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German Pages [688] Year 2019
Trond Berg Eriksen Håkon Harket Einhart Lorenz
Judenhass Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart
TROND BERG ERIKSEN HÅKON HARKET EINHART LORENZ
Judenhass Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart Unter Mitarbeit von Izabela A. Dahl
Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach
Vandenhoeck & Ruprecht
Die Übersetzung wurde gefördert von NORLA
Norwegische Originalausgabe: Jødehat. Antisemittismens historie fra antikken til i dag. © Cappelen Damm AS, Oslo, 2005 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Eine jüdische Familie flieht aus Memel (heute: Klaipėda, Litauen) nach der deutschen Annexion, 1939. © picture alliance / Everett Collection Korrektorat: Sara Horn, Düsseldorf Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-36743-4
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.
Juden, Griechen und Römer.: Ablehnung und Bewunderung . . . 19 Antisemitismus und Rassismus 19 | Die Vergangenheit und die Gegenwart 21 | Juden und ihre Umwelt 23 | Die Juden im Römischen Reich 24 Rivalität mit anderen 25 | Polytheismus und Monotheismus 26
2.
Der alte und der neue Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Von Gott auserwählt 29 | Die Ausbreitung des Christentums 31 | Die Position Augustinus’ 32 | Das wahre Kind Gottes 34
3.
Diaspora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Skepsis der Kirche 37 | Vorläufig keine Dämonisierung 38 | In allen Berufen 40
4.
Kreuzzugbegeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Kreuzzüge außerhalb und zu Hause 43 | Neue Anschuldigungen 44 Die Ritualmordbeschuldigung 46 | Das gelbe Stück Stoff 47 | Öffentliche Auseinandersetzungen 48 | Zweifelhafte Privilegien 50 | Die Anfeindungen der Außenwelt 53
5.
Die Juden in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Drei Religionen – viele Fronten 55 | Drei Gruppen mit Wahrheitsmonopol 57 | Das Kunststück der Toleranz 58 | Spanien wird zu einer eigenen Welt 60 | Fremde im eigenen Land 61 | Bekehrung oder Tod 63 Die Grausamkeiten der Inquisition 64 | Systematische Säuberung 66 Die Reinheit des Blutes 67 | Von Spanien nach Portugal 68 | Eine paradoxe Minderheit 69
6.
Der schwarze Tod.:Giftmischer und Kindermörder . . . . . . . . . . 71 Eine bedrohliche Randgruppe 71 | Der Hirtenkreuzzug 72 | Todesangst und Chaos 73 | Nach der großen Pest 74 | Hass und Übergriffe 76
Inhalt
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Umfassende Propaganda 77 | Teufel und Dämonen 79 | Jüdische Medizin 80 | Die Juden und die Geldwirtschaft 81 | The Canterbury Tales 84
7.
Das erste Ghetto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Eine eigene Insel 89 | Vom Zufluchtsort zum Gefängnis 91 | Der Zweck der Segregation 92 | Auch in Venedig – gelbe Stoffstücke 94 | Dominikaner und Franziskaner 96
8. Frankreich.:Die Fremden und der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Kontrolle des Staates 97 | Eine Affäre nach der anderen 99 | Juden und Hugenotten 101
9. Deutschland.:Luther und die anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Luther und Cromwell 103 | Deutschland 104 | Ohne Bedenken 107 Der frühe Luther 109 | Hofjuden und Banditen 110 | Begründungsarten und Äußerungsformen 112
10. Shylock und die Schablonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die Juden in England 115 | Ius Talionis 117 | Fremdenangst über das Normalmaß hinaus 118 | Ein literarisches Thema 119 | Mit bekannten Schablonen 121 | Böse, aber ganz und wirklich 122
11. Ausbreitung gen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Die Vertreibung 125 | Die Lebensbedingungen im Osten 126 | Geschlossenes Auftreten 127 | Die Mauer um das Ghetto 129 | Alles bricht zusammen 131 | Kommt der Messias? 132 | Chassidismus 133 Was geschah in Russland? 134 | Judas und Ahasverus 135 | Kollektive Verantwortung 136
12. Die Schattenseiten von Aufklärung und Romantik . . . . . . . . . . . 139 Spinozas Schicksal 139 | Vernunftglauben und Wahnsinn: Voltaire 141 Die Kollaborateure der Vernunft 142 | Soziale und kulturelle Differenzierung 144 | Wie Hechte im Karpfenteich 145 | Das Beispiel Amerika 147 | Die Zweideutigkeit der Pressefreiheit 148 | Hilfe vom Naturrecht? 149 | Neue Beziehungsarten 150 | Die Autorität der Tole ranz 151 | Seelische und soziale Bedürfnisse 153 | Rousseau und der jü dische Weise 154 | Holbergs Beitrag 155 | Rassismus ist eine moderne Variante 157
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Inhalt
13. Frankreich.:Die Napoleonzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jüdische »Nationen« 162 | Napoleon und die Juden 167 | Der Feldzug im Nahen Osten 169 | Der Sanhedrin des Kaisers 173 | Das Schand dekret 178 | »Israeliten« und »Juden« 181
14. Deutschland.:In der Gewalt des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Der Rechtsstatus der Juden 183 | Deutsch-jüdische Salonkultur 186 Emanzipation und Rückschlag 189 | Antijüdische Mobilmachung 193 Die Hep-Hep-Unruhen 204 | Heine, Börne und das Junge Deutsch land 208
15. Dänemark-Norwegen.:Der Zugang der Juden zum Reich . . . . . 211 Holbergs jüdische Geschichte 212 | Der Hofprediger erzählt 214 | Die Offenbarung der Druckfreiheit 217 | In Baggesens Labyrinth 219 | Der Paragraf 221 | Unter dem Blick einer misstrauischen Mehrheit 229 Wergelands Kampf mit dem Grundgesetz 235 | Brandes und die Freiheit des Geistes 239
16. Die Damaskusaffäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Ritualmord in Damaskus? 243 | Die Reaktion der Damaskus-Juden 246 Die Presse und der Vatikan 248 | Ein internationaler Skandal 251 Die Rettungsaktion 255 | Die Heimkehr 259 | Die Auswirkungen 263
17. Der ewige und der auserwählte Jude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Die Sage vom ewigen Juden 268 | Moses Hess und das Blutopfer als Metapher 270 | Die revolutionäre Debatte über die Judenfrage 274 Richard Wagner und Ahasverus’ Erlösung 276 | Benjamin Disraelis auserwählter Jude 278
18. Russland.:Die Pogrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Der Chassidismus 287 | Haskalah – die jüdische Aufklärung 289 | Das Urteil der Dichter 292 | Jüdische Strategien 295 | Kischinew 298
19. Der Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland . . . . . . . . . . . 301 Der Berliner Antisemitismusstreit 303 | Der Antisemitismus als Antwort auf die Identitätskrise des Kaiserreichs 305 | Die Antisemitenpetition 307 | Christlicher Antisemitismus 308 | Nationalreligiöse Strömungen und biologistische Theorien 311 | Antisemitische Organisationen und Parteien in Deutschland 316 | Rückgang des Antisemitismus gegen Ende der 1890er Jahre? 318
Inhalt
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20. Der Antisemitismus im habsburgischen Österreich Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Der Antisemitismus und die Krisen 327 | Die treibenden Kräfte des Antisemitismus 329 | Katholischer Antisemitismus 331 | Schönerer und der pangermanische Rassenantisemitismus 334 | Lueger und der populistische Antisemitismus 336 | Akademischer Antisemitismus 338 Neu-religiöser Antisemitismus 340
21. Die Selbstverteidigung der Wiener Juden.: Zionismus und Antizionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Der deutsche Nationalismus des jungen Herzl 346 | Die ÖsterreichischIsraelitische Union 349 | Birnbaums jüdischer Nationalismus 352 Birnbaum versus Herzl 354 | Der Judenstaat 358 | Der Kongress in Basel 361
22. Die Dreyfus-Affäre und der französische Antisemitismus . . . . . 365 Renan, Gobineau und der Rassismus 367 | Katholischer und sozialistischer Antisemitismus 370 | Drumonts jüdisches Frankreich 373 | Die Dreyfus-Affäre 376
23. Die Protokolle der Weisen von Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Die historischen Referenzen der Protokolle 385 | Von Biarritz zur Rede des Rabbiners 387 | Maurice Jolys Dialoge 390 | Nilus und die ersten russischen Protokolle 391 | Ratschkowskis Ränke 393 | Die Protokolle erobern die Welt 395 | Rosenbergs Apokalypse und Hitlers Juden gefahr 399
24. Erster Weltkrieg, Weimarer Republik und Österreich zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Radikalisierung des Antisemitismus während des Krieges 403 | Die »Judenzählung« von 1916 405 | Verbot jüdischer Einwanderung 408 | Nach dem Weltkrieg und der Revolution blüht der Antisemitismus auf 409 Gewalttätiger Antisemitismus in der ersten Phase der Weimarer Republik 411 | Alltagsantisemitismus 413 | Die Bedeutung der Juden in der Weimarer Republik 415 | Österreich 419
25. Osteuropa in der Zeit zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . . . . 425 Die Stellung der Juden im neuen polnischen Staat 426 | Die katholische Kirche und die Juden 429 | Ökonomischer und politischer Antisemitismus 432 | Die dunklen Jahre: 1936 bis 1939 434 | Staatlicher Antisemi-
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Inhalt
tismus 435 | Ungarn – »Judengesetze« für ein christliches Ungarn 440 Rumänien – Antisemitismus aus »Leidenschaft« 441 | Litauen – »das Paradies«, das verschwand 443 | Eine Gemeinsamkeit: Der Kampf für ethnisch homogene Nationalstaaten 445
26. Die Phasen der nationalsozialistischen Segregationspolitik. Antisemitismus als Regierungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Die erste Phase 1933 bis 1935 447 | Die zweite Phase 1935 bis 1937: Die Juden werden zu zweitrangigen Menschen erklärt 452 | Die »Arisierungsphase« 1937 bis 1938 454 | Vierte Phase 1938 bis 1939: Pogrome und Entrechtung 457
27. Der Mord an sechs Millionen Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Der Krieg in Osteuropa 463 | Stigmatisierung 464 | Deportationen 466 Ghettoisierung 467 | Ausrottung – die »Endlösung« 470 | Die »Aktion Reinhardt« 474 | Das Vernichtungslager Auschwitz 477 | Die Todesmärsche 479 | Status nach der deutschen Kapitulation 480 | Was wusste die deutsche Bevölkerung? 481 | Unterschiedliche Interpretationen des Holocaust 483
28. Kollaboration und Kooperation während des Zweiten Weltkriegs 491 Kollaborationsregime 493 | Lokale Kollaborateure 497 | Möglichkeiten für Hilfe und Solidarität 502
29. Der Wille zur Ohnmacht.: Die katholische Kirche und die Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Der Streit um den Stellvertreter 505 | Achille Rattis polnische Erfahrungen 508 | Der antitotalitäre Hirtenbrief Pius XI. 512 | Der nicht abgesandte Hirtenbrief 515 | Die Kirche in Deutschland 516 | Das Schweigen Pius XII. 520 | Die Diplomatie der Angst und das Konzil der Selbstprüfung 522
30. Antisemitismus ohne Juden in den beiden deutschen Staaten und Österreich nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Jüdisches Leben in Deutschland und Österreich nach dem Holocaust 527 | Österreich: Verdrängung statt Selbstprüfung 529 | Die beiden deutschen Staaten und die Frage nach der Restitution 531 Kontinuität und Bruch im Antisemitismus in Deutschland 535 | Der Antisemitismus im vereinten Deutschland 538 | Antisemitismus bei Deutschlands Nachbarn 541
Inhalt
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31. Antisemitismus und Antizionismus in Osteuropa nach 1945 . . . 545 Pogrome nach dem Holocaust – Polen von 1944 bis 1947 546 | Die »schwarzen Jahre« in der Sowjetunion – 1948 bis 1953 550 | Auswirkungen auf andere osteuropäische Staaten 553 | Antisemitismus als politisches Instrument – Polen 1956 und 1968 555 | Die Erinnerung an die Kriegsverbrechen gegen Juden wird ausgelöscht 556 | Antisemitismus im post-kommunistischen Osteuropa 558 | Antisemitismus im post-kommunistischen Polen 560 | Die Formen des Antisemitismus im post-kommunistischen Osteuropa 563
32. Der neue Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Die neuen Ausbrüche 569 | Die Rolle der Massenmedien 574 | Der »Revisionismus« 577 | Der Antisemitismus in der muslimischen Welt 584 Der Antisemitismus im Namen des Anstandes 589
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
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Inhalt
Vorwort Beinahe täglich ist in den Medien von Antisemitismus die Rede. Journalisten, Politiker und Forscher verwenden das Wort mit unterschiedlichem Inhalt und variierender Bedeutung. Vielfach wurde versucht, das Phänomen definitorisch in seiner gesamten Spannbreite von Bedeutungsunterschieden – von Vorurteilen und feindseligen Einstellungen bis hin zu Übergriffen und Völkermord – zu erfassen. Dabei ist die bevorzugte Definition ebenso abhängig vom Standpunkt und der fachlichen Herangehensweise der einzelnen Autoren wie von den behandelten Epochen, Regionen und Ländern, der eigenen Sensibilität sowie persönlichen Erlebnissen. »Hass, der Juden trifft, weil sie Juden sind«, ist eine einfache, seit Langem angewandte Definition. Weil Antisemitismus aber durch einen Hass gekennzeichnet ist, der auf eingebildeten, den Juden zugeschriebenen Eigenschaften beruht, wurde vorgeschlagen, das Wort Juden in Anführungszeichen zu setzen – unter anderem, um allgemeine theologische Kritik am Judentum oder politische Kritik am Staat Israel vor Antisemitismus- Anklagen zu schützen. Dabei handelt es sich um eine spitzfindige Nuance. Und vielleicht kann sie uns ein wenig klüger dahingehend machen, was den Antisemitismus mitten unter uns betrifft, so lange wir uns nicht einbilden, dass sie die Antisemiten klüger macht. Gerade diese Verwandlung von faktischen Juden in eingebildete »Juden« ist die antisemitische Glanznummer schlechthin: die Dämonisierung. Der Begriff »Antisemitismus« an sich fand erst Ende der 1870er Jahre allgemein Verbreitung. Obwohl der deutsche Journalist Wilhelm Marr keine genaue Definition des von ihm geprägten Wortes lieferte, breitete sich seine Verwendung in Deutschland, Österreich, Frankreich und vielen anderen Ländern Europas wie ein Lauffeuer aus. Innerhalb weniger Monate war der neue Begriff zu einem festen Bestandteil des täglichen Sprachgebrauchs geworden. Wer dachte, die Argumentation des Antisemitismus sei zu primitiv, um Glauben zu finden, musste erkennen, dass er mit dieser Annahme falsch lag. Bücher und Zeitschriften schossen wie Pilze aus dem Boden, Organi-
Vorwort
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sationen wurden gegründet und Unterschriften für antisemitische Petitionen gesammelt. Antisemitismus als politische Bewegung wurde zu einem Kennzeichen der Kultur der nationalistischen und konservativen Rechten, wobei die antisemitische Kritik am Judentum frühzeitig auch Teil der linken Rhetorik wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts repräsentierte der Antisemitismus einerseits etwas Neues, baute andererseits aber auch auf einem Judenhass auf, der tief und dauerhaft im Christentum verwurzelt war. Obwohl der Begriff »Antisemitismus« streng genommen zu einer bestimmten Epoche und zu einer bestimmten Begründungsstrategie gehört, wird er heute als Sammelbezeichnung für alle Formen der Judenfeindlichkeit, von der Antike bis zur Gegenwart, verwendet. Wolfgang Benz, einer der führenden Antisemitismusforscher Europas, unterscheidet zwischen vier Grundformen der Judenfeindlichkeit: Erstens den vorrangig religiös motivierten Antijudaismus, wie er in der Antike und im Mittelalter zu finden war. Zweitens den »modernen« Antisemitismus, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte. Drittens den »Sekundären Antisemitismus« nach dem Holocaust und viertens den Antizionismus. Auch wenn der Ursprung des Antijudaismus in religiöser Kritik zu suchen ist, weist er zweifellos auch kulturelle, soziale und ökonomische Aspekte auf. Nicht selten wurden zum Beispiel wirtschaftliche Motive religiös begründet. Neben theologischen Argumenten, die teils dem Alten Testament, teils innerjüdischen Streitigkeiten entnommen wurden, kam es im Mittelalter, begleitet von stereotypen Vorurteilen, zunehmend zu Verdächtigungen und der Segregation von Juden. Die Juden wurden kollektiv beschuldigt, Christus ermordet zu haben, Brunnen zu vergiften, Krankheiten zu verbreiten und im Kontakt mit dem Teufel zu stehen. Sie wurden in Ghettos und Judenstraßen isoliert, mit Hüten und gelben Sternen stigmatisiert, aus Ländern und Gebieten vertrieben, in denen sie über Generationen hinweg gelebt hatten, sie wurden zwangsgetauft oder ermordet. In einzelnen Fällen – wie 1492 in Spanien – wurden die Juden auch durch Rassenkriterien definiert. Der »moderne« Antisemitismus nahm Abstand von solch primitiven Formen der Judenfeindlichkeit und war – scheinbar – wissenschaftlich begründet. Rassenforscher, Anthropologen und Biologen, und infolgedessen auch Wissenschaftler und Publizisten, entwickelten einen rassischen Antisemitismus, der Theorien über einen Rassenkampf zwischen zwei großen Gegenpolen postulierte – den Juden und den Ariern. In »ethnisch reinen«
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Vorwort
Nationalstaaten sollte kein Platz für Juden sein, die beschuldigt wurden, als entwurzelte Parasiten der »Wirtsnation« jegliche Kraft auszusaugen. In der kommunistischen Idealgesellschaft war hingegen kein Platz für Juden, die an ihrer religiösen oder nationalen Identität festhielten. Ihnen wurde der Platz der Ausbeuter im kapitalistischen System zugewiesen. Die Juden wurden mit absolut allem identifiziert, was mit »dem Modernen« verbunden werden konnte. Die Antisemiten konstruierten »den Juden« als flexible Größe. Je nach Bedarf repräsentierte er den Kapitalismus, den Liberalismus, den Parlamentarismus oder den Kommunismus, den Verfall der Traditionen, den Aufruhr der Kunstformen, gefährliche Sexualität sowie die Macht der Presse. Die Juden wurden als abstoßend dargestellt – bald aufgrund von Reichtum, bald aufgrund von Armut, bald, weil sie zu säkularisiert waren, bald, weil sie ganz im Gegenteil orthodoxe Fossile waren, die sich dem Fortschritt in den Weg stellten. Dies war möglich, weil der Hass auf die Juden ungeachtet des ideologischen Überbaus in den antijüdischen Schablonen der christlichen Tradition einen vertrauten Resonanzboden fand. Auschwitz wurde zu einem Symbol und zu einem Wendepunkt. Der Antisemitismus nach dem Krieg wurde zu einem Judenhass ohne Juden und bekam die Bezeichnung »Sekundärer Antisemitismus«. Diese Form des Antisemitismus zeigt sich meist wenig gewalttätig. Ausgehend vom Schuldgefühl Europas stilisiert er die Täternationen zu Opfern und macht die Juden zu Tätern. Behauptungen, die Juden würden sich mit Forderungen nach Entschädigungsleistungen bereichern, sie stünden hinter einer Holocaust-Industrie, um zu verschleiern, dass sie selbst für den Völkermord verantwortlich sind, werden mit alten Vorurteilen, Stereotypen und Verschwörungstheorien vermischt. Die vierte Form maskiert sich laut Benz als Antizionismus. Sie ist komplex und hat verschiedene Wurzeln. Teils versteckt sie sich hinter einer legitimen politischen Kritik, teils findet sie sich auf Seiten der politischen Linken, wo sie sich mit Globalisierungs- und Kapitalismuskritik vermischt. Sie findet sich auch in einer islamisierten Version, die, weniger verschleiert, Elemente des klassischen, europäischen Antisemitismus übernommen hat. Ein Kennzeichen des Antisemitismus ist, dass den Juden kollektiv – als Rasse, Nation, religiös oder sozial definierte Gruppe – unveränderbare Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit dem wirklichen Leben der Juden sehr wenig zu tun haben. Der Antisemitismus und die konstruierte
Vorwort
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»Judenfrage« weisen in erster Linie auf Probleme der Mehrheitsgesellschaft hin. Dieser Erkenntnis folgt, dass es keinen ewig währenden Judenhass gibt, sondern, dass der Antisemitismus immer ausgehend von der jeweils konkreten Gesellschaft sowie den jeweils konkreten Verhältnissen analysiert werden muss, unter denen er auftritt. Der alte Antisemitismus, der Rassismus und Nazismus huldigt und den Holocaust leugnet, ist leicht zu erkennen. Auch bestimmte Handlungen, wie die Schändung von Friedhöfen, das Beschmieren von Synagogen und jüdischen Geschäften sowie bösartige verbale Angriffe auf Juden auf offener Straße oder im Arbeitsleben, sind leicht als antisemitisch zu definieren. Andere Phänomene sind schwerer zu bewerten und stärker vom Kontext abhängig. Ein Jude kann selbstironisch einen Witz erzählen. Wird derselbe Witz von einem Mann erzählt, der Juden hasst, ist es nicht mehr dasselbe. Heutzutage versteckt sich Antisemitismus oft hinter anderen Argumenten. Gleichzeitig ist wichtig zu bedenken, dass nicht jeder Hass, der Juden trifft, Judenhass geschuldet ist. Es gibt viele Wege, sich dem Thema zu nähern. Philosophen und Historiker, Kultur- und Religionswissenschaftler, Soziologen und Psychologen, Politik- und Literaturwissenschaftler haben eine nahezu unüberschaubare Anzahl wertvoller Beiträge zur Antisemitismusforschung geleistet. Diese Forschung liegt unserer Darstellung zugrunde. Die von uns am meisten genutzten Arbeiten sind in den Endnoten sowie im Literaturverzeichnis benannt. Als Autoren dieses Buches unterscheiden wir uns in der Herangehensweise, jedoch verbindet uns der Wunsch, mit unserem jeweiligen fachlichen Hintergrund, Kenntnisse über den Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart zu vermitteln. Es sollte überflüssig sein zu erwähnen, dass die Darstellung in keiner Weise vollständig ist. Sie folgt einer Chronologie, mit den verschiedenen Ausbrüchen von Antisemitismus als Dreh- und Angelpunkt. Wir haben versucht, die Ereignisse im Licht des jeweiligen historischen, ideologischen und literarischen Kontextes darzustellen und zu deuten, sie kurz gesagt zu vermitteln. Abhängig vom Thema des jeweiligen Kapitels umfasst dieser Kontext in variierendem Grad auch die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft. Die Geschichte des europäischen Judenhasses ist zugleich auch eine düstere Erzählung über unseren historischen Umgang mit dem Anderen. Der Versuch der Nationalsozialisten, den Anderen auszurotten, hat unter Juden
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Vorwort
die hebräische Bezeichnung Schoah erhalten. Trotz der guten Argumente gegen die Verwendung des Begriffs »Holocaust« – holokauston stammt aus dem Griechischen und bezeichnet ein religiöses Brandopfer – haben wir uns entschieden, dem Beispiel von The Holocaust Encyclopedia zu folgen und an dem Begriff festzuhalten, da er im täglichen Sprachgebrauch sowie in der Forschungsliteratur eingearbeitet ist. Alle, die in den Jahren nach dem Holocaust versucht haben, die Geschichte des Judenhasses zu analysieren und zu vermitteln, haben im Schatten eines großen und bedrohlichen Wortes gearbeitet. Bahnt man sich heute den Weg durch die judenfeindlichen Begriffe, lautet die grundlegende Frage immer, inwieweit die Vorstellungen und Vorurteile mitverantwortlich für den Völkermord waren. Dahingehend kann es von Nutzen sein, sich in Erinnerung zu rufen, dass selbst die engste Definition von modernem Antisemitismus keine hinreichende Bedingung dafür darstellt, dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Die Sozialgeschichte erinnert uns daran, dass eine Reihe anderer Faktoren hineinspielte, die historisch einmalig waren; die Ideengeschichte lehrt uns, dass eine breite Definition des Begriffs erforderlich sein kann, um die notwendigen Bedingungen zu verstehen. Der vielleicht überraschendste Punkt in Reinhard Rürups und Thomas Nipperdeys begriffsgeschichtlicher Analyse des Wortes »Antisemitismus« in Kosellecks Geschichtliche Grundbegriffe ist die Untersuchung des Sprachgebrauchs innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung. Sie zeigt, dass die Verbreitung des Antisemitismus-Begriffs nach 1933 keine neuen Höhen erreichte, wie man hätte erwarten können. Während des »Dritten Reiches« blieb ein Jude im Großen und Ganzen ein Jude, und kein Semit. In der Frühphase der Partei war die gesamte esoterische Rassenrhetorik mobilisiert worden, was jedoch schnell ein Ende fand. Späterhin drehte es sich um die Juden, nur ausnahmsweise um die Semiten. Und während des Krieges wurde dekretiert, dass der Begriff »Antisemitismus« zu vermeiden sei. Dafür gab es auch außenpolitische Gründe, der Begriff hatte einen negativen Klang angenommen und konnte dahingehend falsch ausgelegt werden, dass er mehr Völker als nur die Juden umfasste. Niemand sollte darüber im Zweifel sein, dass das Weltjudentum, und nicht die Araber, der Feind waren. In der 1944 erschienenen Neuauflage von Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage wurde der Begriff »Antisemitismus« durch »Antijudaismus« ersetzt. Derartige Justierungen ermöglichten eine Stärkung
Vorwort
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der rhetorischen Gemeinschaft mit den großen Geistern Deutschlands, die in dem heiligen Gefecht vorangegangen waren – von Luther bis Wagner. Gleichzeitig kann dies als eine Erinnerung daran dienen, wie wichtig es ist, zwischen überlieferter Rezeptionsgeschichte und aktiver ideologischer Mobilisierung alter Texte zu unterscheiden, wie Christhard Hoffmann betont hat.1 Letztendlich stehen wir so oder so sprachlos einer Mentalität gegenüber, die unbegreiflich bleibt. Am Ende ihrer Analyse zitieren Rürup und Nipperdey Rudolf Höss, den Kommandanten von Auschwitz: »Heute sehe ich auch ein, daß die Judenvernichtung falsch, grundfalsch war. Gerade durch diese Massenvernichtung hat sich Deutschland den Haß der ganzen Welt zugezogen. Dem Antisemitismus war damit gar nicht gedient, im Gegenteil, das Judentum ist dadurch seinem Endziel viel näher gekommen.«2 Das Mittel – die Ausrottung der Juden Europas – war dem Ziel – der Bekämpfung des Weltjudentums und des jüdischen Geistes – in die Quere gekommen. Eine Herangehensweise, die gleichzeitig den Holocaust nicht deterministisch erklärt und den Antisemitismus in die Geschichte des Antijudaismus integriert, anstatt umgekehrt, wurde kürzlich in dem Buch Anti-Judaismus: Eine andere Geschichte des westlichen Denkens des amerikanischen Mittelalterhistorikers David Nirenberg deutlich. Er erinnert daran, dass sich der Antijudaismus wie ein roter Faden durch die Geschichte unserer Kultur zieht. Selbst nach der Aussonderung und Ausrottung jüdischen Lebens gibt es ihn noch. Der Antijudaismus ist die Geschichte von den judeozentrischen Projektionen im westlichen Geistesleben, von der Entwicklung einer antijüdischen Sprache, die als kritisches Werkzeug diente, um der Welt Sinn und Zusammenhang zu geben – vom Ägypten des Altertums bis zum »Dritten Reich« und darüber hinaus; der Antisemitismus hingegen ist die Geschichte von den Konsequenzen, die diese Tradition für die unter uns lebenden Juden hatte. Manch einer wird das als einen Streit um Worte bezeichnen, wenn uns diese Geschichte aber etwas lehrt, dann ist es, dass man die Ideen, die das heutige Europa heimsuchen, nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, ungeachtet dessen, ob sie sich in alter oder in neuer Fasson zeigen. Der Hass, der in Uniform mit erhobenem Arm durch die Straßen marschiert, ist leicht wiederzuerkennen. Wir haben ihn schon einmal gesehen und wissen, wohin er führt. Schwieriger ist es mit der Verachtung, die sich im Namen des Guten äußert, als Ausdruck einer Gemeinschaft, die sich um sich selbst verschließt. Geschichte
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Vorwort
wird in der Gegenwart geschrieben, und die Schlussfolgerung aus der großen Antisemitismus-Untersuchung, die im Dezember 2018 von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) vorgelegt wurde, ist klar: Die Geschichte, die zwischen diesen Buchdeckeln erzählt wird, ist nicht abgeschlossen.
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TROND BERG ERIKSEN
1. Juden, Griechen und Römer: Ablehnung und Bewunderung
Was ist »Antisemitismus«, und worum handelt es sich, wenn man ihn unter dem Blickwinkel der Geschichte betrachtet? Die Antwort darauf ist alles andere als einfach. Die gewählten Definitionen repräsentieren oft einen zentralen ideologischen Aspekt des Phänomens Judenhass. Einige schreiben breitgefächerte, nahezu allumfassende Darstellungen, deren Ziel es häufig ist, historische Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen – aller Unterschiede zum Trotz. Andere liefern enger gefasste Definitionen des Begriffs und setzen voraus, dass im Laufe der Zeit viele verschiedene Formen des Antisemitismus einander abgelöst haben.
Antisemitismus und Rassismus Die Rekonstruktionen sind oft von dem jeweils aktuellen Ausgangspunkt gefärbt: Die Dreyfus-Affäre, der Rassismus der Zwischenkriegszeit, nationalromantische Fantasien von der »Volksseele« oder religiöse Kontroversen über Verwandte und Konkurrenten des Christentums haben zu verschiedenen Begriffen von »Antisemitismus« und somit zu verschiedenen Versionen der Geschichte geführt.1 Liegt der Antisemitismus an den Juden oder am jeweiligen Umfeld? Die von uns untersuchten Geschehnisse weisen augenscheinlich sowohl reale machtpolitische als auch mehr imaginär mythologische Elemente auf. Dabei haben sich die Legenden als widerstandsfähiger erwiesen als die machtpolitischen Realitäten. Nicht derart, dass das eine veränderbar und das andere unveränderbar ist. Beide Aspekte haben sich von Generation zu Generation verändert. Voraussetzung für die real machtpolitischen wie auch für die mehr imaginär mythologischen Elemente war, dass die Juden als Kollektiv für all das verantwortlich gemacht wurden, was man an einzelnen Vertretern der Gruppe auszusetzen haben konnte.
Antisemitismus und Rassismus
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Betrachtet man blutige Auseinandersetzungen und Gewalthandlungen in der älteren Geschichte, ist es wichtig zu bedenken, dass in der vormodernen Welt in allen Beziehungen zwischen verschiedenen Reichen, Klassen und Volksgruppen Gewalt eher die Regel als die Ausnahme war. Nirgendwo in der Literatur der vorchristlichen Antike sind hingegen Spuren von etwas zu finden, das dem späteren Antisemitismus gleicht. Kriegerische Aus einandersetzungen oder Gewalt hatten die Juden bereits im zweiten Jahrhundert vor Christus in alle Himmelsrichtungen verstreut. Man geht davon aus, dass zu Beginn unserer Zeitrechnung eine Million Juden in Palästina und vier Millionen im übrigen Gebiet rund um das Mittelmeer lebten. Bereits im letzten Jahr des Bestehens lebten Juden im gesamten römischen Reichsgebiet verstreut. Dabei gingen Juden allen möglichen Berufen und Handwerken nach, und die meisten von ihnen waren relativ arm. In der Tat finden sich – so zum Beispiel beim römischen Historiker Tacitus – herabsetzende Bemerkungen über Juden. Diese entfalteten eine unverhältnismäßig starke Wirkungsgeschichte, weil Renaissance und Neuhumanismus diese Aussagen als autoritativ auffassten. Keine antike Quelle benennt Juden in erster Linie als Kaufleute. Keine antike Quelle misst ihnen beneidenswerten Reichtum oder ein besonderes Verhältnis zu Geld bei. Kein antiker Autor thematisiert das Aussehen der Juden und schreibt ihnen sichtbare ethnische Kennzeichen zu. Als hervorstechendstes Merkmal wurde nur ihr Monotheismus genannt. Skepsis gegenüber Fremden hat es immer gegeben – und wird es immer geben. Die Begründungen dafür haben sich jedoch geändert. Rassismus ist dabei nur eine von vielen und als Begründung für Fremdenhass relativ neu. Ein mit Rasse begründeter Antisemitismus tauchte erstmals in der Napoleonzeit auf. K. W. Fr. Grattenauers Schrift Wider die Juden aus dem Jahr 1802 gilt hierbei als erster dokumentarischer Beleg. Selbst innerhalb des modernen Rassismus gibt es eine Reihe ideologischer Variationen.2 Die spanische Ideologie hinsichtlich der »Reinheit des Blutes« (limpieza de sangre) aus dem Spätmittelalter unterscheidet sich beispielsweise stark von der Idee von Fremden als Feinden des eigenen Volks in der Romantik oder von faschistischen und sozialdarwinistischen Ideologien, die im Daseinskampf zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheidet. Heutige Feindschaft gegenüber Juden wird nicht mehr maßgeblich von der DreyfusAffäre oder dem Rassismus der Zwischenkriegszeit bestimmt. Die Geschichte der Schoah und die Kämpfe – insbesondere die ideologischen
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Auseinandersetzungen – rund um den Staat Israel spielen eine große Rolle. Ein weiterer Aspekt ist die Fülle an Literatur, die in den vergangenen 30 Jahren über den Antisemitismus als Teil des Sündenregisters der Kirche erschienen ist. Alle diese Kontroversen sind hermeneutisch unumgänglich, das heißt, sie färben unseren Blick auf die Geschichte, ob wir wollen oder nicht. Daher ist es so schwer, den Antisemitismus der Antike, des Mittelalters, der Reformation, der Aufklärung oder der Romantik isoliert voneinander zu betrachten. Stets ist die Versuchung groß, spätere Ereignisse in frühere hineinzuprojizieren, so als seien sie die tieferliegenden, versteckten Absichten der früheren Geschehnisse. Oft wirken die Projektionen auch wie ein Filter, der bestimmt, was man in der Vergangenheit sehen kann. Nur was als Analogie zur aktuellen Situation dargestellt werden kann, wird unmittelbar entdeckt. All das andere zu entdecken, erfordert etwas Mühe. Einer der faszinierendsten Aspekte der Geschichte des Antisemitismus ist die Temperatur der Kontroversen. Es ist nicht schwer herauszufinden, welche Ansichten auf den jeweiligen Seiten vorherrschen. Faktisch gehört die verwendete Sprache zu den emotionalsten und wirklichkeitsfremdesten der gesamten Ideologiegeschichte des Westens. Aber wir wollen nicht nur wissen, wer was gesagt hat. Wir wollen auch versuchen zu verstehen, warum sich der Hass gegen die Juden so entwickelt hat, dass sowohl im Gebrauch von Sprache als auch im Einsatz von Gewalt alle Normen der Zivilisation missachtet wurden.
Die Vergangenheit und die Gegenwart Wir gehören der Schule an, die innerhalb der Geschichte des Antisemitismus gern Brüche und Mutationen hervorhebt. Diese Geschichte häufte aber auch ein sprachliches Arsenal an, das von vielen Generationen genutzt wurde, die die ideologischen und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen der ursprünglichen Erzeuger dieser Argumente eigentlich nicht teilten. So übernahmen zum Beispiel die Nazis einige Argumentationsweisen aus den alten theologischen Kontroversen und profilierten sich auf diese Weise als Verteidiger des Christentums, obwohl sie der christlichen Tradition in vielerlei anderer Hinsicht eher ablehnend gegenüberstanden. Ideologien können Ausdruck von Gefühlen und Wahrnehmungen sein, sie können
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Gefühle und Wahrnehmungen aber auch maskieren. Als Historiker ist es notwendig, einen Blick dafür zu entwickeln, wann das eine beziehungsweise das andere zutrifft. Ein weiterer hermeneutischer Aspekt, der gern der Gegenwart entnommen und auf die Vergangenheit projiziert wird, ist das Verhältnis westlicher Kulturen zu den Anderen und den Fremden. Das Befremdliche im Verhältnis der modernen westlichen Zivilisation zu Randgruppen, Außenseitern und kolonialisierten Völkern haben Kritiker dieser Kultur, wie Frantz Fanon, Edward W. Said, Michel Foucault und Martin Bernal, in den vergangenen 60 Jahren hervorgehoben. Erfahrungen aus der Begegnung mit fremden Völkern in Amerika, Afrika und dem Osten haben bei vielen Autoren neuere Darstellungen der Geschichte des Antisemitismus gefärbt. Ebenso haben ideologische und kulturelle Gegensätze zwischen der muslimischen und der westlichen Welt auf die Deutung des Antisemitismus als Phänomen Einfluss gehabt. Auf der einen Seite zeigt die heutige Auseinandersetzung mit der mus limischen Welt, wie zentral das Thema im Verhältnis zum westlichen Selbstverständnis platziert werden kann. Auf der anderen Seite muss man aufpassen, nicht alles auf eine Erklärung zurückzuführen. Historische Erklärungen müssen in gewissem Maße immer einzigartig und spezifisch sein, weil jedes historische Ereignis etwas Einzigartiges und Spezifisches aufweist. Das bedeutet indessen nicht, dass es keine sinnvollen Übertragungen oder fruchtbaren Analogien von dem einen auf das andere Feld, von dem einen auf das andere Jahrhundert gibt. Die Debatte über den einzigartigen Charakter des Holocaust ist vom Standpunkt eines Historikers aus betrachtet hingegen vollkommen überflüssig. Selbstverständlich war das Ereignis einzigartig – wie alle historischen Ereignisse es sind. Das bedeutet nicht, dass das Ereignis nicht zur Geschichte gehört, sondern bekräftigt gerade, dass es das tut. Notwendige Bedingungen für ein spezifisches Geschehen können äußerst allgemein sein. Die hinreichenden Gründe jedoch sind besonders, speziell und in letzter Instanz nicht wiederholbar. Das gilt sowohl für die Ideologie als auch für die Ereignisse. Jede Generation und jede Situation drückt Fremdenhass in eigenständigen ideolo gischen Mustern aus. Auch dort, wo wir auf alte Wörter und wohlbekannte Bildmotive treffen, ist deren volle Bedeutung von der besonderen Situation und den aktuellen Nutzern abhängig. Es gibt somit keinen ewigen und
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unveränderbaren Antisemitismus. Aber die religiös motivierte Judenfeindschaft erfährt selbstverständlich eine größere Kontinuität über die Generationen hinweg als der politisch motivierte, da die religiösen Gegensätze weniger zeitabhängig sind als die politischen.
Juden und ihre Umwelt Selbstverständlich wurden nicht nur die Juden, abhängig von Ort und Kontext, von der einen Generation zur anderen unterschiedlich beurteilt. Im selben Takt änderte sich auch die Einstellung von Juden zu ihrem jeweiligen Umfeld. Antisemitismus bedingte ein Wechselverhältnis, allerdings ohne jegliches Gleichgewicht. Die winzig kleine Minderheit reagierte auf Signale und Aktionen der Mehrheitsgesellschaften. Daher gibt es keinen Zweifel daran, dass es hauptsächlich die Aktionen der christlichen Mehrheit und nicht die Reaktionen der jüdischen Minderheit waren, die die Entwicklung in die Bahnen lenkte, die sie nahm. Dennoch sind die Reaktionen der Minderheit auf ihren Opferstatus ein Studium wert. Jacob Katz hat eine der aufschlussreichsten und übersichtlichsten Darstellungen der Geschichte des Antisemitismus aus Sicht der Opfer verfasst.3 Wie erlebten die Juden ihr ständig bedrohlicher werdendes Umfeld? Alle Unterschiede zwischen Juden und denen, die in ihren Augen »Heiden« waren, wurden in alten Zeiten aus religiösen Unterschieden heraus verstanden. Juden hegten ebenso stereotype Vorstellungen darüber, was man von »Heiden« erwarten konnte, wie Christen stereotype Vorstellungen von »jüdischen« Eigenschaften hatten. Indessen waren Christen in den Ländern Europas die »Eingeborenen«, während die Juden die »Fremden« waren. Christen verfügten außerdem über die politische Macht. Die Reibungen zwischen Christen und Juden hatten daher frühzeitig neben religiösen auch politische und später auch nationale Untertöne. Die prinzipielle religiöse Haltung der beiden Parteien bestand in gegenseitiger Ablehnung. Beide bestanden auf ihrem Wahrheitsmonopol, wie es der Struktur monotheistischer Religionen entspricht. In den Augen von Christen standen Juden außerhalb des Bundes, den Gott mit dem neuen Gottesvolk – der Kirche – geschlossen hatte. Nicht nur das: Indem sie sich weigerten, den Messias anzuerkennen, hatten die Juden selbst ihren einst bestehenden Bund mit Gott gebrochen.
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Nach Meinung der Juden standen die Christen außerhalb des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hatte. Die Christen gehörten jedoch dem Bund an, den Gott mit Noah und daher mit der gesamten Menschheit eingegangen war. Nach Ansicht der Christen war Gottes Bund mit Israel mit der Ankunft Jesu erloschen. Die gegenseitige religiöse Ablehnung musste also durch ökonomische Vorteile oder praktische Notwendigkeiten aufgewogen werden, wenn erträgliche Bedingungen für eine friedliche Koexistenz entstehen sollten.
Die Juden im Römischen Reich In der neueren Forschung ist besonders das zweideutige Verhältnis unterstrichen worden, das man in der Antike zu den Juden als Volksgruppe hatte.4 Während es zum einen seitens verschiedener Behörden eine regelrechte Diskriminierung und Verfolgung von in der Fremde lebenden Juden gab, fand sich andererseits auch eine Bewunderung für das Alter des jüdischen Volkes, für Mose als die ideale Führungsgestalt sowie für den strengen Monotheismus, und zwar sowohl vor als auch nach der Entstehung des Christentums. Diejenigen, die auf der Suche nach »Antisemitismus« in der Zeit vor dem Römischen Kaiserreich und vor dem Christentum sind, müssen mit einem so weit gefassten Begriff operieren, dass er ohne historischen Informationswert bleibt. Die Konflikte, mit denen sich die Juden in der Zeit des frühen Hellenismus konfrontiert sahen, unterschieden sich nicht von den Konflikten, die den Kampf anderer Gruppen ums Überleben als kulturelle oder religiöse Identitäten kennzeichneten. Erst in Verbindung mit der Kaiserverehrung und dem Christentum nahm das Ganze eine neue Wendung. Dort, wo der Monotheismus der Juden Konflikte erzeugte, sehen wir die ersten Keime dessen, was sich später zum »Antisemitismus« entwickelte. Durch die jüdischen Aufstände gegen die Herrschaft der Römer in den Jahren 38 und 67 n. Chr. verschärfte sich der Ton wesentlich. Die Juden waren die einzige religiöse Gruppe im Römischen Reich, die strenge Monotheisten waren. Außerdem stellten sie ihren Gott im Kultraum nicht bildlich dar. Nicht einmal im Tempel in Jerusalem gab es ein Bild von Jahve. Deshalb wurden die Juden – wie später die Christen – von ihrem polytheistischen und bilderfreudigen Umfeld oft als »Atheisten« oder Gottlose betrachtet. Das Römische Reich war ein Freiraum für alle möglichen
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Religionen, Philosophien und Lebensformen. Und dennoch wurden die Juden schon früh der Absonderung und Menschenfeindlichkeit angeklagt. In der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts behauptete der bedeutende stoische Philosoph Poseidonios aus Apameia, dass sich die Juden nicht mit anderen Volksgruppen umgeben wollten, und betrachtete sie als Feinde. Ausgangspunkt solcher Charakterisierungen war immer die Religion. Der jüdische Gott dulde, so der Vorwurf, keine anderen Götter neben sich. Als Juden sich weigerten, den vergöttlichten römischen Kaisern Opfer darzubringen, wurde den Juden in diesem Punkt jedoch eine Ausnahme eingeräumt. Römische Bürokraten waren nämlich praktisch veranlagt und verstanden umgehend, dass man viele merkwürdige und unerklärliche Einstellungen exotischer Völker tolerieren musste, wenn es gelingen sollte, das große Reich zusammenzuhalten. Viele antike Autoren merken an, dass sich die Juden weigerten, an Samstagen zu arbeiten und dass sie sich als Zeichen des besonderen Bundes mit ihrem Gott beschneiden ließen. Einige römische Provinzgouverneure unternahmen den Versuch, ihre Bräuche zu ändern, fanden jedoch schnell heraus, dass es bei solchen Eingriffen mehr zu verlieren als zu gewinnen gab. Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen sind aus allen großen Städten des Römischen Reiches bekannt, da jede Volksgruppe gern ihre Viertel und Stadtteile für sich behauptete.
Rivalität mit anderen Im hellenistischen Alexandria kam es bei mehreren Anlässen zu heftigen Rivalitäten zwischen Griechen und Juden. Dabei brachten die beiden Parteien selbstverständlich das Schlimmste vor, was sie übereinander sagen konnten. In seinem Werk Contra Apionem (Gegen Apion) zitiert der römische Historiker Flavius Josephus einige dieser feindlichen Angriffe gegen die Juden. Im Maßstab der Zeit betrachtet, waren solche Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen jedoch nicht ungewöhnlich. Die Juden wurden nicht durchweg schlechter behandelt als andere Minoritäten. In einer multikulturellen Weltstadt wie Alexandria zu leben, stellte in Sachen Toleranz an alle Parteien große Anforderungen. Über lange Zeiträume hinweg lebten die Gruppen jedoch in Frieden und Toleranz Seite an Seite. Nur selten ereigneten sich Angriffe auf die Juden
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als Gruppe. Diejenigen, die in der vorchristlichen Antike »Antisemitismus« finden, projizieren Momente der späteren historischen Entwicklung unbefangen auf die Vergangenheit. Der antike »Antisemitismus« wurde erst entdeckt, als der moderne Antisemitismus seine Form fand. Ganz im Gegenteil scheint es, als seien die Juden durchaus auch sowohl für ihren Monotheismus, ihre familiäre Solidarität wie auch für ihre langen kulturellen Traditionen bewundert worden. Tatsächlich machten sie in allen Lagern Proselyten. Die römischen Satiriker zu Beginn unserer Zeitrechnung – Horaz und Juvenal – spotteten gewohnheitsmäßig über jene, die sich zum Judentum bekehrten. Das lässt darauf schließen, dass derartige Bekehrungen ein bekanntes Phänomen waren. Der Ton in ihren Satiren ist den Juden gegenüber jedoch nicht schärfer als gegenüber vielen anderen Gruppen. Diejenigen, die sich bekehrten, wurden ebenso wie jene, die bereits Teil der jüdischen Gemeinden waren, in diese integriert. Die Anschuldigung sozialer und religiöser Absonderung ging auf Elemente der jüdischen Religion zurück, die sich nicht so einfach mit anderen religiösen Identitäten vereinen ließen. Der Monotheismus war nicht nur eine andere Religion als die polytheistischen, sondern auch ein anderer und bis dahin unbekannter Typus von Religion. Viele schlossen aus der strengen Bewahrung der religiösen Eigenart durch die Juden, dass diese alle anderen religiösen Gruppen verachteten oder ihnen gegenüber feindlich eingestellt seien. Dem römischen Historiker Tacitus zufolge hegten die Juden einen unerbittlichen Hass auf den Rest der Menschheit. Sie äßen und schliefen für sich, und sie verzichteten auf den Umgang mit fremden Frauen, obwohl sie ziemliche Wollüstlinge seien, schreibt er.
Polytheismus und Monotheismus Der Unterschied zwischen dem antiken Polytheismus und dem jüdischen Monotheismus liegt nicht nur darin, viele Götter zu haben versus einen einzigen Gott zu verehren. Die Götter des Polytheismus waren immer lokale Götter sowohl in geografischer als auch in sozialer Hinsicht, das heißt, sie beschützten bestimmte, konkrete Interessen in einer Region oder in einer Gesellschaftsgruppe. Der Gott des Monotheismus hingegen war im Prinzip universell.
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Der Gott der Juden wollte keinen anderen Gott neben sich haben – nicht weil er jüdisch war, sondern weil er der einzige war. Innerhalb des Polytheismus war die Bekehrung Ungläubiger vollkommen sinnlos. Man konnte sich nicht zu der griechischen oder der römischen Religion »bekehren«. Im Polytheismus konnte man sich über den Schutz der verschiedenen, lokalen Götter freuen, je nachdem, für welche Reiseroute man sich entschied und womit man sich beschäftigte. Innerhalb der polytheistischen Religion als Bezugssystem hatten alle ihre eigenen Vorstellungen und Praktiken. Den Gott des Monotheismus hat man immer bei sich, egal wo auf der Welt man sich befindet. Im Monotheismus teilen die Glaubensgenossen Vorstellungen in einer ganz anderen Weise. Dort gibt es eine rechte Lehre und entsprechend Ketzer. Es handelt sich also nicht nur um verschiedene Religionen, Polytheismus und Monotheismus sind vielmehr, wie bereits erwähnt, vollkommen verschiedene Religionstypen. Im Polytheismus kann der Kaiser ein Gott unter vielen anderen sein. Im Monotheismus kann der Kaiser nur göttlich sein, indem er sich zum Werkzeug macht und den Willen des einzigen Gottes praktiziert. Es ist ein zentrales Paradox des Monotheismus, dass er in der Beziehung zwischen den Gläubigen und einem nicht monotheistischen Umfeld isolierend wirkt, und dennoch – potenziell – alle Menschen ohne Unterschied umfasst. Nach und nach hoben die Missionstätigkeit und die militärische Expansion dieses Paradox in der Praxis jedoch auf.
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2. Der alte und der neue Bund Der prinzipielle Antisemitismus entstand mit dem Christentum, das die Forderung stellte, den alten Bund zu ersetzen. Der Begriff einer Kirche, wie er sich unter den Kirchenvätern entwickelte, trug sozusagen immer einen Stachel gegen jene in sich, die den lebendigen Heiland nicht erkannt hatten und die dadurch Gottes Wohlwollen verloren hatten. Der theologische Antisemitismus beschäftigte sich selten mit den »Christusmördern«, war jedoch umso stärker daran interessiert, dass das neue Gottesvolk, nämlich die christliche Gemeinde, das alte Gottesvolk letztlich zu Lügnern machte.1
Von Gott auserwählt Jüdischer Auffassung nach war Israel das von Gott auserwählte Volk, weil es das Gesetz empfangen hatte. Die Vorstellung vom Auserwähltsein erzeugt eine Dichotomie im jüdischen Denken, die alle Aspekte des jüdischen Selbstverständnisses bestimmt. Auch die Christen verfügten in der Idee von der Kirche als dem neuen Bundesvolk über eine Lehre der Auserwählung, eine religiöse Mehrheit mit politischer Übermacht hat es jedoch nicht nötig, das Denken von diesem Bewusstsein dominieren zu lassen. Das Thema der Auserwählung der Juden wurde so stark hervorgehoben, weil die Juden über lange Zeiträume hinweg kaum etwas anderes hatten, auf das sie sich stützen konnten. Jüdische Theologen wehrten sich auch gegen die christliche Theologie und bestritten ausdrücklich und heftig, dass Jesus der Messias gewesen sein soll. Kein christliches Symbol stimmte die Juden verdrießlicher als das Bild von Christus am Kreuz. Einen Menschen zu Gott zu machen, so wie die Christen es getan hatten, stellte ihren monotheistischen Glauben fundamental in Frage. Jüdische Theologen kontrastierten besonders ab dem 10. Jahrhundert ihren bildlosen, reinen Glauben mit der christlichen Bilderverehrung. Das
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Bilderverbot wurde auch als Grund der Ablehnung von Christus als Abbild Gottes interpretiert. Denn in jüdischen Traditionen lässt Gott sich nicht abbilden. Deshalb kann er auch keinen Sohn haben, der sein exklusives Abbild ist. Die Charakterisierung der Christen als »Götzendiener« erlegte dem Umgang mit Christen im Mittelalter von jüdischer Seite aus prinzipielle Beschränkungen auf: Das Eheverbot, das Verbot gemeinsam mit Christen zu speisen – ja, Wein zu trinken oder gekochtes Essen zu sich zu nehmen, das »Heiden« (das heißt Christen) zubereitet hatten – oder auf dem Weg zur oder von der Kirche irgendwelchen Umgang mit »Heiden« (das heißt Christen) zu pflegen, waren Verbote, die sich in vielen Varianten fanden. Für eine kleine Minderheit in einem christlichen Land ist die Fülle solcher Regeln selbstverständlich schwer zu praktizieren. Erst theologische Interpretationsräume und Auslegungen ermöglichten einer jüdischen Minderheit, solche Verbote gehorsam zu befolgen und gleichzeitig in fremden Umgebungen zu überleben. Streng genommen, konnten Juden vor christlichen Gerichten keinen Eid ablegen oder den Schwur von Christen als bindend anerkennen. Dadurch konnten die Juden mit ihren christlichen Handelspartnern keine rechtsverbindlichen Verträge eingehen. In der Praxis fand man jedoch auf beiden Seiten Umwege, so lange man einsah, dass allen damit gedient war. Von dem Augenblick an, in dem man die theologischen Prinzipien nicht mehr von der Aussicht auf gegenseitige Vorteile besänftigen ließ, rückte indessen die Katastrophe näher. Dies geschah in dem Augenblick, als man die idealen Vorstellungen des Wahrheitsmonopols auf beiden Seiten zu verwirklichen trachtete, ohne Rücksicht auf den praktischen Nutzen und gegenseitige Vorteile zu nehmen. Dort, wo die jüdischen Gruppen klein waren – in den Dörfern des Mittelalters bestanden die jüdischen Gemeinden oft nur aus etwa 20 Personen – und sie nicht überleben konnten, ohne Fleisch, Wein, Brot, Milch oder Käse zu verzehren, die »Heiden« (das heißt Christen) berührt hatten, waren die Konsequenzen vernichtend. Am größten war die Angst vor dem Wein der »Heiden«, weil dieser eine zentrale Rolle im christlichen Gottesdienst spielte. Hier waren religiöse Tabus wichtig. Denn andere alkoholhaltige Getränke, ausgenommen Wein, kaufte man gern von den »Heiden«. Im gesellschaftlichen Umgang mit »Heiden« zusammen zu trinken, war und blieb im religiösen Sinne jedoch verboten. Dass die Verbote überhaupt formuliert
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wurden, bedeutet wohl, dass es in der Praxis etwas lockerer zuging. Juden konnten im Prinzip auch nicht mit Bildern oder Gegenständen handeln, denen im christlichen Kult eine Rolle zufiel. Eine Methode der Juden, religiöse Tabus zu neutralisieren, bestand darin, die Gegenstände ausschließlich unter ihrem Geldwert zu betrachten und die Unreinheit zu vergessen oder von dieser abzusehen, die der Berührung oder dem Gebrauch durch die »Heiden« folgte.
Die Ausbreitung des Christentums Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sah der römische Historiker Sueton keinen Unterschied zwischen Juden und Christen.2 Das Christentum verbreitete sich anfangs als eine sektiererische Bewegung innerhalb des jüdischen Diasporamilieus. Starke ideologische Mittel waren vonnöten, um die Eigenart der neuen Religion zu begründen. Jesu eigene Verkündigung wich nicht in vielen Punkten vom Judentum ab. Die Verkündigung von Jesus als Messias erforderte jedoch, dass einige neue Trennlinien gezogen wurden. Die Erzählung von den Ostergeschehnissen im Markusevangelium macht die Juden zu den Hauptverantwortlichen für die Hinrichtung Jesu. Vieles deutet darauf hin, dass diese Erzählung bereits ein Beitrag im Streit zwischen den beiden Glaubensrichtungen war. Die Juden wurden zu den Hauptverantwortlichen gemacht, weil man sie im Duell der Religionen hier und jetzt bezwingen wollte. Bei der Gestalt des Judas Iskariot und den mit ihr verbundenen Legenden, wie etwa seines aus vermeintlicher Geldgier begangenen Verrats an Jesus, kann es sich um ein Produkt desselben polemischen Interesses handeln. Die neue, christliche Religion profilierte sich auf Kosten der alten, jüdischen. Erst nachdem Titus im Jahr 70 n. Chr. den Tempel in Jerusalem zerstört hatte, wurde der christliche Glaube ernsthaft ins Ausland befördert. Paulus vollendete die Trennung des Christentums vom Judentum, indem er neu bekehrte Christen von den Forderungen des jüdischen Gesetzes ausnahm, vor allem von der Pflicht zur Beschneidung. Von diesem Augenblick an war es nicht mehr notwendig, zunächst Jude und dann Christ zu sein. In jüdischer Perspektive wurden die Christen sowohl Ketzer als auch Abtrünnige. In christlicher Perspektive waren die Juden Opfer ihrer eigenen
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Untaten sowie ihrer eigenen Blindheit. Gott hatte sie fürchterlich dafür gestraft, den Messias nicht erkannt zu haben, als dieser erschienen war. Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 war in den Augen der Christen ein Beleg dafür, dass Gottes Geduld mit den Juden zu Ende war, und die Christen inszenierten ihre Identität als das neue Gottesvolk, das einen neuen und exklusiven Bund mit dem einzigen und höchsten Gott geschlossen hatte. So begann das Christentum seinen Siegeszug als ein Monotheismus ohne dieselben starken Bindungen an eine bestimmte Kultur, wie das Judentum sie hatte. Wer sich für das Judentum entschied, erhielt eine umfassende kulturelle Identität als Zugabe. Wer sich für das Christentum entschied, bekam eine Religion, die mit vielen verschiedenen kulturellen Identitäten vereinbar war. Die christliche Bekehrungstätigkeit hatte innerhalb des Römischen Reiches großen Erfolg, jedoch schlossen sich dem neuen Bund äußerst wenige Juden an. Die Irritation über den Widerstandswillen der traditionsbewussten Juden verstärkte das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Religionen, die derselben Wurzel entsprangen.
Die Position Augustinus’ Bei Augustinus (354–430) erhielten die Juden allerdings auch eine positive Rolle im christlichen Weltbild sowie in der christlichen Geschichtsdarstellung. Unter Verweis auf den Römerbrief des Paulus (Röm 11,26) bezeichnete er die Juden als Zeugen und Beweis für die Wahrheit der christlichen Lehre (Civ. Dei 28,46). Die Juden brächten ihre Bücher überall mit hin und stützten die christliche Verkündigung, indem sie die Echtheit der Schriften garantierten, die die Prophezeiungen über Christus enthielten. Sie hätten diese Prophezeiungen allerdings falsch verstanden und damit ein Anrecht auf sie verloren. Sie belegten jedoch zumindest, dass die Christen diese Voraus sagen nicht selbst erfunden hätten. Das Gesetz sei nicht ungültig geworden, müsse jedoch als Vorzeichen der Kirche und ihrer Lehrsätze gelesen werden. Der Sinn des Passahlamms sei Christus. Augustinus verband die Juden mit der Apokalypse, indem er sich am Tag des Jüngsten Gerichts eine Bekehrung der Juden erhoffte (Civ. Dei 18,46; 20,29). Deshalb sollten die Christen die Juden mit Respekt behandeln: Am Ende würden sie sich bekehren. Paulus zufolge besteht der neue Bund Gottes
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mit Israel im Versprechen der am Ende eintretenden Bekehrung. Die Juden hätten also durchaus noch einen Platz in Gottes Heilsplan. Aber auch bei Augustinus sind die Juden ein Symbol für alle Ketzer. Auch Augustinus macht die Juden für den Tod Christi alleinverantwortlich (Civ. Dei 20,20). Die Heiden haben Christus nicht gesehen. Daher sei es vielleicht nicht so verwunderlich, dass es ihnen schwerfällt, an ihn zu glauben. Die Juden jedoch haben Christus gesehen und wollen dennoch nicht glauben. Wieder und wieder wird gesagt, dass die Juden »starrköpfig« und »blind« seien. Für Augustinus wie für die anderen Kirchenväter ist der Glaube an Christus die Eintrittskarte in »das wahre Israel«, das jetzt die Kirche ist (Adv. Jud. 5,6). Augustinus verwendet die Erzählung über Ham und Sem, Esau und Jakob, um den Wechsel des Bundes aus der jüdischen Überlieferung selbst zu belegen. Ham und Esau symbolisieren dabei die Juden, Sem und Jakob hingegen die Kirche. Spätere einflussreiche christliche Theologen wie Gregor der Große, Innozenz III., Bernhard von Clairvaux und auch Thomas von Aquin verwendeten Augustinus’ Auslegung bezüglich des Verhältnisses zwischen den beiden Religionen, wenn sie begründen, warum die Juden beschützt werden müssen. Auch Martin Luther bediente sich Augustinus’ Theologie über die Juden, kommt jedoch zu Schlussfolgerungen, die auf brutale Weise anders sind. Beide Gruppen beriefen sich auf dasselbe heilige Buch, die Tora und die Propheten – das »Alte Testament«. Beide beanspruchten den Gott Abrahams zu repräsentieren. Die Rivalität zweier monotheistischer Religionen ist etwas vollkommen anderes, als wenn eine oder beide Parteien polytheistisch gewesen wären. Die Römer übernahmen mehr oder weniger die Götter der Griechen als Teil einer größeren kulturellen Erbschaft. Zwei monotheistische Religionen können jedoch nicht in vollkommener Eintracht zusammenleben. Für mehr als einen universellen Gott ist kein Platz. Daher wurde der Kampf zwischen Judentum und Christentum zu einem ideologischen Kampf darüber, wer das wahre Kind Gottes ist. Aus christlicher Perspektive musste der Anspruch der Juden mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass sie ihre Chance verspielt hätten – und das gründlich. Sie hätten es nicht nur versäumt, den Messias zu erkennen, sie hätten ihn auch noch getötet. Deshalb habe Gott sie zurückgewiesen und sich eine neue Gemeinde auserwählt. Der Exklusivitätsanspruch und der Universalitätsanspruch, die dem strengen Monotheismus folgen, machten die beiden Religionen unvereinbar. Das bedeutet nicht, dass der deut-
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sche Historiker Ernst Nolte recht hatte, als er das Christentum in einem Spiegel-Interview (1994) als eine »antisemitische« Religion bezeichnete.3 Jedoch ist das Christentum eine Religion, die das Judentum notwendigerweise auf eine Teilwahrheit oder eine Halbwahrheit reduzieren muss. Nur so können das Christentum und die Kirche ihre eigenen Ansprüche erklären.
Das wahre Kind Gottes Die beiden Gruppen kämpften nicht nur darum, den Gott Abrahams zu repräsentieren, es ging auch um das Recht, dieselben Texte ihren unterschied lichen Traditionen entsprechend auszulegen. Das Christentum wollte eine lange religiöse Tradition als eigene Vorgeschichte konfiszieren. Der alte Bund, das »Alte Testament«, offenbare seinen vollen Sinn erst im »Neuen Testament«, in dem neuen Bund, hieß es. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 135 wurde es für die Christen noch wichtiger, sich von den Juden zu distanzieren, um nicht den Zorn der Römer auf sich zu ziehen. Erst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts begann das offizielle Rom zu verstehen, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Gruppen gab. Die christliche Propaganda war weitaus effektiver als die jüdische, weil sie ein besseres Angebot zu einem niedrigeren Preis offerierte, die Juden fuhren jedoch bis zur Zeit Konstantins des Großen mit ihrer Missionierungstätigkeit in der hellenistischen Welt fort. Faktisch zogen die Juden viele Heiden an, die zuvor Christen geworden waren. Das trug keineswegs zu einer Entspannung des Verhältnisses zwischen den Gruppen bei. Ein wichtiger zusätzlicher Grund, das christliche Osterfest demonstrativ zu feiern, lag bereits in den ersten Jahrhunderten darin, dass gerade diese Feier die Unterschiede zwischen den beiden Religionen betonte. Man gedachte der Leiden Christi in einer ganz bestimmten Weise. Nicht nur sollten die Qualen Christi in Erinnerung gerufen, sondern gleichzeitig auch die Schuld der treulosen Juden an dem Geschehen unterstrichen werden. Die Judas-Legende rechtfertigte die Zurückweisung des alten Gottesvolkes und wurde als eine Wesensbeschreibung für die Juden verwendet. Bereits die hebräischen Buchstaben nährten im Umfeld Misstrauen. Die geheimnisvollen Zeichen rochen angeblich geradezu nach Beschwörungen und schwarzer Magie. Über andere Meinungen oder ein anderes
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Glaubensbekenntnis zu sprechen, war zu abstrakt. Worauf es ankam, war, dass sich die Juden mit anderen Bräuchen, Riten und Zeichen umgaben. Sie repräsentierten eine umfassende und eigenständige Kultur mit allem, was dazugehörte. In vormoderner Zeit waren die sichtbaren Unterschiede immer wichtiger als die unsichtbaren. An verschiedenen Orten kamen der (Juden-)Hut, der (gelbe) Ring und das Stück Stoff hinzu, damit die (jüdische) Identität der betreffenden Person für alle erkennbar war und alle rechtzeitig gewarnt waren. Denn mit den Ungläubigen stimmte angeblich etwas nicht. Sie weigerten sich, sich taufen zu lassen, obwohl sie doch wissen mussten, dass der größte vorstellbare Gewinn auf die Getauften wartete. Eine solche Ablehnung konnte nach Ansicht der Christen nur reiner Bosheit oder dem Umstand geschuldet sein, dass sie von Dämonen besessen waren.4
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3. Diaspora Bereits in der vorchristlichen Zeit gab es in allen größeren Städten rund um das Mittelmeer jüdische Viertel. Das große Schwellenereignis war selbstverständlich die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 durch den späteren Kaiser Titus, das im Titusbogen in Rom dargestellt ist. Damit erhielt das Diaspora-Dasein einen anderen Charakter, und die Juden verloren ihr Zentrum im Heiligen Land. Für die Verbreitung des Christentums im Mittelmeerraum waren die jüdischen Diaspora-Viertel enorm wichtig. Nach dem Verschwinden des Gravitationszentrums in Jerusalem breiteten sich die jüdischen Gemeinden über die ganze Welt aus und entwickelten eigene kulturelle Traditionen.1
Die Skepsis der Kirche Über die Lebensbedingungen der Juden in Europa vom frühen Mittelalter bis zur Zeit Karls des Großen ist wenig bekannt. Auch für andere Aspekte des Lebens in diesem Zeitraum sind die Quellen spärlich. Aus dem 6. Jahrhundert ist aus dem französischen Raum jedoch eine Reihe von Konzilbeschlüssen bekannt, die Christen die Tischgemeinschaft mit Juden sowie Mischehen untersagten und den Juden in der Osterzeit Ausgangssperre erteilten. Letztgenanntes kann mit etwas Wohlwollen als ein Versuch auf gefasst werden, die Juden vor gut inszenierten christlichen Aggressionen zu schützen. Im frühen Mittelalter betrachteten die Männer der Kirche das Judentum häufig als eine Ketzerbewegung. In seinem Werk Historia Francorum (Geschichte der Franken) ist der Bischof und Hagiograf Gregor von Tours (538–594) sehr deutlich in seiner Ablehnung der Juden als treulose und boshafte Lügner. Aus Gregors Tiraden ist zu erfahren, dass die Juden im 6. Jahrhundert alle Berufe ausübten und in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden waren. Auch das Tragen von Waffen war ihnen nicht untersagt. Kirch-
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liche Beamte übten beständig Druck auf Könige und Fürsten aus, die ihrer Ansicht nach beim Schutz des religiösen Konkurrenten viel zu weit gingen. Während der karolingischen Renaissance verfasste Erzbischof Hagbart von Lyon (779–840) eine Serie von Briefen, um vor den Privilegien der Juden zu warnen. Bei Hagbart bildet noch immer die Konkurrenz zu dem alten Bundesvolk das Hauptthema. Seinen Aussagen zufolge verbreiteten die Juden Lügen über Jesus, die Jungfrau Maria sowie die Apostel. Sie hielten sich christliches Dienstpersonal, das sie mit ihren eigenen Überzeugungen indoktrinierten. Mancherorts seien die Juden so mächtig, dass sie die Markttage ändern lassen konnten, um am Sabbat frei zu haben, klagt er. Der Angriff des Erzbischofs war theologisch begründet. Er wollte die Gemeinde der Gläubigen vor der von den Juden angeblich verbreiteten Verwirrung retten. Es drehte sich nicht um »Antisemitismus« im strengen Sinne, sondern um normale religiöse Rivalität. Ein religiöses Konkurrenzverhältnis zum Glauben der Juden kann allein kaum als »Antisemitismus« bezeichnet werden. Erst wenn sich Vorstellungen über eine beständige Minderwertigkeit der Juden entwickeln – Vorstellungen, die summarische Übergriffe auf die Volksgruppe auslösen und legitimieren –, kann man mit Recht von »Antisemitismus« sprechen.
Vorläufig keine Dämonisierung Weltliche Herrscher haben in Bezug auf die Juden nicht immer auf den Rat der Bischöfe gehört. Gegen Hagbarts Ermahnungen bestätigte Ludwig der Fromme (778–840) die Privilegien der Juden. Wäre die Kultur ausschließlich und monolithisch christlich geworden, hätte das die Freiheit der weltlichen Herrscher gegenüber der Kirche eingeschränkt. Die Herrscher mussten zeigen, dass sie auch Könige für die Nichtgläubigen waren. Solche Konflikte trugen dazu bei, eine relative Unabhängigkeit der politischen Führung von der Kirchenleitung sichtbar zu machen. Im frühen Mittelalter begegnete man nirgends einer Dämonisierung der Juden als Giftmischer, Kindermörder und Religionsfrevler, wie sie dann im Hochmittelalter üblich wurde. Es finden sich auch keine Spuren von vom gemeinen Volk ausgehenden Aggressionen. Der Judenhass wurde von oben gesteuert. Die Männer der Kirche wollten Bekehrungen zum Judentum und Ehen zwischen Juden und Christen verhindern. Sie waren empört darüber,
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dass Juden sich noch immer als das einzige Gottesvolk betrachteten. Ihre bloße Existenz stelle die christliche Verkündigung von Jesus als dem Messias auf böswillige Weise in Frage. Nichts deutet darauf hin, dass sich Juden im frühen Mittelalter im Westen im sozialen Raum sichtbar von ihren christlichen Nachbarn unterschieden. Mischehen hatten eventuelle sichtbare Eigenarten längst verwischt. Sowohl in Frankreich als auch andernorts lebten die Juden in hohem Maße als eine sich selbst verwaltende Bevölkerungsgruppe mit eigenen Regeln und Gesetzen. In den größeren Städten Frankreichs und entlang des Rheins gab es jüdische Stadtteile, die jedoch noch nicht von den Stadt
Vorläufig keine Dämonisierung
Abb. 1: Nachdem der römische General, und spätere Kaiser, Titus im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem geplündert hatte, bringen römische Soldaten die Tempelschätze aus Jerusalem nach Rom. Vom Titusbogen am Forum Romanum in Rom.
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teilen der christlichen Mehrheit abgegrenzt waren. Erst im 11. Jahrhundert kam es zu großen Veränderungen in der rechtlichen Stellung der Juden. Nach der Ermordung des Patriarchen von Jerusalem und einer angeblichen Zerstörung des heiligen Grabs entstanden Gerüchte, Juden hätten sich an dem Angriff der Muslime beteiligt. Das war der Startschuss für eine Reihe antijüdischer Ausschreitungen in mehreren französischen, deutschen und italienischen Städten. Auf den nun beginnenden Kreuzzügen kam es massenhaft zu antijüdischen Morden und Raubzügen, die unter Hinweis auf die Gerüchte nun ungestraft blieben und religiös entschuldigt wurden.
In allen Berufen Im frühen Mittelalter waren Juden in allen Berufen zu finden, besonders aktiv und damit sichtbar waren sie jedoch als Kaufleute. Ein bedeutender Anteil des internationalen Handels ging durch ihre Hände, vor allem der Handel im Osten. Sie verfügten sowohl über Kontakte in den Städten des Ostens als auch über Stützpunkte in den jüdischen Siedlungen entlang des Weges. Ab dem 11. Jahrhundert übernahmen jedoch unter anderem die Venezianer einen größeren Anteil jenes Handels. Auch andere Gruppen entdeckten nun diesen mit der sich entwickelnden Geldwirtschaft wachsenden Wirtschaftszweig. Juden wurden zunehmend verdrängt und allzu oft in die Kredittätigkeit hineingetrieben. Die zunehmend unsicheren Lebensbedingungen hatten bereits dazu geführt, dass viele Juden sich auf mobile Werte konzentrierten. Vielerorts wurde ihnen untersagt, Land zu besitzen und christliche Bedienstete anzustellen. Daher mussten sie andere Überlebensstrategien wählen oder neue entwickeln. Auf diese Weise standen die Juden außerhalb des sich entwickelnden Feudalwesens und mussten auf Gewerbe und Eigentumsformen setzen, die mit der neuen Stadtkultur aufblühten. Der Geldverleih gegen Zinsen war eine gefragte und einträgliche Tätigkeit. Die Kirche widersetzte sich diesem Gewerbe und setzte Christen hier enge Grenzen. Juden befanden sich jedoch außerhalb der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Sie liefen nicht Gefahr, exkommuniziert oder bei der Inquisition angezeigt zu werden, wenn sie Geld gegen Zinsen verliehen. Die Tätigkeit war verboten, sozial und ökonomisch jedoch erforderlich. Daher war nichts naheliegender, als diese Tätigkeit den Juden zu überlassen. Schließlich waren sie ohnehin verloren. Nach
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Diaspora
und nach umgingen auch Teile der christlichen Bevölkerung das Verbot der Kirche, aber in einer Übergangsphase hatten Juden auf diesem wachsenden Markt einen Vorteil. Geldverleih ist allerdings riskant, wenn der Kreditgeber keinen vollen rechtlichen Schutz genießt.2 Kreditnehmer werden immer nach Möglichkeiten suchen, sich der Rückzahlung des Geliehenen zu entziehen. Als am äußeren Rand der christlichen Gesellschaft und ihrer Sanktionssysteme Lebende waren Juden besonders gefährdet. Sie benötigten einen besonderen Schutzstatus durch die Herrschenden. Könige und Feudalherren wie die deutschen Kaiser, französischen Feudalherren oder der englische König waren bereit, diesen gegen einen großen Anteil vom Verdienst zu vergeben. Die im Geldverleih tätigen Juden wurden so gezwungenermaßen zu Steuer eintreibern für ihre Beschützer. Kreditgeber sind bei den Kreditnehmern nie beliebt. Der Geldverleih gegen Zinsen unter den Bedingungen der Schutzbriefe der Herrschenden führte dazu, dass Juden von den Schuldnern zudem als Männer des Kaisers, des Fürsten oder des Königs dargestellt wurden. In den Vorstellungen der Schuldner wurden sie in gewisser Weise mit den Herrschenden identifiziert, mit denen sie sich angeblich gegen das Volk verschworen hatten. Minderheiten wurden auch früher meist mit denjenigen ihrer Vertreter identifiziert, die eine exponierte Position bekleideten. Obwohl die europäischen Juden abgesehen vom England des 12. Jahrhunderts niemals ein Monopol im Geldverleih hatten und nur eine Minderheit der Juden im Kreditwesen tätig war, setzte sich das Bild des jüdischen Wucherers im Bewusstsein vieler Zeitgenossen als ein Archetyp fest. Dieses findet sich in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig (1598) vollständig ausgeformt. Dieser Archetyp wurde von der Erinnerung an Judas Iskariot genährt, der Christus für 30 Silberlinge verkauft hatte. Die Übereinstimmung zwischen der legendären Gestalt und einem vorherrschenden Bild festigte die Aufmerksamkeit auf den Juden als Geldverleiher.3 Seit der Zeit Karls des Großen standen die Juden unter dem besonderen Schutz der jeweiligen Könige. Das beinhaltete auch, dass sie mit ihnen machen konnten, was sie wollten. Die Juden mussten stets unter bestimmten, definierten Bedingungen leben. Nur unter diesen Bedingungen waren sie Rechtssubjekte wie die »Eingeborenen«, die Christen, es waren. Dennoch hatten die Juden sowohl auf deutschem als auch auf französischem Gebiet bis weit in das 13. Jahrhundert hinein das Recht, Waffen zu tragen.
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4. Kreuzzugbegeisterung Der Kreuzzuggedanke des 11. Jahrhunderts entsprang einem Traum, das Heilige Land gewaltsam von den Heiden zurückzuerobern. Juden und Muslime wurden in einen Topf geworfen, sodass die Kreuzzugbegeisterung in den europäischen Städten auch zu Ausschreitungen auf jüdische Viertel führte. Die Dämonisierung der muslimischen Gegner brachte eine ent sprechende Dämonisierung der Juden mit sich.1 Die Theologen der Kreuzzugzeit hatten – mit Ausnahme von Pierre Abaillard (1079–1142) – nur undeutliche Vorstellungen davon, dass Islam, Judentum und Christentum historisch betrachtet verwandte, biblische Religionen waren.
Kreuzzüge außerhalb und zu Hause Sowohl politische als auch kirchliche Anführer widersetzten sich den barbarischsten Formen der Kreuzzugbegeisterung – oft mit erheblichem persönlichen Risiko. Aber ebenso oft mussten sie sich der mächtigen Mischung aus Gier und religiöser Aufruhr ergeben. Bei den Massakern an Juden entlang des Rheins und in Frankreich wurde niemand verschont, weder Frauen noch Kinder. In Mainz, Worms und Köln wurden die jüdischen Kolonien im 12. Jahrhundert mehr oder weniger ausgelöscht. Viele Juden begingen kollektiven Selbstmord, bevor sie sich zwangstaufen ließen. Die gewalttätigen Ereignisse verstärkten den Hass. Juden und Christen lebten in unmittelbarer Nähe zueinander. Daher konnte es vorkommen, dass jemand die Grenze überschritt und sich der anderen Religion zuwandte. Mit einigen Abtrünnigen musste man auf beiden Seiten rechnen, zudem gab es eine gewisse Missionstätigkeit. Auf jüdischer Seite war die Angst vor Zwangstaufen groß und wohlbegründet. Einige Juden nahmen das Christentum jedoch aus Überzeugung an, andere wiederum nach Kontroversen mit ihren Glaubensgenossen oder Eltern. Die Bekehrung zum Christentum bedeutete eine Anpassung an die
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vorherrschenden Sitten und Werte. Der Christ, der zum Judentum übertreten wollte, musste das ganze Gesetz (Tora) aus persönlicher Überzeugung anerkennen. Viele mussten sich vorher warnende Worte anhören, und viele Stimmen innerhalb der jüdischen Kultur lehnten Proselyten völlig ab. Das Ausmaß der Übertritte in die eine oder andere Richtung ist für keinen Ort im Mittelalter zahlenmäßig dokumentiert. In der Kreuzzugzeit ging der Judenhass in eine neue Phase über. Der deutsche König und Kaiser Heinrich IV. (1050–1106) betrachtete sich als Schutzherr für alle seine Untertanen. Den zwangsgetauften Juden billigte er ausdrücklich das Recht zu, zu ihrem alten Glauben zurückzukehren. Dem wollte Papst Clemens III. (1084–1100) jedoch nicht ohne Weiteres zustimmen. Die Kirche könne, argumentierte der Papst, nur dann etwas als »Zwangstaufe« anerkennen, wenn der Getaufte an Ort und Stelle protestiert hatte. In der Praxis gab es dafür keine Beispiele. Denn die Juden, die gegen die Zwangstaufe protestierten, wurden an Ort und Stelle getötet.
Neue Anschuldigungen Dem Ersten Kreuzzug (1095–1100) folgten einige friedliche Jahre für die Juden in Europa. Nach dem Fall des infolge des Ersten Kreuzzuges gegründeten Kreuzfahrerstaates Edessa in Kleinasien im Jahre 1146 riefen der König von Frankreich, der deutsche Kaiser, Papst Eugen III. und Bernhard von Clairvaux zu einem neuen Kreuzzug auf. In Teilen des Volkes richtete sich der Hass jedoch erneut zunächst gegen die Juden in den europäischen Städten. In der Zeit rund um den Zweiten Kreuzzug wies die Propaganda gegen die Juden jedoch auch einige neue Motive auf: die Anschuldigung des Ritualmordes an christlichen Kindern sowie die Beschuldigung der Hostienschändung. Die Anschuldigung der Hostienschändung stand in enger Verbindung mit der Charakterisierung der Juden als Christusmörder. Angeblich verachteten sie den Leib Christi – die Hostie. Auch die Anklage der Ermordung christlicher Jungen war eine Wiederholung eines neutestamentlichen Er eignisses – nämlich des Kindermordes in Bethlehem. Die neue Qualität dieser Vorwürfe im Jahr 1146 bestand darin, dass Juden vorgeworfen wurde, solche Grausamkeiten nicht nur bereits vor langer Zeit ausgeführt zu haben – das »wussten« alle –, sondern, dass sie noch immer die gleichen
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Abb. 2: Drei gekrönte Kreuzfahrer – einer nachdenklicher als die beiden anderen – töten zwei an ihren Hüten leicht zu erkennende Juden, während zwei Heilige für ihre Seelen beten. Bibelillumination aus Frankreich, ca. 1250.
Untaten begehen würden. Somit trugen sie nicht nur die Schuld für etwas, das sich zum Beginn der Zeitrechnung zugetragen hatte, ihnen wurde auch ein Wesen zugeschrieben, das sich seit dem Mord an den unschuldigen Jungen in Bethlehem und dem Mord an Christus in Jerusalem nicht verändert hatte. Hierin lag die ideologische Voraussetzung für die Angriffe im 12. Jahrhundert. Viele haben auf die Radikalisierung der antisemitischen Propaganda im 12. Jahrhundert hingewiesen.2 Eine Erklärung hierfür sind die Kreuzzüge. Eine andere Erklärung verweist auf die veränderte soziale und ökonomische Rolle der Juden – ihre Spezialisierung auf Finanzgeschäfte und Steuereintreibung. Eine dritte Erklärung weist darauf hin, dass die Juden in Nordeuropa, wo die Auseinandersetzungen besonders bitter waren, relativ neue Einwanderer waren. Auf jeden Fall ist unverkennbar, dass die häufigsten und größten Judenmassaker zeitlich mit den Kreuzzügen zusammenfallen.
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Sowohl der Dritte Kreuzzug 1183 als auch der Kampf gegen die Katharer 20 Jahre später brachten die Juden in England, Deutschland und Frankreich in eine äußerst bedrängte Lage. Auch in Spanien wurden die Kreuzzüge mit Überfällen auf die jüdischen und die muslimischen Minderheiten eingeleitet. Fürsten, Könige und Bischöfe griffen nicht selten resolut ein, um den Zorn des Volkes zu dämpfen, oftmals jedoch ohne Erfolg. Kirchenvertreter hatten schließlich selbst viele der ideologischen Voraussetzungen für die Dämonisierung der Fremden geliefert. Das Grauen der Leiden Jesu wurde in der kirchlichen Festtagsliturgie dramatisiert, und die Abweisung des alten Bundesvolkes bildlich durch Fresken, Reliefs und Skulpturen in gleicher Weise wie das Verstoßen einer untreuen Ehefrau dargestellt.
Die Ritualmordbeschuldigung Die Juden wurden mit Judas, der den Heiland für 30 Silberlinge verkauft hatte, identifiziert.3 Judas personifizierte und veranschaulichte den Verrat der Juden. All das wurde in Dramen, bildlichen Ausschmückungen und Predigten wiederholt. Auch wenn wenige Kirchenvertreter an den Plünderungen und Massakern aktiv beteiligt waren, forderte deren Propaganda doch unmissverständlich zur Ablehnung der jüdischen Religion auf und wies unermüdlich auf die angebliche historische und religiöse Schuld der Juden hin. Die Anklagen wegen Ritualmord, durch den Juden sich das Blut der Christen sicherten, waren vor dem 12. Jahrhundert vollkommen unbekannt. Dann tauchten sie plötzlich an mehreren Orten gleichzeitig auf. Der Enzy klopädist Thomas von Cantimpré (1200–1270) behauptete, die Juden täten etwas Dummes, wenn sie jedes Jahr einen Christen töteten, um sein Blut für magische Zwecke zu verwenden. Das sei dumm, so Cantimpré, weil nur Christi eigenes Blut helfen könne. Am Karfreitag des Jahres 1144 wurde in einem Wald bei Norwich die Leiche eines jungen Lehrlings gefunden. Angeblich hätten Juden sich entschieden, auf diese Weise die Leidens geschichte des Heilands zu parodieren. Den Gerüchten zufolge war die Untat auf einem geheimen Treffen von Rabbinern in Narbonne in Frankreich beschlossen worden. Die Behörden glaubten den Gerüchten nicht und beschützten die Juden in der Region, die dennoch angegriffen wurden. Die Überreste des unglück-
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seligen Lehrlings wurden später von der lokalen Kirche als Heiligenreliquien verehrt. Derartige Kulte entstanden an mehreren Orten Europas rund um die Gräber christlicher Jungen, die angeblich von Juden getötet worden waren. 1473 wurde in Trentino in Tirol die Leiche eines Jungen gefunden. Zwei Jahre später wurden neun Juden als angebliche Täter für den Mord an ihm hingerichtet. Eine komplette jüdische Gemeinde wurde ausgelöscht. Unter Folter hatten sie die Untat gestanden. Der Junge bekam eine eigene Kapelle und wurde 1582 offiziell zum Heiligen ernannt, nachdem an seinem Grab angeblich mehrere Wunder geschehen waren. In Italien waren es allen voran die Franziskaner, die diesen Glauben verbreiteten. Im Fall des kleinen Simon von Trient waren viele der treibenden Kräfte Humanisten, die sich im Prozess auf Tacitus als Zeugen der Wahrheit über die Juden beriefen. Im 13. Jahrhundert nahmen die Ritualmordbeschuldigungen immens zu und die Gerichtsverfahren endeten so blutig, dass sowohl Kaiser Friedrich II. (1236) als auch Papst Innozenz IV. (1247) die Angelegenheiten gründlich untersuchen ließen und ihren Untertanen verboten, derartige Gerüchte zu verbreiten.4 Häufig spielten ökonomische Motive eine wichtige Rolle. So konnten die christlichen Ankläger die Juden loswerden, von denen sie Geld geliehen hatten. Später kam es auch nicht selten vor, dass christliche Kinder versteckt wurden und Juden mit der Androhung, wegen Mordes an den Kindern angeklagt zu werden, erpresst wurden. Die Praxis wurde dermaßen üblich, dass Papst Gregor X. im Jahr 1272 eine eigene Bulle verfasste, in der er diese bizarre Geschäftsidee verurteilte.
Das gelbe Stück Stoff Im 13. Jahrhundert wurde es in mehreren europäischen Ländern üblich, Juden durch bestimmte Kleidung oder Stofffetzen zu kennzeichnen. Einen diesbezüglichen Beschluss fasste 1215 das Vierte Laterankonzil. Papst Innozenz III. wünschte, dass der Unterschied zwischen Christen, Muslimen und Juden ersichtlich war, sodass jeder wusste, welchen Gefahren er sich aussetzte. Solche Vorschriften fanden sich auch schon im mosaischen Gesetz. Darin war die Kennzeichnung jedoch positiv als eine sichtbare Auszeichnung derer gedacht, die dem Bundesvolk angehörten. In der Sichtweise des Papstes war der Sinn jedoch ein anderer. Für die bedrängte Minderheit wurde die Auszeichnung allerdings ein aufgezwungener Schandfleck. Dasselbe
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Konzil forderte, dass sich Juden in der Osterwoche ausschließlich in ihren Häusern aufhalten sollten. Ihnen wurde streng verboten, sich in Festkleidern zu zeigen, während die Christen die Leiden des Heilands betrauerten. Letztlich zeigen solche Verordnungen, wie weit die Assimilation sowohl ethnisch als auch sozial geglückt war. Dass es notwendig wurde, die Juden mit gelben Stoffstücken auszustatten, bedeutete, dass Unterschiede zwischen Juden und Christen ansonsten nicht sichtbar waren. Beide Gruppen sprachen zudem dieselbe Sprache. Deshalb war eine Kennzeichnung notwendig. Die Bestimmungen galten nicht nur für Juden, sondern auch für Muslime. Später erhielten auch Ketzer, Aussätzige und Prostituierte eigene Kennzeichen, um vor ihnen zu warnen. In Frankreich war das Juden-Abzeichen anfangs gelb und rund. Ab 1361 war es rot und weiß. Die Behörden verkauften solche Stoffstücke für teures Geld. Auf diese Weise erlegten sie den Randgruppen eine Extrasteuer auf. In Deutschland, Österreich und Polen mussten die Juden spezielle Hüte tragen. Im 13. und 14. Jahrhundert verschärfte eine Reihe von Konzilen sowohl in Frankreich als auch in Zentraleuropa diese Regelungen noch. Natürlich missfiel den Trägern die aufgezwungene Kennzeichnung. Dem Tragen des Judenflecks oder Judenhutes konnten sie jedoch entgehen, wenn sie zum Christentum übertraten. Das Symbol markierte im Prinzip also eine religiöse und nicht eine ethnische Zugehörigkeit. Illuminatoren und Maler des 14. Jahrhunderts stellten daher auch Juden aus dem Alten und dem Neuen Testament mit den zeitgenössischen Kennzeichnungen dar.
Öffentliche Auseinandersetzungen Die starken Aggressionen zwischen den Gruppen erschwerten eine Begegnung auf Augenhöhe. In den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Christentums hatte man im Rahmen theologischer Dispute die jeweiligen Vorzüge des Judentums und des christlichen Glaubens diskutiert. Auch im Mittelalter gab es solche großen, öffentlichen Diskussionen zwischen bedeutenden Vertretern der beiden Religionen. Aber die Dämonisierung von Juden sowie die Ausrottungskriege gegen die Albigenser und Waldenser beendeten theoretische Diskussionen. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtete der Dominikanerorden die Inquisition. Diese verkörperte die
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Wahrheit des Monotheismus. Man duldete keine Abweichung von der Kirchenlehre und definierte alle Meinungsgegner als Feinde, Betrüger und Lügner. Die theologischen Idealtypen »Christ« und »Jude« spielten praktisch eine geringere Rolle, waren jedoch ganz entscheidend für das Selbstverständnis der Gruppen sowie für die stereotypen Auffassungen der anderen von ihnen. Man achtete nicht darauf, was Juden und Christen wirklich taten, sondern wandte sich auf beiden Seiten an die Schriften, um herauszufinden, was einen »Juden« und einen »Christen« in seinem Wesen ausmachte. Bei den großen Disputationen des 13. Jahrhunderts über die Vor- und Nachteile der beiden Religionen handelte es sich um Diskussionen über Stellen in der Schrift – die in der Praxis für die Gläubigen keine Bedeutung hatten – und nicht um Diskussionen über soziale und historische Realitäten. Die Aus einandersetzungen zwischen den Religionen fanden in einer eigenen idealisierten Sphäre statt, wo die Stereotype über die anderen dazu beitrugen, die Ideale der eigenen religiösen Identität zu bekräftigen. In keinem einzigen Fall nahm man tatsächliche Erfahrungen zum Ausgangspunkt. Daher konnten die Anschuldigungen auf beiden Seiten so extrem werden: Man verfügte über eine angebliche Wesenseinsicht in die Natur des anderen, und Gerüchte spezifizierten oder konkretisierten diese. Dass die Christen oder die Juden, die man im wirklichen Leben kannte, sich nicht dem Wesen eines Christen beziehungsweise dem eines Juden gemäß benahmen, konnte die Schablonen nicht stören. Das bedeutete wohl nur, dass sie ihre wirkliche Natur verbargen und dadurch eine noch größere Bedrohung darstellten. In aller vormodernen Wissenschaft waren die Bücher eine wichtigere Wahrheitsquelle als die Erfahrung. Wenn etwas mit Dokumenten belegt werden konnte, war es auf eine Weise wahr, dass keine Erfahrung es widerlegen konnte. Diese Wahrheitsauffassung erwies sich für das Verhältnis zwischen den beiden Buchreligionen als äußerst schädlich. Eine Disputation in Paris endete 1242 beispielsweise mit der Verbrennung des Talmud.5 Die Christen verfügten über die politische Macht, eine solche Säuberung angeblich gefährlicher und zweifelhafter Schriften durchzuführen. Viele Rabbiner beneideten sie um diese Möglichkeit. Sie hätten selbst gern Hand an ihre eigenen Ketzer angelegt. Die Rabbiner wirkten daran mit, dass Maimonides’ Schriften 1234 sowohl in Montpellier als auch in Paris von der Inquisition verbrannt wurden. Auf diese Weise wurde jedoch auch
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das Interesse der Inquisition am Talmud, das heißt, an den heiligen Schriften der Juden außerhalb des biblischen Kanons geweckt. Ein Dominikaner reiste nach Rom und berichtete Papst Gregor IX., dass der Talmud Ketzereien enthalte. Der Papst bat eine Gruppe von Königen und Bischöfen, die Angelegenheit näher zu untersuchen. Die Folge war, dass Ludwig IX. von Frankreich alle Exemplare der heiligen Schriften der Juden, deren er habhaft werden konnte, aus dem Verkehr ziehen ließ. 1240 wurde in Paris eine große Anhörung arrangiert, bei der die Dominikaner die Fragen stellten und bedeutende Juden sich verteidigten. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Diskussion zwischen Gleichen. Das Ergebnis stand bereits fest. Der Talmud wurde verdammt und alle Exem plare feierlich verbrannt. Bei der Diskussion handelte es sich nicht um einen theologischen Meinungsaustausch, sondern um ein Gerichtsverfahren. Das Urteil war endgültig. Zwar ließ Papst Innozenz IV. den gelehrten Dominikaner Albertus Magnus (1206–1280) das Urteil 1248 neu bewerten, dieser kam jedoch zu demselben Schluss. Von diesem Zeitpunkt an gehörte der Talmud zu den verbotenen Schriften. Dem jüdischen Buch wohnte angeblich ein Gift inne, vor dem christliche Seelen geschützt werden sollten.
Zweifelhafte Privilegien Die üblichste Regelung bestand darin, dass Juden durch ein Zugeständnis (Privilegium) eines Königs oder eines lokalen Fürsten Zugang zu einem Territorium erhielten. Diese Erlaubnis war kostenpflichtig. Dennoch gab es keine Alternativen, und die Juden waren in der Regel loyale Untertanen, auch wenn die Behandlung, die sie durch ihre eigenen Fürsten erfuhren, häufig zweifelhaft war. Rechtsstreitigkeiten zwischen Juden und Nicht juden wurden immer an nichtjüdischen Gerichten ausgetragen. In Fragen der Moral sorgte das Verhältnis zwischen den zwei Religionen oft für einen doppelten Standard. Geldverleih gegen Zinsen war sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition verboten. Juden konnten jedoch Geld an Christen verleihen, und Christen konnten, in Gesellschaften, in denen das ansonsten verboten war, Juden Geld verleihen lassen. Denn das geistige Bedürfnis und Schicksal der Juden spielte für sie keine Rolle. Sowohl Christen als auch Juden beteiligten sich an etwas, das im religiösen Sinne eigentlich beiden Gruppen untersagt war, aber eben
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Abb. 3: Jüdischer Geldverleiher mit christlichem Kunden. Aus einem Manuskript der Cantigas de Santa Maria vom Hof Alfons X. des Weisen, Spanien 1281–84, aufbewahrt in der Bibliothek des Escorial.
für sie beide von Nutzen war. Die Gesetze galten nur gegenüber den jeweils eigenen Glaubensgenossen. An diesem doppelten Standard ist erkennbar, dass die beiden Gemeinschaften – die jüdische und die christliche – kaum miteinander verflochten waren. Erstaunlicherweise war es auf beiden Seiten so, dass die Regeln, die Gott selbst vorgegeben hatte, leichter zu umgehen waren, als die Regeln, die das weltliche Gesetzbuch beherbergte. In England waren die Juden im indirekten Sinne die Steuereintreiber des Königs und wurden im Falle von Geldnot vom König systematisch ausgesaugt. Die Könige forderten beständig größere Anteile von den Einnahmen der Ju-
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den. Auf diese Weise konnten sie die neue Geldwirtschaft besteuern. Widersetzten sich die Juden den Wünschen eines Königs, konnten sie jederzeit aus dem Land vertrieben werden. Das passierte faktisch unter Philip II. in Frankreich (1182) und später in England (1290). Dort, wo es nur um Geldstreitigkeiten mit dem König ging, wurde den Juden bald wieder Einlass gewährt – gegen Zahlung einer zusätzlichen Summe. Dort aber, wo die Kirche mit theologischen und ideologischen Argumenten das Feuer weiter am Brennen hielt, konnten die Vertreibungen über viele Generationen hinweg andauern. Vonseiten der Fürsten und Könige bestand der Zweck der Vertreibungen ausschließlich in den neuen Abgaben, die man den Juden auferlegen konnte, um ihnen wieder Zutritt zu gewähren. Nicht nur jene, die im Geldverleih tätig waren, sondern die komplette jüdische Bevölkerung wurde gern unter Verwaltung des Königs gestellt, wie es 1223 in Frankreich unter Ludwig VIII. geschah. So wollte er sich in die Steuereintreibung der Fürsten einmischen und seine Rolle als zentraler Beschützer der fremden Bevölkerung ausnutzen. Im Laufe des 13. Jahrhunderts wurden die Juden jedoch sowohl in England als auch in Frankreich und Deutschland derart von der Obrigkeit unter Druck gesetzt, dass sich ihre Tätigkeit in immer höherem Maße auf kleine Leihgeschäfte mit dem weniger wohlhabenden Teil der Bevölkerung konzentrierte. Lombarden, Venezianer, Sienesen und später die Florentiner übernahmen nach und nach den überwiegenden Teil der großen Verleihgeschäfte mit Königen, Fürsten und wohlhabenden Bürgern. Die Aggression der Armen gegenüber jenen, denen sie Kleinstbeträge schuldeten, war allerdings nicht geringer als die Aggression der Reichen gegen jene, denen sie große Summen schuldeten. Sich zum Christentum zu bekehren, war aber auch keine akzeptable Lösung. Seitens der Juden wurden Kinder, die konvertierten, enterbt. Das Eigentum der Konvertiten konfiszierten in der Regel die Fürsten. Die Kirche widersetzte sich einer solchen politischen Praxis, weil sie die Juden nicht gerade dazu ermunterte, Christen zu werden. Einen einfachen Ausweg aus der bedrängten Lage der Juden gab es also nicht. Das Ergebnis war, dass sie an ihrer gefestigten Weltsicht festhielten. Hass zwischen zwei Volksgruppen entwickelt sich häufig symmetrisch. Die Aggressionen der Juden gegenüber den Christen waren vermutlich nicht geringer als die Aggressionen der Christen gegenüber den Juden. Letztgenannte waren jedoch machtlos und in der Unterzahl.
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Die Anfeindungen der Außenwelt Laut Léon Poliakov, der das Standardwerk zur Geschichte des Antisemitismus verfasst hat, führte eben jene Situation dazu, dass sich eine besondere jüdische Mentalität entwickelte. Die Juden verfluchten ihre christlichen Feinde und überhäuften die konkurrierende Religion mit Schimpfwörtern. Die Wut veränderte jedoch nicht ihr Umfeld. Sie veränderte allen voran sie selbst. Mit erneuerter Energie wandten sich die Juden ihren religiösen Traditionen zu und suchten in ihren heiligen Schriften Rat hinsichtlich ihres Schicksals. Als Verfolgte verstärkte sich ihre Frömmigkeit. Die Anfeindungen der Außenwelt fokussierte ihre Aufmerksamkeit auf die innere Welt. Gelehrtheit und Buchstudien waren in der jüdischen Tradition immer wichtig, jetzt wurde ihre Bedeutung jedoch noch einmal unterstrichen. Die jüdische Theologie erneuerte ihre Lehre über das Martyrium und betrachtete getötete Glaubensbrüder als Gefallene in Gottes Heer im Krieg gegen »die Heiden«, das heißt die Christen. In den Zeiten vor der Pest handelte es sich bei Ausbrüchen des Judenhasses zwar um heftige, aber dennoch um Einzelereignisse. Die Juden waren noch kein vollständig ausgeschlossener oder gebrandmarkter Teil der Gesellschaft. Abgesehen von den Kennzeichnungen trugen sie die gleiche Kleidung und sprachen die gleiche Sprache wie die Christen. Die Brutalität in den Berichten sollte uns aber nicht dazu verführen zu glauben, dass es den modernen Antisemitismus bereits im Hochmittelalter gab. Generell betrachtet, unterlagen die gegenseitigen Charakterisierungen der Volksgruppen im Mittelalter nicht denselben Zivilisationsregeln, wie es später der Fall wurde. Hemmungslose Herabwürdigungen durch konkurrierende Gruppierungen trafen nicht allein die Juden. Festzuhalten ist, dass Juden bis zur Pest vielerorts als freie Bürger leben konnten und dementsprechend sowohl in militärischen wie auch in juristischen Zusammenhängen behandelt wurden. Dem kanonischen Recht der Kirche zufolge waren sie selbstverständlich Außenstehende, Fremde. Der theologische Begriff von der »ewigen Knechtschaft« als Strafe für die Ermordung und die Zurückweisung des Heilands (Thomas von Aquin) wurde durch das kanonische Recht dem allgemeinen, ideologischen Markt vermittelt, wo er nach und nach großen Schaden anrichtete.6
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5. Die Juden in Spanien Das mittelalterliche Spanien bot für die drei biblischen Religionen einen interessanten Treffpunkt.1 Es wurden mehrere regelrechte Disputationen zwischen Repräsentanten des Judentums, des Christentums und des Islam arrangiert. Ähnliche Veranstaltungen organisierte der Staufer Friedrich II. in Sizilien, was ebenfalls ein Begegnungsort vieler Kulturen war. Die intellektuellen Kontakte positiven Charakters waren jedoch machtlos gegenüber der Fremdenangst, die bei konkreten Anlässen aufblühte. Das sephardische Judentum erhielt eine klare kulturelle Eigenart.
Drei Religionen – viele Fronten Juden aus Nordafrika und dem Mittleren Osten hatten eine vollkommen andere Geschichte als die europäischen. Fruchtbar ist die Verwendung der Bezeichnung »Antisemitismus« eigentlich nur auf europäischem Boden. Die Juden waren schon sehr früh in die nordafrikanischen Städte sowie nach Spanien gekommen. In der Polemik mit den Christen wurde oft gesagt, dass die spanischen Juden nichts mit der Kreuzigung Christi zu tun hatten – denn als dies geschah, waren ihre Vorfahren längst in Spanien sesshaft geworden. Die Juden Toledos und Barcelonas erhoben den Anspruch, direkt von König David abzustammen. Schließlich setzte bereits Paulus (Röm 15,24–28) voraus, dass es in Spanien eine jüdische Kolonie gab. Schwieriger war es, sich gegen eine andere Anschuldigung zu schützen. Bei der Besetzung der spanischen Halbinsel durch die Muslime sollen die Juden mit jenen zusammengearbeitet haben. Sowohl Navarra, León als auch Galicien hielten zunächst als christliche Fürstentümer stand. Die Juden sollen dem muslimischen General Tarik 711 geholfen haben, nach Toledo – der westgotischen Hauptstadt – zu gelangen. Da Juden generell viel besser mit Muslimen als mit Christen auskamen, fiel es den Christen leicht, Juden und Muslime als Alliierte zu betrachten. Äußerst selten erlebten Juden in
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muslimischen Ländern die Unannehmlichkeiten, die in christlichen Ländern die Regel waren. Als die Kreuzzugbegeisterung auf ihrem Höhepunkt war, wurden Juden als Ungläubige und Ketzer verfolgt, zudem wurden sie mit Muslimen in einen Topf geworfen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der jüdische Monotheismus Pate stand, als sich Mohammed Anfang des 7. Jahrhunderts in die Riege der Propheten einreihte und eine neue biblische Religion begründete. Der Erzengel Gabriel hätte ihm angeordnet, den einzigen Gott – Allah – zu verkünden. Mohammed betrachtete die christliche Dreieinigkeitslehre als ein Zugeständnis an den Polytheismus. Er wollte einen strengeren Monotheismus als die christliche Theologie. Allerdings waren Mohammeds Kenntnisse sowohl über das Judentum als auch über das Christentum arg begrenzt. Mohammed glaubte an die Jungfrauengeburt, leugnete aber die Kreuzigung. Dennoch waren Christen und Juden in seinen Augen »Buchmenschen«, die große Teile der Wahrheit gesehen hatten, jedoch nicht das Entscheidendste, was ihm selbst und seinen Anhängern vorbehalten war. Abraham, der für die Juden Jude und für die Christen Christ war, war Mohammeds Berechnungen zufolge Muslim. Abraham und Ismael hatten angeblich den Tempel in Mekka gebaut (II,121)! Auch Muslime ließen sich beschneiden. Vor den Kreuzzügen war der Islam den anderen beiden Buchreligionen gegenüber äußerst tolerant, die Forderung nach Toleranz und Glaubensfreiheit ist direkt im Koran festgehalten (II,99; IV,73; XXII,17). Vor den Kreuzzügen war Jihad – »heiliger Krieg« – eine Maßnahme gegenüber jenen, die viele Götter hatten. Die Muslime erwiesen dem Christentum durchweg größeren Respekt als das Christentum dem Islam. Für die Christen war der Islam lediglich eine neue christliche Sekte, und Mohammed wurde für gewöhnlich als ein Ketzer und Schismatiker angesehen. Die religiöse Polemik gegenüber dem Islam verletzte dabei oft die Grenzen des Anstands. Guibert von Nogent behauptete im 12. Jahrhundert, dass Mohammed eines Abends, als er sturzbetrunken in einem Straßengraben eingeschlafen war, von Schweinen gefressen worden sei. Das dürfe sich nicht wiederholen. Deshalb hätten die Muslime Alkohol und Schweinefleisch verboten. Diese Art von Legenden kam in allen gegenseitigen Beschreibungen der Theologen übereinander vor. Luthers unkontrollierter Wutausbruch gegen die päpstliche Kirche und gegen die Juden entsprang jener Art von Rohheit. Es macht Sinn, sich dieses
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in Erinnerung zu rufen, wenn man die judenfeindlichen Passagen des Reformators liest. Die Sprache der religiösen Polemik war heftig, unabhängig davon, wer der Absender und wer die Zielscheibe war. Betrachtet man die Angriffe gegen die Juden nur isoliert, ist die Versuchung groß, die Polemik als einen größeren Sonderfall zu betrachten, als sie es in Wirklichkeit war.
