen (V. 298). Beide Toten, Mann und Frau, werden schließlich von der Gemeinde beklagt und gemeinsam bestattet. Deuten lässt sich die Eskalation der Unfälle und ihrer alles verschlimmernden „Bereinigung“ durch Frauenlist nur mit Blick auf das Spezifische der Rosenplüt-Bearbeitung.26 Inhaltlich hat Klaus Grubmüller die entscheidende Abweichung gegenüber den älteren Fabliaux-Fassungen benannt: „Keine Entsprechung hat Rosenplüts Teig-Episode.“27 Ihre Sinnstelle erhält sie nicht etwa über ihre ins Groteske gesteigerte Absurdität, sondern als Teil eines Zyklus, der die einfache Steigerung der Tatortreinigung überwölbt. Genauer gesagt: Die Erzähldisposition folgt einer eucharistischen Ökonomie. Sie hebt an mit dem Auftrag des Priesters, der sich auf den Weg macht, weil er ein kranken berihten solt („einem Kranken die Sakramente bringen mußte“, V. 5). Wie im Mirakel vom ‚Geschändeten Sakrament‘ wird der rituelle Ablauf jäh unterbrochen: Die weite schrunten (V. 10), die in seiner Stiefelsohle klafft und den Pfaffen fürchten lässt, es könnte ihm kot in den stifal geen (V. 14), markiert den primären Sündenfall der Erzählung: Als er auf den Rat seiner kellnerin sich zum Schuster begibt, lässt er unsern herren […] daheim die weil (V. 26). Wiederum ist es also die durch menschliche Fahrlässigkeit vereitelte Sakramentsspende, die das Desaster heraufbeschwört. Der Stich mit dem Pfriem ist zudem nur auf der Handlungsebene kontingent; es ließe sich durch vergleichende Motivanalyse zeigen, dass Loch und Stechinstrument deutlich sexuell konnotiert sind und die Todesart des Pfaffen eine Abbreviatur und symbolische Verdichtung dessen darstellt, was die französischen Varianten explizit als ehebrecherisches Verhältnis des Geistlichen thematisieren. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist aber, dass der Körper, den der Priester vergeblich und zu spät vor Beschmutzung zu schützen versucht, nach dessen Tod eine Reise durch unterschiedliche Räume antritt, auf der er in persona – das wird zunehmend deutlich – den daheim gebliebenen Körper der Hostie substituiert. Entsprechend lassen sich nun die einzelnen Stationen der Leiche lesen: Nach dem Abscheiden des corpus historicum begegnet sie dem Bauern im Haferfeld und seinem Nachbarn am Gatter in aufrechter Position. Sie wird daher mit dem Lebendigen identifiziert, der sich – attackiert als Eindringling und Hindernis – als Toter herausstellt und – in materieller Analogie zum spiritualisierten corpus vivum des Auferstandenen – unter Umgehung des Grabs aus der Welt seiner Mörder mög 26 Nicht überzeugen können dagegen Deutungen, die das Steigerungsschema herauslösen und als solches interpretieren. So gehen – in entgegengesetzter Richtung – Klaus Grubmüller und Rüdiger Schnell mit dem ‚Fünfmal getöteten Pfarrer‘ um. Der eine spricht von Unordnung und Kontingenz in einer „unsinnigen Serie von Fehleinschätzungen“ (Grubmüller 2006, 199) und versteht die Erzählung als „Demonstration einer nicht beherrschbaren grundsätzlichen Willkür des Weltlaufs“ (Grubmüller 1996, 1310); der andere möchte mittelalterliche „Erklärungsmodelle bzw. Weltbewältigungsmuster“ aus dem Erzählkontext isolieren, die er im Wissen von den Geschlechterrollen und ihrer unterschiedlichen Kompetenz zur Problemlösung repräsentiert sieht (Schnell 2002, 377). Beide arbeiten dabei mit der Annahme eines fixierbaren Sinns. Das gilt gerade auch für die – auf Walter Haugs Märenverständnis zurückgehende – Supposition einer Unsinnspoetik (Haug 1993).  27 Siehe Grubmüller 1996, 1309.