Drei Gruppen mit Wahrheitsmonopol Ein Ort, an dem die Auseinandersetzungen besonders hitzig wurden, war selbstverständlich Jerusalem, das allen drei Religionen als Heilige Stadt gilt. Drei monotheistische Religionen mit Wahrheitsmonopol in derselben Stadt bieten einen schlechten Ausgangspunkt für praktische Lösungen. Wer auch immer die militärische und politische Macht über die Stadt Jerusalem besäße, würde immer zwei beachtliche und unversöhnliche Gegner haben. Córdoba war eine Art Wegkreuzung für verschiedene Sprachen, Kulturen und Religionen. Die Juden hatten beachtliche Kolonien in Córdoba, Granada und Toledo. Sie spielten eine wichtige Rolle im Sklavenhandel über das Mittelmeer. Später wurde das von den eigenen, christlichen Kunden gern gegen die Juden verwendet. Die Umayyaden, die das muslimische Reich von Damaskus aus geleitet hatten, wurden von den Abbasiden aus Bagdad besiegt. Jedoch gründeten die syrischen Muslime, außerhalb der Machtsphäre Bagdads, in Spanien ein neues Reich. Córdoba wurde zu einem Damaskus des Westens, mit Bibliotheken und Gelehrtheit. Im islamischen Reich kontrollierten jüdische Kaufleute einen wesentlichen Teil des Waren- und des Geldverkehrs. Als die christliche Rückeroberung – Reconquista – begann, begünstigte diese anfangs die Juden, deren Stellung durch die Vertreibung der Muslime gestärkt wurde. Santiago – der heilige Jakobus – war der Heilige, unter dessen Banner die Rückeroberung nominell erfolgte. Die Zeit von 1045 bis 1205 waren die entscheidenden Jahre. Toledo kapitulierte 1085. 1212 vereinten die christlichen Fürsten dann ihre Truppen gegen die Muslime. Málaga hielt dennoch bis in die 1480er Jahre stand, und Grenada fiel erst 1492. In diesen Kämpfen wurden auch Ritterorden gegründet, wie zu den Kämpfen um das Heilige Land. Die Kämpfe in Spanien beendeten die religiöse Toleranz, die mit wenigen Ausnahmen unter der muslimischen Herrschaft existiert hatte. Zwar konnten die Muslime anfangs auch unter
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christlicher Hoheit auf ihren Grundstücken leben, später (1115) wurden sie jedoch gezwungen, von Christen verwaltete Gebiete zu verlassen. Juden durften indessen weiter in den besetzten Städten leben. Juristisch betrachtet hatten sie vielerorts dieselben Rechte wie Christen. Häufig stellten sie eine wichtige soziale Schicht, indem sie Handel, Industrie und Handwerk kontrollierten. Durch jüdische Hände erlebten die Silbergruben und der Weinanbau in Spanien einen Neubeginn. Im Umfeld des Königs gab es jüdische Diplomaten, Berater und Finanzexperten. Vielerorts verwandelten sie die verlassenen Moscheen in Synagogen. Die zentrale Kirchenleitung in Rom war über die wachsende Macht der Juden besorgt und forderte die spanischen Bischöfe auf, sich der Sache anzunehmen. Papst Gregor VII. war der Meinung, es sei eine verkehrte Welt, wenn die Juden die Befehlsgewalt über die Christen erlangen würden. Der Leiter der spanischen Kirche, der Erzbischof von Toledo, ignorierte die Warnungen jedoch. Schließlich verschafften Juden als Steuereintreiber sowie als Verpächter kirchlicher Immobilien der Kirche große Einnahmen. Vereinzelt kam es zu einigen kleineren Übergriffen auf jüdische Siedlungen, als französische Ritter, die gegen die Sarazenen kämpften, Judenquartiere angriffen, um die leeren Reisekassen wieder aufzufüllen. Dort, wo die Macht des Königs noch nicht sicher etabliert war, wurden Juden angegriffen, weil sie dessen Steuereintreiber waren. Hinter solchen Plünderungen stand selbstverständlich kein »Antisemitismus« im eigentlichen Sinne des Wortes. Es war eine Form der Geldbeschaffung dort, wo sich eine straffreie Möglichkeit bot – wie die Leute es schon immer getan haben.
Das Kunststück der Toleranz Auch nachdem die politische und militärische Macht der Muslime vorüber war, war ihr kultureller Einfluss beträchtlich. Über 300 Jahre hinweg ließ sich der spanische König in gemeinsamen Prozessionen von Christen, Juden und Muslimen huldigen. In den sogenannten goldenen Jahrhunderten war in Spanien für alle drei Religionen Platz. Juden konnten bei christlichen Taufzeremonien als Paten fungieren, und Christen konnten die entsprechende Rolle bei Beschneidungsfesten übernehmen. Traf die Pest eine Stadt, beteten und sangen Christen und Juden gemeinsam. In Abrahams Namen kamen die drei Religionen, zum großen Schrecken des Papstes, zusammen.
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Die Juden in Spanien
Die Toleranz förderte Ordnung und Harmonie in einem christlichen Land mit großen jüdischen und muslimischen Minderheiten. Vorläufig war diese Toleranz zweckmäßig. Alle hatten Vorteile davon. Einer verbreiteten Auffassung zufolge verehrten Christen und Juden denselben Gott – auch wenn beide Parteien Einwände gegen die Überzeugungen und kultischen Gewohnheiten der anderen hatten. Der Festkalender und die Sabbatfeier der Juden wurden als Gottesdienste anerkannt und hatten somit Anspruch auf Schutz. Die Konversion vom Islam zum Judentum oder Christentum und umgekehrt war teilweise verboten und mit strengen Strafen belegt. Auf diese Weise hielt man die Balance zwischen den Machtsphären der drei Religionen. Die Könige des Hochmittelalters sicherten ihre Macht durch ständige Auseinandersetzungen mit dem Adel. In diesen Kämpfen brauchten sie Verbündete. Das Bürgertum war noch immer relativ klein und machtlos. Juden hingegen verfügten über eine auf der Wirtschaft und ihrem Wissen gründende Machtbasis, der sich die Fürsten und Könige gern bedienten. Bis zum 15. Jahrhundert widmeten sich die Juden in Spanien auch dem Handwerk in allen Formen. Sie stellten zwischen einem Viertel und einem Fünftel der städtischen Bevölkerung und konnten sich somit auch in eigenen Zünften organisieren. In den christlichen Ländern, in denen der Anteil an Juden geringer war, waren die Zünfte und somit das Handwerk Christen vorbehalten. In Spanien hingegen erfüllten Juden alle erdenklichen Funktionen – vor allem in der jungen Stadtkultur. Nur dort, wo sie nicht den Boden beackern oder ein Handwerk ausüben konnten, wurden sie in den Geld- und Tauschhandel hinüber geschoben. Aber selbst dort, wo die Verleihtätigkeit zu einer wichtigen Einnahmequelle für Juden wurde, betrieben nur äußerst wenige diese in großem Stil. Der Großteil führte bescheidene Unternehmen. Während sich der König um die praktischen Notwendigkeiten kümmerte, bewahrte die Kirche die religiösen Grundlinien. Seitens der Kirche gab es einen beständigen Strom an Warnungen vor dem Umgang mit Juden und einer Auflösung der Unterschiede zwischen den Religionen. Besonders das Vierte Laterankonzil im Jahr 1215 formalisierte die Segregation als offizielle Politik der Kirche. Diese war jedoch bereits seit drei Jahrhunderten über weniger offizielle, kirchliche Kanäle gefordert worden. Dass solche Anordnungen und Verbote ständig wiederholt und eingeschärft wurden, kann nichts anderes bedeuten, als dass Juden und Christen als Nachbarn
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und Kollegen oft einen freundschaftlichen Umgang pflegten. Das gilt besonders für die Zeit vor 1215. Die offizielle, kirchliche Stigmatisierung der Juden als eine getrennte soziale Gruppe fiel nämlich mit einer wachsenden Feindlichkeit auf mehreren Ebenen zusammen. In den Legenden des Mittelalters wurden christliche Heilige dafür gelobt, Juden niemals gegrüßt oder gemeinsam mit ihnen gegessen zu haben.2 Auch auf jüdischer Seite gab es religiöse Anführer, die immer wieder davor warnten, mit Christen zu verkehren. Im Mittelalter stellte die Religion kein abgegrenztes Feld dar. Das bedeutet, dass die prinzipielle theologische Segregation in gewissem Maße in einer vielseitigen sozialen Praxis umgesetzt werden musste. Während die Gegensätze wuchsen, wurden Juden als eigene Gruppe innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft herausdefiniert. Das aus religiöser Sicht Anerkennenswerte kollidierte jedoch auf beiden Seiten in vielerlei Hinsicht mit dem praktisch Vorteilhaften. Im übrigen Europa befanden sich die Juden noch immer auf der Flucht oder wurden ausgewiesen, weil man den Wunsch hatte, sie bei der Vergabe einer neuen Aufenthaltsgenehmigung zu besteuern. In Spanien waren sie über Generationen hinweg am selben Ort sesshaft. In den südlichen Teilen Spaniens sprachen die Juden Arabisch, lange nachdem die Christen an die Macht gekommen waren. Im Norden sprachen sie gern Kastilisch. Hingegen hatten die Juden niemals eine Affinität zu Latein, die Sprache der Kirche. Selbstverständlich führten die relativ wohlhabenden und mächtigen Juden ein nahezu säkularisiertes Leben und am königlichen Hof verschwand damit der Gegensatz zwischen Judentum und Christentum, weil jegliche Religion an Bedeutung verlor.
Spanien wird zu einer eigenen Welt Ab etwa 1100 wandte sich Spanien langsam Europa zu. Die Pilger nach Santiago de Compostela trugen dazu bei, Spanien in die Gemeinschaft der europäischen Kulturen einzugliedern und das Land von seiner muslimischen Vergangenheit zu trennen. So gelangten auch die Legenden über die angeblichen Kinderopfer der Juden nach Spanien. Die Entstehung der Bettelorden im 13. Jahrhundert wurde für die religiöse Vielfalt zu einer Katastrophe. Die jüdischen Siedlungen in Spanien wurden nun zu Missionsgebieten. So sicherte sich die Kirche die Sympathie der Bevölkerung, während die Juden
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Die Juden in Spanien
immer stärker vom Schutz der Könige abhängig wurden. Vor der Zeit der Bettelmönche drehten sich die Unstimmigkeiten zwischen Juden und ihrem Umfeld oft um Geld, Steuereintreibung und Zinsen. Die Dominikaner aktivierten nun religiöse Anklagen, die den Vorteil hatten, dass man mit den frommsten Ausreden Geld sparen oder sich Geld sichern konnte. Übergriffe auf Juden wurden so zu Beweisen der Frömmigkeit. Im Laufe des 14. Jahrhunderts war das friedliche Zusammenleben der Religionen ausgelöscht. Die Juden wurden in zunehmendem Maße zu Sündenböcken gemacht – vor allem in Verbindung mit den Verwüstungen der Pestepidemie. Am Ende des 14. Jahrhunderts kam es überall zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. Ihren Anfang nahmen die Pogrome in den Königtümern entlang der Pilgerroute nach Santiago. Die hasserfüllten, frommen Legenden aus Frankreich, England und Deutschland hatten die Pyrenäen überquert, wo sie noch höhere Wellen schlugen, weil die Juden dort so viele in der Zahl und so wichtig für die spanische Kultur waren. Der religiöse Populismus der Bettelmönche förderte Angst und Hass bei sozialen Schichten, die ansonsten nicht zu Wort kamen. Die niedere Priesterschaft war den Juden gegenüber seit jeher skeptischer eingestellt als die Bischöfe. Hatte das Vierte Laterankonzil Juden und Muslimen in christlichen Ländern auferlegt, ein Zeichen an ihrer Kleidung zu tragen (1215), musste der Papst, aufgrund jüdischer Proteste, von einer Durchführung zunächst noch absehen. Anfang des 14. Jahrhunderts wurde unterdessen auch den Juden in Spanien befohlen, spezielle Kennzeichen zu tragen. Aber erst gegen Ende des Jahrhunderts brachen ihre Stellungen zusammen, wonach sie der Wut der Bußprediger, Seminaristen und religiösen Eiferer ausgeliefert waren.
Fremde im eigenen Land Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurden die Juden in zunehmendem Maße als fremde, blutrünstige Geier beschimpft. In der Praxis verloren sie einen Großteil ihres traditionellen Rechtsschutzes. In Kastilien, wo sie sicher und beschützt gelebt hatten, wurde die Aberkennung ihrer Rechte theologisch begründet. Als sie Jesus nicht als Messias erkannten, hätten sie ihre Ebenbürtigkeit verspielt. Ihnen wurden eigene Wohnviertel zugewiesen, und christlichen Schuldnern von jüdischen Verleihern wurden die Schulden
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immer wieder gestrichen. Unter diesem Druck fand die Verleihtätigkeit von selbst ein Ende. Zu Beginn ließen sich viele Juden zum Schein taufen. Jedoch schon bald wurden die getauften Juden als noch bedrohlicher wahrgenommen als die ungetauften. Die aus praktischen Gesichtspunkten vollzogenen »Bekehrungen« verstärkten das Propagandamotiv der Verlogenheit und Mogelei der Juden. Dass einige Juden zu Christen wurden, bestätige lediglich ihre Verderbtheit, meinte man. Die reichen und mächtigen Juden, die viel zu verlieren hatten, konvertierten leichter als die breite Masse. Für die Reichen und Mächtigen war Frömmigkeit gleichwohl ein untergeordnetes Lebensmotiv. Im Gegensatz zu Spanien hielt sich der Religionsfrieden in Portugal lange. Viele Juden flohen nach Portugal, weil Juden dort eine Form von Selbstverwaltung genossen, aus der sie früher auch im Osten großen Nutzen gezogen hatten, und die später für einen kurzen Zeitraum in Polen realisiert wurde. Als Bußprediger 1391 in ganz Spanien zum Angriff auf jüdische Viertel aufriefen, brachen alle Dämme. Zwölf Jahre lang hatte der redegewandte Martinez seine Zuhörer aufgefordert, die Juden zu bestrafen und zu vertreiben. Keine kirchliche Instanz griff ein. Im Sommer 1391 wurden die ideologischen Investitionen mit Blut belohnt. Die undurchsichtige Mischung aus Geldgier und religiöser Ekstase sicherte den Erfolg. Die Grausamkeiten wurden mit dem weltbesten Gewissen ausgeführt. Zu Hunderten wurden Juden massakriert, geplündert, zum Tode verurteilt oder in den Selbstmord getrieben. Die unter Androhung von Gewalt erfolgten »Bekehrungen« waren selbstverständlich selten von Überzeugung geleitet. Das Papsttum war in diesen Jahren stark geschwächt. Zwischen 1378 und 1417 regierten stets zwei oder mehrere Päpste gleichzeitig. Daher war von der zentralen Leitung der Kirche kaum ein Eingreifen zu erwarten. Die Päpste Clemens VII. und Benedikt XIII. gingen jedoch weiter. Sie hatten ihren Sitz in Avignon, wussten jedoch ausgesprochen gut, was in Spanien vor sich ging. Aber sowohl Clemens als auch Benedikt trugen jeder auf seine Weise zur Judenverfolgung bei.
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Die Juden in Spanien
Bekehrung oder Tod Die Standhaften verachteten die Neubekehrten, und die Neubekehrten mussten ihren neuen Glaubensgenossen beweisen, dass sie wirklich die Seite gewechselt hatten. Um den Sieg zu symbolisieren, wurde eine Reihe von Synagogen zu Kirchen umfunktioniert. Der als Heiliger verehrte Dominikaner Vincent Ferrer – den man von Giovanni Bellinis Erinnerungsaltar in Zanipolo in Venedig kennt – setzte dort an, wo Martinez den Griff lockerte. Von 1412 an führte er seinen kompletten Orden in einen rücksichtslosen und barbarischen antisemitischen Kreuzzug hinein. Vincent Ferrer war Beichtvater des spanischen Papstes Benedikt XIII., der sich im Wettbewerb mit den anderen Papstprätendenten den Krieg gegen die Juden auf die Fahnen geschrieben hatte. Als der Römer Oddo di Colonna als Martin V. schließlich alleiniger Papst wurde, gab er deutlich zu verstehen, dass eine Zwangstaufe nicht als christliche Taufe galt (1421). Da war der Schaden jedoch bereits angerichtet: Spanien hatte sein die Modernisierung vorantreibendes Bürgertum verloren. Und im Zuge von Zwangsbekehrungen und Zwangstaufen zweifelten nunmehr Tausende an jeglicher Religion. Die malträtierten Juden glaubten nicht mehr an Israels Gott und nahmen ohne Überzeugung an den christlichen Riten teil. Die Neubekehrten fühlten sich schuldig und beschämt, aber weder ihre alten noch ihre neuen Glaubensgenossen hatten Verständnis für ihr Leid. De facto schien die christliche Mehrheit standhafte Juden den neu bekehrten, »christlichen« Juden vorzuziehen. In Fortalitium Fidei des jüdisch geborenen Franziskaners Alphonso de Spina gelten Juden nicht nur als Ketzer, sondern als von Natur aus böse.3 Nach einem Massaker an den Konvertiten in Toledo 1449 wurden Listen über die angeblichen Verbrechen und Laster der Juden erstellt, um die Grausamkeiten noch nachträglich zu rechtfertigen. Die Listen waren so lang und die Anklagepunkte so verschieden, dass es keine Möglichkeit gab, sich zu verteidigen. Zusammen gaben die Anklagepunkte einer Vorstellung Ausdruck, die besagte, dass sich die Juden als Kollektiv jenseits aller Rettung befanden. Für die neu bekehrten Christen war die Situation noch schwieriger, als sie es für praktizierende Juden war. Nun wurden die judenfeindlichen Argumente von der Religion auf die Natur verlegt. In der Praxis bedeutete das, dass die Bekehrung zum Christentum ihnen nunmehr keinen Frieden mehr sichern konnte.
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Die Marginalisierung und Dämonisierung der Juden folgte keinen spontanen Eingebungen, sondern wurde von der Inquisition systematisch vollzogen. In Spanien kam der Inquisition eine nationale Aufgabe als Berater für die religiöse Gleichschaltung des Landes zu, in dem die drei biblischen Religionen lange friedlich Seite an Seite existiert hatten. Die Inquisition war ein kraftvolles Begründungswerkzeug, das sowohl den Muslimen als auch den Juden den Stempel der Minderwertigkeit aufdrückte. Die neu bekehrten Juden waren noch verwundbarer als die standhaften, weil sie verdächtigt werden konnten, christliche Ketzer zu sein. Auf diese Weise fielen sie unter die Gerichtsbarkeit der Inquisition.
Die Grausamkeiten der Inquisition Durch die Inquisition verfügte die christliche Mehrheit über Zwangsmittel, die sowohl den Muslimen als auch den Juden fehlten. Anonyme Anschuldigungen bei der Inquisition verwandelten Spanien in einen totalitären Staat. Die religiösen Minderheiten wurden schutz- und rechtlos. Der häufigste Grund, jemanden anzuzeigen, war, dass er zur Essenszubereitung Öl anstatt Butter verwendete. Man konnte auch dafür gefoltert werden, kein Schweinefleisch zu essen oder an Samstagen die Bettwäsche nicht zu wechseln (Toledo, 1568). All das wurde als unfehlbares Zeichen für ketzerische Ansichten und »Judenblut« betrachtet. Ein vorbehaltloses Geständnis war die einzige Möglichkeit, solchen Anklagen lebendigen Leibes zu entkommen. Angeblich zum Besten der Opfer bediente man sich routinemäßig der Folter. Auch die Männer der Kirche begriffen, dass deren Anwendung auch zu Fehlern führen musste. Derjenige, der eventuell unschuldig angeklagt war, sollte jedoch sein Schicksal annehmen und verstehen, dass er für die Wahrheit starb, hieß es. Die Kirche bevorzugte Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen, weil man so vermied, Blut zu vergießen (Joh 15,5–6). Die Inquisition in Spanien schickte im Laufe des 15. Jahrhunderts einige Tausend Juden auf den Scheiterhaufen. Diejenigen, die den Flammen zum Opfer fielen, waren die Standhaften. Die meisten versöhnten sich mit der Kirche, indem sie öffentliche Demütigungen ertrugen und ihnen das gesamte Eigentum genommen wurde. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass selbstbewusste Päpste, wie Sixtus IV., versuchten, die Verwüstungen der Dominikaner zu stoppen (1482).
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Die Inquisitoren waren jedoch auch königliche Beamte, und als Männer des Königs folgten sie dem Rat des Papstes nicht immer. Allein in Sevilla wurden innerhalb von sieben Jahren 700 Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein wesentlicher Teil davon waren Juden, die ihren Glauben im Geheimen praktiziert hatten oder dessen verdächtigt wurden. Da es aber auch Juden gab, denen das Recht zugestanden wurde, ihre Religion zu praktizieren, waren die Übergriffe auf diejenigen, die insgeheim dem jüdischen Glauben weiter folgten, in doppeltem Sinne absurd. Die Vermögen der Verurteilten wurden zum Vorteil der Krone konfisziert, was den heuchlerischen religiösen Eifer der Könige und ihrer Helfer nicht minderte. Die Kirche lieferte die ideologische Rückendeckung, auch wenn sich eine Reihe von Päpsten und Bischöfen ausdrücklich davon distanzierte. Mehrere der bestialischsten und sadistischsten Verfolger wurden später zu offiziellen Heiligen der Kirche, wie Vincent Ferrer und Pedro de Arbués. Auch mehrere der Kinder, die am Karfreitag angeblich von Judenbanden ermordet worden waren, wurden zu Heiligen. Seitens der Kirche gab es also keinen eindeutigen prinzipiellen Widerstand gegen diesen Unfug. Im Januar 1492 gliederten König Ferdinand und Königin Isabella Granada nach Spanien ein und feierten die vollständige Rückeroberung der Halbinsel damit, dass sie alle Juden vertrieben. Diese bekamen vier Monate, um das Land zu verlassen und ihren gesamten Besitz zu verkaufen, jedoch wurde ihnen verboten, Geld mit außer Landes zu nehmen. Diejenigen, die sich taufen ließen, durften bis auf Weiteres bleiben. Berechnungen zufolge gingen etwa 150.000 Juden ins Exil – vor allem nach Portugal –, während etwa 50.000 sich taufen ließen. Diejenigen, die in Portugal landeten, bekamen acht Monate, um dann jenes Land zu verlassen. Nach Ablauf dieses Zeitraums begann der König, sie als Sklaven zu verkaufen. 1497 wurden Kinder ihren Eltern entrissen und zwangsgetauft. Hintergrund war die Heirat von König Manuel I. mit einer spanischen Prinzessin und der damit verbundene, von der Kirche regulierte Ehevertrag, der voraussetzte, dass auch aus Portugal alle Juden verschwanden. Der moralisch verdorbene spanische Papst Alexander VI. Borgia – Vater von Lucrezia und Cesare – versuchte, gegen gute Bezahlung, die Juden in Portugal zu schützen. Ihr Schicksal war jedoch besiegelt. Einige erlangten vorübergehend das Privileg, weiterhin als Juden leben zu können, wenn sie sich nur taufen ließen! 1536 wurden jedoch auch in Portugal endgültig spanische Zustände eingeführt.
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Systematische Säuberung Die Vertreibung der Juden machte aus Spanien nach und nach eine rückständige Nation, da die Juden die treibenden Kräfte der Modernisierung gewesen waren. So folgten 100 Jahre, in denen Spanien auf Grundlage des Goldes aus Amerika lebte. Mit solchen Quellen des Reichtums konnte die Modernisierung vertagt werden, ohne dass jemand bemerkte, was vor sich ging. Sowohl in den sozialen Strukturen als auch in den Bestrafungsmethoden herrschte auf der Halbinsel weiter das Mittelalter. Die Begeisterung der Spanier für Hinrichtungen war kein Einzelfall. In Spanien kamen sie jedoch häufiger vor und waren von noch mehr Prunk begleitet als andernorts. Die von der Inquisition eingefangenen und gefolterten Ketzer wurden oft an spezifischen Orten außerhalb der Städte verbrannt. Viele wurden erdrosselt, bevor sie verbrannt wurden. Zwar kann man sich nicht auf eine Gesamtzahl derer einigen, die im 15. Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen der Inquisition verbrannt wurden. Jedoch war die Mehrheit der Betroffenen auf jeden Fall Juden, die sich hatten taufen lassen und die des Rückfalls zum Judentum verdächtigt wurden. Die Inquisition etablierte ein Netzwerk von Denunzianten, die Diplome erhielten, die ihre eigene »Blutreinheit« garantierten, abhängig davon, wie viele Juden sie anzeigten. Diejenigen, die das Vergehen, das nur in ihrer religiösen Identität lag, gestanden, mussten für den Rest ihres Lebens das Gewand der Scham tragen – ein Sanbenito –, das auch auf ihre Nachkommen übertragen wurde. Hatte die Inquisition infolge anonymer Anschuldigungen erst eine verdächtige Person ins Visier genommen, hatte diese die Wahl zwischen Leugnen und damit auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, oder Gestehen und den Nachkommen somit dauerhafte Scham aufzuerlegen. Am größten war der Anteil der betroffenen Juden in den Jahren zwischen 1480 und 1530. Späterhin wurde es immer schwieriger, Juden zu finden, weshalb man sich dann auf verdächtige Protestanten und Messianisten stürzte. In diesen 50 Jahren jedoch war die Inquisition fast ausschließlich ein antisemitisches Werkzeug. Obwohl starke und beredte Interessen die Ehre sowohl Spaniens als auch der Kirche im Nachhinein retten wollten, herrscht unter Historikern kaum Uneinigkeit über die tatsächliche Rolle der Inquisition.4 Erst seit Kurzem wird von systematischen Massenmorden eines totalitären Staates gesprochen. Da auch in Spanien Protestanten und Juden
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in der kirchlichen Polemik eng miteinander assoziiert wurden, lieferte die Reformation den Judenverfolgern neue Inspiration – ganz abgesehen vom eigenen, hausgemachten Antisemitismus der Protestanten. In diesem Punkt herrschte keine Uneinigkeit zwischen Martin Luther (1483–1546) und den spanischen Katholiken. Im spanischen Antisemitismus ging es nicht nur um die Religion. Er war frühmodern in dem Sinne, dass sein wesentlicher Bezugspunkt nicht der Glauben, sondern die Natur war. In seiner Vorstellung war das Blut der Juden vergiftet, ihre Natur war verdorben. Auch der Nachkommen der Juden konnte man sich niemals sicher sein. Sie galten als in ihrem Wesen betrügerisch. Als Marranos (spanisch für »schmutzige Schweine«) wurden Juden beschimpft, die den kirchlichen Verdächtigungen nicht entkamen, selbst wenn sie sich hatten taufen lassen. So, wie die Spanier die Juden unter sich verachteten, wurden sie selbst von ganz Europa verachtet. In Italien und Frankreich gab es viele, die alle Spanier als Juden und Halbjuden betrachteten. Sowohl Luther als auch Erasmus von Rotterdam dachten so.
Die Reinheit des Blutes Die Idee vom »reinen Blut« – limpieza de sangre – entwickelte sich in Spanien zu einer kollektiven, nationalen Neurose. Die Ideologie rund um die »Reinheit des Blutes« war der erste Vorläufer eines modernen, »wissenschaftlichen« Rassismus im Gegensatz zu dem religiösen Judenhass. Denn es ist eine Form des Rassismus, wenn die »Reinheit des Blutes« zu einer Unterscheidungskategorie wird, die dem religiösen Bekenntnis übergeordnet wird. Mitte des 16. Jahrhunderts floss diese Ideologie in Spanien in die Gesetzgebung ein. Stammbäume, die die eigene Sippe über jeden Verdacht erheben konnten, wurden wichtig. In ganz Europa betrieb kein Adel einen solchen genealogischen Fetischismus wie der spanische. Erst nachdem der Vatikan – besonders unter Paul IV. Carafa – sich einmischte, verbot die Inquisition 1572 alle Diskussionen über die »Reinheit des Blutes«, und Ignatius von Loyola (1491–1556) hielt den Rassismus von seinem Jesuitenorden fern, indem er erklärte, dass »es eine Gnade wäre, vom selben Blut wie Christus zu sein«. Ignatius wählte einen bekehrten Juden zu seinem Nachfolger und einen anderen zu seinem Sekretär. 1592 musste jedoch auch der Jesuitenorden
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dem Druck der spanischen Gesellschaft nachgeben und alle bekehrten Juden verstoßen. Weil es kaum eine Familie ganz ohne jüdische Mitglieder gab, wurde die Jagd nach »infiziertem Blut« in Spanien umso hysterischer. Die Intensität des Judenhasses wurde somit zu einem Maßstab für die »Reinheit des Blutes«. Man konnte sich auf keine andere Weise von dem Verdacht befreien, zum Teil Jude zu sein, als die Juden demonstrativ zu hassen. Gleichzeitig konnten die Anklagen überall und zu jeder Zeit auftauchen – wenn es ansonsten opportun und das Opfer nicht in der Lage war, sich zu verteidigen. Damit waren die Voraussetzungen für umfassende Urkundenfälschungen und Erpressungen gegeben. Die »Reinheit des Blutes« wurde weitaus wichtiger als der wirtschaftliche Stand. Wer es sich leisten konnte, tat gut daran, seinen Reichtum in genealogische Untersuchungen zu investieren, die die eigene Familie von jedem Verdacht eines jüdischen Anteils befreiten. Kein Angriff auf die Ehre war verächtlicher als anzudeuten, dass es unter den Vorfahren möglicherweise Juden gab. Auf diese Weise wurde der Rassismus selbst für mehrere Jahrhunderte zum Hauptmotiv der internen sozialen und politischen Kämpfe in Spanien. »Ehre« zu haben war mehr oder weniger identisch mit der Illusion von der Blutreinheit der Familie. Berufe und Tätigkeiten, die mit den traditionellen Betätigungsfeldern von Juden assoziiert wurden, wurden gemieden. Auch arme Kerle gaben an, kraft ihrer »Blutreinheit« Ritter zu sein. Das ist der Hintergrund für Cervantes’ Roman Don Quijote (1618). Es handelt sich in Wirklichkeit um eine pointierte Kritik an der spanischen Gesellschaft.5
Von Spanien nach Portugal 1536 hatte sich die Inquisition auch in Portugal etabliert, wo sie schnell zum Angriff auf die ärmsten und wehrlosesten Juden überging. Die Inquisition wurde Portugal vom Vatikan aufgezwungen, und der König musste seinen eigenen Bruder zum Großinquisitor ernennen. Es war wichtig, dass der König und die Kirche die Verantwortung für deren Tätigkeit teilten, weil die Kirche kein Blut an den Händen haben wollte, auch wenn deren Vertreter die ideologischen Fundamente lieferten. Innerhalb von zwei Jahrhunderten fällte die portugiesische Inquisition über 40.000 Menschen Urteile. Aber nur ein kleiner Teil von ihnen endete
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Die Juden in Spanien
auf dem Scheiterhaufen. Die Inquisition war im Wesentlichen ein Instrument des Judenhasses. Die Rhetorik, die die Urteile rechtfertigte, war in Portugal ebenso brutal wie in Spanien. Eine merkwürdige Mischung aus Begriffen und Empfindungen, deren Hauptzutaten Ostertheologie, Gier und soziale Ressentiments waren. Eine Dämonisierung der Opfer wirkte als Brandbeschleuniger. Erst 1821 war das historische Kapitel der spanischen Inquisition beendet. Von denen, die die ersten Verfolgungen überlebten, verließen viele Spanien und Portugal in Richtung Osmanisches Reich – wo sie mit offenen Armen empfangen wurden –, die Niederlande und Italien. Vor allem in Gegenden, wo mehrere Konfessionen Seite an Seite existierten, wurde der jüdischen Religion ein Platz eingeräumt. Aber auch in muslimischen Gebieten wurden die geschäftigen und sachkundigen Juden von der Iberischen Halbinsel gut aufgenommen. Saloniki wurde für die Juden zu einer zentralen Stadt im Osmanischen Reich. Allerdings gab es auch in allen etwas größeren Hafenstädten Juden: Livorno, Venedig, Antwerpen, Ancona, Bordeaux und Hamburg. Papst Clemens VII. erlaubte 1525 einer Gruppe, sich in Ancona niederzulassen, Papst Paul IV. jedoch ließ 1556 in derselben Stadt 20 von ihnen öffentlich verbrennen. Ancona gehörte zum Kirchenstaat. Dennoch war Rom bis zur Zeit Mussolinis für Juden eine relativ sichere Stadt. Das war vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die Stadt seit der Antike Kolonien von Fremden aus allen Ecken der Welt beherbergte. Trotz der Behandlung, die sie im Heimatland erfahren hatten, fühlten sich die sephardischen Juden an die Iberische Halbinsel gebunden. Über mehrere Generationen hinweg sprachen sie weiterhin Spanisch und Portugiesisch. Sie blieben für sich und verurteilten Ehen mit Juden aus Deutschland oder der Türkei.
Eine paradoxe Minderheit Als Zentrum eines großen Netzwerks von Schiffsrouten war Venedig wie ein kleines England. Niemand weiß, ob Shakespeare wirklich in der Stadt gewesen ist, und wenn, dann wird er sich schnell zu Hause gefühlt haben. Der Jude Shylock und der Muslim Othello erfüllen in Shakespeares Drama die Rolle der Fremden, auf die die expansiven Flottenmächte England und Venedig überall stießen. 1453 war Konstantinopel in die Hände der Türken
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gefallen, und später drängten die Muslime bis an den Stadtrand von Wien vor. Die Thematisierung des Orientalischen war einer der aktuellen Aspekte in Shakespeares Dramen. Indessen war es kein Religionskrieg, sondern Handel und Politik, was die Leute zusammenführte. Das Verhältnis der Juden zu sozialem und wirtschaftlichem Erfolg war immer zweideutig. Je besser es ihnen wirtschaftlich ging, desto eher weckten sie den Neid ihres Umfeldes. Gleichzeitig bot wirtschaftliche Kraft selbstverständlich auch Schutz. Die Juden gaben niemals den Anspruch auf, das durch das Gesetz von Gott auserwählte Volk zu sein. Ohne diese Voraussetzung gibt es kein Judentum. Natürlich ist das mit einem christlichen Selbstverständnis unvereinbar. Allerdings führten sowohl der Universalismus der Kirche als auch des Kaisertums im Mittelalter jede ethnische Kategorisierung ad absurdum. Die Kirche und das Kaisertum sind aus ihrer Natur heraus universelle Größen. Daher klang der religiöse Anspruch, ein auserwähltes Volk zu sein, in den Ohren des Kaisers ebenso fremdartig wie in denen des Papstes. Dass die Juden außerdem noch immer auf den Messias warteten, machte sie aus deren Sicht zu religiösen Fantasten. Als Gruppe unterschieden sie sich daher in solchem Maße von anderen, dass man ihre individuellen Unterschiede nicht erkannte beziehungsweise nicht erkennen wollte. »Der Jude« war so oder so. Das galt für jeden einzelnen von ihnen, ohne Unterschied. Die Juden waren eine paradoxe Minorität, weil sie überall vorkamen. In der Theologie war der Teufel der Fremde. Im sozialen und kulturellen Raum waren es die Juden. Das ergab naheliegende Verbindungen ideologischen Charakters. Die Entwurzelung der Juden trotzte der etablierten feudalen Ordnung. Dort, wo jegliche Identität vom Verhältnis zur Heimaterde abstammte, waren die Juden identitätslos. Sie standen außerhalb der Ordnungsschemen, die besagten, wem gegenüber man sich in der Realität wie verhielt. Es war in der Kirche, wo die Verdächtigungen gegen die Juden am Leben erhalten wurden. In der ökonomischen und in der politischen Welt kamen ihnen aus Sicht der Herrschenden nützliche und notwendige Funktionen zu.
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TROND BERG ERIKSEN
6. Der schwarze Tod:
Giftmischer und Kindermörder
Eine Reihe mittelalterlicher antijüdischer Stereotype lebten in der modernen Zeit fort. Vorwürfe von Ritualmorden, der Vergiftung von Brunnen und der Verbreitung der Pest sowie diverse Verschwörungen gegen die Mehrheitskultur waren dabei feste Bestandteile. Die Fantasien des Mittelalters waren blühend und repetitiv. Die angeblich dämonische Erfindungsgabe der Juden wurde zu einem negativen Spiegel der heiligen Wunder und der von den Märtyrern ausgestandenen Leiden.1
Eine bedrohliche Randgruppe Übergriffe gegen jüdische Stadtteile und Siedlungen im Hochmittelalter hatten oft die Form von kollektiver Wut, die durch berechnende Anführer ausgelöst worden war. Sie konnten eine Gruppe von Menschen von Haus zu Haus und von Dorf zu Dorf treiben, um zu plündern und zu morden. In Röttingen in Franken kam 1298 das Gerücht auf, die Juden hätten eine Hostie entweiht, woraufhin ein Schlachter eine Bande von Gesinnungsgenossen aufstachelte und sie gemeinsam ein halbes Jahr lang die Gegend verwüsteten. Ebenso wie die Juden kollektiv als Christusmörder verantwortlich gemacht wurden, wurden sie nun kollektiv als verantwortlich für das eingebildete oder tatsächliche Verbrechen eines einzelnen Juden gemacht. Die Verschiedenheit der Randgruppe von der Mehrheit führte dazu, dass man die Unterschiede zwischen ihren einzelnen Vertretern nicht sah. Der Rassenbegriff, der allerdings erst weitaus später auftauchte, ist deshalb recht gut als Vergleich geeignet, weil er eine Art Erklärung des Gedankengangs hinter den kollektiven Bestrafungen liefert. Liegt der Fehler in der Rassenzugehörigkeit, kann es nicht so schlimm sein, wen man alle bestraft. Sie haben es auf jeden Fall verdient, unabhängig davon, ob oder ob sie nicht individuell an den Handlungen beteiligt waren, die die Strafe verdienen.2
Eine bedrohliche Randgruppe
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Eine kollektive Verantwortung reduziert somit radikal die Forderung nach Beweisen oder einer Dokumentation. Sicherheitshalber kann man auf alle losgehen, die dem verdächtigten Kollektiv angehören. Haben sie nichts Falsches getan, dann haben sie sicher Pläne, dies zu tun. Es versteht sich von selbst, das bedrohliche Randgruppen in Verbindung mit Unglücken und Katastrophen, die ein Land oder einen ganzen Erdteil heimsuchen, als noch bedrohlicher erscheinen. Das 14. Jahrhundert war voll von unbegreiflichen Katastrophen: die Hungersnot (1315–17), die Spaltung der Kirche mit den Gegenpäpsten in Avignon und der Schwarze Tod (1347–49). Man suchte nach Schuldigen und schaffte zugleich Schuldige, die die Unglücke erklären sollten. Die Hexenprozesse und ein weitaus stärker dämonisiertes Judenbild gehörten zu den Neuheiten dieses Jahrhunderts. Die Angst sowohl vor Hexen als auch vor Juden stieg im Takt mit der Brutalität, die man ihnen gegenüber anwendete.
Der Hirtenkreuzzug Niedrigere Schichten der Gesellschaft wurden in der Stadtkultur in Bewegung versetzt. Das Stadtproletariat war das natürliche Publikum für einen Großteil labiler Analphabeten und Bußprediger. Der Hirtenkreuzzug 1320 begann in Nordfrankreich, setzte sich jedoch bis ganz in den Süden nach Aquitanien fort, nachdem ein Hirte eine Vision gehabt hatte, die ihm auferlegte, die Ungläubigen zu bekämpfen. Der Kreuzzug wirkte sich besonders auf Juden aus, die in großer Anzahl von den hungrigen und aufgedrehten »Kreuzfahrern« geplündert und massakriert wurden. Oft begingen Juden kollektiven Selbstmord, um zu vermeiden, getötet zu werden. Viele Orte sowohl in Frankreich als auch in Deutschland tragen bis heute Namen, die auf die häufigen Massaker im 14. Jahrhundert hinweisen: Judenloch, Judenbühl, Trouaux-Juifs und so weiter. Im Laufe des Sommers und Herbstes 1320 löschte der Hirtenkreuzzug in Frankreich ganze 140 jüdische Gemeinden aus. Der Kreuzzug wurde erst aufgelöst, als Papst Johannes XXII. und König Philipp V. sich zusammentaten, um die Horden zu stoppen. Die Übergriffe waren so grausam, dass sie im Nachhinein einer verstärkten Begründung bedurften. Bereits im Sommer nach dem Hirtenkreuzzug war erstmals das Gerücht zu vernehmen, dass sich die Juden und die Leprakranken verbündet hätten, um alle
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Der schwarze Tod: Giftmischer und Kindermörder
Christen zu töten und ihre Brunnen zu vergiften. Jüdische Agenten hätten angeblich kleine Tüten einer magischen Substanz in die Brunnen entleert. Unter Folter hatten sowohl Juden als auch Leprakranke die Untaten gestanden. Einigen Versionen zufolge waren auch Muslime beteiligt, und hinter dem Ganzen steckte selbstverständlich der Teufel höchstselbst. Die Vergiftungsgerüchte waren bereits aus dem 13. Jahrhundert bekannt. Deshalb hegte das einfache Volk große Skepsis gegenüber jüdischen Ärzten und Lebensmittelhändlern. In höheren sozialen Schichten Spaniens, Frankreichs und Italiens hingegen herrschte eine enorme Nachfrage nach sowohl jüdischen als auch arabischen Ärzten. Häufig behielten die Mächtigsten der Gesellschaft ihre jüdischen Ärzte, obwohl die Glaubensbrüder des Arztes des Landes verwiesen worden waren. Der Schwarze Tod reaktivierte das alte Vergiftungsgerücht. Im Verlauf von zwei bis drei Jahren starb mindestens ein Drittel der Bevölkerung Europas an der Beulenpest. Die ganze Gesellschaftsform löste sich auf, und zivilisierteres Gedankengut hatte keine Chance gegen die Angst vor Dämonen und dem Glauben an den Teufel. Man lebte in apokalyptischen Zeiten, und die grausamsten Szenarien aus den Traditionen und Schriften der Kirche schienen plötzlich Wirklichkeit zu werden. Auf was sollte sich die Angst richten? Alte Sündenböcke wurden zu neuen. Stand Gott selbst hinter dem Strafurteil? Oder war es ein Wink des Teufels? Worin bestand der theologische Sinn in dem, was geschah? Wer stand im Dienste des Teufels?
Todesangst und Chaos Allein die theologische Art und Weise, nach Ursachen zu fragen, verwies auf die Feinde der Christenheit. Gott hatte dem Teufel das Recht gegeben, die Gläubigen zu strafen, und der Teufel hatte Juden und Leprakranke dafür gebraucht, Todesangst und Chaos zu verbreiten. In der damaligen religiösen Vorstellung klang eine solche Erklärung vollkommen angemessen. Und man kannte bereits aus dem Sommer 1321 Gerüchte über eine Konspiration. Man konnte sich einer alten Erklärung bedienen, die für die Betreffenden verhängnisvoll war, weil sie jetzt noch größere Katastrophen erklären sollte. Unter Folter gestanden mehrere Juden ihre Beteiligung – wer hätte das nicht getan, wenn er Bekanntschaft mit den effektiven Foltertechniken machte?
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In ganz Europa wurden jüdische Siedlungen angegriffen und ausgelöscht. Juden gab es schließlich überall. Viele Fürsten, Bischöfe und des Lesens und Schreibens kundige Personen widersetzten sich den Angriffen auf Juden. 1348 stellte Papst Clemens VI. eine Bulle aus, in der er vor den Konspirationsgerüchten warnte und darauf hinwies, dass Juden ebenso häufig wie Christen von der Pest betroffen waren. Die Pest dränge auch in Gebiete vor, in denen es keine Juden gäbe, erklärte der Papst. Die von Angst getriebene Bevölkerung jedoch griff zu Messern und Fackeln, plünderte und mordete. In Straßburg wurden an einem Tag 2000 Juden auf ihrem eigenen Friedhof getötet. Welchen Anteil Gier, Fremdenhass, Todesangst und religiöser Blutrausch an diesen Massakern hatten, ist im Nachhinein schwer auszumachen. Vor allem, weil alle Motive gleichzeitig beteiligt waren und dies in einer un durchsichtigen Mischung. Wenn die Geißelbrüder oder »Selbstauspeitscher« von Dorf zu Dorf zogen, um Christus vor dem Gericht des Herodes zu imitieren, endeten solche ekstatischen Auftritte nicht selten in Angriffen auf die ortsansässigen jüdischen Familien oder Gemeinden. Das selbstauferlegte Blutvergießen erinnerte an die Leiden des Heilands an Ostern. Damit stand der Lauf der Assoziationen fest, der Judenhass wurde begründet, und die physischen Konsequenzen waren unvermeidlich. In Frankreich wurden die Geißelbrüder zeitig gestoppt, in den deutschen Kleinstaaten konnten sie jedoch häufig frei wüten. Während der Pest sowie infolge der anschließenden Pogrome wurden die Juden auf deutschem Gebiet sozusagen ausgerottet. Wo der Pöbel keine Juden mehr fand, nahm er sich Christen mit verdächtigen Namen, Aussehen oder von Gerüchten behaftet vor und massakrierte stattdessen diese. Im Rheinland, in Frankfurt, Nürnberg, Augsburg, Speyer und Mainz wurde im Laufe des Jahres 1348 eine Reihe blühender jüdischer Gemeinschaften ausgelöscht. An einigen Orten wurden Juden, denen die Flucht gelungen war, anschließend eingeladen, wieder zurückzukehren, um ihre Hypotheken geschäfte zu betreiben und mit gebrauchter Kleidung zu handeln.
Nach der großen Pest Nach der Pest wurden die Juden in einer neuen Weise heimatlos. Sie konnten sich nicht dauerhaft an einem Ort niederlassen, sondern waren vom
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Schutz der Obrigkeit für mal längere, mal kürzere Aufenthalte abhängig. Sie verfügten nicht mehr über den dauerhaften Rechtsschutz des Bürgers. Die Rolle des Zugereisten und Umherstreifenden wurde zu ihrer Normalität. Die Entwicklung dahingehend begann aber bereits vor der großen Pest. In Frankreich zum Beispiel wurden die Juden unter Philipp IV. (1306) vertrieben, dann wurden sie von Ludwig X. (1315) wieder zurückgeholt, um dann nach dem Hirtenkreuzzug (1320) erneut vertrieben zu werden. 1361 wurden sie dann von Erbprinz Karl zurückgerufen, weil dieser Geld brauchte. Durch Bezahlung einer großen Summe pro Kopf erhielten die Juden das Aufenthaltsrecht und eine gewisse Autonomie. 1394 wurden sie nach Ausschreitungen des Pöbels gegen Geldverleiher erneut aus Frankreich hinausgeworfen. Die Könige selbst waren hingegen eifrig darauf bedacht, sie im Land zu behalten. Nach der ersten Vertreibung aus Frankreich konnten sich die Juden vor allem auf dem Gebiet des alten Heiligen Römischen Reiches unter erträglichen Bedingungen aufhalten. Aber selbst dort verloren sie 1343 ihre Bürgerrechte. Die Juden waren zu Leibeigenen Kaiser Ludwigs IV. geworden. Er stattete sich selbst mit dem vollen Verfügungsrecht über ihre Körper und ihre Besitztümer aus. Überall erhielten sie nur vorläufige Aufenthaltsgenehmigungen. Man brauchte sie nicht einmal zu vertreiben. War der bewilligte Zeitraum abgelaufen, mussten sie weiterziehen. 1386 kamen Delegierte aus 38 deutschen Städten zusammen und entschieden, dass alle Schulden gegenüber den Juden erlassen werden sollten. Die Juden gerieten in Bedrängnis zwischen den Fürsten, die sie im wahrsten Sinne des Wortes besaßen, und den Untertanen. Nicht selten waren deren Angriffe auf die Juden eine Art, ihre Unzufriedenheit mit dem Fürsten auszudrücken. Der umherwandernde Jude war schon lange Zeit ein legendäres Motiv. Da er dem Heiland auf dem Weg nach Golgata nicht geholfen hatte, war Ahasverus mit Heimatlosigkeit bestraft worden. Jetzt aber wurde der umherwandernde Jude zu einem ganz konkreten sozialen Phänomen. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurden die deutschen Juden gen Osten nach Polen und Litauen gezwungen, wo es seit dem 11. Jahrhundert jüdische Siedlungen gab. Andere ließen sich vor den Stadtmauern in eigenen Judenvierteln rund um die deutschen Städte nieder.
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Hass und Übergriffe Ihnen fehlte der bürgerliche Schutz, jedoch durften sie ausnahmsweise in ihrer alten Umgebung weiterleben. Mit den Bürgerrechten verschwand auch die Möglichkeit, eigene Rechtssubjekte zu sein. Juden konnten keinen Eid mehr ablegen, oder sie wurden gezwungen, dies unter demütigenden Umständen zu tun. Schwüre waren auch eine religiöse Angelegenheit. Deshalb kursierten sowohl in spanischen als auch in deutschen Städten Gerüchte, dass Juden faktisch eine religiöse Pflicht hätten, den Eid zu brechen, den sie vor einem christlichen Gericht ablegten. Ein grundlegendes Element der Psychologie des Fremdenhasses ist, dass Hass Übergriffe durchaus motivieren kann, dass Übergriffe selbst aber auch Hass inspirieren können. Man sorgt im Nachhinein dafür, eine emotionale Beziehung zu den Opfern zu schaffen, die der Intensität der faktischen Übergriffe entspricht. Nachdem Grausamkeiten post festum oft etwas Unverständliches anhaftet, trägt die Erinnerung daran dazu bei, Begründungen zu produzieren. Ein stärkerer Hass kann als Teil einer späteren Begründung fungieren. Außerdem nahm die Bedeutung eines Bildes vom Juden für die theologische und politische Vorstellungsfähigkeit nach ihrer Vertreibung aus einem Gebiet oft nicht ab. Die physische Anwesenheit der Juden war keineswegs entscheidend für ihre Rolle in theologischen und politischen Hassfantasien. Ganz im Gegenteil: Die Juden waren in den Fantasien umso gegenwärtiger, je weniger sie wirklich anwesend waren. So spielten die Juden in der englischen Literatur nach 1290 eine wichtigere Rolle als zuvor, obwohl sie in der englischen Gesellschaft kaum noch vorkamen. In der sich im Spätmittelalter entfaltenden muttersprachlichen Dichtung wirkten die Juden in Satiren, Legenden, Balladen und dramatischen Auftritten als Schurken par excellence mit. Sie wurden lächerlich gemacht oder zum Gegenstand von Spott. Es war, als identifiziere sich die volkstümliche muttersprachliche Dichtung noch stärker mit ihren Sprachgenossen, als es die gelehrte lateinische Dichtung getan hatte. Dadurch wurde das Nichtidentische noch auffälliger und fremder. Vor allem im religiösen Drama, in den Osterspielen, wurden die Juden an den Pranger gestellt.3 In Verbindung mit dem Ausbruch der Pest wuchsen die christlichen Verfolgungsgedanken bis ins Absurde. Nach dem Schwarzen Tod kursierte in
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Spanien ein Gerücht, dass die Juden alle Christen in ganz Europa ausrotten wollten und dass von Toledo aus Boten mit Gift in alle Himmelsrichtungen ausgesandt worden waren. Das Gift sollte aus Basiliskenknochen, Spinnen, Fröschen, Eidechsen, Christenherzen und Hostienteig hergestellt worden sein. Waren solche Gerüchte erst einmal in die Welt gesetzt, wurden sie in der gleichen Geschwindigkeit, in der sie verbreitet wurden, ausdifferenziert. Die eine Geschichte wurde zu vielen analogen Geschichten, die einander bestätigten.
Umfassende Propaganda Sowohl die Malerei als auch das Drama wurden in frühmoderner Zeit in der Darstellung des Körpers und seiner Leiden geschickter. Die religiösen Erfahrungen konnten weitestgehend als physische Erfahrungen drama tisiert werden. Man nahm bewusst die brutalsten Teile der religiösen Überlieferung zum Anlass, um eine mitreißende Erzählung in Bildern darzustellen. Sowohl die Darstellung der physischen Leiden der Märtyrer als auch der Leiden Christi wurden zu Eingangstoren in das religiöse Universum. Vor allem nach der Pest waren der Tod, Leid und Grausamkeiten etwas, worüber man sich durch ihre Darstellung in Bildern mentale Kontrolle verschaffte. Im christlichen Drama spielten die Juden notwendigerweise die Rolle der Schurken. Je geschickter religiöse Propaganda ausgeformt wurde, desto deutlicher wurden religiöser Eifer und antijüdische Aggressionen vermischt. Weder das Drama noch die Malerei machten einen Unterschied zwischen dem historischen »Damals« und dem aktuellen »Jetzt«.4 Die Juden im Drama und in der Malerei wurden ihrem Namen und Aussehen nach als Personen der Gegenwart dargestellt, auch wenn die Szenen aus den alten Erzählungen der Bibel stammten. Dort, wo die Szenen den Wundererzählungen der Gegenwart oder der zeitnahen Geschichte entnommen waren, spielte häufig die Hostie eine Hauptrolle. Paolo Uccello hat ein berühmtes Bild gemalt (1468), das eine Geschichte aus Paris im Jahr 1290 zeigt: Eine Christin wird gezwungen, eine Hostie zu stehlen, um einen jüdischen Geldverleiher zu bezahlen, der auf diese Weise die Möglichkeit erhält, Christus ein weiteres Mal zu quälen. Der Jude will den Leib Christi entweihen, wird jedoch überlistet und übermannt. Er bekehrt sich und wird getauft. Immer
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wieder wurden Juden in der Rolle derer dargestellt, die das religiöse Mysterium herausfordern und entehren. Durch das religiöse Drama wurden die Legenden über den unauslöschlichen Hass der Juden auf den Leib und das Blut Jesu popularisiert. Die angebliche Moral lautete, dass ein Jude sich niemals eine Gelegenheit entgehen lassen würde, noch eine Kreuzigung und noch einen Kindermord in Bethlehem zu erwirken. Um die Kraft der volkstümlichen Propaganda des christlichen Dramas zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass es kein exklusives, »kulturelles« Ereignis war, sondern eine Begebenheit, die mehr einer öffentlichen Hinrichtung ähnelte. Die Menschen strömten herbei. Das komplette gesellschaftliche Leben stand still oder wurde durch die Versammlung rund um die Wanderbühne ersetzt. Bevor Informationen und Nachrichten mithilfe des Buchdrucks verbreitet wurden, dienten solche Dramenaufführungen oder eben auch Hinrichtungen als Massenereignisse der Nachrichtenvermittlung. Das Erlebnis des Dramas war wie eine kollektive Vorlesung. Die Massen wurden durch die Darstellungen des Verrats von Judas und des Betrugs der Juden leicht mitgerissen. Jesus, der auf der Bühne das Alter Ego der Gläubigen verkörperte, war den gemeinsten Komplotten und den grausamsten Leiden ausgesetzt. Das Drama machte die Christen unter dem Publikum zu zeitgenössischen Augenzeugen der dargestellten Ereignisse. Durch Geschehnisse, die man mit eigenen Augen sah, wurde die »Wahrheit« über die Tricks der Juden dargestellt, bekräftigt und bewiesen. Die ästhetische Distanz war noch nicht erfunden. In bildlichen Darstellungen wurde die Synagoge als treulose, verlassene und gefallene Witwe dargestellt, während die Kirche die strahlende Jungfrau Maria, die Braut Christi war. Während Christus am Kreuz hing, tropfte die Synagoge giftigen Essig in seine Wunden. Oder die Synagoge wurde als eine große Sau mit saugenden Juden unter dem Bauch dargestellt und einem sodomitischen Rabbiner, der mit seinem Geschlechtsteil am Ringelschwanz des Tieres herumhantierte. Ebenso wurden die Juden als Skorpione oder mit einem Skorpionzeichen auf der Kleidung oder einem Schild dargestellt. Sie waren Giftmischer und bewegten sich schleichend rückwärts. In den bildlichen Darstellungen des 15. Jahrhundert wurden die Juden gern mit einem Horn ausgestattet, als Verweis auf Moses – der unter anderem bei Michelangelo wegen eines Übersetzungsfehlers im Alten Testament ein Horn bekam – und selbstverständlich als Verweis auf den Teufel,
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in dessen Dienst sie vermeintlich standen. Die Karikatur vom Juden mit Buckel und Hakennase tauchte angeblich zum allerersten Mal in Schedels Weltchronik (1493 bei Koburger in Nürnberg gedruckt) auf.5
Teufel und Dämonen In der religiösen Fantasie wurden der Jude und der Teufel eng miteinander assoziiert. Ursprünglich war der Teufel ein Engel in Gottes Nähe gewesen, der durch seinen Hochmut jedoch gefallen war. In der gleichen Weise galten die Juden in dieser Fantasie als Gottes erste Liebe, sie hätten jedoch ihre Chance verspielt. Zu Zeiten der Pest wurden Teufel und Dämonen immer anschaulicher aufgefasst. Hexen und Magie spielten im religiösen Weltbild eine immer größere Rolle. Bereits 1320 musste Papst Johannes XXII. eine Bulle ausstellen, die vor der neuen, volkstümlichen Dämonologie warnte. Die Hexenverbrennungen begannen 1335 im französischen Toulouse. Später wuchsen die Angst vor Hexen und die Hexenprozesse zu einer regelrechten Epidemie an. Allein im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden in Europa 30.000 Hexen verbrannt. In Verbindung mit Verhören und Folter der der Hexerei Verdächtigten hauchte man der dämonologischen Fantasie Leben ein. Besonders auf deutschem Gebiet waren Hexen- und Dämonenvorstellungen weit verbreitet. 1484 veröffentlichten zwei deutsche Dominikaner die Schrift Malleus Maleficarum, den »Hexenhammer«, worin das Denken der Inquisition über Hexen zusammengefasst war.6 Als der Teufel zu einer anschaulicheren Figur wurde, näherten sich die Züge von Juden und Teufelsvorstellungen an. Hörner, Geruch und eine besondere Virilität waren ihnen nunmehr gemein. Wie der Teufel als das böse Gegenstück zu Gott galt, so galt die Synagoge als das böse Gegenstück zur Kirche. Teufel, Dämonen, Hexen und Juden beeinflussten die Welt mit magischen Tricks und Beschwörungen. Schwarze Messen und Hexensabbate galten als parodis tische Verzerrungen der Gottesdienste und des sonntäglichen Gottes friedens. Die angenommene grundlegende Kränklichkeit der Juden könne nur mit dem Blut des Christen geheilt werden, meinte man. Bereits für das Zuwachsen der Wunde nach der Beschneidung bräuchten die Juden das Blut der Christen, hieß es etwa in einer Anklageschrift gegen die Juden in Ungarn.
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Eine wichtige Rolle in der Dämonisierung der Juden spielten die Bußprediger des 14. und 15. Jahrhunderts.7 Sie richteten sich direkt an Schichten der Gesellschaft, die für derartiges Gedankengut besonders empfänglich waren. Der in Spanien zum Helden erkorene Dominikaner Vincent Ferrer verband die Bekehrung von Juden mit der Verkündigung des Jüngsten Gerichts. Weil der Tag des Jüngsten Gerichts bevorstand, konnte die Bekehrung der Juden nicht aufgeschoben werden. Vincent Ferrer hetzte Banden christlicher Fanatiker auf, Juden aus Synagogen zu vertreiben, um sie zu christianisieren. 1412 und 1413 hatten spanische Juden große Ängste auszustehen. Diejenigen, die sich nicht bekehren ließen, wurden in den ersten spanischen Juderías – eine Art Vorläufer nicht nur des Ghettos, sondern auch des Konzentrationslagers – isoliert. Sowohl Bernhardin von Siena, der Anfang des 15. Jahrhunderts in ganz Norditalien für »den Gottesfrieden« warb, als auch Savonarola, der gegen Ende des Jahrhunderts in Florenz wirkte, würzten ihre Bußpredigten mit starken antijüdischen Aussagen. Dort, wo der Antichrist und die letzten Tage thematisiert wurden, drehte sich die Rede auch schnell um die Juden als eine Materialisierung derer, die angeblich Gottes Willen entgegen standen.
Jüdische Medizin Nur in einem Punkt beinhalteten die Dämonisierungen einen Vorzug: Jüdischen Ärzten wurden Wunder zugetraut. Viele Herrscher und Päpste hatten volles Vertrauen zu ihnen. Viele Städte boten jüdischen Ärzten spezielle Privilegien an, um sie anzulocken und sie zu behalten. Auch in Ländern, die Juden ansonsten verschlossen waren, konnten ihre berühmten Ärzte sich frei bewegen. Angeblich konnten sie Wunder vollbringen, gerade weil sie direkten Kontakt zu dämonischen Mächten hatten. In Fragen der Gesundheit konnten solche Kontakte von Nutzen sein. Die Situation war wirklich merkwürdig, zumal dieselben Personen, die sich an jüdische Ärzte wandten, die Juden beschuldigen konnten, Brunnen zu vergiften, Christen Blut abzuzapfen und schwarze Magie zu betreiben. Vielleicht war es gerade der Glaube an die Fähigkeiten der Juden im Hinblick auf die Magie, der ihnen den Ruf einbrachte, mirakulöse Ärzte zu sein? Wenn sie nun in der schwarzen Magie erfahren waren, warum nicht
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dafür sorgen, dass dies dem Fürsten oder der Stadt zugutekam? Allerdings weigerten sich dennoch viele, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen, weil es für sie dasselbe gewesen wäre, wie sich der Hilfe des Teufels zu bedienen. Andere versuchten auch, die jüdischen Ärzte anzuschwärzen, die Christen in einer Situation begegneten, in der diese besonders wehrlos und ihnen ausgeliefert waren. Die Juden griffen die Christen an ihren schwächsten Punkten an, hieß es. Die Armen würden von den Wucherern abhängig. Die Kranken würden von den jüdischen Ärzten abhängig. Dennoch gab es offensichtlich viele, die gesund werden wollten, ob es nun mit Beistand des Teufels oder der Juden war, als ohne einen solchen Beistand weiterhin krank zu sein. Nun gab es auch gute rationale Gründe, auf die jüdischen Ärzte zu vertrauen. Ihre religiösen Traditionen waren mit gut erprobten diätetischen Vorschriften gespickt. In Spanien und Sizilien hatten die Juden außerdem die fortschrittliche arabische Medizin kennengelernt.8 Es gab nicht viel, was man im 14. Jahrhundert gegen ernsthafte Erkrankungen ausrichten konnte. Doch jüdische Ärzte hatten häufig einen guten Rat. Dass sie sich als Sündenböcke geradezu mehr als anboten, wo etwas misslang, war ein Berufsrisiko. Dort, wo jüdische Ärzte zu Besuch gewesen waren, gab es im Umfeld viele aufmerksame Beobachter, die sich mehr über einen Todesfall als über eine Genesung freuten. Im 14. und 15. Jahrhundert existierte zudem ein ökonomisch und sozial begründeter Judenhass, der auf der angenommenen engen Verbindung von Juden zum Geldverleih beruhte. Teilweise handelte es sich bei der Assoziation zwischen Juden und Wucherern um eine Täuschung, teilweise verwies sie auf soziale Realitäten. Zum einen dominierten nicht die Juden den Kreditmarkt. Dort waren auch andere Akteure mit einer weniger auffälligen Identität aktiv. Zum anderen war es nur eine kleine Minderheit der Juden, die derartige Geschäfte betrieb.
Die Juden und die Geldwirtschaft Die meisten Juden waren Lumpensammler und verkauften gebrauchte Kleidung. Sie waren zudem nur Verleiher in kleinem Maßstab, das heißt, ihre Kunden waren die Ärmsten. Deshalb lag in den Angriffen auf jüdische Geldverleiher auch aufrichtiges soziales Aufbegehren. Jedoch ist es genauso
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schwer in der Huldigung der jüdischen Ärzte zwischen magischem Aberglauben und rationalen Argumenten zu trennen, wie in den Angriffen auf die jüdischen Geldverleiher zu erkennen, was sozialer Aufruhr und was dämonologische Fantasien waren. Fest steht, dass die Juden in der Entwicklung der frühmodernen Geldwirtschaft eine zentrale Rolle spielten. Die neue Rolle des Geldes stellte viele traditionelle Wertehierarchien hintenan. Die Geldwirtschaft war ein zum Teil brutaler Veränderer der Gesellschaft. Da war es nicht so verwunderlich, dass aufgrund der gut eingearbeiteten Assoziation zwischen Juden und Geld die Juden für die teilweise bedrohlichen Gesellschaftsveränderungen als mitverantwortlich angesehen wurden. Die meisten Texte des 15. Jahrhunderts, die das Problem behandeln, sind jedoch weitaus konkreter. In der theologischen Fantasie hatten die Juden das Blut der Christen geraubt und getrunken. In der ökonomischen Fantasie raubten und verzehrten sie das Geld der Christen. Diese Art von Assoziationen liegt der Shylock-Legende zugrunde, wo Geld gegen ein Pfand aus Fleisch und Blut des Schuldners verliehen wird. Es ist schwer, solche Assoziationen zu rekonstruieren, weil sie sich im Nebel zwischen dem bewussten und dem unbewussten Leben befinden. Die Motive schweben nicht greifbar zwischen der kollektiven und der indivi duellen Fantasie. Für soziale Aggressionen gibt es immer auch rationale Gründe. Jedoch nur selten können die rationalen Gründe die Stärke der Aggressionen erklären. Allen voran gibt es unklare Berührungspunkte zwischen sozialen Aggressionen und den mystischen Bildern, die zu ihrer Rechtfertigung entstehen. Im Falle des Judenhasses bewegen sich die Texte so schnell zwischen der greifbaren Welt und einer fantastischen Bilderwelt, dass man häufig nicht weiß, was gemeint ist oder behauptet wird. Die Wechsel geschehen so leicht und schnell, dass die reale Welt oft fantastisch wird und die mystische Bildwelt ebenso häufig als real greifbar dargestellt wird. Selbst etwas so Triviales und im Prinzip so Durchschaubares wie der Geldverleih gegen Zinsen ist von theologischen, dämonologischen und apokalyptischen Vorstellungen überlagert, die das Bild stören und den Eindruck vermitteln, als drehten sich die Transaktionen um etwas vollkommen anderes als das, was gezählt, gemessen und gewogen werden kann. Selbstverständlich änderte sich durch die oben genannten Zuschreibungen und durch die Reduktion auf die Rolle des Geldes auch das jüdische Selbst
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verständnis. Die dauerhafte Unsicherheit, das Leben mit ständigen Umzügen, die Erfordernis, in Deckung zu gehen, und beständig neue einfallsreiche Abgaben, die allen sozialen Transaktionen auferlegt wurden, an denen Juden beteiligt waren, der Ausschluss von allen Formen festen Eigentums – das alles zusammen erschuf eine Schicksalsgemeinschaft zwischen den mobilen Werten, die das Geld repräsentierte, und der heimatlosen Volksgruppe. Deshalb kam es nicht nur in der christlichen Fantasie zu einer Verbindung zwischen Juden und Geld. Auch im jüdischen Selbstverständnis gab es wenig anderes in der Welt, worauf man vertrauen konnte, als Bargeld. Wie für alle Minderheiten in einer feindlichen Gesellschaft waren Intelligenz und eine gut entwickelte soziale Kompetenz eine Lebensnotwendigkeit für sie. Aber auch das war nicht genug. Gegen Ende des Mittelalters wurden die Juden, dort, wo sie überhaupt toleriert wurden, in eigene Viertel zusammengepfercht. Das erste Ghetto entstand nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1494 in Venedig. Aber bereits vor dieser Zeit waren die Judenviertel von einer disziplinierten, ernsten Kultur geprägt, wo jede auch noch so kleine Sache reguliert war. Abgesehen von den Karnevalsfestivitäten zu Purim mangelte es in den Judenvierteln an jeglicher Ausgelassenheit. Grau war die bestimmende Farbe der Kleidung. Das Lesen beschränkte sich auf die religiösen Schriften. Abgesehen von Medizin, was jüdische Jungen studieren konnten, herrschte innerhalb des jüdischen Milieus eine ausgebreitete Skepsis gegenüber der weltlichen Wissenschaft. Ein wenig abhängig davon, wo man sich befand, war das Judenviertel wie eine kleine Stadt in der Stadt. Es hatte seine eigenen Tore und Mauern und wurde ebenso wie die Stadttore nachts abgeschlossen. Poliakov schreibt, dass das Leben in den Judenvierteln dem Klosterleben ähnelte, indem es im Detail reguliert und vom Umfeld streng getrennt war. Die jüdische Gemeinschaft hatte selbstverständlich ihre eigenen Schulen und ihre eigenen Regeln für die Eheschließung und die allgemeine Lebensführung. Diese bedrängte Situation verstärkte nur die Hoffnung, dass der Messias irgendwann kommen und ihnen ein Friedensreich bringen würde.
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The Canterbury Tales »Die Erzählung der Priorin« aus Geoffrey Chaucers The Canterbury Tales (1386–1400) ist eine Zusammenfassung sowie eine Dokumentation einer Reihe von Motiven, die sowohl vor als auch nach der Pest im westlichen Mittelalter in allen europäischen Ländern beständig wiederholt wurden: In einer Stadt von christlichen Asiaten / Lag einst ein Judenviertel, welches zwar / Geduldet ward vom Landespotentaten / Aus Wucherei und Goldgier; doch es war / Verhaßt bei Gott und seiner Christen Schaar. / Man konnte durch die Gasse gehn und reiten, / Die offen war und frei nach beiden Seiten. // Zu einer kleinen Schule, die dort in der / Erwähnten Gasse ganz am Ende stand, / Ward Jahr für Jahr ein Haufen junger Kinder / Aus christlichem Geblüte hingesandt, / Und lernte dort, was Sitte war im Land, / Und das besagt: zu singen und zu lesen, / Wie stets bei Kindern dieses Brauch gewesen. // Zu dieser Schule pflegte, unter andern, / Auch einer Wittwe siebenjähr’ger Sohn / Als kleiner Zögling Tag für Tag zu wandern; / Und vor dem Bild der Jungfrau beugte schon, / Wenn er vorüber ging, mit Devotion / Der Knabe, wie man ihm gelehrt, das Knie, / Und betete: G e g r ü ß t s e i ʼ s t D u , M a r i e . // Die theure Mutter Christi zu verehren, / War von der Wittwe schon ihm eingeprägt; / Und er vergaß es nicht, da frühe Lehren / Ein schlichtes Kind leicht zu behalten pflegt. / Jedoch in mir erwacht hierbei und regt / Sich an S t . N i k l a u s die Erinnerung, / Der unsern Herrn gepriesen schon so jung. // Mit seinem ABCbuch saß fortwährend / Der Knabe in der Schule auf der Bank, / Wenn man, den Kindern die Response lehrend, / Daselbst das »Alma redemptoris« sang. / Er lauschte, näher rückend, oft und lang / Auf Worte, wie auf Noten eifrig hin, / Und rasch blieb ihm der erste Vers im Sinn. // Doch die Bedeutung war ihm noch verschlossen. / Er war zu jung, Lateinisch zu verstehn. / Drum bat er einstmals einen Schulgenossen / Auf seinen Knieen unter heißem Flehn, / Als Uebersetzer ihm zur Hand zu gehn, / Das Lied in seiner Mundart ihm zu lehren, / Und den Gebrauch desselben zu erklären. // Der Bursche, welcher älter war an Jahren / Als jener, sprach: »Die heilʼge Jungfrau preist / Man durch dies Lied, soweit ich es erfahren. / Es ist ein Gruß, doch ein Gebet zumeist, / Das hülfreich sich in Todesnoth erweist, / Doch viel verstehʼ ich nicht von diesen Dingen. / Ich lerne nicht Grammatik, sondern Singen.« //»Wie?« – frug die kleine Unschuld – »ist zum Preise / Der Mutter Christi dieses Lied gemacht? / Dann will ich Alles thun, mir Wort und Weise / Noch einzuprägen vor der heilʼgen Nacht. / Ja, würde täglich dreimal eine Tracht / Von Prügeln mir beim ABC gegeben, / Ich lernʼ es d o c h , die Jungfrau zu erheben.« // Nun lehrte auf dem Schulweg alle Tage / Ihm sein Gefährte heimlich den Gesang, / Bis er die Worte nebst der Töne Lage / Wohl aufgefaßt, und es mit reinem Klang / Aus voller Kehle täglich zweimal sang, / Heim von der Schule und zur Schule hin; / Denn Christi Mutter lag ihm stets im Sinn. // Wie schon erwähnt ist, mußte
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nothgedrungen / Zur Schule durch das jüdische Quartier / Der Kleine gehn, und heiter ward gesungen / Von ihm auch »Alma redemptoris« hier. / Sein ganzes Herz war so erfüllt von ihr, / Daß unwillkürlich er den Weg entlang / Zur Mutter Christi betete und sang. // Der Urfeind, Satan, aber, diese Schlange, / Die sich zum Wespennest der Juden Herz / Erkoren hat, schwoll auf und sprach: »Wie lange, / E b r ä e r, duldet ihr den frechen Scherz, / Daß durch die Gassen auf- und niederwärts / Zu Eurem Hohn ein Bube solche Lieder / Zu singen wagt, die dem Gesetz zuwider?« // Den unschuldsvollen Knaben zu ermorden, / Verschwor die Judenschaft sich alsobald. / Es lag ein Mörder, der gedungen worden, / In einer Gasse schon im Hinterhalt. / Der Knabe kam. – Ihn packte mit Gewalt / Und schnitt ihm seine Gurgel ab der Bube / Und warf den Leichnam in die nächste Grube. // Ja, in ein Senkloch, wo des Koths entluden / Sich die E b r ä e r, warf er ihn hinein. / O, Ihr H e r o d e s s e ! Verfluchte Juden! / Was wird die Strafe solches Frevels sein? / Mord will heraus – und hier zumal wird schrein / Das Blut zum Himmel, damit Gottes Ehre / Sich auf der Welt verbreite und vermehre. // O, Märtyrer, der unbefleckt geblieben, / Du gehst nunmehr dem weißen Lamm voran, / Und stimmst – wie dies in P a t m o s aufgeschrieben / Vom großen Evangelisten S t . J o h a n n – / Ein neues Lied im Himmel vor ihm an / Mit jenen Auserwählten im Verband, / Die nimmerdar ein fleischlich Weib erkannt. // Die ganze Nacht durchwachte, harrend immer, / Die arme Wittwe. – Doch ihr Kind blieb fort. / Und bleich vor Furcht ging sie beim Tagesschimmer / Zur Schule hin und suchte rings im Ort / Nach ihrem Kleinen emsig hier und dort. / Und so erfuhr sie schließlich durch ihr Spähen, / Daß man im Ghetto ihn zuletzt gesehen. // Im Mutterbusen Leid und Jammer hegend, / Und halb von Sinnen, ging die Wittwe dann / Auf Suche aus, jedweden Ort erwägend, / Wo sie den Kleinen etwa finden kann, / Und rief die gütʼge Mutter Christi an; / Bis sie, entschlossen, nach ihm das verfluchte / Quartier der Juden noch zuletzt durchsuchte. // Dort hub sie an, zu fragen und zu flehen, / Und ging in jedes Judenhaus hinein / Und bat zu sagen, ob sie nicht gesehen / Ihr kleines Kind? Und Alle sprachen: Nein! / Doch gab ihr Jesus den Gedanken ein, / Nach ihm zu rufen nahe bei der Stelle, / Wohin geschleppt ihn jener Mordgeselle. // O, großer Gott! zum Herold Deines Ruhmes / Machst Du der Unschuld Mund. Siehʼ! Deine Macht / Wird von dem Glanzrubin des Märtyrthumes, / Der Keuschheit reinstem Demant und Smaragd, / Selbst mit zerschnittner Kehle kund gemacht! / Denn laut und deutlich durch den Platz erklingt, / Wie er sein »Alma redemptoris« singt. // Da dieses alle christlichen Genossen, / Die durch die Straßen gingen, Wunder nahm, / So sandten sie sofort zu dem Profoßen / Der augenblicklich auch zur Stelle kam, / Und Christ, den Himmelskönig lobesam, / Mit seiner allverehrten Mutter pries, / Und dann die Juden schleunigst binden ließ. // Emporgehoben unter Jammerklagen / Ward dann das Kind, das stets mit lautem Ton / Sein Lied noch sang, und zur Abtei getragen / In großer, feierlicher Procession. / Ohnmächtig lag
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die Mutter bei dem Sohn, / Und schwer nur schien den Leuten zu gelingen, / Die neue R a h e l von ihm fortzubringen. // Durch einen Tod, der voller Schimpf und Qualen, / Ließ der Profoß sofort die Judenbrut, / Die darum wußte, für den Mord bezahlen. / Zu dulden war nicht solcher Frevelmuth; / Und den trifft Uebel, welcher Uebel thut. / Nach dem Gesetze ward von wilden Pferden / Das Pack geschleift, um dann gehängt zu werden. // Die kleine Unschuld lag auf seiner Bahre, / Und, ehe man die Leiche beigesetzt, / Sang mit den Klosterbrüdern vorm Altare / Der Abt die Messe; und dann ward zuletzt / Das Kind mit heil’gem Wasser noch benetzt. / Doch kaum fiel der geweihte Tropfen nieder, / Sang es: »O, Alma redemptoris« wieder. // Der Abt, ein Mönch von heilig frommen Sitten, / Wie Mönche oft – wenn auch nicht immer – sind, / Beschwor den Kleinen und hub an zu bitten: / »Bei dem dreiein’gen Gotte, sag’ geschwind, / Was ist Dir widerfahren, liebes Kind? / Durchschnitten ist Dir – seh’ ich – Deine Kehle. / Was ist der Grund, daß Du noch singst? Erzähle!« // »Bis auf den Wirbel ist mein Hals durchschnitten!« / – Sprach dieses Kind – »Längst hätt’ ich nach der Art / Der Menschenkinder schon den Tod erlitten, / Doch Christus – wie die Schrift Euch offenbart – / Will, daß sein Ruhm für ew’ge Zeit gewahrt, / Und läßt mich, mein Gebet ihr darzubringen, / Der theuren Mutter, noch: ›O, Alma‹ singen. // Die Mutter Gottes, diese Gnadenquelle, / Hab’ ich verehrt aufs Höchste lebenslang. / Sie war bei meiner Todesnoth zur Stelle, / Und hieß mich singen ihren Lobgesang. / Doch schien es mir, als ich im Tode rang, / Und ich das Lied sang, wie ich immer pflegte, / Daß sie ein Korn mir auf die Zunge legte.« // »Und deßhalb muß ich singen, immer singen / Zur Ehre dieser segensreichen Magd, / Bis von der Zunge dieses Korn zu bringen / Gelungen ist.« »Ich will« – hat sie gesagt – / »Dich nicht verlassen, sei nur unverzagt, / Mein lieber Sohn. Ich hole Dich bestimmt, / Wenn man das Korn von Deiner Zunge nimmt.« // Gleich nahm der heil’ge Mönch, der Abt vom Kloster, / Das Korn von seiner Zunge, und sodann / Schied von der Erde friedlich und getrost er. / Starr sah’, indem wie Regen niederrann / Sein Thränenstrom, der Abt dies Wunder an, / Und fiel in Ohnmacht, und wie angekettet / Lag er bewußtlos auf der Flur gebettet. // Und weinend sanken alle Mönche nieder / Und priesen Christi Mutter im Verein. / Und hinterher erhoben sie sich wieder, / Und in ein Grab von weißem Marmelstein / Versenkten sie des Märtyrers Gebein. / Dort ruht er sanft. Und möge Gott uns segnen, / Daß ihm im Himmel einst auch w i r begegnen! // O, junger H u g h v o n L i n c o l n , uns entrissen / Nicht minder durch verfluchter Juden Hand / In jüngstvergangnen Zeiten, wie wir wissen, / Sei für uns Sünder voller Unbestand / Dein Fürgebet zum gnäd’gen Gott gesandt, / In uns die Gnadengabe zu vermehren, / Maria, seine Mutter, zu verehren!
Die Erzählung ist in extenso wiedergegeben, um zu zeigen, wie eng der Judenhass mit der christlichen Erbauung verwoben war.9 Die angebliche
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Der schwarze Tod: Giftmischer und Kindermörder
Ermordung der Kinder und die Blutentnahme durch die Juden war eine Wiederholung sowohl der Kindermorde in Bethlehem als auch der Leiden Christi. Sie waren Märtyrer, die Marias Stärke und Satans Schwäche bezeugten. In dem ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen standen Christen und Juden jeweils auf einer eigenen Seite. Geoffrey Chaucer, der ansonsten wirklich nicht sonderlich fromm war, ist es zu diesem Anlass, weil es ihm die Möglichkeit gibt, eine groteske, grausame und unterhaltsame Geschichte zu erzählen. Die kollektive Verantwortung für das Verbrechen wird eindeutig bei einer Gruppe platziert, in der alle – oder fast alle – selbstverständlich mitschuldig sind.
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7. Das erste Ghetto Das Dritte Laterankonzil (1179) empfahl, dass Christen und Juden getrennt voneinander leben sollten. Es dauerte jedoch lange, bis die Empfehlung zu praktischen Konsequenzen führte. Das Ghetto in Venedig entstand Anfang des 16. Jahrhunderts infolge des Zustroms von Juden aus Spanien. Abgesehen von einem kurzen Zeitraum, von 1382 bis 1397, war es den Juden als Gruppe nie gestattet gewesen, sich dort niederzulassen. Das Ghetto ent wickelte sich zu einer eigenen Form der Diaspora-Gesellschaft, was gleichsam dem Bedürfnis der Juden nach Schutz und einer separaten Gottesanbetung wie dem Bedürfnis der übrigen Einwohner nach Ausgrenzung und Abgrenzung der Fremden geschuldet war. In Staaten mit starken Homogenisierungskräften wurde die Ghettokultur zu einer eigenen modernen Form der Diaspora.
Eine eigene Insel Bei den Venezianern konnten die Juden anfangs mit Verständnis für ihre Lebensweise rechnen. Ebenso wie bei den Venezianern waren Handel und Finanzen auch die bevorzugten Betätigungsfelder von Juden. Die interna tionale Ausrichtung, die Lage am östlichen Mittelmeer sowie die traditionelle Skepsis gegenüber der römisch-katholischen Kirche schafften eine Verbindung zwischen ihnen. Das Ghetto in Venedig sollte zum Namensgeber aller anderen Ghettos werden.1 Bereits zu der Zeit, als das Ghetto eine freiwillige Lebensgemeinschaft war, waren hier viele Menschen versammelt. Es war kein Gefängnis, sondern bestand aus einigen dicht beieinander liegenden Vierteln, in denen die Juden zum gegenseitigen Nutzen und Schutz zusammenlebten. Mit dem Fondaco, einer Niederlassung für ausländische Kaufleute, existierte in Venedig bereits ein Vorbild für derartige Kolonien von Fremden. Dieser wurde zwar nach eigenen Regeln geführt, er war aber auch in die Gesetzgebung
Eine eigene Insel
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Abb. 4: Das Ghetto in Venedig als eine abgegrenzte Insel umgeben von Kanälen. Holzschnitt von Jacobo de Barbari, ca. 1500. Museo Civico Correr, Venedig.
Venedigs eingebettet. Ursprünglich galten für Juden dieselben Regeln wie für alle anderen: Einem Fondaco angeschlossen, durften sie in Venedig als Kaufleute tätig sein, hatten aber nicht das Recht, sich mit ihren Familien niederzulassen. Nach der Pest und der anschließenden Judenverfolgung gewährten die Venezianer den Juden 1382 indessen auch als Einwohner Zutritt zu ihrer Stadt. Die Juden mussten eine Vereinbarung darüber unterzeichnen, wie sie ihre Geldgeschäfte zu betreiben hatten, zudem waren Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zeitlich begrenzt. Zeitweise mussten jene, die Kredite gegen Zinsen (Feneratores) anboten, hinüber aufs Festland nach Mestre ziehen. Die Juden ihrerseits drängten auf einen eigenen Stadtteil, unter anderem, weil sie sich einen eigenen, jüdischen Friedhof für ihre Verstorbenen wünschten. Das brachte die Venezianer in eine heikle Lage, zumal es in der Stadt von jeher an ausreichend Wohnraum und freien Grundstücken fehlte. 1396 erhielten die Juden draußen bei der Kirche San Nicolò al Lido schließlich einen eigenen Friedhof. Aber nicht einmal dieses Stück Land durften sie besitzen, sondern mussten es auf unbestimmte Zeit pachten.
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Juden durften weder Land besitzen noch in festes Eigentum investieren. Das gesamte 15. Jahrhundert hindurch waren Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für Juden in Venedig auf lediglich zwei Jahre begrenzt. Erst 1509 erlaubte man größeren Gruppen den Zugang zur Stadt. 1516 überließ man ihnen schließlich eine Insel, auf der sich einst Eisengießereien befunden hatten. Zurückgehend auf das Wort gettare, »gießen«, wurde die Kolonie »Ghetto« genannt: die Gießerei. Ursprünglich war sie ausschließlich für Juden aus dem Heiligen Römischen Reich gedacht. Es kam zu intensiven Konflikten zwischen diesen und Juden aus anderen Regionen. Als nach 1494 die spanischen und portugiesischen Juden herbeiströmten, kam es zu regelrechten Kämpfen mit den Juden, die bereits aus Italien und Deutschland zugewandert waren. Erst 1589 erhielten die iberischen Juden die Erlaubnis, sich im Ghetto Vecchio, »die alte Gießerei«, in unmittelbarer Nähe des Ghetto Nuovo, »die neue Gießerei«, niederzulassen.
Vom Zufluchtsort zum Gefängnis Aus jüdischer Sicht betrachtet, war das Gute an den Venezianern ihre Berechenbarkeit. Überall, wo es Geld zu verdienen gab, konnte man immer mit ihnen rechnen. Sie ließen niemals zu, dass sich moralische Skrupel oder ideologische Verblendungen dem in den Weg stellten, was staatsreligiöse Praxis war: Geld zu verdienen. Juden mussten zwar hohe Abgaben und Steuern entrichten, aber in den venezianischen Herrschaftsgebieten waren sie vor jeglicher religiöser Verfolgung sicher. Deshalb wurde zum Beispiel die Universität in Padua zu einem wichtigen Zentrum für neue Gelehrtheit. Sie war die Universität Venedigs und befand sich damit praktisch außer Reichweite jeglicher kirchlicher Gerichtsbarkeit. Allerdings mussten auch in Venedig Juden während der Karnevalsfeier zur Belustigung des Pöbels halbnackt durch die Straßen laufen.2 Die Venezianer hatten keine andere Religion als den Chauvinismus und das Geld. Für sie waren die Juden Venedigs erst dann ein Problem, als sie keine beachtlichen Beträge mehr in die Stadtkasse einbrachten. Die reiche Gemeinschaft von Juden aus Kaufleuten vom Anfang des 16. Jahrhunderts wurde am Ende des 16. Jahrhunderts von einer zahlreicheren und weitaus ärmeren jüdischen Gemeinschaft abgelöst. Das Ghetto als Institution unterbrach in Venedig jedoch nicht die Verbindungen zwischen den Juden und
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dem sozialen Umfeld. Leon da Modena (1571–1648) schreibt in seiner Autobiografie über den Aufenthalt in der Lagunenstadt, dass es auf allen Ebenen weitgefächerte Kontakte gab. Die Verarmung verwandelte das Ghetto in ein Gefängnis. Erst jetzt wurde es für die Behörden notwendig, die Armenhäuser an einer Stelle zu konzentrieren. Die freiwillige Stadt in der Stadt wurde zu einem unfreiwilligen Käfig für diejenigen, die die Stadtkasse nicht mit großen Summen füllen konnten. Der venezianische Antisemitismus, wie er gegen Ende des 16. Jahrhunderts heranwuchs, war von einer neuen Art – weder religiös noch biologisch, sondern durch finanzielle Verhältnisse begründet. Verglichen mit den Lebensbedingungen im übrigen Europa war das jüdische Leben im Herrschaftsgebiet Venedigs jedoch weitaus weniger bedroht. Jüdische Ärzte genossen lange Zeit Privilegien in der Stadt und prägten das neue Medizinstudium in Padua. Venedig wurde im 16. Jahrhundert zum dominierenden Zentrum für den Druck jüdischer Bücher. Aldus Manutius (1449–1515) war der erste italienische Buchdrucker, der hebräische Lettern in seinen Büchern verwendete. Er gab auch eine jüdische Grammatik für Anfänger heraus. Nach 1600 ging es der venezianischen Wirtschaft immer schlechter, und das Judenviertel wurde nach und nach zu einem reinen Armenviertel, das schließlich Napoleon in die übrige Stadt integrierte, indem er 1797 die Stadttore rund um das Ghetto niederbrennen ließ. Erst im Revolutionsjahr 1848 erhielten die Juden in Venedig das volle Bürgerrecht.
Der Zweck der Segregation Die Häuser und die Synagogen der Juden in Venedig sind noch erhalten. Dabei ist auffällig, wie hoch die Häuser sind. Die wachsende Anzahl von Menschen auf einem begrenzten Raum machte es erforderlich, in die Höhe zu bauen, so finden sich im ehemaligen Ghetto Venedigs einige der frühesten Hochhäuser in der Geschichte Europas. Die hohen Gebäude waren ein direkter Reflex auf die Bewegungs- und Wohnrestriktionen nach 1600. Hier war das einem Gefängnis ähnelnde Armenviertel voll von Fremden, wodurch der Begriff des »Ghettos« entstand, der später als Typenbezeichnung in viele Sprachen einging. Außerdem war die jüdische Tradition in Venedig Ursprung eines Judenporträts, das niemals vergessen werden wird, und
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Das erste Ghetto
das Stereotype gleichzeitig festigt und mit ihnen bricht: Shakespeares Jude Shylock. Bei der Interpretation des jüdischen Ghettos in Venedig fällt es leicht, neuere Geschichte in alte Verhältnisse hineinzudenken. Richard Sennett, der ansonsten bedeutende Werke über die Kultur- und Sozialgeschichte schuf, nimmt Shakespeares Fantasieporträt für bare Münze und meint, das Ghetto spiegele ausschließlich christliche Berührungsängste wider.3 Aber zum einen waren die Berührungsängste der Juden in Bezug auf die christlichen Heiden genauso groß und zum anderen war Venedig in vielerlei Hinsicht eine Insel mit eigenen Regeln. Sennett übersieht das Freiwillige, ja, das Erstrebenswerte bei der allerersten Ghettobildung. Zwar hatte das Laterankonzil ab 1179 eine Segregation der Juden in christlichen Städten empfohlen, als die Segregation jedoch geschah, erfolgte sie ebenso stark auf kirchlichen Druck wie auf jüdische Bestrebungen hin. In Venedig wurden die unfrommen Wünsche des Laterankonzils erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts Wirklichkeit. Sennetts Standpunkt, dass die Segregation ursprünglich aufgezwungen und von den Juden unerwünscht war, ist anachronistisch und ahistorisch. Der Verfall Venedigs begann 1453, als die muslimische Expansion den Rest des Byzantinischen Reiches schluckte. Ab 1501 setzte er sich fort, als die Portugiesen um Afrika herum eine Seeroute nach Indien eröffneten. Der Handel mit Gewürzen und anderen Waren aus dem Osten wurde von den Muslimen zum Teil eingestellt, zum Teil fand er andere Wege. Die Venezianer erweiterten ihr Territorium auf dem Festland, das nunmehr auch Verona, Vicenza und Padua umfasste. 1509 wurden sie jedoch auch auf dem Festland zurückgedrängt. Da strömten die Juden aus den Städten des Festlands in die Lagunenstadt, weil sie auf den Papst und den französischen König nicht vertrauen konnten. Allerdings machten die politischen und wirtschaftlichen Verluste die Venezianer aufgeschlossener gegenüber Bußpredigern und anderen Aufwieglern. Die Ausbreitung der Syphilis ab 1494 brachte so manch einer mit der Vertreibung der Juden aus Spanien in Verbindung. Sigismondo de’ Conti da Foligno (gest. 1512) gibt in seiner Chronik den einwandernden Juden aus Spanien und Portugal die Schuld an der explosionsartigen Ausbreitung der Syphilis innerhalb seiner Generation. Die Juden waren seiner Überzeugung nach im Prinzip unrein, was sie zu verdächtigen Trägern von Lepra und Geschlechtskrankheiten machte. Nach der verlorenen Schlacht bei Agnadello (1509) fragten sich die Venezianer sogar, ob sie Gottes Zorn
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dämpfen konnten, indem sie den luxuriösen Verbrauch und die Sinnlichkeit zügelten. Dass die Juden entlang umständlicher Assoziationsketten sowohl mit Krankheit als auch mit Luxus und Sinnlichkeit in Verbindung gebracht wurden, machte sie zu einer effektiven Zielscheibe der Hetze. Analogien schufen eine Verbindung zwischen Wucher und Prostitution, vielleicht, weil sowohl der Wucherer als auch die Prostituierte eine Art unnatürliches Geschäftsmodell betrieb. Sennett liegt falsch, weil er die Angst hinter der Segregation übertreibt. Die Angst war nicht größer, da sich die Juden tagsüber frei in der Stadt bewegen konnten. Lediglich in der Nacht mussten sie im Ghetto versammelt sein. Zaccaria Dolfin, der das Ghetto 1516 errichtete, begründete die Errichtung ausdrücklich im Hinblick auf die eigene Sicherheit der Juden. Tagsüber gingen die Christen im Ghetto frei ein und aus, um Geld zu leihen oder Waren zu verkaufen. Die von Angst getriebene Segregation entstand erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts als eine dermaßen verbreitete Haltung, dass sie nun politische Konsequenzen hatte. Sennett spricht vom venezianischen Ghetto, als sei es bereits 1516 ein Konzentrationslager gewesen. Dem war nicht so. Zutreffender wäre seine Behauptung für das römische Ghetto, das 1555 errichtet wurde. Papst Paulus IV. wollte die Juden sammeln, um ein konzentriertes Missionierungsgebiet abzugrenzen. In Rom wurde das Viertel ab 1562 als Ghetto bezeichnet. Die Bewohner sollten zum christlichen Glauben bekehrt werden und wurden gezwungen, sich Predigten anzuhören. Der Papst stellte diesbezüglich eine eigene Bulle aus: Cum nimis absurdum. So etwas war in Venedig das ganze 16. Jahrhundert lang undenkbar, obwohl sich einzelne Bußprediger eine solche Entwicklung wünschten. Die Bezeichnung »Ghetto« jedoch verbreitete sich: Florenz (1571), Siena (1572), Padua (1603), Ferrara (1624) und Modena (1638).
Auch in Venedig – gelbe Stoffstücke Die Assoziation zwischen Juden und Prostituierten war im Stadtbild von Venedig jedoch sichtbar: Beide Gruppen waren gezwungen, sich mit gelben Stoffstücken zu kennzeichnen. Ein Ergebnis der Segregation war, dass man weniger übereinander erfuhr. Das war und ist der ideale Ausgangspunkt für die Entstehung von Mythen und Spekulationen. Ein anderer Effekt
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bestand darin, dass es einfacher wurde, Angriffe und Massaker gezielt durchzuführen. Als 1636 einige jüdische Diebe gestohlene Waren im Ghetto versteckten, wurde das ganze Viertel angegriffen und mehrere Hundert Personen jeden Alters und beiderlei Geschlechts wurden vom christlichen Mob ermordet, der nur auf einen solchen Anlass gewartet hatte. Im übrigen Europa gehörten solche Angriffe zur Normalität. In Venedig geschah es jedoch zum ersten Mal, dass eine fremde Gruppe einer solchen Behandlung ausgesetzt war. Spätestens ab 1636 ist auch das Ghetto in Venedig ein »Ghetto« im modernen Sinne, ein Gefängnis, in dem das Leben der Insassen ständig bedroht ist. Als sich das Ghetto im 16. Jahrhundert entwickelte, unterschied es sich enorm von den Judenvierteln des Mittelalters. Letztgenannte waren freiwillig gewesen und hatten auf der Nähe zu gemeinschaftlichen Institu tionen beruht. Das Ghetto hingegen war eine aufgezwungene, gesetzlich vorgeschriebene Lebensform. Es war ein obligatorischer Lebensrahmen. Zu Beginn seiner Entstehung beinhaltete es jedoch keinen großen Bruch mit der Tradition, und es gab geringen oder gar keinen Widerstand gegen das Ghetto als gesetzlich verankerter Rahmen für gemeinschaftliche Tätig keiten. Es brachte mehr Sicherheit sowie eine Stärkung der eigenen gefestigten Kultur mit sich, die sich vom Umfeld unterschied und auch als anders wahrgenommen wurde.4 Als der Riss zwischen dem jüdischen und dem christlichen Leben größer wurde, verloren die Gruppen nach und nach das Interesse füreinander als theologische Alternativen. Ausschluss und Binnenintegration hängen zusammen. Eine Minderheit, die von der Mehrheit auf dem ein oder anderen Niveau abgewiesen wird, wird auf dem betreffenden Feld ihre Binnenintegration verstärken. Die Trennung war so markant, dass die Reformation des Christentums in der jüdischen theologischen Literatur kaum Spuren hinterließ. Für die Juden war der Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten wie – um Lenin zu paraphrasieren – der Unterschied zwischen roten und grünen Teufeln. Der Unterschied war mit anderen Worten so gering, dass er ihre Bestimmung der Christen als homogene Gruppe nicht berührte. Das Ghetto in Venedig verfügte über eine Reihe unterschiedlicher Synagogen für Juden aus verschiedenen Teilen der Welt. In diesen studierte man den Talmud, sie waren Schulen und Institutionen. Innerhalb des Gebietes
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waren religiösen und kulturellen Aktivitäten keine Grenzen gesetzt. Ganz im Gegenteil wirkte es so, als würde das teilweise aufgezwungene Zusammenleben kulturelle und künstlerische Kräfte freisetzen.
Dominikaner und Franziskaner Überall sonst stellten die Dominikaner die Speerspitze des religiösen Antisemitismus dar. In Italien, und besonders in Venedig, waren jedoch die traditionell als die Verteidiger der Armen geltenden Franziskaner die eifrigsten Judenhasser. Sie verabscheuten den Geldverleih gegen Zinsen und gaben den Juden die Schuld an der Armut vieler Familien. Drei fromme Bußprediger – Bernhardin von Siena, Giovanni da Capistrano und Bernhardin von Feltre (1439–94) – betrieben während ihrer Predigttourneen aggressive und langandauernde antijüdische Kampagnen. Alle drei forderten die systematische Zerstörung jüdischen Schrifttums. Ihrer Behauptung nach waren die Juden schuld an Armut und sozialem Unglück. Die Juden wären wie ein Wundbrand im Blutkreislauf des Geldes innerhalb der Gesellschaft. Die Verbrechen der Juden waren in ihren Augen grenzenlos. Vor allem in Verbindung mit den Osterfeierlichkeiten konnten die Bußprediger die Stimmung so anheizen, dass die Aggressivität der kleinen Leute gegen Juden sich nicht mehr beschwichtigen ließ und in physischen Angriffen zum Ausdruck kam. Besucht man das ehemalige Ghetto in Venedig heute, kann man noch Überreste der religiösen Kultur entdecken, die einst dort blühte. Das Leben im Ghetto von 1516 bis 1797 kann nicht nur aus Elend bestanden haben. Oder besser gesagt: Die kulturellen Überreste verraten einen äußerlichen Lebenswillen, der jeglicher Abweisung und jeglichem Widerstand trotzte. Die Brunnen im Ghetto Nuovo waren jüdischen Nutzern vorbehalten. Da Juden verdächtigt wurden, Brunnen zu vergiften – in Venedig kommt das Wasser aus Brunnen –, durften die Christen keine Brunnen mit Juden teilen. Eine Logik in dieser Zurückweisung ist schwer zu erkennen, es sei denn, man verdächtigte die Juden des Versuchs, sich selbst zu vergiften.
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8. Frankreich:
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Im modernen, zentralistischen Flächenstaat wurden alle Fremdkörper mit Beunruhigung beäugt. Die Toleranz gegenüber Abweichungen nahm ab. Die Abweichler mussten unter Kontrolle und eine Verwaltung gebracht werden. Juden spielten eine wichtige Rolle in der Entwicklung des modernen Kapitalismus mit seinen Finanzverbindungen und seinem internationalen Warenhandel. Der Kapitalismus war in vielerlei Hinsicht eine revolutionierende Kraft. Er verursachte reihenweise soziale Veränderungen, die etablierte Machtgruppen herausforderten. Im Zentrum des Antisemitismus stand nicht mehr die Kritik am Judentum, weil es ein überholtes Stadium war, sondern die Kritik an den Juden, weil sie in den Augen der Judenfeinde die brutale Zukunft repräsentierten.1
Die Kontrolle des Staates 1394 wurden die Juden aus Frankreich vertrieben. Die Kontrolle des Staates über seine Einwohner kann jedoch nicht mit heute verglichen werden. Im Land verblieben nur Juden, die Christen geworden waren. Einige der Hafenstädte verfügten über bescheidene Judenviertel – besonders jene, die sich in der Nähe der spanischen Grenze befanden, wo beständig ein schmaler Strom von Flüchtlingen durchsickerte. Offiziell jedoch waren die Juden sowohl aus Frankreich als auch aus England vertrieben. Ihre Abwesenheit brachte die Propaganda indessen nicht zum Schweigen. Im 16. Jahrhundert verstärkte die Reformation das Problem. Als Ketzer wurden die Hugenotten mit den Juden assoziiert. Die Hugenotten jedoch konnte man niederkämpfen und töten, wie man es 1572 während der Bartholomäusnacht tat. Die Bedrohung durch die Juden wurde indessen wohl als größer angenommen, weil sie nicht physisch anwesend waren. Sie waren unsichtbar. Was bedeuten konnte, dass es sie überall gab. Der französi-
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sche Antisemitismus zwischen 1394 und dem Anfang des 18. Jahrhunderts richtete sich nicht gegen soziale oder ökonomische Gegenspieler, sondern gegen angsteinflößende politisch-religiöse Phantasmen. Auf diese Weise lebten die theologischen Begründungen bis weit in die frühmoderne Zeit hinein weiter. Dort, wo die Gegenspieler nicht physisch anwesend waren, konnten sich keine sozialen oder ökonomischen Begründungen finden. Die Vorstellung von einem einheitlichen Staat mit einer einzigen Religion wurde sowohl von den sichtbaren Hugenotten als auch von den unsichtbaren Juden herausgefordert. Die Verstoßung aus Frankreich 1394 wurde noch 1615 mit einer Verordnung formell bekräftigt. Die Bestätigung war wohl nicht den Flüchtlingen aus Spanien geschuldet, die sich nur formell zum Christentum bekehrt hatten, sondern vielmehr den Juden, die sich noch immer in der Hauptstadt verstecken mussten. Einige ganz wenige Juden waren auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne sichtbar, weil sie den besonderen Schutz des französischen Monarchen genossen. Anfang des 17. Jahrhunderts gelangten ein politischer Berater, seines Zeichens Jude, und ein berühmter jüdischer Arzt in die höchsten Kreise des französischen Hofes. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie der schwarzen Magie und der Spionage beschuldigt wurden. In der volkstümlichen Öffentlichkeit – unter den Leierkastenspielern und Verfassern von Pamphleten – war die Judenhetze ebenso verbreitet wie in den katholischen Katechismen. Die Bedeutung der theologischen Begründungen für den Antisemitismus wird erst deutlich, wenn man bedenkt, dass nahezu jegliche Erziehungsund Ausbildungseinrichtung bis zur Revolution 1789 unter kirchlicher Kontrolle stand. Katechismen und theologische Traktate brauchten ihr Bild von der Bosheit der Juden nicht zu begründen. Es konnte ebenso wie andere Glaubenswahrheiten geäußert und vorausgesetzt werden. Damals wie heute galten Juden als Feinde des Herrn. Wie bei Judas – angeblich der einzige Jude in der Schar der Jünger – waren Geldgier und Verrat das Einzige, was man mit Sicherheit von den Juden erwarten könne. Neben den theologischen Begründungen sehen wir eine weitere Wiederholung: Verfolgungen und Vertreibungen wurden wiederum als Argument gegen die Juden verwendet. Überall waren sie hinausgeworfen worden, aus Frankreich, England und Spanien. Konnte das ein Zufall sein? Mussten sie nicht seit dem ersten Osterfest die Verachtung ihres Umfeldes aushalten? Judenhass galt als universell und natürlich. In der Wirklichkeit verankerte
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Begründungen wurden nicht geliefert. Der Judenhass rechtfertigte sich selbst, wenn man denn einsah, dass die Juden ihm immer ausgesetzt waren. Wenn es denn immer so gewesen ist, musste es wahr sein. Vielmehr verhielt es sich so, dass jene, die nicht in den Chor einstimmten, begründen mussten, warum sie mit einer etablierten christlichen und kirchlichen Tradition brachen. Die Beweislast lag bei den Liberalen oder Aufgeklärten, nicht bei denen, die alte Vorurteile kolportierten. Wer nicht der Meinung der kirchlichen Verkündigung war, musste den Kampf gegen die Kanzeln und Katechismen aufnehmen. Hetzten die Priester nicht zum Gefecht auf, erinnerten sie beständig an das, was angeblich alle wussten. In Ermangelung der physischen Anwesenheit der Juden musste der traditionelle Judenhass in Frankreich andere Randgruppen treffen – allen voran die Protestanten. Es ist nicht undenkbar, dass einige der Angriffe gegen die Juden in dieser Zeit Assoziationen zwischen Juden und Hugenotten geradezu voraussetzten. Die Protestanten mussten ihre Identität häufig geheim halten und sich im Verborgenen treffen. Noch zu Zeiten der Dreyfus-Affäre bezeichnete der Journalist Drumont die französischen Protestanten als »Halb-Juden«.2
Eine Affäre nach der anderen Charakteristischerweise wurden Erscheinungsformen des Antisemitismus häufig von »Affären« angefacht. Ein aktueller Anlass hauchte einem kompletten System von Vorurteilen, das in Redewendungen und Traditionen bis dato ein schlummerndes Dasein geführt hatte, Leben ein. Jedem sind aus dem 19. Jahrhundert die Damaskusaffäre und die Dreyfus-Affäre in Frankreich bekannt. Aber bereits im 17. Jahrhundert bildeten »Affären« den Auftakt zu antisemitischer Propaganda. Was eine »Affäre« ist oder wie sie sich entwickelt, ist dabei nicht leicht zu verstehen. Sie beginnt häufig mit einem Gerücht in Verbindung mit einer Person oder einem Ereignis. Das Gerücht verzahnt sich mit anderen Gerüchten. Die Nachrichtenmedien geben den Verdächtigungen Nahrung. Die Gemüter kochen – bis das Ganze außer Kontrolle gerät. Eine Affäre ist ein Verdacht, der ungehindert zu einer Gerüchteflut anwächst, wobei das, was faktisch geschieht, ebenso häufig von den Ge rüchten verursacht wird, wie es Ursache der Gerüchte ist. Eine Affäre hin-
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terlässt im kollektiven Bewusstsein oft ein Loch, weil die Gerüchte weitaus mehr Fragen aufgeworfen haben, als sie Antworten auf bereits zuvor bestehende Fragen geben. Eine Affäre hat nämlich die Tendenz zu implo dieren, nachdem sie eine Weile existiert hat, das heißt, zu einem unscheinbaren kleinen Kern zusammenzuschrumpfen, der den Eindruck hinterlässt, der Aufruhr sei etwas Unbegreifliches gewesen. Das, was die Damaskusaffäre und die Dreyfus-Affäre im 19. Jahrhundert für den Antisemitismus waren, waren die Montalto-Affäre und die Lumpensammleraffäre für den Judenhass im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Montalto war der Arzt der französischen Königin Maria de Medici. Er interessierte sich für Kabbala – eine esoterische jüdische Lehre, in der eine Zahlenmystik im Vordergrund steht – und versammelte in Venedig, wo er lebte, einen Kreis Gleichgesinnter um sich. Königin Maria hatte ihn ursprünglich an ihren Hof gerufen, um die Frau des Marschalls Concini zu heilen. Unter der Bedingung, dass er sein Judentum dort praktizieren konnte, wollte Montalto nach Paris kommen. Dies wurde ihm gewährt, und so wurde er zum lebenslangen Leibarzt Marias. Auch in Paris versammelte er einen Kreis um sich, der sich für Magie und Kabbala interessierte. Zu diesem gehörten Concini und seine Frau. Politische Widersacher klagten sie der Magie und des Judentums an. Concini wurde ermordet, und seine Frau wurde öffentlich wegen des Mordes hingerichtet. Im Prozess hatten viele »Zeugen« ihr magische Experimente nachgesagt. Auch das Ehepaar Concini wurde verdächtigt, insgeheim Juden zu sein und auf »jüdische Art« Opfer zu erbringen. Montalto seinerseits wurde der Hexerei angeklagt, jedoch von seinen politischen Schutzherren gerettet. Die Montalto-Affäre war der direkte Anlass dafür, dass die Ausweisung der Juden von 1394 im Jahr 1615 zumindest formell erneut bestätigt wurde. Eine Generation später, 1652, wurden in Paris Verdächtigungen rund um die Zunft der Lumpensammler erhoben. Diese verprügelten einen Mann, als dieser sie als »Juden« bezeichnete. Als ein anderer die Lumpensammler wegen dieser Racheaktion bei der Polizei anzeigte, wurde er von ihnen ermordet. Plötzlich wurde der ursprünglichen Anklage, die Lumpensammler seien eigentlich Juden, von immer mehr Menschen Glauben geschenkt. Alles deutet darauf hin, dass es sich in Wirklichkeit um fromme Katholiken handelte, die jedoch in einer Branche tätig waren, in der zu einem früheren Zeitpunkt vereinzelt Juden aktiv waren. Dennoch entstand eine regelrechte Flut an Pamphleten und Traktaten über die angebliche Verschwörung der
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Lumpensammler. Der übereifrige Kaufmannssohn, der sie angezeigt hatte und ermordet worden war, wurde als ein Märtyrer in einem Religionskrieg dargestellt. Die Angst vor einer schäbigen und beschmutzten Unterklasse, die in Mülltonnen herumwühlte, vermischte sich mit der Angst vor dem Bösen an sich. Nur zum Schein seien die Lumpensammler auf Lumpen aus. Eigentlich hätten sie es auf das Blut der Christen abgesehen. Die hitzige Racheaktion wurde als ein Ritualmord angesehen, der erneut an den blutigen Tod des Heilands am Kreuz erinnerte. Weder der König noch das Parlament verdächtigten die Lumpensammler des Judentums, jedoch entstand eine umfassende Literatur für das gemeine Volk sowie aus diesem heraus, in der die alten Anschuldigungen gegen die Juden wiederholt wurden. Zu dieser Zeit gab es in Frankreich eigentlich keine Juden. Deshalb mussten die Lumpensammler vorübergehend die Bürde tragen, in der Fantasie des Volkes Juden zu sein. Anstatt eines Ritualmordes war der begangene Mord vielmehr eine Reaktion auf das Gerücht über ihr Judentum. Die Lumpensammler teilten das Grauen ihrer Ankläger vor dem Judentum. Sie waren so wütend über die Anschuldigung, dass die Wut sie zum Mord trieb.
Juden und Hugenotten Die Identifikation von Juden und Hugenotten in Frankreich führte dazu, dass jene, die hugenottische oder protestantische Sympathien hegten, auch die Juden verständnisvoller betrachteten. Trotz Martin Luthers persön lichem Antisemitismus gab es auch in Deutschland ein beträchtliches Wissen über und Sympathie für die jüdische Tradition. Die neue Sicht auf die Heilige Schrift erforderte von den Protestanten Studien des Hebräischen. Der humanistische Teil der Aufklärungsbewegung – besonders jene, die der Kirche gegenüber etwas skeptisch waren – hob oft die Vortrefflichkeit der jüdischen und der muslimischen Religion hervor. Auch wenn das in einzelnen Fällen nur geschah, um die Kirchenfürsten zu irritieren, so erzeugte es in jedem Fall ein neues Interesse für die konkurrierenden Religionen. Bei Jean Bodin (1520–96) sowie bei Blaise Pascal (1623–62) sorgen gerade die Sympathien für die Protestanten für eine etwas humanistischere Sicht auf religiöse Unterschiede. Nach Bodin und Pascal sind die Juden nicht nur genauso gut wie das Volk der Kirche, bei ihnen gibt es auch etwas zu ler-
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nen, was nirgendwo anders gelernt werden kann. Zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert sind die Meinungen geteilt. Nicht alle, die Toleranz predigten, wollten, dass diese auch für die Juden gelten sollte. Bei Voltaire (1694–1778) färbt der Hass auf die Kirche auf die historischen Wurzeln der Kirche ab. Die Juden seien verachtenswert, unter anderem, weil sie das Christentum hervorgebracht hätten. Voltaires ansonsten gut dokumentierter Humanismus gilt nicht für die Juden.
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9. Deutschland:
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Die Reformation hatte eine Reihe positiver Berührungspunkte mit der jüdischen Lehre und Philologie. Ihre Werte waren in Bezug auf das Judentum jedoch eher regressiv als progressiv. In vielerlei Hinsicht bedeutete der Populismus der Reformation einen Rückfall in die Mythen des Mittelalters über Juden, die sich in den wirtschaftlich und kulturell benachteiligten Gesellschaftsschichten erhalten hatten. Luthers Attacken gegen die Juden sind wohlbekannt und häufig zitiert worden, weil sie den Antisemitismus in der deutschen Tradition an einer autoritativen Stelle, an einer autoritativen Quelle befestigen. Das Christentum der Reformation war weitaus volkstümlicher als das theologische Denken der kirchlichen Hierarchie. Deshalb tauchten in der Zeit der Reformation Mittelalterstereotypien mit neuer Kraft auf.
Luther und Cromwell Martin Luthers (1483–1546) Attacken gegen die Juden machten den Protestantismus zu der am deutlichsten judenfeindlichen aller reformatorischen Gruppierungen.1 Umstritten ist indessen die Frage, ob Luther faktisch eine antisemitische Tradition begründete. Viel deutet darauf hin, dass seine Äußerungen erst im 19. Jahrhundert und selbstverständlich bei den Nationalsozialisten wieder als Anhaltspunkte des deutschen Antisemitismus populär wurden. Anders verhielt es sich mit dem Calvinismus in England. Das gesetzesorientierte Christentum hatte großes Interesse am Alten Testament. In der vom Calvinismus betonten augustinischen Tradition war die Bekehrung der Juden zum Christentum eine Voraussetzung für die Rückkehr Christis. Zudem waren die Bildfeindlichkeit und die Theokratie des Calvinismus früh als jüdische Züge der Ausreißer der etablierten Kirche gescholten worden.
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Oliver Cromwell (1599–1658) wurde beschuldigt, entweder selbst Jude zu sein oder die englischen Domkirchen an die Juden verkaufen zu wollen. Die messianistische Hoffnung im reformierten Christentum hatte viele Berührungspunkte mit dem jüdischen Messianismus. Der Charakter der Reformationsgruppierungen als verfolgte Minoritäten unterstrich die Nähe zu den Juden. Beide Seiten hatten ein reales Bedürfnis nach religiöser Toleranz. In seinen Konflikten mit Spanien suchte Cromwell jüdische Unterstützung und zog so den Verdacht auf sich, auf Seiten der Juden zu stehen. Englische Kaufleute fürchteten jüdische Konkurrenz, sollte Cromwell die Juden wieder ins Land einladen. Trotz Cromwells Sympathien und der Zusammenarbeit durften sich Juden offiziell aber nicht wieder im Land niederlassen. Nach Cromwells Machtübernahme 1649 entstanden jedoch kleine Marrano-Kolonien. In Verbindung mit dem politischen Streit um Cromwell wurde eine Reihe politischer Pamphlete mit deutlichem antisemitischem Einschlag publiziert. Die Argumente bezogen sich immer auf das Wort der Schrift, und viele von ihnen dämonisierten die Juden als Christus- und Kindermörder. Nur bei wenigen Autoren standen religiöse Motive hinter den Angriffen. Häufig wurden nur religiöse Phrasen herangezogen, um auf irgendeine Weise das politisch oder wirtschaftlich Erwünschte zu rechtfertigen. Im Laufe der Zeit wandelten sich religiös motivierte Erzählungen in Redewendungen und Ausreden. Es ist indessen schwer zu entscheiden, wie viel Aufrichtigkeit und wie viel Taktik sich hinter den Äußerungen im England des 17. Jahrhunderts verbarg. Seit dem Mittelalter ist deutlich, dass der Judenhass sowohl eine praktisch-politische als auch eine mythologischreligiöse Seite hatte, zwischen denen zu unterscheiden auch den Anwendern judenfeindlicher Sprache und Bilder nicht gelang.
Deutschland In Deutschland wurden die Juden ebenso wie in Frankreich und England eng mit dem Geldverleih und anderen Seiten des neuen Kapitalismus assoziiert, der das tägliche Leben sowohl von Bauern als auch von Bürgern veränderte. Die traditionelle Moral und ihre Werte waren mit den alten Erwerbszweigen verbunden. Der Kapitalismus brachte ganz neue Gewohnheiten und Methoden mit sich, die von der traditionellen Moral nicht abgedeckt waren. Die
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Repräsentanten des neuen Kapitalismus wurden dadurch leicht als unmoralisch und kriminell identifiziert. Nur ein sehr geringer Teil der jüdischen Bevölkerung gehörte zu den Wegbereitern der neuen Wirtschaftsform, unter denen selbst der Anteil an Juden relativ gering war. Aber sie waren da, und sie waren sichtbar. Juden waren leicht als Gruppe zu identifizieren. Und da eine mythologische und legendenhafte Tradition existierte, an die die Aggressionen gegenüber der neuen Wirtschaftsform anknüpfen konnten, wurden sie nicht weniger sichtbar. Die Geschichte über Judas und die Silberlinge verband die Vorstellung von jüdischer Bosheit und Geldgier mit dem Volk, das den Heiland verraten und ermordet hatte. In einer merkwürdigen Weise vermischten sich die Aggressionen gegenüber der modernen Wirtschaft mit gänzlich archaischen mythologischen Motiven. In Deutschland war der Gegensatz zwischen den neuen und den alten Erwerbszweigen groß. Im Spätmittelalter und in der Reformationszeit war der Judenhass neben vielem anderen auch eine Modernitätskritik mit mythologischen Argumenten. Christliche Autoren setzten voraus, dass alle Juden Judas’ Eigenschaften hätten. Viele warnten davor, dass die Juden mittels Wucherei die Macht in der Gesellschaft übernehmen würden. Sie würden sich allein durch ihr Geld mästen, während gewöhnliche Deutsche auf dem Feld oder in der Werkstatt arbeiten müssten. »Warum wollen sie sich nicht nützlich machen?«, fragte Geiler von Kaysersberg. »In der Schrift steht, dass du dein Brot im Schweiße deines Angesichts essen sollst. Die Juden aber wollen nicht mit den Händen arbeiten. Andere mit Wucherzinsen zu schröpfen, ist keine ehrliche Arbeit.« Diejenigen, die entdeckt hatten, dass die Juden nicht die einzigen Akteure in der neuen Wirtschaft waren, griffen die christlichen Akteure als »noch schlimmer als die Juden« an (Sebastian Brant). Auf diese Weise wurde der jüdische Wucherer zu einer Ikone, die auch dort bekräftigt wurde, wo die christlichen Akteure thematisiert wurden. Die Christen wurden nicht angeklagt, indem sie mit Wucherern gleichgesetzt wurden, sondern indem sie mit den Juden gleichgesetzt wurden, die bereits als Wucherer gekennzeichnet waren. In Deutschland wurde der Ausdruck »Christen-Juden« für die Christen verwendet, die sich durch die Teilnahme an der neuen Wirtschaftsform dem Judentum ergaben. Die Verwendung von »jüdisch« und »Judentum« als Synonyme mit dieser erfordert eine kritische Lesart der antisemitischen
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Texte der Reformationszeit. In vielen Zusammenhängen sind die Ausdrücke »jüdisch« und »Judentum« nur Schimpfwörter, die in der Realität alle treffen, die im frühen Kapitalismus eine Nische gefunden haben. Die Verwendung der Begriffe zeigt das Maß an Aggression und dient dazu, die neuen Akteure durch die Gleichstellung mit einer verachteten Minderheit zu kompromittieren. Aber auch jene, die diese Ausdrücke verwendeten, wussten, dass es sich nur in begrenztem Ausmaß um Juden im wortwörtlichen Sinne drehte. Der ständige Gebrauch der Mythen zur Rechtfertigung allgemeiner Verachtung bestätigt und aktualisiert diese im Umkehrschluss. Zur Reformationszeit war dies ein europäisches Phänomen und kein ausschließlich deutsches Phänomen. In Deutschland jedoch waren die Ausdrücke besonders deutlich und vielfältig. Hinzu kam, dass Martin Luther offenbar für viele in einer solchen Tradition stand und damit solchen Attacken seine Autorität verlieh. Vor dieser Zeit hatte der große Hebräisch-Forscher Johannes Reuchlin die Schriften der Juden gegenüber dem jüdischen Konvertiten Johannes Pfefferkorn verteidigt, der in Der Judenspiegel (1516) das Verbot des Talmud gefordert hatte. Pfefferkorn wollte die Juden missionieren, sie zwingen, christlichen Predigten beizuwohnen, und jüdische Bücher verbieten.2 Unterstützung erhielt Pfefferkorn sowohl von den Dominikanern in Köln als auch von dem deutschen Kaiser Maximilian. Die Juden beschwerten sich beim Erzbischof von Mainz, der eine Kommission einberief, um zu untersuchen, ob der Talmud blasphemische Äußerungen enthielt. Als leitender Experte in dieser Kommission verteidigte Johannes Reuchlin (1455–1522) die Heiligen Schriften der Juden, indem er unterstrich, wie viel diese mit den christlichen Wahrheiten gemein hatten. Der Papst, Erasmus von Rotterdam und die Humanisten schlossen sich nach und nach Reuchlins Standpunkten an. Aber auch Reuchlin sah deutliche Unterschiede zwischen dem Judentum und dem Christentum, zwischen Juden und Christen. Allein dadurch, dass sie Juden waren, spotteten sie Gottes Namen jeden einzelnen Tag, meinte er. Sie würden Christus einen Zauberer, Jungfrau Maria eine Hexe und die Apostel Ketzer nennen. Die Juden betrachteten uns Christen als dumme Heiden, klagte Reuchlin. In ihrer Polemik gegen den Juden Pfefferkorn zur Verteidigung der jüdischen Schriften verwendeten sowohl Reuchlin als auch Ulrich von Hutten antisemitische Argumente, indem sie den Juden Rachsucht und eine treulose Natur unterstellten. Erasmus von Rotterdam nannte Pfefferkorn
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einen Verräter, der ein typischer Repräsentant seines Volkes sei. Liberale und Humanisten widersetzten sich auch den Bücherverbrennungen der Dominikaner und der Aufforderung der Pariser Universität, die jüdische Religion ein für alle Mal auszurotten. In den Auseinandersetzungen der Reformationszeit waren alle Erwartungen hinsichtlich religiöser Toleranz und Glaubensfreiheit anachronistisch. Wenn man an die Debattierenden der Reformationszeit moderne Maßstäbe anlegt, kommt man nicht weit. Aber selbst wenn man das berücksichtigt, wirkt Luthers Beitrag im Streit um die Juden ziemlich radikal.
Ohne Bedenken Karl Jaspers schreibt über Martin Luthers Judenhass, dass Hitler lediglich das ausgeführt habe, was Luther geraten hätte.3 Das ist eine anachronistische Verzerrung der historischen Zusammenhänge. Es gibt bei Luther keine Andeutung der Forderung nach Massenmord. Er war jedoch offensichtlich eine starke judenfeindliche Stimme inmitten der deutschen, religiösen Tradition und trug dazu bei, den Antisemitismus »stubenrein« zu machen. Indem er das zur Norm erhob, was später zur reichsdeutschen Sprache werden sollte, und indem er eine eigene nationale, religiöse Tradition etablierte, wurde Luther auch in Bereichen zu einer Autorität, in denen seine Äußerungen relativ beiläufig sind. Wie beliebig sein Antisemitismus ist, darüber kann gestritten werden. Besonders gegen Ende seines Wirkens wurde der Ton schärfer, und die Judenfrage war offensichtlich ein wunder Punkt für den Reformator. Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) ist eine Wiederholung und Zusammenfassung fast aller Motive, die bisher im religiös motivierten Judenhass Verwendung fanden. Der Tempel in Jerusalem sei zerstört, und Gottes Zorn hätte gezeigt, dass die Juden sich geirrt hätten. Die Juden seien Wucherer und Parasiten. Sie kämen als Fremde nach Deutschland und versorgten sich mit den Reichtümern des Landes, so als würden sie ihnen gehören. Zinsen für den Verleih von Geld zu nehmen, sei Diebstahl. Auf diese Weise brächten die Juden die Christen dazu, für sie zu arbeiten. Die fremden Eindringlinge würden Herren, und die eigenen Einwohner des Landes würden zu ihren Dienern. Die Juden seien eine Pest und eine schwere Bürde. Ein Beweis dafür sei ihre Vertreibung aus Frankreich, Spanien und Böhmen.
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Luther verwendete also die vergangenen Verfolgungen, um neue Verfolgungen zu rechtfertigen. Seiner Aussage nach seien die Juden wie ein Nierenstein, ein Magengeschwür oder wie jede andere schmerzhafte Krankheit. »Wir bezeichnen ihre Frauen nicht als ›Huren‹«, sagte Luther, »auch wenn sie dieses Wort für Jesu Mutter Maria verwendeten. Wir verbannen sie nicht, wir entführen und töten nicht ihre Kinder. Wir vergiften nicht die Brunnen der Juden und löschen unseren Durst nicht mit ihrem Blut. Die Juden jedoch tun all das gegenüber den Christen. Haben wir das wirklich verdient?« Neben dem Teufel habe der Christ keinen Feind, der so giftig, so verzweifelt, so bitter sei wie der echte Jude. Sie seien Giftschlangen, die rauben, plündern, verderben und verfluchen. Wer das nicht verstehe, der könne »in ihre Arschlöcher kriechen«, sagte Martin Luther mit der raffinierten Metaphorik der Reformationszeit. Die praktische Schlussfolgerung dieser Anfeindungen ist wie erwartet: »Brennt ihre Synagogen nieder, zieht ihre Bücher ein, verbietet ihre Gottesdienste und lasst sie mit ihren eigenen Händen arbeiten«, sagte Martin Luther. Das Beste wäre, wenn sich Fürsten und Priesterschaft zusammentäten, um sie aus dem Land zu vertreiben. Zu einem späteren Zeitpunkt, 1543, veröffentlichte Luther eine weitere Schmähschrift – Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi – gegen den Wucher, die Gier, die Sophisterei und Hexenkunst der Juden. Die Juden seien unwiderruflich verloren. Ihre Herzen seien aus Holz, Stein und Eisen. Sie seien vom Evangelium ebenso unbeeinflussbar wie der Teufel selbst. Sie seien die Kinder des Teufels und dazu verdammt, in der Hölle zu brennen. Sollte jemand meinen, er sei zu hart, so könne man dem Herrn der Juden, dem Teufel höchstselbst, gegenüber nie deutlich genug sein, sagte Luther. Luther hob die antisemitische Polemik auf ein rhetorisches Niveau, eine Intensität und pathologische Erfindungsgabe, die später von niemandem wieder erreicht wurde. Melanchthon schämte sich für ihn, und Zwingli meinte, Luthers Tiraden passten besser zu einem Schweinehirten als zu einem Seelenhirten. Es muss eingeräumt werden, dass man in der kompletten westlichen Geistesgeschichte vergeblich nach einer hässlicheren, menschenverachtenderen Sprache sucht. Wenn diese Texte dennoch nicht als die bedrohlichsten empfunden werden, liegt das daran, dass es ihnen an jeglicher Subtilität, Spitzfindigkeit oder Unterstellung fehlt. Es ist, als sei der komplette Stand antisemitischer Waren mit einem Mal für alle sichtbar in die Mitte des Marktplatzes gerückt worden. Luthers Texte sind so
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unchristlich, dass sie zu lesen sich beinahe wie eine Bußhandlung anfühlt. Denn hier werden keine sündigen Gedanken verschwiegen. Lediglich gegen den Papst und die Papstkirche verwendete Luther dieselbe Sprache, wie er sie gegen die Juden gebraucht hat.
Der frühe Luther Der Ton des frühen Luther war ein komplett anderer. »Wäre ich ein Jude«, sagte er 1523, »wäre ich lieber ein Schwein geworden als ein Christ zu werden – wenn man bedenkt, wie die Christen die Juden behandelt haben.« Absicht der Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei war nicht, die Juden zu verteidigen, sondern auf die Anklage der katholischen Kirche zu reagieren, dass Luther selbst mehr Jude als Christ sei. Luther begegnete der polemischen Herausforderung, indem er in die Rolle des ausgestoßenen Juden schlüpfte. Die Assoziationen zwischen reformatorischen Schismatikern und Juden war während des gesamten 16. Jahrhunderts eine systematische Argumentationsstrategie der Kirche. In den Augen der Kirche war die Reformation ein Rückfall ins Judentum. Die Bartholomäusnacht in Paris kann als ein Judenmassaker an Protestanten aufgefasst werden. Bis zur DreyfusAffäre in Frankreich stellten konservative, katholische Kreise Protestanten und Juden als antinationale und subversive Gruppierungen gleich. Luthers frühe Schrift über die Juden ist wohl nicht, wie Poliakov annimmt, ein Versuch, sich bei ihnen einzuschmeicheln, sondern vielmehr ein Versuch seitens Luthers, sein eigenes Schisma als eine Rückkehr zu einer authentischen historischen Wahrheit zu empfehlen. Wenn die Katholiken die Protestanten nur nicht wie Juden behandelt hätten, sondern stattdessen auf ihn gehört hätten, hätte vieles anders aussehen können. So lautet die Behauptung hinter Luthers Erklärungen. Bereits 1532 ist die unzensierte Stimme zu vernehmen: »Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücke führen, einen Stein an den Hals hängen und ihn hinab stoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams.«4 Luther war persönlich aktiv, wenn es darum ging, die Juden aus Sachsen, Brandenburg und Schlesien zu vertreiben. Seine letzte Predigt am 14. Februar 1546 – vier Tage vor seinem Tod – in Eisleben war eine Aufforderung, die Juden aus allen deutschen Gebieten zu vertreiben. »Ich kann die Juden nicht bekehren«, sagte Luther, »wie denn auch Herr Christus […] Aber das
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Maul kann ich ihnen stopfen, dass sie darniederliegen müssen!«5 Es ist möglich, dass Poliakov recht hat, wenn er annimmt, dass Luthers Wut von enttäuschter Liebe bestimmt war. Vielleicht hatte er erwartet, dass ein bereinigtes Evangelium den Glauben der Juden erneut herausfordern könnte. Durch das von der Reformation bereinigte Bild von Christus erhielten die Juden noch eine Chance, Christus als Messias zu erkennen, meinte Luther. Aber auch diese Chance ergriffen sie nicht. Deshalb war Luther so gnadenlos, meint Poliakov. Auf jeden Fall konnten seine Angriffe später genutzt werden, als seine Schriften unter Hitler in Billigausgaben und Massenauflagen gedruckt wurden. »Wenn es christlich ist, Juden zu hassen, sind wir dann nicht alle Christen im Übermaß«6, sagte Erasmus von Rotterdam mit einer leichten Ironie, die Luther unbekannt war. Mit Luther als Vorbild wurde eine Unmenge an Traktaten über Juden und das sogenannte Judenproblem im Deutschland des 16. Jahrhunderts verfasst. Die bedrängte Stellung der Juden lähmte die jüdische Gemeinschaft in einer Zeit, in der sich alles andere schnell veränderte. Die jüdische Kultur blieb in ihrem Wesen eine Mittelalterkultur, die sich als Schutz vor einem feindlichen Umfeld in sich verschloss. Die Juden hatten zu den ersten Pionieren des Kapitalismus gehört. Damit hatten sie die Reaktionen der traditionelleren christlichen Kultur in hohem Maße getroffen. Jetzt kam es zu einer sozialen Differenzierung, für die meisten Juden hinein in die Ghettoinstitution des 16. Jahrhunderts und für wenige hin zu einem sozialen Aufstieg. Einige ganz wenige stiegen an den Fürstenhöfen auf, wo sie ihre finanzielle, industrielle, diplomatische oder medizinische Expertise im Umgang mit den Mächtigsten einsetzten. Die meisten verblieben in ihrem sozialen Gefängnis.
Hofjuden und Banditen Was die Hofjuden anzubieten hatten, waren Wissen, Erfahrungen und Kontakte. Oft griffen sie zum Vorteil ihrer Glaubensgenossen ein, die im Großen und Ganzen ein Leben am Rande der Gesellschaft führten. Die Hofjuden behielten in der Regel ihre jüdische Orthodoxie bei und identifizierten sich mit ihren Glaubensgenossen. Im 17. Jahrhundert nahmen die regelmäßigen Vertreibungen aus den deutschen Städten und Kleinstaaten ab. Teilweise kann das auf den Interventionen der Hofjuden beruhen. Möglicherweise
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aber waren bei den gewöhnlichen Juden, die anschließend ihre Aufenthaltstitel in den Städten käuflich erwerben mussten, keine großen Gewinne mehr zu holen. Aus demselben Grund war die Stellung der Hofjuden gefährdet, sobald sie zu erfolgreich, zu mächtig oder zu wohlhabend wurden. Zur gleichen Zeit entstand die Vorstellung von den Juden als Banditen. Das ist ein neues Motiv im Bild der Juden des 16. Jahrhunderts – dass sie Taschendiebe, Räuber und Banditen seien. Zwar operierten einige Juden in Räuberbanden in einer überregionalen Gesellschaft, in der sie unerwünscht waren, während sie im Ghetto ein beispielhaftes Familienleben führten. Die deutsche Verbrechersprache des 16. und 17. Jahrhunderts – Rotwelsch – weist einen bedeutenden Anteil hebräischer Wörter auf. Doch selbstverständlich war nur ein äußerst geringer Teil der jüdischen Gemeinschaft in diese Art von Tätigkeit involviert, und von denen, die dieser Art von Tätigkeit nachgingen, war nur ein kleiner Bruchteil Juden. Aber wie auch sonst waren auch hier dieselben Mechanismen der Gleichstellung der Gruppe mit Einzelnen wirksam: Die jüdischen Banditen bekräftigten die Vorstellung vom Wesen aller Juden. An Samstagen könne man vor Taschendieben sicher sein, hieß es, denn da feierten die Juden Sabbat. Mit der Entwicklung moderner Staatsinstitutionen nahm die sichtbare Gewalt ab. Die Massaker und Pogrome wurden unüblicher. Die institutionelle Gewalt hingegen nahm zu. Regeln und Gesetze schafften eine Diskriminierung ohne Blutvergießen. Eine solche Art von Diskriminierung ist noch schwieriger zu bekämpfen, weil sie unsichtbar ist und in den selbstverständlichen Voraussetzungen der Institutionen verborgen liegt. In vielen Orten Deutschlands wurde den Juden eine begrenzte Ausgangssperre auferlegt. Ihnen wurde verboten, christliche Bedienstete zu haben, sie bekamen eigene Marktzeiten und spezielle Kleidercodes, die sie einhalten mussten. In Frankfurt zum Beispiel waren die Juden zu keinem Zeitpunkt Bürger der Stadt mit gleichen Rechten wie ihre christlichen Nachbarn. Sie waren Untertanen, deren Bewegungsfreiheit mit eigenen Regeln eingeschränkt war. Sowohl in Wien als auch andernorts begrenzte man das Recht der Juden auf Eheschließungen, um zu verhindern, dass die jüdische Bevölkerung schneller wuchs als die christliche. Sprache wird durch das Gefühlsleben geformt und nun wurde das Wort »Jude« mit allerlei unreinen und zweifelhaften Konnotationen belegt. So bedeutet zum Beispiel das deutsche Verb »jüdeln« sowohl »gebrochen zu sprechen« als auch »schlecht zu riechen«,
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»zu feilschen« und »zu betrügen«. Auf diese Weise wurden Einstellungen und Vorurteile mittels der Sprache von Generation zu Generation weitergegeben. Die Kinder lernten die Verachtung im selben Augenblick, in dem sie die Sprache lernten. Eine Sprache, die stark von Vorurteilen geprägt ist, formt die Aneignung von Wissen und schafft den emotionalen Kosmos, in dem das Individuum lebt und sich die Sprache aneignet. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen häufig und notwendig an eine Auseinandersetzung mit den Sprachgewohnheiten geknüpft.
Begründungsarten und Äußerungsformen Der Rassismus ist eine spezifisch moderne Begründung für Fremdenhass. So lange das Ganze in der mythologischen Fantasie um angebliche heimliche Laster, unsägliche Krankheiten, eine angsterregende Sexualität der Juden und ihre vielfältigen Geschäfte mit dem Teufel schwebte, war der Judenhass ein Teil der affektiven Topografie, der durch Frömmigkeit und Aberglaube Form annahm. Im 17. Jahrhundert und noch stärker im 18. Jahrhundert wurden theologische Argumente jedoch durch naturhistorische ergänzt. Man näherte sich biologischen und rassistischen Begründungsarten für exakt dieselbe Verachtung, die früher theologisch begründet war. Der Austausch der Argumentationsweisen geschah schrittweise und beinahe unmerklich, weil die Begründungsarten – die vormodernen und die modernen – durcheinander und nebeneinander her verwendet wurden. Die Affekte hatten sich nicht wesentlich verändert. Es sind die Strategien, um diese zu begründen, die eine Modernisierung durchliefen. Einer der letzten, althergebrachten Angriffe auf jüdische Viertel in Deutschland war die Belagerung und Erstürmung der Ghettos in Frankfurt und Worms 1616. Die Judenviertel wurden geplündert und niedergebrannt. Die Juden wurden für ein Jahr der Städte verwiesen. Sie wurden zusammengeschlagen und mussten diverse Demütigungen ertragen, aber sie wurden nicht ermordet. Das war ungewöhnlich. Der Grund lag in einem stärkeren Bewusstsein für gesetzliche Grenzen und einer strengeren administrativen Kontrolle, als es im 16. Jahrhundert der Fall war. Die Angriffe wurden aber auch in diesem Fall nicht bestraft, jedoch konnten die Juden mit kaiserlichem Schutz zurückkehren. Nach den Geschehnissen in Frankfurt und Worms 1616 kam es in Deutschland bis zu den
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Übergriffen der Nationalsozialisten nur zu sporadischen antisemitischen Ausschreitungen. Dabei nicht zu vergessen sind die Hep-Hep-Unruhen 1819, die Anfeindungen gegenüber Juden in Verbindung mit der Februarrevolution 1848 oder andere, begrenztere Ausschreitungen, wie sie in Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History (2002) von Christhard Hoffmann und anderen beschrieben sind. Es ist aber nur der Prozess einer Verwandlung von offener Gewalt in institutionelle Übergriffe. Bis 1933 verwandelte sich die Gewalt in Deutschland in hohem Maße in eine systematische Diskriminierung sowie in brutale, soziale Ausschlussstrategien. Die mittelalterliche Ideologie lebte jedoch in bestem Wohlergehen weiter.
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10. Shylock und die Schablonen Ebenso wie bei Romeo und Julia handelt es sich bei Der Kaufmann von Venedig um ein Drama, das auf Stoff aus dem Mittelalter beruht. Shakespeare porträtierte in ihm nicht die jüdischen Kaufmänner seiner Gegenwart, sondern nahm altes Legendenmaterial zum Ausgangspunkt. Zu Shakespeares Zeiten gab es in England wenige bis keine Juden. Seit der Krönung Wilhelms des Eroberers (1066) bis 1290, als sie aus England vertrieben wurden, hatten Juden die Finanzen des englischen Königs gelenkt. Erst unter Cromwell (1655) tauchten sie als tolerierte, aber streng genommen illegale Einwanderer in kleineren Gruppen wieder auf. Das Besondere an der Entwicklung im England des 17. Jahrhunderts war, dass die Juden die religiöse Fantasie der Puritaner sowohl in Richtung Bewunderung als auch in Richtung heftiger Ablehnung anregten.
Die Juden in England Nachdem sie im 13. Jahrhundert in England durch die Könige als Steuer eintreiber instrumentalisiert wurden, wurden sie 1290 endgültig aus dem Land vertrieben. Es war bei ihnen nicht mehr Geld zu holen. Die Grenzkontrollen des mittelalterlichen Staates sind mit denen des modernen Staates jedoch nicht zu vergleichen. Daher wäre es wohl übereilt, den Schluss zu ziehen, dass es nach 1290 in England gar keine Juden mehr gab. Häufig hatten solche Vertreibungen keine andere Funktion, als die betreffenden Gruppierungen ein weiteres Mal zu besteuern, wenn sie sich in ihre alten Wohnorte und Positionen zurückkaufen mussten. Die Ausstoßung war daher selten prinzipiellen, theologischen Charakters. Waren die Begründungen vonseiten der christlichen Mehrheit niemals sonderlich fromm, so waren die wirklichen Ursachen für das Vorgehen der Behörden oft äußerst bodenständig und praktisch. Es ging darum, eine Minderheit, die nicht denselben Rechtsschutz wie
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die christlichen Untertanen des Königs genoss, maximal auszunutzen. Ihre Ausbeutung war eine einfache und naheliegende Möglichkeit, sich Einnahmen zu beschaffen. Die Juden befanden sich nur teilweise innerhalb des feudalen oder kommunalen Schutzsystems. Weder Bauern noch Bürger oder Adel fühlten sich bedroht, wenn den Juden gedroht wurde. Der König war ihr einziger Beschützer – und damit ein gnadenloser Erpresser. Keiner anderen Gruppierung gegenüber konnte er sich so aufführen, ohne einen größeren sozialen Aufruhr anzuzetteln. Die Juden allerdings konnte man quälen und ausnutzen, ohne dass die christlichen Untertanen sich aus Solidarität mit ihnen erhoben. In England wie auf dem Kontinent war die Kirche der gewissenhafte ideologische Hüter der Privilegien der christlichen Untertanen. Daher wurden die Juden im Machtkampf zwischen dem König und der Kirche nicht selten zu einem Spielball. Denn der Kirche missfiel die Macht der sogenannten Hofjuden enorm. Damit konnte der König in Situationen, in denen dies wünschenswert war, die Juden auch unterdrücken, um sich das Wohlwollen der Kirche zu erkaufen. Nach der Vertreibung der Juden 1290 waren sie in der englischen Fantasie noch immer gegenwärtig. Nachdem mit der Vertreibung alle Möglichkeiten beseitigt waren, den Vorurteilen mit Fakten zu begegnen, verwendete die Literatur das Judenmotiv frei und mit viel Erfindungsreichtum. Wie die Juden eigentlich waren, war nach 1290 keine empirische Frage mehr, sondern etwas, das der religiösen und der künstlerischen Fantasie überlassen wurde. Dass angebliche Bedrohungen nicht geringer werden, wenn das Objekt der Angst aus der eigenen Lebenswirklichkeit verschwunden ist, ist bekannt. Die Christen nahmen das Kreditgeschäft von Juden als eine Bestätigung für die moralische Unterlegenheit der Juden und sprachen selten über jüdische Kreditgeber, ohne Judas und die 30 Silberlinge zu erwähnen. Was Judas tat, wurde wirkmächtig. Was die elf anderen Juden in Jesu Gefolge taten, trug nicht zu einer freundlicheren Charakterisierung der Juden bei. Selbst als das Zinsverbot im 16. Jahrhundert aus ökonomischer Notwendigkeit auch für Christen aufgehoben wurde, wurden die Juden noch immer des Geldhandels wegen angeklagt.
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Ius Talionis »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (2. Mos 21,23; 3. Mos 24,20; 5. Mos 19,21): in den Augen der Christen fasste das die jüdische Lehre der Vergeltungs gerechtigkeit zusammen. Im Neuen Testament wird das alte Ius Talionis ausdrücklich abgelehnt (Mt 5,38). Im christlichen Denken wird der Gott der Juden zum Gott der Rache. Man soll nicht seine Feinde hassen und seine Freunde lieben, wie die Juden es tun (3. Mos 19,18), heißt es. Jesu Forderung in der Bergpredigt wird von den Christen als eine Bestätigung der mora lischen Überlegenheit des Christentums verwendet: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist, […]. Ich aber sage euch […]«. Trotz des sündhaften Lebens vieler Christen wurde die Rhetorik der Bergpredigt verwendet, um die Überlegenheit des christlichen Glaubens gegenüber dem jüdischen Glauben zu begründen. In der Auseinandersetzung zwischen Shylock und Antonio wird das komplette moralische Kapital des Judentums angezweifelt. Shylocks Starrköpfigkeit und Beharrlichkeit ist dem Umstand geschuldet, dass er ein Jude ist, der keinen Blick für anderes hat, als eine Gerechtigkeit, die ausschließlich auf Vergeltung beruht. Das ist eine der vielen traditionellen Botschaften, die durch Shakespeares Drama vermittelt werden.1 Recht soll Recht sein, denkt Shylock, und seine wortgetreue Auffassung der Vergeltung wirft Schatten – soll Schatten werfen – über seine Religion. Im Laufe der Existenz der jüdischen theologischen Tradition wurde die alte Vergeltungsgerechtigkeit geschwächt und modernisiert, sodass der Hinweis auf die betreffenden Stellen in den Mosebüchern vollkommen unzureichend ist, um die tatsächliche jüdische Religiosität in den letzten 2000 Jahren zu verstehen. Shylocks Forderung nach einem Stück von Antonios Körper als Pfand für geliehenes Geld ist zudem eine Anspielung auf die alten Mordanklagen gegen die Juden. Vom Kindermord in Bethlehem bis hin zur Verbreitung der Pest und der Vergiftung von Brunnen, dem Mord am Heiland und Ritualmorden an christlichen Kindern ruht über der Judengestalt des religiösen Antisemitismus eine Blutschuld. Der Jude ist ein Christusmörder und ein Christenmörder. Es gibt keine ernstere Anklage als die Anklage des ernsthaftesten Verbrechens. Alle dunklen Legenden des Mittelalters leben in Shylocks Blutdurst weiter. Der angebliche jüdische Blutdurst hat zudem nur ein Ziel: christliches Blut. Solche Mythologien haben ihre eigene Logik.
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Vielleicht ist es das reinigende Blut Christi, von dem der Jude weiß, dass er es trotz allem braucht. Aus diesem Grund begeben er und seine Glaubens genossen sich auf Raubzug unter den Christen. Es ist erhellend, wenn man sich anschaut, wie schnell solche Gerüchte auftauchen und sich verbreiten, wenn sie von religiösen Denkgewohnheiten derart gründlich vorbereitet sind. Der Gerichtsprozess ist in Bezug auf die Religionszugehörigkeit nämlich nicht unparteiisch. Christus ist es, der am Tag des Jüngsten Gerichts auf dem Thron sitzen wird, und Shylock muss sich damit abfinden, ausgehend von den Überzeugungen des Christentums beurteilt zu werden. Weder Shakespeare noch irgendjemand anderes zu seiner Zeit hat eine Ahnung von einer Rechtspraxis, die volle Religionsfreiheit voraussetzt. Das geltende Recht basiert auf christlichen Prinzipien. Deshalb kommt der Jude selbstverständlich zu kurz – auch wenn in dem Stück formal betrachtet nicht er der Angeklagte ist.
Fremdenangst über das Normalmaß hinaus Die Juden wurden 1290 aus England ausgewiesen und bis 1652 war eine Niederlassung verboten. Zu Shakespeares Zeiten waren zumindest offiziell seit 200 Jahren keine Juden mehr in England. Trotzdem waren dieselben Gerüchte im Umlauf wie auf dem Kontinent: Die Juden seien Falschmünzer, und sie würden am Karfreitag christliche Kinder ermorden. Auch in England verbreiteten hauptsächlich Dominikanermönche die Ideologie hinter dem extremen Judenhass. Mit »extrem« meinen wir hier das, was die überall verbreitete Fremdenangst überstieg und sich zudem mit religiöser Legitimität umgab, sodass die Stärke des Hasses zu einem Maßstab für den religiösen Ernst wurde. Auch in England wurden die Juden wieder und wieder verhaftet und interniert, um ihnen für den Freikauf Geld abzuzwingen. Die Gründe und die Begründungen für ihre Verfolgung waren also verschiedene Größen – zumindest bei einigen der Akteure. Was für die Frömmigkeit des Einzelnen zwingende Gründe waren einzugreifen, war bei den königlichen und kirchlichen Beamten wenig mehr als ein günstiger Vorwand. Spricht man daher von »christlichem« Antisemitismus, ist das eher eine Bezeichnung rheto rischer Strategien als eine Charakterisierung realer Triebkräfte.
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Das früheste bekannte Beispiel einer Ritualmordanschuldigung ist der Fall aus dem Jahr 1144 in Norwich. Fast 100 Jahre später begegnen wir in England in Roger of Wendovers Flores Historiarum (1235) und später bei dem berühmteren Matthäus Paris der Legende über Pontius Pilatus’ Türsteher Cartaphilus, der zu einem ewigen Wanderleben verurteilt wurde. Die Legende verbreitete sich in ganz Europa, wobei die englische Version jene ist, die zuerst bekannt wurde. In Geoffrey Chaucers Canterbury Tales findet sich – wie wir bereits gesehen haben – eine detaillierte Erzählung über einen jüdischen Ritualmord, angeblich von Pilgern zur Unterhaltung erzählt, während sie in der Herberge Heroldsrock versammelt waren. In dieser töten Juden ein unbekanntes Kind, wie sie Hugo von Lincoln töteten, nicht weil sie das Christenblut brauchten, sondern weil die Singstimme des Kindes, seine Reinheit und Frömmigkeit für sie unerträglich war. Selbst mit abgetrenntem Kopf singt das Kind eine Marien-Hymne. Die entstehende Mythologie wurde später in Balladen und Volksliedern wiederholt und ausgefeilt. In der schottischen Ballade A Jew’s Daughter lockt ein jüdisches Mädchen einen christlichen Jungen mit einem Apfel und tötet ihn mit einem Messerstich ins Herz, zerstückelt ihn und wirft ihn in einen tiefen Brunnen. Das ermordete Kind spricht aus dem Brunnen heraus jedoch mit seiner trauernden Mutter und benennt die Schuldige. Auf diese Weise wurden die Juden zu Trägern einer archetypischen Bosheit und Hexerei. Weil die Juden »die Anderen« sind, haften alle, sowohl die dokumentierten als auch die nicht dokumentierten, Eigenschaften am ganzen Kollektiv.
Ein literarisches Thema In Francis Bacons politischer Utopie Nova Atlantis (1627) genießen die Juden volle Religionsfreiheit, weil sie utopische Juden sind. Der Autor schreibt: Die Juden auf der utopischen Insel hassten Christi Namen nicht. Sie verab scheuten nicht das Volk, bei dem sie lebten. Die Juden auf Bensalem hätten einen Blick für die göttlichen Eigenschaften des Heilands und begegneten ihrem Umfeld mit Sympathie. Derart befremdliche Zustände könnten indessen nur im Utopischen von utopischen Akteuren verwirklicht werden. Bereits vor Shakespeares Kaufmann wurden die Juden von englischen Dramatikern mehrfach thematisiert. In Robert Wilsons The Three Ladies
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of London (1582) werden ein Jude und ein Venezianer zusammen mit alle gorischen Damen auf die Bühne gestellt, die den Profit, das Gewissen, die Liebe, den Betrug, die Heuchelei und die Gastfreundschaft repräsentieren. Das Stück attackiert Christen, im Geschäftsleben mindestens genauso schlimm zu sein wie Juden. Dass Juden schlimm seien, musste vom Autor gar nicht erwähnt werden. Davon waren Dramatiker und Publikum gleichsam überzeugt. Die paradoxe und dramatische Situation wird davon genährt, dass christliche Kaufmänner offensichtlich eine mangelhafte Moral besitzen – selbst dann, wenn man sie mit Juden vergleicht. Während des Prozesses sagt der Richter, hier hätten sich die Christen wie Juden aufgeführt, und der Jude habe sich wie ein wahrer Christ benommen. Eine solche Aussage beinhaltet selbstverständlich keinerlei Verteidigung der Juden oder irgendein Abweichen von antisemitischen Schablonen. Das Paradox ist eben ein Paradox, etwas Unerwartetes, weil die Schablonen vorgegeben und un veränderlich sind. Christopher Marlowes großer Erfolg Der Jude von Malta (1590) bedient andere Stereotype. Die Hauptperson ist Barabas, ein Kaufmann mit Kontakten in alle Ecken der Welt. In dem Stück hat dieser nur einen Wunsch: Christen mit Gift zu töten. Als er seinen Besitz verliert und sein Haus in ein Nonnenkloster umgewandelt wird, ist das Einzige, woran er denkt: Rache und letztendlich Verrat. Er will Malta lieber in türkischen als in christlichen Händen sehen. Dann aber übt er auch Verrat an der Türkei, sodass der Gouverneur die Insel zurückgewinnt. Barabas ist sowohl ein Mörder als auch ein Räuber. Außerdem weist er Züge von Judas auf und zögert nicht, für seine Bosheit seine eigene Tochter als Waffe zu opfern. An und für sich sind böse Juden nicht Aufsehen erregender als böse Christen oder böse Muslime. In der Darstellung der Bosheit kann man jedoch Stereotype herausfordern oder bekräftigen. Ein böser Christ fordert ein etabliertes Schema heraus. Ein böser Jude oder ein böser Muslim bekräftigt etablierte Schemen. In einem ideologischen Zusammenhang ist es weniger wichtig, wie das Individuum porträtiert wird, als welche Vorstellungen über das Kollektiv herausgefordert oder bestätigt werden. So gesehen setzten sowohl Chaucer als auch Wilson und Marlowe eine gefestigte antisemitische Ideologie voraus, die sich im 13. Jahrhundert entwickelt hatte und die nach der Pest verstärkt wurde.
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Mit bekannten Schablonen Shakespeares Kaufmann weist neben der Bestätigung von Stereotypen auch noch ganz andere Qualitäten auf. Das Stück setzt zwar voraus, dass die Schablonen bekannt sind, Shakespeare aber ergreift niemals Partei für sie. Das Moderne an der Zeichnung des Shylock ist, dass sowohl er als auch die anderen Akteure Individuen sind, die allen Klassifikationen trotzen. Formal betrachtet gibt Shakespeare Shylock recht, er zeigt aber auch, wie herzlos und roh eine formale Rechtfertigung sein kann. Der Jude Shylock kennt keine Gnade, nur das Gesetz. Er nimmt das eigene Fleisch des Schuldners zum Pfand und ist darauf eingestellt, die Forderung einzutreiben. Verstümmelungen als ein Teil des regulären Strafprotokolls waren im 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet. Nicht die Verstümmelung an sich ist das Außergewöhnliche an Shakespeares Drama, sondern das kalte, harte Herz, das sein Recht behauptet, auch wenn das seinen eigenen Untergang bedeutet. Shakespeare war Dichter und Bürger, in seinen Dramen kommen jedoch fast nur Mitglieder von Königsfamilien und Adelige vor. Figuren aus dem Leben des Volkes sind den Komödien vorbehalten. Shylock ist eine der ganz wenigen tragischen Gestalten Shakespeares, die aus der Sphäre der bürgerlichen Geschäftstätigkeit stammen. Sogar der Venezianer Antonio ist ein »königlicher Kaufmann« – ein Ritter auf dem Meer. Für ihn ist Geld nur Zierde und ein handfestes Medium für seinen Risikowillen und Wagemut. Für den Juden Shylock hingegen ist Geld das Ziel an sich. All seine Macht ist an Geld gebunden. Durch Shylock werden wir in die unedlen Sphären der Kaufmänner hineingezogen. Er versteht weder die Liebe noch das Romantische daran, Tagedieb zu sein oder unverantwortlich mit Geld umzugehen. Porzia ist des Dichters übermenschliche Idee von der Hingabe und Großzügigkeit. Für Antonio ist Geld lediglich eine notwendige Voraussetzung für eine unbekümmerte und souveräne Lebensweise. Er hängt nicht am Geld, umklammert es nicht. Um einem Freund zu helfen, macht er sich zum Schuldner. Innerhalb eines Augenblicks bricht sein Imperium zusammen. Das Unsichere und Gewagte an seiner Lebensweise tritt offen zutage. Der reiche Jude und der bankrotte Kaufmann gehören nicht derselben sozialen Schicht an. Um das zu bekommen, was ihm zusteht, muss Shylock den Rechtsapparat bemühen. Antonio ist wie ein Hamlet in der Welt des
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Geldes. Die Andeutung, sein Herz ein Fleischstück sein zu lassen, das man aus dem Körper schneidet, spielt selbstverständlich auf die wohlbekannten Ritualmorde an christlichen Jungen an. Mit gewohnter Nonchalance hat Antonio den Schuldschein selbst unterzeichnet. Venedig ist eine Stadt mit Respekt vor Verträgen. Gerichtsverhandlungen und die Geldwirtschaft setzen dieselbe Genauigkeit voraus. Shylock bekommt Recht, der Gerichtsbeschluss setzt jedoch eine Genauigkeit in der Strafbemessung voraus, die unerreichbar ist. Nur ein Kilo Fleisch, weder mehr noch weniger. Nicht ein Tropfen Blut darf umsonst vergossen werden! Der Pedant wird zum Gefangenen seines eigenen Rechenstücks. Der Geizige bleibt mit leeren Händen zurück, weil die Gier grenzenlos ist, während der Geiz und das Rechtswesen Krümel zählen. Auf diese Weise lässt der Prozess Shylock und Antonio die Rollen tauschen. Formal betrachtet ist Antonio der Angeklagte. In Wirklichkeit richtet sich die Anklage gegen Shylock. Zwar ist er der traditionell Rechtlose, der sein Recht sucht, mit seinem Rechtsverständnis jedoch wird er gleichzeitig von dem Prozess ausgeschlossen, den er selbst in Gang gesetzt hat. Shylock repräsentiert die Grausamkeit, den Glauben an eine wortgetreue Auslegung des Gesetzes und den Geiz. Dass sich Shylock letztendlich ohne Protest taufen lässt, begründet sowohl Antonios als auch des Dichters grundlegende Verachtung für ihn. In dem Drama gibt es jedoch auch viele andere Stimmen und Ebenen.
Böse, aber ganz und wirklich Die traditionellen ideologischen Schablonen lassen den Juden nie zu einem wirklichen Menschen werden. Wo der Jude nicht dämonisch ist, da ist er zumindest eine unzulängliche Person. Shylock hat die alten Schablonen behalten und setzt diese voraus. In der westlichen Dichtkunst ist er dennoch einer der allerersten Juden, die ein ganzer und wirklicher Mensch sind. Obwohl viele seiner Eigenschaften abstoßend sind, verlässt man den Saal mit Sympathie für ihn. Shakespeare setzte sogar den angeborenen Hass der Juden auf die Christen voraus. Im Laufe der Erzählung jedoch wird der Hass menschlich betrachtet verständlich. Er wird nicht als eine rein dämonische Besessenheit dargestellt, wie es sonst in vielen Legenden und Novellen – oder bei Marlowe – der Fall war.
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Bei Shylock kämpfen die Geldgier und der Christenhass um die Übermacht. Beide Leidenschaften beschleunigen jedoch seine eigene Tragödie. Auch Antonios Judenhass wird nicht vergessen. Er, der in allen anderen Zusammenhängen loyal und großzügig ist, hat einen dunklen Fleck. Für Shylock ist in seiner Fürsorge kein Platz. Antonios Diskriminierung von Shylock ist umso auffälliger, weil sie mit den edlen Charaktereigenschaften bricht, mit denen er ansonsten verschwenderisch umgeht. Die Eigenschaften, die Shakespeare Shylock zuschreibt, sind durch mehr als 300 Jahre legendenhafte Vorbereitungen erwartbar. Die Anklagen hinsichtlich eines besonderen Blutdurstes bei den religiösen Konkurrenten sind umso merkwürdiger, weil die Juden im Mittelalter in der Regel keine Waffen trugen und nicht an militärischen Auseinandersetzungen beteiligt waren. Im Gegensatz zu den Muslimen und den Christen hatten die Juden nach dem Bar-Kochba-Aufstand zu keinem Zeitpunkt ein eigenes Heer. In den judenfeindlichen Erzählungen wird ihr Waffengebrauch immer als verborgen und heimlich dargestellt, der aber umso mörderischer und gefährlicher war. Die Juden würden das Blut unschuldiger, christlicher Kinder verwenden, um ihr Osterbrot zu backen. So würden sie mit dem christlichen Abendmahl konkurrieren, das aus Christi Leib und Blut besteht. Angeblich verwendeten jüdische Ärzte gegen eine Reihe von Krankheiten Christenblut. Solche Gerüchte wurden bis weit ins 16. Jahrhundert hinein verbreitet. Ein weiteres traditionelles Motiv bei Shakespeare ist der Gerichtsprozess an sich. Im Mittelalter galten alle Prozesse als eine Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts, an dem Christus auf dem Thron sitzen soll. Der Prozess gegen Shylock stellt daher eine vorgreifende Erinnerung an die Bewertung der Schuld der Juden am Jüngsten Tag dar.
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11. Ausbreitung gen Osten In Osteuropa lebten bereits seit dem 11. Jahrhundert Juden. Die Minderheit wuchs und entwickelte sich ab dem 16. Jahrhundert und bekam eine eigene lokale Sozial- sowie Kulturgeschichte. Sowohl in Polen als auch in Böhmen, Österreich-Ungarn und Russland gab es lokal bedeutende Ausdrücke jüdischer Kultur, die zum Teil zu heftigen, aber noch vorübergehenden Zusammenstößen zwischen der Minderheit und den jeweiligen Mehrheitskulturen führten.1
Die Vertreibung Frankreich vertrieb seine Juden 1394. Deutschland bestand aus einer Unmenge verschiedener Kleinstaaten. Niemand verfügte über die Macht zum Erlass einer solchen Maßnahme für alle deutschsprachigen Gebiete. Aber auch so war die Situation der Juden generell so bedrängt und unsicher, dass sich viele gen Osten aufmachten. Sie gingen in Länder, in denen es noch immer größere jüdische Gemeinschaften gab, denen es besser ging. Von Böhmen über Polen bis hin nach Litauen und in die Ukraine waren die Judenviertel feste Bestandteile des Stadtbildes. Im Bewusstsein der polnischen Juden waren sie einst aus deutschsprachigen Gebieten in den Osten gekommen – auch wenn Ursprung und Chronologie in vielen Fällen unklar sind. In Polen, Litauen und Russland hatten seit dem frühen Mittelalter jüdische Gemeinschaften existiert. Niemand weiß mit Sicherheit, wo genau und in welcher Anzahl sich die Juden in Osteuropa niederließen, viel deutet jedoch darauf hin, dass es bereits in byzantinischer Zeit geschah, entlang der Handelsrouten vom Schwarzen Meer aus Richtung Norden. Der Rest der Bevölkerung bestand aus Bauern und Großgrundbesitzern. Die Juden waren im Ein- und Verkauf tätig, ohne zu irgendjemanden in Konkurrenz zu treten. Ganz im Gegenteil beherrschten sie einen neuen Wirt-
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schaftszweig, woraus sowohl die Osteuropäer als auch die Juden Vorteile zogen. Polnische Münzen aus dem 11. und 12. Jahrhundert haben nicht selten hebräische Aufschriften. Die Einwanderung muss ohne größere Konflikte vonstattengegangen sein, denn vor dem 13. Jahrhundert finden sich in diesen Ländern von den Juden kaum Spuren. Dann verschafften sich die Proteste gegen die Privilegien der Juden Gehör. Unter Kasimir dem Großen (1364) wurden sie bei Gerichtsverfahren Adligen gleichgestellt. Hier wie andernorts schaltete sich die Kirche früh ein, um einen ungünstigen religiösen Einfluss zu verhindern, der von den jüdischen Gemeinschaften ausgehen würde (1267). Später flammten die gleichen Aggressionen wie in Westeuropa auch im Osten auf, wo sie selbstverständlich ihre eigenen Ursachen und ihre eigene Dynamik hatten. Die Ideologie aber war mit wohlbekannten Motiven gespickt. Dieselben Erzählungen über Ritualmorde, die Entweihung von Hostien und die Vergiftung von Brunnen, die im Westen bereits gut etabliert waren, tauchten spätestens im 15. Jahrhundert auch im Osten auf. Einige Jahre bevor Ferdinand und Isabella die Juden aus Spanien vertrieben, wurden sie bereits in Warschau und Krakau Opfer von Vertreibungen. Das musste aber Auswirkungen auf die Wirtschaft haben, denn nirgendwo anders war der Frühkapitalismus so eng mit den Juden verbunden wie in Polen.
Die Lebensbedingungen im Osten Im 15. Jahrhundert gab es in Polen vielleicht 100.000 Juden, und die erste Volkszählung im Jahr 1765 belegt, dass sie ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachten. Trotz einzelner Rückschläge waren die Juden also eine eigene Klasse und eine eigene Nationalität im Königreich Polen. Ihre Position war relativ sicher. Daher war es verständlich, dass Juden aus dem Westen sich vielfach Richtung Osten aufmachten, wenn ihre Schutzherren im Westen sie im Stich ließen. Westeuropäer, die im 16. Jahrhundert Osteuropa bereisten, waren überrascht, wie gut die Juden dort zusammen mit der übrigen Bevölkerung harmonierten, so als spielten die religiösen Unterschiede eine untergeordnete Rolle. Die Juden waren in jeglicher Hinsicht respektiert, durften Ländereien besitzen, Handel und Wissenschaft betreiben. Sie durften sogar Waffen tragen und besaßen vielerorts die vollen Bürgerrechte.
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Die Juden im Osten waren nicht von entsprechenden Gesetzen zur Niederlassung eingeschränkt, die in Westeuropa zur Gründung der Ghettos geführt hatten. Sie konnten ziehen, wohin sie wollten. Markant war das Recht auf Landbesitz, das den Juden in den westeuropäischen Ländern verweigert wurde. Diejenigen, die sich kein Land leisten konnten, waren im Feudalsystem des ländlichen Raums von der Gesellschaft praktisch ausgeschlossen. Sie mussten ihr Dasein in den Städten fristen. In Osteuropa konnten die Juden jedoch eine Brücke zwischen Stadt und Land schlagen, indem sie das Geld, das sie durch Handels- und Bankierstätigkeit verdienten, für den Kauf von Ländereien verwendeten. Die meisten waren dennoch kleine Kaufleute und Handwerker. Indessen gab es auch im Osten Hofjuden, die einflussreiche Männer hinsichtlich des Fernhandels und der Verhältnisse in fremden Ländern berieten. Die funktionelle Integration führte jedoch nicht auf allen Ebenen zur Assimilation. Die polnischen Juden sprachen weiterhin ein eigenes Deutsch, wie die Juden aus Spanien bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ein eigenes Spanisch sprachen. Jiddisch und Ladinisch waren ebenso wie die religiöse Praxis und Ausbildung Kennzeichen und Erklärungen der kulturellen Zugehörigkeit.
Geschlossenes Auftreten Gegenüber den staatlichen und regionalen Behörden traten die polnischen Juden als eine geschlossene Gruppe auf, mit zum Teil eigener Verwaltung und einem eigenen Steuersystem. Die innere Verwaltung war aristokratisch, wobei die Leiter gewählt oder von den mächtigsten und respektiertesten Mitgliedern der Gruppe ausgewählt wurden. Im Zentrum der Selbstverwaltung standen die Synagoge sowie die religiösen Traditionen und Regeln. Es gab viele solcher Gemeinschaften, die teilweise miteinander konkurrierten. Den Gemeinschaften oblag auch eine begrenzte Gerichtsbarkeit über ihre Mitglieder. Ein Rabbiner war bei Streitigkeiten zwischen Juden immer auch ein Schiedsrichter. Die verschiedenen Gemeinschaften trafen sich halbjährlich zu einer Art jüdischem Parlament, das über gemeinsame Probleme beriet sowie neue Regeln und Bestimmungen formulierte, die für alle Juden in Polen gelten sollten. Das mosaische Gesetz war für die jüdischen Versammlungen immer
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eine zentrale Autorität. Die Aktivierung dieses Teils der jüdischen Tradition in der eingeschränkten Selbstverwaltung erschuf neues Interesse für den Talmud und die traditionellen Lebensregeln. Die Selbstständigkeit des polnischen Judentums hauchte Teilen der jüdischen Tradition neues Leben ein, die an den Orten und zu den Zeiten, wo es den Juden an einem Minimum an Selbstverwaltung fehlte, keine so große Beachtung fanden. Die vom Talmud inspirierten Lehren wurden schnell scholastisch und spitzfindig wie die entsprechenden christlichen Aus legungen der Schrift. Denn es brauchte etwas, um die alten Lebensregeln auf das Leben in der neuen Welt anzuwenden. Nur durch Kommentare, die umständliche Wortklauberei und erfinderische Auslegungen umfassten, konnte die Autorität des Gesetzes gerettet und angewandt werden. Lehre und Argumentation erhielten so aufs Neue einen Wert. Selbstverständlich konnte es den Juden nicht in diesem Maße gut gehen, ohne dass es nicht auch in Polen zu ideologischen und politischen Reaktionen kam. Dort, wo die jüdische Kultur eine sichtbare und handfeste Größe war, fanden die dämonischsten Mythen über die Juden indessen nur schlechten Nährboden. Judenfeinde konzentrierten sich daher auf die angebliche physische Faulheit der Juden – schließlich verfügten diese nicht über die gleichen Traditionen hinsichtlich kriegerischer Männertugenden. Dennoch fanden die Juden in der polnischen Bevölkerung, die große Vorteile von ihren Dienstleistungen hatte, Beschützer. Die Stadtbewohner waren aggressiver. Dort, wo heikle Situationen entstanden, wurden charakteristischerweise selten religiöse Gründe angeführt. Ausgangspunkt der antisemitischen Schriften, die unter den Stadt bewohnern in Polen kursierten, war vielmehr die angebliche Geschäfts praxis der Juden. Sie seien auf unehrliche Weise reich geworden. Sie würden sich in allen Handwerken in den Vordergrund drängen und sich zweifelhafter Tricks bedienen. Klar ist: So lange die Juden zum Teil unter einem anderen Rechtssystem lebten als die übrige Bevölkerung, war es leicht, das Ganze so darzustellen, als stünden sie dem Gesetz außen vor. Dort, wo Käufer und Verkäufer nicht in allen Punkten denselben rechtlichen Regeln unterlagen, war der Boden für Kontroversen offensichtlich bereitet. Somit war die rechtliche Selbstverwaltung der Juden im selben Maße eine Quelle für Misstrauen wie ihre Fähigkeit, aus Handelsbeziehungen Gewinn zu erzielen. Die religiösen Argumente gegen die Juden kamen wie erwartet von den
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Vertretern der Kirche. In Polen waren die Jesuiten besonders aktiv. Vor der Reformation waren die Dominikaner in der antijüdischen Propaganda führend gewesen. Nach der Reformation und dem Konzil von Trient übernahmen die Jesuiten diese Rolle. Der Druck auf die Juden in Polen führte dazu, dass nach und nach auch sie Schutzgeld zahlen mussten, um unter den politischen Behörden Beschützer zu finden. Bis Mitte des 17. Jahrhunderts war Polen ein reiches und mächtiges Land. Vielleicht trug der Überfluss zur Liberalität gegenüber den Fremden bei. Es ist immer leichter, einen wachsenden Kuchen zu teilen als einen schrumpfenden.
Die Mauer um das Ghetto Seit dem Hochmittelalter gab es nur sporadische Bekehrungen vom Christentum zum Judentum. Nach und nach nahm die Missionierungstätigkeit in diese Richtung ein Ende. Zu Zeiten der Ghettos hörten sowohl die Christen als auch die Juden auf, einander als Missionierungskandidaten zu betrachten. Die religiösen Unterschiede wurden mit Kulturunterschie den zementiert, die aus den beiden Glaubensformen zwei getrennte Welten machten. Die Juden wurden zu einer isolierten Minderheit. Angst und Misstrauen führten dazu, dass es nicht mehr als verdienstvoll angesehen wurde, Christen zum Judentum zu bekehren. Der Übergang von der einen Kultur zur anderen wurde zu weitaus mehr als einer Glaubens bekehrung. In Wirklichkeit wurde er zu einem Salto mortale, einem Todessprung, meint Jacob Katz.2 Im 17. Jahrhundert kam es zu Andeutungen, dass es angeborene und vorherbestimmte Unterschiede zwischen Juden und Christen gäbe, die die Bekehrung Letztgenannter unmöglich machten. Das Argument sollte selbstverständlich auch die jüdische Gemeinschaft konsolidieren und mutmaßliche Renegaten davor warnen, zu den Christen überzulaufen. Je höher die Mauern rund um das Ghetto wurden, desto hasserfüllter wurden die Charakterisierungen derer, die versuchten, Glauben und Kultur der Minderheit durch die der Mehrheit zu ersetzen. Renegaten seien Heuchler und Kriminelle, die der Strafe entgehen wollten, die sie an jüdischen Gerichten erwartete, hieß es (Joel Serkes, ca. 1630). Man verlor die Möglichkeit aus dem Blick, dass Überzeugungsgründe für den Übergang in ein anderes Glaubenssystem entscheidend sein könnten. Nach den Kosa-
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kenmassakern an Juden in der Ukraine und Polen (1648/49) dominierte das Ghetto-Denken auch das östliche Judentum. Für die meisten im Ghetto Lebenden stellte das Christentum keine Versuchung mehr dar. Der Graben zwischen den beiden Kulturen war zu groß geworden. Die Alternative bestand nicht darin, Jude oder Christ zu sein, die Alternative lag zwischen dem Martyrium oder der ehrlosen Selbstaufgabe vor dem Druck der Mehrheit. Aber auch das Martyrium verlor in der modernen Welt seinen Glanz. Die Märtyrer des Mittelalters hatten die Vorstellung gehabt, sie würden aus dem Jammertal hin zu einem ewigen Fest ziehen. Die Opfer der Verfolgungen des 17. Jahrhunderts waren von apokalyptischen Visionen befreit und dem Trost im Jenseits nach der Apokalypse, der einst damit einherging. Auch die jüdische Tradition feierte die Märtyrer – jene, die ihr Leben für den Glauben geopfert hatten. Die Märtyrer sollten die Wahrheit des Glaubens bezeugen, konnten aber kaum als Argument im Verhältnis zwischen zwei Religionen verwendet werden, die beide das Martyrium anbeteten. Vor allem im Widerstand gegen den Polytheismus im Heiligen Römischen Reich und in der Ablehnung der Kaiseranbetung hatte das Martyrium als Wahrheitsbeweis fungiert. Kann man sich selbst oder Glaubensgenossen das Leben nehmen, um religiösem Zwang zu entgehen? Die Frage nach der Notwendigkeit und dem Sinn des Martyriums gewann im Westeuropa des Mittelalters nach und nach immer mehr an Aktualität. Die jüdische Tradition betete das Martyrium an, hatte gleichzeitig aber Verständnis dafür, dass das Martyrium nicht allen zustand. Weder sollte es gesucht noch heraufbeschworen werden. Alles sollte und konnte dafür getan werden, um es zu vermeiden. Musste es jedoch sein, dann musste es sein. Charakteristisch für das jüdische Martyrium war, dass es oft von allein geschah, dort, wo es keinen Ausweg gab. Die Märtyrer machten nach und nach alle Kompromisse unmöglich. Gegenseitige Skepsis wurde zu gegenseitigem Hass. Die Verlierer hassten die anderen aufgrund der Schmerzen, die ihnen selbst zugefügt wurden. Die Sieger hassten die Unterlegenen, um ihre eigenen Übergriffe zu rechtfertigen. Die Auseinandersetzungen zwischen ihnen führten dazu, dass beide ihre religiöse Identität zunehmend vor allem im Gegensatz zu der anderen Gruppierung definierten. Melodien, die im christlichen Gottesdienst verwendet wurden, wurden im jüdischen Gottesdienst vermieden. Juden, die in der Nähe einer Kirche wohnten, sollten ihre Fenster bedecken, sodass sie sie nicht von ihrem eige-
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nen Haus aus sehen konnten. Christlichen »Heiden« sollte kein Getränk aus einer Tasse angeboten werden, die auf einem gesegneten jüdischen Tisch gestanden hatte. Jüdische Buchbinder sollten für christliche Pfarrer keine Bücher binden. So lautete die Theorie. Die Praxis war in der Regel weitaus freier.
Alles bricht zusammen Mit dem Kosaken-Aufstand 1648 begann in ganz Osteuropa eine Zeit des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs. Die Kosaken und die Krim tataren gingen auf Polen los und massakrierten weite Teile der Bevölkerung – Polen und Juden, ohne einen Unterschied zu machen. Später folgten die Kriege mit Russland und mit Schweden. Die Schweden zwangen jene Juden, die dazu in der Lage waren, das Okkupationsheer zu versorgen. Im Ergebnis mussten die Juden – nach Rückzug der Schweden – als Kollektiv für ihren »Verrat« geradestehen. Rund 100.000 Juden beiderlei Geschlechts und jeden Alters wurden getötet, und 70 jüdische Gemeinden wurden vernichtet. Die Überlebenden gewannen nie den Respekt und die Freiheit zurück, die sie vor 1648 genossen hatten. 1765 verschwanden in Polen alle Reste jüdischer Selbstverwaltung, Juden wurden fortan als Einzelpersonen besteuert. Damit fiel die Grundlage für die eigene Verwaltung weg. Mit den Juden verschwand in Polen die komplette wirtschaftlich progressive Klasse. Man machte die gleichen Erfahrungen wie in Spanien. Das Land stagnierte und wurde im Vergleich mit Westeuropa rückständig. Viele der Überlebenden verließen Polen und zogen gen Westen. Andere verließen die Großstädte und versteckten sich als Wirte und Handwerker im ländlichen Raum. Die Armut holte die meisten ein. Das Unheil konnte selbstverständlich theologisch ausgelegt werden. Die dezimierten jüdischen Gemeinschaften versammelten sich noch stärker um ihre religiösen Traditionen und intensivierten die Hoffnung darauf, dass der Messias sich zeigen würde. Kabbalisten und Messianisten konkurrierten darum, die Prüfungen als Bestätigungen ihrer eigenen Hoffnungen zu verstehen. Sowohl 1648 als auch 1666 waren Zahlen, denen innerhalb der jüdischen Tradition der Zahlenmystik eine Bedeutung zugeschrieben werden konnte.
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Fantasten und Volksverführer verbreiteten apokalyptische Mythen. In Ost und West traten immer wieder messianische Prediger auf. In Verbindung mit diesen Prüfungen tauchen in der jüdischen Fantasie in Europa nun Jerusalem und Israel wieder als geografische Orte auf – selbst wenn, rein faktisch betrachtet, in den größeren Städten Israels immer nur kleinere jüdische Gruppierungen gelebt hatten.
Kommt der Messias? Es war eine verbreitete Erwartung unter den polnischen Juden, dass der Messias 1666 kommen und sie auf einer Wolke nach Israel befördern würde. Im Mittelalter und in der Renaissance hatte das geografische Israel im jüdischen Denken eine sehr bescheidene Rolle gespielt. Als Ferdinand und Isabella in Erwägung zogen, das Heilige Land zu erobern, um die Juden dort zu platzieren, gab es keinen Juden, der das Projekt verstand oder ihm zustimmte. Im Vorfeld der Moderne war das geografische Israel kein Thema jüdischer Hoffnungen. Selbst die Zionisten am Ende des 19. Jahrhunderts waren innerhalb der jüdischen Tradition nie mehr als eine Minderheitenbewegung. Die Loyalität der jüdischen Gemeinschaften richtete sich allen voran auf ihr unmittelbares Umfeld. Der geografische Messianismus, der uns nach dem Zusammenbruch in Polen begegnet, war ein relativ neuer Ton in dem apokalyptischen Konzert. Um 1700 gab es einige ekstatische Gruppierungen, die allen Gefahren trotzten und bis nach Jerusalem zogen. Die polnischen Juden, die Vorbilder für die westeuropäischen Gemeinschaften gewesen waren, bekamen schließlich einen schlechten Ruf als Urheber unerfüllbarer Apokalypsen und falschen Messianismus. Die mit religiösem Enthusiasmus in Krisenzeiten entstehenden Spannungen verängstigten die Glaubensgenossen im Westen. Sie hatten weitaus größeren Nutzen davon, sich ruhig zu verhalten. Aber bereits in Verbindung mit der großen Krise, als die Juden aus Spanien vertrieben worden waren, waren messianische und apokalyptische Kräfte in Bewegung gesetzt worden. Der Traum von der Ankunft des Messias und der Wiedervereinigung mit den zehn verlorenen Stämmen aus dem Haus Israel war seit dem frühen 16. Jahrhundert in einzelnen Kreisen höchst lebendig. Besonders Papst Clemens VII. Medici geriet unter den Druck diverser Fantasten, die wollten, dass sich die Christen und Juden
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gemeinsam auf einen Kreuzzug gegen die Muslime begaben. Auch in Safed in Palästina blühten im 16. Jahrhundert innerhalb einer Generation messianische Milieus auf.
Chassidismus In der Krisensituation entstand im Osten das sogenannte chassidische Judentum, das mit dem gleichzeitig entstehenden christlichen Pietismus verwandt war.3 Der Chassidismus konzentrierte sich jedoch auf eine mündliche Überlieferung und die Vorbildfunktion frommer »Helden«. Wie der Pietismus war der Chassidismus mystisch und auf das Individuum orientiert. Es handelte sich um einen einfachen, introvertierten Frömmigkeitstyp, der viele der äußeren, kultischen Kennzeichen der jüdischen Tradition an den Rand drängte. Die Legenden um den Gründer sind nicht unähnlich der Legenden um Christus oder den heiligen Franziskus. Sie überschreiten die wiedererkennbare, handfeste Wirklichkeit und machen sie für etwas ganz anderes transparent. Es war eine Religion für die ärmeren sozialen Schichten, die sich von der Welt abwandte. Der fromme Tzaddik war kein Rabbiner, der das Gesetz kannte, sondern ein kleiner Messias, der Gott kannte. Lange Zeit kämpften die Orthodoxen gegen die mystische und einfache Frömmigkeit des Chassidismus. Das sich anschließende Schisma spaltete das Judentum. Die Orthodoxen wüteten gegen die Chassiden mit denselben Zwangsmitteln, wie die Kirche sie gegenüber den Ketzern angewendet hatte. In Polen und in der Ukraine entschieden jedoch die Anhänger des Chassidismus den Zweikampf für sich. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts befanden sich die Juden in Polen und Russland in einer äußerst bedrängten Lage. Um die christliche Schar um sich zu versammeln, verbreitete die katholische Kirche mit allen Mitteln Gerüchte über Ritualmorde und baute ein Feindbild von den Juden auf. Immer wieder kam es zu Überfällen auf jüdische Gemeinden, noch aber blieben es isolierte Vorkommnisse. Die Kirche reaktivierte das komplette Legendenmaterial des Mittelalters. Die Juden seien Mörder und Räuber, sie entweihten die Hostie, sie seien Magier und Vergewaltiger. In griechisch-orthodoxen Gebieten war die Situation nicht einfacher als in römisch-katholischen. Krieg, Unfrieden und Armut feuerten auch auf
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der christlichen Seite den religiösen Eifer an. Der Papst in Rom griff faktisch gegen die polnische Priesterschaft und für die Juden ein. Der spätere Papst Clemens XIV. wies viele der traditionellen Anklagen gegen die Juden zurück, besonders die Anklagen auf Ritualmord. Die Äußerungen aus Rom (1758) hatten jedoch keine grundlegenden Auswirkungen auf die Praxis der polnischen Kirche.
Was geschah in Russland? Das griechisch-orthodoxe Russland war den Juden gegenüber ursprünglich weitaus skeptischer eingestellt als das katholische Polen. Die Juden kamen erst unter Iwan III. (1462–1505) nach Moskau. Ein jüdischer Arzt aus Venedig wurde 1490 öffentlich enthauptet, nachdem es ihm nicht gelungen war, Iwans Sohn von einer ernsthaften Erkrankung zu heilen. Zur selben Zeit wirkten in Nowgorod jüdische Missionare. In Russland waren Politik und Religion noch immer in vormoderner Weise miteinander verwoben. Politische Aufrührer wurden zu Ketzern gemacht, und Ketzer waren in jedem Fall politische Dissidenten. Ein Zar, der seine Macht mit religiösen Redewendungen rechtfertigte, konnte religiös Andersdenkende nicht zulassen. Iwan III. schlug deutlich und bestimmt zurück, als er 1504 die Anführer unter den Missionaren öffentlich verbrennen ließ. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die Juden in Ghettos isoliert, unter anderem um eine Ausbreitung der Missionierungstätigkeiten zu unterbinden. In Russland herrschte eine fremdenfeindliche Gesinnung, die alle anderen als griechisch-orthodoxe Christen als »ungläubig« definierte. Die Andersartigkeit der Juden stellte daher eine besondere Herausforderung dar. Auch Iwan der Schreckliche wollte keine jüdischen Kaufleute im Land aufnehmen (1550). Offiziell war die Argumentation religiös. Das bedeutete in einer Theokratie wie der russischen jedoch, dass die Argumente einen politischen Inhalt besaßen. Ketzer und fremde Religionen bedrohten die Einheit des Reiches. Auch Peter der Große lehnte jüdische Kaufleute prinzipiell ab. Er war in vielerlei Hinsicht ein Mann der Aufklärung und Rationalist. Bei den Juden aber verlief die Grenze. Er vertrieb sie auch aus den Gebieten, die die Russen während seiner Amtszeit besetzten. In der Ukraine sowie in den baltischen Staaten durften die Juden nach
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der russischen Besatzung indessen weiterleben – solange Peter an der Macht war. Zwei Jahre nach Peters Tod wurden sie jedoch von Katharina der Großen vertrieben. Bis zur Revolution waren die Juden gezwungen, sich an den Westgrenzen Russlands niederzulassen.
Judas und Ahasverus Die Legenden rund um das Neue Testament ziehen gern Gestalten heran, über die die Evangelien selbst wenig aussagen, die jedoch die Fantasie anspornen. Dazu gehört auch die Figur des Judas, der in der Geschichte des Judenhasses eine Hauptrolle spielt. In den Mysterienspielen des Mittelalters wurde Judas mit den Kennzeichen ausgestattet, die die Juden der Gegenwart markierten. Judas war nicht nur ein Jude. Er war der Jude.4 Sein Verrat war eine Offenbarung der Natur der Juden. Sie würden nämlich immer bereit sein, Verrat an Christen zu begehen, so wie Judas es dem Heiland gegenüber getan hatte. Bis hin zur Dreyfus-Affäre und der Dolchstoßlegende in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg wirkte diese Schablone fort. Neben Judas personifizierte auch Ahasverus das gesamte Judenvolk. Die Juden befinden sich auf ewiger Wanderschaft, um ein grenzenloses Verbrechen zu sühnen – den Mord am Sohn Gottes. Die Legende um Ahasverus weist Sympathie mit dem Unglück der Juden auf. Die Sympathie gilt besonders dieser Gestalt, weil sie Christus anerkannt hat, auch wenn es zu spät war. Wegen seines Fehlers muss Ahasverus nun bis zum Jüngsten Tag umherwandern. Ahasverus kann nicht sterben. Bis zum Ende der Zeit gibt es für ihn kein Ausruhen. Er ist verbannt und muss sein unendliches Leben in der Verbannung verbringen.5 Mal ist der Jude der Schuhmacher, der sich weigert, Jesus auf dem Weg nach Golgata zu helfen. Ein anderes Mal ist er Cartaphilus, der Türsteher bei Pontius Pilatus war. Bereits vor dem Christentum hatte das Judentum einen ewigen Wanderer: Elias. Er konnte überall dort auftauchen, wo es erforderlich war. Manchmal wird er wiedererkannt, andere Male nicht. Das Phänomen Elias ähnelt Jesus als Emmaus-Wanderer. Sowohl Johannes als auch Matthäus und Markus kennen Elias und setzen ihn als einen umherwandernden Propheten voraus, der die Ankunft des Messias vorbereitet. Er ist ein alter Mann, der eingreift und die Dinge auf erstaunliche Weise
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regelt. Elias kann in allen erdenklichen Verkleidungen auftreten. Er ist ein dauerhafter Kontaktpunkt zwischen Himmel und Erde und er verschwindet nicht, bevor die Geschichte beendet ist. In der christlichen Perspektive wird der umherwandernde Jude indessen zu einer unglücklichen Gestalt, einem Geächteten in der Welt. Ein anderes mythisches Bild, das sich in die christliche Gedankenwelt einbrannte, ist das des Juden als Wucherer. Dabei waren Juden niemals die einzigen, die mit dem Kreditgeschäft ihren Lebensunterhalt verdienten, und dieses Geschäft war immer nur eines von vielen Betätigungsfeldern von Juden. Im frühen Mittelalter waren die Juden ausschließlich im Warenhandel, im Handwerk und im Ackerbau tätig. Im 13. Jahrhundert wurden sie jedoch mit einem einzigen Beruf identifiziert: Geldverleih gegen Zinsen, was unter anderem damit zu tun hatte, dass Juden nach den Kreuzzügen Teile des Geldhandels übernahmen. Ökonomische Bedürfnisse standen religiösen Lebensregeln entgegen. Das Verbot entsprach kirchlicher Tradition. Das Einzige, was darüber im Neuen Testament steht, findet sich in Lukas 6,35: »Leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen.« Sowohl in 3. Mose 25,35 als auch in 5. Mose 23,21 findet sich ein Verbot gegen den Verleih von Geld gegen Zinsen an »Brüder«. Das Verbot wurde als eine Art Erlaubnis gelesen, Zinsen von Nichtjuden nehmen zu dürfen.
Kollektive Verantwortung Als Minderheit mit klaren Grenzen gegenüber der Mehrheitskultur wurde die jüdische Gemeinschaft für Übertretungen und Eigenschaften Einzelner selbstverständlich kollektiv verantwortlich gemacht. Die jüdische Gemeinschaft reagierte auf diese Herausforderung mit dem Versuch, das Verhalten ihrer Mitglieder zu normieren. Mit dem Hinweis darauf, was Übertretungen für das Ansehen der ganzen Gruppe bedeuteten, wurden sie beständig aufgefordert, sich vorsichtig und anständig zu verhalten. Im Mittelalter stand allen voran das Ansehen der jüdischen Religion auf dem Spiel. In der frühmodernen Welt musste das Ansehen der Juden als sozialer und kultureller Gruppe um jeden Preis gerettet werden. Die kollektive Verantwortung verband die Gruppe in einer Art moralischer Solidarität, und Verachtung traf diejenigen, die eines Verbrechens
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überführt wurden, weil sie das Ansehen der gesamten jüdischen Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt hatten. Ein Zugeständnis mussten die Juden den Christen gegenüber jedoch machen. Es tauchten beständig mehr Argumente auf, eine Grenze zwischen Christen und anderen Heiden zu ziehen. Denn eine geschwächte und isolierte jüdische Gemeinschaft konnte es sich schlicht und einfach nicht leisten, sich eines freieren Umgangs mit dem Umfeld zu verweigern, als die Regeln es streng genommen zuließen, selbst wenn es sich um »Heiden« und »Götzendiener« handelte. Wenn die Segregation bereits eine soziale Tatsache war, war es überflüssig, sie als eine religiöse Verordnung beizubehalten.
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12. Die Schattenseiten von Aufklärung und Romantik Sowohl der Rationalismus der Aufklärung als auch die Romantik lieferten neue Begründungen für den Judenhass. Für den Rationalismus waren die Juden eine Ausnahme, die sich nicht klassifizieren ließ. So waren sie etwa für den Naturforscher Carl von Linné (1707–78) ein Stolperstein in den Klassifikationen. Für die Romantiker kamen die Juden der Vorstellung vom eigenen Geist der Nationen und Völker, der sich in Sprache und Kultur äußere, in die Quere. Neben dem traditionell religiösen entwickelte sich nun auch ein ordnungsmotivierter Antisemitismus, weil die Juden die vernünftigen Ordnungssysteme der Wissenschaft herausforderten, sowie ein Antisemitismus mit nationalromantischen Untertönen.
Spinozas Schicksal Der Philosoph Spinoza (1632–77) ist der bekannteste der portugiesischen Juden, die sich im 17. Jahrhundert in Amsterdam niederließen.1 Dort betrieben die Juden aus Portugal Fernhandel mit Kolonialwaren, druckten Bücher und gaben ihre eigene Zeitung heraus. Spinoza ist einer der großen Namen der modernen Philosophie und Wissenschaft. Die Zwangsbekehrungen und erzwungenen Rituale des Abschwörens vom Judentum, die die Marrano-Juden durchgemacht hatten, rückten die Religion überhaupt in ein merkwürdiges Licht. Als Mann der Aufklärung musste Spinoza die gleiche schmerzhafte Abrechnung mit seiner jüdischen Tradition vollziehen, wie die christlichen Philosophen der Aufklärung es mit ihren Traditionen getan hatten. Er gehört zu den Ersten, die ein Programm für eine historische Bibelkritik ausformten. Aufgrund seiner freien Anschauungen wurde Spinoza 1656 von der jüdischen Gemeinde exkommuniziert. Giordano Brunos (1548–1600) Naturpantheismus und Descartes’ (1596–1650) strenge Methodik vereinten sich
Spinozas Schicksal
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in Spinozas Philosophie. Er und seine Gesinnungsgenossen wurden als Atheisten angesehen. Spinoza verfasste eine Verteidigungsschrift, die später verloren ging. Darin griff er die Juden und das Judentum mit heftigen Worten an. Ein Jude aus der Gemeinde versuchte ihn mit einem Messer zu töten, und 1660 musste Spinoza nach Leiden fliehen, wo er im Verborgenen lebte. Tractatus Theologico-Politicus war neben Apologia das einzige seiner Werke, das zu seinen Lebzeiten publiziert wurde. Das Werk spielt eine Rolle in der Geschichte des Antisemitismus, da es eine neue Form von Kritik an der jüdischen Religion repräsentiert, vorgetragen mit einer Bitterkeit, die eine Kritik an der Natur und am Charakter des Volkes mit sich führt. Spinoza wies alle Vorstellungen davon zurück, dass die Juden zu irgendetwas auserwählt seien, und fand in ihren Vorstellungen, in der Geschichte etwas Exzeptionelles zu sein, lediglich Bosheit und Rachegedanken. Seiner Behauptung nach waren die Juden selbst dafür verantwortlich, dass die Christen sie hassten. Die Juden hätten sich in ihren unausrottbaren Hass gegen alle anderen Völker eingekapselt und verwechselten diesen Hass mit Frömmigkeit. Spinoza gehört in einer Weise zur Geschichte des Antisemitismus, weil er zu den Hunderten von Renegaten und Conversos zählt, die versuchten, ihre Verwandlung dadurch zu versichern, dass sie auf ihre alten Glaubensgenossen losgingen. Spinoza jedoch konvertierte zum Rationalismus – nicht zum Christentum. Einige Akteure in der Geschichte des Antisemitismus waren konvertierte Juden, die auf diese Weise ihre erste Identität ausradieren wollten. Psychologisch verständlich, historisch jedoch verhängnisvoll wird es, wenn man auf Bestellung die angeblichen Geheimnisse seiner einstigen Glaubensgenossen verrät. Spinoza war nicht allein. Auch andere behaupteten, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie ihre Glaubensgenossen am Karfreitag kleine Jungen geopfert haben. Die Aussagen waren offensichtlich von den Erwartungen der neuen Glaubensgenossen beeinflusst. Man brachte es nur nicht fertig, ihnen die Freude eines solchen »Eingeständnisses« (der vermeintlichen jüdischen Untaten) vorzuenthalten. Spinoza argumentierte zwar nicht vulgär, gab aber den Startschuss zu einer durch die Aufklärung beeinflussten Judenverachtung – in der die Juden für die Flut undurchsichtigen Unfugs verantwortlich gemacht wurden, der vermeintlich von den drei Weltreligionen ausging, die alle ihren Ausgangspunkt in Abraham hatten: das Judentum, das Christentum und der Islam. Aus der Perspektive von Spinoza und Voltaire wurden die Juden mit
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neuer Schuld belastet, weil sie angeblich hinter den dunklen Wolken sowohl des Judentums, des Christentums als auch des Islam steckten. Für die Aufklärer ist die Trennung zwischen den Religionen unwichtig. Sie fragen nach dem Ursprung ihres Irrationalismus. Die Antwort liegt auf der Hand: Dieser liegt angeblich im Judentum. Obwohl die Toleranz eines der Hauptanliegen des Rationalismus war, war sie zugleich der Ursprung eines eigenen Typus der Intoleranz gegenüber alten Denkarten.
Vernunftglauben und Wahnsinn: Voltaire Über das Judenbild der Aufklärung wurden viele erstaunliche Essays geschrieben. Selbst bei so bedeutenden Vertretern wie Voltaire (1694–1778) und Immanuel Kant (1724–1804) finden wir nicht einige wenige, sondern eine ganze Reihe von Aussagen, die sich nur schlecht mit ihrer allgemeinen Werteorientierung vereinbaren lassen. Die Partikularität der Juden war ein Argument gegen die Allmacht der Vernunft und den endgültigen Sieg des Fortschritts. Der Vernunftglauben entwickelte seine eigene Form des Antisemitismus. Die Juden seien nicht nur Repräsentanten ihrer eigenen Sturheit, sie hätten auch das Christentum in die Welt gebracht – ein nicht unbedeutender Schuldposten in den Augen der Propheten der Vernunft. Während der vormoderne Antisemitismus also feststellte, dass die Juden keine Christen waren, stellte der frühmoderne Antisemitismus fest, dass das Judentum ein noch atavistischerer und unausrottbarerer Verwandter des verhassten Christentums war. Das Schlimmste am Judentum war nicht mehr, dass es Zweifel daran säte, dass Christus der Messias war, sondern dass es Zweifel am endgültigen Sieg der Vernunft säte. Weil der endgültige Sieg der Vernunft der Eigenwille der Natur war, repräsentierten die religiösen Gegner des Christentums eine pervertierte Menschennatur. Die Ideologie des Vernunftglaubens bei Personen wie Voltaire und Kant war so totalitär, wie eine Ideologie nur sein kann. Sie kannte nur einen Typ von Wahrheiten. Die mythischen Erzählungen, die nicht universellen Identitäten der Traditionen, die Abgrenzung eines eigenartigen Weltbildes waren Zeichen der Verleugnung der natürlichen Vernunft aller Menschen. Der Antisemitismus der Wegbereiter der Aufklärung ist daher kein Überbleibsel früherer Zeiten, unbearbeiteter Vorurteile. Vielmehr handelt es sich um neue Vorurteile, für die die gottgegebene Vernunft Pate gestanden hat.
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In den von den Denkern der Aufklärung frequentierten Kreisen war der christliche Glaube im 18. Jahrhundert bereits verblasst. Das Christentum war im Begriff, dem klaren Licht der Vernunft zu weichen. Warum aber konnten die Juden nicht aufgeben? Warum bestanden sie auf ihrer eigenartigen Identität und ihren merkwürdigen Riten? Verstanden sie nicht, dass sie den Fortschritt selbst gegen sich hatten? Voltaires und Kants Haltungen sind paradox, weil sie behaupten und fordern, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben.2 Sie waren zum Teil heroische Wegbereiter für die Toleranz und die Freiheit der Gedanken. Bis zu einem gewissen Grad gelang es ihnen und ihren Gesinnungsgenossen, das offizielle Christentum zu einer toleranten und einschließenden Humanitätsreligion zu modernisieren. Zumindest setzten sie voraus, dass eine solche Entwicklung möglich sei. Das Judentum entfloh in ihren Augen jedoch der Modernisierung. Moses Mendelssohn (1729–86) wurde so wichtig für die Denker der Aufklärung, weil sein Humanismus andeutete, dass vielleicht auch unter den Juden eine Hoffnung auf Vernunft zu finden sei.3 Viele der Juden, die in das Wissensregime der Aufklärung einstiegen, stiegen gleichzeitig jedoch aus ihrer Religion und deren Traditionen aus. Viele hatten auch den Wunsch, das Judentum zu reformieren und es durch die Werte der Aufklärung zu prägen. Nicht alle modernen Juden konvertierten. Die Bekehrung zum Christentum war jedoch die bevorzugte Methode, wenn es galt, alles was Religion hieß, hinter sich zu lassen. Juden, die sich von ihrem religiösen Glauben, von jeglichem religiösen Glauben, verabschiedeten, konvertierten oft zum Christentum aus Gründen der persönlichen Emanzipation und Fortschrittsglaube.
Die Kollaborateure der Vernunft Das paradoxe Verhältnis der Aufklärer gegenüber Juden und dem Judentum ist umso auffälliger, da häufig jeder einzelne Denker, jeder einzelne Text das Paradox in sich trägt. Judenhass und die Idealisierung der Juden als Märtyrer für die fehlende Toleranz tauchen bei ein und demselben Autor im selben Kapitel, ja sogar im selben Textabschnitt auf. Auf der einen Seite war die Aufklärung das Gegenteil vom Judentum und dessen Ableger in der christlichen Tradition. Auf der anderen Seite
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identifizierten sich die Außenseiter der Aufklärung mit jenen, die bereits seit ein paar Tausend Jahren Außenseiter waren. Die enge Assoziierung von Protestantismus und Judentum in der katholischen Propaganda – mit dem Zweck, den Protestantismus zu verunglimpfen – wurde von den Vertretern der Aufklärung positiv bewertet. Man konnte über den Protestantismus und das Judentum sagen, was man wollte, aber sie hatten zumindest einen Kampf gegen die Kirche und das Ancien Régime geführt, der in vielerlei Hinsicht ein Freiheitskampf analog dem war, den die Streiter der Vernunft jetzt erst kämpften. Diejenigen, die so dachten, konnten sich nie ganz entscheiden, ob die Juden Freunde oder Feinde waren. Das Paradox ist in gewisser Weise mit dem ewigen Dilemma des Liberalismus und der Toleranz verwandt: Sollen die Gegner der Freiheit und der Toleranz einen Nutzen aus den Vorteilen der Freiheit und der Toleranz ziehen? Selbstverständlich waren die Juden keine Gegner von Freiheit und Toleranz, aber sie lebten in einer religiösen Tradition, die nicht dem Bild der Aufklärung von den Werten der Freiheit und der Toleranz entsprach. Ja, sie hatten in einigen Fällen ihr Lager soweit außerhalb der übrigen Gesellschaft aufgeschlagen, wie ein Staat im Staat, dass sie sich vom Wohlwollen der Freiheit und der Toleranz beinahe unabhängig gemacht hatten. Sie waren in den Augen der Aufklärer Notleidende, die sich weigerten, sich retten zu lassen. Nicht zuletzt deswegen wurden die selbsternannten Retter ungehalten. In der ersten Phase der Aufklärung hatten sowohl die Juden (Spinoza) als auch die Protestanten (Bayle) Waffen für die Schlacht der Modernisierung und den Kampf für den Fortschritt geliefert. Im 18. Jahrhundert hatte jedoch in Frankreich die Vernunftverschwörung die Prägung einer hegemonialen Avantgarde angenommen. Randgruppen, die sich weigerten, sich mit dem Angebot der Freiheit und der Vernunft zu versorgen, begegnete man daher mit der gleichen Verachtung wie jenen, die das Ancien Régime verteidigten. Juden und fromme Protestanten wurden in gewissem Maße als unheilbar angesehen. Den ganzen Zeitraum über wurden »Juden« und »jüdisch« als Schimpfworte zur Ablehnung christlicher Laster verwendet. In Le monde fou (1731) schreibt Maria Huber: »Christen aller Schattierungen sind sich in einem Punkt einig: in ihrer Liebe zum Reichtum und ihrem unersättlichen Drang sich Geld zu beschaffen. Hierin sind sie jüdischer als die Juden selbst.«
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Soziale und kulturelle Differenzierung In der neuen, weiten Welt des 17. Jahrhunderts mit ihrem internationalen Handel spielten die Juden eine entscheidende Rolle, weil sie in allen großen Hafenstädten ansässig waren und untereinander mit einem Vertrauen und einer Selbstverständlichkeit kommunizierten, als wären sie in derselben Firma angestellt. Ihre Kenntnisse der Sprachen, Geografie und Waren trugen in hohem Maße zum Funktionieren des internationalen Handelssystems bei. Die großen sozialen Unterschiede zwischen sephardischen Juden aus Spanien und Portugal, zwischen aschkenasischen Juden aus Deutschland und Polen, zwischen Handels- und Hofjuden auf der einen Seite und Handwerkern sowie Tauschhändlern auf der anderen Seite waren Ursprung von Diskriminierung und Ablehnung auch innerhalb der Juden als Gruppierung. Die soziale Differenzierung beschleunigte die Assimilation, denn der Unterschied zwischen Juden und Christen war nun nicht mehr länger der einzige, große Unterschied. Vor allem portugiesische und spanische Juden betrachteten sich im Vergleich zu den zentraleuropäischen Juden als überlegen. Von der Iberischen Halbinsel nahmen sie aristokratische Ambitionen mit, die ihnen die Vermischung mit anderen Juden verboten und die Errichtung eigener Synagogen forderten. Auch das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Juden war nicht unproblematisch. Hier wie überall bereitete die kulturelle und soziale Differenzierung eine Abschwächung des Gegensatzes zwischen den Juden und ihren christlichen oder säkularisierten Umfeldern vor. Die Juden wurden stark in den Kapitalismus einbezogen, weil sie den Umgang mit Geld gewohnt waren, weil sie es gewohnt waren, Chancen zu ergreifen, die das System erforderte, und weil Geld über viele Generationen hinweg ihr wichtigster sozialer Schutz gewesen war. Viele jüdische Finanzhäuser arbeiteten im Wesentlichen mit Geld, das von christlichen Investoren stammte. Dadurch erhielten sie einen zusätzlichen Schutz, weil tonangebende, das heißt christliche, Kreise daran interessiert waren, dass sie erfolgreich waren. Sowohl in Deutschland als auch in Polen und Italien schufen sich die jüdischen Finanzhäuser eine politische Versicherung, indem sie Geld für christliche Investoren verdienten. Die Juden sind in Europa niemals ein Teil des Feudalsystems oder Zunftsystems gewesen. Daher waren sie gezwungen, in die neuen wirtschaft
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lichen Dimensionen zu expandieren, die sich ihnen mit dem Kapitalismus eröffneten. In keinem Land jedoch waren die Juden zu irgendeinem Zeitpunkt in der Finanzwelt bestimmend – auch wenn sie eine weitaus größere Rolle spielten, als ihre Anzahl es nahegelegt hätte. Die Zünfte waren im Prinzip immer reaktionär und christlich. Besonders christlich wurden sie in Situationen, in denen sie mit jüdischen Akteuren konkurrierten. Wirtschaftliche Interessen maskierten sich oft mit religiöser Wut.
Wie Hechte im Karpfenteich Die Juden seien wie Hechte im Karpfenteich – sie schnappten die Brotrinden aus christlichen Mündern, hieß es in einem unter böhmischen Kaufleuten zirkulierenden Pamphlet aus dem Jahr 1734. Interessant ist, wie hier religiöse Argumente und Identitäten hemmungslos in einer wirtschaftlichen Wettbewerbsauseinandersetzung verwendet wurden. Ökonomische Interessen konnten sich Argumenten bedienen, die durch eine langwierige theologische Kontroverse vorbereitet waren. Nicht selten wurde den Juden auch die Schuld dafür gegeben, dass sich christliche Religiosität auf dem Rückzug befand. Die Verachtung für Christus und die Worte der Schrift, die die Juden repräsentierten, konnte sich angeblich wie eine ansteckende Krankheit ausbreiten. Die Juden waren also nicht nur Schuld am Christentum als Religion, sie waren auch – das war genauso schlimm – Schuld an der Schwächung des Christentums. Die bequemsten Argumente sind jene, die für alles verwendet werden können. Der Vater von Friedrich dem Großen schrieb an seinen Sohn, die Juden seien wie ein Heuschreckenschwarm, der christliches Land zerstöre. Für den Verrat an Christus könne man ihnen besten Gewissens die größten Abgaben auferlegen. Die Begründung vermischte wirtschaftliche Strafmaßnahmen und theologische Schuld, so als drehe es sich um ein und dasselbe Feld. Dieselben Argumente, die früher im religiösen Wettbewerb verwendet wurden, kamen nun im wirtschaftlichen Wettbewerb zum Einsatz. Wer aus religiöser Sicht ungläubig ist, wird wirtschaftlich betrachtet zum Schwindler. Auch wenn die meisten Juden weiterhin arm und genügsam lebten, so fanden sich einige von ihnen in der Nähe von Fürsten. Im 18. Jahrhundert umfasste Deutschland rund 300 Fürstentümer. Der Hofjude war für die Fürsten gern das Mädchen für alles und entfachte da-
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her unter den Bürgern, die oft mit jüdischen Händlern als Konkurrenten im Streit lagen, soziale Ressentiments. Das Gleiche wie in Deutschland geschah in Frankreich. Offiziell waren die Juden des Landes verwiesen worden, hatten sich jedoch schnell wieder in den französischen Hafenstädten etabliert. Auch hier waren die kleinen Kaufleute und Handwerker die aggressivsten Judenhasser, während die Juden häufig Schutz bei den Mächtigsten fanden. In England, wo es im 18. Jahrhundert nur etwa 20.000 Juden gab, war das komplette literarische Establishment stark und deutlich antijüdisch. Hier war die Wirtschaft bereits so modernisiert, dass die Juden keine gefährliche Konkurrenz mehr darstellten. Bei den Schriftstellern und ihrem Publikum lebten die Vorurteile des Mittelalters jedoch weiter. Daniel Defoe, Alexander Pope und Jonathan Swift, Fielding und Sterne, um nur die bedeutendsten zu nennen, sind eindeutig und einstimmig in ihrer Ablehnung der angeblich grausamen und blutrünstigen Juden. Angriffe auf Juden waren festes Inventar englischer Texte. Wahrscheinlich erfolgten diese mechanisch und nach einer Routine und waren nicht durch Gefühle unterfüttert. Als die Regierung des Herzogs von Newcastle 1753 für eine Gruppe portugiesischer Juden jedoch eine »Naturalisation Bill« vorschlug, erweckte das in der Bevölkerung breiten und heftigen Widerstand. Es war die Zeit der Pamphlete, und in dem Strom an Flugschriften, die durch diesen Vorschlag inspiriert wurden, blieb keines der alten Klischees über die Juden unberührt. Der Erzbischof von Canterbury, dem die Stimmung in der Bevölkerung bekannt war, befürchtete ein größeres Judenmassaker. Ausschließlich Italien beteiligte sich nicht an der heftigen Ablehnung der Juden. All die Gründe, die gern für den Judenhass angeführt werden, waren auch in Italien gegeben. Trotzdem fanden sie dort keinen Nährboden. Selbstverständlich gab es in den zentralen Teilen der kirchlichen Hierarchie antisemitische Schriftsteller, ihre Charakteristiken mobilisierten jedoch niemals irgendeinen Volksauflauf.
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Das Beispiel Amerika Die amerikanischen Juden kamen in den Genuss der allgemeinen Glaubensfreiheit, die auch Protestanten und Puritaner über den Atlantik führte. In der Praxis partizipierten Juden in Amerika hinsichtlich der Menschenrechte von den Werten der Aufklärung. In Europa hatte der Judenhass eine lange historische Tradition. Die unterschiedlichen Menschen, die sich in Amerika versammelten, waren jedoch mehr an der Zukunft interessiert, die sie gemeinsam erschaffen konnten, als an der Vergangenheit, die sie spaltete. In Amerika bekamen die Juden sehr früh die vollen Bürgerrechte und kämpften als Soldaten bereits im Unabhängigkeitskrieg. Die Integration der Juden in Amerika ging so leicht vonstatten, weil es dort viele andere Gruppen gab, die sich in einer ähnlichen Situation befanden. Gruppen, die durch ihre Andersartigkeit herausstachen. Die große schwarze Minderheit trug womöglich dazu bei, den Blick der anderen auf die Juden zu normalisieren. Wellen von irischen, italienischen, polnischen und russischen Einwanderern mussten sich im Hinblick auf die Integration in die amerikanische Gesellschaft orientieren. Vielleicht war auch das amerikanische Christentum durchaus anders als das europäische. Außerdem war der starke Calvinismus in Amerika sowohl dem Alten Testament als auch geschäftlichen Notwendigkeiten gegenüber positiv eingestellt. Viele christliche Gruppierungen waren in ihren ursprünglichen Herkunftsländern selbst verfolgte religiöse Minderheiten gewesen. Sie waren dort von der religiösen Mehrheit mit Juden verglichen worden, und sie hatten sich wie Ausgestoßene gefühlt. Deshalb wäre es unangemessen, antisemitische oder antijüdische Traditionen mit über den Ozean zu nehmen, dorthin, wo die Ausgestoßenen endlich einen Freihafen fanden. Die deutschen und zentraleuropäischen Juden niederer Klassen lebten im 18. Jahrhundert ein kümmerliches Dasein. Sie wurden als Menschen beschrieben, die stets auf dem Sprung waren, um sich zu verstecken. Wo auch immer sie sich zeigten, waren sie gefährdet und wurden gemobbt. Was physische Gewalt betraf, waren sie vollkommen hilflos. Als Randgruppe und ohne Recht, Waffen zu tragen, bestand ihre einzige Selbstverteidigung darin, nicht gewalttätig zu sein. Ein Großteil ihrer Energie floss in Studien jüdischer Schriften und in intellektuelle Arbeit. Dass sie weitverbreitete und etablierte Meinungen
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immer mit Misstrauen betrachteten, beförderte selbstverständlich auch ihre intellektuelle Originalität. Der Glaube, dass sie einem auserwählten Volk angehörten, wurde von der permanenten Unsicherheit aufgewogen und gestärkt. Deshalb gab es viele aufgeklärte Schriftsteller, die das Unglück der Juden erkannten, die ihre Front gegen das Umfeld aber dennoch als eine Folge von Hochmut deuteten. Die milden und freundlichen Reden der Aufklärung über Vernunft und Menschenrechte kamen den Juden nur langsam und teilweise zugute. Die wirkliche Stellung der Juden trug jedoch dazu bei, den Graben zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ideologie und Realitäten in der Politik der Aufklärung zu entlarven.