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lichst schnell wieder verschwinden soll. So erscheint auch der folgende Schauplatz in einem anderen Licht: die Küche des Küsters, in der jener Teig bereits angerichtet steht, aus dem die Küsterin – so lässt sich vermuten – die Hostien für die Messe backen soll. Dass die Leiche ausgerechnet im Backtrog landet und ihr Balg mit Teig ausgestopft wird, legt, im Rahmen des sakramentalen Kreislaufs betrachtet, jedenfalls den Schluss nahe, dass wir es mit einer Inversion des corpus sacrum/verum zu tun haben: mit der grotesken Attrappe eines wahren Leibs, der unter Einsatz brachialer Gewalt Brot werden soll. Folgerichtig führt sein Weg denn auch von der Küche zurück in den Sakralraum der Kirche, dorthin, wo das Brot wieder zum Leib zu werden hätte: Vor dem Altar wird die priesterlich ausstaffierte Brotpuppe öffentlich ausgestellt und von der frommen alten Bäuerin tatsächlich als heiliger Körper nach Art des Leibes Christi angesehen, verehrt und berührt. Ihr trauriges Schicksal, von der umstürzenden Leiche erschlagen zu werden, treibt die verquere Logik des sakramentalen Zweitkörpers schließlich auf die Spitze: Die Vereinigung des corpus sacrum und der Gläubigen im corpus mysticum der Abendmahlsgemeinschaft findet ihre Entsprechung im gemeinsamen Begräbnis beider durch die klagende Gemeinde: do sie nu lang geklagt hetten / und alle kleglichen teten, do westens pessers nit zu schaffen, sie namen die frauen und den pfaffen und bestatten sie zu der erden drot. (V. 299–303)

Wie es sich für ein Schwankexempel gehört, dessen Hyperbolik diejenige eines Eucharistiemirakels spiegelt, ja, sie in einer Art mise en abyme potenziert und dekonstruiert, kommen in dieser Schlussszene zwei unversöhnlich widersprüchliche Aspekte zugleich zur Anschauung: Von der Seite des sündigen Pfaffen betrachtet, deckt die ungewöhnliche Doppelbestattung die „Ursünde“ hinter seinem plötzlichen Tod durchs Loch in der Sohle auf: Mann und Frauenkörper kommen im Begräbnis zusammen, „koitieren“ gleichsam am freudlosesten Ort. Von der Seite der frommen Frau betrachtet, erweist sich das Argument einer materiellen Realpräsenz des heiligen Körpers dagegen als mehr denn schlagend – als totschlagend. Aus diesem Blickwinkel leistet der Fall des Pfaffen, was wesentlich mit der Gabe des Sterbesakraments verbunden gewesen wäre: Er löst die einzig unschuldige Figur des Schwanks aus einer Welt, deren abgründige Verderbtheit mit jedem Akt männlicher Aggression und weiblichen Listhandelns deutlicher zutage tritt. Ja, man könnte gar von einem Kontakt zwischen dem Körper des toten Priesters und der frommen Alten sprechen, durch den die Aufgabe des Opferlamms (hostia), das die Sünde der Welt hinwegnimmt, auf die Frau übergeht. Denn sie selbst löst damit wiederum alle anderen Mitglieder der Gemeinde, die sich schwerlich von ihren Vorgängern in der „Totschlägerreihe“ unterscheiden dürften, aus der schuldlos-schuldhaften Verkettung der Fehleinschätzungen und Entsorgungsstrategien, indem ihr Tod dafür sorgt, dass der hartnäckig insistierende Leichnam endlich verschwinden kann – freilich (in innerweltlicher Verkehrung des Auferste-