Die Zweideutigkeit der Pressefreiheit Die Pressefreiheit führte in England ab 1693 zu einer Lawine freier Äußerungen, vor allem über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, aber auch über den Inhalt und die Grenzen der Toleranz. Man träumte von einer vernünftigen und natürlichen Religion, die alle alten Trennlinien auslöschen sollte. Einige zogen dieselben Schlussfolgerungen wie John Toland (1670–1722): dass die Kirchenväter ein ursprünglich vernünftiges, jüdisches Christentum zerstört hätten. Daher war der Weg zurück zu den Wurzeln des Christentums mit dem Respekt vor der wissenschaftlichen Zukunft vereinbar. Ausgehend von dem Gedanken an ein ursprünglich vernünftiges Christentum verteidigte Toland zudem die Juden in der Gegenwart. Der Freidenker fühlte dieselbe Verwandtschaft mit den Ausgestoßenen wie die religiösen Separatisten es getan hatten. 1714 veröffentlichte Toland sein Reasons for Naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland. Darin klagte er die christliche Priesterschaft an, die Juden außen vor und klein zu halten. Dabei waren es gerade die Juden, die den Monotheismus ins Heilige Römische Reich gebracht hatten, schreibt er. Die Juden seien die »Erzieher des Menschengeschlechts«. Tolands Schrift fand nicht viele Lesersympathien. Mit seiner mutigen Äußerung zeigte er jedoch, was zu behaupten nun auch in einer christlichen Gesellschaft möglich war. Die Pressefreiheit war indessen ein zweischneidiges Schwert. Auch diejenigen, die alte Vorurteile kolportierten, bekamen die Möglichkeit, sich freier zu äußern als bisher. William Whiston behauptete (1722), dass jüdische Schriftgelehrte das Alte Testament gefälscht hätten, um christliche
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Interpreten in die Irre zu führen. Matthew Tindal (1730) behauptete, der Kern des Christentums sei eine vormosaische Religion. Moses habe alles zerstört. Daher sei es nicht so verwunderlich, dass es den Juden seiner Zeit so erging, wie es ihnen erging. Die Juden wurden also als Argumente sowohl für als auch gegen die Wahrheit des Christentums benutzt. War ihr Name erst einmal erwähnt, war es unmöglich fortzufahren. Mehrere Autoren im England des 18. Jahrhunderts – darunter Bischof William Warburton (1698–1779) – verwendeten den Umstand, dass Gott sich nicht nur als Mensch, sondern auch als Jude gebären ließ, um zu zeigen, dass er in dem Vorsatz, sich zu erniedrigen, keinerlei Anstrengungen scheute. Die Deisten in England suchten nach einer natürlichen und vernünftigen Religion, stellten nach diversen Versuchen jedoch fest, dass diese nicht in der Bibel zu finden sei. Der Traum von der Naturreligion erhielt pantheistische Züge und entwickelte sich zum Atheismus. Die Juden wären schlecht, und ihre Religion hätte sie nicht verbessert. In der letzten Phase richtete sich der Deismus gegen alle historischen Glaubenssysteme und stellte letztendlich die Frage, ob der Mensch ohne Religion gar bessergestellt wäre.
Hilfe vom Naturrecht? Die französische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war ideologisch stark differenziert. Die kleine Gruppe von Anhängern der Aufklärung und die große Schar der Unterstützer des Ancien Régime hatten gänzlich unvereinbare Vorstellungen. Viele der in die Zukunft Blickenden behielten jedoch den archaischen Judenhass bei, wenn auch mit neuen Begründungen. Am judenfreundlichsten war das protestantische Lager, weil die beiden religiösen Randgruppen – Protestanten und Juden – vielfach denselben Diskriminierungen ausgesetzt gewesen waren. Ausgehend von dem Glauben an die allgemeinen Menschenrechte und die Religionsfreiheit als übergeordnete Werte verteidigte Pierre Bayle (1647–1706) die Kinder Israels. Bei kirchlichen Autoren war die verzweifelte Stellung der Juden ein unabweisbares Argument dafür, dass sie diese auch verdient hätten. Schließlich finde sich die Rechtfertigung in der Geschichte. Hinter so großen Unglücken müsse daher ein Verbrechen in einer dem Unglück entsprechenden Größenordnung stehen. Die Blindheit der Juden gegenüber dem Messias sei das Einzige, was ihre Unterdrückung voll und ganz erklären könne.
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Eine Auffassung von der Geschichte als ein moralisches Regime war hier wirksam. In dieser gab es immer gute Gründe für faktisches Glück und Unglück – auch wenn die Gründe im Verborgenen liegen konnten. Geschichte wurde so zu einer moralischen Instanz und Fakten zu Fetischen. Im 17. und 18. Jahrhundert beteiligten sich Juden nicht nur an der Tradition der Aufklärung, sie leisteten auch einen enormen Beitrag dazu. Viele sahen ein, dass die neuen Toleranzforderungen und Naturrechtsprinzipien die Situation der Juden erleichtern konnten. Erst in der modernen Zeit wurde es möglich, die Identität »Mensch« als ebenso wichtig wie die religiöse Identität zu betrachten. Hatten Juden zu früheren Zeiten die Möglichkeit, das Leben eines christlichen »Heiden« zu retten, sollten sie das nicht tun, wenn sie damit die Regeln des Sabbats brechen würden. Dass Christen die Juden nicht als vollwertige Menschen ansahen, kann mit zahllosen Beispielen belegt werden. Der Punkt ist: Erst die Vorstellung der Aufklärung vom Naturrecht und der Menschennatur machte die religiöse Identität im Verhältnis zur Identität »Mensch« sekundär. In der vormodernen Welt war die Identität als Jude oder Christ im Verhältnis zu mitmenschlichen Aspekten immer primär gewesen. Volle Menschlichkeit besaßen nur die, die den eigenen Glauben teilten. Deshalb wurden Übergriffe auf die anderen nie adäquat zu Übergriffen auf die eigenen Leute bewertet.
Neue Beziehungsarten Das Verhältnis zwischen dem Pfarrerssohn Gotthold Ephraim Lessing (1729–81) und dem Juden Moses Mendelssohn (1729–86) war ein Vorzeichen dafür, dass andere Arten von Beziehungen als eine heftige gegenseitige Ablehnung möglich waren. Mendelssohn verwendete den Appell an eine gemeinsame Menschennatur als eine Begründung für die Toleranz von Andersgläubigen. Dabei handelte es sich um eine Toleranz, die er sowohl praktizierte als auch forderte. Die »christlichen« Aufklärungsdenker empfanden der christlichen Tradition gegenüber selten starke religiöse Verpflichtungen. Mendelssohn jedoch war ein frommer und praktizierender Jude – und gleichzeitig einer der Apostel der religiösen Toleranz. Er glaubte und meinte, die Vernunft könne zu den Wahrheiten der offenbarten Religion führen. Das Judentum sei dem Christentum vorzuziehen, meinte er, ganz einfach, weil das Judentum vernünftiger sei.
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In der Kritik der christlichen Lehre war Mendelssohn äußerst zurückhaltend. Der Vernunftglauben gab ihm die Freiheit, Christen offen zu begegnen, obwohl er von der rationalen Überlegenheit des Judentums überzeugt war. Die religiöse Toleranz des Judentums mache es gegenüber dem Christentum moralisch überlegen, meinte er, ohne Rücksicht auf die alte Geschichte der Gegensätze. Die Wahrheit sei doch, dass keine der beiden Seiten gezögert hätte, Macht gegenüber der anderen zu gebrauchen, wenn die Verhältnisse es nur zugelassen hätten. Das Beispiel Moses Mendelssohn zeigt, dass eine von den Gedanken der Aufklärung gemäßigte Frömmigkeit der Meinung war, dass eine friedliche Koexistenz der beiden Religionen möglich und auf Basis der ihnen gemeinsamen vernünftigen Menschennatur wünschenswert war. Mit großer Freigiebigkeit ließ er den Heiland sowohl Solon als auch Konfuzius umfassen. Auf Seiten der Aufklärung verwendete man das Judentum als Vorbild für eine natürliche Religion, oder auch umgekehrt: man fand einen »natürlichen« christlichen Glauben, unbeeinflusst von Juden und Griechen. Sowohl Marquis d’Argens (1704–71) als auch andere verwendeten literarische jüdische Gestalten außerdem, um eine Kritik am Ancien Régime von außen zu erklären. Etwas von der gleichen Affinität gegenüber den Männern der Aufklärung hatten die Juden gegenüber den Protestanten. Alle drei Gruppierungen befanden sich im Kampf mit der etablierten Unordnung.
Die Autorität der Toleranz Montesquieu (1689–1755) gehörte zu den Wenigen, die über die abstrakten, allgemeinen Menschenrechte hinaus die Stellung der Juden sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart analysierten, und das mit Einsicht und einer gewissen Sympathie. Er verstand, dass die Handels- und Geldtransaktionen der Juden den Einschränkungen ihrer Wahlmöglichkeiten durch die christliche Gesellschaft geschuldet waren. Er verstand auch, dass die Situation der Juden ausweglos war: Wollten sie Christen werden, verloren sie alles, was sie besaßen; wurden sie keine Christen, wurden sie vertrieben oder verbrannt. Montesquieu wies jegliche religiöse Intoleranz zurück und machte sich über die scheinheilige Aversion gegen den Handel und Geldtransaktionen
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lustig.4 Sein Ausgangspunkt war prinzipiell und nicht sentimental begründet. Deshalb konnte er die Juden auch für ihren religiösen Fanatismus kritisieren. Zu dem Bewundernswertesten an Montesquieu als Denker gehört, dass der Vernunftglaube und der Glaube an die Toleranz ihm Autorität verleihen. Er war so viel mehr als ein perfider Kritiker oder ein Polemiker aus angenommener intellektueller und moralischer Überlegenheit heraus. Montesquieu kann man auf eine ganz andere Weise als Voltaire ernst nehmen. Letztgenannter kolportierte einen Judenhass, der nicht weniger heftig war als jener der Theologen des Ancien Régime. Voltaires Angriffe auf die Juden waren so umfassend und hemmungslos, dass sie gesammelt und zwischen den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts von französischen Faschisten als Basistexte wiederverwendet wurden.5 Dabei ging es nicht um vereinzelte oder zufällige Attacken auf die Fremden, sondern um eine systematische Fixierung auf die Juden als »das abscheulichste Volk auf Erden«. Es sei nichts Bestimmtes an den Juden, das falsch sei. Alles an ihnen sei falsch. Im Gegensatz zu anderen Aufklärungsphilosophen empfand Voltaire nicht einmal die entfernteste Sympathie mit den Juden als Opfer von Intoleranz und Verfolgung. Seiner Ansicht nach waren sie selbst schuld an den Unglücken, die sie getroffen hatten. Voltaire war wie besessen von den Vorstellungen von Beschneidung, Menschenopfern, Gier, Aberglaube und Hass bei den Juden. Israels Kinder waren bei Voltaire ebenso sehr eine persönliche Zwangsvorstellung wie eine ideologische Zielscheibe. Die Juden seien schmutzig und röchen schlecht, verkauften ihre Frauen, wie bereits Abraham es getan hatte, betränken sich, wie bereits Noah es getan hatte. »Die Juden sind wie Neger«, schreibt er, »sie sind eine niedriger stehende Menschenart«. Auf diese Weise ging Voltaire weit über das hinaus, was in seiner Zeit und in seinen Kreisen zu behaupten üblich gewesen war. Sowohl unter Freunden als auch unter Feinden weckten die Aussagen Bestürzung. Weil sie vielmehr wie ein persönliches Problem denn als ein ideologischer Beitrag wirken, könnte man sogar die Frage stellen, ob Voltaires Angriffe wirklich der Geschichte des Antisemitismus angehören. Voltaire aber war für viele ein Vorbild, und er verschob die Grenzen für das, was im öffentlichen Raum zu äußern möglich war. Das ist nicht so zu verstehen, dass seine Behauptungen oder Formulierungen originell waren, auf anderen Feldern aber baute Voltaire ein öffentliches Gespräch als Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaftsordnung auf. Sein Beitrag
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zum Antisemitismus steuerte dazu bei, antisemitische Redewendungen aus dem vordemokratischen Markt der Äußerungen in den demokratischen zu transportieren. Eigentlich sollte man denken, dass die Wegbereiter der Moderne den Judenhass des Ancien Régime hinter sich gelassen und angeprangert hätten. Voltaires beispielloser Einsatz aber führte den Judenhass als Ideologie in die Moderne.
Seelische und soziale Bedürfnisse Ein weiteres Argument dafür, Voltaires Tiraden ernst zu nehmen, ist, dass sich die antisemitische Rhetorik in der Nachwelt in einem Raum platzierte, der ebenso sehr psychologisch wie ideologisch und politisch war. Ein Kennzeichen der modernen Rhetorik des Antisemitismus ist ein vollständiger Abbau der Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Der Antisemitismus kann den Charakter einer politischen Ideologie haben, ebenso oft geht es aber um Zwangsvorstellungen, die man mit anderen teilt, Phobien, die ebenso sicher im Unausgesprochenen wie im Ausgesprochenen gefestigt sind. Deshalb haftet dem Antisemitismus immer etwas mehr an als dem Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus. Er erfordert eine Art privater und emotionaler Zustimmung, die viel weiter geht als sprachlich formulierte, ideologisch bestimmte Behauptungen. Voltaire war auf diesem Feld daher mehr als ein Traditionsträger oder Traditionskritiker. Er betrieb Propaganda für seine eigene persönliche Zwangsvorstellung, so als wäre sie eine öffentliche Angelegenheit. Das tragische Ergebnis aus historischer Perspektive betrachtet war, dass die Zwangsvorstellung auch faktisch zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde. Wer Henri Labroues Voltaire antijuif (1942) liest, wo die judenfeindlichen Äußerungen dieses Ritters der Vernunft gesammelt sind, fühlt sich gezwungen, vielmehr in psychologischen Kategorien als in religiösen oder politischen zu denken. Dennoch geht Léon Poliakov zu weit, wenn er versucht, allein aus Voltaires Antisemitismus heraus eine vollständige psychoanalytische Diagnose zu liefern. Damit entgeht ihm das historisch Bedeutungsvolle an Voltaires Zwangsvorstellungen: Er goss den Antisemitismus in eine neue Form, die in der modernen Welt Seite an Seite mit rassistischen Begründungen weiter existierte.
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Das Auffällige bei Voltaire ist nämlich nicht der Rassismus. Den teilte er mit vielen anderen seiner Zeit, zum Beispiel Carl von Linné. Das Auffällige ist die seelische Intensität – der Antisemitismus als persönliches Bedürfnis. Rein faktisch kam Voltaires Kreuzzug den Juden in anderen Hinsichten sogar zugute. Der Kampf für die Rechtssicherheit, die Meinungsfreiheit und eine demokratischere Staatsverfassung trug auf lange Sicht dazu bei, allen Minoritäten und Ausgeschlossenen das Leben zu erleichtern.
Rousseau und der jüdische Weise Jean-Jacques Rousseaus (1712–78) Haltung zu den Juden war etwas andersgeartet. Sein calvinistischer Hintergrund aus Genf machte ihn mit dem Schicksal von Glaubensminoritäten vertrauter. Außerdem hatte der Calvinismus einen ganz anderen Blick auf die jüdische Gesetzesreligion als der Katholizismus und der Protestantismus. Zudem fühlte sich Rousseau ein Leben lang persönlich verfolgt. Deshalb nahm er die verfolgten Juden wieder und wieder in Schutz. Jedoch waren die Juden für ihn keine so große Sache, wie sie es für Voltaire waren.6 In seiner Profession de foi verteidigte Rousseau das Judentum im Vergleich zum Christentum und zum Islam als die biblische Religion, die das größte Recht hätte, sich auf die Heilige Schrift und eine besondere Offenbarung zu berufen. Gleichzeitig aber drückte Rousseau Abscheu gegenüber dem grausamen Kriegergott des Alten Testaments aus, der immer darauf aus sei zu bestrafen und zu quälen. Auf nahezu antike Weise bewunderte Rousseau Moses als einen großen politischen und religiösen Anführer. An mehreren Stellen in seinen Werken schreibt er vom Recht und Bedürfnis der Juden nach einem Heimatland. Jesus nannte Rousseau »den jüdischen Weisen«. Die Folgen von R ousseaus philosemitischer Romantik waren für die Ausgestoßenen zweifelhaft. Rousseaus politische Ideologie setzte voraus, dass eine soziale Einhelligkeit zu einem allgemeinen Willen erhoben werden konnte. In ihrer Konsequenz war die Ideologie für gesellschaftliche Randgruppen enorm ungünstig. Rousseau versuchte bewusst, den Graben zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auszuradieren, wie er sich in der frühmodernen Gesellschaft entwickelte. Spätere Romantiker fanden daher leicht den Weg zur Blutgemeinschaft als eine Bedingung für die volle Gesellschaftsmitgliedschaft. Die neue Bio-
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logie übernahm den Rest. Die Frage, ob Juden vollwertige Mitglieder der Volksgemeinschaft sein konnten, wurde in der frühromantischen Tradition mit einem Hinweis auf Sprachgebrauch und religiöse Zugehörigkeit beantwortet. In der spätromantischen Tradition – ab C. W. Fr. Grattenauers Wider die Juden (1802) – wurde auf die Rassenzugehörigkeit verwiesen.
Holbergs Beitrag Auch der dänisch-norwegische Dichter Ludvig Holberg (1684–1754) zeigte gegenüber den Juden eine paradoxe Haltung. Er schrieb bekanntermaßen eine umfassende jüdische Geschichte und drückte in der Regel seine Sympathie und Bewunderung für das Bundesvolk aus. In seinen in Latein verfassten Epigrammen schloss sich jedoch auch Holberg verbreiteten Vorurteilen an: Ein bekehrter Jude ist wie Ein frisch gewaschenes Hemd; Er ist so rein und weiß und Hat nicht den geringsten Makel. Drei, vier Tage nur, ach Da ist der Glanz verschwunden; Ist die Woche vorüber, muss er wieder Hin zum Waschen.
Bei Holbergs Epigrammen handelt es sich um Witze.7 In solchen Versen machte er sich gutmütig über alles und jeden lustig. Nicht zuletzt findet sich in vielen der Attacken scharfe soziale Satire. So gesehen könnte man sagen: Warum nicht auch mit den Juden Späße treiben? Das siebente Buch der Epigramme dreht sich ausschließlich um das Alte Testament, wobei alle möglichen Gestalten und Ereignisse der frühen Geschichte der Juden Gegenstand von Witzen werden. Dennoch war es von einem Mann, der die tragische Geschichte der sephardischen Juden im Detail gekannt hatte, ziemlich derb, sich über bekehrte Juden oder die Bekehrung von Juden zum Christentum lustig zu machen. Indessen gibt es keinen Zweifel daran, dass die Verse humoristisch gemeint waren. Dennoch ist Humor im Allgemeinen weit davon entfernt, unschuldig zu sein, wenn er in der Charakterisierung unterdrückter Kollektive Stereotype voraussetzt. In Karikaturen begegnen wir oft sowohl
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Antisemitismus als auch Rassismus in reiner Form. Bei Albert Engström8 und Theodor Kittelsen war der Jude ein Bild, das Gelächter und Grauen hervorruft. Das war sicher als Humor gedacht – wie bei Holberg – das Ergebnis war jedoch ein munteres Feiern gefährlicher und todbringender Vorurteile. Holbergs Ambivalenz tauchte unter den Enzyklopädisten erneut auf. Keiner von ihnen teilte Voltaires Zwangsvorstellungen in vollem Umfang. In diversen Artikeln wurden jedoch kleine und große Angriffe gegen Israels Kinder gerichtet. Denis Diderot (1713–84) hatte viel Gutes über die Juden zu sagen, jedoch aus keinem anderen Grund, als dass er die Kirche beschämen wollte.9 Montesquieus historisches Verständnis von der schwierigen Situation der Juden beeinflusste mehrere der Autoren des großen Lexikonprojektes. In Artikeln, die alles andere als die jüdische Geschichte behandelten, warf Diderots enger Mitarbeiter Jaucourt (1704–79) jedoch mit Ausfällen gegenüber den Juden nur so um sich. Die Vorkämpfer der Aufklärung wüteten gegen die jüdische Theokratie und den damit verbundenen Despotismus. Sie prangerten den jüdischen Glauben als »primitiven jüdischen Aberglauben« an, wie er im Alten Testament beschrieben wird. So etwas musste erlaubt sein, da es sich um indirekte Gesellschaftskritik am Ancien Régime und an der Kirche handelte. Nicht selten aber wurden die Juden lächerlich gemacht, bevor man anschließend darauf hinwies, dass die Kirche noch lächerlicher sei. Die Juden wurden zu einem rhetorischen Kontrastmittel und einem Moment einer argumentativen Strategie, die das Ancien Régime treffen sollte. Man nahm sich vor, die Abneigung der Leser gegen den »abergläubischen Unfug« der Juden nur deswegen zu sammeln, um die neu erwachte Abneigung gegen den »abergläubischen Unfug« der Kirche zu mobilisieren. Hier handelte es sich nicht um die traditionelle judenfeindliche Polemik. Man bediente antijüdische Ressentiments im Voraus, um sie dann aber in eine aktuelle Richtung zu kanalisieren. Der Polemik gegen die Juden kam jedoch kein eigenständiger Wert oder keine eigenständige Absicht zu. Nur eine Sache sei dümmer, als nicht an Jesus als den Messias zu glauben – wie die Juden es taten – und das sei, an Jesus als den Messias zu glauben – wie die Kirche es noch immer täte. So ist der Ton. Die eigentliche Zielscheibe war immer der angebliche Aberglaube der Kirche. Bei einigen wenigen Autoren tauchte ein anderes Motiv auf: Könnte man nur das Judentum, als die Wurzel der Kirche, zerstören, würde die Kirche von allein verwelken! Der Kampf gegen den Papst wurde daher
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von einem Kampf gegen Moses unterstützt. Der »lächerliche Aberglaube« des Judentums habe bei allen Völkern zur Verachtung der Juden geführt, schreibt Mirabaud (1749–91), der Sekretär an der Académie française war. Die Verachtung des Aberglaubens der Juden war ein relativ neues Motiv in der ideologischen Tradition der Aufklärung. Früher hatte man die Juden verachtet, weil sie sich religiös betrachtet auf einem Irrweg befanden. »Aberglaube« im Licht der klaren Gedanken der Vernunft ist jedoch etwas anderes. Bei Mirabaud ist »Aberglaube« ein Sammelbegriff für alle starken religiösen Überzeugungen. Der sogenannte Aberglaube der Juden wurde als ein Defekt in ihrer Natur dargestellt. Daher kann es sein, dass Poliakov recht hat, wenn er hier einen frühen Ausdruck von »Rassismus« findet. Seitens der Natur stimme mit den Juden etwas nicht. Sie hätten nicht nur falsche Überzeugungen oder einen unmoralischen Lebenswandel, sie hätten auch unheilbare Mängel. Daher nütze es nichts, sie zu korrigieren oder ihre Lebensbedingungen zu verändern. Die gleichen Gedankengänge finden wir bei Baron dʼHolbach (1723–89) wieder, aus dessen Feder eine Flut von Pamphleten gegen die Religion und ihre Repräsentanten strömte. Viele Vorkämpfer der Aufklärung hatten Spinozas Tractatus gelesen, das faktisch einer der ersten radikal gnadenlosen Angriffe auf die Religion war – sowohl auf das Judentum als auch auf das Christentum. Merkwürdig ist, dass auch diese jüdische Inspirationsquelle die radikalen Franzosen nicht daran hinderte, ein kollektives Urteil über die Juden als unheilbar abergläubisch zu fällen.
Rassismus ist eine moderne Variante Rassismus als Begründung für Judenhass zu gebrauchen, begann im 18. Jahrhundert. Er verstand sich selbst nicht als Ideologie, sondern als Wissenschaft. Er entriss unter anderem den theologischen Schablonen die antijüdische Polemik und erschuf neue, modernere Gedankenmotive. Die Vorstellung von überlegenen und unterlegenen Menschenrassen entstand, als Europa Kolonialmacht wurde und seine Übergriffe auf Völker außerhalb des eigenen Erdteils rechtfertigen musste. Ausbeutung, Vertreibung, Abschlachtung und Sklaverei würden nicht so schlimm sein, wenn die Opfer kaum als Menschen bezeichnet werden könnten.
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Die Europäer waren von der Überlegenheit der eigenen »Rasse« ernsthaft überzeugt. Aus der Feudalzeit waren Argumente hinsichtlich der »Blutzugehörigkeit« bekannt. Die Biologie als Wissenschaft entwickelte sich jedoch erst im 18. Jahrhundert. Sie verwissenschaftlichte die alten Spekulationen über das Blut und die naturgegebenen Unterschiede. Darwins Evolutionslehre war noch nicht am Horizont zu erahnen, und es gab keine wissenschaftliche Theorie der Vererbung. Zwar gab es eine Zuchtpraxis mit Haustieren, Pferden und Hunden, die Anwendung des Rassenbegriffs auf Menschen war jedoch vollkommen neu. Johann Gottfried Herder (1744–1803) zögerte noch im Jahr 1785 das Wort »Rasse« auf Menschen anzuwenden. Der Encyclopédie zufolge wird das Wort vor allem für Pferde verwendet (1765). Die Rasse eines Menschen zu bestimmen, wäre daher dasselbe, wie ihn ausschließlich nach animalischen Eigenschaften zu klassifizieren. Voltaire sagte an einer Stelle mit einer charakteristischen, aber etwas unvorsichtigen Formulierung, dass »die Europäer rassenmäßig genauso weit über den Negern stehen, wie die Neger über den Affen und die Affen über den Austern«. Die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts war wie besessen von Klassifikationstafeln. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–78) und sein französischer Kollege Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–88) waren Meisterdenker einer Wissenschaft, die im Wesentlichen daraus bestand, die Natur in Schubladen und Regale einzuordnen. Für beide, Linné wie auch Buffon, war nur ein weißer Mann ein vollwertiger Mensch. Alle anderen Varianten waren Degenerationsphänomene. Der Naturforscher Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759) zweifelte daran, ob alle Menschentypen auf Adam als einen gemeinsamen Stammesvater zurückgeführt werden können. Dafür seien sie zu verschieden, meinte er. Die erste Bibelkritik der Biologie war rassistisch begründet! Buffon fragte sich, ob »Neger« mit der Zeit weiß würden, wenn sie von den Randgebieten der Welt nach Paris befördert würden.10 Noch niedriger als die »Neger« stünden die Samen. Sie seien hässlich, dumm und moralisch degeneriert, weil sie sogar ohne Schamgefühl nackt badeten und ihre Frauen Fremden anböten. Selbst bei einem intelligenten Mann wie Diderot finden wir solche Tiraden. Die Völker am Ende der Welt paarten sich mit allen möglichen anderen, um ihrem degenerierten Zustand zu entkommen. Sie ergaunerten sich das Sperma des weißen Mannes, um ihren beschämenden Zustand der Degeneration zu überdecken! Ästhetik, Moral und
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Biologie wurden in solchen Tiraden zu einem unförmigen Teig miteinander vermischt. Sie zeigen auf jeden Fall unzweideutig, dass die Herrschaft der Vernunft kein Reich des Glücks ankündigte. Unzweideutig zeigen sie auch, dass es keine alles erklärende und alles verwaltende Vernunft gibt, die nicht auch blinde Flecken hat. Rassistisch im strengen Sinne wurden die Begründungen für den Antisemitismus erst mit C. W. Fr. Grattenauers Wider die Juden (1802). Und auch da nur ungefähr, weil der frühe Rassenbegriff wohl ebenso stark vom romantischen Denken über die Eigenart »der Völker« als auch von der Biologie geprägt war. In vielen Zusammenhängen wurden »Rasse« und »Volk« als Synonyme verwendet. Es war nicht ungewöhnlich, von der französischen, englischen und deutschen »Rasse« zu sprechen. Deshalb tauchte der rein biologische Rassenbegriff – auf Menschen angewendet, und nicht nur auf Pferde und Hunde – erstaunlich spät auf. Erst in dem Spannungsfeld zwischen Malthus und Darwin wurde es üblich, mit dem Kolonialismus als Hintergrund über den Lebenskampf und die legitimen Lebensaussichten der Menschenrassen zu sprechen. Dadurch wurde es möglich, emanzipierte Juden zu treffen, die sich im Äußerlichen nicht von ihrem Umfeld unterschieden. Im Lebenskampf waren sie unterlegen. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnten.11
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13. Frankreich:
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Die europäische Geschichte der Juden weist viele denkwürdige Jahre auf. Nicht alle tragen die Erinnerung an eine kollektive Katastrophe in sich, im Rückblick betrachtet gibt es für Europas Juden jedoch kaum irgendwelche großen Triumphe, die nicht gleichzeitig auch einen größeren Zusammenbruch ankündigten. Kaum eine Begebenheit in der Diaspora vor dem Holocaust kann, was die historische Bedeutung angeht, mit dem verglichen werden, was in dem Begriff »Emanzipation« zusammengefasst wird. Das Wort bedeutet Befreiung, und in unserem Zusammenhang ist es gleichbedeutend mit den formalen Verbesserungen in der rechtlichen Stellung der Juden, zu der es im Zuge der Französischen Revolution kam. Die Forderung wurde bereits bei Christian Wilhelm von Dohm in Über die bürgerliche Verbesserung der Juden von 1781 erhoben, aber es sollte fast ein Jahrhundert vergehen, bis die Schlagworte der Revolution auch auf die jüdischen Minderheiten im übrigen Europa angewandt werden konnten. In Zentraleuropa wurde der Prozess erst in Verbindung mit der Vereinigung des Deutschen Reiches 1870 abgeschlossen.1 Die Emanzipation war nicht eine auf die jüdische Minderheit begrenzte Bewegung. Sie sollte der historische Wendepunkt sein, das Ende der repressiven Sonderbehandlung, deren Gegenstand religiöse Minderheiten in dem wechselweise katholischen und protestantischen Europa gewesen waren. Sie beinhaltete aber gleichzeitig auch das Ende aller Sonderbehandlungen, auch der Autonomie, die die jüdischen Gemeinschaften in die Lage versetzt hatte, über Jahrhunderte hinweg, quer durch die Vielfalt nationaler Kulturen und Sprachgemeinschaften hindurch, ihre religiöse und kulturelle Eigenart zu bewahren. Für einige der nichtjüdischen Vorkämpfer war eine durchaus beabsichtigte Nebenwirkung der Emanzipation, dass sie, wenn sie erfolgreich sein solle, sie gleichzeitig das Ende der jüdischen Gemeinschaften in Europa bedeuten konnte. Das kann in den Texten der liberalen Denker, die sich Ende des 18. Jahrhunderts dafür aussprachen, den Juden
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staatsbürgerliche Rechte einzuräumen, als eine übergeordnete Zielsetzung herausgelesen werden. Selbst der unermüdliche Vorkämpfer für die Rechte der Juden, der Jansenist Abbé Grégoire (1750–1831), erhoffte sich, dass die Emanzipation Juden »weniger jüdisch« machen würde. Lediglich bei Vereinzelten, zum Beispiel Zalkind Hourwitz (1740–1812), der selbst Jude war, findet man Argumente für eine auf der Einsicht in den Eigenwert des Judentums als kollektiven Identitätsstifter basierende Emanzipation. Er blieb aber aufgrund seines Reformeifers und seiner Polemik gegenüber dem Rabbinat unter den führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich ohne Unterstützer. Während der Debatte in der französischen Nationalversammlung 1791 war die revolutionäre Strategie zur Bewältigung des sogenannten Juden problems von Graf Stanislas de Clermont-Tonnerre, einem der bedeutendsten Fürsprecher der Judenemanzipation, wie folgt zusammengefasst worden: »Nichts für die Juden als Nation, alles für die Juden als Individuen.«2 Mehr als 100 Jahre später, während des Ersten Weltkongresses der Zionisten in Basel 1897, konstatierte Theodor Herzls bedeutendster Unterstützer, der Literat Max Nordau, dass die Emanzipation eine der bemerkenswertesten Ereignisse in der europäischen Geschichte des Denkens gewesen ist. Sie war keiner tiefen Überzeugung geschuldet, dass einem ganzen Volk gegenüber grobes Unrecht begangen worden war und dass die Zeit gekommen war, um dieses Unrecht zu beseitigen. Sie war ein Gebilde des reinen, nationalistischen Intellekts. Die Philosophie Rousseaus und der Enzyklopädisten hatte die Grundlage für die Menschenrechtserklärung geschaffen, und von da aus hatten die Männer der großen Revolution bis hin zur Emanzipation der Juden deduziert: Alle Menschen sind mit Rechten geboren. Die Juden sind Menschen, folglich haben sie Rechte. Auf dieser Grundlage hatte, Nordau zufolge, die Emanzipation stattgefunden. Nicht aus einem solidarischen Mitgefühl mit den Juden heraus, sondern weil die Logik es erforderte!3
Jüdische »Nationen« Aus historischen Gründen waren die Juden in Frankreich vor der Revolution in mehrere »Nationen« unterteilt gewesen, wovon die beiden wichtigsten Gruppierungen die »deutschen« aschkenasischen Juden im Nordosten und die sephardischen »Portugiesen« im Südwesten waren. Der Begriff
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»Nation« hatte vor der Französischen Revolution eine andere Bedeutung, als er sie danach erhalten sollte. Den Stamm bildet das Wort natio, das in der lateinischen Übersetzung des Neuen Testaments für nichtchristliche oder fremde Gemeinschaft verwendet worden war. Die sephardischen Juden in Bordeaux und Bayonne waren Nachfahren der Juden, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von der Iberischen Halbinsel verwiesen worden waren. Viele von ihnen hatten damals versucht, der religiösen Verfolgung zu entgehen, indem sie in der katholischen Kirche als Conversos oder »neue Christen« kollektiv Zuflucht gesucht hatten. Als sephardische Juden verhielten sie sich ihrer religiösen Tradition gegenüber weitaus freier als ihre Glaubensgenossen orthodoxer Observanz im Nordosten. Sie genossen ein hohes Ansehen und waren gut in die lokale Gemeinschaft integriert.4 Als nach der Revolution die Frage nach der Emanzipation der Juden aufgeworfen wurde, geschah dies als eine Konsequenz daraus, dass die französische Nationalversammlung aus prinzipiellen Gründen kurzen Prozess mit kollektiven Rechten für alle sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Interessengruppen machte. Das beinhaltete, dass sie die Privilegien verloren, die es ihnen ermöglicht hatten, als selbstständige Gemeinschaft zu überleben. Eines dieser wichtigen Privilegien war nicht zuletzt das Recht der jüdischen Führungsspitze, von den Mitgliedern Steuern einzufordern, sodass den Verbindlichkeiten der Gemeinschaft nachgekommen werden konnte. Für andere religiöse Gruppen löste der Staat die alten Schulden ein, nicht aber für die Juden.5 Deshalb musste jeder einzelne von ihnen seinen solidarischen Anteil an der Bürde des Kollektivs tragen. Die Schulden sollten fortan an nachfolgende Generationen vererbt werden. Während jedoch die Abwicklung der kollektiven Privilegien ohne die großen Hiebe stattfand – es blieb bei einigen inständigen Appellen, schließlich bestand die Absicht darin, Gleichheit vor dem Gesetz zu erschaffen –, wehrten sich die Delegierten von Elsass-Lothringen im Rahmen der sich anschließenden Debatten in der Nationalversammlung heftig dagegen, dass die ortsansässigen Juden als Staatsbürger Anspruch auf den Schutz des Gesetzes haben sollten, sich im Land dort niederlassen konnten, wo sie wollten, und ebenso wie alle anderen Franzosen die Berufe ergreifen konnten, die ihrem Wunsch entsprachen. Die Protestanten: Ja. Die Henker: Ja. Aber die Juden: Nein! In den Jahren vor der Revolution hatte sich eine Debatte rund um die »Judenfrage« abgespielt, diese hatte jedoch nicht nach vorn, in Richtung einer vollständigen Emanzipation gewiesen. Allen voran war sie von den
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Problemen im Elsass sowie vom Toleranzpatent des österreichischen Kaisers Joseph II. vom Januar 1782 inspiriert, das den Juden den Zugang zu einigen neuen Berufen eröffnete und ihrer Besteuerung ein Ende setzte. Die strengen Restriktionen zur Regulierung der jüdischen Einwanderung wurden jedoch nicht gelockert. Das Siedlungsrecht war und blieb bis auf Weiteres den »nützlichen« Familien vorbehalten. Die beiden Rundschreiben von Ludwig XVI. aus dem Jahr 1784 sind interessante Dokumente, weil sie mit einem Mal davon berichten, dass so viele der konkreten Problemstellungen, die die Judenfrage während der Revolutionsdebatten dominierten, bereits unter dem Ancien Régime erhoben worden waren. Im Januar begrüßte der König von Gottes Gnaden sie als Untertanen und schaffte für immer die belastende Sonderbesteuerung der Juden ab. Im Juli desselben Jahres hieß es, dass es wünschenswert sei, »in dem Grad, wie es uns möglich erscheint, ihre [der Elsass-Juden] Interessen mit denen unserer Untertanen zu vereinen«.6 Schnell sollte sich zeigen, dass es bis dahin noch ein langer Weg war, und dass der bis dahin undenkbare Gedanke an die Elsass-Juden als Franzosen wieder verworfen wurde, allerdings war er nun einmal gedacht. In den Jahren vor der Revolution hatte es zwischen den verschiedenen jüdischen »Nationen« keinen organisierten Kontakt gegeben. Und die »Portugiesen«, wie sie genannt wurden, hatten keinerlei Interesse daran gehabt, gemeinsame Sache mit den orthodoxen aschkenasischen Juden in Elsass-Lothringen zu machen, die eine weitaus größere Bevölkerungsgruppe mit einem weitaus geringeren Lebensstandard und Ansehen ausmachten. Bei der Volkszählung 1784/85 wurden im Elsass 3910 jüdische Familien registriert, man nimmt jedoch an, dass die jüdische Bevölkerung in Wirklichkeit etwa 250.000 Personen, verteilt auf rund 4000 Familien zählte; der überwiegende Teil von ihnen war sehr arm. Die Volkszählung gehörte zu den Maßnahmen, die 1784 vorgeschrieben wurden, und verfolgte die Absicht, eine Grundlage für die Ausweisung aller Juden zu schaffen, die nicht rechtmäßig registriert waren. Das beinhaltete, dass die sich legal im Land aufhaltenden Juden einen stärkeren Schutz erhielten, aber auch, dass ein kompletter Einwanderungsstopp für weitere Juden eingeführt wurde. Letztgenanntes hatte der Sprecher der Elsass-Juden, Cerf Berr, in einem Memorandum an den König bereits 1780 befürwortet. Um die Probleme in der Region zu lindern, hatten die Elsass-Juden ihrerseits selbst einen Handlungsplan initiiert. Die grundlegende Forderung war dieselbe, wie sie es bereits seit 1716 war: ein Gesetz, das ihnen das Recht auf einen Lebensunterhalt
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und die Freiheit von Verboten sicherte. Der tragende Gedanke war, dass das Judenproblem gelöst werden musste, indem alle Juden die Möglichkeit erhielten, nützliche Juden zu werden. Die Gesetzesänderung von 1784 sicherte ihnen in der Summe weder mehr Möglichkeiten noch weniger Bürden. Jedes neue Zugeständnis wurde von einer neuen Forderung begleitet. Diejenigen, die rechtmäßig registriert waren, durften das Wohnrecht behalten, gleichzeitig wurde jedoch das Verbot gegen die Schließung neuer Ehen ohne die Erlaubnis des Königs erlassen sowie strengere Strafen für die Rabbiner eingeführt, die dem Eheschließungsverbot trotzten.7 Es wurde die Möglichkeit eröffnet, dass sie landwirtschaftliche Betriebe anmieten und Weinreben anbauen konnten, ihnen war jedoch untersagt, nichtjüdische Arbeitskräfte anzuwerben oder den Boden zu besitzen, den sie bewirtschafteten. Das Verbot für den Kauf von Eigentum wurde generell verschärft. Den Juden im Elsass war lediglich erlaubt, die Häuser zu besitzen, die sie bereits bewohnten, das Grundstück aber durfte nicht über das standesgemäß Angemessene hinaus entwickelt werden. Im Winter 1788 wurde die administrative Grundlage für die kollektive Ausweisung aller nicht registrierten Juden aus dem Elsass geschaffen. Aufgrund des ungewöhnlich harten Winters wurde die Umsetzung der Maßnahmen verschoben. Mit dem Frühling und dem Sommer kam die Revolution. Die Ideologie der neuen Zeit stellte fest, dass alle Menschen mit denselben Rechten geboren waren, aber nicht ohne Grund befürchteten die »Portugiesen«, dass eine Gesamtbewertung des Rechtsstatus der Juden, mit dem Gedanken an eine formelle Verbesserung, für sie eine reale Verschlechterung beinhalten könnte. Im Januar 1790 baten sie die Nationalversammlung um eine separate Bewertung ihres Status. Mit Unterstützung der lokalen Behörden in Bordeaux wurde der Forderung unmittelbar stattgegeben. Eineinhalb Jahre später mussten die Delegierten aus dem Elsass, was die »deutschen« aschkenasischen Juden betraf, ihre Hoffnungen an die egalitäre Vernunft der Jakobiner hingegen verloren geben. In den folgenden Jahren kam es unter den französischen Juden zu einer freiwilligen kulturellen Anpassung. Dort, wo sie die Möglichkeit erhielten, versammelten sie sich patriotisch hinter den nationalen Institutionen, das betraf allen voran das Heer, das ihnen dieselben Verpflichtungen auferlegte wie anderen Bürgern. Ohne auf ihre jüdische Identität zu verzichten, mit allem, was das an religiösen Ritualen sowie sozialen und moralischen Verpflichtungen beinhaltete, legten sie Wert darauf, aktiv an der französischen
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Gesellschaft teilzunehmen. Auf die gleiche pragmatische Weise überlebten sie auch während der antireligiösen Zerstörungen der Terrorherrschaft. Im überwiegenden Teil Frankreichs beinhaltete die neue Situation, dass die Juden nun an einem weitaus breiteren Spektrum des Geschäftslebens teilhatten und bewusst Positionen in ehrenwerten Berufen anstrebten. Die Ausnahme bildete das Elsass. Dort, wo die jüdische Bevölkerungsdichte am größten war und die Orthodoxie am verbreitetsten, wurden sie weiterhin mit Wucherei identifiziert. Bei den Ostjuden in Straßburg handelte es sich meist um arme Juden, die aus Zentraleuropa eingewandert waren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren immer mehr von ihnen in die Organisation der Versorgung der französischen Truppen involviert worden. Nach und nach wurde das Geld, das sie verdienten, in die Kredittätigkeit sowie in Immobilien investiert, wobei sie beschuldigt wurden, diese aufzusplitten, um sie mit großem Profit weiterzuverkaufen. Nach der Revolution hatten die Bauern eine historische Möglichkeit erhalten, selbst Eigentum zu erwerben, aber es gab weder Kreditinstitutionen noch eine rechtliche Regulierung der Kreditvergabe. Die geräumten Güter des Adels wurden auf Auktionen an den Höchstbietenden versteigert, und es waren nicht nur Juden, die sich durch die Zinsen auf diese Kredite einen Lebensunterhalt erschufen. Das Problem war real, auch wenn es zweifellos durch die antijüdischen Vorurteile verstärkt wurde, die das mentale Leben in der Region über Jahrhunderte geprägt hatten. Anfang des 19. Jahrhunderts hatten 400.000 französische Bauern bei einigen wenigen Tausend Juden galoppierende Schulden. Der Großteil der Verträge war, allem nach zu urteilen, unter akzeptablen Bedingungen abgeschlossen worden, die gesetzliche Regulierung jedoch war mangelhaft, und die Situation der Bauern verschlechterte sich weiterhin, als Napoleon als eine seiner ersten politischen Maßnahmen die Kontrolle über die Inflation übernahm und die alte wertlose Währung durch eine neue, härtere ersetzte. Von 1802 bis 1804 behandelten lokale Gerichte im Elsass mehrere Tausend Klagen gegen Bauern, die nicht in der Lage waren, ihre Schulden zu begleichen, die meisten von ihnen bei Juden. Die Unzufriedenheit kam auf mehreren Ebenen zum Ausdruck: Zum einen verwaltungsmäßig in Form von Protesten lokaler Behörden, die dem ein Ende bereiten wollten, dass der französische Rechtsapparat sich dazu hergab, die Bauern auszusaugen. Zum anderen in Form antijüdischer Unruhen auf den Straßen und Plünderungen des Eigentums von Juden. Schließlich und
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unvermeidlich kam sie ideologisch in Form publizistischer Agitation gegen die Juden zum Ausdruck. Angeführt von Royalisten wie Louis-Gabriel de Bonald (1754–1840) und François-René Chateaubriand (1768–1848) wurde das Elend der Bauern in der Region Straßburg in einen direkten Zusammenhang mit der Emanzipation der Juden gesetzt. Laut Bonald waren die Probleme dem Umstand geschuldet, dass die Juden Fremde waren und blieben. Die Krise war entstanden, weil sie ihren neuen Status als gleichberechtigte Bürger ausgenutzt hätten, um den Christen zu schaden. Forderte das Judentum nicht, dass die Juden alle Christen als Feinde betrachteten, fragte er rhetorisch. Das Problem war laut Bonald, dass das Judentum, das Mosaische Gesetz, mit dem Gesetz Jesu unvereinbar war, und dass die Juden daher außerstande waren, ihren Verpflichtungen als Bürger der französischen Gesellschaft nachzukommen. Das waren dieselbe Debatte und dieselben Vorurteile, gegen die Abbé Grégoire gekämpft hatte, als er zehn Jahre zuvor dafür argumentiert hatte, dass die Juden nicht länger eine eigene Nation darstellten, dass sie deshalb mit den Ruinen zu vergleichen waren, die von einem eingestürzten Gebäude zurückblieben waren. Sein Argument hatte gelautet, dass auch die jüdischen Steine zum Bau des neuen Gerüsts der Revolution benutzt werden konnten und mussten. Es ging nicht darum, was die Juden einst gewesen waren, sondern darum, was die Anerkennung ihrer Ebenbürtigkeit aus ihnen machen würde.8 Die Emanzipation sollte ihnen die Freiheit geben, sich für Frankreich zu entscheiden.
Napoleon und die Juden Keine Person ist stärker mit der Emanzipation der Juden verbunden als Napoleon Bonaparte. Es waren Napoleons Eroberungen, mit denen sich die Emanzipation in Europa ausbreitete, und es war Napoleons Niederlage, mit der es die ersten Rückschläge gab: Die Juden, die aus dem Einzug des Feindes einen Nutzen gezogen hatten, wurden nun als Volksfeinde identifiziert. So lautet die Kurzversion. Die lange ist komplizierter. Die Geschichte von Napoleon und den Juden begann mit seiner Begegnung mit den italienischen Ghettojuden 1797. In einer hebräischen Chronik, verfasst kurz nachdem die Juden in Ancona dank der französischen
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Truppen, unter der Leitung eines heldenhaften Offiziers, einem Massaker entgangen waren, findet sich eine ergreifende Niederschrift. Der Name des Offiziers war Chelek Tov, hebräisch für Bona Parte, zu dem der Chronikschreiber folgende Erklärung gibt: »Er ist gut, will den Juden Gutes und liebt sie.« In den Städten, die das Revolutionsheer einnahm, wurden die Tore zu den Ghettos niedergerissen und die gelben Judensterne durch französische Freiheitssymbole ersetzt. Nach Jahrhunderten der katholischen Unter drückung brauchte es nach der Ankunft des französischen Heeres nicht mehr als 30 Tage, bis Italiens 30.000 Juden die Gleichheit vor dem Gesetz gesichert war. Die italienischen Juden hatten wenig zu verlieren, deshalb aber nicht weniger zu befürchten, was die Juden in Venedig, Verona und Padua erfahren sollten. Zweimal durften sie die Freiheit kosten. Zweimal wurden sie von den Flüchen der Vergangenheit eingeholt: Nach den Verhandlungen in Campo Formio wurden Venedig und das umgebende Gebiet an Österreich rückübertragen. Erst nach dem Sieg über das österreichische und russische Heer in der Schlacht bei Austerlitz im Dezember 1805 wurden die venezianischen Juden in Europas ältestem Ghetto wieder unter die Flügel des Weißen Adlers genommen. Für sie stellte der Wiener Kongress 1815 die Einleitung eines neuen Mittelalters dar. Die Vorstellung von der fehlenden Loyalität der Juden kann nur mit erheblichen Modifikationen stehen bleiben. Für manchen war es an sich kompromittierend genug, dass den Juden als Bevölkerungsgruppe mit der Expansion des französischen Rechtsstaates gedient gewesen war, für andere passte es schlicht und einfach zu gut zu den verbreiteten Vorstellungen über ihren verräterischen Nationalcharakter. Ironischerweise muss dies auch Napoleons eigener Auffassung entsprochen haben. Sein Verhältnis zu Juden war nämlich komplizierter, als die Lobpreisung der italienischen Juden es möglicherweise andeutet. Zu Hause in Frankreich sollte allmählich deutlich werden, dass er alles andere als immun gegen die Vorurteile war, denen Juden bereits unter dem Ancien Régime ausgesetzt waren. Man kann das aber auch auf den Kopf stellen und sagen, dass es gerade diese Vorurteile waren, die dazu beitrugen, dass er sie in den von ihm eroberten Ländern befreite: Die Juden waren Fremde, »eine Nation in der Nation«, und folglich entsprechend gut geeignet als Alliierte hinter den Frontlinien und in den besetzten Gebieten. Napoleon machte nie ein Geheimnis daraus, dass seine religiöse Toleranz ebenso sehr von machtpolitischem Opportunismus wie von Prinzipientreue
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motiviert war. Das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl hatte ihm die Unterstützung der Katholiken sowie die volle politische Kontrolle über alle kirchlichen Ernennungen gesichert. Das hatte ihn nicht daran gehindert, das Vertrauen der französischen Protestanten zu gewinnen, indem er ihnen den offiziellen Status als religiöse Minderheit verlieh. Während des Feldzuges in Ägypten 1798/99 war er entsprechende Kuhhandel mit den Muftis eingegangen und hatte eine eigene Fatwa durchgesetzt, die ihm im Kampf gegen die Briten und die Türken muslimische Unterstützung sicherte. Die Strategie fasste er 1801 selbst in einer Rede im Conseil d’État zusammen: Es ist meine Politik, Männer zu regieren, wie die große Mehrheit von ihnen regiert werden will. So erkennt man die Souveränität des Volkes an. Als Katholik habe ich den Krieg in Vendée gewonnen, als Muslim habe ich mich in Ägypten etabliert, und als Gleichgesinnter des Papstes habe ich das Vertrauen der Italiener gewonnen. Wenn ich die Juden regieren wollte, würde ich den Tempel Salomons wiederaufbauen.9
Der Feldzug im Nahen Osten Kein Ereignis sollte für die zeitgenössische jüdische Gemeinschaft stärkere symbolische Bedeutung erhalten als der Versuch der Wiedererrichtung des Hohen Rates, des sogenannten Sanhedrin, erstmals nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. Nun war es zwar nicht der Tempel Salomons, dessen Wiedererrichtung Napoleon anstrebte, jedoch war es nicht weniger spektakulär, dass er den antiken Staub von der obersten Rechtsinstanz der jüdischen Nation abbürstete. Dass Napoleon im Nachhinein bei den Juden Europas zu einer so leuchtenden Gestalt wurde, ist dem Umstand geschuldet, dass seine Eroberungskriege von einer historisch beispiellosen befreienden juristischen Tatkraft begleitet waren. Es war aber auch dem Umstand geschuldet, dass er mit seinem radikalen Willen, Geschichte zu schreiben der politischen Organisation des jüdischen Volkes vorgriff, die mit dem Zionismus kommen sollte. Sollte man das 19. Jahrhundert in einer solchen Perspektive zusammenfassen, könnte man sagen, dass es mit Napoleons Jüdischem Rat in Paris 1806 begann und mit Theodor Herzls Zionistischem Weltkongress in Basel 1897 endete. Man sollte jedoch vorsichtig damit sein, zu viel in Napoleons vorzionistischen Posaunenstoß hineinzulegen. Er spaltete mit der Glut der Revolution und herrschte mit
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der Entschlossenheit des Despoten, und sein jüdisches »Parlament« war gerade keine Handreichung an die jüdische Nation, sondern ganz im Gegenteil ein radikaler Versuch, sie in der französischen aufzulösen. Nichtsdestotrotz sollte Napoleon bei vielen Juden die historische Gestalt bleiben, die dem nationalen Erwachen der Juden vorgriff. Das hing auch mit Gerüchten zusammen, dass er während seiner Expedition in den Nahen Osten Pläne zur Gründung eines jüdischen Staates in Palästina bekundet hatte. In den Jahren vor dem Feldzug in den Nahen Osten zirkulierten in England und Frankreich bereits mehrere Schriften, die die Heimkehr der Juden nach Palästina empfahlen. In England war dies eine wiederkehrende Prophezeiung unter den Puritanern gewesen, jedoch war es ein psychisch instabiler Offizier, von der britischen Marine beurlaubt, der mit einer Offenbarung, die die Französische Revolution als den Anfang der Endzeit auslegte, die größte Durchschlagkraft erhalten sollte. Mit der für Offenbarungsschriften charakteristischen bildreichen Präzision beschrieb Richard Brothers 1794 viele der kommenden Triumphe Napoleons. Eines der von ihm vorausgesehenen Ereignisse war »die Heimkehr der Hebräer nach Jerusalem 1798 unter der Führung ihres offensichtlichen Prinzen und Propheten«. Es gab auch nüchternere Stimmen, wie den Aufklärungsphilosophen Charles-Joseph Prince de Ligne (1735–1814), der in seinen Mémoire sur les Juifs (1797) die Richtlinien für die Verhandlungen über einen jüdischen Staat mit dem osmanischen Sultan aufstellte, worin den türkischen Juden die Rolle als Mittler zugestanden wurde. Schließlich gab es den offenen Brief eines anonymen italienischen Juden, der sich mit dem Hinweis an »die unschlagbare Nation, die die Welt jetzt mit ihrem strahlenden Glanz erfüllt«, an seine jüdischen Brüder wandte. Der Brief, der in vielen führenden Zeitungen in England und Frankreich veröffentlicht wurde, war mit dem charakteristischen Pathos der Revolutionszeit geschrieben worden: Ach meine Brüder, welche Opfer wollen wir nicht geben, um dieses Ziel zu erreichen? Wir sollen in unser Land zurückkehren, wir sollen unter unseren eigenen Gesetzen leben – wir sollen die Orte einnehmen, an denen unsere Vorfahren ihren Mut und ihre Tugenden demonstriert haben. Ich sehe euch alle vom heiligen Siegel gekennzeichnet. Israeliten! Das Ende unseres Unglücks steht bevor.10
Es gibt keine gesicherte Dokumentation über Napoleons Kenntnis dieser Schriften, die vor der Zeit der Expedition des Kaisers 1798 in den Orient veröffentlicht wurden. Die übergeordnete politische Agenda für den mi-
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litärischen Feldzug war offensichtlich eine andere: die Grundlage für die französische Kontrolle des Handelsweges zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer zu erschaffen, und damit zwischen Indien und Europa, durch den Bau des Sueskanals. Als sich die Armada mit 300 Schiffen und einer Streitkraft von 43.000 Mann am 19. Mai 1798 im Hafen von Toulon auf den Weg machte, war nur ein kleiner Kreis von Offizieren über das Ziel der Reise informiert. Die Eroberung von Malta einen Monat später sollte sich lediglich als der Anfang erweisen. Aber was für ein Anfang! Die jüdische Gemeinschaft der Insel existierte seit der Römerzeit dort. Nachdem Mitte des 16. Jahrhunderts jedoch der Souveräne Malteserorden auf der Insel an die Macht gekommen war, begann eines der vielen demütigenden Kapitel in der Geschichte der Juden. Ihre Piratenstreifzüge machten die christlichen Ritter berüchtigt. Auf den meisten der gekaperten Schiffe befanden sich viele jüdische Kaufleute. Ebenso wie die Muslime an Bord wurden sie versklavt und nur gegen die Bezahlung von Lösegeld freigelassen. Diejenigen, die es nicht schafften, sich freizukaufen, wurden verkauft oder als Sklaven gehalten. Die Situation der maltesischen Juden sollte über 250 Jahre hinweg zu einem wiederkehrenden Thema solidarischer Appelle werden. Auch die französischen Streitkräfte schritten hart zu Werke, und die Plünderung der religiösen Schätze der Insel trug nicht dazu bei, die Lokalbevölkerung der Okkupationsmacht gegenüber milder zu stimmen, für Maltas Juden jedoch bedeutete der Einzug Napoleons das Ende der Sklaverei und das Recht zur freien Religionsausübung. Der Kampf gegen die Briten und Türken im Nahen Osten sollte sich als eine weitaus härtere Herausforderung herausstellen. Innerhalb weniger Tage im Juli nahm Napoleon Alexandria und Kairo ein, wo er sein Hauptquartier in dem großartigen Ezbekyeh-Palast aufschlug. Gleich zu Beginn suchte er bei der Lokalbevölkerung Unterstützung. Als einen ersten Schritt Richtung Selbstverwaltung lud er 189 der religiösen Anführer des Landes zu einem Divan Générale ein, der beratenden Status erhielt.11 Er sorgte dafür, sich als Freund des Islam zu präsentieren, als einen Bewunderer des Koran, und er unterwarf sich auch den örtlichen Kleidungssitten, wie es sich für einen orientalischen Herrscher schickte. Da dies nicht ausreichte, um einen Aufruhr unter den Muslimen der Stadt zu verhindern, erweiterte er die Charmeoffensive dahingehend, auch die religiösen Minderheiten Kairos einzubeziehen, darunter die Juden. Der jüdischen Gemeinschaft in Kairo war es noch immer nicht gelungen, nach den antijüdischen Aus-
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schreitungen, die die Stadt mehrere Jahrzehnte zuvor heimgesucht hatten, wieder auf die Beine zu kommen. Napoleon behandelte die ägyptischen Juden ebenso privilegiert, wie er die italienischen behandelt hatte. Zudem ernannte er zwei Hohepriester, die »die jüdische Nation« repräsentieren sollten. Indessen wurde die französische Flotte bereits Anfang August von den Streitkräften Lord Nelsons vor Alexandria eingeholt. Nach der Schlacht auf dem Nil war Napoleon gezwungen, seine ursprüngliche Kampfstrategie umzustellen: Das Ziel war gewesen, Ägypten für Frankreich zu sichern, kurzfristig durch Besetzung, langfristig durch die Bildung einer Grundlage für einen ägyptischen Nationalstaat nach französischem Muster, mit Kontrolle über die Mittelmeerküste und Sues. Durch die Allianz der Türken mit den Briten hatten sich die Franzosen zurückgesetzt gefühlt, und Napoleons ägyptische Expedition war der erste ernsthafte Schlag gegen das Osmanische Reich. Mit der Flotte außer Gefecht gesetzt und von jeglicher Kommunikation mit Paris abgeschnitten, entschied Napoleon, sich auf einen historischen Marsch durch die Wüste zu begeben, um den Streitkräften des Paschas zu begegnen. Das erste Ziel war Al-Arisch. Danach folgten Gaza, Ramla und Jaffa, bevor vor Acre die endgültige Kraftprobe auf ihn wartete. Die große Schlacht wurde am 10. April 1798 auf der EsdraelonEbene am Fuße des Berges Tabor ausgekämpft. Mit einigen wenigen Tausend Mann schlugen Napoleons Streitkräfte eine Übermacht von 30.000 Soldaten nieder.12 Es fehlte nicht an religiösen Referenzen. Napoleon stand in dem Heiligen Land wie vor ihm Moses, Alexander der Große und die Kreuzfahrer. Jetzt wartete Jerusalem. Aber tat es das? In dieser Hinsicht schweigen die Quellen nahezu. Im Gegenzug blühten die Spekulationen. Es wurde behauptet, dass er in den folgenden Tagen auf Französisch und Hebräisch einen Appell an die jüdische Nation, als »Palästinas rechtmäßige Erben«, verfasste und diesen an die jüdischen Anführer in Jerusalem aussandte. Von dort aus soll er in verschiedenen Sprachen weiter an jüdische Gemeinschaften in der Diaspora verbreitet worden sein. In zeitgenössischen Nachrichtenbulletins finden sich mehrere Bezüge zu der Proklamation. In der Pariser Zeitung Le Moniteur Universel war am 22. Mai 1799 folgende Bekanntmachung zu lesen: »Bonaparte hat eine Proklamation veröffentlicht, in der er die Juden Afrikas und Asiens einlädt, sich unter seiner Flagge zu versammeln, um das alte Jerusalem zurückzuerobern. Einer großen Anzahl
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hat er bereits Waffen übergeben, und ihre Bataillone bedrohen Aleppo.«13 Napoleons vorzionistisches Manifest verschwand indessen aus der Geschichte, und die Originaldokumente sind bisher nie gefunden worden, lediglich eine umstrittene englische Übersetzung einer Abschrift von einer deutschen Kopie von den ketzerischen Frankisten in Prag.14 Die Gerüchte über die Proklamation trugen nichtsdestoweniger dazu bei, Napoleons Namen mit den orientalischen Juden und der Idee einer nationalen Befreiung des jüdischen Volkes zu verbinden. Die Wirkung der Gerüchte war so groß, dass die palästinensischen Juden im Jahr 1800 ein Rundschreiben an die jüdischen Gemeinden in Italien schickten und um Hilfe baten. Das nicht der Wahrheit entsprechende Gerücht, dass Napoleon ein eigenes Bataillon bestehend aus 12.000 freiwilligen orientalischen Juden habe, sorgte für große Probleme für die jüdischen Gemeinden in Palästina, die große Summen aufbringen mussten, um Repressalien zu vermeiden. Die Eroberung Jerusalems fand nie statt. Stattdessen wurden die französischen Truppen von der Pest heimgesucht. Napoleon zog seine Streitkräfte aus Syrien ab und kehrte heim – zu dem französischen Judenproblem.
Der Sanhedrin des Kaisers »Was die Juden betrifft, sind sie eine Nation für sich, eine Sekte, die sich mit keiner anderen vermischt: Wir haben Zeit, uns dem später anzunehmen.«15 Mit dieser Aussage 1801 im Conseil d’État hatte Napoleon signalisiert, dass die Juden nicht ohne Weiteres mit den anderen religiösen Gruppierungen in der Republik gleichgestellt werden konnten. Gleichzeitig setzte der Kommentar einen vorläufigen Schlusspunkt hinter die Diskussion über ein Problem, das seit der Emanzipation ungelöst geblieben war: Wie sollte das religiöse und soziale Leben der emanzipierten Juden in Frankreich organisiert werden? Erst fünf Jahre später, im Januar 1806, beschloss er, dass das Problem nicht länger vertagt werden konnte. Um die Unruhe zu beschwichtigen und Zeit zu gewinnen, erließ er am 30. Mai 1806 ein Dekret, das mit unmittelbarer Wirkung ein Moratorium von einem Jahr für alle Gerichtsurteile zugunsten jüdischer Gläubiger in Elsass-Lothringen einführte. Es wurde nicht zwischen legitimen und illegitimen Darlehen unterschieden, und die Konsequenzen für viele der jüdischen Kreditgeber sollten katastrophal sein. Gleichzeitig gab er be-
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kannt, dass er eine Versammlung von »Rabbinern, Landbesitzern und anderen Prominenten« zu einer großen Ratsbesprechung in Paris einberufen wolle. Der Beschluss war ein Kompromiss. Es herrschte keine Uneinigkeit darüber, dass die Wuchertätigkeit im Elsass beseitigt werden musste. Die Frage war wie. In einem Brief an den Kaiser hatte der Justizminister geäußert, dass diese delikate Frage im höchsten politischen Organ, das heißt dem Conseil d’État, behandelt werden müsse. In dem Brief argumentierte er dafür, dass die Tätigkeit der Juden im Elsass eigenen Gesetzen unterstellt werden müsse und dass gegenüber »den vielen ausländischen Juden, die sich jetzt im Land niedergelassen hatten, um Nutzen aus den Rechten der Franzosen zu ziehen, ohne dass sie irgendwelche der Pflichten der Bürger übernahmen«, eingegriffen werden müsse.16 Auch die Berichte der lokalen Behörden konstatierten, dass die Juden ihre Rechte missbraucht hätten. Anstatt sich assimilieren zu lassen, seien sie eine Nation aus Wucherern, Krämern und Schmarotzern geblieben. Emanzipierten sich die Juden nicht auch vom Judentum, müsse die Emanzipation aufgegeben und den Juden ihre durch das Gesetz geschützten staatsbürgerlichen Rechte entzogen werden. Überraschender für die Rechtsabteilung der Regierung war, dass der junge Sachbearbeiter Louis Mathieu Molé (1781–1855) in seiner Ausführung dieselbe Schlussfolgerung zog. Für den juristischen Verstand war es eine Selbstverständlichkeit, dass eine Einführung von Sondergesetzen für die Juden nicht nur willkürlich war und unangemessene Auswirkungen haben würde, prinzipiell wäre es auch sowohl mit der Verfassung als auch mit dem egalitären Geist der Revolution nicht vereinbar. Wie es einer der Anwesenden in einer Notiz zusammenfasste: Für Politiker und Juristen gab es keine Grundlage zum Zweifel. Das Gesetzeswerk ermöglichte, ausgehend von der Glaubensgemeinschaft, der sie angehörten, keine verschiedenartige Behandlung der Bürger. Das Glaubensleben eines Kreditgebers zu überprüfen, um festzustellen, ob er Anspruch auf Rückzahlung eines Kredits hat, ist mit Prinzipien ebenso unvereinbar wie mit Gewohnheit.17
Zudem wurde angeführt, dass das Problem weder auf das Elsass noch auf die Juden begrenzt war. Nehme man entsprechende Untersuchungen in der Region Paris vor, würde man vermutlich herausfinden, dass das Problem dort größer war, auch wenn es dort nur sehr wenige Juden gab. Der Kaiser sah dies jedoch anders: Die Regierung könne nicht still sitzen und zusehen, dass sie das Elsass plünderten. Die Juden müssten als ein Volk, nicht als eine
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Glaubensgemeinschaft betrachtet werden. Die Grundlage für den Hass der Juden auf das Christentum fand sich im Talmud, und die jüdischen Schulen und Rabbiner müssten unter Aufsicht gestellt werden. Die Juden seien potenzielle Spione und das Elsass eine Grenzregion. Sie auszuweisen sei indessen ein Ausdruck von Schwäche; sie zu verändern ein Ausdruck von Stärke. Nichts deutet darauf hin, dass die »deutschen«, »portugiesischen« und »italienischen« Juden, die vom Kaiser zu der Ratsbesprechung einberufen worden waren, sich im Klaren darüber waren, dass auf höchster politischer Ebene eine direkte Linie vom Talmud zur Wuchertätigkeit gezogen wurde und dass die Zukunft des Judentums im Kaiserreich auf dem Spiel stand. Napoleons Strategie war einem Kriegsherrn würdig. Das Judentum sollte von innen heraus reformiert werden, und die jüdischen Gemeinschaften sollten nach dem Vorbild der Kirchengemeinschaften hierarchisch organisiert werden, sodass sie als gehorsame Werkzeuge der Staatsmacht fungieren konnten. Der Plan beruhte auf einer Voraussetzung: dass es ihm gelang, die jüdischen Anführer des Landes zu absoluter Loyalität zu verführen und zu disziplinieren. Sie sollten selbst wählen dürfen: das Gesetz des Kaisers oder das Mosaische Gesetz. Am 26. Juli 1806 trafen sich die ausgewählten Juden zu einem vorbereitenden Gespräch, wobei Abraham Furtado zum Diskussionsleiter und Sprecher gewählt wurde. Insgesamt waren 111 Delegierte einberufen worden. Die Versammlung war ausgehend von zwei Aspekten zusammengestellt worden: Es war entscheidend sicherzustellen, dass die Mehrheit von ihnen verhandlungsbereit, liberal und aufgeschlossen war. Gleichzeitig musste die Versammlung repräsentativ genug sein, um demokratische Legitimität zu haben, und schriftgelehrt genug, um religiöse Autorität zu besitzen. Furtado war jahrelang die tonangebende Gestalt der sephardischen Juden gewesen, und zur Zufriedenheit der Kommissionäre erwies er sich in den Schriften Voltaires als besser bewandert als im Talmud. Aus demselben Grund genoss er bei den orthodoxen Juden ein entsprechend schlechtes Ansehen. Der Wille, geeint aufzutreten, war dennoch stark, und einer der bedeutendsten Sprecher der Elsass-Juden, Lippmann Cerf Berr vom Niederrhein, richtete im Rahmen des einleitenden Treffens einen starken Appell an die Teilnehmer, dass sie alle Streitigkeiten beiseitelegen sollten. Die Aufmerksamkeit aller Juden war auf das gerichtet, was jetzt in Paris geschehen sollte, und sie waren verpflichtet, dem Kaiser ihre Dankbarkeit
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zu erweisen: »Kein Staatsoberhaupt hat jemals etwas getan, das dem entspricht, was Napoleon jetzt für das Volk Gottes tut.« Damit sollte er mehr recht bekommen, als er ahnte. Drei Tage später wurde die Versammlung im Rathaus mit Trommelwirbel empfangen und von Napoleons neuem juristischen Günstling offiziell willkommen geheißen, der den Auftrag erhalten hatte, die Versammlung nach den Wünschen des Kaisers zu leiten. Molé erbat sich nun Antworten auf zwölf Fragen. Nicht einmal der großartige Rahmen konnte die Kränkung verbergen, die zwischen den Zeilen schlecht versteckt war. Alle Fragen kreisten um dieselbe übergeordnete Problemstellung: Ließen sich die Juden in die französische Gesellschaft integrieren? War dies mit der Lehre des Judentums vereinbar? Unter der Leitung des Oberrabbiners aus Straßburg, David Sintzheim, wurde eine zwölfköpfige Kommission eingesetzt, die den Auftrag erhielt, eine Skizze als Antwort auf die Fragen auszuarbeiten. Die Aufgabe war anspruchsvoll, nicht zuletzt, weil die Fragen nach autoritativen Antworten verlangten. Die fundamentale Trennlinie sollte wie erwartet zwischen zwei Fraktionen verlaufen, die die Kommissionäre als »die rabbinische« beziehungsweise »die philosophische« bezeichneten. Als einige Wochen später die Antworten vorlagen, hatte das orthodoxe Lager unter der Leitung von Sintzheim einen gewaltigen Kampf geführt, um keine Antworten zu akzeptieren, die ihrer religiösen Integrität widersprachen. Gleichzeitig hatten sie ihr Äußerstes getan, um ihre Loyalität gegenüber den zivilen und politischen Gesetzen des Landes zu bekunden. Hier war das talmudische Prinzip Dina d’Malkhuta Dina (Das Gesetz des Landes ist Gesetz) richtungsweisend gewesen. Mit ihrem großen Wissen und ihrer intellektuellen Flexibilität hatten mehrere der Rabbiner die Kommissionäre beeindruckt. Selbst Molé hatte das zugeben müssen. Der Bericht an den Kaiser war dennoch nicht frei von Sarkasmen. Nach Meinung der Kommissionäre waren einzelne der Antworten mit einer auffallend günstigen Auswahl an Quellen belegt – von Moses bis Maimonides –, ohne dass die unterschiedliche Autorität der Quellen eine Rolle spielte. Das war besonders hinsichtlich der Frage nach der Wuchertätigkeit ein Problem, wo die Versicherungen der Versammlung nicht glaubhaft waren. Der Kaiser aber zeigte sich zufrieden. Trotz allem waren dies nur Vorgeplänkel. Er hatte die Loyalitätserklärung bekommen, die er brauchte, um die Trumpfkarte in den Ring zu werfen.18
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Im Nachhinein betrachtet, waren die politischen Motive hinter der Wiedererrichtung des Großen Sanhedrin offensichtlich. In dem Moment waren der symbolische und der emotionale Effekt dessen, dass der Kaiser die historische Institution revitalisieren wollte, nichtsdestoweniger überwältigend, und er sorgte natürlich dafür, dass die Neuigkeit alle jüdischen Gemeinschaften in Europa erreichte. Der Rat sollte, wie in der Antike, aus 70 Weisen sowie einem Nasi bestehen, was von jeher die hebräische Bezeichnung für den Leiter des Rates war. Zwei Drittel der Mitglieder sollten Rabbiner sein. Um die Quote zu erfüllen, sollten 30 neue Rabbiner von den Synagogen in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Deutschland einberufen werden, als Ergänzung zu den Rabbinern, die bereits in der Versammlung saßen. Das letzte Drittel sollte aus den portugiesischen, deutschen und italienischen Laienvertretern der Versammlung gewählt werden. Die Generalversammlung, die an den Besprechungen in Paris teilgenommen hatte, sollte als das repräsentative Organ des jüdischen Volkes bewahrt werden, jedoch um zwei neue Rabbiner erweitert werden. Auf diese Weise würden jene, die an der ersten Runde teilgenommen und den Ernst verstanden hatten, die Möglichkeit haben, Einfluss auf die Streitsüchtigen oder Fanatischen auszuüben, wie die Kommissionäre es ausdrückten. Die Wahl stand zwischen der Akzeptanz der gegebenen Antworten und dem Risiko einer kollektiven Ausweisung des jüdischen Volkes. Am 4. Februar 1807 trafen sich die 70 Delegierten zur ersten Sitzung unter der Leitung von David Sintzheim. Wenn die Absicht bisher nicht klar gewesen war, dann wurde sie ihnen jetzt klargemacht. Der Kaiser wünschte sich von der Versammlung eine Neuformulierung der Antworten. Alle Unklarheiten sollten aus dem Weg geräumt werden. Er erwartete, dass die Darlehenstätigkeit im Elsass nicht nur explizit verurteilt wurde, sondern dass der Rat den Kaiser bat, ihnen mit jüdischen Sondergesetzen zur Hilfe zu kommen. Die Absicht hinter der Wiedererrichtung des Großen Sanhedrin war, dass die Maßnahmen kanonische Autorität erhalten sollten. Mithilfe gesetzmäßigen Zwangs seitens des Staates und religiöser Direktive aus dem Inneren ihrer eigenen Wissenstradition heraus sollten die Juden angelernt werden, französische Bürger erster Klasse zu werden und ihr Jerusalem in Frankreich zu finden. Im Großen und Ganzen bekam Napoleon das, was er wollte. Die Antworten, die gegeben wurden, wichen nicht groß von den Antworten ab, die die erweiterte Generalversammlung gegeben hatte, der Ton aber war
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ein anderer. Wo die Versammlung Ratschläge gegeben hatte, wurden jetzt Direktive erteilt. Es wurde eine klare Grenze zwischen politischen und religiösen Dekreten gezogen, die im jüdischen Gesetz freilich immer existiert hatte. Die Antworten auf die Fragen des Kaisers erhielten den Charakter von Verordnungen, die anschließend in die religiöse Gesetzgebung der Juden eingehen würden. In Fragen, die ihre religiöse Integrität berührten, hatten sich die orthodoxen Rabbiner dennoch nicht von der philosophischen Fraktion bedrängen lassen. Um sich Rückendeckung zu sichern, hatte David Sintzheim durchweg im Austausch mit mehreren der bedeutendsten rabbinischen Autoritäten Europas gestanden. Nur in einem Punkt – in der Frage über Mischehen – hatte er den Schluss ziehen müssen, dass es keine Grundlage in der Tradition der jüdischen Lehre gab, um die Erwartungen des Kaisers zu erfüllen.
Das Schanddekret Als die Sitzungsperiode im April desselben Jahres aufgelöst wurde, hatte Abraham Furtado in Vertretung der gesamten Versammlung geschlussfolgert: »Wir stellen keine Nation mehr in der Nation dar. Frankreich ist unser Land.«19 Das war mehr als eine schöne Floskel. Die Agenda des Kaisers hatte, neben den zwölf impertinenten Fragen, eine lange Liste mit Maßnahmen beinhaltet, die er den Großen Sanhedrin bat, als Beitrag zur »Regenerierung« der Juden zu akzeptieren. Es handelte sich um neue Richtlinien zur Organisation der jüdischen Gemeinschaft in verschiedenen Synagogen und Konsistorien. Jede Synagoge – der Begriff wurde sowohl für die Gemeinde als auch für das Gotteshaus an sich verwendet – sollte aus mindestens 2000 Mitgliedern bestehen. Das zentrale Konsistorium wurde nach Paris gelegt, während sich die Hauptsitze der regionalen Konsistorien in den Städten mit der größten jüdischen Bevölkerung befinden sollten. Absicht der Umorganisation war, deutlich zu machen, dass das Judentum jetzt eine tolerierte Religion, auf einer Ebene mit dem Protestantismus, war. Deshalb erhielten die Rabbiner, nach protestantischem Muster, erweiterte Vollmachten als geistige und administrative Anführer der Gemeinden. Das hatte aber auch den Zweck, den zentralen Behörden eine ganz andere Kontrolle über die jüdische Bevölkerung zu sichern als über die protestantische. Die Konsistorien sollten aktiv dafür arbeiten, unter den Mitgliedern der
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Synagoge den patriotischen Bürgergeist zu fördern, die Wuchertätigkeit zu verurteilen und sie dahingehend zu beeinflussen, ehrenwerte Berufe zu ergreifen. Neuankommende Juden waren verpflichtet, sich innerhalb von drei Monaten nach der Ankunft zu registrieren, und es war Aufgabe des Konsistoriums, laufende Kontrolle darüber zu haben, dass alle Juden ihrer gesetzlich auferlegten Wehrpflicht nachkamen. Gleichzeitig sollte den Juden, als einziger Bevölkerungsgruppe, das Recht entzogen werden, für Ersatzsoldaten zu bezahlen. Mehrere der Maßnahmen waren demütigend und brachen mit dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Während der Erörterungen begegnete ihnen teils kräftiger Widerstand, und auch innerhalb der fran zösischen Staatsverwaltung waren sie umstritten. Im März 1808 kam es zu der Verordnung, die seither nur unter dem Namen Le décret infâme – das Schanddekret – bekannt ist. Die insgesamt drei Dekrete, die am 17. März bekanntgegeben wurden, fassten in einer offiziellen Sprache Napoleons Misstrauen gegenüber den Juden zusammen: Die ersten beiden Gesetze behandelten die Umorganisation der jüdischen Religion in Frankreich. Die Juden sollten selbst für die Entlohnung ihrer Rabbiner verantwortlich sein. Das, obwohl sie vom Staat besteuert wurden, um die Kosten für andere religiöse Gemeinschaften zu decken. Die erweiterte Versammlung, die Generalversammlung der Juden, sollte vom Innenminister ernannt werden, nach Rat vom zentralen Konsistorium. Und die Mitglieder des ersten zentralen Konsistoriums sollten vom Kaiser persönlich ernannt werden, nach Rat vom Religionsminister. Dem Kaiser war es mit anderen Worten nicht gelungen, sich zu entscheiden, ob die Juden in ihrer Eigenschaft, Franzosen mit jüdischer Lebensanschauung zu sein, unter die Zuständigkeit des Religionsministeriums fielen, oder ob sie in ihrer Eigenschaft, Juden zu sein, die den Wunsch hatten, französische Staatsbürger zu sein, unter die Zuständigkeit des Innenministeriums gehörten. Es war jedoch das dritte der Dekrete, welches die skandalösen Verordnungen enthielt. Das Dekret beendete den Aufschub der Schulden bei jüdischen Gläubigern, im Gegenzug wurde den Juden aber auferlegt, zu beweisen, dass die Verträge bezüglich der Darlehen gemäß guter Geschäftssitte geschlossen worden waren. Wichen die Darlehen von der in dem Dekret festgelegten Norm ab, wurden sie getilgt. Dasselbe traf zu, wenn die Zinsen höher als zehn Prozent waren. Waren sie niedriger, wurden sie auf fünf Prozent re-
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duziert. Gleichzeitig wurden Regeln eingeführt, die im Detail das Recht der Juden auf das Betreiben von Handel und die Ansiedlung regulierten. Kein Jude, der nicht bereits im Elsass lebte, würde die Erlaubnis erhalten, sich dort niederzulassen. Kein Jude, der nicht bereits im Land wohnte, würde die Möglichkeit erhalten, sich andernorts niederzulassen, es sei denn, er war bereit, Bauer zu werden. Die staatsbürgerlichen Rechte, die die französischen Juden 17 Jahre zuvor erhalten hatten, konnten nicht mehr als selbstverständlich betrachtet werden. Die Verordnungen wurden mit rückwirkendem Inkrafttreten und für einen Zeitraum von zehn Jahren eingeführt, wonach sie einer erneuten Bewertung unterzogen werden sollten. Indessen gab es die Möglichkeit auf Ausnahmen, und die sephardischen Juden in Bordeaux sollten kollektiv von den Bestimmungen ausgenommen werden. Wenige Wochen später kam es zu einem Ausnahme-Ersuchen der Pariser Juden. Der Innenminister gab eine Untersuchung in Auftrag, die ergab, dass lediglich vier von 2534 Pariser Juden der Wucherei angeklagt worden waren. Mehr als 150 leisteten ihren Dienst im Heer ab, mehrere von ihnen hatten sich ausgezeichnet. Ins Gewicht fiel auch, dass viele der Delegierten während der Erörterungen im Sanhedrin aktiv die Standpunkte des Kaisers unterstützt hatten. Auf dieser Grundlage willigte der Kaiser ein, sie von den Bestimmungen auszunehmen. Napoleons Sanhedrin verschwand aus der Geschichte ebenso schnell, wie er hineingekommen war. Er war ein grandioses theatrales Manöver, das seinem Zweck gedient hatte: der administrativen Revolution religiöse Autorität sowie einen Anschein von Legitimität zu verleihen. Mit der Einführung der jüdischen Sondergesetze verschwand die Bewunderung, die viele der französischen Juden für den Kaiser gehegt hatten. Für die Juden in den von Frankreich besetzten Gebieten Europas war die Situation eine etwas andere. Was die Zeit Napoleons ihnen an religiöser Toleranz, Gleichheit vor dem Gesetz und politischen Rechten gegeben hatte, wurde ihnen wieder genommen. Die Legende von der großen Befreiung war alles, was ihnen blieb. Im Laufe dieser Jahre hatten viele Juden ihr Leben auf den Schlachtfeldern des Kaisers verloren. Die italienischen Juden blieben seine vielleicht loyalsten Untertanen. Selbst während des Rückzugs aus Moskau, der wechselweise als ein »Geisterzug« und »letzter Akt in einem dunklen Trauerspiel« geschildert wird, wird von hebräischen Psalmen erzählt, die rund um das Lagerfeuer zu den Tönen der Marseillaise gesungen wurden. Es war aber nicht nur die
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problematische Identifikation mit den Okkupanten, die dazu beitrug, dass die Emanzipation in vielen der jüdischen Gemeinschaften Europas nicht als ein ungeteiltes Gut aufgenommen wurde. Für die Schriftgelehrten und die frommen Juden orthodoxer Observanz drehte sich der Kampf ums Dasein nicht nur um das Überleben der Juden, sondern ebenso sehr um das des Judentums. Zusammengefasst wird das Dilemma im Kommentar des Rabbiners Shneur Zalman zu der bevorstehenden Schlacht zwischen dem Kaiser und dem Zar: Wenn Bonaparte siegt, werden die Reichtümer der Juden wachsen und ihre bürgerliche Stellung wird sich verbessern, im Gegenzug werden sich ihre Herzen aber von unserem himmlischen Vater abwenden; siegt hingegen Alexander, werden sich die jüdischen Herzen unserem himmlischen Vater nähern, obwohl die Armut Israels zunehmen und ihre Stellung sich verschlimmern wird.20
»Israeliten« und »Juden« Bekanntermaßen siegte Bonaparte in Moskau nicht, die bürgerliche Stellung der Juden verbesserte sich nach und nach aber doch. Unter den vielen Fragen, die während der Debatte in Frankreich aufgeworfen worden waren, war auch jene danach, wie man die befreiten Juden bezeichnen sollte. Selbst der Begriff »Jude« war historisch belastet, und es war Berr Isaac Berr, der in dem Bestreben zur »Regenerierung« der Juden beizutragen, sich 1805 dafür aussprach, den Begriff aus dem Wortschatz zu entfernen und stattdessen die Bezeichnung »Hebräer« oder »Israelit« einzuführen. Die Bezeichnungen waren nicht neu, sie zu verwenden, war bereits im 18. Jahrhundert versucht worden, jedoch ohne irgendeinen größeren Durchbruch. Seitens Berrs lag darin kein Wunsch, Abstand von seiner traditionellen jüdischen Identität zu nehmen. Sein Israélite war kein schlechterer Jude, es war vielmehr eine Frage, den Rest der Gesellschaft dazu zu bringen, ihn als einen besseren Franzosen zu betrachten. Späterhin wurde Israélite zur Bezeichnung des modernen, assimilierten französischen Juden. Neuere Forschung hat jedoch dokumentiert, dass es falsch war zu glauben, dass der Israelit seine französische Identität von der ersten Stunde an als wichtiger als seine jüdische ansah und dass die Verwendung des Begriffs darauf hindeutet, dass das Judentum bereits ab der Napoleonzeit auf ein engeres religiöses Anliegen reduziert war.21
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Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt der Begriff diese Bedeutung – mit rückwirkender Kraft. Er gehört der Zeit während und nach der Dreyfus-Affäre an. Während die legale Emanzipation in Frankreich schnell und revolutionär vonstattenging, erfolgte die politische und soziale Assimilation langsam. In der Realität war der Israélite des 20. Jahrhunderts das Ergebnis einer organischen Akkulturation, die sich über mehrere Generationen erstreckte. Erst in der Mitte des Jahrhunderts kann man im Streit um den Sprachgebrauch an sich einem Loyalitätskonflikt nachspüren. Einzelne Rabbiner beklagten da die Tendenz, dass Française Israélite (israelitische Franzosen) den Israélite Française (französischen Israeliten) vorgezogen wird. Das klingt spitzfindig, wurde jedoch als eine Warnung gelesen, dass französische Juden den Wunsch hatten, mehr Gewicht darauf zu legen, dass sie Franzosen waren, als dass sie Juden waren. Trotz dieser Befürchtung vergaßen nicht einmal die Anpassungswilligsten unter ihnen, dass sie Juden waren. Aber sie waren Juden auf verschiedene Weisen, in hohem Maße davon abhängig, welcher jüdischen Gemeinschaft sie angehörten.22 Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch wurden die Begriffe »Israelit« und »Jude« von allen kongruent verwendet, außer von den Antisemiten, die sich konsequent an den Begriff »Jude« hielten. Das trug dazu bei, dass ihnen Bernard Lazare in seinem Artikel Juifs et Israélites von 1890 entgegenkam, indem er die französischen Israeliten, die das Land »ein paar Jahrtausende« bewohnt hatten, von allen Lastern freisprach, die er den einwandernden Juden aus Ost- und Zentraleuropa zusprach. Wie radikale deutsche Juden im Pariser Exil beobachten konnten, waren die emanzipierten Israeliten des 19. Jahrhunderts besser in die französische Gesellschaft integriert, als sie selbst es in ihrem Heimatland gewesen waren.23 Wenn es darauf ankam, ging es aber ebenso sehr darum, französisch unter jüdischen Prämissen zu sein wie Israélite unter französischen Prämissen. Trotz der vielen Rückschläge im Jahrhundert der Emanzipation war es für sie mehr eine Frage der »doppelten Ergebenheit« als eine Frage der »doppelten Loyalität«.24
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Überall dort, wo das Judentum als Glaubensgemeinschaft und die Juden als Bürger anerkannt wurden, entstanden neue Formen des Zusammenlebens mit der Kultur der Mehrheitsgesellschaft. Die administrative Vernunft der Napoleonzeit hatte nachhaltige Spuren hinterlassen, der jüdische Patriot des Kaisers sollte jedoch ein mit Argwohn beäugter Tugendbold bleiben. Die Vorstellung, dass die Juden eine Nation in der Nation darstellten, existierte weiter. Nachdem sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die romantische Verehrung der Nation in Europa ausbreitete, verstärkte sich ganz im Gegenteil die Vorstellung einer angeblichen jüdischen Gefahr. Der Übergang von einem religiös zu einem rassistisch begründeten Antisemitismus fand nicht durch einen radikalen ideologischen Durchbruch statt. In Deutschland wurde er über mehrere Jahrzehnte mit antijüdischem Nationalismus vorbereitet. Die Kritik am Judentum als Antithese zum Deutschtum wurde dabei zum Mittel der Nationsbildung. Je deutlicher Juden eine deutsch-jüdische Kultur artikulierten, desto frenetischer wurden die Versuche, eine angebliche jüdische Kolonisierung des Geisteslebens aufzuspüren und zu widerlegen. Das war kein Streit zwischen »Deutschen« und »Juden«. Das deutsche Bildungsideal war im Ausgangspunkt ein inkludierendes Konzept, und die jüdische Akkulturation entwickelte neue Formen der deutsch-jüdischen Identität. Streng genommen drehte sich der Streit daher darum, was es hieß, »deutsch« zu sein.1
Der Rechtsstatus der Juden Deutschland nach den Napoleonischen Kriegen war kein Reich, es bestand aus 36 Staaten und einer Reihe freier Städte. Und ebenso vielfältig waren die Variationen im Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung. In einigen Staaten, in denen die Emanzipation eigentlich zu kurz gekommen war, war sie nach
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dem Wiener Kongress 1815 am stärksten, weil sie nicht auf die Bajonettspitzen geraten war. Allen voran galt das für die preußische Hauptstadt Berlin, wo die Fahne der Emanzipation bereits vor der Revolution in Frankreich gehisst worden war. Es war das deutsche Denken der Aufklärung – präziser das von Christian Wilhelm von Dohm –, von dem sich ein Aktivist wie Abbé Grégoire viel von seiner Munition für die französische Debatte geholt hat. Dohms liberale Verteidigung der Juden hatte sich allerdings auf einen Kampf für ihre zivilen Rechte beschränkt: Die Juden sollten mit den Deutschen als Bürger gleichgestellt werden, nicht als Staatsbürger. Eine solche Unterscheidung kann als Erinnerung daran dienen, dass wir mit Begriffen, die einen Bedeutungswandel durchlaufen haben, vorsichtig sein müssen. Einige der vielen Widersprüche, auf die man bei der Lektüre zeitgenössischer Texte stößt, lösen sich auf, wenn man ihnen genauer auf den Grund geht. Allen voran muss man sich im Klaren darüber sein, welche ganz konkreten Rechte diskutiert werden, wenn man abwechselnd von Menschenrechten, bürgerlichen Rechten und politischen Rechten spricht. Heutzutage werden diese Begriffe synonym verwendet, ohne irgendeine besondere semantische Unterscheidung. Das Ganze fällt unter die Menschenrechte. Darauf, dass es sich in der deutschen Debatte nach dem Wiener Kongress anders verhielt, verweist Ludwig Börne in seinem Essay Der ewige Jude aus dem Jahr 1821: Daß sich aber Menschenrecht von Zivilrecht, religiöse von politischer Duldung so unterscheiden solle, daß man Ansprüche auf das eine haben könne ohne auf das andere, dem widerspreche ich. […] Was ihr Menschenrechte nennt, das sind nur Tierrechte: das Recht, seine Nahrung aufzusuchen, zu essen, zu verdauen, zu schlafen, sich fortzupflanzen. Diese Rechte genießt auch das Wild auf dem Felde – bis ihr es erlegt, und diese wollt ihr auch den Juden lassen. Die Bürgerrechte, diese allein sind Menschenrechte; denn der Mensch wird erst in der bürgerlichen Gesellschaft zum Menschen. Er wird darin geboren, er wird also als Bürger geboren. Dieses ist der Grundsatz Englands, Frankreichs und jedes freien Staates.2
Heute hat Börnes Position längst gesiegt, die politischen Rechte bilden das Fundament der Menschenrechte. Wenn man daher aus der Debatte herausliest, dass die Menschenrechte etwas waren, dem die meisten ihre Zustimmung geben wollten, ungeachtet dessen, ob sie das Judentum bewunderten oder verachteten, muss man wissen, was das bedeutete. Es bedeutete, dass der gewöhnliche Jude sie nicht als gegeben ansehen konnte, obwohl es sich
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um Rechte handelte, über die man sich im Namen des Gesetzes einig war. Es bedeutete nur, dass die Juden nicht geächtet waren. Juden hatten Anspruch auf den Schutz des Gesetzes, weil eine Verletzung ihrer Menschenrechte eben auch eine Verletzung des generellen Strafgesetzes sein würde. Die zivilen Rechte waren aber weitaus komplizierter. Es waren diese, um die sich der Streit in der Emanzipationsdebatte so lange drehte. Es ging nicht so sehr darum, ihnen Rechte zu geben, wie darum, Restriktionen zu beseitigen, die verhindert hatten, dass die Juden Seite an Seite mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung agieren konnten. Es ging nicht so sehr darum, ihnen Rechte zu geben wie darum, Restriktionen zu beseitigen. Diese Einschränkungen konnten von Staat zu Staat variieren, in der Regel drehte es sich jedoch um die Steuergesetzgebung, den Siedlungszwang innerhalb der Ghettomauern, eigene Gesetze, die das Recht auf Eheschließung einschränkten, die Berufswahl, die Finanz- und Geschäftstätigkeit regulierten, sowie das Recht zum Erwerb von Eigentum. Die politischen Rechte hingegen waren den Staatsbürgern vorbehalten. Wollte man ein politisches Amt bekleiden, in der Staatsverwaltung oder bei Gericht arbeiten, reichte es nicht aus, nur Bürger zu sein. Viele der profilierten intellektuellen Juden, die sich im Laufe der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts taufen ließen, taten dies, weil sie ansonsten als Juristen praktisch unter einem Berufsverbot gelitten hätten. Nach dem Gesetz konnten Juden, die über die nötigen Mittel verfügten, bestimmte Berufsfelder wie das Rechtswesen studieren, diese Berufe dann aber nicht praktisch ausüben, beispielsweise als Jurist vor einem Gericht. Heinrich Heine ist hierbei nur das berühmteste Beispiel. Politische Rechte standen bei Dohm nicht auf der Tagesordnung. Wie es aus dem Buchtitel Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) hervorgeht, war es eine Doppelagenda: Die Verbesserung der Bedingungen der Juden sollten zu einer Verbesserung des angenommenen lasterhaften moralischen Charakters der Juden beitragen. Der durchgehende Tenor bei den Fürsprechern der Emanzipation der Juden war: Nicht der Verfall stand zur Debatte, der galt als unbestreitbar, es waren die Ursachen. Den Liberalen zufolge lagen diese in den demütigenden rechtlosen Bedingungen, denen die Juden unterworfen waren. Inspiriert vom Beispiel Moses Mendelssohns, von der aufgeklärten Toleranz eines Lessings und dem Programm Dohms, die Juden mit der deutschen Bürgerschaft zu verschmelzen, arbeiteten Hofjuden, liberale Publizisten und Beamte dafür, die Bedingungen der Juden zu verbessern. Diese Sichtweise war weitestgehend unabhängig von der
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Einführung des französischen Rechtsregimes in den deutschen Vasallenstaaten herangereift, wo die Verwaltung der universellen Werte der Revolution mit einem despotischen Willen zur Macht kombiniert wurde. Die hohe Schwelle zur Ungleichbehandlung auf religiöser und ethnischer Grundlage lief ebenso sehr darauf hinaus, die Verwaltung des Staates effektiver zu gestalten, wie darauf, jakobinischen Gleichheitsidealen nachzukommen. Sie ging allerdings mit einer äußerst niedrigen Schwelle bei der Akzeptanz politischer Meinungskonflikte einher. Ein illustrierendes Beispiel, das auch für die Sicht vieler Deutscher auf die französische Freiheitsrhetorik Bedeutung erlangen sollte, war die Behandlung eines Buchhändlers, der im Frühjahr 1806 unter dem Titel Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung anonym eine Flugschrift herausgegeben hatte. Die unbedeutende Schrift erweckte Aufsehen, auch auf Seiten der französischen Polizei. Es wurde die Auslieferung des Buchhändlers verlangt. Er wurde wegen Aufwiegelung vor ein französisches Kriegsgericht gestellt und am 26. August 1806 erschossen. In der historischen Darstellung Unser Jahrhundert heißt es im Rückblick, dass die Gewalttat in ganz Deutschland für Aufsehen sorgte: »Der mit ruhmgekrönte Kaiser hatte eine Schuld auf sich geladen, welche ihm das deutsche Volk nicht vergaß.«3
Deutsch-jüdische Salonkultur Fünfzehn Jahre waren seit der Judenemanzipation in Frankreich vergangen. Und selbst wenn die Emanzipation in Preußen ausgeblieben war, so hatte doch in Teilen der Gesellschaft eine reale Assimilation stattgefunden. Diese vollzog sich zuerst unter jenen, die sich ganz unten auf der Rangleiter befanden, den sogenannten Betteljuden. Sie verfügten über keinerlei Mittel, um sich irgendeine Form von Schutz zu erkaufen, und führten folglich ein Leben als Landstreicher, weshalb sie auch unter der etwas romantischeren Bezeichnung Wanderjuden bekannt waren.4 An den meisten Stadttoren wurden sie abgewiesen, und weil religiöse Gründe sie daran hinderten, als Söldner Dienst zu leisten – der einzige Beruf, der den Unglücklichsten der Gesellschaft offen stand –, blieb den Ärmsten unter ihnen nur die Wahl zwischen einem Leben auf Almosen der bessergestellten Juden oder dem Stehlen. Unter den umherstreifenden Räuberbanden, die die deutschen Dörfer heimsuchten, finden wir die erste Form des symbiotischen Zusammen-
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lebens von Juden und anderen marginalisierten Gruppen. Es wird erzählt, dass es nicht unüblich war, dass diese Banden mehr als nur einen Anschein ihrer frommen Gewohnheiten wahrten: Das Essen war koscher, Schwein wurde nicht angerührt, und die Raubzüge fanden unter der Woche statt. Der Sabbat galt auch bei ihnen als Ruhetag. In seinem ergreifenden Porträt des deutsch-jüdischen Zusammenlebens, The Pity of It All, weist Autor Amos Elon darauf hin, dass der Jargon in der deutschen Unterwelt eine Zeit lang stark von jiddischen Ausdrücken geprägt war: ganevenen (stehlen), gelokachte Sachen (Diebesgut), Mosser (Spitzel), Schmiere stehen (Wache halten). Wir werden später sehen, dass die umherstreifenden Juden geeignet waren, die Fantasie der Romantik zu ständig neuen Nachdichtungen der Mittelaltersage um den ewigen Juden anzuspornen. Die preußische Verwaltung verhielt sich dem Problem gegenüber jedoch praktisch. Die Gesetzgebung vor der Emanzipation bestätigte, dass es sich um eine Pariakaste in einem rechtlosen Volk handelte. 1783 wurde gesetzlich ihre Ausweisung beschlossen. Also waren es auch nicht diese Juden, die Dohm im Hinterkopf hatte, als er sein emanzipatorisches Manifest vorlegte. Und das ist die andere Abgrenzung, die man in dem preußischen Emanzipationsprogramm ziehen muss. Es waren die Mendelssohns der deutschen Welt, diejenigen, die sich trotz ihrer beschämenden Bürde mit der befreienden Kraft der Gedanken von den Fesseln der Tradition losgerissen hatten, die Anspruch auf zivile Rechte hatten. Viele dieser »außergewöhnlichen« Juden sollten sich bald im intellektuellen Leben Berlins geltend machen. Ein ebenso verblüffendes Phänomen waren die literarischen Salons, die ihre Teilnehmer aus der feinen Gesellschaft, jedoch quer über religiöse und standesgemäße Barrieren hinweg rekrutierten, die nur wenige Jahre zuvor unüberbrückbar gewesen sind. Eine neue Generation von Juden – und Jüdinnen! – hatte sich eigenständig zu Gastgebern der Berliner Bürgerschaft gemacht. Ebenso wie Mendelssohn waren sie wissenshungrige Bewunderer der deutschen Hochkultur, aber im Unterschied zu ihm fühlten sie sich nicht verpflichtet, diese mit der jüdischen Tradition zu versöhnen. Sie waren weitaus hellhöriger für die deutsche Verachtung des Jüdischen. Viele von ihnen kappten im späteren Leben die Verbindungen zum Judentum, ohne dass es ihnen dadurch gelang, sich von einem Leben in Selbstverachtung zu befreien. Die legendärste dieser Gastgeberinnen war Rahel Levin, die später für ihre weitreichende Korrespondenz mit der geistigen Elite Europas in Er-
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innerung bleiben sollte. Von den etwa 10.000 Briefen, die sie – nach ihrer Heirat mit dem preußischen Diplomaten August von Varnhagen – unter dem Namen Rahel Varnhagen schrieb, sind mehr als 6000 bewahrt. Der romantische Poet Jean Paul berichtete, wie Akademiker, Juden, Offiziere, preußische Bürokraten, Adlige und andere, die einander sonst an die Kehle gingen, alle Streitigkeiten beiseitelegten, wenn sie sich bei Rahel Levin zum Tee trafen.5 Rahel, wie sie bei ihren vielen Bewunderern nur hieß, repräsentierte in keinster Weise alle jüdischen Frauen ihrer Zeit, ihre romantische Schwärmerei für die deutsche Bildung und Innerlichkeit sowie ihre jüdische Selbstverachtung waren jedoch in der ersten Generation assimilierter Berliner Juden nicht einzigartig. Ebenso wie viele andere von ihnen, unter anderem vier von Moses Mendelssohns Kindern, ließ sie sich taufen, ohne dass sie es dadurch schaffte, das auszuradieren, was sie selbst als »den Text meines gekränkten Herzens« beschrieb, und was ihr jüngerer Freund, der Dichter Heinrich Heine, als »Judenschmerz« bezeichnete. Ihr Salon war der erste der jüdischen literarischen Salons, die im Zuge des Vierten Koalitionskrieges 1806/07 geschlossen wurden. Keiner von ihnen überlebte die totale Demütigung der Nation. Begonnen hatte die nationalistische Schwärmerei in den Jahren vor dem Krieg, sie nahm in der Stunde der Niederlage jedoch ganz neue Dimensionen an. Die bessergestellten Juden waren preußische Patrioten, und in einer schlecht verborgenen Hoffnung, dass der Einsatz auf dem Schlachtfeld zur endgültigen Loyalitätsprobe werden sollte, hatten jüdische Anführer von Pathos erfüllte Aufforderungen an die Jugend gerichtet, sich anwerben zu lassen: »Hand in Hand mit deinen Mitsoldaten wirst du den Auftrag erfüllen; sie werden dir nicht das Recht verweigern, ihr Bruder genannt zu werden, denn du wirst dich dem verdient gemacht haben.«6 Im Rückblick erscheint dies unbestreitbar als ein Paradox: Im Kampf gegen die Befreier der europäischen Juden hatten die Juden unter den preußischen Patrioten in der ersten Reihe gestanden. Und als sie den Kampf gegen Napoleon verloren, verloren sie gleichzeitig auch den Zugang zu einer nationalen Gemeinschaft, die sich selbst verschloss. In den neuen Salons, die in Berlin eröffneten, hatten christliche aristokratische Nationalisten die Rolle der Gastgeber inne. Juden waren nicht willkommen.7
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Emanzipation und Rückschlag In der Schlacht bei Jena und Auerstedt hatte die preußische Militärmacht ihre demütigendste Niederlage aller Zeiten erlebt. Die Staatsverwaltung war nach Königsberg vertrieben worden. Es war ein stark amputierter Staat, der im Jahr darauf als Ergebnis von Napoleons Kuhhandel mit Zar Alexander entstand. Preußen musste die Hälfte seiner Länder abtreten, lediglich Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern und Schlesien verblieben. Der Frieden von Tilsit beendete vorübergehend Preußens Kontrolle über die polnischen Gebiete in Posen sowie Preußens Stellung als europäische Großmacht.8 Ein enorm großer Anteil der ärmsten Juden Preußens waren polnische Juden gewesen. Nach dem Frieden von Tilsit wiesen die preußischen Kerngebiete noch eine jüdische Bevölkerung von insgesamt etwas mehr als 30.000 Personen auf. Der Kanzler von Restpreußen, Karl August von Hardenberg (1750–1822), ebenso wie der Minister für das Bildungswesen, Wilhelm von Humboldt (1767–1835), standen in der Tradition Dohms und hatten wenig Sinn für die Ausbreitung eines revolutionären Nationalismus, das Regime jedoch, dem sie angehörten, war kein liberales. Die Niederlage bei Jena hatte dennoch den Weg für eine Aufweichung der stark restriktiven Gesetzgebung als ein Glied dringend benötigter Reformen geebnet. Die Reformen sollten wirtschaftliches Wachstum sichern und ein effektiveres Militärwesen sowie eine größtmögliche Mittelklasse von loyalen Bürgern schaffen. In der Debatte über die Rechte der Juden erschienen die Reformer als liberale Leuchttürme, aber es war ein Kampf, der im Zeichen des preußischen Patriotismus stand. Ihre Argumente bezogen sich in instrumenteller Weise auf den preußischen Staat und nicht in prinzipieller Weise auf das Individuum. War es seit der Zeit Dohms zu einer gewissen Entwicklung gekommen, war dies also eher pragmatischen anstatt prinzipiellen Faktoren geschuldet. Eine bahnbrechende Reform hatte bereits 1800 stattgefunden, als eine alte gesetzliche Bestimmung dahingehend, dass alle Juden für die Handlungen eines Einzelnen kollektiv verantwortlich gemacht werden sollten, gestrichen wurde. In der Praxis hatte das bedeutet, dass die Leiter der jüdischen Gemeinden von den Behörden als Bürgen eingesetzt wurden, um abzusichern, dass geringer bemittelte Juden ihren Verpflichtungen nachkamen. Das hatte zur Aufrechterhaltung einer strengen sozialen Kontrolle beigetragen: Von außen waren die jüdischen Gemeinden von feindlichen
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Behörden überwacht, im Binnenverhältnis kontrollierte die Gemeindeführung ihre Mitglieder, lief aber selbst Gefahr, für die Sünden anderer büßen zu müssen. Die Bestimmungen, die das jüdische Leben in Preußen reguliert hatten, waren im Revidierten General-Privilegium und Reglement Friedrichs II. von 1750 festgehalten. Dieses balancierte zwei grundverschiedene Vorstellungen aus. Im Prinzip waren Juden unerwünscht, die wohl habendsten unter ihnen waren jedoch begehrte Steuerzahler. Die Tradition, zwischen nutzlosen Juden und sogenannten Schutzjuden, die Anspruch auf den Schutz des Regenten hatten, zu unterscheiden, reichte bis ins 13. Jahrhundert zurück.9 Die Besteuerung und Kontrolle der jüdischen Untertanen war in all den Jahren äußerst umfassend gewesen, und sie beinhaltete für die Juden eine drastische Einschränkung der Freiheit: Sie hatten kein Recht, zu reisen, kein Recht, sich niederzulassen, und – von allen am wichtigsten – kein Recht, eine Familie zu gründen. Übergeordnetes Ziel des Gesetzes war es abzusichern, dass das Wachstum der jüdischen Bevölkerung in Schach gehalten, und bestenfalls reduziert wurde. Auch sollte möglichst nur ein erwünschter Teil der jüdischen Bevölkerung verbleiben. Jetzt, nachdem die Emanzipation andernorts auf dem Kontinent die Lebensbedingungen der Juden veränderte, wurde es notwendig, die Rahmenbedingungen zu ändern, um sich die Loyalität der besten Steuerzahler zu sichern.10 Die Aufhebung des Prinzips der kollektiven Schuld war der erste Schritt auf dem Weg hin zur Emanzipation der preußischen Juden. Ernsthaft Fahrt nahm die Arbeit an der Gesetzesänderung, die der alten feudalen Regelung ein Ende bereiten sollte, auf, als sich die Regierung 1907 im »Exil« in Königsberg befand. König Friedrich Wilhelm III. verwarf jedoch einen Entwurf nach dem anderen. Die Emanzipation der Juden war teils eine Konsequenz aus den übrigen Reformen, teils Ausdruck eines Wunsches, sich des Judenproblems zu entledigen. Es sollte fünf Jahre dauern, bis Hardenberg mit seinen Reformen ans Ziel gelangte. Gemeinsam mit Wilhelm von Humboldt hatte er dafür gearbeitet, dass den Juden, oder besser gesagt, einer gehobenen sozialen Schicht, volle politische Rechte eingeräumt wurden. Das ging nicht ohne Kampf vonstatten. Baron von Stein, einer der anderen Architekten der Staatsreformen, soll dem Wunsch Ausdruck verliehen haben, dass diese »parasitischen Gewächse« stattdessen Afrika kolonisieren sollten.11 Eine Reihe fantasievoller Vorschläge hatten zur Debatte gestanden: Damit die »Entjudung« schneller vonstattenging, war ein Verbot des Barttragens vorgeschlagen worden. Demselben Geiste folgte auch ein Vorschlag,
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religiöse, nicht-christliche Riten zu verbieten. Andere wollten die alten Strafregelungen für Wirtschaftsverbrechen beibehalten. Einen ganz eigenen Streitpunkt bildete der more judaico, ein demütigender Eid, der Juden, die im Rahmen von Gerichtsprozessen als Zeugen aussagen sollten, von jeher auferlegt war und der sich in äußerst bizarren theatralischen Formen äußerte und der auch die Revolution und die Emanzipation in Frankreich überlebt hatte. Weil bei Juden Verlogenheit vorausgesetzt wurde, wurden ihre Zeugenaussagen zunächst nicht berücksichtigt. In Situationen, wo es keine anderen Zeugen gab, und man nicht um sie herum kam, wurde daher von ihnen verlangt, einen eigenen jüdischen Eid abzulegen, gern auf einer Torarolle in einer Synagoge und in Anwesenheit eines Rabbiners. Als diese Frage während der Vorbereitungen zur Gesetzesänderung in Preußen aufkam, appellierte der Sprecher der jüdischen Gemeinschaft in Berlin, Moses Mendelssohns Nachfolger Saul Friedländer, verärgert, dass nur die Gleichheit vor dem Gesetz den schädlichen und beschämenden Vorurteilen ein Ende bereiten könne, zu deren Aufrechterhaltung der Eid beitrage. Auch der Richterstand hatte Proteste geäußert. Nach und nach sollten sich die Richter in Posen weigern, Kriminalfälle zu verhandeln, bevor die gesetzlichen Bestimmungen nicht geändert waren, die es Christen in der Praxis gar gestatteten, Juden in Synagogen zu ermorden, weil den Erklärungen der Zeugen ohnehin kein Gewicht beigemessen wurde. Das Problem in Preußen war der christliche Charakter des Staates. Die Juden waren daher vom Eid entbunden, er wäre ja so oder so wertlos. Die Frage war, wie man sicherstellen konnte, dass sie nicht alle Glaubwürdigkeit verloren.12 Preußen erhielt im gesamten deutschen Gebiet die nunmehr liberalste Gesetzgebung, und das sollte bis zum Revolutionsjahr 1848 so bleiben. Es wurde grundsätzlich als Prinzip festgelegt, dass Juden, die in Preußen lebten, als Landsleute und genauso wie die christlichen Bürger des Landes behandelt werden sollten. Die Regelung hinsichtlich der »Schutzjuden« wurde abgelöst, auch die Sondersteuern wurden abgeschafft. Juden konnten sich fortan niederlassen, wo sie wollten, heiraten, wann sie wollten, und sie durften keinen anderen Handelsbeschränkungen unterworfen werden als jenen, die für alle Bürger des Reichs galten. In gewissem Sinne lebte die Unterscheidung zwischen »nützlichen« und »nutzlosen« Juden dennoch weiter. Es gab nie die Absicht, dass der Staat durch die Emanzipation für nicht vermögende Juden attraktiv würde. Alle diese Veränderungen galten für die Juden, die den Anforderungen an eine Bürgerschaft entsprachen.