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hungsgeschehens) nicht aus dem Grab, sondern ins Grab und nicht allein, sondern zusammen mit einem zweiten, überzähligen Körper. So exemplifiziert Rosenplüts ‚Pfarrer, der zu fünfmaln starb‘ einerseits, dass zum profanen Raum (dem Raum des Todes) ein sakrales Gegenstück in der Welt selbst nicht existiert. Doch zeigt sich andererseits gerade in der erzählten Häufung der Zufälle, Unfälle und Todesfälle, die durch die Verschlagenheit der Menschen provoziert und forciert werden, dass Sakrament und Erlösung allen Widrigkeiten zum Trotz noch in den unwahrscheinlichsten Gestalten und unter den barbarischsten Verhältnissen ihr Ziel finden. Der Nachvollzug jenes Weges der Hostie und ihrer Substitutionen durch die Hyperbolik des Schwankexempels hinterlässt/mobilisiert in Wahrnehmung und Affekt des Beobachters die Spur/den Vorschein eines anderen, sonst unerfindlichen sakralen Raumes. Im Schwank wird er wie in Lorenzettis Wandbild – als Küche, Käskorb, Backtrog – zum allzeit zuhandenen „verkleinerten Modell“28 der Erlösung inmitten heilloser Alltäglichkeit.

Bibliographie Primärliteratur Analecta hymnica medii aevi, hg. von Clemens Blume/Guido M. Dreves, Bd. 50: Hymnographi Latini. Lateinische Hymnendichter des Mittelalters, 2. Folge, ND d. Ausg. Leipzig 1907, Frankfurt a. M. 1961, 583–591. Eine Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts (ATB 65), hg. von Hanns Fischer, Tübingen 1965. Novellistik des Mittelalters. Märendichtung (Bibliothek des Mittelalters 23), hg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996.

Sekundärliteratur Agamben, Giorgio: Signatura rerum. Zur Methode, aus dem Italienischen von Anton Schütz, Frankfurt a. M. 2009. Bauer, Matthias/Ernst, Christoph: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010. Bleumer, Hartmut (Hg.): Diagramm und Narration (= Lili 176 [2014], H. 4), Stuttgart/ Weimar 2014. Browe, Peter: Die Entstehung der Sakramentsprozessionen (1931), in: ders., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht (Vergessene Theologen 1), mit einer Einführung hg. von Hubertus Lutterbach/ Thomas Flammer, Münster 2003, 459–474. Bynum, Caroline Walker: Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011. de Certeau, Michel: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, aus dem Französischen von Daniel Bogner, Berlin 2010.

 28 Lévi-Strauss 1981, 37.

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Grubmüller, Klaus: Hans Rosenplüt. Vom Pfarrer, der zu fünfmaln starb, in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung (Bibliothek des Mittelalters 23), hg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996, 898–915 (Text), 1307–1312 (Kommentar). Grubmüller, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006. Haug, Walter: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts (Fortuna Vitrea Band 8), hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1993, 1–36. Kemp, Wolfgang: Koinzidenz und Kontingenz: Realitätseffekte in Malerei und Fotografie, in: Lob der Illusion. Symposionsbeiträge, hg. von Reinhard Steiner u. Caccilie Weissert, München 2013, S. 127–139. Kwastek, Katja: Raum im Bild – Traum im Raum. Gemalte Räume und gemalte Träume in der italienischen Malerei des Tre- und Quattrocento, in: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003, hg. von Elisabeth Vavra, Berlin 2005, 149–172. Lechtermann, Christina: Körper-Räume. Die Choreographie höfischer Körper als Mittel der Raumgestaltung, in: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003, hg. von Elisabeth Vavra, Berlin 2005, 173–188. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1981. de Lubac, Henri: Corpus mysticum. Kirche und Eucharistie im Mittelalter. Eine historische Studie, deutsch von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1969. Morrison, Susan S.: Excrement in the Late Middle Ages. Sacred Filth and Chaucer’s Fecopoetics, Basingstoke 2008. Poeschke, Joachim: Wandmalerei der Giottozeit in Italien 1280–1400, München 2003. Rubin, Miri: Corpus Christi. The Eucharist in late Medieval Culture. Cambridge/New York 1991. Ruchatz, Jens/Willer, Stefan/Pethes, Nicolas: Zur Systematik des Beispiels, in: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen (LiteraturForschung 4), hg. von Jens Ruchatz/Stefan Willer/Nicolas Pethes, Berlin 2007, 7–59. Salmen, Walter: Zur Geschichte eines mittelalterlichen geistlichen Fahrtenliedes, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 10 (1965), 145–147. Scheuer, Hans Jürgen: Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 28), hg. von Peter Strohschneider, Berlin/New York 2009, 733–770. Schlecht, Kattrin: Das ich ouch bischaft mach. Lesevorgänge und gedankliche Interferenzen am Beispiel des ‚Schweizer Anonymus‘, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11), hg. von Eckart Conrad Lutz/Martina Backes/Stefan Matter, Zürich 2010, 315–332. Schnell, Rüdiger: Erzählstrategie, Intertextualität und ‚Erfahrungswissen‘. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären, in: Wolfram-Studien XVIII (2002), 367–404. Schulz-Gobert, Jürgen: ‚Autoren gesucht‘. Die Verfasserfrage als methodisches Problem im Bereich der spätmittelalterlichen Reimpaarkleindichtung, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993, 60–74. Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, Chicago/ London 21996.

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Strohschneider, Peter: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Alexius‘, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, hg. von Gert Melville/ Hans Vorländer, Köln/Weimar/Wien 2002, 109–147. Ziegeler, Hans-Joachim: Das Vergnügen an der Moral. Darbietungsformen der Lehre in den Mären und Bispeln des Schweizer Anonymus, in: Germanistik  – Forschungsstand und Perspektiven, Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur/Neuere Deutsche Literatur, hg. von Georg Stötzel, Berlin/New York 1985, 88– 109.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Poeschke 2003, 135, Tafel 64. Abb. 2: URL: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0643/112 [09.10.2012]. Abb. 3: URL: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0643/46 [09.10.2012]. Abb. 4: URL: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0643/98 [09.10.2012].

Zu den Autorinnen und Autoren Dr. Ulrich Barton ist Wissenschaftlicher Angestellter in der germanistischen Mediävistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Dr. Maximilian Benz ist Oberassistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Dr. Michaela Bill-Mrziglod ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie, Fachbereich Kirchengeschichte an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Prof. Dr. Hartmut Bleumer ist Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. Prof. Dr. Carla Dauven-van Knippenberg ist Associate Professor an der Universität von Amsterdam. Dr. Linda Eggers ist Wissenschaftliche Volontärin in der Stiftung Kloster Dalheim, LWL-Landesmuseum für Klosterkultur. Prof. Dr. Jutta Eming ist Professorin für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Dr. Susanna E. Fischer ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für lateinische Philologie des Mittelalters an der LMU München. Prof. Dr. Laura D. Gelfand is Head of the Department of Art and Design at Utah State University. Prof. Dr. Brice Gruet is Professor of Geography at the Université Paris-Est Créteil/EHESS. Eric Hold, M.A., promoviert an der Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales Paris, Groupe d’Anthropologie Historique de l’Occident Médiéval, und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Anika Höppner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit (Universität Erfurt) und in der DFG-Forschergruppe „Medien und Mimesis“ (Bauhaus-Universität Weimar).