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Zudem bestanden Regelungen fort, die ihnen bis auf Weiteres den Zugang zu öffentlichen Ämtern und Anstellungen im Schul- und Universitätswesen verweigern konnten. Diese wurden in den kommenden Jahren auch so weit wie nur möglich ausgelegt. Eine übergeordnete Aufgabe der Gesetzgebung war es gewesen, Preußen als einen christlichen Staat zu bewahren. Das Ziel war gewesen, alles vorzubereiten, damit die Juden, wenn sie keine Christen wurden, wie die Christen wurden – oder verschwanden. Es war der Staat, der gab, und das, was der Staat gab, wollte der Staat wieder nehmen können. Auf dem Wiener Kongress kam die Judenfrage erstmals auf eine internationale politische Agenda. In den harten Verhandlungen, während der die Europakarte neu gezeichnet wurde, hatten mehrere der einflussreichsten jüdischen Bankiersfamilien Europas sich engagiert, um sicherzustellen, dass die Emanzipation weitergeführt wurde. Schnell fanden sie heraus, dass sie in Wilhelm von Humboldt einen ihrer engsten Verbündeten hatten. In einem Brief an seine Frau schrieb er, dass er Tag und Nacht daran arbeite zu verhindern, dass reiche Juden ihn in Zukunft mit milden Gaben überhäufen mussten, nur um gehört zu werden. Das Bündnis aus deutschen Staaten einigte sich letztendlich auf eine Formulierung, die sicherstellte, dass die Rechte, die den jüdischen Bürgern in den einzelnen Staaten erteilt worden waren, ihnen nicht wieder genommen werden sollten. Einem schlauen hanseatischen Delegierten gelang es indessen, eine Präzisierung aufnehmen zu lassen, dass es sich bei den Rechten, die unter Schutz stehen sollten, um jene handelt, die den Bürgern vom Staat verliehen worden waren. Damit konnten alle Verordnungen, die die französische Okkupationsmacht eingeführt hatte, beseitigt werden. Der Philosoph Friedrich Schlegel, der 1815 in der österreichischen Delegation tätig war, warnte davor, die patriotische Feindschaft gegenüber Frankreich auf die deutschen Juden zu übertragen. Gerade weil die Emanzipation in weiten Teilen des deutschen Sprachraums unter den Franzosen begonnen hatte, müsse sie von den Deutschen selbst vollendet werden, um sich die Loyalität der deutschen Juden zu sichern.13 Als es jedoch darauf ankam, wurde die Emanzipation nur in den Ländern nicht zurückgerufen, in denen sie freiwillig entstanden war. Und die Liberalisierung, die den Juden 1812 im preußischen Kerngebiet zugutegekommen war, galt nicht einmal für die Juden im Rest des neuen Groß-Preußen, das auch Posen und das Rheinland umfasste. Es ist gesagt worden, dass sie von einer Präposition um die Emanzipation betrogen wurden.
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Antijüdische Mobilmachung Will man die Geschichte des Judenhasses im Jahrhundert der Emanzipation zusammenfassen, dann handelt sie zumeist von Krisen, Fehden, Affären und Verfolgungen. Die Fokussierung auf die Brüche ist natürlich. Sie ist notwendig, um die langen Entwicklungslinien zu verstehen. Dass es lange Phasen gab, in denen das Leben auch für die Juden in Europa schlicht und einfach seinen Gang ging, ohne die großen epochemachenden Katastrophen, bedeutet nicht, dass jedes Krisenempfinden damit verschwunden war. Im Europa des 19. Jahrhunderts lebten die Juden in einem Spannungsverhältnis mit ihrem Umfeld und ihrer kollektiven Identität. Ob dies in Form hasserfüllter Pamphlete, erzwungener Konversionen oder Gewalt zum Ausdruck kam, Juden lebten ihr Leben im Schatten einer großen rhetorischen Frage: Der Judenfrage, La question juive, The Jewish Question. Alle europäischen Sprachen haben einen Ausdruck dafür, jedoch war es die deutsche Judenfrage, die Anfang des 19. Jahrhunderts die radikalsten Antworten darauf hervorbrachte. Die Juden wurden verachtet, aber sie wurden auch gefürchtet. Und je stärker die Angst vor dem Opfer artikuliert wurde, desto stärker wurde die Verachtung legitimiert. In den Jahren zwischen dem Wiener Kongress 1815 und den nationalen Revolutionen, die 1848 durch Europa fegten, stand im Hinblick auf die juristische Seite der Judenfrage die Zeit so gut wie still. Die Restauration hatte den Freiheitsrausch der Revolutionszeit eingedämmt. Das bedeutete aber nicht, dass die Judenfrage von der Agenda verschwand. Ganz im Gegenteil, in diesen Jahren wurden die Grundlagen für ein neuzeitliches Verständnis vom Judentum geschaffen. Und jenes besagt, dass die Judenfrage in der damaligen Debatte nicht ausschließlich eine Frage der Rechte war, ja, dass sie das in erster Linie überhaupt nicht war. Später sollten die Fronten klarer werden, in der Zeit zwischen dem Wiener Kongress und dem Revolutionsjahr 1848 jedoch, war die Judenfrage allen voran eine nationale und eine moralische Frage, eine Frage bezüglich des »Nationalcharakters« der Juden. Die Frage hinsichtlich des moralischen Habitus eines ganzen Volkes ist heute nicht nur für die Rechtsproblematik irrelevant. Sie wird an sich als eine Kränkung angesehen. Aber auch wenn solche Fragestellungen heutzutage undenkbar geworden sind, forderten sie damals mit großer Selbstverständlichkeit die Aufmerksamkeit der großen Denker. Für Herder, Kant, Hegel und Fichte – die allesamt Anhänger der Emanzipation waren –
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machte diese gar nicht den Kern der Judenfrage aus. Die Forderung nach einer Emanzipation der Juden war ohne Schwierigkeiten mit judenfeindlichen Einstellungen vereinbar. Worum es sich eigentlich drehte, was den Unterschied ausmachte, war die Frage hinsichtlich des Judentums: War der jüdische Nationalcharakter mit dem deutschen vereinbar? Und wenn nicht: War er unausrottbar? Ideengeschichtlich stellt der Anfang des 19. Jahrhunderts in der Geschichte des Judenhasses eine entscheidende Zeit des Umbruchs dar. Unter den Denkern der Zeit griff eine neue nationalistische Rhetorik um sich. Und es ist in diesen Jahren, in denen wir die ersten Beispiele eines christlichen Antijudaismus sehen, der im Namen der deutschen Nation Seite an Seite mit einem säkularen Antijudaismus existierte. Es ist auch die Zeit, in der wir die ersten Ansätze zu einer rassistischen Begründung für den Judenhass finden, näher bestimmt in Karl Wilhelm Grattenauers Wider die Juden. Amos Elon zufolge erschienen mehr als 60 Pamphlete für und wider Grattenauers Schrift, bevor die preußischen Behörden dem Ganzen einen Riegel vorschoben. Das, was Moses Mendelssohn in seinem letzten Lebensjahr befürchtet hatte, nämlich dass die Werte der Aufklärung durch eine irrationale romantische Verehrung der nationalen Eigenart ersetzt würden, war im Begriff, Realität zu werden. In solchen Fehden gibt es fast immer etwas Neues, aber auch viel Alt hergebrachtes. Was die Grattenauer-Fehde von 1803 betrifft, ist es sinnvoll, sich drei Aspekte zu merken: Erstens sind die Prämissen der Debatte säkular und modern. Die Passage über die Juden als »Staat im Staat« aus Fichtes Kommentar zur Französischen Revolution wird in ihrer Gänze wiedergegeben, und es ist als herausstechendes Zitat in Grattenauers Schrift, wo der Text, auf den wir zurückkommen werden, seinen breiten wirkungsgeschichtlichen Niederschlag findet. Zweitens wird die Rhetorik des alten christlichen Judenhasses wieder eingeführt, wobei Eisenmengers Entdecktes Judenthum (1700) als Referenzwerk dient. Dieses steht sozusagen eigenständig für die Überführung der Vorstellungen des christlichen Mittelalters vom Judentum, mit Quellen belegt, in ein rationalistisches Zeitalter. 2000 Seiten voll mit Zeugnissen gegen die Talmudjuden sollen der Nachwelt zeigen, dass die Juden sich nicht als Bürger christlicher Staaten eignen. Drittens fällt die derbere und direktere Sprachführung Grattenauers gegenüber Eisenmenger auf: Grattenauer macht keinen Hehl
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daraus, dass er Juden hasst. Der Hass wird jetzt auch mit äußerlichen Merkmalen begründet. Bereits zehn Jahre vor dem Erscheinen von Wider die Juden hatte Gratte nauer eine Kampfschrift herausgegeben, die sich gegen die angeblichen moralischen und äußerlichen Eigenschaften der Juden richtete.14 Das Judenproblem sei keine Frage des Religionswechsels. Der Nationalcharakter der Juden sei korrumpiert, und daran lasse sich ebenso wenig ändern wie an den Flecken des Leoparden. Entweder schicke man sie zurück in die Ghettos oder verbringe sie außer Landes nach Kanaan oder in die Strafkolonie Botany Bay in Australien.15 Als er 1803 einen neuen Vorstoß wagte, bildete noch immer der »verdorbene Geist des Judentums« den Einfallswinkel, wobei das Neue allen voran gerade darin bestand: dass die Zeit nun reif sei, es laut und deutlich auszusprechen, dass unabhängig von Zeit und Ort, Taufe und Tugend ein Jude unveränderlich ein Jude bleibe. Der Gestank von verdorbenem Geist sei ganz eindeutig. In seiner Verteidigungsschrift, die zu einem späteren Zeitpunkt desselben Jahres erschien, vertiefte Grattenauer die Behauptung, dass die Juden einen eigenen und unverkennbaren Geruch absondern – »den Juden gestank«.16 Die Kampagne gegen das Bürgerrecht der Juden wurde also mit Argumenten geführt, die bald aus dem christlichen Mittelalter stammten, bald auf politischen und religionskritischen Ideen der Aufklärung beruhten, die aber außerdem auf eine physische Antipathie beharrten, die auf die irrationale Vorstellung vom Foetor Judaicus (Judengestank) aus der Antike und dem Mittelalter verwies. Bei Eisenmenger stellte die Taufe einen Weg in die christliche Gemeinschaft dar. Bei Grattenauer machte der physische Geruch der wahren Natur der Juden einen unüberbrückbaren Unterschied aus, der durch die Taufe nicht bereinigt werden könne. Aus diesem Grund ist Wider die Juden als Vorläufer für eine rassistische Begründung des Judenhasses in die Geschichte des Antisemitismus eingegangen. In der Realität jedoch präsentiert sich die Schrift als eine Zitatensammlung, ein Gebräu zusammengekocht aus Paalzows lateinischem Buch über den Judenstaat – Tractatus Historico-politicus de civitate Judaeorum (1803) –, aber in hohem Maße auch aus den Abfallprodukten von Schriften Shakespeares, Fichtes, Herders, Holbergs und Eisenmengers. Zitate aus Shakespeares Der Kaufmann von Venedig stehen Seite an Seite mit Auszügen aus Ludvig Holbergs Jüdische Geschichte (1792).17 Wäre Christus nach Amsterdam gekommen, hätten ihn die Juden ein zweites Mal gekreuzigt, heißt es bei Grattenauer,
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wenn er Holberg in der deutschen Ausgabe von 1747 wiedergibt.18 Mit dem Abstand von 200 Jahren erkennen wir vielleicht leichter, dass dieses Gebräu eine frühe Warnung vor dem ist, was kommen sollte, weil der Hass nicht so sehr ein Protest dagegen ist, dass die Juden Fremde sind, sondern eher eine pathologische Reaktion darauf, dass sie es nicht mehr sind. In diese Debatte mischte sich nun eine neue Stimme. Friedrich Buchholz inszenierte sich als die Stimme der Vernunft, die ohne Leidenschaft sowohl den Hass als auch die Illusionen beschwichtigen wollte. Buchholz war freier Publizist: radikal konfrontierend und selbstbewusst modern.19 Ebenso sein direkter Stil wie seine freie Stellung kündigten zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue Zeit an. Würde es sich um ein Möbelstück handeln, würden wir es als Empire oder Kaiserstil bezeichnen: militaristisch, unsentimental und funktionell. 1802 erhielt Buchholz den Auftrag, Christoph Girtanners Bericht über die Französische Revolution fortzuführen. Bereits aus dem Vorwort geht klar hervor, dass er der historischen Darstellung andere Prinzipien zugrunde legte als sein Vorgänger, der konservative Abscheu für die Terrorhandlungen à la Edmund Burke hatte hindurchscheinen lassen.20 Buchholzʼ Perspektive ist furchtlos. Die Exzesse sind Ausdruck einer tieferliegenden Krise, die sich nicht mit der persönlichen Bosheit oder dem Hang zu Intrigen der Charaktere erklären lässt: »Im Übrigen war Robespierre nur das Werkzeug des Schicksals. Die Schreckensperiode war nothwendig.«21 Er räumt ein, dass die Hinrichtung Marie Antoinettes sinnlos gewesen sei, »diese Leidenschaften« jedoch notwendig wären, wenn »die Natur« ihre Ziele erreichen solle. Bald würde eine Zeit kommen, in der man auf die Revolution mit derselben Gelassenheit zurückblicke, wie man die Völkerwanderung, die Kreuzzüge und die Reformation betrachte. Der Durchbruch war sein Beitrag zur sogenannten Grattenauer-Kontroverse, Moses und Jesus (1803), ein Buch, das zehn Jahre später – im Frühsommer 1813 – im dänischen Antisemitismusstreit eine bedeutende Rolle spielen sollte. Buchholz inszenierte sich als erster Wissenschaftler der Moral, sein eigentliches Anliegen aber war die Politik: die Beeinflussung der Staatsmacht. Beinahe 100 Jahre vor Nietzsche philosophierte Buchholz mit dem Hammer. Ebenso sehr wie die Ideen waren es der Stil, der Ton und das Genre, die den Ausschlag gaben. Buchholz war ein »Zeitschriftsteller«, ein historisch-philosophischer Journalist, und während einiger dramatischer Jahre der Napoleonzeit war er Napoleons deutscher Interpret und einer
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der führenden Meinungsbildner in Preußen.22 Sein militanter Assimilationismus machte es möglich, in Untersuchungen über den Geburtsadel (1807) einen unverhüllten Hass gegen Juden und Adel mit seiner Mitwirkung an Hardenbergs Emanzipationsedikt (1812) zu kombinieren. Er wurde als das seltene Exemplar eines frühen Demokraten dargestellt, eines Vorläufers der Soziologie und des Positivismus. Erst im 21. Jahrhundert kam der Einwand, dass man Buchholz nicht zum Demokraten ausrufen könne, ohne auf den durchgreifenden Antijudaismus in seinem Denken aufmerksam zu machen.23 Weil seine Kritik weder als theologisch motiviert noch als der romantisch-konservativen Christlich-Deutschen Tischgesellschaft angehörend beschrieben werden kann, wird er politisch links verortet. Die Präzisierung ergibt im selben Maße Sinn, wie sie unterstreicht, dass Buchholzʼ Schriften ein radikales Gleichheitsdenken mit strengen Forderungen nach kultureller Assimilation darstellen. Es ist das Judentum, nicht die Juden, dem er ans Leben will. Aber auch wenn niemand Buchholz vorwerfen kann, biologisch zu argumentieren, so fehlt es in seinem Entwicklungsprotokoll weder an ethnischem noch an kulturellem Essentialismus. Der säkulare Antijudaismus ist nicht zwangsläufig weniger feindlich gegenüber der jüdischen Gegenwärtigkeit in der Gesellschaft als der proto-rassistische Antisemitismus der romantischen Rechten, auch dann nicht, wenn er die Flagge der Emanzipation hisst. Auch einer der überragenden Geister der Zeit, der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, unterstützte die Emanzipation der Juden. Das hinderte ihn nicht daran, zu dem ideengeschichtlichen Fundament eines nationalen Kampfes gegen das Judentum beizutragen. Während er in seiner Rechtsphilosophie ein konsequenter Fürsprecher für die bürgerlichen Rechte der Juden bleiben sollte, war er in seiner Geschichtsphilosophie überzeugt, dass die Juden ihre Rolle als historisches Volk ausgespielt hatten und dass sie nur als ein ahasverisches »Geistervolk« überlebten. In der Jugendschrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1802), die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde und an der Schwelle zu seiner eigentlichen Autorschaft entstand, machte er mit allen sentimentalen Vorstellungen von der verschwundenen Größe des Judentums kurzen Prozess: Das große Trauerspiel des jüdischen Volkes ist kein griechisches Trauerspiel, es kann nicht Furcht noch Mitleiden erwecken, denn beide entspringen nur aus dem Schicksal des notwendigen Fehltritts eines schönen Wesens; jenes kann nur Abscheu erwecken. Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Makbeths, der aus
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der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing, und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden, von seinen Göttern (denn es waren Objekte, er war Knecht) endlich verlassen, und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden mußte.24
Während Hegel in die Reihe der Denker eingeht, die Polemik gegen das Judentum mit der Unterstützung für die bürgerlichen Rechte für die Juden kombinierten, kann man das über seinen großen Zeitgenossen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) nicht sagen. Fichte gelang mit Reden an die deutsche Nation (1807) sein großer Durchbruch als Herrschaftsdenker der Nation. In seinem nationalistischen Credo werden Juden kaum gewürdigt. Die Verachtung wird stillschweigend vorausgesetzt. Wenn ihm dennoch die zweifelhafte Ehre zuteilwurde, als Geburtshelfer des revolutionären deutschen Antisemitismus charakterisiert zu werden, hängt das nicht zuletzt mit einer Schrift zusammen, die er 1793 zur Verteidigung des Einsatzes der Jakobiner während der Französischen Revolution anonym publizierte.25 Fichtes Polemik ist derb. Er macht deutlich, dass er nichts gegen den Glauben der Juden hat, jedoch nur, um dann sagen zu können, dass er ihren Hass gegenüber der ganzen Menschheit nicht akzeptieren könne: Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.26
Bereits im Jahr nach Veröffentlichung der Schrift wurde Fichte von dem jüdischen Rationalisten Saul Ascher (1767–1822) zur Rechenschaft gezogen, der Fichte sarkastisch zu Eisenmenger dem Zweiten ausrief, nach dem notorischen Judenhasser der Wende zum 18. Jahrhundert. Ascher konstatierte vorausschauend, dass sich eine ganz neue und gefährlichere moralistische Form des Antijudaismus im Heranwachsen befand. Auf Basis der Postulate Immanuel Kants hatte Fichte die Notwendigkeit des Judenhasses deduziert. In Fichtes jakobinischem Eifer erschienen sowohl die Aristokratie, die Kirche als auch das Militär als Hindernisse für die Entfaltung der revolutionären Freiheit, der größte Feind war für ihn jedoch das Judentum, das Judentum mit seiner theologisch bedingten Isolation und seinem historisch bedingtem Egoismus stünde in einem unversöhnlichen Konflikt mit der Idee von einer befreiten Menschheit. Auf dieser Grundlage erkannte
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Fichte den Juden ihren Status als moralische und politische Subjekte ab: »Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judenthum.«27 In Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804) führte Fichte den Gedanken eines unverfälschten Urchristentums und »eines arischen Christus« ein. Christi jüdische Herkunft sei laut Fichte mehr als zweifelhaft und dem Versuch des Juden Paulus geschuldet, den reinen christlichen Gedanken, den man im Johannesevangelium finde, zu judaisieren. Wie er es später in seinen Reden an die deutsche Nation formulieren sollte: Nur die Deutschen seien angedacht, vom Saatkorn des Urchristentums die Wahrheit und das Leben zu ernten. Über Fichte ist behauptet worden, dass er trotz seiner derben Polemik niemals in vulgären Judenhass verfallen sei und dass er physische Übergriffe nicht akzeptiert habe. Auch ist hervorgehoben worden, dass er später seine antijüdische Agitation aus den frühen Schriften nie wieder aufgegriffen habe. Fichte wurde in weiten Kreisen als ein verständiger Mann angesehen, und seine Vorlesungen in Berlin zogen die komplette intellektuelle Elite an, inklusive Rahel Levin und ihre Freunde. Sein organisches Denken von einer reinen, deutschen Idealnation, kombiniert mit der Zurückweisung des Judentums a priori auf moralphilosophischer Grundlage war dennoch nicht ohne jegliches Element der Gewalt. Léon Poliakov bezeichnet Fichte als den ersten großen metaphysischen Propheten des deutschen Nationalismus. In die Geschichte des Judenhasses war eine neue totalitäre Justiz eingebracht worden. Die praktischen Konsequenzen zu ziehen, sollte anderen überlassen sein. Als nach der Schlacht bei Jena die Konversation in den jüdischen Salons verstummte, geschah dies aus einem Verständnis heraus, dass der freigeistige Dialog, der seit Anfang der 1790er Jahre quer durch die Konventionen hinweg stattgefunden hatte, nun nicht mehr möglich war. Jetzt traf man sich stattdessen in den Häusern aristokratischer Nationalisten. Viele der Gäste waren dieselben, jetzt aber in einer standesgemäß geschlossenen Herrengesellschaft. Der meist frequentierte dieser neugegründeten Klubs zählte so gut wie die gesamte deutsche intellektuelle Elite zu seinen Mitgliedern, »Frauen, Franzosen, Philister und Juden« hatten jedoch keinen Zutritt. Auch Konvertiten wurden nicht akzeptiert. Es wurde gescherzt,
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dass die Juden »wasserdicht« seien. Die Taufe könne das Jüdische nicht von ihnen abwaschen. Der Umschwung war spürbar: Der Jude war nicht mehr suspekt, weil er sich nicht assimilieren ließ, sondern weil er sich so allzu gut assimilieren ließ. Während der traditionelle Jude verstockt und stur sowie außer Stande sei, wie ein wahrer Deutscher zu leben, sei das Problem am modernen Juden, dass er anpassungsfähig und opportunistisch sei. Er beherrsche die deutsche Sprache und die sozialen Codes ohne Gebrechen und habe sich befleißigt, seinen jiddischen Jargon und seine fremden Riten abzulegen. Äußerlich ließe er sich von anderen nicht mehr unterscheiden. Aber der Schein trog. In Wirklichkeit wurde der deutsche Charakter von innen heraus von einer fremden Geistesmacht untergraben. Im Rahmen dieser mittäglichen Versammlungen manifestierte sich nun das intellektuelle Leben Berlins auf teutonische Weise bei gemeinschaftlichem Gesang und Bier. Militaristen, Schöngeister und Demagogen fanden einander in patriotischer Verachtung der neuen jüdischen Gefahr. Es wird erzählt, dass der romantische Dichter Achim von Arnim mit einem Vortrag über die physischen und moralischen Charakteristika der Juden großen Erfolg feierte: Sie seien so eindeutig abscheulich, dass man einen Juden häuten müsse, um die einzigartige chemische Zusammensetzung zu identifizieren. Sein Kampfgenosse Clemens Brentano stieß mit einem heftigen Angriff auf »antinationale Philister« nach. In der Zeit unmittelbar nach dem Wiener Kongress kam es zu einer Welle chauvinistischer Schriften von Ernst Moritz Arndt (1768–1860), Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), Friedrich Rühs (1779–1820) und Jakob Friedrich Fries (1773–1843), in denen die Verehrung von Rasse und Blut in den Vordergrund rückte. Die nationalistische Rhetorik in diesen Schriften ähnelte nichts von dem, was man in den nationalen Bewegungen in anderen europäischen Ländern fand. Léon Poliakov hat die bemerkenswerte Verwandlung betont, die innerhalb weniger Jahre von »Sprache und Nation« hin zu »Blut und Rasse« stattfand. Es ist bemerkenswert, dass diese frühen Rassenideologen, die im 20. Jahrhundert den nazistischen Rassisten als Inspiratoren dienen sollten, selbst nicht unbedingt von persönlicher Verachtung gegenüber den Juden erfüllt waren. Wenn sie sie dennoch in einer so heftigen Sprache verurteilten, dass sie innerhalb weniger Jahre das Unheil heraufbeschwor, war dies Ergebnis eines »objektiven« Antisemitismus, der sich von »subjektiven« Gefühlen für die tatsächlichen Juden nicht zur
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Vernunft bringen ließ. Die Rhetorik war nun auf eine vollkommen andere Weise handlungsorientiert und anscheinend vollständig rassistisch geworden. Dieser frühe Rassenbegriff fließt mit dem Nationsbegriff zusammen, zudem lohnt es, sich die Symbiose von theologischen und biologischen Vorstellungen zu merken. Die Begriffe »Rasse« und »Blut« leben Seite an Seite mit Begriffen aus einer christlichen Vorstellungswelt, die selbst stark germanisiert wurde. Während Arndt als gebürtiger Schwede als ein frommer Lutheraner angesehen wurde, hatte Jahn tschechische Vorfahren. Seine militaristische Veranlagung schlug sich auf mehreren Gebieten schöpferisch nieder. Später wurde er unter anderem unter dem Namen »Turnvater Jahn« bekannt, als der Mann, der uns die Gymnastik und den Begriff »Turner« brachte. Ihm wurde auch die Ehre zuteil, die deutsche Flagge entworfen zu haben, und sein obligatorisches »Gut Heil!« lebte in Hitlers »Sieg Heil!« weiter. Er war Kriegsheld und innerhalb der Rahmen der deutschen Burschenschaften etablierte er nationalistische Turnvereine, die vielen der Merkmale der paramilitärischen Gruppen der Nationalsozialisten vorgriffen. Für Jahn waren germanische Metaphysik und physische Erziehung zwei Seiten derselben Medaille. Sein Durchbruch als populärer Autor war das Buch Deutsches Volkstum (1810), in dem er sich dafür aussprach, die deutsche Nation von jeglichem fremden Einfluss zu bereinigen. Sein Restaurierungsprojekt war nicht frei von Einfällen, die heute den Anschein von Komik erwecken: Er wünschte nicht nur die obligatorische Einführung einer nationalen Volkstracht, er wollte auch, dass eigene Farben, Jungfrauen (rot) von Ehefrauen (blau) und Ehefrauen von Huren (orange und weiß) unterschieden. Sowohl Arndt als auch Jahn sprachen sich stark gegen die Ehe über Rassengrenzen hinweg aus. Ihre Verachtung jüdischen Blutes war im Prinzip jedoch nicht stärker als die Verachtung anderen fremden Blutes. Arndt war außerdem, und das ist vielleicht ebenso überraschend, offen dafür, dass die Juden konvertierten, wenn sie damit auch christliche Deutsche wurden und alle jüdischen Züge ablegten. Und das ist wichtig im Gedächtnis zu haben: Im damaligen deutschen Kontext deckte der Begriff »Judentum« eine Reihe verschiedener Bedeutungen ab. Teilweise kam ihm eine mosaische Bedeutung zu mit Bezug zum Judentum als Religion, er konnte aber auch für die jüdische Gemeinschaft stehen oder sich auf jüdische Eigenarten in einer rein kulturellen Bedeutung beziehen. Arndts germanisches Christianisierungsprojekt zielte darauf ab, alle Spuren jüdischen Ursprungs aus-
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zulöschen, in jeglicher Bedeutung des Wortes, die Erfahrung habe seiner Meinung nach gezeigt, dass dies möglich sei. Für den Pfarrerssohn Jahn gab es keine größere Sünde als »die Sünde gegenüber dem Blut«, zudem war er weitaus weniger optimistisch. Die Spuren fremden Blutes würden innerhalb der nächsten 1000 Jahre nicht ausgelöscht werden können, und Deutschen, die Ausländer heirateten, müssten folglich ihre bürgerlichen Rechte entzogen werden. Wie er ein Vierteljahrhundert zuvor Fichte widersprochen hatte, widersprach erneut Saul Ascher in seinem Pamphlet Germanomanie (1815). In der Schrift erinnerte Ascher daran, dass das Christentum keine deutsche Religion war, und dass die Deutschen aus demselben Stoff gemacht waren wie andere Menschen auch. Er war der Meinung, dass es das war, was die Gemüter vor dem berühmten Wartburgfest im Oktober 1817 so heftig erhitzt hatte. Erst in dieser deutschen Auseinandersetzung, die den Kampf der deutschen studentischen Burschenschaften für eine Vereinigung Deutschlands einleitet, wurde Luther angerufen. Allerdings wurde eher der Deutsche als der Theologe Luther mobilisiert. Einer von Luthers selbstständigen Beiträgen zur Geschichte des Judenhasses war Paul Lawrence Rose zufolge die Einführung des deutschen Martyriums in die Konfrontation mit der jüdischen Macht. Die symbolische Einführung erfolgte auf Luthers Burg, der Wartburg in Eisenach, 300 Jahre nach Luthers Thesen und vier Jahre nach dem deutschen Sieg über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig. Das Fest wurde mit einer Bücherverbrennung und Reden, unter anderem von dem Philosophen Jakob Friedrich Fries, beendet. Die Geschichte des Antisemitismus ist auch die Geschichte von Wiederholungen, wo auf der Schwelle eines neuen Zeitalters alte Texte aktuellen Bedürfnissen angepasst und kanonisiert werden. Luthers Judenhass ist unbestreitbar, die wirkungshistorische Bedeutung muss dennoch genau dokumentiert werden. Während sich in der Grattenauer-Fehde keine direkten Spuren von Luther finden, verhält sich dies in der Debatte um die Juden nach dem Sieg über Napoleon anders. Im Vorfeld des 500-jährigen Jubiläums 2017 wollte die Leitung der evangelischen Kirche deutlich mit den sogenannten »dunklen Seiten der Reformation« abrechnen. Zum Ausgangspunkt nahm die Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum Margot Käßmann Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543), die ihrer Behauptung nach späterem antisemitischem Rassismus als Inspira-
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tion gedient und dazu beigetragen habe, »Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord an europäischen Juden« zu rechtfertigen.28 Während der Zeit des Nationalsozialismus hatte es die Kirche unterlassen, Mitmenschen jüdischen Glaubens Schutz zu gewähren, das traditionelle antijüdische Gedankengut hatte dem Willen zum Widerstand gegen den Holocaust im Wege gestanden. Erst nach 1945 hatte die evangelische Kirche begonnen, den katastrophalen Weg des Antijudaismus zu verlassen. Die These, dass es eine deutliche antijüdische Traditionslinie gab, die direkt von Luther, über den Protestantismus bis nach 1945 gezogen werden konnte, wurde von dem Kirchenhistoriker Johannes Wallmann schroff zurückgewiesen.29 Er behauptete, die Kirche hätte durch das Lügen hinsichtlich der eigenen Geschichte Schaden erlitten. Die Vorstellung, dass Luthers Spätschriften eine solche Verbreitung gehabt haben sollen, dass sie den Antisemitismus einer späteren Zeit erklären können, sei höchst zweifelhaft, besonders, weil die evangelische Kirche so lange, ja, über mehrere Jahrhunderte hinweg, von dem antijüdischen Denken befreit war, welches Luther in diesen Schriften verkündete. Selbst Dietrich Bonhoeffer war sich über dieses »Erbe« vor 1933 nicht im Klaren, dem Schicksalsjahr, in dem Luthers Schriften wieder aus der Vergessenheit geholt wurden, um die nazistische Propaganda zu legitimieren. Kurz zusammengefasst drehte sich der Streit darum, ob die Auseinandersetzung mit »Luther und den Juden« historische Selbstprüfung oder erinnerungspolitische Positionierung erforderte; überlieferte Rezeptionsgeschichte darf nicht mit ideologischer Mobilisierung alter, peripherer Texte ohne reale wirkungsgeschichtliche Bedeutung verwechselt werden. Wallmann zufolge waren Luthers antijüdische Schriften ein Beispiel für Letztgenanntes. Die Kirche machte ihre Geschichte dunkler, als sie es war. Unterstützung erhielt Wallmann von anderen Forschern, aber er erfuhr auch qualifizierten wissenschaftlichen Widerstand. Der Historiker Werner Treß machte sich die Mühe, die Behauptungen hinsichtlich der fehlenden Wirkungsgeschichte der antijüdischen Texte zu untersuchen, und seine Dokumentation ist unbestreitbar konkret.30 Die von ihm gelieferten Beispiele bestätigen, in welch hohem Maße Luthers Texte über die Juden beide Rollen übernommen haben: Die wirkungsgeschichtliche Durchschlagkraft wurde durch die ideologische Mobilisierung gesichert. Das entscheidende Jahr ist jedoch nicht 1933. Es sind die Vorbereitungen zum Luther-Jubiläum 1817, die wichtig sind. Und die Beispiele, die Treß benennt, stammen aus
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Texten von Jakob Friedrich Fries und Christian Friedrich Rühs. In seiner Verteidigung der Forderungen, dass die Juden gelbe Sterne tragen und ihnen das Bürgerrecht verweigert werden solle – und sie in letzter Instanz vertrieben werden –, bietet Rhüs auf fünf Seiten Zitate von Luther dar. Die Anweisungen des Rationalisten und Nationalisten Fries sind weitgehender: »Die Judenkaste muss ausgerottet werden, ganz und gar.« Fries gehörte auch zu den zentralen organisatorischen Kräften des Festes und der Bücherverbrennung auf der Wartburg, wo Aschers Germa nomanie gemeinsam mit dem »Code Napoleon«, französischen Gesetzen und anderen »reaktionären« Schriften, darunter August von Kotzebues Werk über das Deutsche Reich, auf den Scheiterhaufen geworfen wurde. Drei Jahre nach der Bücherverbrennung auf der Wartburg formulierte Heinrich Heine eine seiner vielen denkwürdigen prophetischen Wahrheiten: »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Ernsthaft niedergeschlagen wurde solch aufwieglerischer Aktivismus erst nach der Ermordung Kotzebues 1819 durch einen der Teilnehmer des Wartburgfestes, den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand. Arndt wurde seines Amtes als Professor enthoben, Jahn wurde des Hochverrats angeklagt und verhaftet. Die Strafverfolgung trug aber nur dazu bei, das brandgefährliche Gedankengut noch explosiver zu machen. Wie ein anderes Ereignis aus demselben Jahr demonstriert, war nicht mehr nur die Rede von metaphysischen Ausschweifungen. Unter Turnvater Jahns Auspizien waren sie höchst körperlich geworden.
Die Hep-Hep-Unruhen Es begann im bayrischen Würzburg. Im Sommer 1819 tobte unter den Meinungsmachern der Stadt ein Streit über das Recht der Juden, sich in der Stadt niederzulassen und Geschäfte zu betreiben. Von 1804 bis 1814 hatte die Stadt den Habsburgern unterstanden und die zivilen und geschäftlichen Rechte der Juden der Stadt, die im Rahmen des Wiener Kongresses aufgehoben wurden, waren gewahrt worden. Am Abend des 2. Augusts entwickelten sich Straßenunruhen. Auf der Jagd nach Juden, die er verprügeln konnte, zerstörte ein örtlicher Mob mehrere Tage lang Eigentum von Juden. Als die schlimmsten Ausbrüche sich allmählich legten, nachdem kein einziger Jude mehr zu sehen war, waren zwei Menschen getötet und um die
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Abb. 5: Die sogenannten Hep-Hep-Unruhen 1819 begannen in Würzburg, breiteten sich jedoch schnell in andere Städte aus, zuerst in Frankfurt, wo die Juden mit Stöcken aus der Promenadenstraße gejagt und jüdisches Eigentum von dem Mob verwüstet wurde. Die Angriffe richteten sich gegen Symbole für die Assimilation der Juden in der deutschen Gesellschaft.
20 schwer verletzt worden. Die Juden hatten auf dem Land Zuflucht gesucht oder hatten sich in der Stadt versteckt. Erst nachdem die lokalen Behörden nach einer Woche Verstärkung aus München anforderten, kam die Stadt wieder zur Ruhe. Es wurden verschiedene Erklärungsversuche dafür unternommen, warum diese Ausbrüche, die Friedrich Schlegel als eine Rückkehr in das Mittelalter bezeichnete, plötzlich in der kleinen Provinzstadt stattfinden konnten. Einer der Strohhalme, nach denen man griff, war das verhängnisvolle Jahr 1816, in dem Hungersnot, Arbeitslosigkeit und galoppierende Brotpreise die Gesellschaft unter Druck gesetzt hatten. Andere meinten, die Juden seien für die reaktionären Einschränkungen verantwortlich gemacht worden, zu denen es nach dem Wiener Kongress gekommen war. Der Gedankengang lief darauf hinaus, dass die Zurücksetzung der Rechte der Juden während der Napoleonzeit nicht nur die Juden traf, die aber zu Sündenböcken
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wurden. Wie Amos Elon jedoch hervorhebt, steht man hier einem Ausbruch des Judenhasses gegenüber, der sich mit solchen Verhältnissen allein nicht angemessen erklären lässt. In Würzburg gab es nicht viele Juden. Die jüdische Bevölkerung bestand aus 30 Familien, die zusammen ein Prozent der Gesamtbevölkerung von 20.000 ausmachten. Daher entsprach es offensichtlich nicht der Realität, dass sie für die Mehrheitsbevölkerung eine Bedrohung ihres Lebensunterhalts darstellten. Weitaus wichtiger war allen Anzeichen nach zu urteilen die antijüdische Agitation, die über mehrere Jahre hinweg die deutschnationale Meinung geprägt hatte. Das Geschehen wies mehrere auffällige Züge auf. Erstens, dass es sich nicht auf Würzburg beschränkte, sondern sich wie ein Flächenbrand über weite Teile Deutschlands ausbreitete; zuerst nach Frankfurt, wo schnell weitaus mehr auf dem Spiel stand, sowohl aufgrund der weitaus größeren jüdischen Bevölkerungsgruppe als auch, weil einzelne Juden in Frankfurt eine wichtige Rolle im Finanzleben spielten; von dort aus weiter nach Süden und Westen, in Richtung der zentralen Teile Deutschlands und anschließend nach Osten, nach Danzig und Krakau, sowie nach Norden, nach Bremen, Hamburg, Lübeck und Kopenhagen. Das Muster war überall dasselbe, der Ausgang hing jedoch damit zusammen, wie resolut die lokalen Behörden mit der Situation umgingen. Neuerer Forschung ist es gelungen, ziemlich genau zu identifizieren, worum es bei den Unruhen ging. Obwohl ein heterogener Mob zur Aktion schritt und verschiedene Ziele in verschiedenen Städten getroffen wurden, ist es möglich, ein deutliches Muster zu erkennen. In Würzburg wurde die Residenz der reichsten jüdischen Familie der Stadt angegriffen, und von den in jüdischem Besitz befindlichen Geschäften wurden die Schilder heruntergerissen. In Frankfurt wurden die Juden aus der Promenadenstraße und aus dem Postgebäude verjagt. In Hamburg konzentrierte man sich darauf, Juden aus den mondänen Cafés der Stadt zu verjagen. Kurz gesagt waren es die lokalen Symbole der Assimilation der Juden in der deutschen Gesellschaft, die angegriffen wurden.31 Eine weitere bemerkenswerte Gemeinsamkeit waren die begleitenden Rufe. Überall, wo Unruhen ausbrachen, konnte man die Volksmenge rufen hören: »Hep! Hep! Jude verreck.« Das sagt viel über den gewalttätigen Charakter der Angriffe aus. Inwieweit sie aber auch etwas über den Ursprung der Verfolgungen in der akademischen Schicht aussagen, ist Gegenstand vieler Diskussionen gewesen. Bereits in der Gegenwart gab es ver-
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schiedene Auslegungen dieser Rufe. Unter anderem wurde versucht, sie damit zu erklären, dass es sich um einen normalen Ausruf in Süddeutschland, ohne tieferen Sinn, handelte. Andere meinten, es handelte sich um einen Ausdruck für Hebräer. Letzteres fand viele Anhänger; man muss aber heutzutage Lateinlehrer sein, um das zu verstehen. »Hep! Hep!« ist ein Akronym für Hierosolyma est perdida (Jerusalem ist verloren).32 Der Ausruf wird den römischen Soldaten während des Kampfes gegen den jüdischen Aufstand im Jahr 70 zugeschrieben, der zur Zerstörung des zweiten Tempels führte. Er soll auch die antijüdischen Verwüstungen im Rheinland während der Kreuzfahrerzeit begleitet haben. Wie weit hergeholt die Erklärung auch erscheinen mag, sie wurde unter anderem von Rahel Varnhagens Bruder, dem Poeten und Dramatiker Ludwig Robert, geteilt, der an seine Schwester schrieb, während er sich in Karlsruhe vor dem Mob versteckte: »Es ist bemerkenswert! Wie kann es sein, dass der Großteil der Menschen diesen Ausdruck verwendet? Sie können sich unmöglich im Klaren darüber sein, woher er kommt? Es müssen gelehrte Flegel gewesen sein, die das Ganze in Gang gesetzt haben.«33 Die Angriffe geschahen ohne Vorwarnung, anscheinend spontan. Sie hatten weder den gleichen Umfang noch das gleiche Maß an Brutalität wie die Pogrome, die in den 1880er Jahren in Russland wüten sollten. Nichtsdestoweniger hinterließen die Überfälle einen bleibenden Eindruck in den deutsch-jüdischen Gemeinden. Allerdings war das Bedrohungsszenario nicht eindeutig. Vielerorts hatten die Polizeibehörden zwar zögerlich, aber dann resolut eingegriffen, um die Horden zu beschwichtigen. Die Juden waren Schlechtes gewohnt, und das Vorgehen der Polizei zeigte zumindest, dass sie in der Stunde der Not den Schutz des Rechtsstaates erhielten. Mancherorts sogar explizit, wie in Hamburg, wo behauptet worden war, die Juden trügen selbst die Verantwortung für die Angriffe. Die Anschuldigungen wurden untersucht, und die Ermittlungen kamen eindeutig zu dem Schluss, dass die Juden der Stadt weder im Vorfeld noch während der Unruhen tadelnswert aufgetreten waren, sondern vollkommen schuldlos an der Wut, die sie getroffen hatte, waren. Es wurde zudem betont, dass in der Zukunft weder physische noch verbale Angriffe auf die Juden toleriert würden. Dass das Verhalten der Juden bisher tadellos gewesen war, garantierte jedoch nicht, dass es dies auch in Zukunft sein würde. Der Bericht endete deshalb paradoxerweise mit Ermahnungen an die Juden der Stadt, auf unpassendes Benehmen zu verzichten und den Gedanken
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fallen zu lassen, in absehbarer Zeit Forderungen bezüglich ziviler Rechte voranzutreiben. In den meisten Städten war die Einstellung der Bevölkerung zu den Ausschreitungen bestenfalls von Gleichgültigkeit bestimmt. Etwaige Sorgen hatte man nur, dass sich die Unruhen ausweiten könnten. Das war indessen die Ausnahme. Um seine Solidarität zu zeigen, zog der liberale Großherzog von Baden in Karlsruhe bei einer der bekanntesten jüdischen Familien ein. In der alten Universitätsstadt Heidelberg traf der Mob auf den bewaffneten Widerstand von Studenten, angeführt von einem Schüler Hegels, dem Philosophen Friedrich Wilhelm Carové. Gemäß der emanzipatorischen Botschaft des Meisterdenkers Hegel in seinem Werk Philosophie der Rechte (1818/19), das vor den Unruhen begonnen und danach beendet wurde, wählten sie ein würdevolles Verhalten. Allerdings unterstrichen sie: Nicht aus Liebe zu den Juden, sondern aus Respekt vor Gesetz und Gerechtigkeit.34
Heine, Börne und das Junge Deutschland 1821 kehrte Rahel Varnhagen mit ihrem Mann, August von Varnhagen, der aufgrund seiner liberalen Ansichten seine Karriere als preußischer Diplomat beenden musste, nach Berlin zurück. In Berlin eröffnete sie den einstigen Salon wieder, und der 24-jährige Poet Heinrich Heine, der sich bereits mit einigen wenigen Gedichtsammlungen einen Namen gemacht hatte, wurde in Berlins kulturelle Elite eingeführt. Der poetische Virtuose feierte unmittelbar Erfolge und avancierte zum neuen literarischen Liebling der Stadt. Heine gehörte der Generation von Rheinland-Juden an, die niemals über den Freiheitsrausch der Napoleonzeit hinwegkamen und die niemals restlos in der »jüdischen« oder in der »deutschen« Identität aufgingen. Das macht ihn allerdings nicht zu einem tragischen Fall, eher zu einem modernen Menschen. Ebenso wie andere seiner radikalen Generation entschied er sich später für das französische Exil, ohne jemals seine Ergebenheit gegenüber der deutschen Sprache aufzugeben. Heines Leben war ein dichterischer Kampf, in dem er viele und sich ergänzende Identitäten erforschte. Der Verdacht lag nahe, dieses Leben als ein Leben der Spaltung zu interpretieren, der Spaltung zwischen dem Judentum und dem Christentum, Glaube und Unglaube, Deutschland und Frankreich. Aber mit dem heutigen schärferen Blick dafür, dass die Geschichte des »deutschen Juden«
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im 19. Jahrhundert nicht die Geschichte der selbstvernichtenden Assimilation ist, sondern der Entwicklung neuer Arten, Jude und Deutscher und Europäer zu sein, ist man nun geneigt, auch Heines Leben in einer anderen Perspektive zu betrachten.35 Seine spöttische Feder und seine scharfe Zunge schonten keine der vielen »Heimaten«. Es ist bezeichnend für Heines Ambivalenz, dass er sich 1825 taufen ließ, aber auch, dass er das offen als eine »Eintrittskarte in die Zivilisation« bezeichnete. Großzügig schuf Heine solch kluge Zeilen. Auf seinem Sterbebett behauptete er, dass er nicht zum Judentum zurückkehre, ganz einfach, weil er es nie verlassen hatte. 1797 wurde er in Düsseldorf geboren, gestorben ist er 1856 in Paris. Gut und gerne verbrachte er die erste Lebenshälfte in Deutschland, die zweite in Frankreich. Er war ein umherstreifender und schwärmerischer Schöngeist und Poet. Gleichzeitig war er ein politisch radikaler Polemiker und ein pointierter Zeitzeuge, mit einem notorischen Unwillen, sich an dauerhafte Allianzen zu binden. 1827 begegnete er während eines Aufenthalts in Frankfurt Ludwig Börne. Zu diesem Zeitpunkt waren sie beide gefeierte und gefürchtete Autoren, und im Disput über die großen Fragen der Zeit fanden sie unmittelbar zusammen. In den folgenden Jahren wurden sie teils als Kampfgenossen, teils als Antagonisten aufgefasst. Ihre Gemeinsamkeiten fallen unmittelbar ins Auge. Sie waren beide im Rheinland in wohlhabende jüdische Familien hineingeboren worden. Keiner von ihnen hatte der Tyrannei des Geldes gegenüber anderes als Verachtung übrig. Das prägte auch die radikale Polemik, die sie sowohl gegen das Christentum als auch gegen das Judentum führten. Dennoch konvertierten sie beide zum Christentum, bevor sie einander begegneten. Oder, um es mit Heines Worten auszudrücken: Von nichtgläubigen Juden gingen sie dazu über, nichtgläubige Christen zu sein. Beide waren sie glänzende literarische Begabungen mit einer politischen Agenda. Aber hier enden auch die Gemeinsamkeiten. Die Vereinfachung ist vielleicht unzulässig, aber Börne hatte einen größeren Sinn für politische als für poetische Visionen. Mit Heine war es umgekehrt. Und trotz einer gemeinsamen ideologischen Plattform waren sie hinsichtlich der meisten Fragen uneins. Ihrer gemeinsamen Freundin Rahel Varnhagen gegenüber soll Heine über Börne gesagt haben, dass er ein besserer Mensch war als er selbst, »besser und größer, aber nicht so grandios«. Zusammen mit Moses Hess und Karl Marx stellten sie die intellektuelle Vorhut der Rheinland-Juden dar, deren Emanzipation schon bald wieder
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nach den Gesetzesänderungen 1808 und dem Wiener Kongress 1815 widerrufen worden war. Von diesen vier war es nur Ludwig Börne, der seine Kindheit in dem berüchtigten Ghetto in Frankfurt verbracht hatte. Er war elf Jahre älter als Heine und wuchs Ende der 1780er und Anfang der 1790er Jahre »im dichtbesiedelsten Gebiet der Welt« auf, in einer Zeit, bevor die Tore fielen. Diese Erfahrung fasste er mit bitterem Pathos zusammen: Ja, weil ich als Knecht geboren, darum liebe ich die Freiheit mehr als ihr; Ja, weil ich die Sklaverei gelernt, darum verstehe ich die Freiheit besser als ihr. Ja, weil ich in keinem Vaterlande geboren, darum wünsche ich ein Vaterland heißer als ihr.36
Diese radikale Leidenschaft inspirierte eine neue Generation deutscher Autoren und Aktivisten. Als die Linkshegelianer im Laufe der 1830er Jahre ihre Kritik am Judentum verschärften, sollte der Hegel-Schüler Carové zu jenen gehören, die erneut auf die Barrikaden gingen, um die Sache der Juden zu verteidigen. Dieses Mal mit Argumenten und gegen den Angriff eines Kreises radikaler intellektueller Ideologen, die das Judentum nicht verurteilten, weil es sich nicht mit dem deutschen, christlichen Staat verbinden ließ, sondern es ganz im Gegenteil deshalb verurteilten, weil es die Wurzel des nationalen und religiösen neuen Denkens war, das die kapitalistische Gesellschaft durchdrang. Die Bewegung wurde Junges Deutschland genannt, und die zentralen Gestalten, Heinrich Laube, Karl Gutzkow und Berthold Auerbach, ließen sich im Kampf für die soziale und politische Emanzipation der Juden von Ludwig Börne und Heinrich Heine inspirieren. Während Auerbach aber, ebenso wie Heine und Börne, Jude war und es zu seiner Lebensaufgabe machte, seinen jüdischen Hintergrund in sein deutsches Aufklärungsprojekt zu integrieren, basierte Gutzkows und Laubes liberale Haltung in der Judenfrage auf der Vorstellung, dass deutsche und jüdische Eigenart unvereinbar waren. Gerade deshalb sei die Emanzipation der Juden erforderlich. Die Vorstellung von einer Eigenart der Juden sollte 1849 eine dramatische Wendung nehmen. Die Damaskusaffäre befeuerte die Fantasie und verwandelte die Prämissen – und die Sprache – für die weitere Debatte über die Judenfrage.
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HÅKON HARKET
15. Dänemark-Norwegen:
Der Zugang der Juden zum Reich
In Søren Kierkegaards Tagebüchern von 1855 – seinem letzten Lebensjahr – findet sich eine ironische kleine Anekdote, die in einem Abriss den Unterschied zwischen der dänischen und der norwegischen Judenfrage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich macht: Beim Thronwechsel 1839 wird in einem unserer Hotels eine politische Generalversammlung abgehalten. Man fällt einander ins Wort, alle eifrig, und unter den Eifrigen ein Jude der allereifrigsten Sorte. An ihn wendet sich ein Ankommender mit der Frage »Was will man?« »Wir wollen die norwegische Verfassung.« »Wie, die norwegische; wissen Sie denn, dass sie die Juden außer Landes jagt?« »Nein, das wusste ich nicht; dann will ich die norwegische Verfassung nicht haben.«1
Zu dem Zeitpunkt, als Kierkegaard sich diesen kleinen Witz notierte, war der sogenannte Judenparagraf im norwegischen Grundgesetz kürzlich geändert worden. Im Laufe seiner fast vier Jahrzehnte langen Existenz waren Juden vom Betreten des Reichs ausgeschlossen gewesen. Zu Ausweisungen war es aber nur in Ausnahmefällen gekommen. Während der Debatte in der Reichsversammlung in Eidsvoll 1814 war dies als mildernder Umstand gegenüber denen verwendet worden, die meinten, der Paragraf sei »unliberal«. Der Paragraf sei zudem nur eine Fortführung der Bestimmungen im norwegischen Gesetz König Christians V. von 1687 gewesen. Während die alte Bestimmung jedoch Geleitbriefe ermöglichte und Ausnahmen für portugiesische Juden machte, war die Bestimmung im Grundgesetz von 1814 eine Verschärfung. Das, was ursprünglich als ein Religionsfreiheitsparagraf – nach nordamerikanischem und französischem Muster – angedacht gewesen war, endete stattdessen damit, allen Ein wohnern, die sich zur offiziellen evangelisch-lutherischen Religion bekannten, aufzuerlegen, ihre Kinder in selbiger zu erziehen, während für Juden, Jesuiten und Mönchsorden ein Zugangsverbot zum Reich eingeführt wurde.
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Die norwegische Ablehnung der Juden wirkt im Lichte der zeitgleich in Dänemark stattfindenden Liberalisierung nicht weniger auffällig. Für dänische Juden war 1814 kein denkwürdiges Jahr, weil ihnen der Zugang nach Norwegen verweigert wurde, sondern aufgrund der Verordnung, die ihnen das dänische Bürgerrecht verlieh.2 Nur Wochen, nachdem der dänische absolute Monarch seinen jüdischen Untertanen ihren Freibrief erteilt hatte, führte die demokratisch gewählte Reichsversammlung in Eidsvoll in die freieste Verfassung der Zeit den judenfeindlichsten Paragrafen Europas ein. Das verlangt nach einer Erklärung, und zwar nach einer besseren Erklärung, als jener, die gegeben wurde. Wie wir sehen werden, hat neuere Forschung dokumentiert, dass Konzipisten mittels Zeitschriften und eigenen Studien der deutschen und französischen Bücher über die Judenfrage die Debatten auf dem Kontinent verfolgten – und sich von Texten von unter anderem Voltaire, Michaelis, Fichte und Buchholz inspirieren ließen.
Holbergs jüdische Geschichte Im 18. Jahrhundert erschienen auf Dänisch zwei umfassende Werke von Autoren, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Geschichte dieser »aller sonderbarsten« aller Nationen auf Erden zu erzählen – »Fra Verdens Begyndelse Til Disse Tider« (Vom Beginn der Welt bis in diese Zeiten). Die Formulierung stammt von Ludvig Holberg, der hier, wie in vielem anderen, mit dem zweibändigen Werk Jødiske historie (Jüdische Geschichte, 1742) voranging. Ebenso wie viele andere große europäische Historiker des 18. Jahrhunderts war Holberg Literat, die Prosa sollte elegant sein, zudem bestand der Anspruch darin, den Leser zu unterhalten, während er von volkstümlichen Vorurteilen befreit wurde.3 Der Geschichtsschreiber Holberg, wie sein Nachfolger Christian Bastholm ihn mit etwas mehr als nur einer Spur Nachsicht bezeichnet hat, machte kein Geheimnis daraus, dass er sich auf eine Reihe in anderen Sprachen vorliegender Arbeiten stützte, gründlich war er jedoch darin zu betonen, dass er der Erste sei, der die ganze Geschichte erzähle.4 Die ersten Juden sollen bereits 1622 nach Dänemark gekommen sein, nachdem König Christian IV. 1616 Glückstadt gegründet hatte. Im Laufe weniger Jahre kamen 30 sephardische Kaufmannsfamilien aus Hamburg und Amsterdam in den Genuss des königlichen Schutzes.5 Die Hoffnung
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war, dass diese Hofjuden dank ihres europäischen Netzwerkes den Handel der Stadt und deren Wachstum vorantreiben sollten. Die Situation in Dänemark entpuppte sich aber als zu provinziell für die Kaufleute, und Glückstadt wurde nie zu einem Erfolg.6 Stattdessen sollte Altona zum Vorposten des dänischen Reiches in Europa werden. Altona wurde besonders für die »deutschen« aschkenasischen Juden zum Zufluchtsort, die überall sonst strengeren Bedingungen unterworfen waren als die sephardischen »Portugiesen«. So war es auch in Hamburg, wo der jüdische Einschlag nach und nach so dominant wurde, dass die Stadt den Beinamen »das kleine Jerusalem« bekam. Hier erhielten die »Portugiesen« ab 1650 die Gelegenheit, sich in Privathäusern zum Gebet zu versammeln, unter der Bedingung, dass nur aus dem Alten Testament gelesen wurde – und nicht aus dem Talmud! Späterhin erhielten sie die Erlaubnis, eine kleine Synagoge zu errichten. Von den »deutschen« Juden wurde die öffentliche Ausübung des Judentums allerdings nicht toleriert: Keine Synagogen und keine Begräbnisstätten. Die letzte Ruhe fanden Hamburgs Juden daher auf dem Friedhof in Altona.7 Als 1682 die freie Stadt Fredericia gegründet wurde, wurde den Juden nicht nur Religionsfreiheit und eine gebührenfreie Aufenthaltserlaubnis angeboten, im Stadtrecht wurde auch explizit benannt, dass sie die Erlaubnis hatten, eine Synagoge zu errichten. Es bestand, kurz gesagt, Bedarf an nützlichen Juden, um den Handel in Gang zu bringen. Aus demselben Grund erhielten jüdische Prominente wie die Hofjuweliere Israel David und Meyer Goldsmith am 16. Dezember 1684 die Erlaubnis, in Kopenhagen Gottesdienste abzuhalten, allerdings hinter verschlossenen Türen und ohne Predigt, damit es keine Verärgerung verursachte. Gleichzeitig blieb das Tor zum Königreich all jenen Juden verschlossen, die nicht privilegiert waren oder deren Ansiedlung in der freien Stadt nicht erwünscht war, die ansonsten selbst jenen Asyl gewährte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Die übergeordneten Richtlinien wurden gleichzeitig auch im Norwegischen Gesetz König Christians V. (1685) abgedruckt, das auf einer Verordnung von Friedrich III. aus dem Jahr 1651 basierte. Allen Juden, die sich ohne Geleitbrief im Land aufhielten, wurde eine Geldstrafe in Höhe von 1000 Reichstalern auferlegt. An gleicher Stelle wurde für den Denunzianten eine Belohnung in Höhe von 50 Reichstalern ausgesetzt.8 Im Jahr zuvor war eine Verordnung zugunsten der Juden erlassen worden, Holberg zufolge unter Einfluss von Manuel Texeira, einem »portugiesischen« Juden, der
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sein Hauptquartier in Hamburg hatte. Texeira war eine legendäre Gestalt im königlichen Handelsleben und soll besonders zu Königin Christina von Schweden ein vertrauliches Verhältnis aufgebaut haben. Wenn er über den neuen Markt fuhr, stand die gesamte Wache Gewehr bei Fuß. Königin Christina machte so ein Aufhebens um ihn, dass sie, als sie im Jahr 1667 nach Hamburg kam, anstatt in das prächtige Quartier einzuziehen, das der Magistrat für sie hergerichtet hatte, ihre Herberge im Haus dieses Juden bezog.9
Nach dem Staatsbankrott 1660 blieb die Familie einige Jahrzehnte lang noch pro forma Gutsbesitzer in Holbæk.10 Der Sohn, Samuel Texeira, erhielt die Verantwortung für den Kupferhandel mit Norwegen. In den 1680er Jahren erhielt Texeira Anteile an dem Kupferbergwerk Løkken und dem Indset Bjergværk. 1691 kamen, als Pfand für Schulden, Anteile am Kupferbergwerk in Kvikne hinzu. 1703 endete das Engagement der sephardischen Kaufmannsfamilie in Norwegen.11 Holberg betont, dass aufgrund der gemäßigten Verordnungen nach 1685 diverse Juden nach Dänemark kommen konnten.12 Er schlussfolgert, dass sie die Religionsfreiheit genossen und wie andere Untertanten beschützt wurden. Im Prinzip, und ein Stück weit auch in der Praxis – wie es aus dem Engagement der Familie Texeira hervorgeht – galt dies auch für Norwegen.
Der Hofprediger erzählt Christian Bastholm ist in seiner Kritik des Judentums in Den jødiske historie (Die jüdische Geschichte, 1777–1782) weitaus deutlicher von seiner theologischen Ausbildung geprägt als Holberg, gleichzeitig aber weitaus detaillierter in seiner Auslegung der verschiedenen Sonderregelungen, zu denen es im 18. Jahrhundert kam. Bereits 1688 kam es ihm zufolge zu einer Verschärfung dahingehend, dass die »deutschen« Juden nicht »spinnen« oder mit Tabak handeln durften, es sei denn, sie bauten in Christianshavn ein von Grund auf gemauertes Haus. Die Absicht dahinter war zu verhindern, dass arme Juden Tabak-Kleinhandel betrieben. Zudem ging es aber auch um die Entwicklung der Stadt. Indessen wurden »deutschen« Juden, die bereits seit mehreren Jahren Tabakfabriken betrieben, bald Ausnahmebewilligungen erteilt, auch ohne dass sie die Kosten für die vorgeschriebenen Gebäude tragen konnten.
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Die Verordnungen aus dieser Zeit verraten auch, dass eine gewisse Besorgnis dahingehend herrschte, ob der jüdische Handelsstand einen nachteiligen Einfluss auf seine christliche Dienerschaft haben könnte. Daher wurden äußerst detaillierte Verordnungen erlassen, um unerwünschte Beziehungen zu verhindern. 1725 war es Christinnen erst im Alter von über 50 Jahren gestattet, eine Anstellung in einem jüdischen Haushalt anzunehmen, während Männer 30 Jahre alt sein mussten. Neun Jahre später wurde dieses Verbot aufgehoben, den Betroffenen aber unter Androhung strengster Strafen eingeschärft, dass es verboten war zu versuchen, christliche Angestellte zum jüdischen Glauben zu verleiten. Das beinhaltete ganz konkret, dass die Bediensteten nicht am Kirchenbesuch gehindert werden durften, aber auch, dass es verboten war, ihnen am Sabbat andere Arbeiten aufzutragen als unter der Woche. Auch durften sie bei religiösen Zeremonien nicht assistieren. Und weil auch die Ernährung eine religiöse Bedeutung trug, versicherte man sich, dass die dänischen und christlichen Sitten und Bräuche auch an jüdischen Festtagen eingehalten wurden. Die Bediensteten sollten Kostgeld bekommen, damit sie nicht gezwungen waren, auf Bier und Roggenbrot zu verzichten.13 Aus Angst vor dem, was mit den Frauen geschehen konnte, hieß es nunmehr: Wenn ein Jude eine Christin schwängert, dann sollte er nicht nach dem Gesetz verurteilt werden. Stattdessen sollte ihn der König nach »Beschaffenheit der Sache« bestrafen. Dahingehend wurde den Ältesten der jüdischen Nation auferlegt, eine komplette Übersicht über alle Christen zu erstellen, die bei Juden in Diensten standen, die sie dann stets zu Ostern und am Michaelistag für den König, den örtlichen Polizeimeister sowie den Gemeindepfarrer aktualisieren mussten. Mitte des Jahrhunderts war man offensichtlich auch der sogenannten Betteljuden überdrüssig geworden, die nach Kopenhagen reisten, um dort Verwandte zu besuchen. 1745 wurde bekannt gegeben, dass Betteljuden, die im Land kein anderes Anliegen hatten, als Verwandte und Freunde zu besuchen, mit demselben Schiff, mit dem sie angekommen waren, unverrichteter Dinge umkehren sollten. Die portugiesischen Juden erhielten hingegen fünf Jahre später die Erlaubnis, in den Reichen und Ländern des dänischen Königs ebenso frei wie Händler anderer fremder Nationen umherzureisen, um ihren Handel zu betreiben. Sie erhielten auch freien Zugang zur Insel Seeland, ohne Geleitbrief oder Pass. Gleichzeitig wurde deutlich gemacht, dass diese Erlaubnis nicht für die »deutschen« Juden galt, und dass Versuche, die Verordnung zu umgehen, mit einem Bußgeld von
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Abb. 6: Ein Kopenhagener »Schacherjude« von etwa 1800. Zu dieser Zeit befanden sich etwa 2000 Juden in Dänemark, die meisten von ihnen wohnten in Kopenhagen. Ungefähr die Hälfte der Juden in der Kopenhagener Gemeinde war so arm, dass sie von Almosen lebte.
zehn Reichstalern oder »in Ermangelung der Bezahlung körperlichem Leid« bestraft werden würde. Der steigende Zuzug nach Kopenhagen hatte laut Bastholm zur Folge, dass die Einnahmen der Priesterschaft in der Gemeinde sanken. Das wurde 1757 korrigiert, als befohlen wurde, die Geistlichen der Stadt zwei Mal pro Jahr mit »Priestergeld« zu entlohnen. Wenn Bastholm, nachdem er eine ganze Reihe solcher Auflagen, Verbote und Grenzsetzungen aufgelistet hat, ebenso wie Holberg schlussfolgert, dass die Juden in den dänischen Ländern nicht unterdrückt würden, dass sie vollkommene Religionsfreiheit sowie dieselben Rechte wie andere dänische
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Bürger genießen, muss das im Zusammenhang mit den strengen Regelungen betrachtet werden, denen alle dänischen Bürger unterstanden. Es ist zwar nicht schwer, in der damaligen dänisch-norwegischen Gesetzgebung Spuren antijüdischen Einschlags zu finden, vergleicht man diese jedoch mit den Restriktionen, die Jesuiten, Mönchsorden, Katholiken, Sinti und Roma und sogenannten Zauberfrauen auferlegt waren, sieht man, dass die Interessen der »portugiesischen« Juden vergleichsweise gewahrt wurden – zweifellos aus Rücksicht auf die Staatsfinanzen. Diese Gruppen erfuhren im Dänischen Gesetz König Christians V. von 1683 eine bedeutend härtere Behandlung als das Verbot, das den Juden vier Jahre später im norwegischen Gesetz zuteilwurde. Indessen waren äußerst wenige der dänischen Juden »Portugiesen«. Bei der Volkszählung um 1800 gab es in Dänemark maximal 2000 Juden. Eine geringe Anzahl von ihnen hatte sich als sephardische Juden registriert, und nur einer von ihnen war über jeglichen Verdacht erhaben.
Die Offenbarung der Druckfreiheit Bastholms Geschichtsdarstellung entstand in den Jahren, unmittelbar nachdem Johann Friedrich Struensee 1770 am Hofe viel Einfluss gewonnen hatte und die Pressefreiheit ermöglicht hatte. In den ersten Jahren war diese absolut, und es wurden mehr als 1000 Schriftstücke verfasst und gedruckt. Für einen kurzen Zeitraum war die dänische Pressefreiheit die weit gehendste in ganz Europa und erweckte außerhalb der Grenzen Dänemarks dermaßen Aufsehen, dass Voltaire höchstpersönlich ein Gratulationsschreiben an den Regenten schickte. Die zeitgenössischen schriftlichen Quellen bieten uns daher einen direkten Einblick in die damalige Gedankenwelt. Die Vorurteile gegenüber den Juden, die seit dem Mittelalter, unter anderem aufgrund der sogenannten Volksbücher, in Dänemark kursierten, wurden vor allem von den Bevölkerungsschichten artikuliert, die ein besonderes wirtschaftliches oder religiöses Interesse an der Judenfrage hatten: dem Zunftwesen und dem Priesterstand. Die Pressefreiheit ermöglichte eine Flut von Anschuldigungen in Form von Pamphleten. In Goldschmied Søren Rosenlunds Jødernes Rænkers Aabenbaring (Die Offenbarung der Ränke der Juden, 1771) mit dem für den Stil der Zeit typischen umständlichen Untertitel »Eine ausführliche Antwort auf die hinter-
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listige Replik der Juden« wurde der Monarch beschuldigt, die verlogenen Juden und ihren angeblichen Versuch, das Land zu plündern, das Gold zu schmelzen und es außer Landes zu schmuggeln, zu beschützen. Rosenlund machte keinen Hehl daraus, dass er sich von Martin Luther hat inspirieren lassen, indem er den deutschen Meister in Sachen antijüdischer Stereotype noch übertraf. Ein Beispiel von der anderen Seite der Frontlinie ist Forsvar skrift for døpte jøder (Verteidigungsschrift für getaufte Juden, 1772). Der Autor Ludvig Jørgen Nyeborg, der sich auf der Titelseite als »Isrëlita Converso« bezeichnet, rechnete mit dem herrnhutischen Probst Henric Gerner ab, der in seinem autobiografischen Buch Vita og Fata aus demselben Jahr der Verächtlichmachung getaufter Juden ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Die Pressefreiheit erlaubte es Nyeborg Gerners Schrift als »ein wirkliches Gift, einen wirklichen Mord-Dolch« zu charakterisieren.14 Gleichzeitig rechnete Nyeborg mit der verbreiteten theologischen Wahnvorstellung ab, dass die Juden eine größere Schuld an der Kreuzigung Christis trugen als andere Sünder: »Denn es waren keine Menschen, sondern die Sünder des ganzen menschlichen Geschlechts, die das Blut unseres gesegneten Versöhners vergossen und ihn ans Kreuz nagelten.«15 Der Hofprediger Bastholm war selbst ein Repräsentant der Geistlichkeit, und in seiner Darstellung sind die in seinem Berufsstand typischen Vorurteile sichtbar. Nach Abschluss seiner Erzählung von der »bürgerlichen Geschichte der Juden« führt er seine Leser in den abschließenden Kapiteln in die religiösen Seiten der Angelegenheit ein. Zu den Rätseln, über die er nachgrübelt, gehört die Frage, warum Gott die Juden zu seinem Volk auserwählt hat: Diese Frage ist für viele Christen ein Anstoß gewesen. Auf den ersten Blick erscheint es auch verwunderlich, dass Gott gerade ein Volk zu seinem Volk auserwählen sollte, welches sich von Beginn an als die unregierbarste und aufsässigste aller Nationen der Welt erwiesen hat, ein Volk, dessen Bosheit seit jeher im Widerspruch zur Güte des Herrn steht.16
Die Antwort, die er darauf gibt, gehört in ebenso hohem Maße zur Geschichte des Antisemitismus wie die Verordnungen, die den Zugang der Juden zum Reich regelten: Die Juden hingegen waren ein Volk, das die Propheten erschlug und ihre Weisen steinigte. Christus sollte nach Gottes ewigem Beschluss geopfert werden; so etwas musste durch Menschenhand geschehen; Gott musste daher ein Geschlecht zu sei-
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nem Volke wählen, das böse genug und verhärtet genug war, den Messias zu opfern, welchen Gott als ihren Erlöser geschickt hatte, und ein solches Geschlecht waren die Juden, wie die Erfahrung zeigt.17
Das beginnende 19. Jahrhundert stellte für das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Dänemark eine Umbruchszeit dar. Die Zeit, in der die Königsmacht ihr Äußerstes tat, um die Juden für das offizielle Christentum zu gewinnen, war vorüber. Früher hatte der Hof ein besonderes Interesse an jüdischen Bekehrungen gezeigt, und die Taufzeremonien in der Schlosskirche waren immer mit großen Festen gefeiert worden. Gegipfelt hatte dies 1728 in einem Schreiben, in dem für die Vajsenhusets Kirke ein eigener Gang für die Juden gefordert wurde. Der Canossagang zur Kirche, der von höhnischen Zurufen begleitet wurde, und die Verkündigung an sich waren eine einzige lange Demütigung, der die Juden mit starken Protesten begegneten. Die öffentliche Kampagne endete, als die Kirche durch einen großen Brand im selben Jahr in Schutt und Asche gelegt wurde, und wurde anschließend nicht wieder aufgenommen. Der Druck, sich der lutherischen Lehre anzupassen, hielt aber an, was aber in ebenso hohem Maße für christliche Dissidenten galt. Gleichzeitig herrschte eine verbreitete Skepsis gegenüber den jüdischen Proselyten, die verdeutlichte, dass die Vorurteile gegenüber Juden nicht nur eine Frage der Religion waren. Das Neue gegen Ende des 18. Jahrhunderts bestand darin, dass dieser gegenseitigen Ablehnung starke Kräfte in der Staatsverwaltung, in der Gemeinde sowie unter den freien Meinungsbildnern entgegenstanden.
In Baggesens Labyrinth In diesen Jahren war die Emanzipation der Juden in Europa auf die Tagesordnung gelangt, und einer derjenigen, der das neue Gedankengut nach Skandinavien brachte, war der Autor Jens Baggesen, der sich im Revolutionsjahr auf eine Reise durch Europa begab. Er reiste durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich. Seine Schilderungen von der Judenstraße in Frankfurt gelten noch immer als einer der großen Momente der dänischen Reiseliteratur. In Labyrinthen (Das Labyrinth, 1792/93) erzählt Baggesen, dass die Wanderung durch die Judenstraße ihn in die tiefste Melancholie versetzt hatte,
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und dass das, was er auf seiner Reise gesehen hatte, Gefühle in seinem Herzen entflammt hatte, die er als so wichtig empfand, dass er sie mit mehr als nur seinen üblichen Lesern teilen musste. Mit Ausnahme des Sklavenhandels hatte die europäische Barbarei kaum eine größere Ungeheuerlichkeit ausgebrütet als »die bürgerliche Verfassung der Juden«. Welche Art von Unrecht hatte Baggesen in der Judenstraße also gesehen, das ihn dazu bewegte, seine Leser anzuflehen, die Lebensbedingungen der Juden öffentlich vor dem Gericht der ganzen Welt anzuklagen? Und wie sollte das einem Leserkreis vermittelt werden, der nicht aus Mangel an humanistischer Gesinnung gleichgültig war, sondern weil die Tradition ihn mit Vorurteilen gegenüber Juden ausgestattet hatte, die durch Baggesens eigene Erfahrungen weitestgehend bestätigt wurden? Er war sich zudem im Klaren darüber, dass weit mehr auf dem Spiel stand als die Lebensbedingungen im Frankfurter Ghetto: »Der Zustand der siebentausend Israeliten hier in Frankfurt ist im Kleinen ein ziemlich genaues Abbild der Existenz des gesamten Volkes in Europa.«18 Es handelte sich mit anderen Worten um eine objektive Elendsbeschreibung von europäischer Dimension. Umso wichtiger war es, der Methode treu zu bleiben, die nun einmal die seine war: Anzustreben, den Leser denselben Weg entlang zu führen, den er selbst gegangen war, sodass dieser am Ende der Reise das Gefühl hatte, selbst gereist zu sein – anstatt nur darüber gelesen zu haben. Denn wie Baggesen selbst konstatierte: In einer Reisebeschreibung ist nichts notwendiger als ein Reisender. In der Begegnung mit der Judenstraße wurde die Ausdrucksfähigkeit der Sprache jedoch auf eine harte Probe gestellt. Ihn erschütterte nicht nur die Armut, es waren vielmehr die seelischen Verkrüppelungen, in die die unwürdigen Existenzbedingungen die Juden getrieben hatten und die ihn gezwungen hatten, die einschmeichelnden Feilbietungen mit Stockschlägen gegen »den einen oder anderen dieser Unglückseligen« zu beantworten. Deshalb reichte eine reine Beschreibung dessen, was er gesehen und erlebt hatte nicht aus, es war notwendig, die Beschreibung durch eine wütende Anklageschrift gegen »den christlichen Vatermord« zu ergänzen.19 Nun glich das Elend der dänischen Juden nicht dem, was Baggesen in Frankfurt gesehen hatte, der Appell hatte aber nichtsdestoweniger Relevanz für die heimischen Verhältnisse. Etwa die Hälfte der Mitglieder der Kopenhagener Gemeinde war so arm, dass sie auf Almosen angewiesen war. 1795 wurde aus Vertretern der Gemeinde in Kopenhagen und der Staatsver-
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waltung eine Kommission zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Juden eingesetzt. Formal betrachtet regierte noch immer der nervenkranke König Christian VII., real betrachtet war es jedoch sein reformbereiter Sohn, Kronprinz Friedrich, der das Land gemeinsam mit dem Norweger Christian Colbjørnsen leitete. Gegen heftige Proteste ermöglichten sie den Juden den Zugang zu den Handwerkerzünften. Aber die Gewissheit, dass die Aussichten auf erweiterte Rechte auch eine entsprechende Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Gemeinde bedeuten würde, führte dazu, dass die Ambitionen der Kommission auch innerhalb der Gemeinde kontrovers waren. Der Oberrabbiner sprach sich öffentlich dagegen aus, dass die Kinder Dänisch lernten. Im 19. Jahrhundert sollte besonders der junge Kaufmann und spätere Redakteur der Berlingske Tidende Mendel Levin Nathanson zum führenden Sprecher der neuen Zeiten werden. Er war einst aus Altona eingewandert. In kurzer Zeit erreichte er jedoch, mithilfe seines Onkels – dem starken Mann der Gemeinde, D. A. Meyer –, dass das Schulwesen, der Religionsunterricht und die Verwaltung der Gemeinde in höherem Grad dänischen Verhältnissen angepasst wurden. Der König quittierte dieses mit dem Beschluss, dass die belastende Bezeichnung »Jude« in offiziellen Dokumenten nicht mehr benutzt werden sollte. Meyer war indessen mehr als nur der starke Mann der Gemeinde, er war auch der inoffizielle Berater des Königs in Wirtschaftsfragen. Und als sich die Probleme hinsichtlich der Finanzen des Reiches ernsthaft auftürmten, wurde er zum Chef des Währungsbüros ernannt, ohne dass die Katastrophe sich verhindern ließ. Lange war das Entgegenkommen des Monarchen gegenüber den Juden des Landes kritisiert worden, jedoch war es der Staatsbankrott 1813, der die sogenannte Literarische Judenfehde auslöste.
Der Paragraf Wenn ein Text mit Versicherungen hinsichtlich edler Absichten beginnt, ist das oftmals ein schlechtes Zeichen. Die Einleitung des dänischen Dichters Thomas Thaarup zur Übersetzung von Moses und Jesus bildet dabei keine Ausnahme: Weder Hass auf die Juden noch der Wunsch nach Profit hätten ihn angeblich zur Übersetzung von Buchholzʼ zehn Jahre altem, antijüdischem Text ins Dänische motiviert, lediglich die Liebe zur Wahrheit. Im Vorwort konstatiert er, dass die jüdische Nation von Anfang an durch
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»Eigennutz, Grimmigkeit und Faulheit« gekennzeichnet sei. Zu Thaarups wiederkehrenden Argumenten gehört die jüdische Verschwörung, die er als »Verheißungen von einer Weltherrschaft, beruhend auf der Unterjochung und Zerstörung aller Nationen« beschreibt. Thaarup zufolge fühlten sich die Juden gegenüber Nichtjuden von der Erfüllung allgemeiner moralischer Verpflichtungen befreit. Er verweist auch auf Napoleons Schanddekret – vom März 1808 – als ein kluges Beispiel zur Nachahmung und liefert einen längeren Auszug aus einem europäischen Jahrbuch über den Umgang des Kaisers mit den französischen Juden. Der Name des Verfassers wird weder von Thaarup noch in der deutschen Originalausgabe genannt, erweist sich bei näherer Untersuchung jedoch als Friedrich Buchholz.20 Christian Bastholm, ein in die Jahre gekommener Bischof, gehörte zu jenen, die zusammen mit Thaarup dagegen ankämpften, dass die Juden bürgerliche Rechte bekamen. Bastholm konnte als Autor des Buches Den jødiske historie und persönlicher Seelsorger des Königs mit großer Autorität Behauptungen zum angeblichen Wesen der Juden aufstellen. Der vielleicht vornehmste Opponent in der Judenfehde war der Autor Jens Baggesen, der aus seinem Exil in Kiel erneut seine Schilderungen vom Frankfurter Ghetto drucken ließ. Auf Seiten der Juden engagierte sich auch Steen Stensen Blicher. Aber auch vonseiten der Juden wurde widersprochen, darunter durch Nathanson, der die wahren Ursachen der Wirtschaftskrise erklärte. König Friedrich VI. hielt an seinen Reformplänen fest, und im März 1814 wurden die dänischen Juden anderen Bürgern rechtlich weitgehend gleichgestellt. Sie hatten zwar noch immer keine politischen Rechte. Sie unterstanden, wie auch im übrigen Europa, noch immer einem eigenen Eid – more judaico –, aber sie hatten fundamentale Rechte erhalten, beschützt vom königlichen Hof, der in zivilen Fragen nicht mehr zwischen Juden und anderen Bürgern unterschied. Im Jahr darauf kommt es zur Abtrennung Norwegens von Dänemark. Entgegen der in Kiel gefassten Übereinkunft der Großmächte, dass Norwegen fortan eine Union mit Schweden eingehen sollte, erklärte die Reichsversammlung in Eidsvoll Norwegen zu einem selbstständigen Königreich und setzte den dänischen Prinzen Christian Friedrich auf den Thron. Die Judenfrage wurde der Versammlung vom Verfassungskomitee als einer der elf Grundsätze präsentiert, die das Plenum diskutierte. Leiter des Komitees war Christian Magnus Falsen, der späterhin als der »Vater der Verfassung« bezeichnet werden sollte. Zusammen mit dem Griechisch-Professor Georg
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Sverdrup und dem Theologen Nicolai Wergeland gehörte er zu den treibenden Kräften hinter der Einführung des zweiten Paragrafen der Verfassung, dem sogenannten Judenparagrafen. Erst 200 Jahre später wurde deutlich, warum dieser eingeführt wurde.21 Während die norwegische Geschichtsschreibung sich früher damit zufrieden gegeben hatte, dass es sich in einem ansonsten liberalen und modernen Grundgesetz um einen Arbeitsunfall handeln musste, wurde nunmehr deutlich, dass er vom Verfassungskomitee als ein grundlegender Teil der ansonsten freien Verfassung angesehen wurde. Urheber waren die bedeutendsten Intellektuellen der Reichsversammlung.22 Während man viel über den Kampf des 33-jährigen Henrik Wergeland für die Aufhebung des im Grundgesetz verankerten Verbots für die Juden eine Generation später wusste, war über den Kampf des 33-jährigen Nicolai Wergeland für dessen Einführung eine Generation zuvor bisher wenig bekannt gewesen. Vater und Sohn waren beide radikale Theologen und Männer der Aufklärung. Beide waren sie der festen Überzeugung, den Kampf für das Gute zu kämpfen. In einer Vielzahl der Debatten, die sie in der norwegischen Öffentlichkeit austrugen, waren sie gar enge Alliierte. Wie konnten die festen Grundsätze, die sie teilten, so diametral gegensätzliche Einstellungen begründen? Protokolle, Briefe, Tagebücher und Handschriften der zentralen Akteure dokumentieren, dass der Paragraf vor allem vom Gedankengut der Aufklärung geprägt war und Ausdruck dessen war, was wir heute als »politischen Antisemitismus« bezeichnen. Das Verbot beinhaltete eine Verschärfung der Gesetze von König Christian V. im norwegischen Teil des Reiches und richtete sich gegen Juden als angebliche Mitglieder einer separatistisch politisch-religiösen Gemeinschaft. Der Grundsatz, der in der Reichsversammlung am 16. April 1814 beschlossen wurde, richtete sich nicht gegen andere Religionen oder Völker. Er richtete sich ausschließlich gegen die Juden. Die Einbeziehung von Jesuiten und Mönchsorden wurde erst in der Sitzung am 4. Mai angeregt. Georg Sverdrups Begründung hierfür ist deutlich: »Nicht wegen Sektenhass, sondern wegen ihrer politischen Meinungen, die dazu führen, dass sie immer ein Staat im Staate bleiben werden.« Der Begriff »Staat im Staate« war früher für die Jesuiten gebraucht worden, die Juden betreffend wurde er jedoch erstmals Anfang der 1790er Jahre von Schiller und Fichte verwendet, zwei der großen deutschen Geister, für die die Protagonisten von 1814 schwärmten.
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Christian Magnus Falsen behauptete 1817, dass die Verfassung den Juden insbesondere »als Anhänger der mosaischen Religion vom Zugang zum Reich ausgeschlossen hat«.23 Das ließe sich leicht als eine religiöse Begründung für den Ausschluss der Juden lesen. Diese wird jedoch nicht allein dadurch religiös, dass sie auf die Religion als entscheidenden Einwand gegen die Juden verweist, es geht um das angenommen Politische in der jüdischen Religion. Das passt sowohl zu Sverdrups Begründung als auch zu dem, was über Falsens Lebensanschauung bekannt ist. Es passt auch zu einer Behauptung Falsens: »Weil der Jude niemals ein guter Bürger eines Staates werden kann, in dem nicht Juden regieren.« Diese Vorstellung äußerte auch Nicolai Wergeland in einem seiner Briefe aus Eidsvoll einem vertrauten Freund gegenüber. Die Begründung für den Paragrafen war also säkular, nicht religiös. Die Begründung dafür, dass eine Taufe ihnen den Zugang zum Reich ermöglichte, war nicht so sehr, dass sie Christen sein mussten, sondern eher, dass sie keine Juden mehr sein durften. Ein nichtgläubiger säkularer Jude aus Berlin gehörte der jüdischen Nation an und war ebenso unerwünscht, wie ein ultraorthodoxer Rabbiner, der direkt aus einem polnischen Schtetl kam. Es war ein Volk, das ausgeschlossen wurde. Und zur Argumentation wurde die Geschichte des Volkes herangezogen. Für Falsen war die Geschichte Religion geworden. Aus seinen hinterlassenen Manuskripten geht hervor, dass er Deist war und unter starkem Einfluss religionskritischen Gedankenguts aus der Zeit der Aufklärung und Napoleons stand. Voltaire hatte es ihm angetan, ganz besonders dessen Großwerk Essai sur les Moeurs. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Voltaires drastischere Texte über Juden eine der Quellen von Falsens Ansichten waren. Der Essai ist gleichzeitig Voltaires Universalgeschichte. Falsen sammelte die Universalgeschichten der Zeit und extrahierte 20 Jahre lang daraus Teile für seine Darstellung der Geschichte der Menschheit. Das Ergebnis war eine redigierte Übersetzung des Werkes des deutschen Historikers Julius August Remer, vermischt mit seinen eigenen Ergänzungen, basierend auf umfassender Lektüre. Zum Motto für das endgültige Manuskript wählte er ein Zitat von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Dennoch ist selbst unter dem Heiligsten nichts, das heiliger wäre als die Geschichte, dieser große Spiegel des Weltgeistes, dieses ewige Gedicht des göttlichen Verstandes: nichts das weniger die Berührung unreiner Hände ertrüge.«24 Es war dieses Interesse an der Universalgeschichte, was Falsen zum Protagonisten in der Debatte über den Platz der Juden in der Geschichte
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machte. Wie sollte die Geschichte der Juden Sinn für denjenigen ergeben, der streng zwischen Glaube und Wissen unterschied und Berichte über Offenbarungen und den Glauben an Wunder nur als politische Herrschaftstechnik betrachtete? Falsen hinterließ ein Manuskript von 100 Seiten über »Moses und die Hebräer zu ihrer Rückkehr nach Canaan«, was seine Vertrautheit mit der Literatur der berühmten Orientalisten aus Göttingen dokumentiert, allen voran Johann David Michaelis, der das dreibändige Werk Mosaisches Recht geschrieben hatte.25 Ebenfalls war er mit der gesamten antiken Literatur der griechischen und römischen nichtreligiösen Auto ren vertraut, deren Argumentationen später im Streit um die historischen Wahrheiten der Bibel während der Aufklärung erneut debattiert wurden – letztlich mit den Juden der Gegenwart als zivile Opfer. Das Manuskript weist auch deutliche Spuren von Friedrich Buchholz auf, dem Autor von Moses und Jesus. Falsen hatte dessen Schriften vor 1814 in der Zeitschrift Europäische Annalen verfolgt und in den Jahren nach 1814 wieder im Journal für Deutschland gelesen.26 Er rezipierte ihn in einem solchen Maße, dass er letztendlich ganze 13 von Buchholzʼ verfassungsrechtlichen Artikeln übersetzte und zwischen 1817 und 1821 in seiner eigenen Zeitschrift Den Norske Tilskuer (Der norwegische Zuschauer) abdruckte. Darunter befand sich auch ein Kommentar zum norwegischen Grundgesetz aus dem Jahr 1816, der die Regelung bezüglich der Juden lobte.27 Durch die gegenseitige Projektion zwischen historischen Studien und aktuellen Anschuldigungen wurde eine Reihe von angeblichen Lastern geformt, die sowohl für die Hebräer des Altertums als auch die zeitgenössischen Juden galten. Diese machten sie zu aussätzigen Gästen in der menschlichen Gemeinschaft von Weltbürgern. In Falsens Manuskript über die Hebräer ist die Argumentation wiedererkennbar, die in Eidsvoll gegen die Juden der Gegenwart verwendet wurde: Ich kann mich nicht überreden zu glauben, dass der gerechte Gott, der allwissende Anführer […] die all-barmherzige Vorsehung, ausschließlich eine Religion als seine anerkannt haben soll, die jedem gegenüber, der sich nicht zu ihr bekennt, den bittersten Hass ausstößt, die ohne die totale Zerstörung von allem, was sie nicht huldigt, nicht bestehen kann.
In einer anderen Passage desselben Textes sehen wir, wie gut sich die Verachtung des Volkes mit der Bewunderung für den »Ägypter Moses« vereinen ließ. Schließlich befinden wir uns im Zeitalter der Verfassungsschriften,
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einem Genre, das Falsen schätzte. Und wer ist dessen großer Meister, wenn nicht Moses? Besonders aber muss es interessieren, den großen Mann kennenzulernen, der die Nation mit Kraft dem Joch der Sklaverei entriss, der sie sozusagen dazu erzog, eine Nation zu werden, der sie bildete und ihnen ihre Verfassung gab, die wir noch immer, – so wenig es auch Sitte ist, Juden in irgendeinem anderen Land, gerade wegen ihrer Originalität und ihrem Geiz, zu Bürgern zu machen – bewundernd als ein Meisterwerk betrachten – ich meine Moses.
Für Falsen war das Mosegesetz das Grundgesetz der Juden, ein Grund gesetz, so souverän, dass es selbst nach 3000 Jahren das widerspenstige Volk in seinem eisernen Griff hielt, ein Grundgesetz aber, das mit dem norwegischen unvereinbar war, welches für freie Bürger geschrieben worden war. Falsen war der Einzige der erwähnten Vorkämpfer für den Judenparagrafen, der seine Meinung niemals änderte. Nicolai Wergeland war der Einzige, der dies in aller Öffentlichkeit tat. In seinem Schlussplädoyer in der Zeitung Den Constitutionelle, worin er 1842 den Part seines Sohnes einnimmt, stellt Wergeland nahezu das Gegenteilige von dem fest, was er in Eidsvoll verfochten hatte: »Der Jude erweist sich als guter Bürger in einem Staat, in dem er gut behandelt wird und ist nur Verräter und feindlich gesinnt, wo er unterdrückt wird.«28 Gleichzeitig zeigt er aber, wie wirkmächtig die alte Sicht in der Judenfrage immer noch war. Eines der gewagteren Argumente seines Sohnes, Henrik Wergeland, für den Zugang der Juden nach Norwegen, ist sein Versuch, die Vorstellung von einem Netzwerk der Juden und ihrer finanziellen Macht zu einem Argument für die Gleichberechtigung zu machen: »[…] ein Volk, das so viel gegenseitige Liebe hat und so weitreichende Verbindungen untereinander, wird von überall her alles tun, um sein bestes Asyl zu retten. Sein Gold wird die ausgetrockneten Hilfsquellen füllen und der Einfluss ihrer Mächtigen dafür in den Kabinetten wirken.« Nicolai greift diesen Aspekt auf, interessant aber ist, wie er ihn aufgreift. Er verneint, dass die Juden innerhalb der Grenzen des Landes eine bedeutende Gefahr darstellen. Keine der debattierten Befürchtungen wiege so schwer wie die Probleme, die außerhalb der Grenzen des Landes entstünden, wenn ein Judenverbot die Juden zu Feinden der Norweger machen würde. Mit einem Verbot sei die jüdische Gefahr größer als ohne:
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Indem wir die Juden zum Feinde bekommen, bekommen wir Feinde in allen Ländern, in allen Teilen der Welt. Diejenigen, die wir verbannt haben, diejenigen, denen wir mit unserem Gesetz drohen, wie den Juden Leja zu behandeln, können gewiss nichts für unser Volk, unsere Staatsverfassung und unseren Handel übrig haben. So sehr wir sie verachten, können sie uns doch überall auf der Welt schaden, sowohl im Frieden als auch im Krieg, im Kleinen wie im Großen, in Staatsangelegenheiten und in Handelsangelegenheiten, und uns Schaden und Unannehmlichkeiten zufügen, die weit das übersteigen, was ihrem Zugang zum Reich möglicherweise folgen könnte.
Die Ablehnung des Zugangs armer Juden nach Norwegen, wie Henrik Wergeland in Vertretung seines Vaters die Problemstellung in der Verfassungsgeschichte formulierte, wird hier zu einer Frage hinsichtlich der Gefahr, die sich daraus ergibt, den reichen Juden den Zugang zu verweigern. Der Paragraf musste weg, und er musste unter anderem deshalb weg, weil der Gedanke eines festen Bündnisses von jüdischen Verschwörern den alten Propst von Eidsvoll nicht losgelassen hatte. In seinem Versuch, eine Aufhebung des Paragrafen zu erreichen, präsentierte Henrik Wergeland 1842 eine Darstellung des Judenverbots, die das Verständnis der Nachwelt nicht nur von der Debatte 1814, sondern auch vom Paragrafen selbst prägte: er sei ein Überbleibsel, ein Vorurteil aus einer vergangenen Zeit. Das Quellenmaterial von Eidsvoll erzählt jedoch eine etwas andere Geschichte. Diese handelt zwar auch von Vorurteilen, jedoch sind sie »aufgeklärt« und »modern«. Die Begründung für den Paragrafen war nämlich politisch und weltlich, und keineswegs religiös. Falsen begründete, wie erwähnt, den Ausschluss der Juden religionskritisch. Das Verbot richtete sich gegen die Juden als Mitglieder einer separatistisch politischen, religiösen und nationalen Gemeinschaft, gegen einen »Staat im Staat« sowie gegen eine Handelskaste, die nicht die Interessen des Staates und das Wohl der Bürger unterstütze. Es war ein Volk, das ausgeschlossen wurde. Und die Argumentation dafür entstammte der Geschichte dieses Volkes. Und die Geschichte war in sich geschlossen. Durch einen Vergleich historischer Studien und aktueller Beschuldigungen entstand eine Vorstellung, die nicht zwischen den Hebräern in Ägypten, den Israeliten in Kanaan, den Juden in Palästina und dem polnischen und spanischen Mittelalter unterschied. Das Ergebnis des Vergleichs machte die Juden der Gegenwart zu aussätzigen Gästen in der menschlichen Gemeinschaft von Weltbürgern. Hierbei kam auch Daniel
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Moldenhawers Text über die spanischen Juden aus dem Jahr 1806 eine wichtige Rolle zu.29 Er war Wergelands Mentor und »väterlicher Freund«. Und in Falsens Manuskript über die Hebräer werden dieselben Formulierungen wie über die Juden der Gegenwart in Eidsvoll verwendet. Die Einführung des Judenparagrafen beinhaltete eine radikale Stellungnahme in einer Debatte über das Bürgerrecht der Juden, die seit den 1780er Jahren geführt worden war und die den bedeutendsten Mitgliedern der Reichsversammlung äußerst gut bekannt war. Die dänische Judenfehde 1813 wurde mit einem Angriff auf die Juden von einem Autor angeführt, mit dessen Schriften Falsen gut bekannt war und die bei Falsens festem Buchhändler in Kopenhagen herausgegeben wurden: Friedrich Buchholz. Dieselbe Debatte trug dazu bei, dass auf der einen Seite die dänischen Juden am 29. März 1814 ihren bürgerlichen Freibrief erhielten und dass ihnen auf der anderen Seite einige Wochen später im norwegischen Grundgesetz der Zugang nach Norwegen verweigert wurde. Dem norwegischen Beschluss lagen Vorstellungen zugrunde, die den Kern allen antisemitischen Gedankenguts ausmachen. Sie waren sowohl in volkstümlicher Tradition verankert als auch theologisch im christlichen Antijudaismus. Sie fanden in den in der Religionskritik der Aufklärung verwendeten antiken Quellen eine säkulare Begründung: Die Juden seien Gottes Lieblingsvolk. Die Juden seien keine freien moralischen Individuen. Die Juden seien verbittert vom Hass gegen alle. Die Juden arbeiteten daran, alles zu zerstören, was das Judentum nicht huldigte. Die Juden seien gierig. Die Juden seien schlau. Die Juden seien rücksichtlos gegenüber allen anderen als ihren eigenen Leuten. Die Juden seien ein tüchtiges Handelsvolk. Die Juden nutzten ihre Geldmacht, um ihre Ziele zu erreichen. Das Ziel der Juden sei die Weltherrschaft. Die Juden seien aber gleichzeitig auch dumm, faul, kulturell rückständig, ein grober Haufen, eine Horde von Armen, die das Land überschwemmen könnte. Die Juden seien ein Staat im Staate. Das Gesetz Moses wurde als das Grundgesetz der Juden betrachtet. Dieses ließ sich nicht mit der freien Verfassung Norwegens vereinen. Falsen hegte, wie eine lange Reihe von Autoren der Aufklärung von Montesquieu bis Michaelis, Schiller und Buchholz, eine tiefe Bewunderung für Moses: »Der kluge Ägypter« war für diese ein großer Autor, ein genialer Staatsmann und der größte Gesetzgeber seiner Zeit, jedes Gesetz aber sei dem kulturellen Niveau und den Sitten des Volkes angepasst, die es steuern solle. »Der kluge Ägypter« hat niemals vorausgesehen, dass der unsichtbare Gott,
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den er erschaffen hatte, um die Bevölkerung zu zügeln und seine politischen Ziele zu erreichen, das Volk über 3000 Jahre lang versklaven und die Juden als Bürger anderer Staaten ungeeignet machen sollte. Die Quellen für das Wertvollste in der ersten freiheitlichen Verfassung Norwegens sind weitestgehend dieselben Quellen wie für den Judenparagrafen. Voltaire inspirierte einerseits zum Kampf für Toleranz, aber andererseits auch zum Hass auf die Juden. Die Begründung für den Ausschluss der Juden waren die Ideen der Aufklärung hinsichtlich Freiheit und Gleichheit, wie man sie bei englischen Deisten, französischen Rationalisten und deutschen Idealisten findet, aber auch bei einem machiavellischen Freidenker wie Friedrich Buchholz. Der Mann, der Moses und Jesus schrieb, war gleichzeitig auch der Mann, der das preußische Emanzipationsedikt verfasste. Und vielleicht ist das die wichtigste Lehre, die aus dem norwegischen Judenparagrafen von 1814 gezogen werden kann: Dass die Quelle zum Schlimmsten in einem Volk nahe an der Quelle zum Besten in ihm liegen kann. Es reicht auch nicht aus, seine Geschichte studiert zu haben, wie universell sie auch sein mag. Für Falsen, Wergeland und Sverdrup war das ein wesentlicher Teil des Problems.
Unter dem Blick einer misstrauischen Mehrheit Auch in dem pragmatischeren Dänemark, wo nunmehr 2400 Juden lebten, bedeuteten die neuen liberalen Verordnungen keineswegs, dass ein Großteil des Volkes die Juden nun akzeptiert hatte. Der schwelende Judenhass, dem die literarische Fehde eine Stimme gegeben hatte, sollte bald einen volkstümlicheren Ausdruck erhalten. In seinem Erinnerungsbuch Das Märchen meines Lebens hat Hans Christian Andersen die Erinnerung an die Tumulte bewahrt, die ihm bei seiner ersten Reise nach Kopenhagen begegneten. Die Ankunft des 14-jährigen Jungen aus Odense sollte später die Grundlage für eine längere Szene in dem Roman Nur ein Spielmann (1837) bilden, in dem das jüdische Mädchen Naomi Augenzeugin einer Welle von Pogromen, begleitet von den Rufen »Hep, Hep!«, wird, die an einem Septembertag 1819 aus Deutschland auf Dänemark überspringen.30 Von Kopenhagen aus verbreiteten sich die Ausschreitungen weiter in die Provinzstädte Lyngby, Hillerød, Helsingør, Slagelse und Odense. Jedoch
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war es die kleine Stadt Vordingborg, die es am härtesten treffen sollte. Die Bauern aus der Umgebung kamen in die Stadt, und bei Anbruch der Dunkelheit gingen sie auf jüdische Geschäfte und Wohnungen los. Später sollten die dramatischen Ereignisse Stoff für Meïr Aron Goldschmidts Debütroman En Jøde (Ein Jude, 1845) sein. Er selbst kam einen Monat nach den Pogromen zur Welt, aber wie er in seinen Erinnerungen schreibt, hatte er die Ausschreitungen »nicht nach ihrer Wirklichkeit, sondern nach ihrer Wahrheit« geschildert.31 In dem Erinnerungsbuch beschreibt er zudem eine Beobachtung, der er auch in dem Roman viel Aufmerksamkeit gewidmet hat: Tagsüber gingen die Bauern noch ihren Geschäften auf dem Markt nach, ohne über den Preis zu streiten. Das war die Ruhe vor dem Sturm. Am Abend suchten die Eltern beim groß gewachsenen Bruder des Vaters Zuflucht, der jeden der Männer mit einer Axt ausstattete. Als ein Brüllen anzeigte, dass der Pöbel sich Zugang zum Haus verschafft hatte, versprach er seiner Frau, dass niemand auch nur den Saum ihres Kleides berühren würde, so lange noch ein Tropfen Blut in ihm war. Der Amtsrichter kam ihm im Namen des Königs jedoch zuvor und schlug mit einem Rohrstock wild um sich. Kurz darauf war die Volksmenge wieder draußen auf der Straße. Wenige Tage später war der Markt wieder in Gang und alles beim Alten. So endete es. Und vielleicht ist die dänische Judenfehde am besten in Kierkegaards zuversichtlichen Worten an Christian VIII. zusammengefasst, der 1849 eine kommunistische Revolution befürchtete: »Was in großen Ländern zu Gewalttätigkeiten wurde, das blieb in Dänemark eine Unartigkeit.«32 Goldschmidt war nicht der einzige Jude, der sich in den Jahren zwischen den Ausschreitungen und der dänischen Verfassung von 1849 öffentlich äußerte, auch Nathansons Neffe Henrik Hertz gehörte dazu. Goldschmidt war jedoch der Einzige, der das Tabu brach und seine Doppelidentität – »Die Mischung aus Judentum und Dänischheit, aus der ich bestehe« – vom Beginn seines Schaffens an zu einem tragenden Thema machte. Bereits im Alter von 20 Jahren machte er als Begründer des satirischen Blattes Corsaren (Der Korsar) von sich reden, allerdings machte dieses ihn eher berüchtigt als berühmt. In einem programmatischen Artikel wurde das Blatt zwischen den revolutionären und den reaktionären Blättern eingeordnet, oder, mit einer Anleihe Goldschmidts aus dem Französischen als juste-milieu. Es dauerte jedoch nicht lange, bis es zu einer ebenso unkalkulierbaren wie unabhängigen Stimme auf dem radikalen politischen Flügel geworden war.
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Im Corsaren wurde das Wort für die Abschaffung des Königtums, die Einführung einer liberalen Verfassung sowie die Wiedereinführung der vollen Pressefreiheit ergriffen. Und auch wenn die Auflagen in die Höhe schossen, waren die Reaktionen gemischt. Der Dichter Henrik Hertz, der eine besondere Feinfühligkeit vertrat, die sowohl für die Urteilskraft in dem Kreis rund um den großen Ästheten und Philosophen der Zeit, Johan Ludvig Heiberg, als auch für die angepassteren Juden der Stadt repräsentativ war – er hatte unter anderem den Rat seines Onkels befolgt und sich taufen lassen –, war nicht begeistert: In einem Staat muss jeder ein Stück seiner Freiheit abgeben, aber Grünschnäbel wie Goldschmidt und Konsorten bilden sich ein, dass die Freiheit darin besteht, vor einer Schildwache eine Zigarre zu rauchen, im Theater die Marseillaise zu singen und Karikaturen für das Volk zu zeichnen.33
Die Zensur ließ nicht auf sich warten, und bald hatte Goldschmidt eine regelrechte kleine Schar aus Hafenarbeitern und Trunkenbolden um sich, die als Gastredakteure auftraten, um einer Beschlagnahmung zu entgehen. Goldschmidts kometenhafte Karriere in der dänischen Presse und sein relativ gutmütiger Umgang mit den Polizeibehörden ist an sich ein Zeugnis dafür, wie weit ein ambitionierter dänischer Jude es im Kopenhagen des Goldenen Zeitalters treiben konnte, ohne seinen Aufstieg zu gefährden. Das oberste Gericht verurteilte ihn letztlich zu 24 Tagen bei Wasser und Brot sowie zu lebenslanger Zensur, der Gefängnisaufenthalt hatte jedoch eher den Charakter von Erholung als Strafe. Laut seinen Erinnerungen 30 Jahre später sollten »Wasser und Brot« nicht allzu wortwörtlich verstanden werden. Es war kaum möglich, ein Glas Wasser zu bekommen, weil die Bediensteten ihm so viel lieber Tee hatten servieren wollen. Der furchtlose Stil und die radikale politische Agenda Goldschmidts in der Corsaren-Zeit schürten zweifellos die konspirativen Vorstellungen über die gesellschaftszerstörende Macht der Juden, die in der Literatur im Umlauf waren. Die dänischen Literaten der Zeit waren hinsichtlich der üblichen antijüdischen Stereotype gut belesen. Sie kannten ihren ewigen Juden und ihren Shylock. Es reicht aus, einen Blick in Kierkegaards Tagebücher zu werfen, nachdem der Corsaren-Streit ernsthaft seine Spuren hinterlassen hatte. Die Begriffe werden mit straffen Zügeln in den üblichen Schablonen gehalten, das zeitgenössische Publikum wird jedoch hart kritisiert, sodass der Judenhut passt:
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Das Publikum ist von allem das ideenloseste, ja, ist just der Gegensatz zur eigentlichen Idee. Denn das Publikum ist die schiere Zahl. Von dort kommt auch, was unsere Zeit auszeichnet und worauf bereits Poul Møller seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte, ohne es jedoch zu erklären – dass Juden sich besonders als Publizisten eignen. Der Jude ist im Allgemeinen fantasielos auch gemütlos, abstrakten Verstand aber hat er – und die Zahl ist sein Element.34
Der Weg war nicht weit vom Juden in der bestimmten Form, Goldschmidt, zu den Juden in der unbestimmten Form, den »Publizisten«. Der erwähnte Poul Møller ist niemand anderer als der »glückliche Liebhaber der Gräzität« aus der Widmung in Kierkegaards Buch Der Begriff Angst, der Philosoph und Dichter, der einige Jahre lang – von 1826 bis 1831 – Professor für Philosophie an der Königlichen Friedrichs-Universität in Christiania gewesen ist. Seinem Biografen zufolge behauptete Møller – »mit komischer Ernsthaftigkeit« –, dass eigentlich alle liberalen Agitatoren von Bedeutung Juden waren. Es wird nicht weniger komisch, dafür aber vielleicht ironischer dadurch, dass sich die Verbindung zwischen dem Liberalismus und dem Judentum, von allen Orten, wo Møller sich »im konstitutionellen Leben abgestoßen« gefühlt hat, in Norwegen gefestigt zu haben scheint. Für Møller war das liberale Streben Ausdruck »niederer Naturantriebe« wie Herrschsucht und Eigennutz, und die norwegischen Tendenzen zu Aufruhr standen unter offensichtlichem Einfluss der Julirevolution. Dadurch wurde der Liberalismus zum Synonym für das Judentum.35 Kierkegaard spinnt in seinen Tagebüchern einige dieser Fäden weiter, sein Verhältnis zum Judentum war jedoch Teil einer größeren offenen Rechnung mit dem Christentum generell und mit dem offiziellen Christentum in Dänemark im Speziellen. Beispielsweise entwickelte er seinen Begriff von Verzweiflung, der besonders in Entweder – Oder, Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode berührt wird, rund um die Idee des Ahasverus, des ewigen Juden, mit dem sich Kierkegaard stark identifizierte. Die christlich gefärbte Legende hatte ihren Ursprung im ambivalenten Verhältnis sowohl des Mittelalters als auch der Romantik zum Judentum. Kierkegaard wandte sich der Legende jedoch mit seinem ganz persönlichen Anliegen zu.36 Es mangelte nicht an abscheuerregenden Beschreibungen, die Goldschmidts Tätigkeit im Licht von angeblich jüdischen Charakterzügen deuten. Kierkegaard war jedoch weitaus stärker daran interessiert, den anderen Møller, Peter Ludvig Møller, zu treffen, den Kritiker, den Zechbruder und Erotomanen, der sein Leben in syphilitischer Emigration in Dieppe be-
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endete. Die Verleumdung war das Mittel der Zeit, und Goldschmidt hatte sich ihr selbst bedient und sich als heimliche Last des Bürgerstandes in der Öffentlichkeit eingeführt. Hans Christian Andersen drückte es wie folgt aus: »Es ist das amüsanteste Blatt, das wir haben, das heißt, wenn man selbst nicht darin steht, denn dann ist es niederträchtig. Außer vom Pförtner oder vom Kutscher wird es in vornehmen Häusern nicht gehalten, aber doch wird es von der Herrschaft verschlissen.«37 Goldschmidt legte sich mit mächtigen Feinden an und kann nicht als repräsentativ für die dänischen Juden bezeichnet werden, am wenigsten hinsichtlich seiner Lust an der Konfrontation. Er war die Ausnahme, die in Vertretung aller Geschichte schrieb. Gleichzeitig war er es, der der Gegenwart und der dänischen Literatur das indiskrete Bild vom Juden in seinem Zuhause geben sollte – in dem Roman En Jøde (Ein Jude). Engagiert, wie er in den großen politischen Fragen der Zeit war, stürzte er sich Hals über Kopf in die Debatte über die Zugehörigkeit der Schleswig-Holsteiner zur dänischen Nation. Nachdem er sich einen Abend lang ergiebig über das dänisch-jüdische Trauma ausgelassen hat, ließ er Møller gegenüber seinen Frustrationen freien Lauf. Kurz zuvor hatte er im Rahmen einer politischen Massenkundgebung das Wort ergriffen und in die Versammlung hineingerufen, dass er Jude sei: »Was will ich zwischen euch?« Als Antwort hatte er ein schallendes Willkommen erhalten. In seinen Erinnerungen berichtet er, dass die sich anschließende kompromisslose Rede ihn ungeheuer glücklich gemacht hatte. Seine eigene Antwort lautete, dass er dort zu Recht stünde, weil er als Jude ihnen das Wort brächte: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Gegen die Schleswig-Holsteiner nützte es nichts, die andere Wange hinzuhalten. Im Nachhinein hatte ihn die Episode in eine traurige Gemütslage versetzt, weil das, was scheinbar jüdische Selbstbehauptung war, in Wirklichkeit ein verlogener Verrat war: Denn als ich mich lautstark als Jude bekannte, sprach ich mit einer Art christlichen Bewusstsein, berichtete von der jüdischen Religion, nicht, was sie mir gelehrt hatte, sondern was man in der christlichen Schule, ausgehend von einer einfachen, bürgerlichen Gesetzesbestimmung darüber gelernt hatte, und während ich dachte, sie zu erheben, setzte ich sie in Wirklichkeit zu einem Untertanen herab, dienlich der Wut und dem Unfrieden.38
Es ist eine entsprechende Verzweiflung, die in dem erlösenden Gespräch mit Møller zum Ausdruck kommt. Zum ersten Mal sprechen sie mensch-
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lich miteinander. Zum ersten Mal erzählt er von dem Schmerz, als Jude in Dänemark zu leben. Nicht zuerst die Tatsache, dass er von Ämtern ausgeschlossen ist, von Wahlen zu Ständeversammlungen, vom Heer und von der Flotte. Weitaus schlimmer sind die Nichtbeachtung und die Anfeindungen, denen er in der Gesellschaft begegnet, in den Häusern, auf den Straßen. Goldschmidt redet sich in Fahrt. Die Juden stehen außerhalb des Gesetzes und ohne Rechte da, verurteilt, zerrissen zu werden, zugrunde zu gehen. Møller bringt keine Einwände vor, nimmt letztendlich nur seinen Hut und seinen Stock, um zu gehen, bevor er die erlösenden Worte sagt: »Mit solchen Gefühlen schreibt man einen Roman.«39 In Ein Jude findet sich das alles zusammen in potenzierter Form: der Stolz und die Scham, die Vorurteile und die Ambitionen, die Riten, die Sitten und die Sprache. Aber selbst wenn Goldschmidts abenteuerlustiger Held, Jakob Bendixen, zweifellos eine Reihe von Zügen und Erfahrungen des Autors geliehen bekommt, ist die Romangestalt doch ebenso sehr von den literarischen Konventionen der Romantik geformt. In Jakob Bendixen finden sich Aspekte von Lord Byron wie auch von Meïr Aron. Mit dem Abstand von 150 Jahren sind die detaillierten Schilderungen, die er vom Leben in dem jüdischen Zuhause in Vordingborg hinterlassen hat, noch immer von demselben großen Interesse. In der Gegenwart war es gerade diese Seite des Buches, die für Ärgernis sorgte. Viele Juden empfanden diese als zu indiskret. Eine profane Ausstellung nationalreligiöser Dinge, lautete Goldschmidts eigene Zusammenfassung der Reaktionen. Selbst die Koryphäe des Kulturradikalismus, Georg Brandes, fand, dass Goldschmidt dem Innenleben der jüdischen Familie ziemlich nahe kam und warnte davor, »seine Großmutter in einer scharfen Soße zu servieren«. Von Interesse ist der Text auch als Spiegel der Ambivalenz, die eine Generation von Juden im Aufbruch dominieren sollte. Von Juden, die in der Zeit zwischen den Ausschreitungen von 1819 und der Einführung der dänischen Verfassung von 1849, das den Juden die volle politische Gleichstellung brachte, zur Reife gelangten. Treffend zusammengefasst wird das von Goldschmidt selbst: »Das zähle ich zu einer der glücklichen Bedingungen am Jude-Sein: dass man sich nämlich unter einem misstrauischen Blick der Mehrheit fühlt.«40
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Wergelands Kampf mit dem Grundgesetz Der Corsaren hatte auch in Norwegen viele begeisterte Leser. Im Herbst 1842 kehrte P. L. Møller mit Grüßen von Henrik Wergeland an Goldschmidt aus Kristiania (dem heutigen Oslo) zurück. Goldschmidt, der gemäß § 2 der norwegischen Verfassung keinen Zugang zum Land hatte, war erfreut zu hören, dass der Corsaren so beliebt war, dass er es verdiente, norwegisch zu sein.41 Henrik Wergeland hatte lange für die »Judensache« gekämpft, über die im Herbst desselben Jahres im Parlament abgestimmt werden sollte. Seine erste öffentliche Initiative in der Angelegenheit hatte er bereits 1832 ergriffen, und kurz bevor das Parlament 1839 aufgelöst wurde, hatte er einen formellen Vorschlag hinsichtlich der Streichung des Passus über die Juden in der Verfassung vorgelegt. In seinem Kampf für eine Entfernung dessen, was seiner Ansicht nach ein nicht zu tolerierendes Missverständnis war, das dem übrigen Geist der Verfassung widersprach, mobilisierte Wergeland die ganze Vielfalt der von ihm beherrschten Genres. Norwegen, das ansonsten eine der freiesten Verfassungen Europas hatte, befand sich hier in Gesellschaft des fanatischen Spaniens. Wergeland war ein leidenschaftlicher Vertreter aller Sachen, die er sich zu eigen machte, keine Angelegenheit beschäftigte ihn in den letzten Jahren seines Lebens jedoch stärker als die Judenfrage. In der Zeit nach 1814 waren vereinzelt verstreute Versuche unternommen worden, diese wieder aufzunehmen, aber die Verfassung war noch neu und nicht gefestigt, und es herrschte eine generelle Abneigung dagegen, die einzelnen Paragrafen einer erneuten Diskussion zu öffnen. Das hätte das ganze Gewebe schnell zum Reißen bringen können. Auch darum hatte man bestimmt, dass Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehrheit erforderten. Wergeland teilte diese Sorge, zumindest räumte er sie rhetorisch ein, aber zum einen hielt er die Verfassung nunmehr für robust genug, um das auszuhalten, und zum anderen musste der Drang zum Schutz einem wichtigeren Ziel weichen: Der Sorge um die universellen Ideale der Menschlichkeit, mit denen das Unrecht gegenüber den Juden im Konflikt stand, und denen alle Gesetze untergeordnet werden mussten. Im Herbst 1841 erschien Inlæg i Jødesagen (Beitrag in der Judensache). Es waren bereits zwei Jahre vergangen, seit er den Vorschlag vorgetragen hatte, und Wergeland wollte kein Argument gegen die Juden unbeantwortet lassen, sei es wirtschaftlicher, religiöser, sozialer oder nationaler Art. Das Buch
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Abb. 7: Die Hep-Hep-Unruhen erreichten auch Kopenhagen, wo die sogenannte Judenfehde tiefen Eindruck auf den jungen Hans Christian Andersen machte, der am Vorabend der Gewalttätigkeiten aus Odense in der Stadt ankam. Die Erlebnisse sind in dem Roman Nur ein Spielmann (1837) geschildert.
wurde zu Wergelands ausführlichster und systematischster Verteidigung der Rechte der Juden. Es beinhaltete eine neue, aktualisierte Darstellung der Geschichte der Juden in Dänemark, Norwegen und Schweden und zog umfassendes Vergleichsmaterial aus anderen Ländern Europas heran, in denen die Emanzipation der Juden bereits eine empirische Realität und keine bloße spekulative Hypothese mehr war. Im Gegensatz zu Holberg und Bastholm, die die Geschichte der Juden schrieben, um sie zu interpretieren, schrieb Wergeland über die Geschichte der Juden, um sie zu verändern. Die Darstellung ging in eine Streitschrift ein, die darauf abzielte, den Leser von der Vortrefflichkeit der Juden zu überzeugen. Die Tatsache, dass Wergeland seinen Text in einem polemischen Stil verfasst hat, machte ihn in den Details nicht weniger zuverlässig. Geschrieben wurde er von dem passionierten Polemiker in ihm, die Recherche oblag jedoch dem Historiker des Staatsarchivs, der er auch war. Seine Arbeit, zuerst als Universitätsbibliothekar und anschließend als Bürochef des Staatsarchivs, trug dazu
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bei, dass er über einen privilegierten Zugang zu schriftlichem Quellenmaterial verfügte. Daher stellte es für ihn keine Schwierigkeit dar aufzuzeigen, dass die meisten der Eidsvoll-Väter, inklusive seines eigenen Vaters, mangelhafte Kenntnisse hinsichtlich der vielen Verordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts gehabt haben mussten, die den Juden den Zugang zum dänisch-norwegischen Reich gewährt hatten. Ebenso stellte er die unterschiedliche Behandlung der deutschen und der portugiesischen Juden dar, die er, prinzipiell betrachtet, nicht akzeptieren konnte, die aber ebenso sehr beinhaltete, dass sephardischen Juden, mit Ausnahme kurzer Zeiträume, vor 1814 der Zugang zum Reich nicht verwehrt worden war. Obwohl er als »steter Tropfen, der den Stein höhlt«, gearbeitet hatte, gelangte der Vorschlag nicht durchs Parlament. Er erreichte zwar eine Mehrheit, für eine Änderung des Grundgesetzes reichte diese jedoch nicht aus. Somit ging der Streit weiter. Wergeland brachte bereits am selben Abend einen Vorschlag zu einer erneuten Behandlung ein. Anschließend machte er die Debatte selbst zum Gegenstand eines journalistischen Buches: Jøde saken i det norske storting (Die Judensache im norwegischen Parlament, 1842). Erneut legte er alle Argumente vor. Zudem setzte er sein Vertrauen in die Poesie. Sowohl sein Buch Jøden (Der Jude, 1843) als auch Jødinnen (Die Jüdin, 1844) wurden zu großen Publikumserfolgen, wobei er selbst dafür Sorge trug, dass jedes Parlamentsmitglied ein Exemplar von Jøden erhielt. Er war der Meinung, dass die Gedichte einen größeren Einfluss auf die Angelegenheit haben würden, die 1845 erneut zur Behandlung kommen sollte, als alle pädagogischen und polemischen Artikel zusammen, egal wie unwiderlegbar diese auch waren. Im selben Jahr erschien in Dänemark allerdings ein Buch, das unerwarteterweise den Widerstand gegen die Verfassungsänderung befeuern sollte. Ein Autor namens M. L. Nathanson, ein angeblicher Konvertit zum Christentum, behauptete, alle Juden würden dazu erzogen, die Christen zu hassen und zu verachten.42 Daher müsse er vor einer Änderung der norwegischen Verfassung warnen. Das Buch wurde gelesen und ihm wurde geglaubt, was unter den Kaufleuten und Handwerkern wiederum zu einem wachsenden Widerstand gegen eine Zuzugserlaubnis für Juden führte. Für die meisten Norweger war Nathanson ein unbeschriebenes Blatt, für die Leser des Corsaren jedoch war er kein Unbekannter. Goldschmidt hatte sich einen großen Spaß aus der Namensverwechslung zwischen dem durchgeknallten Pferdehändler M. L. Nathanson aus Randers, der ein paar Mal
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aus der psychiatrischen Heilanstalt geflohen war und sich als Querulant durchgeschlagen hatte, und dem ehrenwerten Redakteur der Berlingske Tidende, der Stütze der Gesellschaft, M. L. Nathanson, gemacht, der seine Kinder zwar hatte taufen lassen, der selbst der Synagoge aber treu geblieben war. Die meisten Artikel über Nathanson im Corsaren haben diese Verwechslungskomödie zum Dreh- und Angelpunkt. Der Höhepunkt in der satirischen Verwendung des Pferdehändlers aus Randers im Corsaren trifft jedoch Søren Kierkegaard. Nach einigen vergeblichen Versuchen, im Rahmen zufälliger Begegnungen in den Straßen Kopenhagens mit dem Philosophen ins Gespräch zu kommen, der selbst strikt unter Pseudonym publizierte, wurde Goldschmidt dem überdrüssig und gab im Corsaren bekannt, dass es nicht jener Søren Kierkegaard sei, der sich hinter dem streitlustigen Pseudonym Frater Taciturnus verstecke, wie man es zuvor vermutet hatte, sondern der Pferdehändler Nathanson. Goldschmidt machte sich auch in grober Weise über die Polizeibehörden lustig, die sich scheinbar nie darüber einig wurden, ob Nathanson verrückt genug war, um in die psychiatrische Heilanstalt zu gehören, oder zurechnungsfähig genug, um hinter Schloss und Riegel zu gehören.43 Wergeland wurde vermutlich von anderen jüdischen Quellen über den mentalen Zustand des Pferdehändlers Nathanson informiert. Dieses Wissen war ihm so oder so ein willkommener Anlass, noch einmal zur Feder zu greifen, um diese falschen Behauptungen über die jüdische Ethik zu dementieren, die ironischerweise sein eigener Vater während der Reichsversammlung in Eidsvoll verfochten hatte. Als im Jahr darauf die Botschaft in Dänemark die Runde machte, dass Henrik Wergeland auf dem Sterbebett lag, schrieb der Autor von Ein Jude einen ergreifenden Abschiedsgruß an den Autor von Der Jude, der Däne und der Norweger, die einander aufgrund des norwegischen Judenparagrafen nie begegnet waren. Stattdessen begegneten sich die beiden Kampfhähne im Reich des Geistes. Und sollen wir Goldschmidt glauben, so war dies kein schlechter Ersatz: Vom ersten Augenblick an, als ich Sie sah – im Reich des Geistes; denn es war in Ihren Dichtwerken –, liebte ich Sie. Oft habe ich an die Freude gedacht, die es wäre, Sie einmal grüßen zu können. […] Wenn ich an Sie denke, Wergeland, bin ich stolz, ein Mensch zu sein. Hier haben wir einen Mann, der dem Tod ins Auge sieht, der wie Gunnar singt, während sich der Tod in sein Herz bohrt. Hier sehen wir mit eigenen Augen, dass es eine Unsterblichkeit gibt, dass dem Menschen durch Gott eine
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göttliche Seele gegeben ist. Wergeland! Lassen Sie mich Ihnen dafür danken und für alle schönen Stunden, die Sie mir geschenkt haben. Lassen Sie mich Sie grüßen als den größten lebenden Dichter des Nordens, als den Dichter, der in jedem seiner Werke für mich das Bild einer nordischen Granitklippe hervorgerufen hat, von der die Palmen des Südens und goldene Orangen entspringen.44
Brandes und die Freiheit des Geistes Der norwegische Nationalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand zu gleichen Teilen aus Protestantismus und Patriotismus. Gott und Vaterland waren zwei Seiten derselben Medaille. Die Judenfrage forderte beide heraus. Die Diskussion, ob die Juden ein Volk, eine Rasse, eine Nation oder eine Religion seien, hatte Wergeland zum Vorteil der Religion entschieden. Wie die Erfahrungen im übrigen Europa gezeigt hatten, trugen die Juden das Potenzial in sich, loyale und gute Norweger zu werden. Sie waren in seinen Augen zu einem Tatendrang erzogen, den die norwegische Gesellschaft schmerzlich benötigte. Den Zugang der Juden nach Norwegen zu einer Frage der Taufe zu machen, sei absurd, außerdem fördere das Heuchelei – die Taufe mache niemanden zum Norweger, und eine Taufe auf Grundlage von Opportunismus mache niemanden zum Christen. Das Ergebnis könne sein, dass einige wenige schlechte Juden angelockt wurden, während die vielen guten außen vor gehalten wurden. Deshalb reagierte auch Wergeland mit Wut, als sich 1844 zwei Juden aus Schweden Zugang nach Norwegen verschafft hatten und die Hauptstadt mit Tauschgeschäften und Betrügereien auf den Kopf stellten. Im Verhör versicherten sie den Behörden, dass es ihre Absicht sei, sich taufen zu lassen. Sie wurden nach Schweden zurückgeschickt, Wergeland aber war nicht zufrieden und forderte, dass die Synagoge in Schweden sie bestrafen solle. Zu Recht befürchtete er Nachwirkungen in Form von zunehmendem Judenhass.45 Während der Debatten über den Paragrafen im norwegischen Parlament 1845 und 1851 wurde behauptet, dass in Göteborg sogenannte Schacher juden bereit zum Ablegen seien und nur darauf warteten, einreisen zu können. Es wurde befürchtet, sie würden in Horden ins Land strömen. Trotzdem wurde das Zugangsverbot für Juden 1851 aufgehoben. 1865, nach 14 Jahren, hatten sich 25 Juden in Norwegen niedergelassen. Anscheinend war die Gefahr vorüber. Es sollten einige Jahre vergehen, bis die norwe-
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gische Öffentlichkeit wieder daran erinnert wurde, dass dies keineswegs der Fall war. In Kopenhagen hatte sich der Philosoph und Literaturkritiker Georg Brandes als Leuchtfeuer für moderne Denkströmungen einen Namen gemacht. 1884 gehörte sein Bruder, der Journalist und Politiker Edvard Brandes, zu den Gründern der kulturradikalistischen Zeitung Politiken, die einen starken Einfluss als meinungsbildendes Blatt erlangen sollte. Die Diskussion über das Verhältnis der Brüder Brandes zum Judentum ist noch immer nicht abgeschlossen, nicht, weil Zweifel an ihrer jüdischen Herkunft besteht, sondern, weil sie selbst den mosaischen Glauben leugneten. Georg Brandes weigerte sich zu akzeptieren, dass das Judentum etwas anderes als eine Religion sei, die ebenso wie das Christentum verschwinden und dem modernen Rationalismus Platz machen würde. Dennoch war er nicht frei von der Art jüdischer Selbstbehauptung, wie man sie bei Benjamin Disraeli findet, dem er ein ganzes Buch widmete.46 Bereits bevor es so weit kam, dass er Friedrich Nietzsches aristokratischen Atheismus vorstellte, wurde ihm 1876 verweigert, an der Universität in Kristiania eine Rede zu halten, unter Verweis darauf, dass er die Opferung Isaaks als eine Legende bezeichnet haben soll. In seiner rügenden Rede in der Studentengemeinschaft im Dezember desselben Jahres richtete er eine vehemente Kritik gegen § 92 der Verfassung, der festlegte, dass Beamte Mitglieder der Staatskirche sein mussten. Brandes zufolge seien die Aussichten gering, dass Norwegen in einer einigermaßen nahen Zukunft »bloß den erbärmlichen Fortschritt [erreichen kann], den sogar das wenig konstitutionelle Deutsche Reich erreicht hat, dass die bürgerliche Ehe obligatorisch ist«.47 Brandes’ Kritik an dem Mangel an Geistesfreiheit in Norwegen löste einen Sturm aus, der sich nicht nur gegen den Religionskritiker B randes richtete, sondern auch gegen den Juden Brandes. Der Priester Johan Christian Heuch, später Bischof in Kristiansand, war Lehrer an dem praktisch-theologischen Seminar in Kristiania, als Brandes die Stadt besuchte. Im Jahr darauf erschien als Sonderdruck beim Verlag Gyldendal in Kopenhagen seine Schrift Dr. G. Brandes Polemik mod Kristendommen (Dr. G. Brandes’ Polemik gegen das Christentum). Die Eröffnungszeilen können als eine abschließende Erinnerung daran gelesen werden, dass der Antijudaismus ein Vierteljahrhundert, nachdem er 1851 aus dem norwegischen Grund gesetz gestrichen worden war, in tonangebenden Kreisen noch immer als eine christliche Tugend durchging. Aber auch, dass der Antijudaismus nicht
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nur ein Kampf gegen eine Religion war, sondern in ebenso hohem Maße auch ein Kampf gegen ein Volk, das dazu geboren sei, das Christentum zu hassen. Wir befinden uns im Geburtsjahr des Begriffs »Antisemitismus«, und Brandes baut eine Brücke zwischen dem alten und dem neuen Judenhass. Der Reformjude habe den Platz des Talmudjuden eingenommen, im Grunde aber sei der moderne Jude von demselben unauslöschbaren Christushass motiviert, der seinerzeit Jerusalems Juden dazu brachte, »den Herrn Jesus zu töten«: Dass die antichristliche Strömung unserer Tage zu einem wesentlichen Teil jüdischen Ursprungs ist, durch jüdische Quellen genährt wird und in geborenen Juden ihre energischsten Fürsprecher hat, sind Sätze, die bereits so oft ausgesprochen wurden, dass sie langsam Abnutzungserscheinungen aufweisen. Und doch ist es notwendig, immer wieder die Tatsache zu betonen, dass in unseren Tagen die in jeglicher Hinsicht glänzendste, tadelloseste, fanatischste und deshalb auch in jeder Hinsicht verlockendste Reaktion gegen das Christentum nicht vom Abfall innerhalb des Schosses der Kirche ausgeht – das erzeugt in der Regel nur ein mehr oder weniger prinzipienloser und deshalb schlaffer, sinnloser Rationalismus –, sondern von dem Israel, das von den Überlieferungen seines Volkes und dem Glauben nur das stolze Selbstbewusstsein behalten hat, allen anderen Völkern überlegen zu sein und seinem unauslöschbaren Hass gegenüber dem Christentum, worin die Ursache liegt, dass es schon so lange ein Paria zwischen den Nationen ist.48
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HÅKON HARKET
16. Die Damaskusaffäre Sie war die erste der modernen antisemitischen Affären, und sie sollte tiefgreifende Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinden in ganz Europa haben. Modern, weil der Kampf um die Schuldfrage der Juden, wie bei der Dreyfus-Affäre mehr als ein halbes Jahrhundert später, in der französischen, deutschen, englischen, italienischen, kurz gesagt in der europäischen Öffentlichkeit ausgefochten wurde. Tiefgreifend, weil die Angelegenheit in den jüdischen Gemeinden über Landesgrenzen hinweg bis in die Flure der Macht hinein zu einer Kampagne führte, dergleichen die Welt bis dato nicht gesehen hatte. Es war eine Affäre, die, obwohl letztendlich versucht wurde, sie als einen Sieg über die Fantasien von jüdischen Ritualmorden zu feiern, den nicht weniger gefährlichen Zwangsvorstellungen von einer jüdischen Weltverschwörung neue Kraft verlieh, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Fälschung Die Protokolle der Weisen von Zion ihre endgültige Form finden sollten. Ihren Ausgangspunkt nahm sie in etwas so Prosaischem wie den Ermittlungen zum Verschwinden eines Paters, bald jedoch fanden Schreckensberichte über angebliche Blutopfer, Folter und Verstümmelungen den Weg in die europäischen Medien. Letztendlich mündete es in eine diplomatische Bataille zwischen den europäischen Großmächten Frankreich, Österreich und England, die nicht losgelöst von dem Kampf um die Hegemonie im Nahen Osten betrachtet werden kann.
Ritualmord in Damaskus? Am 5. Februar 1840 verschwand der Kapuzinermönch Pater Tomaso zusammen mit seinem Diener, Ibrahim Amara, aus dem Kloster im christlichen Stadtteil von Damaskus. Pater Tomaso stammte ursprünglich aus Sardinien, nachdem er aber 32 Jahre als Priester und helfende Hand unter den Armen der Stadt verbracht hatte, war er zu einer Berühmtheit in der Stadt
Ritualmord in Damaskus?
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geworden. Er war unter anderem eigenhändig für die Impfung mehrerer Tausend muslimischer Kinder verantwortlich. Bereits am Tag nach seinem Verschwinden machten Gerüchte die Runde, dass er zuletzt auf dem Weg in den jüdischen Teil der Stadt gesehen worden sei, und als der französische Konsul beim Kloster ankam, hatte sich um das Haus eine Menschentraube aus Christen der Stadt versammelt, die schrie, dass er von Juden geschlachtet worden sei. Gemäß einer Praxis, die auf eine französisch-türkische Übereinkunft aus dem Jahr 1740 zurückging, hatten die römisch-katholischen Ordensbrüder im Osmanischen Reich Anspruch auf französischen Rechtsschutz. Die Konsuln verfügten über eigene Polizisten, sie hatten eigene Gefängnisse und ihr eigenes Gericht. Zudem wurden sie immer von einem Dolmetscher und einem Ortskundigen begleitet, einem sogenannten Dragoman mit diplomatischer Immunität und Vertretungsberechtigung für lokale Rechtsinstanzen, wenn französische Untertanen Bedarf an einer Verteidigung hatten. Als der ehrgeizige französische Konsul, Graf von Ratti-Menton, im November 1839 nach Damaskus kam, um französische Interessen zu wahren, stand in der Region viel auf dem Spiel. Syrien hatte bis vor Kurzem dem Osmanischen Reich unterstanden, war den Türken Anfang der 1830er Jahre jedoch von einem ihrer früheren Alliierten, dem ägyptischen Herrscher Mehmet Ali, genommen worden. In den darauffolgenden Jahren war in dem großsyrischen Reich, zu dem damals auch der Libanon und Palästina gehörten, eine Reihe lokaler Aufstände ausgebrochen. Die europäischen Großmächte fürchteten um die Stabilität in der Region und unterstützten die osmanische Führung bei ihren Plänen zur Rückeroberung. Diese war indessen erst 1839 von Streitkräften zurückgeschlagen worden, die von Mehmet Alis Sohn, Ibrahim Pasha, angeführt wurden. Die Franzosen ergriffen Partei für die Ägypter, während die Briten und die Russen die Türken unterstützten. In den Monaten, in denen sich die Damaskusaffäre abspielte, befand sich Syrien in den Händen von Mehmet Ali, dessen Adoptivsohn, Sherif Pasha, die Besatzungsverwaltung leitete. Nachdem er einige vorläufige Untersuchungen vorgenommen hatte, schickte Ratti-Menton den Dragoman, Jean-Baptiste Beaudin, zu Sherif Pasha, um ihn über die Angelegenheit zu orientieren. Er wurde gebeten mitzuteilen, dass Pater Tomaso zuletzt im jüdischen Viertel gesehen worden sei und dass viel darauf hindeute, dass es sich um einen Ritualmord
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Die Damaskusaffäre
handeln könnte. Der Generalgouverneur erteilte dem Konsul die notwendigen Vollmachten zur Durchführung von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen mithilfe örtlicher Polizeikräfte. Muhammed el-Telli, ein muslimischer Häftling, der sich in der jüdischen Gemeinschaft gut auskannte, wurde im Austausch gegen vermeintliche Informationen, die auf die Spur möglicher Verdächtiger führen könnten, auf freien Fuß gesetzt. Vier Juden der Stadt wurden verhaftet. Einer von ihnen war der Barbier Solomon Halek. Pater Tomaso und sein Diener seien zuletzt auf dem Weg zur Synagoge gesehen worden, um dort an der Tür eine Bekanntmachung über eine bevorstehende Auktion anzuschlagen. Der Handzettel war ganz oben an der Straße neben dem Haus des Barbiers gefunden worden. Nach drei Tagen Verhör unter Regie des Konsuls wurde indessen klar, dass die zur Verfügung stehenden Ermittlungsmethoden nicht ausreichend waren, um zur erwünschten Aufklärung des Falls zu führen. Daher übergab Ratti-Menton den Barbier in die Obhut von Sherif Pasha. Und der Durchbruch ließ nicht auf sich warten. Innerhalb weniger Tage lag ein umfassendes Geständnis vor, das sowohl Rafael Fahri als auch David Harari einbezog, die Oberhäupter der beiden reichsten und prominentesten jüdischen Familien der Stadt. Ende Februar verfasste der französische Konsul einen detaillierten Bericht über den Ablauf der Ereignisse, den die Ermittlungen aufgedeckt hatte. Erst einen Monat später kam der Bericht bei der Regierung in Paris an. Darin ist von heftigen Sachen die Rede, er enthielt detaillierte Beschreibungen der angeblichen Ritualmorde, die auf Anweisungen des Chefrabbiners Jacob Antebis stattgefunden haben sollen: Er sagte, er habe seinen Kopf am Bart hochgezogen, damit das Blut in eine Kupferwanne fließen konnte; er hatte ihn komplett entkleidet und alle Kleidungsstücke verbrannt; der Körper, der noch immer in einem Stück war, wurde in den Nebenraum getragen […]. In der Zwischenzeit war Hararis Diener zu dem Haus zurückgekehrt und war zusammen mit dem Barbier dazu bewegt worden, Pater Tomaso aufzuschneiden. Anschließend zerschmetterten sie den Schädel auf den Marmorsteinen. Zum Schluss, im Schutze der Dunkelheit, entledigten sie sich dem, was an Fleisch und Knochenresten noch übrig war, in einem der Rinnsteine im Hof.1
Weiter informierte der Konsul in seinem ausführlichen Bericht, dass er nur widerwillig, und erst nach und nach, seine Skepsis gegenüber den Behauptungen hinsichtlich des Ritualmordes aufgegeben hätte. Auf direkte Nachfrage hatte Hararis Diener eingeräumt, Einzelne seiner Glaubensgenossen
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von diesen Ritten sprechen gehört zu haben: Das Blut wird einem Rabbiner überlassen, der es mit Mehl vermischt und den ungesäuerten Teig knetet. Matzot, wie das Brot auf Hebräisch heißt, wird während der Ostermahlzeit gegessen, die Verwendung des christlichen Blutes sei jedoch ein gut bewahrtes Geheimnis für alle anderen als den Kreis eingeweihter Rabbiner. Gerade weil die Behauptungen hinsichtlich eines Ritualmordes so grotesk und mittelalterlich waren, war es für den Konsul von großer Bedeutung, ein Gerichtsprotokoll vorzulegen, das von moderner Methodik und logischer Konsistenz geprägt war. Es sei wichtig zu dokumentieren, dass man vom Wunsch getrieben gewesen sei, der Sache auf den Grund zu gehen. Deshalb unterstrich er, dass die Verhöre so stattgefunden hätten, dass die Zeugen keine Möglichkeit gehabt hätten, ihre Geschichten untereinander abzustimmen. Auch seien die technischen Beweise – einige Knochenreste, die im Innenhof von Hararis Haus gefunden worden waren – von mehreren unabhängigen medizinischen Experten untersucht worden. Nach drei Wochen intensiver Nachforschungen meinte Ratti-Menton, die Sache sei wasserdicht. Er habe nicht nur den Interessen seines Landes gedient, in dem er eine enge Zusammenarbeit mit dem Generalgouverneur entwickelt habe, er habe in Vertretung der christlichen Bevölkerung der Stadt auch Tatkraft bewiesen. Und niemand habe bisher die Stimme zum Protest gegen den Prozess erhoben, nicht einmal im Privaten – mit Ausnahme, natürlich, der Juden selbst.
Die Reaktion der Damaskus-Juden Als ihnen bewusst wurde, dass sie in den Ermittlungen hinsichtlich des verschwundenen Paters als Sündenböcke auserkoren worden waren, hatten die führenden Juden der Stadt schnell eingegriffen, um die schädlichen Auswirkungen möglichst gering zu halten. Indessen sollte sich zeigen, dass die Initiatoren der Affäre hart zurückschlugen. Die Belohnung, die für einen Beitrag zur Aufklärung der Angelegenheit ausgesetzt wurde, wurde als ein Versuch der Bestechung betrachtet. Dem im Nachhinein verfassten schriftlichen Zeugnis des Chefrabbiners zufolge war das Schicksal der Juden bereits vor Aufnahme der Ermittlungen besiegelt. Jacob Antebi sei zu Sherif Pasha einberufen worden, wo ihm ein Ultimatum gestellt worden sei: Entweder werde der Mönch gefunden oder die Juden müssten die Konse-
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quenzen tragen! Daraus entwickelte sich ein Wortgefecht, an dessen Ende der Generalgouverneur Antebi ins Gesicht schlug und ihn mit dem Vorwurf hinauswarf: Es erscheint ausgemacht, dass ihr ihn ermordet habt, um das Blut zu verwenden, und dass dies ein Brauch ist, den ihr praktiziert. Habt Ihr nichts von den Ausweisungen aus Spanien und anderen Vertreibungen gehört und den Tausenden von Juden, die aus diesem Grund getötet wurden? Und dennoch haltet ihr an dem Brauch fest und tötet Menschen im Geheimen! Jetzt habe ich geschworen, dass auch ich Unzählige von euch töten werde, bis nicht mehr zwei von euch hier übrig sind.2
Eines der ersten Dinge, die einem auffallen, wenn man heute über die Angelegenheit liest, ist, dass die sadistischen Details der angeblichen Morde und die zur Erzwingung der Geständnisse verwendeten Verhörmethoden einer gemeinsamen Fantasie entsprungen sind. Ein Missionar vom Jerusalem-Büro der London Society for promoting Christianity Amongst the Jews, der konvertierte Jude George Wildon Pieritz, kam Ende März in Damaskus an. Eines der ersten Dinge, die er tat, war, die Methoden zu notieren, die während der Verhöre angewendet wurden: Geschlechtsorgane wurden malträtiert, die Angeklagten wurden ins Eisbad gelegt, sie wurden verprügelt und ausgepeitscht, bis sich das Fleisch von den Knochen löste. Viele von ihnen bekamen das gefürchtete Tourniquet zu spüren, eine Stacheldrahtkrone, die um die Stirn befestigt und straff gezogen wurde, bis die Augen aus den Augenhöhlen sprangen. Bärte wurden angezündet, und unter Fuß- und Fingernägel wurden Nadeln geschoben. Und wie in einem späteren Bericht festgestellt wurde: Am meisten litten die, die weder geständig waren noch andere beschuldigten. Zwei von ihnen waren Rabbiner. Auffällig ist auch, dass alle Juden, die sich unmittelbar für eine Lösung der Angelegenheit einsetzten, in den Folterkammern Pashas landeten. Die meisten von ihnen hatten auch persönliche Konflikte mit Ratti-Mentons Dragoman. Es wurde spekuliert, ob seine schlechte private Finanzlage dazu beigetragen hatte, dass er dafür sorgte, den kompletten jüdischen Geschäftsstand in die Sache hineinzuziehen. Dem französischen Maßstab der damaligen Zeit zufolge war das Gerichtsverfahren eine Farce, unterschied sich jedoch nicht sonderlich von der übrigen Rechtspraxis Sherif Pashas. Die Verhöre der Verdächtigen waren identisch mit der Behandlung bei Gericht; Ermittlung und gerichtliche Überprüfung waren ein und dasselbe. Alles war vorbereitet, um ein Ge-
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ständnis zu erzwingen, das bestätigen konnte, was man bereits meinte zu wissen. Das kommt deutlich in der Behandlung des jüdischen Tabakverkäufers Isaac Yavo zum Ausdruck, der sich hatte überreden lassen, vor Gericht zu erscheinen, nachdem der Chefrabbiner gedroht hatte, Juden zu exkommunizieren, die nicht alle relevanten Informationen preisgaben. Der junge Mann, der auf dem Markt am anderen Ende der Stadt arbeitete, behauptete, den Pater und seinen Diener an besagtem Abend kurz vor Sonnenuntergang auf dem Weg aus der Stadt hinaus gesehen zu haben. Entgegen wiederholter Versicherungen gegenüber dem Rabbiner, dass Yavo nicht ungebührlichem Druck ausgesetzt werden würde, kam man überein, dass dieser seine Zeugenaussage im französischen Konsulat machen sollte. Nach drei Tagen im Gewahrsam von Ratti-Menton wurde er dennoch den Männern von Sherif Pasha überlassen, die ihm 5000 Peitschenhiebe versetzten. Infolge eines zeitgenössischen Berichts soll die Familie große Schwierigkeiten gehabt haben, die obligatorische Waschung der sterblichen Überreste vorzunehmen. Ein interner französischer Regierungsbericht gibt einen Einblick in die Logik, die die Ermittlungen steuerte: Da die Stelle, wo der junge Mann behauptete, den Mönch gesehen zu haben, auf der Westseite der Stadt liegt, während sich das Judenviertel auf der Ostseite befindet, nahm er [Sherif Pasha] an, dass er log; er fragte ihn, ob er instruiert worden sei, das aber bestritt er. Anschließend wurde er gepeitscht; er machte keine Zugeständnisse und wurde ins Gefängnis gebracht, wo er starb.3
Der Fall war aufgeklärt, und vor diesem Hintergrund richtete Ratti-Menton abschließend einen heftigen Appell an die Regierung in Paris, dass den Schuldigen die strengste Strafe des Gesetzes auferlegt und sie hingerichtet werden müssten. Ein gleichlautendes Ersuchen hatte Sherif Pasha an Mehmet Ali nach Kairo geschickt.
Die Presse und der Vatikan Was folgte, war, im Rückblick betrachtet, ein Anschauungsunterricht für erfolgreiche Propaganda. Innerhalb weniger Wochen war der Streit um die Ermittlungen aus dem lokalen Konflikt zwischen den christlichen, jü dischen und muslimischen Gruppen in Damaskus herausgehoben und in die internationale Arena hineingeführt worden, wo er in Parlamenten und
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Regierungsvierteln, in den formellen und informellen Netzwerken der Macht ausgekämpft wurde. Von dem Augenblick an, als die Nachricht ernsthaft in die europäische Presse gelangte, drehte sie sich um weitaus mehr als um das Schicksal des Kapuzinermönchs. Wie gelangte die Nachricht dorthin? Die erste Reportage über die Angelegenheit stand am 13. März – einen reichlichen Monat nach dem Verschwinden des Paters – im Sémaphore de Marseille und basierte auf einer Notiz aus Beirut vom 21. Februar. Die Darstellung war relativ nüchtern. Dort stand nichts von einem Ritualmord, und es wurde kein Geheimnis daraus gemacht, dass man sich während der Ermittlungen der Folter bedient hatte. Aber bereits wenige Tage später erschien in mehreren französischen Zeitungen eine Ankündigung, dass »der blutige Schleier, der das Mysterium verbirgt, bald gelüftet wird«. Am 22. März kann die Leipziger Allgemeine Zeitung vereinzelte Details aus den Verhören entlarven und mehrere der Beteiligten mit vollem Namen präsentieren. Anfang April erschienen schließlich die Artikel, die den Fall zu einem internationalen Skandal machten. Verschickt wurden die Artikel am 22. März aus Alexandria und zuerst in Sémaphore de Marseille und Sud veröffentlicht. Hier werden alle Details der Geständnisse ausgebreitet. Die Darstellung, nicht nur der Morde, sondern auch der angeblichen rituell-religiösen Motivation, die unterstellt wurde, wurde jetzt in einer Reihe von Europas einflussreichsten Zeitungen wiedergegeben. Die Intensität in der Verbreitung der Neuigkeiten im Verlauf dieser Wochen gab Grund zu dem Verdacht, dass es sich um gezielte Indiskretionen handelte, eine orchestrierte Kampagne, um die Juden an den Pranger zu stellen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Ratti-Menton äußerst aktiv daran arbeitete, Informationen von den Ermittlungen zu verbreiten. Das Bild ist jedoch komplexer. Eine Reihe von Zeitungen sah davon ab, das Material zu veröffentlichen, darunter Publikationen, die in Frankreich dem linken Milieu zugeordnet werden konnten, sowie liberale Zeitungen in England, Holland, Deutschland und Belgien. Es gab auch Zeitungen, die bereits von dem Fall berichtet hatten, es aber unterließen, die Sache weiterzuverfolgen, nachdem die wirklich schockierenden und verkäuflichen Nachrichten aus Damaskus kamen. Der Umgang des Vatikans mit dem Fall war Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Teils, weil die Opfer im Dienste der Kirche gestanden hatten, teils, weil die angeblich begangenen Verbrechen jahrhundertelang als eine
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jüdische Bedrohung gegenüber christlichen Kindern dargestellt worden waren, eine Praxis, die wiederholte Male von zentralen kirchlichen Stellen (im Umfeld des jeweiligen Papstes) zurückgewiesen worden war. Neu war, dass es nun einen Mönch im Alter von über 60 Jahren getroffen habe, und neu war, dass mit dem Segen von Europas modernster und säkularster Großmacht eine polizeiliche Ermittlung in Gang gesetzt worden war. Wie reagierte also der Vatikan? Aus den Dokumenten zu dem Fall in den kirchlichen Archiven, die in neuerer Zeit in ihrer Gesamtheit durchgesehen wurden, geht hervor, dass Papst Gregor XVI. den Fall über seinen Außenminister Kardinal Lambruschini genau verfolgte.4 Zudem engagierte sich der Leiter der Congregatio de Propaganda Fide, der Kongregation für die Verbreitung des Glaubens, Kardinal Fransoni, in Rom in seiner Eigenschaft als Pater Tomasos Vorgesetzter. Seinen zuverlässigsten Informanten hatte er in Sardiniens Generalkonsul in Alexandria, Pietro Cerruti. Cerruti schickte Fransoni eine Serie von Briefen, begleitet von Berichten lokaler Quellen. Die Korrespondenz soll in der Frühphase starken Einfluss auf die Sichtweise des Vatikans auf die Angelegenheit ausgeübt haben. Die Berichte waren detailreich und lehnten sich eng an die offizielle Version des Falls an. Der Vatikan erhielt auch die Kopie eines Briefes, den Cerutti vom Konsul in Aleppo erhalten hatte. Darin wurde konstatiert, dass es nun als bewiesen angesehen wurde, »dass die Juden, aus Gründen, die mit religiösen Prinzipien zu tun haben, jedes Jahr Menschen schlachten, um das Blut zu verwenden.«5 Der erste Brief, den der Papst selbst erhielt, kam von dem toskanischen Konsul in Alexandria, der Berichte beigelegt hatte, die er direkt aus Damaskus erhalten hatte. In einem der Briefe wurde erklärt, dass die Zeugenaussage des Barbiers unter Folter zustande gekommen war und dass Juden, die versuchten zu fliehen, verhaftet wurden. Es gab auch einen Hinweis auf die Verhaftung von 60 jüdischen Kindern, deren Eltern gesagt worden sei, dass sie in Gewahrsam blieben, bis der Fall aufgeklärt sei. Dem nüchternen Brief aus Damaskus lag ein anderer, weniger nüchterner, bei, der zwei Wochen jünger war. Darin wurde die Aufklärung des Falls mit all ihrem unheimlichen Grauen als ein Sieg der Gerechtigkeit dargestellt. Die örtlichen Behörden wurden dafür gelobt, die wütenden Volksmassen daran gehindert zu haben, alle Juden der Stadt auszulöschen. Alles deutete darauf hin, dass der Vatikan die Informationsstrategie fest, aber diskret im Griff hatte. Lambruschini war gründlich darin, seinen diplomatischen Pfad rein zu halten, und die eigenen Nachrichtenorgane des
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Vatikans unterließen es in auffallendem Maße, über den Fall zu berichten. Alle Informationen wurden stattdessen an den Bischof von Modena weitergeleitet, der dafür sorgte, sie der katholischen und weltlichen Presse außerhalb des Kirchenstaates zugänglich zu machen. In den Archiven des Vatikans findet man auch die Abschrift eines angeblich authentischen Schreibens über »Das Mysterium des Blutes«, verfasst von einem Mönch aus Moldawien. Das Dokument ist in einem beliebten Genre verfasst: verschwörungstheoretische Schriften, die vorgeben, von innen heraus jüdische Verschwörungen aufzudecken. Es wurde behauptet, dass der Mönch ein konvertierter Rabbiner war, der unter der Androhung von Strafen, sollte er es jemals weitererzählen, von seinem Vater in die Geheimnisse der Ritualmorde eingeweiht worden war. Das Buch – geschrieben 1803, und 1834 in griechischer Übersetzung in Rumänien veröffentlicht – wurde in den kirchlichen und diplomatischen Kreisen Alexandrias umgehend sehr populär. Jetzt wurden Teile des Textes von dem griechisch-katholischen Patriarchen in Alexandria ins Italienische übersetzt und an Fransoni geschickt, der umgehend erkannte, welche Bedeutung das entwickeln konnte. Gleichzeitig schickte der toskanische Generalkonsul in Alexandria eine Kopie des Buches an Lambruschini, der es mitsamt anderer Dokumente, die mit dem Fall zu tun hatten, an Fransoni weiterleitete. Die Instruktion lief darauf hinaus, dass sie mit Diskretion so verwendet werden sollten, dass die Schuld der Juden an Pater Tomasos Tod in ganz Europa bekannt würde. Auf keinen Fall aber sollte der Verdacht entstehen, dass die vertraulichen Informationen aus dem Vatikan kämen. Und sie erzielten eine große Reichweite. Im Juni wurden Auszüge aus dem Buch in der einflussreichen Times in London abgedruckt, die die Juden in England damit schockiert hatte, in der Damaskusaffäre eine »neutrale« Haltung einzunehmen. Im September 1840 erhielt Fransonis Sekretär im Gegenzug Dokumente vom Bischof aus Modena. Diese liegen seither sicher verwahrt in den geheimen Archiven des Vatikans.
Ein internationaler Skandal Es waren mehrere Umstände, die dazu führten, dass aus dem Fall nach und nach ein internationaler Skandal wurde. Die Gerüchte über die Ritualmorde sorgten in einer Reihe anderer Städte der Region schnell für Unruhe. Kurz
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darauf erreichten Europa Berichte, dass die Mitglieder mehrerer jüdischer Gemeinden im Nahen Osten Angst um ihr Leben und ihr Eigentum hätten. Sie wären umgeben von wütenden Bevölkerungsgruppen, die nun eine Bestätigung für ihre angstgeprägten Vorurteile über Juden erhalten hätten. Eine Reihe anderer Fälle von verschwundenen Personen wurde mit jüdischen Blutopfern in Verbindung gebracht. Es wurde nicht besser, als eine ganze Woche nach dem Verschwinden von Pater Tomaso auf Rhodos der Junge einer griechisch-orthodoxen Familie verschwand. Mit westlichen Diplomaten als Zuschauern wurde der designierte Hauptverdächtige gefoltert. Eine große Gruppe der jüdischen Gemeinschaft der Insel wurde in die Angelegenheit mit hineingezogen, und die ersten Meldungen darüber, dass der Fall in Damaskus aufgeklärt sei und dass die Ritualmordpraxis der Juden bewiesen seien, führte für die Juden auf Rhodos zu erneuter Folter. Die Gerüchte vergifteten das Verhältnis zwischen Juden und den übrigen religiösen Gemeinschaften in Beirut, Smyrna, Jerusalem und Alexandria, ja, im gesamten Nahen Osten. Die Annahme, dass die Juden, gemäß den Anweisungen im Talmud, für die Ostermahlzeit christliche Kinder opferten, war in der Vorstellung vom Judentum in den christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten tief verankert. Eine Serie von Vorfällen hatte im 19. Jahrhundert dazu beigetragen, die Fantasie des Volkes wach zu halten: Aleppo 1810, Beirut 1824, Antiokia 1826, Hama 1829, Tripoli 1834 und Jerusalem 1838. Damaskus sei nur der endgültige Beweis dafür, dass man die ganze Zeit über recht gehabt hätte. In Europa hatte es seit 1530 keine entsprechenden Vorfälle mehr gegeben. Nicht allen europäischen Konsuln fiel es daher leicht, Ratti-Mentons Darstellung zu akzeptieren. Aber selbst jene, die in den ersten Wochen noch Sherif Pasha verdächtigt hatten, die Affäre um das Verschwinden des Geistlichen inszeniert zu haben, um von den Juden Geld zu erpressen, ließen sich von den gefundenen angeblichen Beweisen überzeugen. Erst als Isaac Picciotto für die Mitwirkung am Mord an Pater Tomasos Diener verhaftet wurde, geriet die »Ermittlungsarbeit« ins Stocken. Picciotto war österreichischer Untertan und fiel daher unter die Gerichtsbarkeit Caspar Merlatos. Merlato, der die Ermittlungen in der Frühphase gelobt und der Handhabung des Falls durch Sherif Pasha und RattiMenton seine rückhaltlose Unterstützung gegeben hatte, unterstand formal dem Konsul in Alexandria, Anton von Laurin, der den Fall mit zunehmender Skepsis verfolgte. In der Reihe von Zuschriften, die Staatskanzler Clemens
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von Metternich (1773–1859) anlässlich des Falls erhielt, soll sich auch ein Ersuchen von Salomon Mayer von Rothschild befunden haben. Der Niederschlag in der österreichischen Presse kann sehr genau datiert werden. Am 11. April war die Titelseite der führenden Zeitung des Landes einer Schilderung der teuflischen Ränke der Damaskus-Juden gewidmet. Metternich hatte die Sache von der ersten Stunde an als Erfindung betrachtet, und jetzt gebot er dem Ganzen Einhalt. Am Tag darauf wurde eine ganz andere Geschichte erzählt. Jetzt fanden sich keine Beweise mehr dafür, dass Pater Tomaso ermordet worden war, und noch weniger, dass er von Juden ermordet worden war. Die am Tatort gefundenen Belege, die angeblichen Überreste vom Skelett des Paters, hatten sich bei näherer Betrachtung als Überreste von einem Tier erwiesen. Wenige Tage später empfing Mehmed Ali den österreichischen Konsul in Alexandria, der gegen die Methoden protestierte, die während der Ermittlungen zur Anwendung gekommen waren. Zu diesem Zeitpunkt waren zwei der verhafteten Juden bereits unter der Folter gestorben. Der Vizekönig wollte die diplomatische Lage nicht weiter verkomplizieren. Am 20. April erließ er ein Verbot gegen den weiteren Einsatz von Folter und befahl seinem Adoptivsohn, die geplante Hinrichtung der zehn bereits zum Tode verurteilten Juden auszusetzen. Das Engagement von Metternich und Laurin in dieser Angelegenheit führte auch dazu, dass Österreichs Botschafter im Vatikan Ende Juni Kardinal Lambruschini einen Besuch abstattete, um einen Brief der Regierung zu überreichen. Der Brief beinhaltete eine heftige Abrechnung mit den Ermittlungsmethoden, die aufgedeckt worden waren: Neue Verbrechen und Morde werden begangen – im Großen und Ganzen angefeuert von unseren eigenen Glaubensgenossen – unter dem Deckmantel, die Wahrheit zu suchen, mit der Konsequenz, dass viele der Angeklagten der willkürlichen und grausamen gerichtlichen Verfolgung durch die Muslime überlassen wurden. Und das, nicht als ein Resultat dessen, dass die Schuld bewiesen war, sondern in Wirklichkeit auf Grundlage von privaten Geschäftsinteressen und des religiösen Hasses, der zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen im Land herrscht.6
Es wurde darauf hingewiesen, dass Pater Tomaso kurz vor seinem Verschwinden in einen Streit mit einer Gruppe arabischer Muslime verwickelt gewesen sein soll, und dass einer von ihnen in der Gegenwart von Zeugen Rache an dem Pater geschworen habe. Gleichzeitig wurde auf die Zeugenaussage von Isaac Yavo verwiesen, die darauf hindeutete, dass der
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Pater und sein Diener bei Sonnenuntergang die Stadt verlassen hätten. Das war seither von mehreren Muslimen in der Gegend bestätigt worden, die sich aber aus Angst nicht der Polizei anvertraut hatten, nachdem Yavo zu Tode gepeitscht worden war. Die Regierung richtete nun einen inständigen Appell an den Papst, sich an sämtliche religiösen Oberhäupter der Region zu wenden, um eine groß angelegte Suchaktion nach Pater Tomaso in Gang zu setzen oder zumindest herauszufinden, ob ihn jemand gesehen hatte, nachdem er Damaskus verlassen hatte. Zehn Tage später kam die Antwort. Die höchst glaubwürdigen Quellen des Vatikans gäben keinen Grund zu bezweifeln, dass der Pater von den Juden in Damaskus ermordet worden war. Eine Suchaktion würde zudem einer Kränkung von Pater Tomasos Andenken gleichkommen. Sollte er am Leben sein, musste er die Nachrichten über die gerichtliche Verfolgung der Juden in Damaskus zweifellos mitbekommen haben. Wäre er geflüchtet, hätte er deshalb ein Lebenszeichen von sich gegeben, es sei denn, man erkannte ihm jegliche Anständigkeit ab. Vor diesem Hintergrund wurde das Ersuchen abgewiesen. Für die treuen Diener der katholischen Kirche, die Kardinäle Fransoni und Lambruschini, waren die Ritualmorde in Damaskus »ohne Schatten von Zweifel« eine Grauen erweckende Realität und Teil eines Handlungsmusters, das von der eigenen Quellschrift der Juden – dem Talmud – diktiert worden war. Wie der toskanische Konsul in Alexandria in einem seiner vielen Berichte in Erinnerung rief, gäbe es keine anderen Motive dafür, dass die wohlhabenden Juden den Mönch ermordet hätten, als religiösen Fanatismus. Folglich müsste die Erklärung in den heiligen Schriften der Juden gesucht werden. Dem Antwortbrief Lambruschinis lagen Übersetzungen von Auszügen aus dem Talmud ins Italienische bei, die der religiöse Glaubenszeuge der Anklagebehörde, Mohammed Effendi, vorgenommen hatte. Vor dem Verschwinden des Paters hieß er Moses Abu el-Affieh und war Rabbiner. Unter Folter konvertierte er zum Islam. Die von ihm produzierten Talmud-Passagen sollten zu einem späteren Zeitpunkt des Jahrhunderts wiederholt in antisemitischen Schriften über jüdische Blutopfer in Deutschland und Frankreich auftauchen.
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Die Rettungsaktion Die öffentlichen Bedenken hinsichtlich der Ermittlungen in Damaskus waren zum einen eine allgemeine Reaktion auf die Behandlung der jüdischen Gefangenen, zum anderen das Ergebnis jüdischer Mobilmachung, um die Anklagen auf Ritualmord zurückzuweisen. Eine der treibenden Kräfte war der französische Starjurist Isaac Adolphe Crémieux (1796–1880). Er hatte bereits in jungen Jahren eine glänzende Karriere absolviert und war Vize präsident des zentralen Konsistoriums. Crémieux gehörte einer neuen Generation assimilierter Juden an, die sich als Israeliten bezeichneten und die es selten unterließen, ihre Verbindung zu Frankreich zu betonen. Sein Interesse an spezifisch jüdischen Fragen war begrenzt, jedoch war er ein umso glühenderer Verteidiger der zivilen und politischen Rechte der Juden. Als junger Jurist hatte er sich geweigert, sich dem obligatorischen Judeneid, more judaico, zu unterwerfen und hatte mehrere Prozesse für dessen Aufhebung geführt. Gegen Ende März hatten die höchsten Vertreter der Bankhäuser der Rothschilds in Wien, Neapel, London, Paris und Frankfurt Kopien von Briefen erhalten, die mit der Bitte um Hilfe aus Syrien und von Rhodos an die jüdische Gemeinde in Konstantinopel geschickt worden waren. Zudem hatte es eine direkte Anfrage mit vertraulichen Informationen vom österreichischen Konsul in Alexandria, Anton von Laurin, an James Rothschild in Paris gegeben. James Rothschild, der ebenso wie die übrigen Mitglieder seiner Familie in der jüdischen Gemeinde keine offizielle Funktion bekleidete – der im Gegenzug aber mit dem unbezahlten Ehrenamt des österreichischen Generalkonsuls betraut war –, stellte seinen persönlichen Berater und den Lehrer der Familie in religiösen Fragen, Albert Cohn, als Übersetzer und Assistent zur Verfügung. Am 8. April ging Crémieux mit einem offenen Brief, der in mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde, zur Gegenoffensive über. Seine heftige und redegewandte Polemik gegen die unverantwortliche Kolportage der Ereignisse in Damaskus sorgte in der französischen Presse für eine Sensation sowie für Verwirrung. Auch wenn die folgenden Zugeständnisse weder unmittelbar kamen noch von einem vereinten französischen Redakteursstand getragen wurden, so wurde Crémieuxs Intervention im Nachhinein doch als ein ungewöhnlicher Erfolg charakterisiert.7 Der Artikel trug in wesentlichem Maße dazu bei, dass die öffentliche Meinung, die bis dahin unkritisch mit den Indiskretionen von
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den Ermittlungen von offizieller Seite gefüttert wurde, sich nun spaltete. Die Fronten in der französischen Presse spitzten sich zu, mit der kon servativen Oppositionszeitung Journal des Débats als Unterstützung von Crémieux und dem katholischen Sprachrohr Univers mit klarer Stellungnahme für die Schuld der Damaskus-Juden. Die regierungseigenen Organe hielten sich bei der Berichterstattung über den Fall zurück. Für Crémieux jedoch war der Kampf um die öffentliche Meinung lediglich ein Vorgeplänkel. Erforderlich war eine Aufhebung des Urteils und, dass die Juden in Damaskus, über deren Köpfen noch immer das Damoklesschwert schwebte, freigesprochen wurden. Ihr Freispruch würde gleichzeitig einen Freispruch des Judentums von den Anklagen, Ritualmorde zu sanktionieren, beinhalten. Auf dem Spiel standen also sowohl der Ruf des Judentums als auch die Rechtssicherheit der Juden weltweit. Crémieux war furchtlos und erklärte sich bereit, nach Alexandria zu reisen, um Mehmet Alis Zustimmung zur Wiederaufnahme des Falls zu erwirken. Trotz der engen Verbindung zwischen James Rothschild und Ministerpräsident Adolphe Thiers (1797–1877) zeigte sich schnell, dass es ausgeschlossen war, Unterstützung von der französischen Regierung zu erhalten. Thiers hatte sich nach außen hin zurückgehalten und unterließ es konsequent, sich zu der Sache zu äußern. Wiederholte Versuche jüdischer Interessengruppen, in den Dialog mit dem Ministerpräsidenten zu treten, waren mit beständig neuen Aufschüben beantwortet worden. Erst während einer Debatte im Parlament Anfang Juni war er gezwungen, sich zu bekennen. Er verteidigte den französischen Konsul gegenüber der heftigen Kritik, weigerte sich jedoch, zur eigentlichen Schuldfrage Stellung zu nehmen. Gleichzeitig brachte er eine kaum verborgene Warnung gegenüber den jüdischen Interessengruppen hervor; eine Weiterführung der Kampagne könnte die bereits schlimme Situation der Juden nur noch schlimmer machen. In einem Versuch, unter der gemeinsamen Leitung von Crémieux und dem Leiter der jüdischen Gemeinschaft in England, Sir Moses Montefiore, eine französisch-englische Delegation auf die Beine zu stellen, beschloss das französische Konsistorium nun, sich mit den Briten zu alliieren. Monte fiore war eine beeindruckende, aber selbstgefällige Gestalt, ein pompöser Mann guten Willens, der die für einen Juden seltene Gunst erlangt hatte, geadelt zu werden. Zweimal hatte er die Region besucht. Während seiner letzten Reise, nach Palästina im Jahr zuvor, hatte er Mehmed Ali einen ambitionierten Plan hinsichtlich der Errichtung einer jüdischen Ackerbau
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kolonie im Heiligen Land präsentiert. Montefiore pflegte enge Verbindun gen zur britischen Regierung und konnte auf die Unterstützung des mächtigen Außenministers Lord Palmerston bauen. Nachdem er sich einige Wochen lang eine seinem Ruf entsprechende Bedenkzeit erbeten hatte, sagte er zu, die Leitung der Delegation zu übernehmen. Über den Sommer hinweg wurde ordentlich die Werbetrommel gerührt, um moralische und finanzielle Unterstützung zu gewinnen. Im Stil englischer Wahlkampfveranstaltungen wurden Erweckungserlebnissen gleichende politische Massenkundgebungen durchgeführt. Nicht nur in England, sondern in der ganzen englischsprachigen Welt. Und als Montefiore und sein Gefolge am 7. Juli vom London Bridge Wharf mit Kurs Richtung Frankreich aufbrachen, wurden sie von Hunderten von Unterstützern mit guten Wünschen verabschiedet. Die Absichten waren die besten, die Voraussetzungen, um erfolgreich zu sein, sollten sich jedoch schnell als in weitaus schlechterer Verfassung erweisen. Die Idee einer juristischen Hilfe aus Europa in den Ermittlungen zu dem Fall stammte ursprünglich von dem österreichischen Konsul Anton von Laurin, der in seinem unermüdlichen Einsatz für die inhaftierten Juden die Grenzen seines diplomatischen Mandats gedehnt hatte. Im Namen Österreichs hatte er eine Aussetzung der Hinrichtungen erzwungen, und gleichzeitig hatte er auch die Zusage des Vizekönigs erhalten, dass eine Wiederaufnahme des Falls in Reichweite sei. Dem hatte indessen der französische Konsul in Alexandria, Adrien-Louis Cochelet, effektiv einen Riegel vorgeschoben. Zudem hatte sich die politische Situation in einer Weise zugespitzt, die für die Delegation alles andere als günstig war. Während Crémieux ohne irgendein formelles Empfehlungsschreiben und mit dem Befehl seitens des zentralen Konsistoriums, sich ruhig zu verhalten, aus Paris ankam, war Lord Palmerstons Empfehlungsschreiben, das Montefiore ein herzliches Willkommen sichern sollte, wenig wert in einer Situation, in der die Briten dem Vizekönig gleichzeitig mit Krieg drohten. Während die Delegation unterwegs war, waren die Türkei und vier der europäischen Großmächte – mit Ausnahme von Frankreich – einen einer Kriegserklärung gleichenden Vertrag eingegangen, der forderte, dass Mehmet Ali den Libanon und große Teile Syriens an die Türken zurückgeben sollte. Die Antwort wurde innerhalb von zehn Tagen erwartet. Würde der Vizekönig der Forderung nicht nachkommen, dann würde er nicht nur die besetzten Gebiete, sondern auch Ägypten verlieren. Käme er der Forderung nach, würde ihm hingegen le-
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benslang das Verfügungsrecht über die verbleibenden Gebiete zugesichert, inklusive Palästina. Diese Herausforderung zu überwinden, wurde nicht leichter dadurch, dass innerhalb der Delegation vom ersten Tag an Konflikte auftraten: vom Kampf hinsichtlich der Lebensmittel und der Kabinen bis hin zum eigentlichen Plan, die Juden in Damaskus zu retten. Montefiore und Crémieux entwarfen nicht nur äußerst unterschiedliche Strategien, um den Vizekönig zu einer Wiederaufnahme des Falls zu bewegen, sie kommunizierten nicht einmal miteinander. Zwar waren beide Juden, in der Begegnung miteinander überwogen aber englische und französische politische Strategien. Letztlich traten sie beide getrennt und mit jeweils eigenen Petitionen, aber in Vertretung der Gesamtdelegation vor den Vizekönig. Gemäß der lokalen Etikette wurde die Antwort nicht an Ort und Stelle gegeben. Erst zwei Wochen später wurden sie einbestellt, nur um den Bescheid zu erhalten, dass der Vizekönig keine Zeit gehabt hatte, sich näher mit der Sache zu beschäftigen. Nun folgte eine Reihe hektischer Vorstöße, um die Ehre der Delegation zu retten. Die ursprüngliche Bestrebung, den Fall wiederaufzunehmen, wurde verworfen, stattdessen wurde Mehmet Ali ersucht, die Gefangenen freizulassen und eine Erklärung abzugeben, in der die Anklagen auf ein Blutopfer zurückgewiesen wurden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es weder Crémieux noch Montefiore, die den Vizekönig überredeten, sondern vielmehr dessen zwei europäische Leibärzte, die ein äußerst schmerzhaftes Geschwür an seinem Hinterteil behandelten. Im schlimmsten Fall hätte dieses lebensbedrohlich sein können, und in den letzten Wochen war der Gesundheitszustand des Vizekönigs das große Gesprächsthema in den Cafés der Stadt gewesen. Vom Hofe waren Anzeichen berichtet worden, die auf eine Abnahme seines Kampfwillens hindeuteten. An dem Tag, an dem die Frist des Ultimatums auslief, teilte er dem türkischen Gesandten mit, dass er die Forderung nach einem Rückzug aus Syrien akzeptiere. Die Operation fand am nächsten Morgen statt. Der französische Arzt, der in dieser Angelegenheit von Crémieux eingehend instruiert worden war, deutete während der Operation an, dass es durchaus eine kluge Geste sein könnte, sich in der aktuellen Situation einige Freunde zu verschaffen. Die Gunst von sechs Millionen Juden befand sich in Reichweite. Mehmet Ali antwortete, dass er bereits beschlossen habe, die Juden in Damaskus freizulassen. Und so geschah es. Die Juden wurden freigelassen, aber nicht freige-
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sprochen. Der Vizekönig sah keinen Anlass, Stellung zu den Anklagen auf Ritualmord zu nehmen. Daher setzte sich der Kampf um ein Ende der Affäre noch viele Monate fort, nachdem sich die Gefängnistore geöffnet hatten und die verängstigten und verkrüppelten Damaskus-Juden in die Freiheit zurückkehren konnten.
Die Heimkehr Die Kriegsgefahr war noch nicht gebannt, und Montefiore verließ Alexandria Mitte September zur gleichen Zeit wie der englische Generalkonsul. Sein diplomatischer Segeltörn führte ihn weiter via Konstantinopel, wo er nicht nur den Sultan traf, sondern es ihm auch gelang, die Erklärung hinsichtlich der kollektiven Unschuld auszuhandeln, die auszustellen sich der Vizekönig geweigert hatte. Das sollte sich als seine Trumpfkarte erweisen, als er neun Monate nach der Abreise nach London zurückkehrte, wo die kritische Presse fragte, was eigentlich erreicht worden war: Die Delegation hatte Damaskus nicht erreicht, und die Gefangenen waren des Mordes nicht freigesprochen worden. Nun konnte Montefiore zumindest zeigen, dass die Gefangenen trotz allem freigesprochen waren, und dass der Sultan versprochen hatte, seine jüdischen Untertanen gegen neue Anklagen wegen Ritualmordes zu schützen. Er selbst bezeichnete das als eine »Magna Carta für die Juden in den türkischen Gebieten«. Sein Besuch in Rom war nicht von dem gleichen Erfolg gekrönt. Weder Papst Gregor XVI. noch Kardinal Lambruschini wollten ihm Audienz gewähren, und der kühle und spöttische Empfang, der ihm beim Beschützer des Kapuzinerordens, Kardinal Agostino Rivarola, zuteilwurde, bestätigte den Eindruck, dass der Vatikan einen Freispruch der Juden als ein Eingeständnis einer christlichen Verschwörung betrachtete. Jetzt wurde er mit anzüglichen Andeutungen dahingehend konfrontiert, dass die diplomatische Großtat der Geldmacht der Familie Rothschild geschuldet war. Es bestand auch kein Wille, die Worte auf dem Erinnerungsstein für Pater Tomaso zu ändern, der im Kapuzinerkloster in Damaskus aufgestellt worden war: Pater Tomaso aus Sardinien, Missionar Apostel Kapuziner Ermordet von den Juden am 5. Februar 1840.
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Crémieux entschied sich, noch ein paar Wochen zu bleiben, um das zweite Ziel der Reise zu erreichen. Freie Stunden hatte er zum Besuch jüdischer Schulen verwendet. Die primitiven Verhältnisse hatten ihn aufgewühlt, und er nahm sich nun vor, die Möglichkeiten hinsichtlich der Gründung moderner jüdischer Schulen für Kinder bis zur siebten Klasse nach französischem Muster zu untersuchen, die eine Erziehung sicherten, die langfristig die Vorstellungen von den Juden als ein zurückgebliebenes und barbarisches Volk unmöglich machen und dadurch die Entstehung von Nährboden für neue Anklagen wegen Ritualmordes verhindern würden. Er nutzte die Zeit gut, und als er am 8. Oktober mit seinem Gefolge aus Alexandria abreiste, hatte er bereits die organisatorische Grundlage für eine Reihe von Schulen geschaffen, die in Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Gemeinden in Kairo und Alexandria und in Kairo lebenden französischen Prominenten betrieben werden sollten. Die Finanzierung sollte weitestgehend durch die jüdischen Gemeinschaften in Europa erfolgen. Es war nicht sein Vorschlag, dass die Schulen seinen Namen tragen sollten, er ließ sich jedoch leicht begeistern von dem Gedanken, dass sein »Name hiernach mit einer wahrhaft nützlichen Tätigkeit von größter Bedeutung verbunden sein« würde, wie er selbst es in seinem Tagebuch formulierte. Überall, wo er ankam – in Venedig, Triest, Wien, Frankfurt, Mainz und Paris –, lieferte er großartige Reden und wurde von begeisterten Volks massen gefeiert. An den meisten Orten waren die Synagogen zu klein, um alle beherbergen zu können, die den Wunsch hatten, an der Huldigung teilzunehmen. In Wien wurde er von Staatskanzler Metternich empfangen und ihm wurde eine mit Diamanten besetzte, zylinderförmige Goldschatulle überreicht. Die Inschrift war nicht weniger pompös als das Geschenk: »Für den würdigen Meister für seine verfolgten Brüder.«8 Es gab einzelne ältere, konservative Juden, die das Gefühl hatten, der proklamierte Sieg sei eigentlich nicht gewonnen worden. In ihren Augen war Adolphe Crémieuxs von Pathos erfüllter Säkularismus keine Garantie dafür, dass in Europa Raum für eine jüdische Zukunft war. Während seines Aufenthalts in Wien wurde Crémieux von den Studenten Abraham Benisch und Wilhelm Österreicher aufgesucht, die einem kleinen Kreis junger Juden angehörten, die verbotene Gedanken hinsichtlich einer jüdischen Kolonisierung des Heiligen Landes dachten. Ihre Motivation war das Bedürfnis, den verfolgten Juden der Region Schutz zu geben. Sie baten um Hilfe, mit Moses Montefiore in Kontakt zu kommen, um ihm
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das Vorhaben zu präsentieren. Die Anfrage ist bekannt, weil die Sicherheitskräfte des Kaisers den anschließenden Briefwechsel einer strengen Kontrolle unterzogen. Crémieux versprach, ein Empfehlungsschreiben aufzusetzen, unter der Bedingung, dass sie bei Juden, die in Ländern lebten, in denen die Emanzipation sie bereits befreit hatte, nicht nach Zustimmung zu ihrem Plan suchten: »Wir französischen Juden, denen unser eigenes Vaterland sehr am Herzen liegt, werden weniger Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Kolonie in Palästina haben, als die meisten der Juden, die über den Erdball verstreut sind.«9 Mit ihrem Gedanken waren die Studenten nicht allein. Im Laufe des Sommers 1840 hatte die Idee erneut an Aktualität gewonnen. Der Pakt zwischen Russland, Österreich, Preußen, England und der Türkei, der Mitte Juli unterzeichnet worden war, eröffnete die Möglichkeit, dass die poli tische Kontrolle über Palästina in andere Hände geraten konnte, und in dem daraus entstehenden Machtvakuum florierten in der englischen Presse millenaristische Spekulationen, also Spekulationen über eine unmittelbar bevorstehende Ankunft Jesu und die Errichtung des Tausendjährigen Friedensreichs. 1840 war nicht irgendein Jahr. Im jüdischen Kalender war es identisch mit dem Jahr 5600 – das Jahr, in dem der Messias kommen sollte. Die Vorstellung hatte einen gewissen Beleg im Talmud, wo es in einer Passage heißt, dass das große Ereignis vor Ende des 6. Jahrtausends stattfinden wird, und bereits im 14. Jahrhundert war dies im Zohar, der bedeutendsten Schrift der Kabbala, zeitlich auf das Jahr 5600 festgelegt worden. Die Zustimmung in jüdischen Kreisen zu diesem Messianismus war nicht von Bedeutung, und die Studenten in Wien hatten sich nicht von Zahlenmagie, sondern von politischen Analysen inspirieren lassen. Die Artikel, die sie in der Zeitschrift Orient veröffentlichten, wiesen auf die Organisation des jüdischen Nationalismus 40 Jahre später hin. In der Diskussion über die Zukunft der Juden, die in diesem Sommer in den Kreisen von Lord Palmerston geführt wurde, fanden sich hingegen auffällige Züge millenaristischer Gedankenströmungen. Die Vorstellung, dass Christus seine tausendjährige Herrschaft auf der Welt nicht einleiten könne, bevor die Juden nicht wieder in ihrem Heimatland vereint waren, hatte seine Fürsprecher seit der Reformation. Dieser Gedanke, mit Verweisen auf ausgewählte Stellen der Schrift, gab den Juden als Volk Gottes einen vollkommen anderen Platz im Erlösungsplan, als den, den die traditionelle Theologie der Kirche ihnen zuwies. Besonders starke
Die Heimkehr
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Durchschlagkraft hatte der Millenarismus bei englischen und schottischen Theologen und Wissenschaftlern. Die Gewissheit, dass das Tausendjährige Reich kurz bevorstand, loderte in regelmäßigen Abständen mit prophetischer Kraft auf. Isaac Newton war nur einer von vielen, die die Prophezeiungen und Offenbarungen in den biblischen Schriften nach geheimen Hinweisen durchkämmten, die das Siegel aufbrechen konnten. Es war nahezu undenkbar, dass die Geschichte nicht einer ebenso strengen Gesetzmäßigkeit wie die Natur unterlegen sein sollte, und die Faszination überlebte die Generation Newtons. Wie es bei dem Historiker William H. Oliver heißt: »Prophezeiungen wurden in England Anfang des 19. Jahrhunderts als eine allgemeine intellektuelle Aktivität betrachtet.«10 Die bedeutendsten Befürworter für das Anlegen einer Endzeitperspektive hinsichtlich der Ereignisse in Damaskus hatten eine Verbindung zur The London Society for Promoting Christianity Amongst the Jews, die bereits 1811 eine Schrift publiziert hatte, die die Rückkehr des Messias auf 1840 datierte. Der Vizepräsident der Gesellschaft hieß Lord Ashley. Der spätere Earl von Shaftesbury hatte familiäre Verbindungen zu Lord Palmerston, der ab 1839 mit Ashleys Schwiegermutter verheiratet war. Und obwohl sie sowohl religiös als auch politisch weit auseinander lagen – der eine war Whig (liberal), der andere war Tory (konservativ); der eine war Lebemann und Pragmatiker, der andere Asket und Fanatiker –, hatten sie ein gemeinsames Verständnis dafür, dass die Briten im Nahen Osten eine historische Rolle zu spielen hatten. Prestigeträchtige Zeitungen wie Times und Globe, die auch als Sprachrohre der Regierung fungierten, öffneten ihre Spalten für einen wahren Mix aus wirtschaftlichen, politischen und prophetischen Gedankengängen, die die Briten dazu aufforderten, Syrien zu befreien und – wie es in der Globe hieß – »die entsetzlichen Verfolgungen zu beenden, die zuletzt in unserem Land zum Gegenstand von so viel Sympathie gemacht wurden«.11 Im September wurde Lord Ashley von Palmerston gebeten, ein Memorandum mit einer rein weltlichen Begründung für den Bedarf an einer jüdischen Rückkehr nach Palästina auszufertigen. Ashley betrachtete die von ihm gelieferte Darstellung selbst als von historischer Bedeutung, bald sollte jedoch deutlich werden, dass Palmerston einen nüchternen Blick auf die Sache hatte. Als es darauf ankam, zeigte sich, dass er weder eine Loslösung des palästinensischen Gebietes aus türkischer Kon trolle noch eine Wiedererrichtung eines jüdischen Nationalstaates im Sinne hatte. Seine Ambitionen beschränkten sich auf eine Aufforderung an den
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Sultan, den Juden im Osmanischen Reich generell, und im syrischen Gebiet speziell, einige formale Garantien anzubieten, die ihnen die Sicherheit gaben, dass ihr persönlicher Schutz in der Zukunft gewahrt bleiben würde.
Die Auswirkungen Im Nachhinein wurden viele Versuche unternommen, die Damaskusaffäre zu verstehen und ihre Auswirkungen aufzuzeigen. Bereits in den ersten Jahren danach kam es zu einer kleinen Lawine von Büchern, die den Kampf um die Wahrheit weiterführten. Die beiden miteinander nicht zu vereinbarenden Darstellungen, die bereits 1840 die Debatte geprägt hatten, existierten weiterhin Seite an Seite. In antijüdischen Kreisen in Frankreich blieben die Protokolle der Damaskusaffäre als der unwiderlegbare Beweis dafür stehen, das Blutopfer als ein geheimes Ritual in die religiöse Praxis der Juden eingingen. Nach und nach tauchte eine Reihe ähnlicher Fälle auf, und jedes Mal wurden die Protokolle der Damaskusaffäre zur Dokumentation hervorgeholt. Bereits im Verlauf der Affäre hatte der französische Konsul in Alexandria, Cochelet, damit gedroht, das der Verschwiegenheit unterliegende Ermittlungsmaterial zu veröffentlichen, um das, was er als eine antifranzösische jüdische Lobby auffasste, zum Schweigen zu bringen, aber erst im April 1843 machte die katholische Zeitung Univers aus der Drohung Ernst. 1846 folgte das umfassende zweibändige Werk Relations Historique des Affaires de Syrie depuis 1840 jusquʼau 1842 unter Signatur des Autors Achille Laurent. Allem nach zu urteilen, war es Ratti-Menton selbst, der hinter der Veröffentlichung stand. Hier war alles vereint, die gesammelten erzwungenen Geständnisse natürlich, alle Daten, die die Anklagen untermauern konnten, eine Übersicht der unbezahlten Schuldposten der Angeklagten, eine lange Liste über angebliche Versuche der Zeugenbestechung, eine Aufstellung aller anderen unaufgeklärten Fälle von Ritualmordvorwürfen in der Gegend, Auszüge aus religionshistorischen Texten, die Juden mörderische Neigungen unterstellten, sowie eine Reihe von Briefen einflussreicher Europäer, die sich den Anschuldigungen anschlossen. Nach und nach erschienen in einer Reihe von Sprachen, darunter Deutsch, Italienisch und Arabisch, verschiedene Varianten der »Gerichtsprotokolle« und trugen dazu bei, die Vorstellung davon lebendig zu halten, dass Ritualmorde nicht nur stattgefunden hatten, sondern noch immer stattfanden. Neue Auflagen mit
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neuen Einleitungen erschienen in Beirut erst 1968 und in Damaskus 1986. Das Material wurde fester Bestandteil dessen, was man als den antisemitischen Kanon bezeichnen könnte, und man findet es wieder in Gougenot des Mosseauxs Le Juif, le judaisme et la judaïsation des peuples chrétiens (1869), das in Zeiten der Weimarer Republik in der Übersetzung des Naziideologen Alfred Rosenberg mit großem Erfolg erneut herausgegeben wurde. Es findet sich ebenso in August Rohlings epochemachendem Der Talmudjude (1871), der das Erbe des berüchtigten Eisenmenger aufgriff, mit dem Unterschied, dass den Behauptungen über jüdischen Kannibalismus mehr Gewicht beigemessen wurde als in Eisenmengers Glanztagen. Auch von jüdischer Seite wurde die Damaskusaffäre zum Gegenstand weitschweifiger Auslegungen. Trotz des Begeisterungsrausches, der Crémieux und Montefiore nach Hause begleitet hatte, war es eine Erfahrung gewesen, die besonders die französischen Juden in ihrem Glauben erschüttert hatte, dass die Emanzipation ein längst ausgekämpfter Kampf sei. Für viele von ihnen war die Schwärmerei der britischen Millenaristen für eine Rückkehr der Juden nach Palästina zutiefst unangenehm. Es ist seither behauptet worden, dass es 1840 war, als »die Frage nach einem jüdischen Staat in Palästina als eine politische Angelegenheit heranwuchs, gegenüber der sich die europäische Diplomatie zum ersten Mal verhalten musste«.12 Wie es aus Crémieuxs Dialog mit den Studenten in Wien hervorgeht, war dies keine Frage, die die französischen Israeliten in eigenem Namen willkommen hießen. Es wurde auch dahingehend argumentiert, dass den jüdischen Anführern in Europa eine historische Möglichkeit entging, weil sie gezwungen wurden, alle Kräfte zu sammeln, um die Anklagen auf Ritualmord zu bekämpfen, und dass die Affäre darauf gemünzt war, eine jüdische Kolonisierung von Palästina zu verhindern. Laut Jonathan Frankel, der am gründlichsten mit dem relevanten Quellenmaterial gearbeitet hat, gibt es keine Grundlage für die Behauptung, dass die Geschehnisse in Damaskus einer politischen Verschwörung geschuldet waren. Hingegen gibt es keinen Zweifel daran, dass die Mobilisierung gegen das, was sie als eine internationale Verleumdungskampagne gegen alle Juden erlebten, nicht nur der Solidarität mit den verhafteten Glaubensgenossen in Syrien geschuldet war. Die Verzweiflung war dem Umstand geschuldet, dass es sich gleichzeitig um einen Kampf darum handelte, als Jude in Europa zu überleben. Die Krise erhöhte mit einem Mal das Bewusstsein, dass dies nicht als gegeben angesehen werden konnte, und dass der Bedarf, die Verteidigung kollektiv
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Abb. 8: Diese Zeichnung von Pater Tomaso und seinem Diener Ibrahim Amara stammt wahrscheinlich aus einem zeitgenössischen Original. Die beiden wurden nie gefunden, der Prozess in Damaskus gegen die Juden, die des Blutopfers angeklagt wurden, wurde jedoch zu einem internationalen Skandal, der bis nach Norwegen widerhallte. Der Fall hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft im Nahen Osten, aber auch in ganz Europa.
zu organisieren, akut war. So gesehen wurde die Damaskusaffäre zu einem politischen Weckruf. Wenn die ersten zionistischen Netzwerke erst 40 Jahre später, nach den Pogromen in Russland, gegründet wurden, lag das daran, dass die Vorstellung von einem jüdischen Nationalstaat unvereinbar war mit dem, wofür die assimilierten Juden des 19. Jahrhunderts 1840 in letzter Instanz kämpften: dem Traum, der Nation anzugehören, die sie umgab.
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HÅKON HARKET
17. Der ewige und der auserwählte Jude In all ihrer rückblickenden Schwärmerei für Volksmythen, Sagen, Verderben und Rassen war die romantische Inspiration in der europäischen Kultur gleichzeitig revolutionär, aufsässig und modern. Das gilt auch für den Umgang mit der Judenfrage, auch wenn einem zuerst die rückblickende Schwärmerei ins Auge springt. So gelangten alte Vorstellungen und mittelalterliche Sagen mit erneuerter Kraft zum Durchbruch. Mammon, Moloch und Ahasverus waren Namen, Begriffe und Vorstellungen, mit denen die Publizisten der Zeit vertrauten Umgang pflegten. Das christliche Mythenmaterial erwies sich für die romantische Fantasie als unglaublich fruchtbarer Boden. Zwischen den 1770er und den 1930er Jahren wurden in der europäischen Literatur nicht weniger als 1460 Variationen des Ahasverus-Motives verfasst.1 Die Sage über den ewigen Juden sollte im deutschen revolutionären Antisemitismus, der zwischen 1830 und 1850, während auch die Vorstellung vom Blutopfer infolge der Damaskusaffäre aktualisiert wurde, seine Form fand, eine enorm mobilisierende Rolle spielen. In dieser Zeit der großen Emotionen erschien auch in England ein Mythomane auf der Bildfläche, der sein Stigma in ein Qualitätsmerkmal verwandelte. Niemand tat in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr dafür, der Vorstellung von den Juden als einem auserwählten Volk neuen Inhalt zu verleihen, als der Philosemit Benjamin Disraeli. In seinen Werken, aber auch in der Inszenierung seiner großartigen Karriere, hob er die Juden als souverän und übermenschlich hervor. Disraeli, der selbst getaufter Jude sephardischer Herkunft war, ein Converso aus London, ließ niemanden seinen orientalischen Stammbaum vergessen.
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Die Sage vom ewigen Juden Nachdem sie in Form eines religiösen Volksbuches, »Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden / mit namen / Ahasverus«, aus dem Jahr 1602 vorlag, durchlief die Sage vom ewigen Juden eine Reihe verschiedener Phasen. Die Legende von dem Schuhmacher aus Jerusalem, der auf dem Kreuzweg nach Golgata von Jesus dazu verurteilt wurde, für ewig ruhelos auf der Erde umherzuwandern, ist vielleicht das beste Beispiel für die Bedeutung der Schablonen bei der Zementierung der kollektiven Identität der Juden unter wechselnden religiösen und säkularen Deutungsregimen. Es handelt sich nicht nur um ein dichterisches Motiv. Auch in Essays und Pamphlets findet sich Ahasverus als tragende Metapher für lasterhafte Eigenschaften, die den Juden als Volk zugeschrieben wurden. Die Romantik präsentierte den Mythos aber auch in einer ganz anderen Farbe, als ein mächtiges Symbol prometheischer Revolte. Handelte es sich bis dato um eine theologische Legendengestalt, wurde Ahasverus zwischen 1770 und 1850 in das romantische Befreiungsprojekt integriert. Der verachtete und bemitleidenswerte Jude wurde bei Dichtern wie Byron und Shelley zu einer aufsässigen Heldengestalt, und in Deutschland wurden sowohl Goethe als auch Schiller und Heine von dem umherstreifenden Juden heimgesucht. Nach und nach kam es ebenso sehr zu einer philosemitischen wie zu einer antisemitischen Ausnutzung des Materials, für sein Schicksal fand sich ebenso Verachtung wie Mitleid. In den 1830er Jahren wurde die Verbindung zwischen dem Ahasverus-Mythos und der Judenfrage jedoch ernsthaft zu einem Thema. Jetzt drehte es sich nicht mehr darum, den Menschen von der Tyrannei der Religion und der Gesellschaft zu befreien. Der Befreiungskampf war verinnerlicht worden, und die aufsässige Prometheus-Gestalt repräsentierte eine destruktive Selbstliebe, von der sich der Europäer befreien musste. Rückblickend betrachtet, erscheint der ewige Jude in Europa wie eine kollektive Besessenheit. Es war, als sollten alle, die in großem Stil schreiben, dichten oder denken konnten, früher oder später ihre Kräfte an dem Stoff messen. Auffällig ist auch, in welchem Maße die drei Motive ineinander übergehen: der ewige Jude, der den Gott der Liebe leugnete, der semitische Gott der Menschenopferung Moloch und der Fürst der Dunkelheit, Mammon, der in der weitschweifigen Metaphorik der 1840er Jahre als Gott der Geldgier identifiziert worden war.
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Ideengeschichtlich ist es üblich, zwischen einer christlichen Begründung für den Judenhass und einer säkularen zu unterscheiden. Die säkulare findet verschiedene ideologische Ausdrücke, nationalistische, antikapitalistische, rassistische, der große Unterschied besteht jedoch darin, dass ein Antisemitismus, der sich gegen die Juden als Christusmörder richtet, abgelegt wurde. Damit stellt die Taufe keinen Ausweg mehr aus dem Elend dar, der christliche Antijudaismus wurde durch einen säkularen Antisemitismus ersetzt. Es ist indessen zweifelhaft, ob man die Grenzen so scharf ziehen kann. Zum einen besitzt dies in Osteuropa keine Gültigkeit mehr, wo der christliche Antisemitismus in polnisch-katholischer beziehungsweise national-orthodoxer Ausführung bis in das 20. Jahrhundert, ja bis in die heutige Zeit hinein, die religiösen Gemüter fest im Griff hält. Zum anderen handelt es sich bei einem Großteil der Bildsprache des modernen Anti semitismus um die Fortführung von Vorstellungen, die eine Brücke von den christlichen hin zu den säkularen Formulierungen der Judenfrage bauten: Die Zurückweisung Christi durch den ewigen Juden wurde in der säkularen Terminologie zu einer egoistischen Zurückweisung der universellen Liebe. Das Blutopfer und die Anbetung von Moloch wurden zur kapitalistischen Opferung der Menschheit und der wahren menschlichen Werte, während der Mammonismus ein Bild von der Gier und der Begierde nach Geld war, die den Juden zugeschrieben wurde. Diese Stereotypien wiesen eine Nähe zu den volkstümlichen Vorurteilen gegenüber den Juden auf als ein Volk, das unbeugsam und eigensinnig, gierig, auf Geld versessen und egoistisch war, ein Volk, das sich kurz gesagt kollektiv einiger unausrottbarer Laster schuldig gemacht hatte. Wir stehen einer antijüdischen Bildwelt gegenüber, in der Metaphern, die sowohl die christliche als auch die säkulare Kritik am Judentum einbeziehen, gleichzeitig in Kontakt mit den verbreiteten sozialen Vorurteilen gegenüber den Juden stehen. Gleichzeitig ist zu keinem Zeitpunkt ganz klar, wo die Grenze zwischen Metapher und Wirklichkeit verläuft. Es ist nicht nur so, dass die Juden die Leugnung der christlichen, nationalen, humanen und universellen Werte symbolisieren, sie verkörpern diese destruktiven Kräfte, von denen die Gesellschaft bereinigt werden muss.
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Moses Hess und das Blutopfer als Metapher Judenfeindliche Denker der Aufklärung und Humanisten sind keine deutsche Spezialität. Das prominenteste Beispiel aus dem Europa der Revolutionszeit ist zweifellos Voltaire. Keiner hat uns wie er mit Maximen über das heilige Recht, abweichende Standpunkte zu vertreten, versorgt: Dieser großzügige Universalismus ließ sich in seiner polemischen Praxis jedoch mit einer hasserfüllten Hetze gegen alles Jüdische vereinen. Wir stehen vor einem Widerspruch, dessen Ironie Voltaire selbst nicht erkannt hat. In seiner Abrechnung mit dem Judentum verweigerte er sich nichts. In Dictionnaire philosophique stellt er fest, dass wenig besser dokumentiert ist, als das Blutopfer der Juden: Aßen die Juden Menschenfleisch? Zu Ihren Kalamitäten, die mich so oft haben erzittern lassen, habe ich immer Ihr Missgeschick gezählt, Menschenfleisch gegessen zu haben. Sie sagen, dies geschah nur zu großen Anlässen […]. Entweder müssen Ihre heiligen Schriften aufgegeben werden […] oder es muss eingeräumt werden, dass Ihre Vorfahren Gott Flüsse von Menschenblut geopfert haben, eine Praxis, die bei keinem anderen Volk auf der Welt ihresgleichen hat.2
Wie alle Zeitgenossen wussten, waren die Juden weit davon entfernt, ihre heiligen Schriften aufzugeben. Sie hielten im Gegenteil daran fest. Das war daher nicht nur eine Vorstellung, die an den antiken Hebräern der Bibel haftete, es war eine Vorstellung, die sich in hohem Maße auch hinsichtlich der Juden der Gegenwart geltend machte: Das Blutopfer würde angeblich vom Talmud sanktioniert, und jüdische Sekten hätten diese angebliche Praxis in einer ungebrochenen Tradition weitergeführt, von dem Opfer von Golgata bis hin zur Verwendung des Blutes von christlichen Kindern im Teig des ungesäuerten Brotes, das während der Ostermahlzeit eingenommen werden sollte. Das war die wortwörtliche Auslegung des Blutopfermotives im Judentum, und diese folgte der metaphorischen und modernen wie ein mittelalterlicher Schatten. Ohne diese Mehrdeutigkeit, die der Fantasie freien Spielraum ließ, hätte schwerlich eine Damaskusaffäre entstehen können. Einige der interessantesten Reaktionen auf die Affäre finden wir bei Moses Hess (1812–1875). Er gehörte zu der ersten Generation assimilierter Juden in Deutschland, die in den Jahrzehnten nach Napoleons Sturz darum kämpfen mussten, das zurückzugewinnen, was ihnen von dem französi-
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schen Besatzer als Geschenk anlässlich der Geburt gegeben worden war. Anfangs wirkte Hess als radikaler Publizist in Köln, später als deutschsprachiger Korrespondent und Exilschriftsteller in Paris. Wenn wir seiner Darstellung in Rom und Jerusalem – was mit Recht als die erste zionistische Schrift der Geschichte bezeichnet wird – von 1862 glauben sollen, war es die Damaskusaffäre, die hinsichtlich seines Denkens rund um die Judenfrage bestimmend wurde; ein Denken, das ihn zu verschiedenen Zeiten zu einem einflussreichen Akteur auf beiden Seiten der Front machte, die die Damaskusaffäre hochzog. Moses Hess war ein paradoxer Pionier. Er war Rheinlandjude und der erste jüdische Nationalist. Er war auch einer der ersten Kommunisten – vor Marx und Engels. Das Paradox wird nicht kleiner dadurch, dass er zugleich der Erste war, der das Blutopfermotiv als Metapher hervorhob und es auf den Kapitalismus bezog. In der von Pathos erfüllten Einleitung zu Rom und Jerusalem weist er darauf hin, dass er zu der nationalen Idee zurückkehrt: Da steh ich wieder nach einer zwanzigjährigen Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Antheil an seinen Freuden- und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen, an seinen geistigen Kämpfen im eigenen Hause und mit den Kulturvölkern, in deren Mitte es lebt, mit welchen es aber, trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und Strebens nicht organisch verwachsen kann. Ein Gedanke, den ich für immer in der Brust erstickt zu haben glaubte, steht wieder lebendig vor mir: Der Gedanke an meine Nationalität, unzertrennlich vom Erbtheil meiner Väter, dem heiligen Lande und der ewigen Stadt, der Geburtsstätte des Glaubens an die göttliche Einheit des Lebens und an die zukünftige Verbrüderung aller Menschen.3
Die Erfahrungen der Damaskusaffäre hatten ihn überzeugt, aber erst mehr als 20 Jahre danach. Das trug dazu bei, die Glaubwürdigkeit der Behauptungen zu schwächen, dass die Affäre die Rolle spielte, die Hess selbst ihr zuschrieb. Es findet sich indessen ein hinterlassenes Manuskript, dass er 1841 verfasste, das darauf hindeutet, dass er in der Zeit unmittelbar nach der Affäre großes Interesse an dem Gedanken einer jüdischen Kolonisierung von Palästina gehabt hat. Hess hatte die Debatte in England verfolgt, und für einen kurzen Zeitraum sah er die Möglichkeit, in Europa die politische Zustimmung zur Etablierung eines jüdischen Heimatlandes zu erhalten. Dass er diese Idee schnell aufgab, war zwei Umständen geschuldet: zum einen, dass er die prophetische Unterstützung der Briten als von Profit getrieben ansah, aber wichtiger noch, dass es dem jüdischen Volk seiner
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Ansicht nach am Willen zur politischen Wiedergeburt fehlte. Stattdessen schlussfolgerte er, dass die Herausforderung der Juden darin bestand, sich assimilieren zu lassen, ohne zu konvertieren. Die Eingliederung des Jüdischen in das Deutsche musste als ein Akt der Liebe auf ebenbürtigen Prämissen erfolgen. Man konnte die jüdische Identität, die historisch bedingt war, nicht zum Vorteil einer falschen Identität aufgeben, die weder Konvertiten noch seine deutschen Landsleute zufriedenstellen würde. Deshalb erschien das Recht zur bürgerlichen Mischehe zwischen Juden und Christen, in Hess’ Augen, als das wichtigste, alleinstehende, zivile Recht, weil es die Möglichkeit zu einer totalen Assimilation des Jüdischen im Deutschen eröffnete. Hess riet allen Juden, einen christlichen Partner zu finden und bürgerlich zu heiraten. Seine radikale Aufforderung in den 1840er Jahren zur totalen Assimilation war von dem Wunsch motiviert, dem Judenhass zu Leibe zu rücken, nicht den Juden. Das Judentum musste auf dem Altar der sozialistischen Verbrüderung geopfert werden. In den Jahren von 1842 bis 1845 erschien eine Serie von Schriften über die Judenfrage, mehrere davon von Linkshegelianern verfasst. Gleichzeitig starteten die Nürnberger Theologen Friedrich Wilhelm Ghillany und Georg Friedrich Daumer eine Serie von Studien, die sich der Damaskusaffäre als Inspiration für eine religionshistorische Neuauslegung der biblischen Schriften bediente: Jehova und Moloch seien zwei Namen für denselben Gott, und die Verehrung des blutrünstigen Gottes sei im Schutze des orthodoxen Judentums über 3000 Jahre hinweg bis in die moderne Zeit hinein fortgeführt worden. Daumers esoterische Angriffe auf die Quellschriften der jüdisch-christlichen Tradition wurden in radikalen Kreisen mit Interesse gelesen. Die Tatsache, dass der Antijudaismus von drastischen Angriffen auf christliche Wahrheiten begleitet wurde, trug dazu bei, dass sie sich in der Tradition Voltaires platzierten. Daumer, der sich selbst nicht mit politischer Polemik befasste, überließ es Ghillany, die notwendigen Konsequenzen aus den Enthüllungen zu ziehen: ein Rückruf der zivilen und politischen Rechte der Juden. Es war Bruno Bauers Die Judenfrage – herausgegeben im November 1842 –, das die ideologische Debatte rund um die Judenfrage ausgelöst hatte. Ebenso wie Ghillany widersprach er der Emanzipation und rügte die Juden kollektiv, weil sie »sich an ihre Nationalität klammern und Widerstand gegen die Bewegungen und Veränderungen der Geschichte leisten«.4 Hess zufolge war es ganz im Gegenteil das Ahasverische – der unruhige und
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Abb. 9: Der ewige Jude in Gustave Dorés Strichzeichnung von 1852. Kaum eine Sage war Gegenstand von mehr literarischen Auslegungen als die Erzählung von dem Schuhmacher, der Jesus während des Kreuzgangs Ruhe verweigerte. Zur Strafe wurde er selbst dazu verurteilt, auf der Welt umherzuwandern, ohne jemals in einem Grab Ruhe zu finden. Die Sage über den ewigen Juden sollte im deutschen revolutionären Antisemitismus eine stark mobilisierende Rolle spielen.
umherstreifende jüdische Einschlag –, das in der europäischen Geistes entwicklung das Prinzip der Bewegung ausgemacht hätte: jüdisches Werden als Antithese zum griechischen Sein. Seine Kritik am Judentum war also eine andere als die des atheistischen Theologen Bauer, die Konsequenz war jedoch weitestgehend dieselbe. Das wird noch deutlicher, wenn Hess der Identifikation des jüdischen Gottes mit dem menschenopfernden Moloch zustimmt, um anschließend darauf hinzuweisen, wie Moloch unter dem
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Einfluss des Judentums zu Mammon geworden ist – Blut ist zu Geld geworden. Die Opferung für den semitischen Gott des Altertums Moloch, lebte als Mammonismus weiter; der Humanismus wurde auf dem Altar des Kapitalismus geopfert.5 Seine drastischste Kritik an der modernen kapitalistischen Gesellschaft formulierte Hess in Über das Geldwesen. Das Zusammenleben zwischen Kapitalismus und Religion auf Kosten der Menschheit wird in einer Prosa heraufbeschworen, die denen der revolutionären Kampfgenossen in nichts nachsteht: Geld ist der geronnene Blutschweiß der Elenden, die ihr unveräußerliches Eigenthum, ihr eigenstes Vermögen, ihre Lebensthätigkeit selbst zu Markte tragen, um dafür das caput mortuum derselben, ein sogenanntes Kapital einzutauschen, um kannibalisch von ihrem eignen Fette zu zehren. […] Denn daß Geld, das wir verzehren und um dessen Erwerb wir arbeiten, ist unser eigenes Fleisch und Blut, welches in seiner Entäußerung von uns erworben, erbeutet und verzehrt sein muß. Wir alle sind – das dürfen wir uns nicht verhehlen – Kannibalen, Raubtiere, Blutsauger.6
Das bürgerliche Krämer-Europa, gegen das er die Geschütze auffuhr, ist genauer betrachtet »jüdisch-christlich«. Die Zusammenstellung von Blutopfer, Geld und Juden in Über das Geldwesen hat viele der Exegeten des Zionismus in Verlegenheit gebracht, weil der Erstgeborene des Zionismus die antijüdische Rhetorik hier zu neuen Höhen brachte. Paul Lawrence Rose hat die glaubwürdigste Erklärung für Hess’ heftigen Angriff im Lichte der Erfahrungen aus der Damaskusaffäre geliefert: In seinem Essay versuchte Hess zweifellos, die Juden von den Blutopfer-Anschuldigungen aus der Damaskusaffäre zu retten, indem er darauf beharrte, dass es sich für die Juden vielmehr um metaphorisches Blut denn um christliches Blut handelte. Mit seinem Ersuchen nach einer gefühlsgeladenen antijüdischen Metapher, die tief im christlichen Gewissen verwurzelt war, ist Über das Geldwesen aber nichtsdestoweniger schockierend.7
Die revolutionäre Debatte über die Judenfrage Hessʼ kleine Schrift wurde ursprünglich als ein Beitrag zu Marx’ deutschfranzösischem Jahrbuch verfasst und im Spätherbst 1843 geliefert. Veröffentlicht wurde sie 1845 – in einem anderen Zusammenhang. Da hatte
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Marx im Februar 1844 bereits seinen eigenen Essay, Zur Judenfrage, herausgegeben, geformt als eine Abrechnung mit Bruno Bauers zwei Schriften über die Judenfrage. Marx’ und Hess’ Haltung zur Judenfrage war in dieser Zeit jedoch nur wenig deckungsgleich. Marx kultiviert die Gleichsetzung des Juden als »Geldjude« und des Kapitalismus als eine jüdische Erfindung, während er das Blutopfer-Motiv umgeht. Bei Hess ist die Identifikation vom Kapitalismus mit dem Christentum ein Hauptanliegen. Obwohl das Judentum als ein Teil der jüdisch-christlichen Tradition mit hineinspielt, ist es die Gewichtung des Jenseits durch das Christentum, die als psychologisches Modell für den kapitalistischen Individualismus dient. Hess reagierte heftig auf Marx’ kleine Schrift und meinte, sie sei ein Beispiel der Schande jüdischen Mitläufertums; Marx’ deutscher Rassismus müsste seine jüdischen Vorfahren dazu bringen, sich in ihren Gräbern umzudrehen.8 Der Unterschied in den Anschauungen der beiden, der sich erst später voll entfalten sollte, kann aus der Art und Weise herausgelesen werden, wie sie sich gegenüber Bauers Büchern zur Judenfrage verhielten. Bruno Bauer hatte sich dafür ausgesprochen, dass eine politische Emanzipation nicht nur beinhalten müsste, dass die Juden, sondern auch der christliche, preußische Staat von seinen konfessionellen Verbindungen emanzipiert würde. Dieses Räsonnement basierte laut Marx auf einem fundamentalen Mangel an Verständnis für den bürgerlichen Staat sowie einer Vermischung von menschlicher und politischer Emanzipation. Der Staat sei qua Institution unfrei und per Definition dazu bestimmt, den Interessen der Bürgerschaft zu dienen. Die bürgerlichen Rechte, die der Staat garantiere, seien formelle politische Rechte und dürften nicht mit wahren menschlichen Rechten verwechselt werden. Erst wenn der Mensch sich selbst als Gattungswesen und Weltbürger verstünde, könne die Befreiung stattfinden.9 Hess griff Bauer aus einer anderen Richtung her an, die wohl auch seiner jüdischen Erziehung geschuldet war. Seine Kritik am Christentum war keine kritische Abrechnung von innen heraus. Deshalb hatte er einen scharfen Blick für die Schatten, die die christliche Theologie über den säkularisierten Atheismus warf. Bruno Bauers Atheismus war in Hessʼ Augen säkularisierte Theologie: Der Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis, Göttlichem und Menschlichem, oder wie man ihn auch sonst noch nennen mag, dieser christliche Dualismus geht durch die ganze christliche Zeit hindurch; und die modernen, philosophischen, atheistischen Christen sind ihm ebenso unterworfen, wie die alten, gläubigen Christen.10
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Paul Lawrence Rose zufolge fand der revolutionäre Umschwung mit dieser sogenannten Bruno-Bauer-Kontroverse statt. Es war die Mythologie, die in dieser Debatte entwickelt wurde, die mehr als irgendetwas anderes dazu beitrug, dass das jüdische Feindbild sich veränderte: Von Gottesleugnern in einer christlichen Vorstellungswelt wurden die Juden jetzt zu Feinden der Freiheit und der Vernunft, die zu bekämpfen einer moralischen Pflicht entsprach. Das war die Grundlage, nicht nur für den deutschen, sondern für jeglichen modernen revolutionären Antisemitismus. Damit war das Fun dament gelegt für einen Antisemitismus als ein rationeller und befreiender, ja als ein moderner Judenhass.11 Der bedeutendste Exponent dieses revolutionären Judenhasses, der alle bisherigen Grenzen zwischen links und rechts überschritt, war Richard Wagner.