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Zu den Autorinnen und Autoren

Dr. Martin Kirves arbeitet im Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik eikones in Basel an einem theoretisch wie historisch ausgerichteten Projekt zum Ornament. Prof. Dr. Elke Koch ist Professorin für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Dr. Cornelia Logemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte an der LMU München. Nadine Mai, M.A., promoviert am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg und ist am internationalen Forschungsprojekt „Spectrum: Visual translations of Jerusalem“, The Hebrew University Jerusalem, assoziiert. Dr. Johanna Scheel ist wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Philipps-Universität Marburg. Prof. Dr. Barbara Schellewald ist Professorin für Ältere Kunstgeschichte an der Universität Basel. Dr. Heike Schlie ist Senior Scientist am Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Krems/ Universität Salzburg. Prof. Dr Hans Jürgen Scheuer ist Professor für deutsche Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Prof. Dr. Ute Verstegen ist Professorin für Christliche Archäologie und Byzantinische Kunstgeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Dr. Erik Wegerhoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design (Prof. Dietrich Erben) der TU München. Dr. Francesco Zimei is general editor of the Istituto Abruzzese di Storia Musicale and research fellow at the University of Ferrara.

Personenregister Abdon (Adone) (Märtyrer) 407, 410, 423f. Acquaviva, Claudio 416 Ado von Vienne 419 Adomnan von Iona 56, 58 Adornes (Familie) 83, 166, 178, 182f. – Anselm 83, 166–168, 171, 178, 185 – Arnoud 175 – Jacob 83 – Jan 83, 85, 167, 170, 175, 178, 182 – Maarten 170 – Pieter II. 83 Agabio (Märtyrer) 423 Albertus Magnus 198 Alessandro vescovo 423 Alexander der Große 152f., 155 Al-Ḥākim bi-Amr Allah 33 Almachius (Märtyrer) 410 Amicos, Bernardino 81 Ansquitil 221 Antonius Eremita 341 Aresi, Paolo 316 Aringhi, Paolo 418, 420 Aristoteles 141, 326f. Arnold, Gottfried 350 Asselyn, Jan 408 Augustinus 47, 140–144, 157, 198, 217f., 286, 343, 375 Augustus 409 van der Banck, Margarethe 168 de Baïf, Jean Antoine 316 Baronio, Cesare 411ff., 418–420, 424 Basileios von Caesarea 134 Beda Venerabilis 56, 228 Benedikt von Nursia 242–245, 375 Benedikt XIV. 428–430 Benedikt XVI. 406 Bernard von Clairvaux 215f., 234, 270, 272 Bernini, Gianlorenzo 91, 424, 427 Bernold von Konstanz 198 Biondo, Flavio 409 Birgitta von Schweden 101, 109 Blaineville, J. de 426 Boccaccio, Giovanni 489f. Boethius 143, 156, 448

Bolland, Jean 350 Bonaventura 371 Boner, Ulrich 499ff., 504 Bonifacius VIII. 371 Bosio, Antonio 411, 418 Brampton, Thomas 288 Bryants, Jacques 266 Burchard von Monte Sion 58 Caimi, Bernardino 88, 91 Cardone, Giovanni Paolo 371f. Cassian 335, 340, 342, 344, 346 Cassiodor 286 Catherine d‘Alençon 264 de Carvajal y Mendoza, Luisa 317, 321 Celestine V. (Coelestin V.) 23, 371, 373 Charles II. d’Anjou 368, 385 Chevalier, Etienne 254f., 272 Chrétien de Troyes 311 Cicero 327 Clemens VIII. 350 Clemens XI. 428 Clemens von Alexandria 177, 312 Colombe, Jean 253, 299 Comenius, Johann Amos 97–99, 103, 108, 110–112 Copres (Märtyrer) 348 Cornaro (Familie) 91 Crescentia (Märtyrerin) 410 Cyprian von Karthago 228 Cysat, Renward 446–448 David von Augsburg 282 Didymos (Asket) 346 de Digullevilles, Guillaume 256 (Pseudo-)Dionysius (Areopagita) 130, 132, 198 Dominica (Märtyrerin) 410 Drabik, Nikolaus 98 Durand de Champagne 264 Durandus von Mende 198 Durannus von Bredons 220 Egeria 38, 45f, 56, 62, 71 Emmerich, Georg 100 Esuperantio 423