Richard Wagner und Ahasverus’ Erlösung Aus dem weitschweifigen Umgang der deutschen Romantik mit Sagen und Mythen trat der große Maestro des Judenhasses mit Visionen von einem modernen, revolutionären Deutschland hervor, in denen die Zerstörung des Jüdischen als eine heilige Pflicht der Kreuzfahrer der Kunst ausgelegt wurde. In der großartigen arischen Welt, die er in seinem Gesamtkunstwerk hervorzauberte, hatten die Juden keinen Platz. Und in dem neuen Deutschland, das er durch seinen Kulturkampf bis in den Tod erschaffen sollte, mussten sie folglich verdammt und vertrieben werden. In dem Pamphlet Das Judentum in der Musik (1850) nahm Wagner erstmals kein Blatt vor den Mund und durchschnitt das, was er früher an Ambivalenz in der Judenfrage gehabt haben musste: […] indem wir für die Freiheit des Volkes uns ergingen, ohne Kenntniß dieses Volkes, ja mit Abneigung gegen jede wirkliche Berührung mit ihm, so entsprang auch unser Eifer für die Gleichberechtigung der Juden viel mehr aus der Anregung eines allgemeinen Gedankens, als aus einer realen Sympathie; denn bei allem Reden und Schreiben für Judenemancipation fühlten wir uns bei wirklicher, thätiger Berührung mit Juden von diesen stets unwillkürlich abgestoßen.12
Wagner sprach sich für eine durchgreifende Veränderung im deutschen Musikleben aus, die die sublimste aller Kunstarten von fremden Dämonen
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bereinigen sollte. Mit den üblichen Vorbehalten der Zeit gegenüber jüdischen Lastern war er in die Revolution eingetreten, heraus kam er jedoch als wütender Fahnenträger des Judenhasses. Die Schmähschrift gegen den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy wurde zur Einleitung eines rassistischen Kampfes gegen die Juden, der nicht nur ein Leben lang andauerte, sondern der posthum in Wagners Propagandazentrale, Bayreuth, fortgeführt wurde. Das wurde nicht selten als eines der vielen unverständlichen Paradoxe ausgelegt, die Wagner umgeben: dass sein revolutionärer Idealismus und sein rassistischer Judenhass gleichzeitig durchbrachen. Das anscheinende Paradox löst sich indessen auf, wenn man tiefer in das Gedankengut der 1840er Jahre vordringt. Rasse und Revolution waren weitestgehend zwei Seiten derselben Medaille. Der Kampf für ein neues Deutschland, befreit von der korrumpierenden Macht des Kapitalismus, war gleichzeitig ein Kampf gegen den angeblich parasitären Griff, in dem Juden angeblich die deutsche Kultur hielten. Wagners Judenhass ist untrennbar mit seinem revolutionären Erwachen verbunden. Seit Anfang der 1840er Jahre hatte Wagner in Verbindung mit mehreren der zentralen Gestalten innerhalb der politisch radikalen Bewegung Junges Deutschland gestanden, wo der Kampf für die Emanzipation in keiner Weise den Kampf gegen das Judentum ausschloss. Gutzkow soll der Erste gewesen sein, der – 1842 – die klassische Phrase formulierte, die so viele der führenden Gestalten des Antisemitismus seither zu der ihrigen gemacht haben: »Viele meiner besten und liebsten Freunde sind Juden.«13 Der Dramatiker und Theaterkritiker Heinrich Laube sollte im Laufe der 1840er Jahre mit immer heftigeren Geschützen gegen die Juden aufwarten. Für den jungen Wagner hatte die Revolution, und die Revolution in der Kunst, zum Ziel gehabt, ein Reich der Liebe zu errichten, in dem Eigentumsrecht und Ausbeutung überflüssig waren. Ebenso wie Laube hatte er geglaubt, das Ganze sei eine Frage der Emanzipation. Das war sie noch immer, mit dem entscheidenden Zusatz, dass nun deutlich gemacht wurde, dass die Juden von ihrem Judentum emanzipiert werden mussten, bevor Deutschlands künstlerischer Geist von seinem emanzipiert werden konnte. Das Pamphlet endet mit einer Warnung, inspiriert von Ludwig Börne, dem es aus Wagners Sicht gelungen war, seinen jüdischen Fluch auf exemplarische Weise zu überwinden. Er formulierte das in einer mythologischen Sprache, die innerhalb weniger Jahrzehnte charakteristisch für den Umgang mit der Judenfrage geworden war: »Aber bedenkt, daß nur Eines
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eure Erlösung von dem auf Euch lastenden Fluche sein kann: Die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!«
Benjamin Disraelis auserwählter Jude Dort, wo Börne Erfolg gefeiert hatte, indem er seinen jüdischen Hintergrund herunterspielte, sorgte Benjamin Disraeli für Skandal und Sensation, indem er ihn feierte. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es kaum einen politischen Akteur, der aus seiner Herkunft größeres Aufheben machte als Disraeli. Gleichzeitig gab es kaum jemanden, der weniger daran interessiert war, was das Judentum in Form gemeinsamen Glaubens, gemeinsamer Erinnerungen, Riten und Sehnsüchte eigentlich beinhaltete. Disraeli interessierte sich nicht für das, was das historische Judentum konstituierte. Er interessierte sich für das Judentum als eine dichterische Möglichkeit. Das Judentum, von dem er seiner Behauptung nach ausging, war eine theatrale Projektion seines eigenen unersättlichen Bedürfnisses nach Größe, und sein Genie bestand nicht zuletzt darin, dass er Türen dort, wo sie sich für andere verschlossen, für sich öffnete. Letztendlich blieb Lord Beaconsfield, wie er als Staatsmann schließlich hieß, keine Tür verschlossen. Hannah Arendt zufolge hatte Disraelis Vater seine Kinder taufen lassen, damit sie, wie andere Sterbliche, die üblichen Karrieremöglichkeiten hatten.14 Es waren jedoch keine gewöhnlichen Ambitionen, die der Sohn hegte. Die Antriebskraft hinter seiner Eroberung der britischen Gesellschaft war der Traum vom Ungewöhnlichen. Disraeli zögerte nicht damit, seinen eigenen Erfolg der Tatsache zuzuschreiben, dass er als Jude geboren worden war, und er demonstrierte aller Welt, welche Möglichkeiten in einer jüdischen Herkunft lagen. Nun war es nicht der schlechteste Ausgangpunkt, den ein europäischer Jude haben konnte, im London zur Zeit Napoleons in eine sephardische Familie hineingeboren zu sein. Er stammte aus einer der Familien, die mit den Worten Georg Brandes’ »dem natürlichen Adel des jüdischen Stammes« angehörten.15 Die Juden wurden in der gleichen Weise wie Katholiken und andere religiöse Minderheiten toleriert und ebenso wie sie von politischen Ämtern ausgeschlossen. Als das House of Commons 1829 für Katholiken geöffnet wurde, gelangte gleichzeitig die Debatte über die politischen Rechte der Juden auf die Tagesordnung.
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Die Feindlichkeit gegenüber den Juden artikulierte sich auch in der britischen Öffentlichkeit deutlich. In der Literatur waren Stereotype von Juden von William Shakespeares Der Kaufmann von Venedig bis Walter Scotts Ivanhoe omnipräsent.16 Im Verhältnis zur Situation auf dem Kontinent gab es jedoch mehrere entscheidende Unterschiede. Zum einen gab es weniger arme Juden als auf dem Kontinent. Im Gegensatz zu dem, was man früher annahm, waren die meisten von ihnen »deutsche« Juden, aber sie waren weder so viele noch so arm, dass sie ein soziales Problem darstellten. Die wirklich armen Juden kamen erst später ins Land, als eine Konsequenz der Pogrome in Russland.17 Zum anderen führte der literarische Antisemitismus nicht zur Etablierung eines politischen Antisemitismus. Zum dritten traf er auf Widerstand, und nicht nur in Form einer liberalen Rhetorik, die das Judentum tolerierte, sondern auch in Form einer philosemitischen Mobilisierung, die die Vorstellung von den Juden als Gottes auserwähltes Volk kultivierte. Dennoch bleibt es erstaunlich, dass eine spektakuläre politische Karriere mit einer unverhüllten jüdischen Selbstbehauptung kombiniert werden konnte. Disraeli überstand dies natürlich nicht ohne Widerstand. Der britische Premierminister William Gladstone behauptete, dass Disraeli »keinen Tropfen englisches Blut in den Adern« hatte, was Disraeli aber nicht daran hinderte, für die politische Emanzipation der Juden zu agitieren. Disraelis Grundannahme war allerdings nicht weniger chauvinistisch. Für ihn drehte es sich nicht um universelle Ideen wie Gleichwertigkeit und Toleranz, es waren die außerordentlichen Eigenschaften der Juden, die sie für die Emanzipation qualifizierten. Sie verdienten all die Privilegien, die sie bekommen konnten, weil sie Juden waren. In einer Debatte erinnerte er 1847 seine politischen Gegner daran, dass sie als Christen dem Judentum für das meiste zu danken hatten: Wenn ihr nicht vergessen hättet, was ihr diesem Volk schuldet, wenn ihr dankbar für die Literatur sein würdet, die den Menschen in tausenden von Jahren so viel Orientierungshilfe und so viel Trost gebracht hat, würdet ihr als Christen mehr als bereit sein, die erste Gelegenheit zu ergreifen, den Forderungen derer entgegen zukommen, die sich zu dieser Religion bekennen. Ihr aber steht unter dem Einfluss des dunkelsten mittelalterlichsten Aberglaubens, der jemals in diesem Land existiert hat. Dieses Gefühl wurde in dieser Debatte außen vor gelassen; das ist natürlich, weil es auch für euch selbst ein Geheimnis ist, aufgeklärt wie ihr seid, aber ebenso unmerklich beeinflusst es euch, wie es andere im Ausland beeinflusst.18
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Disraeli legte ein Selbstbewusstsein an den Tag, das ihn ebenso selbstverständlich zum vertrauten Freund der Königin wie zum späteren Premierminister des britischen Imperiums machte. Er selbst konnte nicht stark genug unterstreichen, dass dies ein jüdisches Selbstbewusstsein war. Er war geboren, um zu führen, und er war in einem Volk geboren, das zu führen auserwählt war. »Ein auserwählter Mann vom auserwählten Volk«, wie er selbst es formulierte.19 Das Neue bei Disraeli war, dass er die Vorstellung von »der Auswahl« aus ihrem religiösen Zusammenhang herausriss und ihr eine anthropologische Begründung gab. In der politischen Romantrilogie Coningsby (1844), Sybil (1845) und Tancred (1847) hebt er den Rassengedanken als das große Thema der Zeit hervor. Disraeli und Gobineau sollen einander 1841 in Paris begegnet sein, und es sind Versuche unternommen worden, eine direkte Verbindungslinie zu Gobineaus Essai sur lʼinégalité des races humaines (Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen), erstmals erschienen 1853–1855, zu ziehen. Disraeli kannte die anthropologischen Ideen der Zeit, in seiner Vorstellungswelt war jedoch die semitische und nicht die germanische »Rasse« »die Aristokratie der Natur«. Es ist, als müsse er die Vorstellung von der Ohnmacht der ordinären Juden mit der Vorstellung von der Allmacht der extraordinären Juden kompensieren. Wagners Albtraum ist Disraelis Traum. In Coningsby heißt es: Es gibt in Europa keine einzige intellektuelle Bewegung von Bedeutung, wo die Juden nicht eine entscheidende Rolle spielen. Die ersten Jesuiten waren Juden; die mystische russische Diplomatie, die Westeuropa in Schrecken versetzt, wird von Juden organisiert und praktisch durchgeführt; die mächtige Revolution, die in Deutschland vorbereitet wird, eine neue und größere Revolution, von der wir in England noch immer wenig wissen, entwickelt sich in ihrer Gesamtheit unter der Federführung von Juden, die so gut wie alle Lehrstühle in Deutschland übernommen haben.20
Er ernennt Kant, Mozart und Napoleon zu Juden – und weiht damit eine Tradition eingebildeten Judentums ein, die später zu einem festen Bestandteil der antisemitischen Literatur werden soll. Das war nicht seine gefährlichste Idee. 1851 behauptete er, eine Allianz zwischen einer unterdrückten jüdischen Rasse und einer geheimen atheistischen Gemeinschaft sei für das Entzünden des revolutionären Buschfeuers verantwortlich gewesen, das 1848 über Europa gefegt war. Diese Vorstellungen von jüdischen Konspirationen tauchen erneut in den einflussreichen antisemitischen Texten
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von Gougenot des Mousseaux und Édouard Drumont auf, in denen Disraeli ausführlich wiedergegeben und zitiert wird. Und Bruno Bauer, der Mann, der den Anstoß zur Debatte um die Judenfrage gab, las in seinem letzten Lebensjahr Disraelis Romane als eine Schrift, die das Geheimnis der Ambitionen der jüdischen Rasse offenbare.21 Im England der Gegenwart wurde Disraelis Judomanie gern in abgeschwächten Wendungen erwähnt oder als ein practical joke abgetan, mit möglichem Hintergrund in einer Form von Ironie, die sich unter den MarranoJuden entwickelt hatte.22 Im Rest von Europa wurde er beim Wort genommen als ein rassenbewusster Garant für die Vorstellung von der jüdischen Gefahr, die sich erst in den Protokollen der Weisen von Zion voll entwickeln sollte.
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HÅKON HARKET
18. Russland:
Die Pogrome
Das Wort »Pogrom« stammt aus dem Russischen und bedeutet »Zerstörung«. Mitunter ist es erforderlich, daran zu erinnern, zumal das Wort in die meisten europäischen Sprachen als ein Synonym für Judenverfolgung eingegangen ist. Es gibt aber gute Gründe dafür, es zu verwenden, wenn die Verwüstungen des Judenhasses in einem Wort zusammengefasst werden sollen. In Russland erreichte die Judenverfolgung eine bislang unerreichte Intensität, und zwar zu einem Zeitpunkt, der eigentlich den Eintritt der russischen Juden in die liberale Ära markieren sollte.1 Für die russischen Juden wurde der gewaltsame Tod Zar Alexanders II. nach einem Jahrzehnt mit leeren Versprechungen und bösen Vorzeichen zum wirklichen Wendepunkt. Der Mord wurde am 1. März 1881 verübt, während Innenminister Loris-Melikow an der Einführung einer liberaleren Verfassung arbeitete. Eine der Beteiligten, Hesia Helfmann, war jüdischer Herkunft. Das Attentat und der anschließende Regimewechsel lösten gewaltsame Judenverfolgungen aus. Der erste Pogrom traf die Juden am 15. April in Elizavetgrad in der Nähe von Kirovo. Von Ostern 1881 bis zum Sommer 1884 wurden die jüdischen Siedlungen in mehr als 160 Städten von Bauernhorden heimgesucht, die durch die Presse von einer hitzigen antijüdischen Rhetorik aufgestachelt waren. Lokale Polizeikräfte griffen nur in Ausnahmefällen ein, bevor die jüdischen Viertel zerstört wurden, dann zumeist auf Seiten des Mobs. Oftmals unterstützten sie die Angreifer sogar. In einer Flut von Brandstiftungen, deren Ausmaß die Welt in der Moderne noch nicht gesehen hatte, wurde das Eigentum von Juden vernichtet. Das Muster wiederholte sich in einer Stadt nach der anderen.2 Von einem Pogrom Ostern 1882 in der russischen Stadt Balta erschien ein Bericht in der französischen Zeitung Le Temps. Da sich der russische Telegrafendienst weigerte, ihn zu übertragen, wurde der Bericht etwas verspätet von österreichischem Territorium versandt. Darin heißt es:
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Am zehnten, drei Uhr am Nachmittag, begannen die Unruhen; die jüdischen Einwohner […] bereiteten sich zur Selbstverteidigung vor, worauf die lokalen Behörden sie mit Hilfe von Truppen, die sie mit Gewehrkolben schlugen, auseinandertrieben. Am elften, um acht Uhr am Morgen, nahmen 600 Bauern aus der Umgebung den Angriff wieder auf und konnten fortfahren, ohne dass jemand sie hinderte. Es kam zu Plünderungen, Morden, Brandstiftungen und Vergewaltigungen, die einen vor Entsetzen erzittern lassen; 700 Juden wurden verletzt, 40 ernsthaft, 3 wurden getötet [die Zahlen wurden später korrigiert: 211 Verletzte, davon 39 ernsthaft, 9 Getötete]; Mädchen wurden vergewaltigt; alle Häuser, die von Juden bewohnt wurden, mit Ausnahme von 16, wurden zerstört [später korrigiert auf: 976 Häuser, 253 Geschäfte und 34 öffentliche Gebäude]; alle Möbel wurden in Stücke geschlagen oder verbrannt; alles wurde zerstört. Die Juden sterben vor Hunger. Erst am 12. April kam Gouverneur Miloradovitsj aus Kamenets, um die Ordnung wiederherzustellen; 200 Aufständische wurden verhaftet und nach Kriegsrecht zu Strafen von sieben Tagen bis zu drei Monaten verurteilt.3
Das neue Regime sprach mit anderen Worten mit gespaltener Zunge: Einer für den Einsatz in Bezug auf die öffentliche Meinung im westlichen Europa, wo schnell Proteste laut wurden. Einer anderen für den Einsatz in Bezug auf die heimische öffentliche Meinung. Deshalb wurden die Schuldigen bestraft, doch längst nicht alle und längst nicht so hart, wie die Rechtspflege der Zeit es eigentlich gebot. Einige wurden zu Peitschenhieben verurteilt, Einzelne wurden nach Sibirien geschickt, und in der letzten Phase der Pogrome wurde auch eine Todesstrafe verhängt. Die Auswahl der Urteile zur Abschreckung und Warnung wurde jedoch von anderen Signalen des Zarenregimes lautstark widerlegt, was die soziale Frustration der Bauern schürte. Der Ideologe des Regimes, Konstantin Pobedonoszew, war Oberprokurator der Heiligen Synode der russisch-orthodoxen Kirche und betrachtete den Liberalismus als eine Zivilisationskrankheit. In der traditionalistischen slawophilen Rhetorik, die von dem neuen Regime ausging, waren es die armen Bauern, die Russlands wahre Seele verwalteten. Und die armen Bauern waren 1881 ärmer als jemals zuvor und stellten daher eine potenzielle Bedrohung für die Stabilität des Regimes dar. Ganz konkret war es Svyashchennaya Druzhina (Die heilige Brigade), die die Judenverfolgungen im nationalen Maßstab orchestrierte. Die paramilitärische Organisation wurde unmittelbar nach dem Attentat auf Alexander II. gegründet und bestand aus regimetreuen Akteuren, die überzeugt waren, dass sich die revolutionären Kräfte, die sich in der russischen Gesellschaft bewegten, mit gesetzlich erlaubten Mitteln nicht unterdrücken ließen. Der Feind musste zerschlagen werden –
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mit allen Mitteln. Indem man den revolutionären Feind als jüdisch identifizierte, gelang es, die soziale Frustration vom Zentrum der Macht weg und hin zu den Fremden zu leiten. Es kann daher paradox erscheinen, dass auch die Revolutionäre eine dem entsprechende Strategie wählten: Die Rhetorik der Populisten zielte darauf ab, das Vertrauen und die Kampflust der Bauern dadurch zu gewinnen, dass man die weitverbreiteten Vorurteile aufnahm. Würde die Lawine erst losgetreten, würde sie nicht mehr zu stoppen sein. In einem verarmten und fremdenfeindlichen Bauernstand, in dem die Not ebenso tief wie das Selbstgefühl, einem heiligen Volk anzugehören, hoch war, konnten die Juden leicht als Feindbild aufgebaut werden. Die Pogrome wurden von einem markanten politischen Willen begleitet, die Existenzbedingungen der Juden in der russischen Gesellschaft zu verschlechtern: Die erste offizielle Reaktion kam in Form eines Rundschreibens an die Provinzgouverneure in den Gebieten des russischen Reiches, wo es Ausnahmebewilligungen für jüdische Ansiedlungen gab. Die Schuld für die Spannungen, die sich zwischen den christlichen und den jüdischen Bevölkerungsgruppen aufgebaut hatten, wurde eindeutig den Juden zugeschoben: Die wirtschaftliche Aktivität der Juden, ihre nationale Isolation und ihr religiöser Fanatismus schadeten angeblich der christlichen Bevölkerung. Es wurde behauptet, dass trotz der unermüdlichen Versuche der Behörden, die Juden mittels großzügiger Rechte, die ihnen im Großen und Ganzen die gleichen Bedingungen gaben wie der heimischen Bevölkerung, zu assimilieren, die Anstrengungen bei der unüberbrückbaren Kluft zwischen der jüdischen Rasse und dem Rest der Bevölkerung gestrandet waren. Das war nicht die ganze Wahrheit. Die jüdische Aufklärungsbewegung Haskalah wurde im Westen von einer Emanzipation begleitet, die eine Schwächung der jüdischen Selbstverwaltung mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen und des Status in Form bürgerlicher Rechte kompensierte. Damit wurden der Säkularisierungsprozess und die Assimilation als historisch notwendig und richtig angesehen – zumindest unter den vielen Juden, die den Wunsch hatten, Bürger der modernen Welt zu sein. Im Osten war die Situation eine andere. Das Zarenregime behielt die stark diskriminierende Regulierung der Bewegungsfreiheit der Juden weitestgehend bei. Die Strategie war in sich widersprüchlich: Segregation und Assimilation. Gegen Ende der Machtperiode von Nikolai I. – von 1820 bis 1855 – wurden einzelne Reformen durchgesetzt, die erst in Alexander II. (1855–1881)
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einen glaubwürdigen Gewährsmann fanden. Als Konsequenz einer vor sichtigen Liberalisierung in der Wirtschaft und des Unterrichtssystems – unter anderem wurden russische Gymnasien für jüdische Schüler geöffnet – wuchsen ein jüdisches Bürgertum und eine jüdische Intelligenzija heran. Die Reformen bewirkten die gewünschte Assimilation für einen kleinen Teil der schnell wachsenden jüdischen Bevölkerung. Diesen belohnte die Zentralmacht aber nicht mit realen Zugeständnissen hinsichtlich der bürgerlichen Rechte.4 Als durch eine kulturelle Russifizierung die Assimilation dann nach und nach um sich griff, kam es zu einer Doppel reaktion – von der jüdischen und von der russischen Orthodoxie – gegen den Anpassungswillen der jüdischen Mittelklasse. Russisch zu werden, setzte aus Sicht der russischen Orthodoxie die Kultivierung von Boden, Blut und Religion über Generationen hinweg voraus. Es erforderte kurz gesagt eine orthodoxe Lebensanschauung, der die assimilierten Juden den Rücken gekehrt hatten. Nach der Machtübernahme durch Alexander II. 1855 war ein stärkeres Bewusstsein für die Krisenhaftigkeit jüdischer kollektiver Identität erwachsen. Der dogmatische Griff der Traditionen lockerte sich von innen heraus, zuvor hatte er jahrzehntelang dem äußeren Druck einer Zentralmacht standgehalten, die durch eine Kombination aus grober Unterdrückung und leeren Versprechungen versucht hatte, die Machtbasis des Rabbinats in der jüdischen Gemeinschaft zu untergraben. Seit der Herrschaft Iwan des Schrecklichen war es die unerschütterliche Haltung des russischen Zarentums gewesen, dass Juden keinen Zugang zum Reich haben sollten. Eine aggressive Okkupationspolitik im Osten und im Westen hatte allerdings dafür gesorgt, dass sich Millionen jüdischer Untertanen innerhalb der großrussischen Grenzen wiederfanden. Sämtliche Monarchen des 19. Jahrhunderts behielten die Bestimmung Katharinas der Großen von 1794 bei, dass jegliche jüdische Ansiedlung innerhalb eines abgegrenzten Gebietes im Westen, Tsjerta osedlosti, angelegt nach dem alten polnischen Königtum, stattfinden sollte; ein Gebiet, das sich von Litauen im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden erstreckte, von der polnischen Provinz im Westen bis nach Weißrussland im Osten. Die russischen Kerngebiete blieben, zumindest auf dem Papier, bis zur Oktoberrevolution 1917 judenfrei. Diese rigorose Bestimmung, die als eine größere menschliche Katastrophe charakterisiert wurde als Königin Isabellas Ausweisung der spanischen Juden 1492, löste das sogenannte Judenproblem indessen nicht.5 Das Ziel blieb
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die Assimilation auf den Prämissen des Zarentums, die unter Nikolai I. mit den Schlagworten »Autokratie, Orthodoxie, Nationalismus« zusammengefasst wurden. Wie aber zwangsassimilierte man eine segregierte Bevölkerung zu gehorsamen und loyalen Untertanen? Am 26. August 1827 erging ein Gebot des Monarchen, dass jüdische Jungen im Alter von 12 Jahren in das russische Heer zwangseingegliedert werden sollten: zuerst sechs Jahre lang vorbereitende Umschulung, anschließend 25 Jahre Wehrpflicht.6 Den Repräsentanten der jüdischen Selbstverwaltung, sogenannten Kahals, wurde befohlen, den Kinderraub zu organisieren. Dass in der Stunde des Abschieds das Trauergebet Kaddish psalmodiert wurde, sagt viel darüber aus, welche Erwartungen man an das Schicksal derer hatte, die davon betroffen waren. Ob sie starben, was meistens der Fall war, oder überlebten, für die jüdische Gemeinschaft galten sie als verloren. Unter solchen Verhältnissen geriet natürlich auch die Verwaltung der religiösen Wahrheit unter Druck. Die Spannungen zwischen der pietistischen Chassidim-Bewegung und der formelleren Mitnaggedim-Gruppierung blieb jedoch ein Streit innerhalb der Tradition. Da der Konflikt nie so tiefgreifend war, focht der chassidische Aufruhr nicht das Wahrheitsmonopol des Judentums an. Ganz im Gegenteil trug er dazu bei, unter den Armen, und das waren die meisten, die Autorität der Religion zu restaurieren.
Der Chassidismus Der Chassidismus wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von dem polnischen Charismatiker Baal-Shem Tov begründet. Die Verwaltung der Tradition innerhalb der Jeschiwot, den Zentren der jüdischen Lehre, hatte sich vom Alltag der armen Pietisten ab- und der sophistischen Exegese zugewandt. Der Chassidismus hingegen erschien als Religion des Herzens. Die charismatische und mystische Bewegung war auch Ausdruck eines sozialen Klassenaufstandes von jüdischen Proletariern gegen einen Handelsstand, der die Auslegung des Talmud zu einem symbolischen Kapital monopolisiert hatte, wo die Einweihung den Bessergestellten vorbehalten war. Der Chassidismus, der den Textkommentar durch Anrufungen und Gebete ersetzte, schenkte den Trost der Religion und die Freuden des sinnlichen Lebens an die Illiteraten aus und erlangte eine große Zustimmung. Bis 1815, ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Begründers, hatte die Mehrzahl der jüdi-
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Abb. 10: Die ersten Opfer der Proskurov-Pogrome in der Sowjetunion im Februar 1919.
schen Gemeinden Osteuropas die bislang führenden Interpreten der Schrift verworfen und die Lebensanschauung des Chassidismus zu der ihrigen gemacht. Martin Buber, der mehr als irgendein anderer dafür getan hat, den Beitrag der Bewegung zur Kulturgeschichte zu dokumentieren, hat die Raison d’Être des Chassidismus zusammengefasst: »[…] trotz des unerträglichen Leids, das der Mensch aushalten muss, ist der Herzschlag des Lebens eine heilige Freude, und immer und überall kann man sich zur Freude hindurchzwingen – wenn man sich seiner Tat nur voll und ganz hingibt.«7 Aber wie bei den meisten großen religiösen Erweckungsbewegungen sollten die inneren Dämonen, Gier und Scharlatanerie, die gefährlichsten Herausforderungen darstellen. Nachdem der Einfluss zunahm, bestand auch Bedarf, den starken Antiintellektualismus zu korrigieren. Der Beitrag zu einer Versöhnung mit den Mitnaggedim wurde auch durch die Reformen innerhalb der talmudischen Tradition gefördert, die allen voran von dem großen Universalgenie, Gaon von Wilna, inspiriert waren, der die intellektuelle Hochburg der Orthodoxie für Studien der modernen Sprachen und säkularen Wissenschaften geöffnet hatte.
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So lange die Zentralmacht ihre brutale Unterdrückung aufrechterhielt, war die kollektive Identität der Juden intakt. Durch sein Vorgehen hatte Nikolaus I. den jüdischen Traditionalisten einen gemeinsamen äußeren Feind erschaffen. Dieses trug stark dazu bei, dass der Konflikt zwischen Chassidismus und Mitnaggedim nach Jahrzehnten der Unversöhnbarkeit nun beiden Seiten als untergeordnet erschien. Als der Zar 1840 die Zügel weiter anzog, war die Versöhnung weitestgehend Realität. Eine Untersuchungskommission unter der Leitung von Graf Kiselev sollte der Judenfrage noch einmal zu Leibe rücken. Der Bericht identifizierte die Wurzel des Bösen im »religiösen Fanatismus und Separatismus der Juden«. Als eine Konsequenz wurde die jüdische Autonomie 1844 formal abgewickelt. Die erneute Verstärkung der Diskriminierung veränderte indessen nicht die Realitäten. Ganz im Gegenteil wurden der innere Zusammenhalt der Juden und ihre Fähigkeit gestärkt, eine Zivilgesellschaft zu organisieren, in der alles vom Schulbesuch für die Armen über Institutionen zur Konfliktlösung bis hin zu Beerdigungen von solidarischen, lokalen Netzwerken übernommen wurde. Die Assimilationsbestrebungen waren am Ende des Weges angelangt. Selbst der Zar sah ein, dass nunmehr die Zeit für subtilere Strategien gekommen war. Damit ging der Vorhang auf für einen neuen – inneren – Feind: Maskilim.
Haskalah – die jüdische Aufklärung Die Modernisierung der Talmud-Studien war daran beteiligt, die Grundlage für die Entwicklung einer modernistischen Intelligenzija jüdischer Humanisten zu erschaffen. Dieser jüdische Modernismus entstand im Rahmen einer größeren Offenheit in der russischen Gesellschaft gegenüber westlichen Ideen generell. Nach dem Wiener Kongress waren die Handelsverbindungen zwischen Ost und West kräftig intensiviert worden. Neue europäische Ideen wurden schnell übernommen und, als Beitrag zu einer tieferen Verschmelzung zwischen den Kulturvölkern in Ost und West, in die Schriften westlich orientierter Autoren eingearbeitet. Es war diese Be wunderung für westeuropäischen Stil und Substanz – die Ideen, die Effektivität, die Organisation –, die weitestgehend auch für die Gruppe jüdischer Humanisten, den Maskilim, tonangebend wurde. Galizien und die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer waren Orte der Begegnung des Handels
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zwischen West und Ost, zwischen deutschen Aufklärungsgedanken und russischer Orthodoxie, sie sollten auch zu Orten der Begegnung zwischen jüdischem und säkularem Humanismus werden. Haskalah war allen voran eine kulturelle, ja, literarische, Bewegung. Sie hatte weder irgendeine zentrale Organisation noch ein einheitliches politisches Programm. Dafür hatte sie in hohem Maße gemeinschaftliche soziale Bezugspunkte und spiegelte eine neue Schicht wider, deren geschäftliche Ambitionen über den internen Markt des Ghettos hinausgingen. Das machte es erforderlich, Deutsch und Russisch zu sprechen sowie in der Lage zu sein, die Kunst der gebildeten Konversation über moderne Themen zu beherrschen, die in das Vertrauen aufbauende Austauschritual des damaligen Handelsstandes einging. Für diese, freilich kleine, Mittelklasse gab es in den 1840er Jahren nur einen Weg, dem es zu folgen galt. Der, dem die westlichen Juden mit anscheinendem Erfolg gefolgt waren: Assimilation und Emanzipation. Für einige – grob gesagt jene, die die Schule in Großstädten des russischen Kerngebietes besuchten – verlief der Weg außerdem über die sprachliche und kulturelle Anpassung, in dem festen Glauben daran, dass jener Weg in einem modernisierten und liberalisierten Russland enden würde. In der Frühphase hatten die meisten Maskilim ihre intellektuelle Erziehung jedoch von der Jeschiwa ihres Siedlungsgebietes und für diese setzte die deutsche Kultur den Maßstab. Daher hatten sie weder den Wunsch, in kulturellem Sinne Deutsche zu werden noch in einem anderen als formalen Sinne Russen zu werden. Von der deutschen Hochkultur wollten sie, neben den modernen Einsichten, die die deutsche Wissenschaft bot, auch die Kunst der Kultivierung des Nationalen lernen. Das bedeutete für sie die jüdische Religion und die hebräische Sprache. Jedoch nicht auf den Prämissen der Orthodoxie. Für das Regime, das den Wunsch hatte, die separatistische Widerstandskraft der Juden abzubauen, bestand die Herausforderung darin, die jüdischen Kinder von den Talmud-Studien wegzulocken und die Nation von morgen aus säkularen Juden zu erschaffen. Eine russisch-jüdische Allianz mit verborgener Agenda und den Maskilim als nützlichen Idioten erhielt den Segen des Zaren. Der Plan war von Graf Uwarow entwickelt worden und zielte kurz gesagt darauf ab, ein Netzwerk aus staatlichen jüdischen Schulen zu etablieren. Geleitet wurde das Projekt von dem jungen deutschen, der Haskalah zugeneigten Juden namens Max Lilienthal, der sich nach der Konsultation bedeutender westlicher Juden wie Moses Montefiore und
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Adolphe Crémieux hatte überzeugen lassen, dass die Absichten die besten seien und dass die Ostjuden und deren obskure Anschauungen Bedarf für eine moderne Weisheit hätten. Obwohl er gute Karten hatte – so konnte er mit einer Befreiung vom Militärdienst locken –, sollte es ihm dennoch größere Probleme bereiten, die lokalen jüdischen Gemeindeführer zu überzeugen. Die erste Schule wurde 1844 eröffnet. Aber bereits ein Jahr später hatte Lilienthal eine langfristige Strategie entwickelt: Der Unterricht in »jüdischen« Themen sollte langsam reduziert werden, um letztendlich voll und ganz durch einen Unterricht im Katechismus ersetzt zu werden. Lilienthal emigrierte letztlich in die USA. Die staatlichen jüdischen Schulen scheiterten, und Uwarow trat 1848 von seinem Posten als Bildungsminister zurück. Die Allianz zwischen dem Zaren und der kleinen Gruppe jüdischer Modernisten hatte deren Verhältnis zu den Vertretern der Orthodoxie indessen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt. Der Feind hatte ein jüdisches Antlitz bekommen, und die Aufklärungsbestrebungen erhielten, wenn möglich, noch schwierigere Bedingungen. Gleichzeitig stand das Rabbinat ohne Machtmittel gegenüber den Ausreißern da. Die Sehnsucht nach einem modernen Leben ließ sich auf lange Sicht nicht beschwichtigen, allen voran nicht von einer religiösen Führerschaft, die die historischen Kräfte, die sich in Bewegung befanden, vollkommen falsch deutete. Denn jetzt – mit der Thronbesteigung Alexanders II. – hofften nicht nur Juden auf formale und reale Freiheit nach westlichem Muster, sondern alle, die von dem reaktionären Regime unten gehalten wurden, und das waren praktisch gesprochen alle Untertanen, die zur Entwicklung einer liberalen russischen Intelligenzija beitrugen. Und es war jetzt, dass die Haskalah ausreichend ideologische Kraft gewann, dass sich der Konflikt zwischen den alten jiddischen und den neuen russischen und hebräischen Juden ernsthaft zuspitzte. Der Chassidismus war ein Bruch innerhalb der Tradition gewesen. Die Haskalah stellte einen Aufbruch von der Tradition dar. Zahlenmäßig handelte es sich um eine kleine Minderheit, zum Jahrhundertwechsel sprachen noch immer 98 Prozent der Juden in den Siedlungsgebieten Jiddisch. Geistig jedoch löste die Vorstellung von der Existenz des gottlosen und geschichtslosen Juden jenen kleinen Erdrutsch aus, der einem größeren Beben stets vorausgeht. Wie ein böses Vorzeichen für einen baldigen Untergang. Die Abwehr gegen die Aufklärungsideen nahm viele Formen an, eine war die Exkommunikation. Zudem kam es zur Gründung der Mussar-Bewe
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gung, die ihren Kampf der Erneuerung der Orthodoxie widmete, um der Glaubenskrise und dem Sinnesverlust entgegenzuwirken, die Ursache für die Flucht in das Moderne waren. Umgekehrt war der Kampf gegen den Traditionalismus nicht ebenso stark von unerschütterlicher Zuversicht geprägt. Der fehlgeschlagene Versuch, die jüdische Gemeinschaft mithilfe der Behörden zu verwandeln, hatte dazu beigetragen, dass man nun stattdessen eine Verwandlung von innen heraus versuchte. Und eine Verwandlung des eigentlichen jüdischen Lebens konnte nur mit der Religion stattfinden. Erneut richteten die Modernisten den Blick gen Westen und ließen sich von dem Kampf der deutschen Reformbewegung inspirieren. Dieser Streit über die Seele des Judentums wütete von 1868 bis 1871, und er hinterließ auf beiden Seiten Verlierer: Bei den religiösen Juden verstärkte sich die Aversion gegen die Aufklärungsideen; jeder Versuch, die Schrift und das Leben unter modernen Bedingungen zu versöhnen, wurde als gottlose Sackgasse abgeschrieben. Und die jüdische Avantgarde erreichte nichts anderes, als Leben in eine neue, militante jüdische Orthodoxie zu hauchen und sich dadurch weiter vom Judentum zu entfremden. Gleichzeitig hatte sich der Wind in der russischen Intelligenzija gedreht. Alexander, der große Befreier, hatte sich von seinen liberalen Versprechen befreit. Und Russlands große Dichter waren heimgekehrt. Mit dem Monarchen.
Das Urteil der Dichter Will man versuchen zu verstehen, wie tief das Misstrauen des russischen Volkes gegenüber den Juden in den Jahren vor den Pogromen reichte, ist die russische Romankunst ein gut geeigneter Spiegel. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren die Juden in der russischen Gesellschaft ein isoliertes und daher weitestgehend unbekanntes Volk. Zum einen waren sie davon ausgeschlossen, im eigentlichen Russland zu wohnen, zum anderen waren sie von der Teilnahme an der Diskussion über das Schicksal des Landes ausgeschlossen. Und auch in der Dichtkunst glänzten sie lange durch ihre thematische Abwesenheit. Im Bewusstsein der einfachen Bevölkerung aber lebten Vorstellungen von den Juden, basierend auf der Überlieferung der Tradition von christlichen Vorurteilen und Mythenmacherei, in den Texten der europäischen Romantik fort, was sich zum Beispiel bei einem Dichter wie Alexander Puschkin widerspiegelt, der von einer gängigen
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europäischen Ambivalenz geprägt war: Juden galten bei ihm als verfluchte Verräter und verführerische Verlockung zugleich. Erst mit Nikolai Gogol hielt der russische, der eingeborene, Jude seinen Einzug in die Literatur des Landes. In seinem großen Werk über die Geschichte des Antisemitismus behauptet Léon Poliakov, dass der feige und gierige Jankel aus dem Roman Taras Bulba den archetypischen Juden in der russischen Literatur darstellt.8 Gogols Charakteristik des Juden Jankel als ein gerupfter Vogel sollte bald zu einer festen Figur im metaphorischen Umgang der nationalen Literatur mit den Juden werden. Jankel wird von Kosaken im Fluss Dnepr ertränkt, und sein Tod setzt auch für die Schilderung des Untergangs anderer Juden einen Standard. In Turgenews Jid (1846) endet das Leben des Spions Hirschel am Galgen, und die letzten krampfhaften Zuckungen seines Todeskampfes rufen nicht nur das Lachen der Zuschauer, sondern auch das des Erzählers hervor: Der sterbende Jude ist eine komische Figur. Auch in der russischen Kultur fassen die drei Figuren Ahasverus, Mammon und Moloch die Vorstellungen vom Jüdischen zusammen: der ewig umherstreifende Verräter, der geldgierige Ausbeuter, der im Zeitalter der Börsen die Kontrolle über die Weltwirtschaft übernimmt, und schließlich der Ritualmörder, der in Jahves Namen christliche Kinder opfert. Zudem hatte auch im Reich des Zaren die Damaskusaffäre die Fantasie angeregt. Nachdem das diplomatische Gewirr gelöst war, stand es noch immer aus, Klarheit in die Behauptungen über die rituelle Praxis der Juden zu bringen. 1844 erteilte Nikolai I. dem hoch geachteten Folkloristen und Lexikografen Wladimir Dal den Auftrag, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Unter suchung mündete in einen 100-seitigen Bericht, in dem in Übereinstimmung mit der eigenen Auffassung des Zaren geschlussfolgert wurde, dass selbst wenn die meisten Juden keine Ritualmorde praktizieren, dies in der chassidischen Sekte verbreitet war.9 35 Jahre später waren die Ritualmorde im Umgang mit dem Judentum noch immer ein heißes Thema. Die Zeitung Grazjdanin, die Fjodor Dostojewski zu ihren festen Mitarbeitern zählte, behandelte die Thematik im Rahmen einer Artikelserie. Und der große Dichter bearbeitete den die Fantasie anstachelnden Stoff in Die Brüder Karamasow (1880). Das junge Mädchen Liza hat ein Buch über jüdische Ritualmorde gelesen und gibt dem unschuldsreinen Aljoscha eine lebendige Schilderung von der Freude der Juden am Leid der Opfer. Sie fragt Aljoscha, ob dieser glaubt, dass die Juden wirklich christliche Kinder ermorden. »Ich weiß es nicht«, antwortet
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die Stimme der Wahrheit. Denn die Wahrheit war, dass auch Dostojewski es nicht wusste. Hingegen wusste er gegen Ende seines Lebens, was er glauben sollte. Dostojewski zufolge nährte der gewöhnliche Russe keinen religiösen Hass der Art, wie er in dem Satz »Das ist, weil Judas Christus ermordet hat« zum Ausdruck kommt. »Ausschließlich Kinder und Betrunkene denken ab und an so«, versicherte er seinen Lesern in einem kleinen Text mit dem Titel Die Judenfrage (1877).10 Ein ironischer Zusatz. Der große Dichter war kaum unwissend dahingehend, dass die Redewendung, auf der er seine Versicherung gründete, darauf hinausläuft, dass Kinder und Betrunkene die Wahrheit verwalten. Der Text hat die Form einer Antwort an den jüdischen Gefangenen Albert Kovner, der ihm aus seiner Zelle einen kritischen Brief geschickt hatte. Die Rhetorik ist nicht frei von Koketterie mit der christlichen Tugend namens Demut. Dostojewski konstatiert einleitend, dass die Judenfrage viel zu umfassend sei, als dass er sich auf Autorität berufen könne. Ansichten habe er indessen. Die Juden hätten von dem russischen Volk nichts zu befürchten, hingegen habe er bemerkt, dass die Juden auf die Russen herabschauen, sie verachten, ja, sie hassen. Das sind natürliche Gefühle, konstatiert Dostojewski, der große Exeget des Leids verbat sich jedoch alles Gerede über Leid von einem Volk, das seine kosmopolitische Machtposition herunterspiele: Sie wollen dich zu dem Glauben bewegen, dass sie nicht über Europa herrschen, dass sie nicht die Börse steuern und damit die Politik und das moralische Leben des Staates. Dostojewskis konspirative Angst ist indessen vermischt mit einer eschatologisch bedingten Ehrfurcht vor der 4000 Jahre alten jüdischen Idee, wo »das letzte Wort noch nicht gesprochen ist«. Dostojewskis Kehrtwende in der Judenfrage ist symptomatisch für die gesamte russische Intelligenzija. Je mehr die jüdische Assimilation, für die in den 1860er Jahren das Wort ergriffen wurde, zu einem markanteren jüdischen Einschlag in der russischen Öffentlichkeit und Finanzwelt führte, desto unverblümter wurde die antijüdische Rhetorik. Während Dostojewski 1861, zu Beginn der Regierungszeit Alexanders II., polemisch das Wort für die Liberalisierung der Bedingungen der Juden ergriff, wurde er im Laufe der 1870er Jahre zu einer antisemitischen Stimme in den Ohren des Monarchen. Bereits Anfang der 1870er Jahre waren die Tendenzen bei der russischen Intelligenzija auf breiter Front deutlich erkennbar, und was Dostojewski betrifft, 1873, wo er seinen ersten öffentlichen Angriff gegen die
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Juden richtete. Russische Intellektuelle generell hatten ein offenes Ohr für die neuen Impulse aus Deutschland, wo sich antisemitische Kampagnen, basierend auf moderner rassistischer Ideologie, mit starker demagogischer Durchschlagskraft in der Öffentlichkeit geltend machten. Wichtiger aber war die patriotische Wendung in Russland selbst. Den Höhepunkt der antijüdischen Agitation erreichten die russischen Autoren der Gegenwart während des Krieges gegen die Türken 1878. Benjamin Disraelis Einmischung in den Konflikt wurde von Russlands religiösen Propheten als eine jüdische Sabotage des Einzugs Christi in Konstantinopel identifiziert. Da war Dostojewski zum Denker im Sold des Zarenregimes erhoben worden. Tolstois Auseinandersetzung mit der Judenfrage folgt denselben Linien, die textlichen Belege tragen dazu bei, die Vorstellung von den Juden als Ausbeuter und Geizhälse zu untermauern, und Tolstoi, der große Gerechte, dem es in seinem öffentlichen Umgang mit dem Unrecht nicht an moralischem Mut mangelte, fand es lange nutzlos, gegen die Pogrome zu sprechen, obwohl er nicht ohne Empathie für die Opfer war. Poliakov zufolge beendete er sein Leben aufgeklärt von deutscher, rassistischer Ideologie: Christus war kein Jude, es war der Jude Paulus, der das wahre reine Evangelium judifiziert hatte.11
Jüdische Strategien Das antijüdische Drama, das sich zwischen 1881 und 1884 in Russland abspielte, ist als eine der schlimmsten Erschütterungen des 19. Jahrhunderts für die Juden Europas stehen geblieben. Mit den Pogromen war der Traum der russischen Juden, freie Bürger in einer liberalen russischen Gesellschaft zu werden, verloren. In dem kleinen Pamphlet Autoemanzipation (1882) fasste Leon Pinsker die Ursachen und die Konsequenzen zusammen. Pinsker war unerschütterlich in dem Glauben gewesen, dass sich das russische Regime auf dem Weg hin zu einer konstitutionellen Monarchie befand, in der die gleichen Rechte für alle Bürger gesichert wären. Weil er sein ganzes bürgerliches und professionelles Leben in eine solche Entwicklung investiert hatte, erschütterte es ihn umso mehr, als die Pogrome einsetzten. Als Sohn eines aufgeklärten Juden hatte er sich innerhalb des russischen Universitätssystems zum Juristen und Arzt ausbilden lassen. In seiner Heimatstadt Odessa wurde er früh zu einer Stütze der Gesellschaft, und Nikolai I. dekorierte ihn für seinen Einsatz als Feldarzt während des
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Krimkrieges. Sein Leben lang hatte er hart dafür gearbeitet, dass die russische Sprache und Kultur das Leben der Juden prägen sollte, jedoch gab es einen entscheidenden Unterschied zwischen den modernen Juden im Osten und ihrem befreiten Gegenüber im Westen. Der Versuch der westlichen Juden, ihr religiöses Erbe zu verwalten, erfolgte durch einen Säkularisierungsprozess, der streng zwischen Religion und Nation trennte. Im Osten, wo die Emanzipation nie stattgefunden hatte, verhielt es sich in diesem Punkt radikal anders. Die Haskalah war, wie zuvor bereits angedeutet, eine zusammengesetzte Bewegung. Die Russifizierung des Alltagslebens, die bis zu den Pogromen Pinskers bevorzugtes Projekt war, wurde von Fraktionen herausgefordert, die durch die Etablierung des Hebräischen als säkulare Sprache die jüdische Identität vitalisieren wollten. Für westliche Reformjuden war dies eine undenkbare Strategie. Deshalb wurde das Fundament für den modernen jüdischen Nationalismus im Osten gefertigt – als kulturelles Projekt. Damit geriet es nicht nur auf Kollisionskurs mit religiösen Traditionalisten, sondern auch mit Assimilationisten, die für eine kulturelle Russifizierung arbeiteten. Unter diesen hebräischen Literaten wurde die Verzweiflung, in die bald die komplette Bevölkerungsgruppe hineingestürzt werden sollte, zuerst artikuliert. Nicht als ein persönliches Anliegen, sondern als eine nationale geistige Krise. Und aus dieser sozialen und geistigen Krise heraus entstanden die ersten zionistischen Bestrebungen in Form des Untergrundnetzwerkes Chibbat Zion, das Geld sammelte und Kurse in hebräischer Sprache, jüdischer Geschichte und Selbstverteidigung arrangierte. Unmittelbar vor der Organisation von Chibbat Zion in den 1880er Jahren wurden unter den russischen Juden fünf verschiedene Strategien iden tifiziert.12 Erstens: Russische Intellektuelle, die sich für die vollständige soziale und kulturelle Integration in die russische Gesellschaft aussprachen. Zweitens: Nationalistische Maskilim, die Hebräisch schrieben und für eine jüdische Erneuerung arbeiteten. Drittens: Die Rabbiner, die für eine Verbesserung der sozioökonomischen Verhältnisse der Juden arbeiteten und die versuchten, eine Brücke zwischen Modernisten und Orthodoxen zu bauen. Viertens: Orthodoxe Rabbiner, die jeglichen Kontakt mit dem Gedankengut innerhalb der Haskalah ablehnten. Und letztendlich: Eine Gruppe religiöser Maskilim, die die Haskalah als eine Möglichkeit auffassten, die Tora in die Welt hinauszutragen, und die versuchten, eine Synthese von Tora und Haskalah zu erschaffen.
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Pinsker hatte der ersten dieser Gruppen angehört. 1882 begab er sich auf eine Rundreise durch Europa. Die Reise, die auch durch gesundheitliche Erholung motiviert war, hatte unter den jüdischen Notabilitäten nicht zu der erwarteten Reaktion geführt. Ausschließlich in London begegnete Pinsker einem Minimum an Verständnis für seine Sache. Ihm wurde empfohlen, eine zusammenfassende Darstellung von der Situation der Juden im Osten zu verfassen. Auf der Heimreise machte er einen Zwischenstopp in Berlin. Das Ergebnis war Autoemanzipation, verfasst und herausgegeben auf Deutsch, aus zwei Gründen: um die westlichen Adressaten zu erreichen und um die politische Zensur des Zaren zu umgehen. In Westeuropa wurde das Pamphlet im Großen und Ganzen genauso aufgenommen wie Pinskers mündliche Appelle. Im Osten hingegen, wo der Hilferuf bald ins Russische und ins Hebräische übersetzt wurde, machte die kompromisslose Situationsbeschreibung Eindruck, zum Teil gewaltigen Eindruck. Pinsker zufolge konnte das Judenproblem nicht innerhalb der Grenzen Russlands gelöst werden. Und die individuelle Massenflucht gen Westen löse kein Judenproblem. Die Not der Juden müsste kollektiv und national behandelt werden, in der Erkenntnis, dass die Emanzipation die Neigungen der menschlichen Natur nicht würde ändern können. Die tiefer liegenden Ursachen für den Judenhass seien unausrottbar, so lange die Juden nicht, gleichermaßen wie andere nationale Gemeinschaften, eine nationale Gemeinschaft konstituierten. Das jüdische Volk hat kein eigenes Vaterland, wenn auch viele Mutterländer; es hat kein Zentrum, keinen Schwerpunkt, keine eigene Regierung, keine Vertretung. Es ist überall anwesend und nirgends zu Hause. Die Nationen haben es nie mit einer jüdischen Nation, sondern immer nur mit Juden zu tun.13
Weil das Judentum Jahrhunderte, nachdem es aufgehört hatte, als politische Nation zu existieren, noch immer als geistige Nation existierte, wurde es überall so betrachtet, wie man die wandelnden Toten betrachtete – mit Angst und Verachtung. Die Juden waren Fremde, und der Hass gegenüber Fremden war platonisch, er gründete nur ausnahmsweise auf konkreten Erfahrungen. Überlieferte Vorurteile initiierten ein breites Spektrum an Unterdrückung, die anschließend das Bedürfnis nach Rechtfertigung erschuf. Juden hätten Christus gekreuzigt, würden das Blut der Christen trinken, Brunnen vergiften, Wucherzinsen verlangen, die Bauern ausnutzen – all das waren Erklärungen, deren tiefste Ursache die einzigartige
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Situation der Juden als ein überlebendes Volk ohne Heimatland war. Der Judenhass war gekommen, um zu bleiben – so lange die Juden blieben. Die rechtliche Emanzipation der Juden war zweifellos die Großtat des Jahrhunderts gewesen, sie veränderte jedoch nicht das Grundlegende: dass die soziale Emanzipation der Juden außer Reichweite blieb. Für Pinsker war nicht mehr entscheidend, ob sich die Antipathie in Form von Gewalthandlungen ausdrückte oder als Toleranz verkleidet daherkam. Die Antipathie war unausrottbar. Ihren schlimmsten Feinden waren sie in den kultiviertesten Schichten des russischen Volkes begegnet. Die Pogrome waren der Augenblick der Wahrheit. Ist erst ein Asyl für unser armes Volk – für die Flüchtlinge, die unser historischprädestiniertes Geschick uns immer schaffen wird – gefunden, dann werden wir gleichzeitig auch in der Achtung der Völker steigen. […] Wir werden alsdann nicht mehr wie in den letzten Jahren von so traurigen Eventualitäten überrascht werden, wie sie leider gewiß noch mehr als einmal in Rußland sowohl als auch in anderen Ländern sich zu wiederholen versprechen.14
Die Juden mussten eine Nation werden – und verschwinden. Nicht unbedingt ins Heilige Land, aber in irgendein Land, das ihr eigenes werden konnte. Ob das in Nordamerika oder am Rande des Osmanischen Reiches war, war zweitrangig. Das Entscheidende war die Einsicht, dass die russischen Juden niemals Russen werden konnten. Wollten sie den Respekt der Russen haben, mussten sie Juden in einem eigenen jüdischen Land sein. Für Leon Pinsker war es das, was die Pogrome in Schutt und Asche gelegt hatten: den Traum, emanzipiert zu werden – legal und sozial – als Jude in Russland.
Kischinew In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts kam es in der öffentlichen Meinung russischer Intellektueller zu einer Wende. Juden anzugreifen, wurde nicht mehr im gleichen Ausmaß akzeptiert. Daher waren die Meldungen über die Pogrome 1903 in Kischinew selbst für die russischen Zionisten ein Schock. Das bedeutete nicht, dass die Pogrome nicht durch eine zunehmende Agitation in den Massenmedien vorbereitet waren. Auch im Westen machten die Berichte über die mörderischen Verwüstungen tiefen Eindruck. 49 Menschen waren ermordet worden, fast 500 verletzt, und einem
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Fünftel der jüdischen Bevölkerung der Stadt waren die Häuser geplündert und niedergebrannt worden. Die Geschehnisse versetzten die jüdische Bevölkerung des Landes in Bereitschaft, auch weil es dieses Mal über jeden Zweifel erhaben war, dass die Verantwortung direkt zu dem Ideologen des Regimes, Konstantin Pobedonoszew, und dem Innenminister, Wjatscheslaw K. Plehwe, zurückgeführt werden konnte. Die Kischinew-Pogrome waren ein vorsätzlicher Massenmord. Selbst Tolstoi reagierte mit Abscheu und beklagte, dass Kritik daran nicht öffentlich ausgedrückt werden konnte. Nur wenige Jahre vor den Pogromen in Kischinew hatten Europäer, die die Stadt besuchten, berichten können, dass die jüdische und die russische Bevölkerung in dem Gebiet miteinander in friedvoller Koexistenz lebte. Versuche, die Lokalbevölkerung gegen die Juden zu mobilisieren, waren mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass die Behörden für so etwas ihre eigenen Kräfte hätten. Was war geschehen? Kurz gesagt ging es um den Aufbau paramilitärischer Kräfte, die in einer gewaltsamen Verleumdungskampagne gegen die Juden die Massenmedien aktivierten. Innerhalb kurzer Zeit verwandelte sich ein anständiges Nachbarschaftsverhältnis in ein ethnisches Pulverfass, das sich in Form von Gerüchten über jüdische Ritualmorde an christlichen Jungen leicht entzünden ließ. Erstmals 1902, da aber wurde das angebliche Opfer lebend gefunden, bevor die Situation sich verschärfen konnte. Dann aber erneut im Jahr darauf. Und dieses Mal ging es schief. In den Folgejahren brachen fortwährend neue Pogrome aus. Die schlimmsten Massenverbrechen sollten jedoch in Verlängerung der Kämpfe rund um die Revolution der Bolschewiki 1917 stattfinden. Man rechnet damit, dass während der Verwüstungen durch die Weiße Armee zwischen 1918 und 1920 mehr als 100.000 Juden ermordet wurden. Es wurde gesagt, dass die Pogrome der 1880er Jahre den deutschen »Hep-Hep-Unruhen« entsprachen. Doch 100 Jahre nach dem Aufstand in Würzburg wiesen die antijüdischen Massenmorde der Weißen Armee nicht zurück, sondern nach vorn – in Richtung der nazistischen Ausformung – in die antijüdische Paranoia als Weltanschauung.
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19. Der Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland Wegen der Entwicklung, die zum Holocaust führte, hat sich die Aufmerksamkeit der Forschung besonders auf Deutschland konzentriert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts glaubten jedoch viele Beobachter, dass die Lage in Frankreich für die Juden am dramatischsten und gefährlichsten war, während Deutschland – oft aufgrund des positiven Bildes, das viele Juden von der deutschen Kultur konstruierten – als ein guter Aufenthaltsort angesehen wurde. Hier gab es nicht wie in Paris einen randalierenden Mob in den Straßen, der »Tod den Juden!« rief, und auch keinen erfolgreichen antisemitischen Populisten wie Karl Lueger in Wien, dem sich die Massen anschlossen – ganz zu schweigen von den Pogromen in Russland. Der Begriff »Antisemitismus« kam jedoch in Deutschland auf und wurde von dem Autor und Journalisten Wilhelm Marr als politischer Kampfbegriff popularisiert. Er gründete im September 1879 eine Antisemitenliga und publizierte die Antisemitischen Hefte. Wie war die Situation in Deutschland?1 Nach 1871 gab es im Deutschen Reich etwa 513.000 Juden. Dies entsprach 1,25 Prozent der Bevölkerung. Ein Viertel der jüdischen Einwohner lebte in Großstädten, allen voran in Berlin, Breslau, Hamburg, Frankfurt und Posen.2 Ihre sichtbare soziale, ökonomische oder kulturelle Aufwärtsmobilität wurde von den Antisemiten genau registriert. War eine jüdische Karriere innerhalb der Wirtschaft, im akademischen Bereich, was selten vorkam, aber in den neuen Nischenfächern möglich, oder innerhalb des Kultursektors erfolgreich, wurde das leicht überschätzt und generalisiert. Daneben gab es andere und häufig weniger sichtbare Gruppen, wie zum Beispiel Geschäftstreibende in den Städten, Arbeiter in bestimmten Branchen oder Viehhändler auf dem Land. Eine andere Gruppe, die aufgrund ihres Habitus, ihrer Glaubensformen und ihrer Sprache beobachtet und stigmatisiert wurde, waren die »Ostjuden«. Ihnen begegneten die Behörden und die Antisemiten mit Feindschaft und die assimilierten Juden mit Skepsis. Die »Ostjuden« konnten in
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verschiedener Weise definiert werden: wertneutral geografisch oder mit einer negativen Konnotation als schmutzige und kulturell rückständige Ghettojuden, als ein Gegenbild zu dem »aufgeklärten« und »modernen« westeuropäischem Juden. Für einige waren bereits die Juden aus der östlichen Provinz des Kaiserreichs, Posen, »Ostjuden«. Für andere waren die Immigranten und Transmigranten aus Russland die eigentlichen »Ostjuden«. Die Flucht- und Wanderbewegungen der osteuropäischen Juden nach den Pogromen in Russland Anfang der 1880er Jahre machten sich in Deutschland zwar nicht sonderlich bemerkbar, wurden aber mit Besorgnis registriert. Zwar hatten schon vor diesen Pogromen zwischen 40.000 und 50.000 Juden die lange deutsch-russische Grenze, die sich von Memel bis Kattowitz erstreckte, überschritten, die meisten von ihnen waren jedoch auf der Durchreise. Im Vergleich mit England, Österreich und Frankreich gab es in Deutschland keine bedeutende ostjüdische Einwanderung, sondern nur eine umfassende Transitwanderung nach Hamburg und Bremen. Es kam deshalb nicht zur Entstehung von ghettoähnlichen, konzentrierten Ansiedlungen wie in London, Paris und Wien. 1910 waren lediglich zehn Prozent der Juden im Kaiserreich »Ostjuden«. Aus Osteuropa kamen Intellektuelle, Autoren und Studenten, die zumeist nur vorübergehend im Kaiserreich lebten, und natürlich Saisonarbeiter, Bergarbeiter in Oberschlesien und Arbeiter in einzelnen Industriezweigen wie der Zigarettenindustrie in Berlin und München, der Lederindustrie in Offenbach sowie der Kürschner in Leipzig. Die sichtbare Migration wurde von den Antisemiten instrumentalisiert, um eine »jüdische Gefahr« zu konstruieren. »Ostjuden« und »Börsenjuden«, »Kaftanjuden« und »Krawattenjuden«, »Schnorrer«, »Parasiten«, »unzu verlässige, revolutionäre« Studenten und »Nihilisten« wurden zu gängigen Stereotypen und Angriffszielen für diejenigen, die die Gleichstellung der Juden in der deutschen Gesellschaft aufhalten oder wieder abschaffen wollten. Für die deutschen Juden, aber auch für die Juden beispielsweise in Frankreich und England, waren die osteuropäischen Juden »Brüder und Fremde«, die solidarische Hilfe erhielten, um weiter nach Amerika zu gelangen.3 Der moderne Antisemitismus entstand nicht, weil Marr den Begriff in Umlauf brachte. Anfang der 1870er Jahre war die Bezeichnung »Semitismus« als Synonym oder »Erklärung« für neue Gesellschaftsphänomene üblich geworden – für »das Moderne«: für den Kapitalismus, für die bürgerlich-liberale Gesellschaft und ihre antagonistischen und pluralistischen
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Strukturen, für die Auflösung von Traditionen, für Traditionskritik, für die Macht der Presse, für linksliberale, von der Aufklärung geprägte und westlich-demokratische, auch für sozialistische Ideen, die frühe Frauenbewegung, für den »Materialismus«, den angeblichen Mangel von nationaler Integration und wahrem »Deutschtum« im Kaiserreich.4 Der Antisemitismus brauchte deshalb keine Definition. »Man« wusste, was der Begriff beinhaltete. Die Antisemitenliga wurde zu einem organisatorischen Fiasko. Dennoch trug sie dazu bei, den Begriff innerhalb weniger Wochen und Monate zu popularisieren, da selbst die großen liberalen Zeitungen Interesse an dem Phänomen zeigten. Innerhalb eines Jahres, 1880, war er zu einem politischen Schlagwort geworden, das in aller Munde war.
Der Berliner Antisemitismusstreit Der angesehenste Geschichtsprofessor des Deutschen Kaiserreichs, H einrich von Treitschke von der Universität Berlin, trug dazu bei, dem Antisemitismus einen akademischen Segen zu erteilen und ihn zu einer wissenschaftlichen Auffassung zu erheben, die ernst genommen werden musste. Gleichzeitig legitimierten Treitschkes Schriften den existierenden Antisemitismus, den Journalisten und eine Reihe von Autoren repräsentierten. Im November 1879 veröffentlichte er in den Preußischen Jahrbüchern einen Artikel mit dem Titel »Unsere Aussichten«, in dem er vor allem die außenpolitische Lage des Kaiserreichs und das Nationalgefühl des konservativen Deutschlands diskutierte. Aber es waren nicht diese Fragen, die Diskussionen hervorriefen, sondern der letzte Teil seines Artikels, der die »Judenfrage« behandelte und der den »Berliner Antisemitismusstreit« auslöste – eine Debatte, deren polarisierende Wirkung mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich verglichen worden ist. Die Kernfrage der Debatte lautete, ob Juden überhaupt Teil der deutschen Gesellschaft werden konnten. Für die Konservativen drehte sich die Debatte in erster Linie um eine ideologische Selbstdefinition und Identitätsbildung, in der sie sich von den Ideen der Aufklärung und des Liberalismus abgrenzten. Die Frage war fortan nicht mehr, wie Nichtjuden und Juden miteinander leben sollten oder konnten, sondern ob sie überhaupt zusammenleben konnten.5 In Treitschkes Frontalangriff in den Preußischen Jahrbüchern, der auch als Buch unter dem Titel Ein Wort über unser Judentum erschien, hieß es unter
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anderem, es sei »unbestreitbar«, dass »das Semitenthum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen großen Antheil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage« habe. Nach der Heraufbeschwörung vom Gespenst einer unkontrollierten Einwanderung »strebsamer hosenverkaufender Jünglinge, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen«, fügt Treitschke die Worte hinzu: »Die Juden sind unser Unglück.«6 Dieser Satz sollte im kommenden Jahrzehnt zum Schlagwort des antisemitischen Kampfes »der guten Gesellschaft« werden. Später wurde dieses Schlagwort vom antisemitischen Agitator der Nazis, Julius Streicher, übernommen. Nach Treitschkes Ansicht hatte Deutschland als junge Nation noch keinen eigenen nationalen Stil, keinen »instinctiven Stolz« entwickelt, und wurde daher von einer »deutsch-jüdischen Mischcultur« bedroht. Deshalb müsse man fordern, dass die Juden schlicht und einfach Deutsche wurden und wie Deutsche empfanden. Treitschkes »hosenverkaufende Juden« waren nicht die Jiddisch sprechenden »Ostjuden« mit ihrem fremden Habitus, sondern germanisierte Juden aus der preußischen Provinz Posen, die mit der deutschen Kultur vertraut waren. Für ihn waren jüdische Intellektuelle genauso gefährlich wie »Ostjuden«, denn ihre Agenda lautete, die kulturelle Hegemonie im Kaiserreich zu erobern. Zu jenen, die sich von Treitschke distanzierten, gehörten Historiker wie Theodor Mommsen und Heinrich Graetz und liberale Politiker wie Ludwig Bamberger und Eugen Richter.7 Die Diskussionsbeiträge von Juden wurden ignoriert, besonders Graetz’ fachliche Kritik – nicht zuletzt, weil er nicht der »Historikerzunft« angehörte. Mommsens Kritik an Treitschke bedeutete viel, seine Unterstützung wies jedoch ambivalente Züge auf. Mommsen war zwar der Meinung, dass die Juden ebenso gute Deutsche wie die Mitglieder deutscher Volksgruppen oder die Nachkommen der französischen Kolonie in Berlin seien. In Bezug auf die volle Integration waren sich die Freunde und Feinde der Juden in einem Punkt einig: nämlich, dass die Juden freiwillig alle ihre »Sonderart[en]« aufgeben mussten. Wenige waren bereit zu akzeptieren, dass auch Juden eine eigene Identität hatten, die auch innerhalb eines Integrationskonzeptes bewahrt werden müsse. Der liberale Politiker Ludwig Bamberger sah den Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem neuen deutschen Nationalismus vermutlich am klarsten. Wenn die Deutschen ihre Nationalität kultivierten, bedeutete das,
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Haß gegen andere Nationen zum Kennzeichen echter Gesinnung zu machen. Von diesem Haß gegen das Fremdartige jenseits der Grenze bis zum Haß gegen das, was sich etwa noch als fremdartig in der eigenen Heimat ausfindig machen läßt, ist nur ein Schritt. […] Wo der Nationalhaß nach außen seine Schranke findet, wird der Feldzug nach innen eröffnet.8
Der Antisemitismus als Antwort auf die Identitätskrise des Kaiserreichs Auch wenn Treitschke an seiner Universität energischem Widerstand begegnete und er moralisch isoliert wurde,9 trug sein Angriff auf die Juden dazu bei, den Antisemitismus salonfähig zu machen. Treitschke verlieh Meinungen und Haltungen Ausdruck, die sich seit Anfang der 1870er Jahre entwickelt hatten. Ein wesentlicher Faktor, der dazu beitrug, dass sich aus dem latenten Antisemitismus ein manifester Antisemitismus entwickelte, war die Depression, die das junge Deutsche Kaiserreich im dritten Jahr seines Bestehens traf. Der Börsenkrach im Oktober 1873 wurde auch zum Anfang vom Ende der liberalen Phase des Kaiserreichs. Diese »Gründerkrise« leitete eine Phase der Depression ein, die trotz weiteren wirtschaftlichen Wachstums in Deutschland in der Zeit danach den Optimismus zerstörte, der die deutsche Bürgerschaft gekennzeichnet hatte – und damit auch außerhalb der ökonomischen Sphäre tiefgreifende Folgen hatte. Das Krisenbewusstsein war weitaus größer als die eigentliche Krise. In dieser Zeit erhielt der Nationalismus eine neue Funktion. Der Nationalismus war auch in Deutschland ein Instrument der bürgerlichen Emanzipation im Kampf gegen die feudale Ständegesellschaft gewesen. Nun wurde der integrale Nationalismus zur konservativen Antwort auf die Identitätskrise des Kaiserreichs. Er »wurde zur Staatsideologie, zum Kampfinstrument gegen die sogenannten ›Reichsfeinde‹, zur Waffe auch gegen liberale bürgerliche Forderungen.«10 Vor allem bei den Kleinbürgern wuchs die Krisenmentalität. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem bürgerlichen Liberalismus nahm zu. Das politische Klima war bereit für eine Jagd auf Sündenböcke, denen die Verantwortung für die wirtschaftliche, politische und kulturelle Situation übertragen werden konnte. Zu Sündenböcken wurden die sozialistische Arbeiterbewegung, der politische Katholizismus, die nationalen Minoritäten – und die Juden. Es hieß, die Juden hätten durch illoyalen Wettbewerb den Konkurs deutscher Industriebe-
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triebe vorangetrieben und für einen europäischen Börsenkrach gesorgt. Die Juden und »verjudete« Deutsche wurden für die Katastrophe verantwortlich gemacht – bestenfalls, weil sie eine unverantwortliche Politik betrieben hatten, schlimmstenfalls, weil sie undurchsichtige Geschäfte betrieben. Die Antisemiten richteten ihren Fokus auf das Finanzwesen und den Geldmarkt. Hier hatten die Juden eine wichtige Rolle beim Aufbau der Börsen innegehabt. Besonders in den Metropolen Berlin, Frankfurt und Hamburg waren sie in den Berufsgruppen innerhalb des Aktien- und Geldmarktes überrepräsentiert. Die großen Privatbanken der 1870er Jahre waren die in jüdischem Besitz befindlichen Bankhäuser Arnold und Bleichröder in Berlin, Dreyfus, Goldschmidt und Oppenheimer in Frankfurt, Mendelssohn und Warburg in Hamburg sowie Oppenheimer in Köln. Weil die Banken es als eine ihrer wesentlichen Aufgaben betrachteten, das Geld profitabel zu investieren, und außerdem selbst neue Unternehmen gründeten, spielten Juden aus dem Bankwesen häufig auch bei der Neugründung von Industrieunternehmen eine führende Rolle. Damit wurden auch sie in den Börsenkrach hineingezogen, der den Gründerjahren folgte. Auch wenn der Börsenkrach keinen unmittelbaren Zusammenhang mit den Juden hatte, wurden der Zusammenbruch und »das System« mit ihnen in Verbindung gebracht. Ab 1875 wurde vor allem der Berater und Privatbankier von Reichskanzler Bismarck, Gerson von Bleichröder, zum Sündenbock gemacht. Da die bürgerlich-intellektuellen Kritiker ihre Kritik nicht direkt gegen Bismarck richten konnten, hielten sie sich an seine Berater. Bleichröder wurde zur Personifizierung leichtsinniger Profitinteressen, zu einer Zielscheibe des Antisemitismus und zum Symbol des »Gründers« und Intriganten, des gewissenlosen Strebers nach Macht und Einfluss. Die komplizierten ökonomischen Prozesse wurden als »jüdischer Betrug« beschrieben, während die Aktiengesellschaften als eine jüdische Erfindung zur Ausplünderung des deutschen Volkes bezeichnet wurden. Vor allem einst liberale Journalisten lieferten jetzt in dem antiliberalen Kreuzzug antijüdische Argumente. Tonangebend in der Kampagne wurde der Journalist Otto Glagau, der politisch der katholischen Zentrumspartei nahestand. Glagau war Mitarbeiter der Gartenlaube, einem im Ausgangspunkt moderat liberalen Familienblatt mit einer wöchentlichen Auflage von fast einer halben Million Exemplaren. In einer Artikelserie versuchte Glagau in den Jahren 1874 und 1875 die Ursachen der Wirtschaftskrise mit der Aktivität der Juden zu erklären. Glagau behauptete, die Juden hätten die Herrschaft
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über den deutschen Liberalismus übernommen, sodass er zu einem »herzlosen Manchester-Liberalismus« degeneriert sei. Seine Artikelserie über den »Börsen- und Gründungsschwindel« erschien 1876 als Buch. Darin behauptet er: »Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, daß ein heimatloses Volk, eine physisch und psychisch entschieden degenerirte Race, blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher, über den Erdkreis gebietet.«11
Die Antisemitenpetition 1881 ergriffen drei führende Antisemiten die Initiative zu einer Unterschriftenaktion, in der behauptet wurde, dass sich »in allen Gauen Deutschlands […] die Überzeugung durchgerungen [hat], daß das Überwuchern des jüdischen Elements die ernstesten Gefahren für unser Volksthum in sich birgt«. Diese »Antisemitenpetition«, für die 267.000 Unterschriften gesammelt wurden, nahm ihren »argumentativen« Ausgangspunkt in der Verbindung zwischen Bleichröder und Bismarck. In der Petition wurde behauptet, dass das »jüdische Element« das »germanische Ideal persönlicher Ehre, Mannestreue, echter Frömmigkeit« bedrohe und die Juden die »Herren« über die »eingestammte christliche Bevölkerung« geworden seien. Es wurde gefordert, die rechtliche Emanzipation der Juden rückgängig zu machen, die Einwanderung von Juden zu erschweren oder zu begrenzen, sie aus der staatlichen Verwaltung auszuschließen sowie in einer Reihe von Berufszweigen eine Begrenzung der Anzahl von Juden einzuführen, beispielsweise in Schulen und im Rechtswesen.12 Die Petition löste antisemitische Tumulte aus, bei denen unter anderem die Synagoge in Neustettin niedergebrannt wurde. Das Ziel wurde allerdings nicht erreicht – denn Bismarck ignorierte die Petition. Die Debatte im preußischen Parlament zeigte jedoch, dass das komplette konservative Lager dem Geist der Petition zustimmte. Die Sozialdemokraten und die Nationalliberalen schwiegen, und lediglich die Linksliberalen in der Fortschrittspartei distanzierten sich. Dass die Petition von exponierten Intellektuellen in Berlin öffentlich kritisiert wurde, weckte indessen Unbehagen beim Kaiser und bei Bismarck und wurde als unerwünscht, nahezu aufrührerisch angesehen. Unter Studenten fand die Antisemitenpetition großen Anklang. Nahezu jeder fünfte unterzeichnete sie. An vielen Universitäten wurden Ausschüsse
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gegründet, die die Petition unterstützen sollten. Anfang 1881 wurden an den Universitäten in Berlin, Breslau und Halle antisemitische Studentenorganisationen gegründet. Innerhalb eines Jahres waren an den meisten deutschen Universitäten große Teile der Studentenschaft vom Antisemitismus beeinflusst. Eine der Folgen der Petition bestand somit darin, dass sie einen Nährboden für die Multiplikatoren des Antisemitismus bereitete. Mit dem Prestige, das Akademiker im kaiserlichen Deutschland genossen, konnte sich der Antisemitismus weiter ausbreiten.
Christlicher Antisemitismus Es gab kein einheitliches Judenbild – weder im Protestantismus noch im Katholizismus. Beiden Glaubensrichtungen gemein war die umfassende Krisenstimmung, die gegen Ende der 1870er Jahre herrschte. Die Katho lische Kirche befand sich in einer bedrängten Lage. Um die größtmögliche Zustimmung für die Kirche zu erlangen, wurden alte Emotionen besonders auf dem Lande revitalisiert. Der alte kirchliche Judenhass wurde erneut mobilisiert. Der katholische Bonifatius-Verein verteilte zum Beispiel 38.000 Freiexemplare von August Rohlings Talmudjude (1871), ein Buch, das dazu beitrug, den Mythos über den »Ritualmord« der Juden wiederaufleben zu lassen – und das nicht nur in Deutschland. Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kam es in Deutschland zu einer Reihe von Anschuldigungen gegen die Juden wegen Ritualmordes. Eine der spektakulärsten Hass- und Gerüchtekampagnen gab es in den Jahren von 1900 bis 1903 in der Stadt Konitz in Westpreußen.13 Auch im katholischen Rheinland erlebte der Mythos eine Renaissance, zum Beispiel in Xanten 1891/92. Der Löwenanteil der Ritualmordanschuldigungen war indessen außerhalb der deutschen Grenzen verortet. Geschürt wurde der Hass von Papst Pius IX., der 1872 Stellung gegen die Juden bezog und sie anklagte, Anarchismus, Kirchenhass und Freimaurerei zu repräsentieren. Katholische Regional- und Lokalzeitungen verbreiteten die Botschaft weiter und setzten Bismarcks Kulturkampf mit dem »Kampf des Judentums gegen das Christentum« gleich. Vor allem der Gedanke, dass es Juden erlaubt würde, christliche Kinder zu unterrichten, brachte die Katholiken gegen sie auf. Für den Historiker Werner Jochmann ist klar, dass die katholische Presse in entscheidender Weise den Nährboden für den politischen
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Abb. 11: Die Behörden im Deutschen Kaiserreich schlugen offensichtliche antisemitische Übergriffe nieder, der »Alltagsantisemitismus« in Form von Diskriminierungen im täglichen Leben aber war stets zugegen. Ein Hotel in Frankfurt warb 1897 damit, das einzige »judenfreie Hotel« der Stadt zu sein.
Antisemitismus bereitete und für dessen Verbreitung sorgte. Jochmann unterstreicht, dass es die katholische Zentrumspartei war, die den Antisemitismus erstmals im Wahlkampf einsetzte und damit dessen Wirkung und Nutzen für parteipolitische Ziele testete.14 Andererseits lernte die katholische Kirche während des Kulturkampfes auch etwas. Sie sah ein, dass radikale Antisemiten nicht nur gegen die Juden kämpften, sondern gegen die Religion an sich und dass sie biologischmaterialistische Werte vertraten. Die Katholiken wurden sich mehr und mehr klar darüber, dass es einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde, wenn die Rechte der Juden eingeschränkt würden. In der nächsten Runde könnte es nämlich die polnischsprachigen Katholiken in den preußischen Ostprovinzen treffen. Daher wurde der Antisemitismus im Kaiserreich in erster Linie zum Programm der protestantischen Mehrheit.15 Es war in den protestantischen Pfarrervereinigungen, wo sich »der antisemitische Bazillus« besonders schnell verbreitete.16 Die Konservativen innerhalb der protestantischen Kirche empfanden die Juden und den Liberalismus als Bedrohung. Sie sprachen von der sogenann-
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ten »Verjudung«, die als eine Gefahr für traditionelle Werte beschrieben wurde. Die Juden seien die Verführer, die »das Volk« von einer »von Gott geschaffenen« Gesellschaftsordnung weglockten. Der »moderne Jude« wurde zum Symbol der Krise. Mit Bekehrung (Taufe) ließe sich das Problem nicht mehr lösen. »Die Judenfrage« müsse eine ganzheitliche Lösung finden. Aber auch der liberale Protestantismus verwendete die Juden, um die »moderne Krise« zu erklären. Für sie wurden die nicht assimilierten »Ostjuden« zur »Judenfrage« an sich. Es wurde behauptet, ihr fehlender Assimilationswille sei Ausdruck für den Widerstand der Juden dagegen, »wahre Deutsche« zu werden. Ein anderer Kritikpunkt war, dass den Juden ihr kosmopolitisches Denken vorgeworfen wurde, das zu einem nichtsozialen Kapitalismus führe. Die Liberalen, die gegen den Antisemitismus schrieben, verwendeten selbst antisemitische Klischees. Außerdem konnten positive Klischees über Juden in Krisenzeiten in negative Klischees umschlagen. Zum Beispiel wurde der familiäre Zusammenhalt nicht mehr als ein positiver Wert gedeutet, sondern als ein negativer Ausdruck von Nepotismus. Dass es am Hof in Berlin Antisemitismus gab, wurde durch die Tätigkeit des Hof- und Dompredigers Adolf Stoecker deutlich. Stoecker, ursprünglich Militärpfarrer, repräsentierte die Kombination von Charisma, Staat und Kirche. Er war ein mitreißender Redner und zog große Massen an. Er sollte der Erste werden, der den Antisemitismus zum Hauptaspekt machte, zum »Glaubensbekenntnis« einer politischen Partei. Mithilfe seiner 1878 gegründeten Christlich-Sozialen Arbeiterpartei versuchte er zuerst die Arbeiter und Kleinbürger mit einer sozialen Botschaft in das Kaiserreich zu integrieren. Abgesehen von Berlin misslang ihm das. Das Misstrauen der Arbeiter gegenüber Staat und Kirche saß zu tief, und Stoecker gewann nur in der Mittelschicht Anhänger. Die Partei blieb eine Randgruppierung. Nach dieser Niederlage veränderte Stoecker die Taktik und profilierte sich ab September 1879 stark als Antisemit. Der Antisemitismus wurde zu einem politischen Instrument und christlich-sozial bedeutete antijüdisch. Die Juden seien ein Volk im Volk, ein Staat im Staat. Stoeckers Ziel war, ebenso wie das der Antisemitenpetition, jüdische Lehrer aus der Schule zu entfernen, für jüdische Richter den Numerus clausus einzuführen sowie das »Missverhältnis« zwischen dem Reichtum der Juden und der Arbeit der Christen »darzulegen«. Aber weder die Rassenlehre noch die christliche Staatslehre hatten für ihn Bedeutung. Er hatte keinen Bezug zu den biologistischen Ideologien, die in seiner Gegenwart entstanden. Diese appellier-
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ten zu diesem Zeitpunkt nur wenig an die Wähler, die er erreichen wollte. Stattdessen legte Stoecker das Hauptaugenmerk auf ein nicht näher definiertes »sozialethisches Moment«: »Die Judenfrage ist für mich keine religiöse, keine Rassenfrage; seitdem die völlige Emanzipation eingetreten ist, auch keine staatsrechtliche Frage mehr. Sie ist eine sozial-ethische Frage«.17 Das schloss jedoch nicht aus, dass er »Gedanken des Rassenkampfes übernahm« und außerdem die Juden mit Blutegeln und Parasiten verglich, die das christliche Europa aussaugten.18 Auch wenn er in seinem Versuch, eine politische Arbeiterpartei zu bilden, scheiterte, erreichte seine antisemitische Agitation weite Teile der protestantischen Bürgerschaft, andere Parteien und Gesellschaftsschichten. Sein Einfluss in Adelskreisen und am Hof war bedeutend, sein Einfluss auf die Jugend groß. Der junge Erbprinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm II., war ein begeisterter Anhänger von Stoecker. Der Kronprinz hingegen, der lediglich 99 Tage lang Kaiser sein sollte, und seine Ehefrau, eine gebürtige Britin, distanzierten sich deutlich sowohl von Stoecker als auch von Treitschke. Jochmann zufolge hatte niemand eine so große Bedeutung wie Stoecker, wenn es darum ging, die Mittelklasse und junge Akademiker zu mobilisieren.19 Sein britischer Historikerkollege John C. G. Röhl hebt ebenfalls die große Bedeutung der Stoecker-Bewegung für die politische und kulturelle Entwicklung Deutschlands hervor.20
Nationalreligiöse Strömungen und biologistische Theorien Stoecker, die Katholiken und auch konservative Protestanten nahmen sich das christliche Erbe zum Ausgangspunkt und arbeiteten dafür, dessen Stellung gegenüber dem Liberalismus zu verteidigen. Zur anderen großen antisemitischen Kraft wurde der völkische Antisemitismus. Diese atheistische Strömung hatte ihre Wurzeln im Pangermanismus und einer übertriebenen »Deutschtümelei«, die intellektuelle Kreise in Deutschland kennzeichnete. Ihr Wunsch bestand in einer »deutschen Weltanschauung«, basierend auf vorchristlichen, heidnischen Werten. Das Gedankengut der Aufklärung wurde zum Vorteil der Auffassung verdrängt, dass die eigene Nation anderen überlegen war. Es gäbe eine natürliche Ungleichheit zwischen den Menschen, und unterschiedliche Menschen besäßen unterschiedlichen Wert, hieß es. Parallel dazu verlief ein Säkularisierungsprozess, durch den die
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christlich-humanistischen Ideen an Bedeutung verloren. In einer Fin-deSiècle-Zeit klagte man über den Verfall der Kultur, über den Materialismus und kritisierte den Liberalismus und »das Moderne«. Mit Basis in derartigen Voraussetzungen entfalteten sich zum einen nationalromantische Strömungen, die pseudoreligiöse Vorstellungen vertraten, in denen besonders die Nation (»das echte Deutsche«, »das wahre Nationale«) einen prominenten Platz einnahm. Zum anderen wurden biologistische Theorien entwickelt, in denen die Lehre von der Verschiedenheit der Rassen dahingehend erweitert wurde, nunmehr auch menschliche Beziehungen zu umfassen. Typische Repräsentanten nationalreligiöser Strömungen und Vordenker des modernen Antisemitismus waren der Orientalist Paul Bötticher, der sich Paul de Lagarde nannte, und der Journalist Julius Langbehn, während der Franzose Arthur de Gobineau und der Brite Houston Stewart Chamberlain biologistische Theorien vertraten. Lagarde erreichte nicht das große Publikum, doch galt er als Professor für Orientalistik in Göttingen als Experte für Juden und Judenfragen. Dieser konservative Kulturkritiker mit Kontakten zu dem Kreis um Richard Wagner trat für eine nationale Vereinigung innerhalb des Rahmens eines nationalen Christentums ein. Das sollte durch die Gleichsetzung von Rasse und Religion, Blut und Geist geschehen. Die Bayreuther Blätter (1878–1938) wurden zu einer Brutstätte des Antisemitismus.21 Für Lagarde waren Juden »Ungeziefer«, das vernichtet werden musste. Sein Vorschlag zur »Problemlösung« lautete: »Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. […] sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.«22 Mit seinem Buch Rembrandt als Erzieher (1890) erreichte Julius Langbehn ein weitaus größeres Publikum als Lagarde. Das Buch wurde »Kult«, vor allem bei der nationalromantischen Jugendbewegung, und erschien innerhalb von zwei Jahren in mehr als 30 Auflagen. In der ersten Auflage spielten die Juden eine untergeordnete Rolle, aber bereits 1891 richtete sich die Argumentation ausschließlich gegen die Juden, die er mit »Pest und Cholera« gleichsetzte.23 Von einem kulturpessimistischen Standpunkt aus polemisierte Langbehn gegen die »moderne Entwicklung« innerhalb der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft sowie gegen die Ideen der Aufklärung. In besonderem Maße richtete er die Geschütze auf das Judentum, das für ihn mit »dem Modernen« identisch war. Langbehn baute auf Lagardes Ideen auf und erweiterte diese zu einem pseudoästhetischen System, in dem Blut und Rasse als Schönheit, Schönheit als Religion und die christliche Religion
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als Blut und Rasse präsentiert wurden. Charakteristisch für Langbehn, und hier unterschied er sich von Lagarde, war eine Pseudo-Religiosität, die zur Grundlage der völkischen Ideologie wurde. Dieser Idee begegnen wir bei dem Juristen und Sozialökonom Eugen Dühring wieder. In seinem Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881) stand die Rassenideologie im Vordergrund. Der Rassenbegriff war im Ausgangspunkt ein offener Begriff. Er wurde von den Liberalen in Gebrauch genommen, die festgestellt hatten, wie schwer es war, zu definieren, wer Jude war und was jüdisch war. Sie hatten das Judentum anfänglich als eine Konfession auf einer Ebene mit dem Protestantismus und dem Katholizismus betrachtet. In der Debatte der 1860er Jahre wussten die Liberalen nicht mehr, was die Juden eigentlich waren. Waren sie eine Kultur oder ein Volk oder eine Rasse? Sie sahen, dass das Judentum eine Vielfalt beinhaltete, die nicht ausschließlich religiös definiert werden konnte. Daher wurde der Rassenbegriff in Gebrauch genommen – vorläufig jedoch nicht mit deterministischem Inhalt. Die Liberalen konnten von »Fremdlinge[n] im Blut« sprechen, aber dennoch für die Emanzipation sein. Rasse war für sie keine politische Kategorie und sollte daher die Gesetzgebung nicht berühren. Für die Antisemiten war der Rassenbegriff hingegen biologistisch determiniert. Marr war bereits in seinem Buch Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum (1879) von der Dichotomie Germane versus Jude ausgegangen anstatt von der traditionellen Dichotomie Christ versus Jude. Damit war eine ewig währende Grenze gezogen worden, die durch Taufe nicht aufgehoben werden konnte. Für Dühring waren die religiösen Ideen des Alten Testaments und der daraus abgeleitete Egoismus charakteristisch für die Juden. Weil dieser Egoismus seine Wurzeln in der Rasse habe, müsse man sich ihrer entledigen. Da es keine eigene »deutsche« Rasse gab, und weil es schwierig war, eine rein germanische Rasse aufzuspüren, konzentrierten sich die Propheten der Rassenlehre auf den Widerpart, »den Feind«. Dieser Feind waren die Juden. Sie repräsentierten den dunklen Gegenpol zur hellen germanischen Welt. Mit solchen Ideen als Ausgangspunkt war der Weg hin zu einem Weltsystem für das Zusammenleben der Nationen – oder Rassen – nicht weit, einem System, in dem die Juden höchstens einen untergeordneten Platz einnahmen. Den Glauben an dieses System finden wir bei Houston Stewart Chamberlain. Chamberlain, in Portsmouth geboren, zog im Alter von 25 Jahren
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auf den Kontinent, wo er in den 1890er Jahren in Genf, Dresden und Wien Naturwissenschaften studierte. Er heiratete Richard Wagners Tochter und erlangte großen Einfluss auf Wagner und dessen stark antisemitischen »Bayreuther Kreis«.24 Chamberlains Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1898, zwölf Auflagen bis 1914) wurde zu einem pseudowissenschaftlichen Standardwerk. Dank der ausdrücklichen Empfehlung von Kaiser Wilhelm II. wurde dem Buch der höchste Segen zuteil und es sollte damit die Auffassung mehrerer Generationen von Intellektuellen und Beamten prägen. Für den Kaiser selbst war Rassismus spätestens ab Mitte der 1890er Jahre ein konstitutives Element seiner Weltanschauung, und er »ließ keine Gelegenheit aus, die Notwendigkeit einer reinen germanischen Rasse zu proklamieren«.25 Richard Wagner seinerseits behauptete in seinem Buch Das Judenthum in der Musik (anonym erschienen 1850, mit dem Namen des Autors 1869), dass der Beitrag der Juden zur deutschen und europäischen Kultur eine Invasion rassenmäßig minderwertiger Elemente ohne schöpferisches Talent repräsentiere. Die Juden seien verantwortlich für den Verfall der deutschen Kultur und die »Verjudung« der Kunst. Bei Chamberlain war der Rassengedanke durch Dichotomien charakterisiert, nämlich Rassenhomogenität versus Rassenchaos und Germanen versus Juden. Die wirklich große Rasse seien die Germanen, und besonders die Deutschen, die das »eigentliche germanische Bewußtsein« hätten. Die Gegenrasse seien die Juden mit einer »unausrottbaren Zähigkeit«, die mit ihrer Rassenreinheit im Gegensatz zu allen anderen Rassen stünde und der beste Beweis dafür sei, »wie eine Rasse sich durch Reinheit Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch edel erhalten« könne. Gerade wegen dieser Fähigkeit würden sie eine Bedrohung für das Deutschtum darstellen. All diese Ideen, besonders Chamberlains, konnten sich nur durchsetzen, weil sie mit dem Zeitgeist korrespondierten. Die Anthropologie war von der Rassenlehre geprägt, in der Biologie wurde Darwins Entwicklungslehre übernommen. Der Sozialdarwinismus vereinte die anthropologischen Strukturen mit den biologischen Entwicklungsgesetzen zu einem »wissenschaftlichen System«. In diesem System finden wir die These des Franzosen Gobineau hinsichtlich der Überlegenheit der germanischen Rasse. Zu einem Zeitpunkt, als der politische Imperialismus immer aggressiver wurde, nicht zuletzt in Deutschland, fiel die These auf fruchtbaren Boden. Das System richtete sich sekundär auch gegen die Juden als fremde Rasse. Die Schlussfolgerung lautete, dass die Emanzipation gestoppt wer-
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Abb. 12: Witzeblätter und Postkarten konstruierten und verstärkten stereotype Vorstellungen von den Juden. Man bediente sich physiognomischer Stigmatisierungen und verband die Juden mit bestimmten Berufen, zum Beispiel Arzt, Anwalt und Journalist. Die Postkarten stammen aus den Jahren von 1899 bis 1905.
den musste, die Juden sollten nicht assimiliert, sondern dissimiliert (ausgesondert) und unter ein Fremdenrecht gestellt werden. In Verbindung mit pseudoreligiösen, völkischen Ideen, wie wir sie bei Lagarde, Langbehn und Liebenfels finden, konnte die Rassenideologie des Sozialdarwinismus darin münden, dass man die Existenzberechtigung der Juden bestritt. Dieser nationalsozialistisch-rassistische Antisemitismus wurde zur Grundlage des sogenannten Radauantisemitismus, den es allen voran auf dem Lande gab und der sich in Zusammenschlüssen wie dem Deutschen Volksverein und der Deutschen Antisemitischen Bewegung organisierte. 1887 gelang es ihren Mitgliedern, in den Reichstag gewählt zu werden. Diese Form des Antisemitismus fand ihre Anhänger unter den Landwirten und Kleinbürgern. Die größte Wirkung erzielte der Antisemiten-Katechismus, der erstmals 1887 von Theodor Fritsch herausgegeben wurde und ab 1907 in erweiterter Form als Handbuch zur Judenfrage erschien und später zum Standardwerk des nationalsozialistischen Antisemitismus avancierte.