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Personenregister

Euklid 125, 127f., 131 Euphemia (Märtyrerin) 410 Eusebius von Caesarea 34–37, 42f., 338 Eusebius Presbyter 410, 412f. Eustachius (Märtyrer) 410, 423 Euthimius (Asket) 339 d’Evreux, Jeanne 260 Exsuperia (Märtyrerin) 410, 412, 424 van Eyck, Jan 287, 300 Fabri, Felix 60, 81f. Felicitas (Märtyrerin) 410 Felini, Pietro Martire 417f. Fiacrius (Eremit) 348 Fiammeri, Giovan Battista 415f. Flodoard de Reims 419 Florens Radewijns 299 Fontana, Carlo 406, 410, 414, 420–422, 424ff. Fouquet, Jean 254, 256, 272 Foxe, John 412f. Franz von Assisi 269, 375 Fretellus Rorgo 57, 61f., 64, 66–69, 74 Fulvio, Andrea 417 Gargulio, Domenico 370 Galloni, Antonio 412 Geminos von Rhodos 125 Genesius (Märtyrer) 410 Gennaro (Ianuarius/Januarius, Märtyrer) 23, 357-370 Georg von Löwenstein 300 Gerald von Wales 400f. Gerard Zerbolt van Zutphen 284, 293, 298, 301, 303 Gerson, Jean 267f. Gilio, Giovanni Andrea 410f. Gioacchino da Fiore 373 Giotto di Bondone 15 Giovanni da Capestrano 378f. Godefroyd, Étienne 368 Got, Jean 415 Gregor I. (der Große) 216, 243 Gregoras, Nikephoros 125f. Gregor von Nyssa 55 Grimaldi, Francesco 370 Grote, Geert 287, 296 Grünewald, Matthias 178 Guillaume de Verdelay 368 Guisai, Jaques 415

de Haddon, Amicia 258 Hadrian 34 Hartmann von Aue 311 Helena von Konstantinopel 33 Hero von Alexandria 127 Herrad von Landsberg 337 Hieronymus 46, 55, 61f., 71, 198, 419 Hitler, Adolf 461 Honorius Augustudonensis 148 Hrabanus Maurus 261 Hugh Latimer 321 Hugo von St. Victor 154, 261, 283 Ignatius von Antiochien 405f., 410, 412f., 415f., 418ff. Ignatius von Loyola 101, 314, 321 Innozenz III. 198 Innozenz XI. 424, 428 Irenäus, Christoph 483 Isidor von Sevilla 148, 344f. Jocelin von Furness 398–401 Johannes (Einsiedler) 340 Johannes (Evangelist) 296 Johannes (Märtyrer) 410 Johannes Chrysostomos 134, 177, 418–420 Johannes Damaskenos 130, 175 Johannes vom Kreuz 317 Johannes Moschos 47 Johannes von Würzburg 19, 57–71, 74 Juliane von Norwich 109 Julius Caesar 148 Konstantin I. (Kaiser) 34–36, 48, 177 Konstantin IX. Monomachos 119, 127 Kotter, Christoph 20, 97–110 Kyrill von Jerusalem 42–44 Laurent d’Orléans 261 Lauro, Giacomo 374, 380 de Laval, Louis 299ff. Leonardo da Porto Maurizio 428–430 Lévi-Strauss, Claude 506 Ligorius (Ligorio), Pirro 409, 411 Ligustri, Tarquinio 415f. Lipsius, Justus 413 Lorenzetti, Pietro 25, 496, 510 Luis de Granada 315 Lukas (Evangelist) 256 Luther, Martin 100f, 350, 486, 492

Personenregister

Maior, Georg 350 Makarius (Eremit) 338 Manfred von Schwaben 373 Marcellus Diaconus 412 Mari, Giulio 418 Marinus (Eremit) 350f. Markianus (Asket) 343 Markus (Evangelist) 375 Martial 409 Martin (Märtyrer) 423 Martin von Tours 236–240, 242, 245 Martina 410, 423f. Mechthild von Magdeburg 198 Memling, Hans 303ff. Mennas (Märtyrer) 410 de Mézières, Philippe 267f. Michael IV. 33 Michi, Paul 415 Milet d’Auxerre 368 Modestus (Märtyrer) 410 Mortier, Pierre 386 Muirchú 393–396, 398 de Navarre, Jeanne 264 Nero 409 Nicolas Roselli 61 Nikolaus von Kues 283, 322 Nikolaus von Myra 488, 492 Olympius (Märtyrer) 410, 412, 423f. Origenes 32 Ovid 311, 381, 388 Palladio, Andrea 409 Palladius 343, 345 Panciroli, Ottavio 416ff. Patrick von Irland 14, 23, 393–400 Paulinus von Antiochia 55 Paulus (Apostel) 31, 197, 371, 397 Paulus von Theben 345 Peter von Amiens 101 Petrus (Apostel) 74, 257, 375, 397 Petrus Cellensis 261 Pfeiffer, August 97 Photios I. 131 Pichore, Jean 253 Pilger von Piacenza 42, 47 Piranesi, Giovanni Battista 429 Pius V. 422

Placidus (Märtyrer) 410 Platon 128, 131–133, 340 Pleydenwurff, Hans 300 Plinius 148, 152 Poniatowski, Christina 98 Portinari, Tommaso 303 Possidonius (Eremit) 333 Potito (Märtyrer) 423 Poyer, Jean 253 Proklos Diadochos 125, 129 Provost, Jan 176, 290f Ptolemäus, Claudius 127f. Pucelle, Jean 260 Radente, Gennaro 361 Radulphus Ardens 261 Restitutus (Märtyrer) 410 Ricci, Caterina 109 Richeome, Louis 415 Robert Grosseteste 198 Rodrigo von Toledo 61 Roger Bacon 198 Roger (Abt) 220 Rolin, Nicholas 287 Rosenplüt, Hans 507ff. Rosweyde, Heribert 350 Rubens, Peter Paul 337 Sadeler, Justus 325 Sadeler, Johann 22f., 325ff. Sadeler, Raphael 22f., 325ff. Saulnier, Jehan 264 Schernberg, Dietrich 25, 482f., 493 Sebastian (Märtyrer) 407, 409 Sennen (Senon) (Märtyrer) 410, 423f. Serenus von Marseille 216 Seuse, Heinrich 350 Severano, Giovanni 411, 418 Shaftesbury, Anthony, Earl of 334 Simeon Metaphrastes 418 Simon Stylitis 337 Sixtus V. 413f. Smaragdus von St. Mihiel 18 Solimena, Francesco 427 Steinhöwel, Heinrich 490 Stolterfoht, Jacob 97 Stückl, Christian 462, 465 Sueton 409 Suger von Saint-Denis 198 Sulpicius Severus 240

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Personenregister

Symphronius (Sinforiano) (Märtyrer) 410, 412, 423f.

Tobler, Titus 62f. Tomasi, Carlo 406, 420–422, 424f.

Tani, Angelo 303 Tatiana (Märtyrer) 410 Tempesta, Antonio 412f. Teopiste (Märtyrer) 423 Teresa von Ávila 22, 314f., 321 Theoctistus (Eremit) 339, 342 Theodericus monachus 19, 57–62, 65, 69–75 Theodolus (Märtyrer) 410, 412, 423f. Theodoret 338, 343f., 346 Theodoros Studites 130 Theodosius II. 39 Theon von Alexandria 125 Thomas von Aquin 198, 502 Thomas von Kempen 343f. Tilesius, Hieronimus 482f. Tírechán 394–396, 398–400 Titus 409 Tizian 331

Ursula (Märtyrerin) 392 Usuard 419 Valerian 410 Vespasian 409 Vincent (Märtyrer) 266 Vitus (Märtyrer) 410 de Vos, Maarten 325, 332, 336, 339–342, 345, 347, 349–351 van der Weyden, Rogier 177, 305 Wild, Johann 319 Xanthopoulos, Nikephoros Kallistos 133 Zainer, Johannes 490 Zeno (Märtyrer) 410 Zenon (Eremit) 331–336, 346 Zuallardos, Giovanni 81

Ortsregister Abruzzo 371ff. Ägypten 17 Alsfeld 25, 444, 448ff. Amiens 236f., 239 Amsterdam 112 Armagh 396 Assisi 496 Antiochia 331 l’Aquila 371ff., 379–381 Auxerre 210f. Bethanien 73 Bethel 68 Bethfage 73 Bethlehem 64, 66 Bobbio 48 Bologna (Santo Stefano) 80 Braunschweig 150 Brügge 187, 282, 287, 303 – Jerusalemkapelle, Jerusalemquelle 20f., 80, 83–87, 89–91, 93, 166, 168, 170–174, 176f., 179, 181–188, 290 Byzanz 120, 124, 128f., 196, 211 Cambridge (Heiliggrabkirche) 80 Chios (Kloster Nea Moni) 119, 127 Cluny 235, 244 Cruachán Aigle (Berg) 394f., 397–401 Damaskus 62 Daphni (Kloster) 119, 121, 123 Dijon (Saint-Bénigne) 80 Ebstorf 147, 150, 155, 157 Florenz 179 Frankfurt 464 Frankreich 253 Gallien 221, 245 Görlitz 98–103, 107, 180 Griechenland 197 Hebron 62 Heidelberg 463ff.

Hosios Loukas (Kloster) 119, 121–123, 127 Irland 393–395 Island 150 Istanbul (Hagia Sophia) 126, 133f. Italien 87, 373 Jaca 217 Jerusalem 10, 14, 19, 21, 23, 32f., 44, 56–58, 61f., 64, 67f., 71, 73f., 81, 83, 86–89, 93, 100, 150f., 157, 165, 167, 174, 176, 178f., 181, 183–188, 222–224, 228, 241f., 373, 442f – Abendmahlssaal 12 – Auferstehungskirche/Heiliggrabkirche/ Grabkirche 16, 19f., 33–49, 69–72, 79–85, 100f., 167, 169, 175, 178 – Garten Getsemani, Ölberg 32, 73, 100 – Himmelfahrtskirche 68 – Tempel 35, 66 – Golgotafelsen/Golgotha/Kreuzigungsstätte 19, 33, 36, 38f., 43–47, 49, 71, 84f., 167f., 170, 174f., 180–182, 348, 408 Judäa 71, 393 Konstantinopel 133 L’Aquila 23 Lavardin 223f. Limoges 222 Lombardei 87 Lucca 386 Luzern 445f., 448, 453, 464 Lüneburg 150 Mailand 87, 386 Makedonien 152 Moissac (Abtei St. Pierre) 21, 216, 218– 221, 223, 226, 233, 238, 241, 243 Monte Cassino 242f., 245 Montoire-sur-Loir 223 Monza 48 Muraisc 395

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Ortsregister

Nazareth 63, 64, 66 Neapel 23, 357ff. Niederlande (burgundische) 280ff. Nordafrika 47 Oberammergau 25, 461ff. Oloron 220 Orlando 92f. Padua (Arenakapelle) 15, 17 Palästina 23, 64, 66, 87 Piemont 87 Pozzuoli 357 Purgatorium des hl. Patrick 14, 23 Rom 14, 39, 41, 44, 46, 85, 91, 197, 388, 405ff., 442 – Kolosseum 24, 405ff.

Sagan 101 Saint-Benoît-sur-Loire 222 Santiago de Compostela 221 Sinai 71 Soest 150 Sulmona 386f. Tomar 173 Toulouse 216, 223 Tours 245 Ulster 400f. Varallo (Sacro Monte, Heiliggrabkapelle) 80, 83, 87–93