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Antisemitische Organisationen und Parteien in Deutschland Anfang der 1890er Jahre änderte sich das Klima. Mit Wilhelm II. hatte Deutschland einen Antisemiten zum Kaiser bekommen. Zudem organisierten sich die Antisemiten in neuen Formen. War der Antisemitismus bisher in miteinander konkurrierenden Gruppen und Organisationen sowie als literarisches und publizistisches Phänomen aufgetreten, so erhielt er nun durch Parteien und andere Vereinigungen politische Durchschlagskraft. Obwohl diese weiterhin miteinander konkurrierten, fand der Antisemitismus, für den sie standen, Eingang in die übrigen Parteien, in die Organi sationen, in die Sportvereine. Ihre Bedeutung bestand also darin, dass sie den völkisch-rassistischen Antisemitismus in das normale politische Leben hineintrugen. Antijüdische Schlagworte und Klischees fanden den Weg in die Wahlmanifeste der konservativen Parteien. Somit wurde eine neue Form von Öffentlichkeit erschaffen. Anstatt der akademischen Debatte, die Argumente abwog, formten antisemitische Parteien und Zeitungen das Bild von den Juden in meinungswirksame und leicht verständliche Stereotype um. Dieser Antisemitismus war von Gleichgültigkeit gegenüber Einzelschicksalen geprägt. Die Haltungen der Parteien, besonders der Konservativen, finden wir auch bei den großen parapolitischen Interessenorganisationen wie dem Bund der Landwirte (BdL), dem Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband (DHV), dem Alldeutschen Verband, dem Verband deutscher Studenten und der antifeministischen Bewegung. Diesen Interessenorganisationen kam bei der Verbreitung antisemitischer Haltungen eine weitaus größere Bedeutung zu als den Sekten und Parteien. Mehrere dieser Organisationen waren in Verbindung mit der Antisemitenpetition entstanden. Sie vertraten eindeutig antisemitische Positionen und wurden ebenfalls zu wichtigen Multiplikatoren. Der Handlungsgehilfen-Verband, »ein Kind des Antisemitismus«, hatte seinen Ursprung in der protestantischen Jugendbewegung und breitete sich – nicht zuletzt aufgrund seiner Wurzeln – stark aus. Er wurde zur »Rekrutenschule« des politischen Antisemitismus.26 Der Bund der Landwirte, dessen Mitglieder »einem der christlichen Bekenntnisse« angehören mussten, war nach der Gründung 1893 eine Interessenorganisation, die die gesellschaftliche Stellung der Landwirtschaft gegen den Kapitalismus stärken sollte. Die Leitung des Verbandes war sich darüber im Klaren, dass die Großgrundbesitzer andere Interessen als die kleinen Bauern in anderen
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Regionen hatten. Der einzige Kitt, der die unterschiedlichen Interessen zusammenhalten konnte, war der Antisemitismus. In solchen Organisationen verschmolz der Antisemitismus mit wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen oder mit dem Nationalismus und dem Imperialismus. Zur extremsten nationalistischen Organisation entwickelte sich der Alldeutsche Verband.27 Gegründet wurde er im April 1891 als Allgemeiner Deutscher Verband mit Ursprung in der Deutschen Kolonialgesellschaft. Er erschien somit nicht als irgendeine Wirtschafts- oder Interessenorganisation, sondern erhob den Anspruch, die Gesamtheit der Interessen der Nation zu repräsentieren. Ursprünglich war er von radikalnationalistischen, imperialistischen und antidemokratischen Haltungen geprägt. Im Verbandsprogramm von 1903 wurde jedoch der antisemitische Charakter deutlich. Vor allem nachdem Heinrich Claß 1908 den Vorsitz übernommen hatte, wurde der Antisemitismus immer stärker. Der Verband entwickelte sich zu einer antisemitischen Kampforganisation, die zu einem der wichtigsten Vorläufer des Nationalsozialismus wurde. Aufgrund der sozialen Stellung und des Sozialprestiges der Mitglieder in der deutschen Gesellschaft – die große Mehrheit stammte aus dem Bildungsbürgertum mit akademischer Ausbildung, darunter Professoren, Juristen, Lehrer, Ärzte oder Journalisten – wurde der Verband zu einem der zentralen Multiplikatoren eines rassenideologischen Antisemitismus. Das galt nicht zuletzt für den überwiegenden Anteil der Gymnasien, der sowohl offen als auch unterschwellig von den Alldeutschen beeinflusst wurde. Breite Schichten des deutschen Volkes wurden von ihrem Denken beeinflusst, ohne dass sie sich darüber im Klaren waren. Ziel der Organisation war es, »deutschnationale Gesinnung, insbesondere Weckung und Pflege des Bewußtseins der rassenmäßigen und kulturellen Zusammengehörigkeit aller deutschen Volksteile« zu fördern.28 Obwohl die Mitgliederzahl geringer war als die des Bundes der Landwirte und des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, war die politische Durchschlagskraft der Alldeutschen größer. Deutschlands wichtigste politische Gruppierung waren die Konservativen, die zur tragenden politischen Kraft wurden. Einer ihrer führenden Politiker, Wilhelm von Hammerstein-Gesmold, war Herausgeber der Kreuz-Zeitung, der Zeitung des preußisch-protestantischen Landadels, die den Antisemitismus verbreitete. Als er und Stoecker sich auf dem Parteitag der Konservativen 1892 in Berlin (Tivoli-Parteitag) alliierten, gelang es dieser ultrakonservativen Gruppe, einen antijüdischen Programmpunkt zu
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beschließen.29 Nachdem ein ursprünglich vorgesehener Satz, der antisemitische Ausschreitungen verurteilte, aus dem Programmentwurf gestrichen worden war, verpflichtete sich die Partei, »den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben« zu bekämpfen. Weiter hieß es im Programm: »Wir verlangen für das christliche Volk eine christliche Obrigkeit und christliche Lehrer für christliche Schüler.« Einzelne konservative Mitglieder forderten eine Revision dieses Beschlusses und zogen sich von Stoecker zurück, aber die Partei vermochte nicht, vom Antisemitismus Abstand zu nehmen. Ohne die Unterstützung durch den Bund der Landwirte wäre die Partei ohne Anhänger und Wähler gewesen. Dass sich die Konservativen der antisemitischen Richtung verpflichteten, hatte langfristig weitaus größere politische Bedeutung als die Agitation der kleinen Flügelparteien. Die übrigen Reichstagsparteien verhielten sich im Großen und Ganzen opportunistisch. Ihre Haltungen waren von den Konjunkturen abhängig, sodass man hier von einem »konjunkturellen Antisemitismus« sprechen kann. Stoeckers Versuch, die Arbeiterschaft zu gewinnen, misslang, in der Arbeiterbewegung gab es jedoch Tendenzen, den Antisemitismus »zu verstehen«. Er wurde als »antikapitalistisches Sehnen« und als »frühe Form von Antikapitalismus« betrachtet. Auf diese Weise trüge er ein revolutionäres Element in sich und könnte letztendlich der Sozialdemokratie zugutekommen.30 Antisemitismus wurde als Protest gegen den modernen Kapitalismus und als Ausdruck von Dummheit betrachtet.31 Der Antisemitismus wurde als Feind angesehen, weil er die Arbeiterklasse spaltete, am Ende würde die Sozialdemokratie jedoch vom Antikapitalismus, den die Antisemiten säten, profitieren. Ähnliche Positionen vertrat die österreichische Schwesterpartei der SPD, die einen Grundsatzartikel von 1887 zu dieser Thematik 45 Jahre später erneut publizierte.32
Rückgang des Antisemitismus gegen Ende der 1890er Jahre? Bei der Reichstagswahl 1893, nach einer erneuten Depression und einer Krise der Landwirtschaft, konnten die antisemitischen Parteien ihre Stimmzahlen verfünffachen. Sie erhielten 16 Mandate im Reichstag. Zu den erklärten Antisemiten der Deutschsozialen Antisemitischen Partei gesellten sich konservative Kandidaten, die für ihre antisemitischen Haltungen bekannt
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waren. Die radikalen Antisemiten waren untereinander jedoch gespalten und erreichten nicht ihre politischen Ziele. Nach 1896 begann der Niedergang, und 1912 gab es nur drei Vertreter des Reichstags, die auf ein deutlich antisemitisches Programm hin gewählt worden waren. Misslang also der Antisemitismus als selbstständige politische Kraft im Kaiserreich? So hat zum Beispiel Richard S. Levy den allgemeinen Rückgang des Antisemitismus in Deutschland interpretiert, während Werner Jochmanns Argumente dahin gehen, dass der Antisemitismus trotz der schwachen Stellung der Parteien in der deutschen Gesellschaft eine starke Position innehatte und mehr oder weniger deutlich das Bewusstsein der bessergestellten Gesellschaftsschichten prägte.33 Stefan Scheil hat gezeigt, dass die eindeutigen Antisemiten keine Außenseiter waren, sondern ein integraler Teil des bürgerlich-nationalen Lagers. Antisemitische Positionen wurden also stärker toleriert und akzeptiert, als die Wahlergebnisse es besagen.34 Trotz der Krisenstimmung ging es mit der deutschen Wirtschaft bergauf. Auch die Bevölkerungsschichten, die sich bedroht gefühlt hatten, zogen Nutzen aus dem wirtschaftlichen Aufschwung. Die Politik Wilhelms II., die Deutschland einen »Platz an der Sonne« verschaffen sollte, trat dafür ein, dass das Land eine Aufgabe in der Weltpolitik haben solle. Dass Deutschland von einem norddeutschen (preußischen) Territorialstaat zu einer Großmacht herangewachsen war, wurde besonders mit speziellen rassenmäßigen Qualitäten erklärt. Von diesen Rassenqualitäten ausgehend meinte man, Deutschland hätte nahezu eine rassenbiologische Pflicht, sein Territorium zu erweitern. Die Rassenforschung erlebte eine Blütezeit. Die deutsche Rasse wurde mithilfe ihres Gegenbildes definiert. Weil es nicht möglich war zu definieren, was die deutsche Rasse eigentlich ausmachte, wurde ein Judenbild konstruiert, das als Abgrenzung verwendet werden konnte. Nationalismus, Sozialdarwinismus und Antisemitismus wurden miteinander verwoben und zu Instrumenten der Innen- und Außenpolitik des Kaiserreichs. Nach der Reichstagswahl 1912, bei der der Sieg der Sozialdemokraten das »nationale« Deutschland schockierte, nahm die antisemitische Agitation wieder an Stärke zu. Unter dem Eindruck dieser Wahl veröffentlichte Claß 1912 das Buch Wenn ich der Kaiser wär. Darin stellte er nicht nur ein aggressives außenpolitisches Programm vor, sondern auch ein radikal antijüdisches Programm. Die Juden wurden als Parasiten beschrieben, die über die Zei-
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tungen, die Regierungen und das gesamte politische Leben herrschten. Sie waren es, die durch ihr »Gift«, ihr »jüdisches Blut« und ihren »jüdischen Geist« den deutschen Volkskörper zerstörten. Claß als »Kaiser« wollte die Grenzen für die Juden schließen, Juden, die keine deutschen Staatsbürger waren, ausweisen und eine Ausländergesetzgebung für alle Juden einführen, die im Jahr 1871 mosaischen Glaubensgemeinschaften angehört hatten. Die Juden sollten aus einer Reihe von Berufen ausgeschlossen werden, ihnen sollte das Stimmrecht entzogen werden und sie sollten doppelt so hohe Steuern wie andere deutsche Bürger zahlen. Dass solche Gedanken ernsthaft diskutiert wurden und zur Diskussion darüber führten, wer sich hinter dem Autorenpseudonym Daniel Frymann verbarg, und dabei bekannte Namen erwogen wurden, sieht Jochmann als ein deutliches Zeichen dafür, dass der Antisemitismus Eingang in zentrale Machtpositionen sowie in das Denken des konservativen Deutschlands gefunden hatte. Die Historikerin Shulamit Volkov unterstreicht hingegen, dass das Buch kühl aufgenommen wurde, als lächerlich angesehen wurde und selbst der antisemitische Kaiser Wilhelm der Meinung war, es würde Deutschland um 100 Jahre zurückwerfen und das Land unter Europas Kulturnationen isolieren.35 Es ist die Ansicht vertreten worden, dass die juristische Gleichstellung, die die Juden durch die Verfassung des Kaiserreichs und das Emanzipationsgesetz erhalten hatten, durch Verordnungen und speziell die Praxis des Beamtenapparates de facto aufgehoben wurde. Das hat der Historiker Dietz Bering anhand von Beispielen der sogenannten »Verdeutschung« jüdischer Namen sowie anhand der von der Beamtenschaft durchgeführten Zuteilung von Namen beleuchtet.36 Zu Beginn des Emanzipationsprozesses verwendeten Juden keine Familiennamen. In Preußen war die Möglichkeit zur Namensänderung Anfang des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig liberal, auch wenn es Juden nicht erlaubt war, den Vornamen des preußischen Königs zu verwenden, auch wenn man versuchte, Juden daran zu hindern, ihren Kindern »christliche« Namen wie Christoph, Christian und Peter zu geben. Nur wenige Juden entschieden sich für deutsche Nachnamen – höchstens wurde das hebräische »Naphtali« zum deutschen »Hirsch« oder aus »Baruch« wurde »Bendix«. Ab den 1870er Jahren veränderte sich die Situation, und es entstand ein Streit darüber, ob Juden das Recht haben sollten, »deutsche« Namen zu wählen. Jüdische Namen wie »Cohn« und »Itzig« wurden zu Schimpf- oder Spottwörtern, die stigmatisierten und
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brandmarkten. Natürlicherweise stieg der Wunsch der Juden nach einer Namensänderung. Gleichzeitig wurde es jedoch immer schwieriger, aus dem »Namensghetto« herauszukommen. In einer Namensänderungsverordnung wurde 1894 festgelegt, dass alle Namensänderungen, die nur beantragt wurden, weil der Name auf eine »jüdische Abstammung« verwies und der Antrag »nur« aufgrund der »antisemitischen Bewegung« gestellt wurde, nicht zugelassen waren. 1898 wurden ein Verbot und eine Strafe für die Veränderung eines jüdischen Vornamens eingeführt. 1900 wurde – auch per Verordnung – verboten, dass »jüdische« »Davidsohn« in das »deutsche« »Davidson« zu verändern. Ab 1908 mussten Juden, die adoptiert wurden, ihren jüdischen Namen behalten. Gleichzeitig war die Zeit nach 1870 von einer »spezifischen Form der fremdenfeindlichen verbalen Gewalt« geprägt.37 Dieser Alltagsantisemitismus benutzte Stereotypen und Zerrbilder in zahlreichen antisemitischen Pamphlets, Büchern, Zeitschriften und Blättern, die in Massenauflagen verbreitet wurden, außerdem in Karikaturen, Postkarten, Populärmusik und billiger Unterhaltungsliteratur.38 Der »zerlumpte Ostjude« wurde zum Ziel von Spott und Verachtung, ebenso aber auch der »intellektuelle« oder der »reiche Jude«. Jüdische Männer wurden als schwach oder armselig dargestellt, zum Beispiel in Witzblättern oder auf »lustigen« Postkarten – oder als fette, gierige Vergewaltiger und Zuhälter oder als eklige Prototypen »des Modernen«. Ebenfalls präsentiert wurden stereotype Vorstellungen von jüdischen Frauen, als verführende Dirne oder fette Matrone. Die Menge an derartigen Postkarten und Zeichnungen signalisierte, dass Juden uner wünscht, nicht willkommen waren und dass sie unter der Parole der Alldeut schen »Deutschland den Deutschen!« außer Landes befördert werden sollten. Der Historiker Reinhard Rürup beschreibt den radikalen Antisemitismus im Kaiserreich als eine »Weltanschauung«. Er setzt das Wort in Anführungszeichen und sieht dies als ein »Erklärungsmodell«, das es erleichtern soll, eine sich schnell verändernde Welt zu verstehen, indem das Modell die Analyse herrschender Verhältnisse mit einem Rezept für die Lösung drängender Probleme verbindet. Es ging den Antisemiten »nicht mehr um die Eingliederung der unterprivilegierten Juden in die bürgerliche Gesellschaft, sondern um die Zurückweisung einer angeblichen Beherrschung dieser Gesellschaft durch die Juden.«39 Der Antisemitismus bot eine Art Theorie, die von breiten Bevölkerungsschichten als Orientierungshilfe und Erklärung für die existenzielle Krise der Gesellschaft akzeptiert wurde.
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Verglichen mit Frankreich während der Dreyfus-Affäre war der Antisemitismus in Deutschland dennoch von einer »milderen« Sorte. Kam es zu physischen Tätlichkeiten, griffen die Behörden und die Gerichte schnell ein.40 Die Juden waren nicht beliebt, ihre Emanzipation wurde im Großen und Ganzen jedoch als irreversibel angesehen. Den Juden wurde in der Regel mit Toleranz begegnet. Shulamit Volkov zufolge war die Haltung durch Apathie und Gleichgültigkeit gekennzeichnet.41 Antisemitische Parteien erzielten selbst in ihrer Blütezeit 1893 und 1907 in Deutschland nicht mehr als maximal 2,5 Prozent der Stimmen. Der Antisemitismus war, stellt Shulamit Volkov fest, »ein Thema sekundärer Bedeutung« und »wurde – in gewissem Maße gerade deswegen – Kennzeichen der ›Kultur der Rechten‹«. Er war im Deutschen Kaiserreich zum »kulturellen Code« der konservativen und nationalen Bürgerschaft geworden.42 Es ist in dieser Hinsicht für die kaiserliche deutsche Gesellschaft bezeichnend, dass es in der sozialen Gruppe, die das höchste Prestige hatte und den Kern des Staates bildete – die Berufsoffiziere –, nicht einen einzigen Juden gab. Volkov spricht aber auch vom Antisemitismus in Frankreich als »kulturellem Code« und unterstreicht, dass »das ideologisch Neue – und zwar tatsächlich im europäischen Maßstab – aus der Feder von Edouard Drumont« kam. In Frankreich entstanden zwar keine antisemitischen Parteien wie in Deutschland, dafür war die Ligue antisémitique française politisch aber weitaus erfolgreicher als die deutschen Parteien. Die französischen intellektuellen Eliten betrachteten die antisemitischen Theorien als seriöser, als es die entsprechenden Gruppen in Deutschland taten.43 Der Antisemitismus war also ein Phänomen, das nicht mit einem einzelnen Land verknüpft werden konnte, auch nicht mit einzelnen Komponenten wie zum Beispiel der Anzahl der Juden in den einzelnen Ländern, ihrer Stellung in der Gesellschaft oder dem Umfang ostjüdischer Einwanderung. Für den Zionisten Max Nordau waren nur Belgien, die Niederlande, Italien und die Schweiz »glückliche Inseln des Friedens im Ozean des Antisemitismus«.44 Im Vergleich zum Umfang des Antisemitismus in Ost- und Zentraleuropa ist das ohne Zweifel zutreffend, aber ganz so idyllisch waren die Verhältnisse weder in den von Nordau genannten Ländern noch in England oder Schweden. In England und in den Niederlanden wurde der Antisemitismus zwar kein dominierendes Thema, aber es gab in England Ausschreitungen gegen jüdische Einwanderer und in Goldwin Smith »einen englischen Treitschke«.45 Während des Burenkrieges (1899–1903) wurde die
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nationale Gesinnung der Juden in Zweifel gezogen. Hinter den Behauptungen versteckten sich Anschuldigungen, dass sie Kosmopoliten seien, die nur die eigenen Interessen im Blick hätten, dass sie zu großen Einfluss auf führende Politiker hätten, und dass die Regierung unter »semitischer Kontrolle« stünde.46 Selbst für Schweden konstatierte Hugo Valentin »ein nach wie vor florierendes antisemitisches Unterholz«.47 Auch in der Schweiz wurden Diskussionen mit antisemitischen Untertönen geführt, als 1893 in einer Volksabstimmung ein Verbot des Schächtens beschlossen wurde.48
Rückgang des Antisemitismus gegen Ende der 1890er Jahre?
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EINHART LORENZ
20. Der Antisemitismus im habsburgischen Österreich Ende des 19. Jahrhunderts Bis 1918 war die Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn eine europäische Großmacht, die sich von Tirol im Westen bis nach dem heute in der Ukraine liegenden Czernowitz im Osten erstreckte, von Prag, Krakau und Lemberg (heute Lwiw) im Norden bis Trieste und Kroatien im Süden. In diesem Reich, das von der deutschsprachigen und deutschfühlenden Bevölkerung in Wien dominiert wurde, lebten viele nationale, kulturelle, religiöse und sprachliche Minderheiten. Die jüdische Minorität war mit mehr als 900.000 Menschen im Jahre 1910 in den nordöstlichen und östlichen Gebieten Galiziens und der Bukowina am größten. Der überwiegende Anteil der Juden in Galizien lebte in Städten und waren dort, zum Beispiel in Czernowitz, die Repräsentanten der deutschen Kultur, während andererseits die große Mehrheit in diesem Außenposten der Habsburger Monarchie – 70 Prozent – in extremer Armut lebte.1 Österreich und Deutschland waren ein Sprachraum und die Antisemiten beider Länder lasen die gleiche Literatur und führten zum Teil die gleichen Debatten. Die nationalistische, deutschsprachige Bevölkerung des Habsburgerreiches identifizierte sich nach 1871 mit dem Deutschen Reich und war von einem großdeutschen Denken beeinflusst. Es gab kaum ein deutsches antisemitisches Pamphlet, das nicht in Wien gelesen wurde, und man kann leicht den Eindruck bekommen, dass der Antisemitismus in vielerlei Hinsicht ein Import aus dem kaiserlichen Deutschland war. Umgekehrt gab es aber auch Produkte des speziellen deutschnationalen Antisemitismus in Wien, die an das gebildete Bürgertum appellierten. Aber es gab auch signifikante Unterschiede, die es nahelegen, den Antisemitismus in Österreich-Ungarn und im Kaiserreich separat zu behandeln. Im 19. Jahrhundert zogen weit mehr Juden aus Osteuropa nach Österreich als nach Deutschland. Besonders führte der Zuzug von Juden nach
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1867 zu einer radikalen Veränderung des Bildes von einer assimilierten jüdischen Minderheit. Wien war die Stadt, die sich während des Fin de Siècle zum Zentrum des Antisemitismus entwickelte. 1895 wählte Wiens Bevölkerung als einzige europäische Hauptstadt einen antisemitischen Bürgermeister und ein antisemitisches Stadtparlament. Dieses spezifische antisemitische Klima sollte auch einen jungen Gelegenheitsarbeiter namens Adolf Hitler, der im Herbst 1907 in die Stadt zog, beeinflussen.2 Die Ursachen für den starken österreichischen Antisemitismus sind komplex und können sowohl mit strukturellen als auch mit konjunkturellen Gegebenheiten erklärt werden. Strukturell war der Judenhass in Wien ein Ausdruck des Misstrauens gegenüber Fremden. Es gab genug Fremde im multinationalen und multikulturellen Österreich-Ungarn. Auch die negative Einstellung der katholischen Kirche zu den Juden sowie die deutschsprachige und nationalistische Minderheit in Österreich bildeten eine strukturelle Kulisse für den Antisemitismus. Konjunkturelle Phänomene, die zu speziellen Zeiten und unter besonderen Voraussetzungen zum Aufflammen eines latenten Judenhasses führen können, waren zum Beispiel die Identitätskrise der deutschen Minderheit in der Habsburgermonarchie nach 1871, der Börsenkrach im Mai 1873 und die anschließende Wirtschaftskrise sowie eine Choleraepidemie, die 436.000 Opfer forderte; auch Hungersnot, sinkende Realeinkommen, große soziale Änderungen (der Kapitalismus, der Vormarsch des Sozialismus, Revolutionen), neue Technologien und Absatzformen (zum Beispiel Warenhäuser) und die Wanderung osteuropäischer Juden nach Westen. Der vielleicht bedeutendste konjunkturelle Faktor, der zu dem zunehmenden Antisemitismus beitrug, war die Migration innerhalb Österreich-Ungarns, das heißt die umfassende jüdische Einwanderung aus den entfernten Regionen des Reiches in den Westen, das heißt nach Wien. Mit der rechtlichen Gleichstellung im Jahre 1867 erhielten die Juden das Recht und die Möglichkeit, selbst ihren Wohnort zu wählen. Das Endziel vieler wurde Wien, vor allem die Vorstädte und die dort vorhandenen Lebensmöglichkeiten. Die Armut in Osteuropa und die Pogrome in Russland 1881/82 hatten einen generellen Push-Effekt gehabt und eine Auswanderungswelle primär nach Amerika ausgelöst. Anders in Österreich: Dem Historiker Klaus Hödl zufolge kamen die Juden aus Galizien indessen nicht primär als Emigranten nach Wien, sondern als »Wanderer«. Dieser Wanderungsprozess war weniger zielgerichtet, sondern hatte mehrere Zwischen-
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stationen. Auch wirtschaftliche Erwägungen machten Österreich nicht zu einem Ziel. Die Juden aus Galizien »wurden nach Wien geschwemmt«.3 Im 19. Jahrhundert zogen weitaus mehr Juden aus Osteuropa nach Österreich als nach Deutschland. Der Zuzug von Juden nach 1867 führte zu einer radikalen Veränderung des Bildes von einer assimilierten jüdischen Minderheit. Zwischen 1857 und 1869 wuchs die jüdische Bevölkerung von 6.217 auf 40.000.1880 wohnten bereits 73.000 Juden in der Hauptstadt. Im Jahre 1900 hatte sich deren Anzahl verdoppelt und sie wuchs bis 1910 weiter auf ca. 175.000. Der Höhepunkt wurde 1919 mit mehr als 200.000 erreicht. In der Zeit zwischen 1857 und 1880 wuchs der jüdische Bevölkerungsanteil von 2,2 Prozent auf 10,1 Prozent, und lag dann in der folgenden Zeit bei rund 8,6 Prozent. Die Einwanderung erfolgte in drei Schüben: In den 1850er und 1860er Jahren kamen die Einwanderer aus Böhmen und Mähren. Die zweite große Einwanderung kam in den 1870er und 1880er Jahren aus Ungarn. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg folgten die Juden aus Galizien. Zu einer neuen großen ostjüdischen Einwanderung und damit zu einer neuen antisemitischen Welle kam es während einer neuen Krise, nämlich in der Ausnahmesituation des Ersten Weltkriegs. In sozialer, kultureller und religiöser Hinsicht war die jüdische Bevölkerung Wiens weitaus heterogener als die in den deutschen Städten. Die nach Wien Eingewanderten identifizierten sich mit der deutschen Kultur, waren aber dennoch von ihrer geografischen Herkunft geprägt. In einzelnen Wiener Stadtteilen wie zum Beispiel Josefstadt und Brigittenau überwogen arme osteuropäische Juden. Dort wurden sie Angriffsobjekte der Antisemiten. Vergleicht man die antisemitischen Ausbrüche in Wien oder gar in Paris mit denen in deutschen Städten, so müssen die Verhältnisse in Deutschland als milde und gesetzestreu bezeichnet werden.
Der Antisemitismus und die Krisen In Österreich wurde der bereits existierende Antisemitismus so stark, weil die ostjüdische Einwanderung mit Krisen zusammenfiel, die der Börsenkrach 1873 ausgelöst hatte. Dieser Krach und die nachfolgende Wirtschaftskrise hatte enorme volkswirtschaftliche Folgen. Auch in mentaler Hinsicht beeinflusste er die Bevölkerung in hohem Maße. Eine große Anzahl von Handwerksbetrieben ging Konkurs und Zehntausende Bauernhöfe wur-
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den zwangsversteigert. Außerdem wurden die in jüdischem Besitz befind lichen Banken in Wien stärker in Finanzskandale hineingezogen, als dies in Deutschland der Fall war. Das galt auch für die Kreditinstitute von Oppenheimer und Rothschild sowie ihre engen Verbindungen zu den Finanzinteressen der Monarchie. Besonders die Rothschild-Bank wurde als schuldig betrachtet und damit zu einem Symbol für die »hinterhältigen Tricks« der Juden, nicht zuletzt, weil sie den Krach überlebt hatte. Die kleinen Gewerbetreibenden opponierten gegen »das Moderne« – gegen den Liberalismus und die Industrialisierung. Die kurze Blütezeit des Liberalismus war vorüber. Er wie auch der Kapitalismus wurde mit den Juden gleichgesetzt. Der nationalistische Antisemitismus wurde zu einer Reaktion auf ein offenkundiges Unvermögen, die ökonomischen und sozialen Probleme der Gesellschaft zu lösen oder überhaupt zu erkennen. So wurden »der jüdische Liberalismus« und die Juden als eine Bedrohung aufgefasst. Hinzu kam, dass sich auch die katholische Kirche von den Forderungen des Liberalismus nach der Trennung von Staat und Kirche bedroht fühlte. Der Antijudaismus im neuen Gewand wurde die Reaktion des Katholizismus auf die Kritik des Liberalismus an traditionellen Wertvorstellungen. Das bereitete in unterschiedlichen Sozialmilieus den Nährboden für eine breite Zustimmung zum Antisemitismus, der in unterschiedlichen Formen sichtbar wurde. Die Juden in Wien repräsentierten das liberale Bürgertum und stellten eine kulturelle Elite dar. Sie waren überrepräsentiert im Finanzwesen, in großen Teilen der Presse sowie unter Anwälten und Ärzten. Das Stadtbild dagegen wurde weitaus stärker von armen »traditionellen« Ostjuden, den kleinen Kaufleuten und Krämern, ihrem fremden Habitus und ihrer religiösen Orthodoxie geprägt, die – wie andere Zugezogene – als Fremdelemente empfunden wurden. Diese unterschiedlichen jüdischen Milieus mit ökonomischen und intellektuellen Eliten und fleißigen Studenten auf der einen Seite und religiöser Orthodoxie und einem shtetlähnlichen Leben auf der anderen Seite hatten religiös, kulturell und sozial wenig gemeinsam in dem Wien des Fin de Siècle. Beide aber wurden zu Zielscheiben der Antisemiten. Dieser Antisemitismus richtete sich sowohl gegen die neuen Einwanderer mit ihrem »fremden« Wesen als auch gegen die assimilierten Juden und deren Erfolge und gegen jene, die durch Ausbildung und Studium einen sozialen Aufstieg erfuhren.
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Die treibenden Kräfte des Antisemitismus Hinter dem Antisemitismus in Wien standen sowohl Universitätslehrer als auch Politiker und Priester. Seine soziale Basis hatte er im deutschsprachigen Kleinbürgertum mit seinen Traditionen seit 1848 und bei den christlich-bürgerlichen Studenten. Die soziale Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung aus Juden – von Bankdirektoren bis hin zu Bettlern – und Antisemiten – von Universitätslehrern und dem Klerus bis hin zu Kleinbürgern und dem »Kaufmann an der Ecke« – trug zu einem breiten Spektrum antisemitischer Stereotype bei, denn jeder Antisemit konnte sich »seinen« Juden auswählen oder konstruieren. Ausdrücke der verschiedenartigsten Stereotype finden sich in Broschüren, Zeitungen wie der Wiener Kirchenzeitung und dem Deutschen Volksblatt, in Karikaturen, Gemeindeblättern, Witzeblättern, Postkarten, kleinen Porzellanfiguren und politischen Reden. So bildete sich ein äußerst umfassendes Spektrum an Negativbildern von Juden, Bilder, die allen Gesellschaftsschichten etwas zu bieten hatten. Die katholische Kirche konnte an der Ritualmordlegende festhalten, und unter dem Zeichen des Kreuzes gegen »den Tanz um das goldene Kalb« sowie jüdischen Einfluss innerhalb des Kultur- und Geisteslebens kämpfen. Ein bigottes Bürgertum konnte sich über den »weißen Sklavenhandel«, das heißt Prostitution, erregen, während die Kleinbürger ihrer Abscheu gegenüber armen und zerlumpten »Ostjuden« Ausdruck verleihen konnten. Die Kaufleute konnten gegen »jüdische Methoden«, »jüdische Kapitalisten«, Hausierer und andere jüdische Konkurrenten wettern, während christlich-soziale und andere antisemitische Zeitungen gegen »die Judenpresse« und »die Zeitungsjuden« kämpften. Akademiker konnten gegen jüdische Studenten protestieren, weil sie neben dem Studium Geld verdienen mussten und damit die akademische »Ehre« besudelten. Und die Sozialdemokraten, die selbst zahlreiche Juden in Spitzenpositionen hatten, agitierten gegen »jüdische Kapitalisten«. Versucht man – unter allen Vorbehalten – den österreichischen Anti semitismus von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg zu systematisieren, kann man zwischen vier Erscheinungsformen unterscheiden. Einem Antisemitismus mit Wurzeln im traditionellen katholischen Antijudaismus, einem deutsch-nationalistischen Rassenantisemitismus, einem populistischen Antisemitismus und einem akademischen Antisemitismus. Selbstverständlich gab es viele Überschneidungen: Der akademische Anti-
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Abb. 13: Bei der Entwicklung moderner liberaler Zeitungen kam jüdischen Journalisten eine herausragende Stellung zu. Die Antisemiten in Österreich verbanden Journalisten häufig mit dem Raben, dem Aasfresser. Die Postkarte stammt aus dem Jahr 1902.
semitismus war von Rassenvorstellungen geprägt, aber auch von Standesdünkel und der Angst vor reduzierten Karrieremöglichkeiten aufgrund jüdischer Konkurrenz. Der Rassenantisemitismus bediente sich eines populistischen Instrumentariums. Populistische und opportunistische Anti semiten machten sich die Vorarbeit der katholischen Kirche zu Nutzen. Es gab obskure antisemitische Kreise pseudoreligiöser oder neuheidnischer Provenienz, die auch von Rassenvorstellungen geprägt waren. Derart extreme Randgruppen konnten Bedeutung erlangen, wie zum Beispiel Adolf Josef Lanz, der sich Jörg Lanz von Liebenfels nannte, und dem Kreis um die Zeitschrift Ostara angehörte. Zentrale Gestalten, die den Antisemitismus in das politische Leben hineintrugen, waren Karl von Vogelsang, Georg Ritter von Schönerer und Karl Lueger. Sie hatten eine Durchschlagskraft und eine Zustimmung, von der die Antisemiten des Deutschen Kaiserreichs nur träumen konnten.
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Katholischer Antisemitismus Ohne Zweifel hatte der Antisemitismus im Habsburger Reich tiefe volkstümliche Wurzeln und Traditionen in der katholischen Kirche. Im Protest der Kirche gegen die Emanzipation und die soziale Gleichstellung der Juden fanden die deutsch-österreichischen Antisemiten einen Nährboden. Bereits seit dem März 1848 war die katholische Wiener Kirchenzeitung ein wichtiges Sprachrohr für antijüdische Haltungen. Gründer und bis 1861 Redakteur dieser Zeitung war Sebastian Brunner, der zu einer »Schlüsselfigur im katholischen Antisemitismus Österreichs« wurde.4 Brunner, der in den 1850er Jahren auch Dekan der Wiener Universität war, führte dem traditionellen Antijudaismus neue Dimensionen hinzu. Seine Kritik richtete sich besonders gegen die assimilierten Juden und die Reformjuden, die mit ihrem »Ungeist« das »gesunde Volksempfinden« vergifteten. Er lehnte die Taufe von Juden ab, die deren einzige Möglichkeit war, Zugang zur christlichen Nation zu erhalten. Bereits 1858 sprach er von den Juden als »semitisch« und »orientalisch« und verweigerte ihnen die Mitbürgerschaft: »Ein Christ kann jeder werden […][,] aber Germanen werden geboren«, stellte er 1859 fest. Auch beschuldigte er die »Gottesmörder«, Ritualmorde zu begehen. Er bediente sich nicht nur einer offenen antisemitischen Argumentation, sondern wandte sich auch gegen den »Judenliberalismus«. Brunners Nachfolger Albert Wiesinger war ein »devoted fanatic of hate«.5 Der katholische Theologe ging in seiner Agitation gegen die Synagogen und Freimaurerlogen einen Schritt weiter. In seiner Zeit als Redakteur bekam die Zeitung eine feste Kolumne mit der Überschrift »Ghetto-Geschichten«. Sie enthielt ausschließlich Berichte und Nachrichten über »jüdische Betrügereien, Geld- und Wuchergeschäfte, Berichte aus dem Gerichtssaal«, über Prozesse gegen Juden oder von Juden angezettelte Prozesse gegen Christen, außerdem auch über Juden, die ihre Namen geändert hatten. Während Juden hier individuell für angebliche und tatsächliche rechtswidrige Handlungen an den Pranger gestellt wurden, richtete sich die ideologisch-politische Kritik der Katholiken gegen die Juden als Repräsentanten der modernen säkularisierten Gesellschaft, die die Macht und die Normen der Kirche bedrohten. Die Juden wurden mit Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Kapitalismus und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen assoziiert. Eine besondere Bedeutung in Österreich-Ungarn bekam das Buch Der Talmudjude von August Rohling, das 1871 erschien. Es wurde ins Französi-
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sche übersetzt und gelangte von dort, mit einem Vorwort des französischen Antisemiten Edouard Drumont versehen, wieder nach Deutschland zurück. Obwohl das Buch des Theologieprofessors Rohling von der Fachkritik zerrissen und nahezu als Plagiat von Johann Andreas Eisenmengers Buch Entdecktes Judentum aus dem Jahre 1700 entlarvt wurde, gewann es Leser und Anerkennung in breiten Bevölkerungsschichten. Rohling selbst wurde als große Autorität auf dem Felde angesehen, und Gerichte nutzten ihn als Sachverständigen – nicht zuletzt, wenn es um Prozesse gegen Juden ging. Rohling übernahm von Eisenmenger aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und Stereotype und verstärke das Bild der negativen Charakterzüge der Juden. Sie wurden derart als rabiate Hasser des Christentums präsentiert, dass sie bereit schienen, alle Arten von Verbrechen gegen die Christen zu begehen. Obwohl schnell nachgewiesen wurde, dass Rohling Zitate verfälschte und das Buch ein Plagiat war, erlangte Der Talmudjude dank der katholischen Kirche eine weite Verbreitung, wurde zu einem Standardwerk des Antisemitismus und erschien bis 1890 in 19 Auflagen. Katholische »Experten« wie Jakob Ecker und der Jesuit Emil Michael versuchten – mit Schützenhilfe der jesuitischen Civiltà cattolica – zu beweisen, dass die Juden im Talmud aufgefordert wurden, die Christen zu hassen und ihnen so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Rohlings Buch trug ferner dazu bei, den Mythos über den »Ritualmord« der Juden wiederzubeleben. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden viele Anschuldigungen wegen Ritualmorden erhoben, die Juden angeblich an christlichen Kindern verübten. Derartige Beschuldigungen wurden in Preußen, Polen, Bulgarien, Russland, Ungarn, Litauen, Galizien, der Ukraine und auf Korfu von katholischen, lutherischen, anglikanischen und russisch-orthodoxen Kreisen erhoben und auch geglaubt.6 In der Zeit nach 1881 nahmen die Anschuldigungen stark zu, und bis 1900 wurde in 28 Fällen ermittelt.7 Die größte Aufmerksamkeit weckten die Ritualmordprozesse in Tiszaeszlár in Ungarn 1882/83 sowie in Polna in Böhmen 1899. Die Breite der geografischen Streuung war groß und reichte von Xanten (1891) bis Korfu (1891), von Wraza in Bulgarien (1891–1893), Posen (1893), Konitz in Westpreußen (1900), Vilnius (1900) bis Kischniew (1903). Selbst in England und Irland gab es Stimmen, die nicht ausschlossen, dass Juden derartige Taten begehen könnten.8 In sämtlichen »Fällen« zeigte sich, dass die Anschuldigungen unwahr waren.9 Auch Brunner versuchte, das Vorkommen von Ritualmorden zu beweisen. Ein anderer österreichischer
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Theologe, Joseph Deckert, veröffentlichte in einem deutschen Verlag das Pamphlet Ein Ritualmord, das in den Kirchen kostenlos verteilt wurde. In seinen Predigten verbreitete Deckert den Mythos, dass die Juden für rituelle Morde an christlichen Kindern verantwortlich seien.10 Eisenmengers und Rohlings Antijudaismus wurde erst zu einem zen tralen Element des modernen Antisemitismus, als die Stereotype als politisches Mittel im antiemanzipatorischen Kampf benutzt wurden. Der Vorwurf konnte, wie Hans Gruber in seiner Studie für Vorarlberg nachgewiesen hat, in dem politischen Kampf auch in einem Gebiet eingesetzt werden, in dem es so gut wie keine Juden gab.11 Antisemitische Stereotype wurden konstruiert und mobilisiert, und die Juden wurden als eine allmächtige Kraft dämonisiert. Es wurde behauptet, sie lenkten die politischen Gegner der Christlichsozialen, zerstörten die Moral, schadeten den kleinen Gewerbetreibenden und seien die Antithese zu allem Christlichen. »Der Jude kämpft überall gegen Christus und sein Reich«, behauptete die führende katholische Zeitung in Vorarlberg.12 Auf diese Weise konnte eine Brücke zwischen dem katholischen Antijudaismus und dem neuen politischen Antisemitismus gebaut werden. »Der Jude« wurde zu einem Begriff, der »alles« erklären konnte. Der Antisemitismus wurde zum »Passepartout der ›sozialen Frage‹«.13 Die »soziale Frage«, die ein Synonym für das »Judenproblem« war, wurde von dem katholischen Sozialpolitiker und Journalisten Karl Freiherr von Vogelsang (1818–1890) aufgegriffen. Vogelsang, der ursprünglich aus Deutschland kam, aber aus Protest gegen Bismarcks Zusammenarbeit mit den Liberalen das Land verlassen hatte und zum Katholizismus übergetreten war, wurde zu einem intellektuellen Gründungsvater der christlich-sozialen Bewegung in Wien. Als Redakteur der ersten katholischen Tageszeitung, Vaterland, nahm er den Kampf gegen den Liberalismus und das Judentum auf – zwei für ihn identische Begriffe. Er kämpfte gegen den »Judenlibe ralismus«, den »Judengeist« und die jüdische Hilfs- und Solidaritätsorganisation Alliance Israélite, die seiner Meinung nach die Herrschaft über Europa anstrebte. In seiner Rolle als »Stammvater« des Antisemitismus sorgte er dafür, dass dieser eine solide Verankerung in der Partei erhielt. Der Antisemitismus in einer manipulativen Form sollte durch zwei jüngere Politiker, die seinem Kreis angehörten, weiterverbreitet werden – nämlich Georg Ritter von Schönerer und Karl Lueger. Schönerer stand für einen rassistischen Antisemitismus, Lueger für einen opportunistischen.
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Beide bedienten sich moderner und spektakulärer Ausdrucksformen, beide beeinflussten den jungen Hitler.
Schönerer und der pangermanische Rassenantisemitismus Georg von Schönerer (1842–1921) kam aus dem deutsch-österreichischen Liberalismus. Der Liberalismus, so wie er in Wien zum Ausdruck kam, wurde von einem kleinen Kreis mit einem begrenzten Interessenfeld dominiert. Sein Ziel bestand darin, für sein kleinbürgerliches Klientel politische und wirtschaftliche Privilegien zu erreichen. Ein Hauptanliegen war anfangs die Forderung nach Schutz vor dem Hausierergewerbe der Juden. Selbst die ökonomische Kritik der kleinen Ladenbesitzer am Liberalismus wurde von verschiedenen Antisemiten ausgenutzt und benutzt. Zum wichtigsten Forum wurde die 1882 von Schönerer gegründete Mittelstands- und Handwerkerorganisation Österreichischer Reformverein. Die Organisation richtete sich gegen die Juden und wurde zu einem Sammelbecken der Antisemiten aller Schattierungen. Unter Schönerer entwickelte sich deren ökonomischer Antisemitismus zu einem völkischen Rassenantisemitismus. 1885 forderte er eine Profilierung des Parteiprogramms der Deutschnationalen Bewegung – durch einen antisemitischen Zusatzpunkt, nämlich »den jüdischen Einfluß auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu beseitigen.«14 Eine zentrale Forderung wurde nun der Kampf gegen die »moralische Verderbtheit der Presse«, gegen die Hausierer und nach Maßnahmen gegen Wucher in der Kreditvermittlung. Von nun an führte Schönerer einen populistischen Wahlkampf gegen die Juden unter der Parole »Kampf gegen die semitische Herrschaft«, aber auch gegen die Tschechen und das Großkapital. Im Antisemitismus sah er den »Grundpfeiler des nationalen Gedankens« und die »größte Errungenschaft dieses Jahrhunderts«.15 Weiter machte er sich zum Sprecher für Gebiets- und Verwaltungsreformen, die den deutschen Österreichern die Mehrheit im österreichischen Reichsrat sichern sollten. Sein Anti semitismus hatte starke ökonomische Elemente, war aber auch von Eugen Dührings radikalem Antisemitismus beeinflusst. Schönerer erlangte große Popularität unter den Kleinbürgern, Arbeitern, Handwerkern und in der deutsch-österreichischen Studentenvereinigung während des Nordbahn-Skandals in den Jahren 1883/84. Hier wurde
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der Mehrheitsaktionär, die Rothschild-Bank, als der »böse Geist« in einer polarisierten Konstellation »das Volk gegen den Kapitalismus« präsentiert. Als eine Demonstration von direkter Demokratie sammelte Schönerer in einer ersten Kampagne 30.000 Unterschriften gegen eine Konzessionsverlängerung für die Besitzer der Bahn. Danach rief er sich zum Sprecher des Volkes aus und »erfand« die Technik der parlamentarischen Obstruktion und benutzte dabei das Rednerpult des Parlaments für einen Kreuzzug gegen die Juden, die jüdische Presse und andere »Verräter« – und wurde für seine Anhänger ein Verteidiger der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Interessen. Schönerers Verband der Deutschnationalen (1885), heute würde man sagen: seine Alldeutsche Partei, war bei Wahlen nicht erfolgreich, aber sie war eine starke Stimme des Antisemitismus. Eine Arena, in der er Erfolg hatte, waren die deutschen Schulvereine. Hier arbeitete er für die Einführung von »Arierparagrafen«, um die Juden auszuschließen. Seine Methode war, alle sozialen Missstände mit der »Macht« und der »Korruption« der Juden zu erklären. Absolut alles, was Misstrauen erweckte – die Universitäten und Sozialdemokratie, der Liberalismus, neue Ausdrücke in Kultur und Musik –, wurde damit erklärt, dass es »verjudet« sei. Schönerer wurde in seinen Forderungen, seiner Sprache, seinem Gebrauch von Bildern ständig radikaler. Er forderte ein Antisemitengesetz, das die Aufhebung der Staatsbürgerschaft für Juden bedeuten würde. Er agitierte gegen die Juden im Parlament, forderte Studienbegrenzungen für jüdische Studenten, Sondersteuern für Juden und außerdem, dass sie aus dem staatlichen, ökonomischen und kulturellen Leben des Landes ausgeschlossen werden sollten. 1884 tauchten zum ersten Mal Schönerer-Plakate mit der Botschaft »Kein Zugang für Juden« auf. Andere Plakate zeigten karikierte Juden, die an einem Galgen hingen. 1900 hatte sich Schönerers Partei derart radikalisiert, dass sie »verlangte […], eine Prämie für jeden getöteten Juden auszusetzen.«16 Seine aggressiven Haltungen und sein völliger Mangel an zivilen Umgangsformen führten letztendlich zu einer Spaltung des deutsch-österreichischen Nationalismus. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er mit seinem Antisemitismus jedoch sowohl an Arbeiter, Handwerker und Studenten in Wien, Graz und Prag als auch an die Sudetendeutschen und den Mittelstand außerhalb Wiens appelliert.
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Lueger und der populistische Antisemitismus Schönerers politische Karriere endete mit dem misslungenen Einbruch in eine jüdische Zeitung. 1888 wurden ihm die politische Immunität aberkannt sowie das Wahlrecht und sein Adelstitel. Damit verloren die Antisemiten ihre Frontfigur, jedoch dauerte es nicht lange, bis sich ein Nachfolger fand. Antisemitismus gab es bis weit in die bürgerlichen Parteien hinein. Er erreichte seinen Höhepunkt 1888, als sich die Deutschnationalen und die Christlichsoziale Partei bei den Wiener Gemeindewahlen zu den Vereinigten Christen zusammenschlossen. Einer der Gründer der neuen Allianz, Robert Pattai, erklärte unverblümt, dass der Kampf ausschließlich dem »gemeinsamen Gegner« galt – das heißt: den Juden. »Christlich« war in diesem Zusammenhang eine Code für »antijüdisch« oder »antisemitisch«. In gleicher Weise galt dies auch für »deutsch«. Einer der zentralen Programmpunkte – der beim Klerus große Zustimmung fand – war, dass die sozialen Fragen nur durch die Lösung der »Judenfrage« geregelt werden könnten. Führer dieser Allianz wurde nach Schönerers schmachvollem Ende Karl Lueger (1844–1910). Lueger war in erster Linie ein politischer Opportunist, der bewusst auf die antijüdische Stimmung in der Wiener Bevölkerung setzte, der aber auch in Landesteilen ohne Juden ein Vorbild wurde.17 Seine Agitation gegen das jüdische Großkapital, jüdische Fabrikbesitzer und Wirtschaftsbosse appellierte an die Bevölkerung der Wiener Vorstädte, die Schuldner bei jüdischen Pfandleihern waren. In seiner hemmungslosen Jagd nach Macht überbot er Schönerer in den Bevölkerungsschichten, die von jüdischen Kreditoren abhängig waren und die in dem Augenblick, in dem sie ihr Darlehen zurückzahlen mussten, ihren Hass und ihre Aggressionen gegen die Juden richteten. Er war vom Antisemitismus als politische Waffe fasziniert und bediente sich bei der Erreichung seiner Ziele auch des katholischen Antisemitismus. Unter Lueger wurde die Spaltung der Antisemiten weitgehend überwunden. Die Interessen des Bürgertums, des Kleinbürgertums, der Handwerker, der kleinen Gewerbetreibenden, der katholischen Kirche sowie die Interessen nationalistischer Art wurden in einer schlagkräftigen antisemitischen Partei vereint, die sich in der Startphase Die Antisemiten nannte, anschließend Christlichsoziale Partei und ab 1893 Vereinigte Christen. In ihrem ersten offiziellen Programm von 1889 forderte die Partei eine Einwanderungsbegrenzung für Juden, den Ausschluss der Juden aus staatlichen
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Stellungen, vom Richteramt, vom Heer, Anwalts- und Arztberufen, von der Pfandleihtätigkeit und dem Einzelhandel sowie ein Verbot für Juden, christliche Schüler zu unterrichten.18 Die Parteizeitung, das Deutsches Volksblatt,19 sollte bis 1918 zum wichtigsten Sprachrohr des Antisemitismus werden. Das Blatt wiederholte alle Stereotype, die zuvor durch die antisemitische christlich-soziale Presse verbreitet worden waren, nämlich, dass die Presse von den Juden beherrscht und kontrolliert würde, dass es das Ziel der Juden sei, die politische Macht zu erobern, dass es eine internationale, weltumspannende und geplante jüdische Verschwörung gäbe und dass die Juden von rassenmäßig angeborener Profitgier und Wuchermentalität geprägt seien. Das Blatt behauptete auch, dass der jüdische Einfluss auf das Kultur- und Geistesleben jegliche Produktivität, Originalität und Schöpferkraft töte. Dem Deutschen Volksblatt zufolge könnten die Probleme nur durch eine umfassende Gesetzgebung gegen die Juden gelöst werden. Dazu waren neue Einwanderungsgesetze und Möglichkeiten der Ausweisung erforderlich, der Entzug des aktiven und passiven Stimmrechts, eine Begrenzung von Eheschließungen, Einschränkungen der Wirtschaftstätigkeit von Juden und ein Verbot, öffentliche Stellungen innezuhaben, sowie das Verbot für Juden, Christen anzustellen. Der populistische Volkstribun Lueger sah im Antisemitismus ein wirksames Mittel, um die Unzufriedenheit des Mittelstands zu mobilisieren. Nach einem stark antisemitisch gefärbtem Wahlkampf wurde er 1894 zum Bürgermeister von Wien gewählt, ein Amt, in dem er mit einer Zweidrittelmehrheit durchregieren konnte. Neben der Unterstützung durch die katholische Basis genoss er auch die Sympathie und den Segen des Papstes. Die Reaktion auf den Sieg der Antisemiten war, dass die Börse nach Budapest auswich. Nachdem Lueger die Bevölkerung aufgefordert hatte, jüdische Geschäfte zu boykottieren, und nach gewalttätigen Übergriffen auf Juden, drohten auch jüdische Kaufleute mit dem Umzug nach Ungarn. Lediglich Versicherungen des Kaisers, dass er seine Bürger beschützen werde, hinderten sie daran, Wien zu verlassen. Österreichs Ministerpräsident weigerte sich, Luegers Wahl anzuerkennen, doch endete die Neuwahl mit einem noch größeren Sieg der christlich-sozialen Antisemiten, der sich bis 1919 bei allen Wiener Kommunalwahlen wiederholte. Für die jüdische Bevölkerung war das »ein Schock und ein unerklärbarer Kulturbruch.«20 Mit seinem politischen Credo – »Wer ein Jud’ ist, das bestimme ich«21 – distanzierten sich Lueger und seine Koalition nach dem Wahlsieg vom
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vulgären »Radauantisemitismus« und machten ihn dennoch »salonfähig«. Fortan galt der Kampf der angeblichen jüdischen Dominanz des Kulturlebens. Lueger wurde zum staatstragenden Politiker, einer, hinter dem sich das Wiener Bürgertum scharte, ein »Damm« gegen die »rote Revolution«. »Niemals war der Walddieb so rasch und so erfolgreich zum Förster gemacht worden«, stellt Peter Pulzer in seinem Werk über den politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich fest.22 Für Lueger war der Antisemitismus ein Mittel, um Macht zu erlangen. Die eigentliche Radikalisierung trieben seine Parteigänger weiter, indem sie die Juden mit Schädlingen verglichen oder öffentlich erklärten, dass die »Börsenjuden« öffentlich gehängt werden sollen, damit die Kornpreise fielen, oder so weit gingen zu erklären, dass sie zu Kunstdünger zermahlen werden oder im offenen Meer ertränkt werden sollten.23
Akademischer Antisemitismus Der Einzug der Juden in die Universitäten, Hochschulen und Gymnasien wurde vom deutsch-österreichischen Bürgertum als Bedrohung der eigenen Karrieremöglichkeiten gesehen – nicht zuletzt in einer Zeit, die von wirtschaftlichem Abschwung geprägt war. In den Jahren 1851 bis 1855 waren 7,9 Prozent der Studenten an den Universitäten und Technischen Hochschulen Juden. In den Jahren von 1876 bis 1880 war ihr Anteil auf 14,2 Prozent gestiegen und zehn Jahre später auf 21,5 Prozent. Besonders markant war das Wachstum an der Universität Wien, wo die Anzahl der jüdischen Studenten von 1.298 im Jahre 1881 auf 2.095, im Jahre 1885 von 3.525 auf 3.831 wuchs.24 Der Drang nach Ausbildung wurde teilweise positiv als Wunsch nach Assimilation und Erfolg ausgelegt, teilweise auf den Eigenwert der Ausbildung innerhalb der jüdischen Tradition zurückgeführt. Für die Antisemiten war dieses Wachstum ausschließlich negativ. Die deutsch-österreichischen studentischen Burschenschaften repräsentierten eine Generation, die lieber Bismarcks dynamischem Staat angehören wollte als der stagnierenden multinationalen Habsburgermonarchie. Sie wurden stark vom Antisemitismus beeinflusst, vor allem von den Schriften Eugen Dührings und dem Sozialdarwinismus Arthur Gobineaus. Deren Ideen wurden vulgarisiert, vereinfacht und sozial zugespitzt, unter anderem durch den Medizinprofessor Theodor Billroth. Er befürchtete,
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Abb. 14: In der Vorstellungswelt der Antisemiten standen die Juden für ungehemmte Sexualität. Sie wurden als geil dargestellt, als Zuhälter und Vergewaltiger. Die Zeichnung stammt aus der Broschüre »Talmud. Gott schuf die Welt nur für die Juden«.
der starke Zustrom armer Studenten aus Galizien und Ungarn könne dem akademischen Standard und dem Ruf der Fakultät schaden. In einem Studienführer für die Studenten der Fakultät beschrieb er in herablassendem Ton, wie arme jüdische Kommilitonen ihr Studium durch den Verkauf von Streichhölzern finanzierten.25 Seiner Ansicht nach konnten Juden nicht als Deutsche bezeichnet werden, vor allem, weil sie sich in ihrem Äußeren von den Deutschen unterschieden. Unter Billroths Einfluss begannen die Burschenschaften ab 1878 ihre Statuten zu ändern und jüdische Kommilitonen auszuschließen.26 Der Aus-
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schluss von Juden begann in einer Lesevereinigung für deutsche Studenten. Danach folgte die studentische Verbindung Teutonia, die Juden aufgrund ihrer »Rasse« ausschloss. Die Wiener Libertas erklärte 1878, dass Juden nicht als Deutsche betrachtet werden könnten, selbst dann nicht, wenn sie christlich getauft seien. In einer Zeit, in der die Konversion zum Christentum einen Weg darstellte, um eine gewisse soziale Akzeptanz zu erreichen, war der Glaubenswechsel nunmehr kein relevantes Kriterium für eine Mitgliedschaft. 1881 wurde erklärt, dass Juden keine Ehre hätten, die den deutschen Begriffen entsprach, und damit auch keine Satisfaktionsfähigkeit, das heißt, die Möglichkeit, ein Duell zu fordern oder zu erhalten. Andere Burschenschaften reagierten ähnlich, bis 1896 alle nationalistischen Studentenvereinigungen kollektiv einen ähnlichen Beschluss fassten. In dieser Frage unterschieden sie sich in ihrem Rassenantisemitismus von ihren Bruderorganisationen im Deutschen Kaiserreich, die zu diesem Zeitpunkt konvertierte Juden als Mitglieder akzeptierten. 1890 hatten die Antisemiten sämtliche Burschenschaften in Österreich übernommen.27 Ihre Mitglieder, später die »intellektuellen« Eliten des Landes und dann häufig in führenden Positionen in Staat und Partei, waren frühe Multiplikatoren eines Antisemitismus, der bereits 1909 die Verfolgung und Ausrottung der »jüdischen Rasse« als Zielsetzung verkündete.28
Neu-religiöser Antisemitismus Repräsentanten für einen okkulten und neu-religiösen Antisemitismus finden wir rund um die Zeitschrift Ostara des völkischen Schriftstellers Guido von List und seines Schülers Jörg von Liebenfels.29 Wahrscheinlich wäre dieser Kreis vergessen, hätte nicht Hitler auch hier Ideen für seinen Rassenfanatismus gefunden. List betrachtete sich als den letzten Magier der armanene – den Anführern und Priestern der Arier. List zufolge war die Welt von »Herrenmenschen« und »Herdenmenschen« bevölkert. Die Feinde in diesem Weltbild waren »die internationale jüdische Verschwörung«, die katholische Kirche und die Freimaurer. Diese müssten in einem »ariogermanischen Weltkrieg« bekämpft werden. Diese Botschaft wurde mithilfe von alldeutschen Publikationen und einer Guido-von-List-Gesellschaft verbreitet, zu deren Mitgliedern unter anderem auch Lueger gehörte. Unter Liebenfels’ Führung entwickelte sich die List-Gesellschaft zu
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einem Zentrum des okkulten Antisemitismus. Liebenfels entwickelte seine eigene Religion, in der die Bibel das »Buch der Herrenmenschen« war, ein Buch, das das Rezept für den Kampf gegen »Affenmenschen« enthielt. Sein Ziel war ein »sozialer und rassenhygienischer Staat«, in dem die »Minderwertigen« auf »gelinde Weise ausgerottet werden.« Er gründete den »Orden des Neuen Tempels« (Ordo Novi Templi), der das »Rassenbewusstsein« heben sollte. Mitglieder des »Ordens« konnten nur Männer mit »goldblonden Haare[n], blauen Augen, rosiger Gesichtsfarbe, länglichem Schädel und länglichem Gesicht, länglichen anliegenden Ohren und hoher Körper gestalt« werden. Frauen wurden zu »Zuchtmüttern« degradiert – »Niederrassen« sollten sterilisiert werden.30 Spenden seiner Anhänger machten es ihm möglich, eine Burg zu kaufen, auf der eine Hakenkreuzfahne gehisst war und die Zeitschrift Ostara produziert wurde. In Ostara wurde das Ziel propagiert, »das Weibische und Niederrassige« zu bekämpfen, das »die blonde heldische Menschenart rücksichtslos ausrotten« wollte. Feinde waren die Juden und die Feministinnen. »Die« sollten einen »Rassenkampf – bis aufs Kastrationsmesser« erleben.31 Nach Ansicht der Zeitschrift sei es nicht einmal notwendig, Pogrome »zu predigen«, denn zu denen würde es sowieso kommen. Für den Philosophiestudenten Otto Weininger waren die Juden Wesen ohne ein Ich und deshalb ohne Eigenwert. Sein Buch Geschlecht und Charakter war eine Reaktion auf den Einzug von Frauen in die Wiener Universität. Weininger, der selbst jüdischer Herkunft war, definierte in seinem Frauenhass die Frauen als unmoralisch, als einen Ausdruck der Sünde und ebenfalls als Wesen ohne Ich. Seine Angst vor der Modernität brachte ihn dazu, »unsere Zeit« als »nicht nur die jüdischste, sondern auch die weibischste« aller Zeiten zu sehen. In seiner Darstellung des jüdischen Glaubens und der jüdischen Kultur benutzte er zur Verdeutlichung der Grenze zwischen Christentum und Judentum die denkbar ärgsten Stereotype. »Der Jude« repräsentierte für ihn den Zweifel – im Gegensatz zur arischen Eindeutigkeit. »Der Jude« wurde an die Sexualität gekoppelt, der jüdische Mann als sexifiziert und geil dargestellt, gleichzeitig aber weniger potent als der »arische« Mann. So konnte er aus der Sicht eines Antisemiten sowohl impotent als auch zu einem potenziellen Verführer und Sexualverbrecher werden.32 Weiningers Buch wurde 1902 als Dissertation angenommen und erhielt damit einen akademischen Qualitätsstempel. Das Buch, das in den Jahren von 1903 bis 1932 in 28 Auflagen erschien, hatte großen Einfluss auf viele
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Intellektuelle. Darüber hinaus wurden die Weininger’schen Vorstellungen von der Sexualität und dem Körper der »Juden« auch in Form von Postkarten, Broschüren, Flugblättern und Karikaturen popularisiert. Die Entwicklung in Wien zeigt, wie der »moderne« Antisemitismus im Unterschied zum frühen Antijudaismus politischen Zielen diente und sich in Massenbewegungen organisierte. Er wurde mehr als nur ein Gedan kenmuster für periphere Gruppierungen, so wuchs er zu einer zentralen Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Stereotype des Antijudaismus verschwanden zwar nicht, wurden jedoch durch ökonomische und soziale Komponenten erweitert. Traditionelle kirchliche antijudaistische Einstellungen lebten weiter und konnten, wie das Aufleben der Ritualmordbeschuldigungen zeigte, sogar eine Renaissance erleben – doch wurden sie emotionalisiert, politisiert und erhielten eine »wissenschaftliche« Begründung. Der Antisemitismus war gegen Ende des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich bei der Mehrzahl der Deutschösterreicher ein integraler Bestandteil ihrer politischen Haltungen, und für einige war er sogar zu einer »Obsession« geworden.33 Die Agitatoren des Antisemitismus kamen aus akademischen Kreisen. Nachdem Handwerker, kleinere Gewerbetreibende, Techniker, Angestellte im privaten und öffentlichen Sektor, Volksschullehrer und Bauern nach und nach vom Antisemitismus ergriffen wurden, erhielt dieser eine immer stärkere nationalistische Prägung. Antijüdische Haltungen und Xenophobie vermischten sich mit Protesten gegen den Kapitalismus und Liberalismus und gaben dem österreichischen Antisemitismus seinen speziellen Charakter und seine Radikalität. Der andere Staat der Doppelmonarchie – Ungarn – ist nach Ansicht des Historikers Ezra Mendelsohn ein einzigartiges Beispiel dafür, wie sich antisemitische Gewalt und Hysterie gleichsam über Nacht entwickeln können,34 und das, obwohl die meisten ungarischen Juden im Grunde mehr dem »westlichen Typen« entsprachen. Der Historiker und Theoretiker des Judentums, Simon Dubnow, und der Soziologe und Historiker Victor Karady haben dagegen darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus keineswegs »über Nacht« nach Ungarn kam. Nach Dubnows Ansicht hatte sich der Antisemitismus in Ungarn verbreitet, ehe er nach Österreich kam.35 Karady hat darauf aufmerksam gemacht, dass die erste »offen antijüdische Bewegung« in Europa 1875 mit dem Reichstagsmann und Juristen Győző (Victor von) Istóczy als führendem Sprecher in Ungarn entstand.36 Dessen Ziel war
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die Aufhebung der rechtlichen Gleichstellung der Juden. Im Parlament behauptete er, dass Ungarn »verjudet« und Budapest zu einem »Judapest« geworden sei. Istóczys Antisemitenpartei (Országos Antiszemita Párt) hatte, abgesehen von der westungarischen Region Transdanubien, zunächst keinen großen Zulauf. Istóczy wurde nachhaltig von Wilhelm Marr unterstützt und versuchte zudem, Nutzen aus der deutschen Entwicklung zu ziehen. Er bat Marr direkt um Unterstützung und ideologische Argumente, und weil er im eigenen Land keine Anlässe zu Klagen gegen die Juden fand, setzte er darauf, dass die deutschen Diskussionen den Antisemitismus in Ungarn in Gang bringen könnten. Er forderte seine Gesinnungsgenossen im deutschen Reichstag und im preußischen Landtag auf, die »Judenfrage« aufzugreifen und dabei – ungeachtet der Argumente – Parallelen zu Ungarn zu erwähnen, um diese wiederum in seinem Heimatland verwenden zu können. Auch der »Erste internationale antijüdische Kongress« in Dresden im September 1882 war eine deutsche Hilfsleistung, um den Gesinnungsbrüdern in Österreich und Ungarn zu helfen. So gelang es selbst in einer Zeit, als Ungarn »ein Hafen liberaler Toleranz« war, in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg,37 die »Judenfrage« auf die Tagesordnung zu setzen. Berlin und Wien war gemeinsam, dass der politische Liberalismus und der Glaube an die kapitalistische Marktwirtschaft geschwächt wurden und nicht länger als integrierende Ideologien funktionierten.38 Weil aber der Liberalismus im Ausgangspunkt schwächer in Österreich verankert war als in Deutschland und weil die katholische Kirche bedeutenden politischen Einfluss hatte, bekam der Antisemitismus in Österreich eine andere und volkstümlichere Basis. Hier gelang es dem Antisemitismus, an eingewanderte Industriearbeiter zu appellieren und Eingang in die Interessenorganisationen der Handwerker, Angestellten und Hausbesitzer zu finden. Die Juden in Deutschland traten stärker für eine Assimilation ein, als viele Juden in Wien dies taten, die aufgrund ihres Äußeren sichtbarer waren. Die »Ostjuden« in der Habsburgermonarchie kamen aus den entlegenen Provinzen im Osten der Monarchie, die in Berlin oft aus den nahegelegen preußischen Landesteilen. In beiden Ländern, in beiden Hauptstädten waren die Juden im liberalen Bürgertum, im intellektuellen und künstlerischen Leben, in der Wirtschaft und in der Sozialdemokratie erfolgreich und stark repräsentiert, aber – und hier lag ein wichtiger Unterschied – in Österreich waren sie durchweg auch im Heer akzeptiert, während sie im Deutschen Reich von den prestige-
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trächtigsten Funktionen ausgeschlossen waren.39 Beiden gemeinsam war die Vielfalt in den antisemitischen Milieus, die die Grundlage für so viele antisemitische Stereotype bildeten. Der postemanzipatorische-rassistische Antisemitismus konstruierte unveränderliche, »wissenschaftlich« begründete Gemeinsamkeiten von »dem Juden«, der konspirationstheoretische Antisemitismus nahm seinen Ausgangspunkt in der Selbstverwaltung der Juden und ihrer grenzüberschreitenden Solidarität und schrieb den Juden als vermeintlich homogene Gruppe sowohl Plan als auch Macht zu. Das Bildungsbürgertum entwickelte einen Salon-Antisemitismus, in welchem persönliche Vorurteile kultiviert und informelle Diskriminierung praktiziert wurden. Die Bürokratie und viele Organisationen bedienten sich eines »legalen« Antisemitismus, schlossen Juden von bestimmten Stellungen aus und entzogen ihnen einzelne Rechte. Der Antisemitismus in Berlin und Wien entwickelte sich zu einem kulturellen Code, in dem »das Bekenntnis zum Antisemitismus […] zu einem Signum kultureller Identität [wurde], der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager«. Er »wurde zu einem Bestandteil der neuen Kultur, zu einem ständigen Begleiter des aggressiven Nationalismus und Antimodernismus.«40 Er wurde zum Symbol für die Bedrohung, die »das Moderne« im Österreich-Ungarischen und Deutschen Kaiserreich repräsentierte. Er richtete sich gegen Demokratie, Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus, die Emanzipation der Frauen, eine unabhängige Presse, moderne Richtungen in Kunst, Literatur und Musik, gegen die Psychoanalyse und neue Gebiete in der Medizin. Den gemeinsamen Nenner zur »Erklärung« für alles Böse fand man in »den Juden«.
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HÅKON HARKET
21. Die Selbstverteidigung der Wiener Juden: Zionismus und Antizionismus
Ist heute von der Wiener Kultur die Rede, denkt man häufig an den Kreis avantgardistischer Künstler und Publizisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sehr viele der Tonangebendsten unter ihnen stammten aus jüdischen Familien, die ein oder zwei Generationen zuvor aus dem östlichen Teil der Doppelmonarchie eingewandert waren. Theodor Herzl (1860–1904) gehörte nicht zur Avantgarde, jedoch in hohem Maße zur assimilierten Wiener Kultur. Die Geschichte vom Bruch mit dem Assimilationismus und der Etablierung des Zionismus ist gleichzeitig nicht nur eine dramatische Erzählung über Herzls eigene, sondern über die Ambivalenz des gesamten Wiener Judentums. Die Wenigsten sollten in den kommenden Jahren seinem radikalen Beispiel folgen, aber es gab kaum jemanden, der nicht dafür kämpfte, seinen eigenen Weg zu finden, um sich mit der wienerischen Wertekrise zu versöhnen. Als Herzl im Februar 1896 sein zionistisches Pamphlet Der Judenstaat veröffentlichte, brach er gleichzeitig vollends mit den Ambitionen, die ihn bis dahin in die inneren Kreise der Wiener Kulturaristokratie geführt hatten, als Komödienautor, der die seltene Gunst erfahren hatte, am Burgtheater sowie als Feuilletonist und Literaturredakteur bei der Neuen Freien Presse angenommen zu werden, den beiden vielleicht prestigeträchtigsten Kulturinstitutionen der Doppelmonarchie. Der Zionismus stellte für einen assimilierten Juden keinen natürlichen nächsten Schritt dar. Das wäre eine Bestätigung der Vorstellung der Antisemiten vom Juden als dem fundamental Anderen. Das war ein Schritt, der für Theodor Herzl, als er im Oktober 1891 die Stelle als Korrespondent der Neuen Freien Presse in Paris annahm, undenkbar gewesen wäre. Ein Schritt, von dem er vier Jahre später nichtsdestoweniger fand, dass es wichtig sei, dass nicht nur er, sondern alle Juden ihn machten. Die Ursache kann
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in einem Wort zusammengefasst werden: Antisemitismus. Gleichzeitig war es die Angst vor einem zunehmenden Antisemitismus, die unter den Juden der Gegenwart in Wien als eines der wichtigsten Argumente gegen den Zionismus angeführt wurde.
Der deutsche Nationalismus des jungen Herzl Die Ambivalenz der assimilierten Wiener Juden war so tiefgreifend, dass sie auch im Umgang mit dem Judenhass spürbar wurde – als Selbstverachtung. In Herzls Tagebuch können wir unter dem 9. Februar 1882, während er noch immer ein junger, neu hinzugezogener Student aus Budapest war, seine vertrauliche Einschätzung von Eugen Dührings Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage lesen: »Ein infames Buch. Und leider so gut geschrieben, als hätte es nicht gemeiner Neid mit der giftgetauchten Feder der persönlichen Rachsucht geschrieben.«1 Herzl reagierte mit Wut auf den weggejagten Universitätsprofessor und seine hasserfüllten Generalisierungen hinsichtlich der unausrottbaren Natur der Juden, aber ebenso interessant wie die Feststellung des 22-jährigen Studenten, dass Dühring es verdiene, dass man ihm die Zähne ausschlage, ist die Aufgeschlossenheit gegenüber Teilen der antisemitischen Kritik: In seinen ersten Kapiteln ist das Buch trotz seiner Übertreibungen und offenliegenden Gehässigkeiten lehrreich genug, und jeder Jude sollte es lesen. Die Schiefe der Judenmoral und der Mangel an sittlichem Ernst in vielen (Dühring sagt: in allen) Handlungen der Juden sind schonungslos aufgedeckt und gekennzeichnet. Daraus ist viel zu lernen! Wenn man aber weiter liest, so sieht man allmählich ein, daß zu einigem Wahren sehr viel Falsches und absichtlich infam Gefälschtes hinzugemischt wird, und Dühring wird lächerlich, nachdem er gefährlich war.2
Wenn der junge Herzl meinte, dass er, trotz der Vorbehalte, aus diesem antisemitischen Traktat viel zu lernen habe, ließ er sich in seinem unerschütterlichen Vertrauen in den Segen der Assimilation noch nicht bewegen. Und in dieser Hinsicht war seine Einschätzung repräsentativ für eine breite Schicht der Wiener Juden, die die von Deutschland inspirierten Ambitionen teilten, sich ihrer jüdischen Last zu entledigen. Es gehört zu den vielen ironischen Wendungen dieser Geschichte, dass die pangermanische Idee unter den intellektuellen Wiener Juden ursprünglich große Zustimmung fand. Karl
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Kautsky hat eine krasse Charakteristik dieser Generation der Juden des Kaiserreichs geliefert: Jene Juden waren dagegen alle entschieden oppositionell, antihabsburgisch und anti-aristokratisch, sozial-liberal. Sie waren begeisterte Nationalisten, manche geradezu Chauvinisten. Aber nicht etwa jüdischer Nationalismus beseelte sie. (…) Sondern deutscher Nationalismus, alldeutscher Nationalismus.3
Im Winter 1878/79, kurz nach seiner Ankunft in Wien, war Herzl als Student an der juristischen Fakultät der Universität angenommen worden. Und bereits zu einem frühen Zeitpunkt seines Studiums wurde er als Mitglied der Akademischen Lesehalle akzeptiert. In der Theorie stand die Vereinigung allen Nationalitäten des Reichs offen, in der Praxis jedoch war sie stark von deutschsprachigen Studenten dominiert. Nach und nach wurde sie zum Forum deutsch-nationalistischer Agitation. Im Dezember 1880 war Herzl für die sozialen Aktivitäten der Vereinigung verantwortlich. Er war an der Organisation von Abenden beteiligt, auf denen nicht nur der Bierkrug geschwungen, sondern auch deutsche Nationalistengesänge geschmettert wurden. Einer von Herzls Zeitgenossen, Leon Kellner, hat folgendes Zeugnis hinterlassen: »Zu dieser Zeit schlugen die Wellen der deutschen Nationalistenbewegung in der Studentenvereinigung hoch; Herzl war einer der enthusiastischsten Vorkämpfer.«4 Im Herbst 1880 waren mehrere radikale deutsch-nationale Burschenschaften Teil des Kreises rund um die Lesehalle geworden, darunter die Burschenschaft Albia, die eine starke antiungarische Haltung einnahm. Zweimal im Laufe dieses Winters wurde Georg von Schönerer als Gastredner eingeladen. Sein zweiter stark provozierender Auftritt anlässlich der Gedenkfeier zum 100. Todestag von Lessing führte dazu, dass die Akademische Lesehalle mit Gewalt aufgelöst wurde wegen Verletzung der Statute gegen agitatorische Tätigkeit. Zu diesem Zeitpunkt war der ungarische Jude Theodor Herzl bereits in die Albia aufgenommen worden, die einen dicht geschlossenen Kreis von bis zu 15 uniformierten Nationalisten zählte. Die vielen Burschenschaften der Zeit waren keine gewöhnlichen Gesellschaftsklubs. Es wurden strenge Anforderungen an lebenslange Loyalität und ideologische Konformität gestellt. Die Ehre der Burschenschaft wurde regelmäßig durch Duelle beschützt. Das Beherrschen der Fechtkunst gehörte daher zu den Aufnahmekriterien, was Herzl mit der obligatorischen Schramme an der Wange erfüllte. Es gibt ein Foto von Anfang der 1880er Jahre, auf
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dem Herzl mit drei Mitstreitern von Albia abgebildet ist, alle mit der blauen Kornblume im Knopfloch, zu Ehren von Kaiser Wilhelm sowie als Zeichen der Treue zur Sache eines radikalen, deutschen Nationalismus. Aber trotz seiner deutsch-nationalen Position Anfang der 1880er Jahre verließ Herzl nicht unbedingt die liberale Plattform. Jacques Kornberg, der diese Phase in Herzls Entwicklung mit der größten ideengeschichtlichen Ausbeute analysiert hat, gibt folgende Erklärung für dieses scheinbare Paradox: Liberale und radikale Nationalisten sollten später jeweils ihren Weg gehen, als aber Herzl Mitglied von Albia war, überlappten die verschiedenen nationalistischen Positionen einander, und die Deutschen fanden in einer gemeinsamen Sache zusammen. Als Herzl später an die Ergebenheit seiner Generation zum Deutschtum erinnert wurde, verband er deutschen Nationalismus mit der »Idee von bürgerrechtlichen Freiheiten«. Das Deutschtum appellierte an Herzls österreichisches und liberales Loyalitätsband; es repräsentierte ein zentralisiertes Reich unter deutscher politischer und kultureller Dominanz, das trotz der zentrifugalen Kräfte von Klerikalismus, aristokratischem Konservatismus und ethnischem Föderalismus Ordnung hielt. Für ihn bedeutete Deutschtum parlamentarische Institutionen und konstitutionelle Freiheiten.5
Es sollte nicht mehr als ein Jahr vergehen, bis Herzl sich von den Aktivitäten der Burschenschaft zurückzog. Die alles andere als liberale Einführung des Verbots der Aufnahme neuer jüdischer Mitglieder in die Burschenschaft trug dazu bei, die Glut zu löschen, machte es für ihn aber nicht dringlich, seinen Austritt zu erklären. Das tat er erst im März 1883, nachdem ein Studententreffen zur Erinnerung an Richard Wagner, der soeben verstorben war, in ein antisemitisches Erweckungsereignis ausartete. Für Herzl kann nichts von dem neu gewesen sein, und die Begeisterung für Wagners Musik sollte mit den Jahren nur stärker werden. Die Agitation hatte jedoch eine Wendung genommen, mit der der Assimilationist in ihm nicht leben konnte. In seinem Abschiedsbrief an seine Mitstreiter schrieb Herzl, dass der Begriff »Semitismus« bei seiner Aufnahme in Albia unbekannt war. Herzl protestierte nicht dagegen, dass die Vereinigung eine kritische Haltung gegenüber den Juden einnahm, das war mit seinem Wunsch nach vollkommener Assimilation vereinbar. Er protestierte gegen rassistischen Antisemitismus, gegen den Willen, ihn daran zu hindern, als vollwertiger Deutscher akzeptiert zu werden, gegen den Versuch, ihn ins Ghetto zurück zu zwingen.6
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Die Österreichisch-Israelitische Union Eine der umstrittensten jüdischen Führungsgestalten im Wien der 1880er Jahre war ein Rabbiner, Parlamentarier und Publizist aus Galizien, im polnischen Teil der Doppelmonarchie. Dr. Joseph Samuel Bloch (1850–1923) war der streitbarste Gegner der Antisemiten, gleichzeitig rechnete er aber auch am heftigsten mit dem fehlenden Kampfeswillen der Wiener Juden ab. Speziell richtete er seine Geschütze auf die in jüdischem Besitz befindlichen liberalen Zeitungen und konfliktscheue Politiker, die es unterließen, für die konstitutionellen Rechte ihrer jüdischen Wähler zu kämpfen. Politisch waren die Juden in Wien gespalten, nachdem die Liberalen 1879 die politische Macht verloren hatten. Während die Kultusgemeinde – die Leitung der jüdischen Gemeinde in Wien – an ihrer Unterstützung der deutsch-nationalen liberalen Partei festhielt, ergriffen die orthodoxen Juden durch ihr Sprachrohr Jüdisches Weltblatt Partei für die neue konservative Koalitionsregierung unter der Leitung von Graf Eduard Taaffe. Sowohl die liberalen als auch die orthodoxen Juden in Wien sahen ihren bedeutendsten Beschützer im Kaiser, der 1882 erklärt hatte, dass er in seinem Reich keine Form von Judenhetze tolerieren werde.7 Aber Bloch, der ebenso wie seine Unterstützer im orthodoxen Lager ein loyaler Untertan des Kaisers war, gab sich mit Versicherungen von Schutz nicht zufrieden. Er meinte, es sei notwendig, auf dem Grundriss der Gesellschaft gegen den Antisemitismus mobil zu machen. Als Antwort auf eine Serie antisemitischer Treffen, die in Regie christlicher Kaufleute abgehalten wurden, gab er 1882, an christliche Arbeiter gerichtet, eine Vortragsreihe über jüdische Sozialgeschichte. Er legte ein starkes Engagement für die Armen an den Tag, unabhängig davon, ob sie Christen oder Juden waren, und sprach vor vollem Haus, wenn er christliche Proletarier über die Bedingungen der Arbeiter zur Zeit Jesu informierte. 1884 gründete Bloch die Österreichische Wochenschrift, die die Entwicklung des rassistischen Antisemitismus beobachtete und den Pangermanismus als ein ideologisches Projekt kritisierte, das mit österreichischem Patriotismus unvereinbar war. Seinen vielleicht größten Prestigesieg erzielte er 1885, als er einen berüchtigten Professor für semitische Sprache von der Universität in Prag vor Gericht zerrte. August Rohling war Autor von Der Talmudjude (1871) und richtete mit seinen Behauptungen, die Juden würden talmudischen Verordnungen unterliegen, die Christen zu betrügen, nicht
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wiedergutzumachenden Schaden an. Mit seinem umfassenden Wissen über die Tradition der jüdischen Lehre und seinen enormen rednerischen Fertigkeiten gelang es Bloch, Rohling als einen Scharlatan und Lügner zu exponieren. Adolf Jellinek, Moritz Güdemann und die liberalen Juden in der Kultusgemeinde, die die Konfrontation mit den Antisemiten gescheut hatten, nahmen an der Siegesfeier nicht teil. Und als Bloch als Kandidat für den Lehrstuhl in jüdischer Antike an der Universität Wien vorgeschlagen wurde, weigerten sie sich, ihn gutzuheißen. Nachdem Bloch sein Rednerpult jedoch in den Reichsrat verlegt hatte, verschaffte er sich derart nachdrücklich Respekt, dass sich auch die tonangebenden liberalen Juden um ihn scharrten. Nachdem er 1890 den Antisemiten des Parlaments eine legendäre Erwachsenenbildung in talmudischer Moral hatte zuteilwerden lassen, streckte auch Adolf Jellinek die Waffen und empfahl es den Juden in Blochs Wahlbezirk als heilige Pflicht, ihm ihre Stimme zu geben. 1886 organisierte Bloch seinen Widerstand gegen den Antisemitismus in der Österreichisch-Israelitischen Union. Die Absicht war, eine möglichst breite Allianz zum Schutz der politischen Rechte der Juden zu etablieren. Ebenso wichtig war es indessen, bei den Juden der neuen Generation die notwendige psychologische Festigkeit aufzubauen. Die Organisation war bemüht zu unterstreichen, dass sie keine separatistische Agenda hatte, dass sie dafür arbeitete, die jüdische und die habsburgische Identität zu stärken. Daher hielt sie in den ersten Jahren ein gedämpftes politisches Profil und konzentrierte sich auf den Kampf gegen die Selbstverachtung unter der jüdischen Jugend, indem sie sie sprachlich, kulturell, historisch und religiös in Judaica schulte. Nachdem der Zuspruch für Karl Luegers sogenannte Christlichsoziale Partei mithilfe von antisemitischem Populismus jedoch wuchs, wurde es notwendig, politisch Flagge zu zeigen. 1893 gelangten die Deutschliberalen in Koalition mit der polnischen und der katholischen Partei wieder an die Macht. Bloch war der Ansicht, die Liberalen hätten bisher wenig getan, um das Vertrauen ihrer jüdischen Wähler zu verdienen, und stellte klare Forderungen, dass der Kampf gegen den Antisemitismus seitens der Regierung ausgebaut werden müsste. Das Verhältnis zur Deutschliberalen Partei sollte innerhalb der Union eine fortwährende Diskussion bleiben, auch nachdem diese 1895 die Macht verlor. Die Bande zwischen den Juden in Wien und dem deutschen Liberalismus waren stark. Mit dem politischen Durchbruch des Antisemitismus Mitte der 1890er Jahre sorgte die Union jedoch dafür, dass quer über mehrere Parteien
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hinweg eine kontinuierliche Debatte dahingehend geführt wurde, wie die kollektiven Interessen der Juden am besten gewahrt werden konnten. Die Meinungskonflikte bewegten sich bis hinunter auf die Personalebene, ohne dass die grundsätzlichen Problemstellungen deshalb verschwanden. Während Einzelne darauf drängten, dass es gleichgültig war, ob die Repräsentanten selbst Juden waren oder nicht, weil auf Dauer nur eine Stärkung des konstitutionellen Patriotismus die politischen Rechte der Juden sichern konnte, behaupteten andere, inklusive Bloch, dass eigene jüdische Repräsentanten erforderlich waren. Die Problemstellung sollte sich weiter zuspitzen, als die Zionisten in Wien 1907 dafür eintraten, im Parlament eine eigene jüdisch-nationale Gruppe zu gründen. Parallel zu der politischen Eskalation kam es durch die Gründung des Rechtsschutz- und Abwehr-Büros im Dezember 1897 in Regie der Union zu einer juristischen Mobilmachung. Hauptaufgabe des Büros war es, zu verhindern, dass die Juden zu Bürgern zweiter Klasse reduziert wurden und dass in dem judenfeindlichen politischen Klima, das Karl Lueger zum Bürgermeister der Stadt gemacht hatte, ihre Rechte gewahrt wurden. Im gesamten österreichischen Teil des Kaiserreichs etablierte das Büro Netzwerke. Es überwachte die Presse, öffentliche Zusammenkünfte und politische Versammlungen und zeigte antisemitische Gesetzesverstöße systematisch an. Im April 1898 waren 82 Fälle angezeigt, und in mehr als einem Viertel davon waren verschiedene Formen der Berichtigung in der antisemitischen Presse erzwungen worden. Zum 25-jährigen Jubiläum 1910 wurde behauptet, dass das Büro mehr als 5.000 Fälle bearbeitet hatte. Die Österreichisch-Israelitische Union war die erste jüdische Verteidigungsorganisation gegen den Antisemitismus. Aber bereits 1893 wurde in Deutschland ein entsprechendes organisatorisches Netzwerk gegründet, das große Bedeutung für die Herausbildung des nationalen Selbstverständnisses der deutschen Juden erlangen sollte. Der Central-Verein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens war, wie auch der Name erkennen lässt, daran interessiert, ihre Zugehörigkeit als Deutsche zum jüdischen Glauben zu kennzeichnen. Bereits in seinem Programm wurde deutlich, dass sich seine Mitglieder als religiös, nicht national mit dem Judentum verknüpft fühlten: Als deutsche Bürger mit jüdischem Glauben stehen wir sicher auf dem Grund der deutschen Nationalität. Unser Verhältnis zu Juden aus anderen Ländern ist nicht anders als das Verhältnis deutscher Katholiken und Protestanten zu Katholiken und
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Protestanten aus anderen Ländern. Wir erfüllen mit Freude unsere Pflichten als Staatsbürger und halten an unseren konstitutionellen Rechten fest.8
In Österreich, das ein multinationaler Staat war, waren nationale Minderheiten eine weniger heikle Angelegenheit als in Deutschland. Während der Vorbereitungen zu seiner Schrift über den Judenstaat kam es zu mehreren Treffen zwischen Bloch und Herzl, er öffnete ihm auch die Türen zur Union, wo seine Rede über das Judentum gut aufgenommen wurde. Sie hatten einzelne ideologische Berührungspunkte, in letzter Instanz hielt Bloch jedoch an seiner Ablehnung des Zionismus auf orthodoxer Grundlage fest.9 Später sollte sich die Leitung der Union gegenüber dem Zionismus als einem illegitimen Impuls positionieren. Der deutsche Central-Verein lehnte hingegen von Beginn an die Vorstellung von den Juden als einer nationalen Minderheit ab. Er wurde zur Interessenorganisation für Juden, die der alten Welt der Orthodoxie entsagt hatten und die die neue Welt des Zionismus als eine »inakzeptable Fantasie« betrachteten.10 Ihrer Ansicht nach stellte der Status der Juden als einer religiösen Minderheit für die deutschsprachigen Juden eine Existenzberechtigung in einem modernen Staat dar. Die Konfrontation mit dem völkischen Antisemitismus, der ihnen die Zugehörigkeit zum deutschen Volk verweigerte, war daher eine Frage von Sein oder Nichtsein. Dasselbe war die Konfrontation mit dem Zionismus und allen Formen von jüdischem Nationalismus, die implizierten, dass sie als Juden dem jüdischen Volk und folglich keinem anderen angehörten. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte der Central-Verein 40.000 Mitglieder. Der Großteil von ihnen waren beherzte deutsche Patrioten, die erpicht darauf waren, zu demonstrieren, dass sie ebenso über eine Vaterlandsliebe verfügten wie ihre katholischen und protestantischen Landsleute.
Birnbaums jüdischer Nationalismus Seit Anfang der 1880er Jahre hatte sich Wien als Hauptsitz des zionistischen Aktivismus in Zentraleuropa etabliert, was vor allem der Gründung des Vereins Kadimah 1882 geschuldet war, mit dem Studenten Nathan Birnbaum (1864–1937) als einem der zentralen Akteure. Ein Großteil der Inspiration Birnbaums stammte von dem hebräischsprachigen Publizisten Peretz
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Smolenskin, der seit 1868 in der Stadt lebte und als Autor und Redakteur tätig war. Gegründet wurde die Organisation im Dezember 1882 im Hinterzimmer des Café Gross, und es war Smolenskin, dem der hebräische Name zu verdanken ist. Dieser hat zwei Bedeutungen: nach Osten – gegen die Assimilation und für das Nationalgefühl, und nach vorn – gegen die Orthodoxie und für den Fortschritt. Das erste offizielle Treffen fand am 5. Mai 1883 statt, nachdem Kadimah als ein Verein zur Förderung der »Kultivierung der jüdischen Literatur und der judaistischen Wissenschaften« registriert worden war. Leon Pinsker und Peretz Smolenskin wurden zu Ehrenmit gliedern gewählt.11 Birnbaum begegnete Smolenskin gegen Ende seines Lebens und sollte den nationalen Kampf gegen den Assimilationismus weiterführen. Eine andere entscheidende Referenz war Leon Pinskers Autoemanzipation. Während seiner Reise nach Westeuropa 1882 war Pinsker vom jüdischen Establishment in Wien kühl empfangen worden. Der starke Mann der Juden in Wien, Adolf Jellinek, hatte Pinsker davor gewarnt, die Pogrome falsch zu deuten. Seiner Meinung nach war die Erklärung vielmehr in der demografischen Situation zu finden. Die Juden sollten niemals irgendwo als eine große Bevölkerungsgruppe vereint werden. In Russlands polnischen Gebieten gäbe es zu viele Juden. Daher sei eine planmäßige Auswanderung kleiner Gruppen in freie Staaten die beste Lösung. Die Orte, an denen es relativ kleine jüdische Gemeinschaften gäbe, seien auch die Orte, wo es den Juden am besten gehe. Jüdische Studenten hatten indessen ein aufmerksameres Publikum dargestellt. Birnbaum machte das politische Befreiungsprogramm, das im Titel von Pinskers Pamphlet eingeschrieben war, zu seinem eigenen. Die Zeitung der Wiener Zionisten, die erste jüdische, die in deutscher Sprache herausgegeben wurde, erhielt den Namen Selbstemanzipation. Die erste Ausgabe erschien in Wien an dem Tag, an dem Smolenskin starb, am 1. Februar 1885. Späterhin wurde die Redaktion nach Berlin verlegt, wo die Zeitung, noch immer unter Leitung Birnbaums, unter dem Namen Jüdische Volkszeitung erschien, bis sie 1894 eingestellt wurde.12 Stark inspiriert von Pinsker hatte der junge Student Nathan Birnbaum seine zionistische Zeitung Selbstemanzipation begonnen, die als Sprachrohr der zionistischen Debatte in der jüdischen Studentenvereinigung Kadimah fungieren sollte. Birnbaum war eine intellektuelle Kraft, während sein proletarischer Hintergrund und seine jüdische Erscheinung einer eventuellen Karriere
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als Jurist effektiv Einhalt geboten. Von Beginn an war er ein Mann des Gefechts. Der größte Streit sollte sich um den patriotischen und militaristischen Makkabäer-Kult drehen, der innerhalb der Kadimah heranwuchs und der seinen jährlichen Höhepunkt im Dezember während des Lichterfestes C hanukka erreichte.13 Das Erinnern an den Kampf der Makkabäer gegen die Seleukiden fast 2000 Jahre zuvor verfolgte den Zweck, die Teilnahme am Kampf für jüdische Ehre und Selbstständigkeit zu erwecken, und sorgte unter den assimilierten Juden in Wien für heftige Reaktionen. Auch aus religiöser Richtung kam es zu Warnungen gegen die Politisierung der religiösen Feier. Der Oberrabbiner Adolf Jellinek verurteilte die Feier und charakterisierte den säkularen Patriotismus, der sich innerhalb der K adimah ausspielte, als einen heidnischen Kult. Er klagte die Studenten an, den ethischen Monotheismus – und den Messianismus – des Judentums zu verfälschen, und ließ deutlich verlauten, wo die Grenzen verliefen: Es gibt keine jüdische Nation. Die Juden stellen zwar eine eigene Stimme dar, eine besondere religiöse Gemeinschaft. Sie sollten die antike hebräische Sprache pflegen, ihre reiche Literatur studieren, ihre Geschichte kennen, ihren Glauben wertschätzen und ihm seine größten Aufopferungen geben, sie sollten Vertrauen und Hoffnung in die Weisheit der göttlichen Vorsehung setzen, die Versprechen der Propheten und die Entwicklung der Menschheit, sodass die sublimen Ideen und Wahrheiten gewinnen können. Aber im Übrigen sollten sie sich mit den Nationen vermischen, deren Bürger sie sind, ihre Schlachten auskämpfen und die Institutionen zum Besten für die ganze Gesellschaft unterstützen.14
Im Laufe der 1880er Jahre stärkte Kadimah seine Stellung unter den jüdischen Studenten, was auch eine Konsequenz der Dominanz der deutschnationalistischen Burschenschaften an den Universitäten war. Kadimah wurde zum Modell einer Vielfalt von zionistischen Studentenorganisationen in Österreich-Ungarn, und in den 1890er Jahren machte sich der Einfluss nach und nach im deutschsprachigen Teil Europas geltend.
Birnbaum versus Herzl Ebenso sicher wie Nathan Birnbaum in den Jahren, bis Herzl sein Pamphlet schrieb, die zentrale Gestalt des Wiener Zionismus war, war er dies nach der Veröffentlichung von Der Judenstaat nicht mehr. Sein ganzes Erwachsenen-
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leben hindurch hatte er im Dienste des Zionismus große persönliche Opfer gebracht. Er hatte Kadimah gegründet, während Herzl noch immer Mitglied von Albia war. Sogar der Begriff »Zionismus« stammte ursprünglich von ihm, systematisch eingearbeitet in die Spalten der Zeitung Selbstemanzipation. Obwohl es Birnbaum schwerlich umgehen konnte, Der Judenstaat lobend zu erwähnen – viel von der Argumentation basierte anscheinend auf seinem eigenen Gedankengut aus 15 agitatorischen Jahren –, war die Konfrontation unvermeidbar. Herzl nahm bei Birnbaum von Beginn an Ressentiments wahr und bemühte sich nicht, seine eigenen zu verbergen. Bereits am 1. März – zwei Wochen nach der Veröffentlichung – wurde das Urteil gefällt: Birnbaum ist zweifellos eifersüchtig auf mich. In den Andeutungen dieses kultivierten Mannes fange ich das Gleiche auf, was gemeine Juden mit vulgären Sticheleien sagen, nämlich, dass ich auf persönliche Vorteile aus bin […]. Birnbaum erscheint mir als ein eifersüchtiger, eitler und widerspenstiger Mann. Es wird gesagt, dass er den Zionismus bereits verlassen hatte und zum Sozialismus übergegangen war, als mein Erscheinen ihn zu Zion zurückführte.15
Nun war Birnbaum aber nicht der Einzige, der den Sozialismus als einen möglichen Weg der Erlösung für die Juden gesehen hatte, auch Herzl hatte diesen Gedanken gehabt. Birnbaums sozialistisches Engagement war indessen von einem anderen ideologischen Kaliber als Herzls Gedankenflucht. Birnbaum teilte die Sicht der Sozialisten auf Klerikalismus, Freihandels liberalismus und feudale Werte, und die Visionen von den Landwirtschaftskollektiven in Palästina, für die er warb, waren von dem Wunsch gesteuert, dem Joch der Klassengesellschaft und dessen jüdischer Sklaverei unter dem Mammonismus zu entkommen. In zentralen Punkten teilte er das Verständnis der marxistischen Bewegung indessen nicht: Er war kein Anhänger des Klassenkampfs, und er legte ein ganz anderes Gewicht auf die Bedeutung der Ethnizität. Die Judenfrage könne nicht auf eine Frage der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen reduziert werden, die im Takt mit der Abwicklung der bürgerlichen Machtstrukturen in der klassenlosen Zukunftsgesellschaft aufgelöst werden würden.16 Ganz im Gegenteil könnte die Allmacht des Volkswillens, ausgelegt durch Parteikader, eine noch schlimmere Bedrohung für die Juden darstellen, sollte das nationale Problem nicht zuerst gelöst werden. Daher betrachtete er den revolutionären Radikalismus generell und die sozialdemokratische Bewegung speziell als
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einen gefährlichen und verführerischen Rivalen im Kampf des Zionismus um die Gunst der jüdischen Studenten. Birnbaum gab sogar in gewissem Maß der antisemitischen Kritik an der angeblichen kollektiven Degeneration der Juden recht. Allerdings sprach er dabei von einer kulturell und historisch bedingten Situation. Birnbaum stimmte zu, dass sich der Konflikt zwischen Antisemiten und Juden um sozioökonomische Umstände drehe – aber er drehe sich eben auch um nationale Gefühle, die keine rationalistische Selbstverteidigung aus der Tiefe der Instinkte des Volkes vertreiben könne. Auf diese Weise nahm der Rassenbegriff zu Beginn der 1890er Jahre in Birnbaums Denken eine zentrale Stellung ein: Der Geist der arischen Rasse habe das Nibelungenlied hervorgebracht, ebenso wie der jüdische Volksgeist in der Antike die Bibel hervorgebracht habe. Die Schwärmerei für ethnischen Partikularismus und kollektive Ehre sei indessen frei von der rassistischen Ideologie einer Bemessung eines Wertes für unterschiedliche Menschen. Die jüdische Ehre müsse rehabilitiert werden, nicht aber durch Postulate, basierend auf biologischem Reduktionismus. Dahingegen haftete er nicht für die Wendung, die die jüdische Selbstbehauptung im Laufe der 1890er Jahre innerhalb der Studentenbewegung nehmen sollte. Auf einer stürmischen Generalversammlung im Mai 1893 wurde der Beschluss gefasst, dass die Ehre der Kadimah im Kampf verteidigt werden solle. Sieben der Mitglieder wurden auserwählt, sich in Vertretung der Gemeinschaft Respekt zu verschaffen, woraufhin im Laufe des Jahres eine Reihe von Duellen mit Aufsehen erregenden Ergebnissen ausgefochten wurden. Birnbaum gehörte zu jenen, die sich am heftigsten gegen diese Maßnahme ausgesprochen hatten, die er als einen Ausdruck nationaler Assimilation und der Nachäffung reaktionärer Traditionen innerhalb der deutschen Burschenschaften ansah. Die Kämpfe endeten, nachdem die Dachorganisation der deutschnationalen Burschenschaften im März 1896 beschloss, dass die Mitglieder von Kadimah keiner Satisfaktion würdig waren. Auch auf dem Schlachtfeld der Ehre war Würde nun zu einer Frage der Rasse geworden. Der Beschluss war ein Anschlag auf die soziale und rechtliche Gleichstellung der Wiener Juden, und Herzl, dessen eigener Ehrbegriff von der fechtenden Burschenschaft Albia stammte, hatte einen ganz anderen Sinn für das, was auf dem Spiel stand: Die Zukunft der Juden im kaiserlichen Heer, in dem die Offiziere von Berufs wegen verpflichtet waren, ihre Ehre zu verteidigen, wenn diese herausgefordert wurde.
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Große Aufregung an der Wiener Universität. Die »wehrhaften« »arischen« Verbindungen haben den Beschluß gefaßt, Juden auf keine Waffe mehr Satisfaktion zu geben, weil jeder Jude ehrlos und feig sei. Mein junger Freund Pollak und noch ein anderer Jude haben zwei Antisemiten, die Reserve-Offiziere sind, gefordert; und als diese sich zu schlagen ablehnten, haben die beiden Juden die Anzeige beim General-Kommando erstattet. Dieses hat sie an das Bezirkskommando gewiesen. An der Entscheidung hängt viel – nämlich die künftige Stellung der Juden in der österreichischen Armee.17
Innerhalb von 15 Jahren hatte Birnbaum eine zionistische Organisation aufgebaut, die die ersten Zionistenkongresse sowohl mit Fußvolk als auch mit mehreren zentralen Akteuren versorgen sollte. Zu dem Zeitpunkt aber, als Herzl die Bühne betrat, befand sich der Begründer bereits auf dem Weg in seine erste Metamorphose. Birnbaum sollte später mit den zionistischen Ambitionen brechen und stattdessen zu einem tonangebenden Verfechter einer jiddischen Kultur und Sprecher für jüdische Autonomie in der Diaspora werden, bevor er seine Tage als ultraorthodoxer Antizionist beendete. Seine vielen ideologischen Metamorphosen trugen dazu bei, den Eindruck einer unsteten Psyche zu hinterlassen – in seinem konfliktbehafteten Umgang mit dem Zeitgeist über ein halbes Jahrhundert hinweg aber lag eine unerbittliche Konsequenz. Niemals verlor er das aus dem Blick, was für ihn der eigentliche und ursprüngliche Feind war: die assimilationistische Ausrottung des genuin Jüdischen. Für Theodor Herzl verhielt es sich umgekehrt. Die Verwandlung der Juden, die sein übergeordnetes Ziel als Assimilationist gewesen war, sollte dies auch bleiben, nachdem er den Assimilationismus zum Vorteil des Zionismus aufgegeben hatte. Die vielen äußeren Gemeinsamkeiten zwischen Herzl und Birnbaum sind offensichtlich: Jude, Jurist, Journalist, Zionist. Sie unterschieden sich jedoch in den Richtungen, die sie als Antworten auf die geteilten fundamentalen Erfahrungen einer abgrundtiefen Ambivalenz der Wiener Juden einschlugen. Scheinbar repräsentierten der Begründer des Wiener Zionismus, Birnbaum, und dessen legendärer Prophet, Herzl, in der Judenfrage dieselbe Position. In der Realität repräsentierten sie die jeweilige Opposition des anderen: der alte und der neue Jude.
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Der Judenstaat Es wurde behauptet, dass Herzl als ein Nietzscheaner zum Zionismus kam und dass sein Beitrag zum Zionismus unter anderem darin bestand, dass er die alte griechische Tugend, die Nietzsche so hochgehalten hatte, die Kunst der Selbstbehauptung, pflegte. Es handelt sich definitiv nicht um zurückblickende Nostalgie und das Verwalten der ethnischen Eigenart, die einem ins Auge springen, wenn man Herzls kleinen »Staatsroman« heute liest. Ganz im Gegenteil sind es der Glaube an den Fortschritt, der Technologieoptimismus und der Wille, eine neue Gesellschaft und durch diese ein neues Volk zu erschaffen. Er selbst war der Erste, der einräumte, dass die grundlegende Idee an sich alles andere als schöpferisch war. Das stellte er sicherheitshalber gleich in den Eröffnungszeilen fest: »Der Gedanke, den ich in dieser Schrift ausführe, ist ein uralter. Es ist die Herstellung des Judenstaates. Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden, und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf.«18 In seiner kurz gefassten Analyse des Antisemitismus konzentriert sich Herzl auf das, was er als wirtschaftliche und politische Ursachen bezeichnet. Er unterschlägt nicht die Bedeutung der traditionellen Vorurteile: Es reiche aus, den Redewendungen und Märchen zu lauschen, um zu begreifen, wie tief die Vorurteile gegen die Juden reichen, und im Grunde seien es die Flüche des Mittelalters, die Europas Volk jetzt heimsuchten. Der moderne Antisemitismus durfte Herzl zufolge jedoch nicht mit der religiös motivierten Judenverfolgung früherer Zeiten verwechselt werden, obwohl sie hier und da noch immer als Vorwand angeführt wird. Der moderne Antisemitismus sei ein Resultat der Emanzipation. Im Ghetto entwickelten die Juden bürgerliche Charakterzüge, und die Emanzipation öffnete die Tore der Ghettos für den freien Wettbewerb mit der christlichen Mittelklasse. Die schnelle Expansion hinein in bessergestellte soziale Kreise erschuf Neid und machte der Mittelklasse des Gastlandes Konkurrenz, während die Gleichheit vor dem Gesetz das Eigentum der Juden vor Konfiszierung schützte. Das gab einer enormen Verbitterung Nahrung, die nur zunehmen würde, und umso mehr, weil die Emanzipation der Juden nicht von einer entsprechenden Assimilation begleitet wurde. In der nächsten Instanz verursachte das eine entsprechende Verbitterung bei den Juden der Mittelklasse, die trotz der schönen Versprechen den Karriereweg verschlossen vorgefunden hatten:
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Man drängt uns wieder ins Geldgeschäft, das jetzt Börse heißt, indem man uns alle anderen Erwerbszweige abbindet. Sind wir aber in der Börse, so wird das wieder zur neuen Quelle unserer Verächtlichkeit. Dabei produzieren wir rastlos mittlere Intelligenzen, die keinen Abfluß haben und dadurch eine ebensolche Gesellschaftsgefahr sind wie die wachsenden Vermögen. Die gebildeten und besitzlosen Juden fallen jetzt alle dem Sozialismus zu. Die soziale Schlacht müßte also jedenfalls auf unserem Rücken geschlagen werden, weil wir im kapitalistischen wie im sozialistischen Lager auf den exponiertesten Punkten stehen.19
Die Schlussfolgerung ist klaustrophobisch: »Wir werden nach unten hin zu Umstürzlern proletarisiert, bilden die Unteroffiziere aller revolutionären Parteien, und gleichzeitig wächst nach oben unsere furchtbare Geldmacht.«20 Alle historischen Erfahrungen besagen, dass Wohlstand jüdische Charakteristika schwächt, gleichzeitig ist es aber der gesteigerte Wohlstand der Juden, der die Assimilation für die Gastgebernation unerträglich macht, schlussfolgert Herzl. Deshalb sind die Juden noch immer ein Volk, und deshalb sind sie noch immer ein Volk. In der Schrift pendelt Herzl zwischen einem Verständnis vom Antisemitismus als Ursache für den und Wirkung des archetypischen Lasterkatalogs der Juden. Selbst wenn die jüdische Selbstverachtung in der Schrift über den Judenstaat kräftig gedämpft ist, ist sie in einer Passage nachzuspüren, die sich direkt an die bessergestellten Juden richtet, primär an die englischen und französischen, die glauben, dem Fluch des Antisemitismus durch gelungene Assimilation zu entkommen. Das ist eine Illusion, behauptet Herzl. Dort, wo der Antisemitismus noch keine Wurzeln geschlagen hat, bringen die Juden ihn mit sich! Alles was es braucht, ist ein starker Anstieg der Einwanderung verfolgter Juden, zu der es mit gesetzmäßiger Sicherheit als Konsequenz des sozialen Aufstiegs der etablierten Juden kommen wird. Die Kombination ist ausreichend, um überall in Europa eine Revolution auf die Tagesordnung zu setzen. Die Beschreibung basiert auf Herzls Erfahrung mit der Einwanderung der osteuropäischen Juden nach Wien nach den Pogromen und dem explosiven Anstieg des Antisemitismus im Laufe der 1880er Jahre. Die Behauptung aber, nahezu en passant, dass die Juden den Antisemitismus mit sich bringen und dass der Antisemitismus so gesehen vielmehr eine Reaktion als eine Ursache ist, sollte sich nicht überraschend als eine der kontroversesten in Der Judenstaat erweisen – und als ein Grund dafür, dass das Pamphlet in der antisemitischen Presse so weit gut aufgenommen wurde.
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Später sollte es auch der Streit mit den jüdischen Antizionisten sein, der Herzl dazu bringen sollte, die schwersten rhetorischen Geschütze aufzufahren. Es herrscht kein Zweifel daran, dass in Herzls Augen der Antisemitismus den Judenstaat notwendig gemacht hat, es herrscht aber auch kein Zweifel an der Notwendigkeit, dass die Staatsbildung zur Erschaffung eines neuen, von den Fesseln des inneren Ghettos befreiten Juden beiträgt. Die Staatsbildung, ja Herzls ganzer Nationalismus, ist im Grunde eine radikale Kur gegen das Geschöpf, das Herzl in seiner späteren Polemik mit den Antizionisten verleumderisch als Mauschel charakterisieren sollte: Herzl insistiert hier, dass grundlegend betrachtet nur zwei Arten von »Juden« existierten: der Jude und der Mauschel. Viele haben die beiden verwechselt, zum großen Unglück der Juden. Deshalb hatte man sich zu dem Glauben verleiten lassen, dass das Verhältnis der Juden zu dem Guten, dem Wahren und dem Schönen, zu Kunst, Wissen und Vaterland von Profitgier gesteuert war. Herzl machte deutlich, dass die Juden für Mauschel nur Verachtung übrig haben – Selbstverachtung: »Als wäre in irgendeinem dunklen Augenblick unserer Geschichte eine niedrigere Volksmasse in unsere unglückliche Nation hineingeraten und wäre mit ihr vermischt worden.«21 Im Grunde genommen bleibt der politische Zionismus ein Gestaltungsmittel – das einzige, das in der Lage ist, die Juden von sich selbst zu erlösen, von dem kollektiven Selbst, das in der Diaspora zu ihrer Hülle geworden war. Deshalb konnte auch der neue Staat nicht dem Willen des Volkes entspringen. Zuerst musste das Volk verwandelt werden – vom Judenstaat. Im Herbst 1896 wurde Herzl zum neuen Leiter der Zionistenbewegung in Wien gewählt. In dem halben Jahr, das seit dem Erscheinen von Der Judenstaat vergangen war, hatte er sich ein großes und geografisch breit gefächertes Netzwerk an Korrespondenten erschaffen, das ihn laufend über die Schwingungen in der öffentlichen zionistischen Meinung in ganz Europa unterrichtete. Gleichzeitig unternahm er mehrere Vorstöße, um den Reihen der Zionisten internationale Meinungsbildner hinzuzufügen. Unter jenen, die die Annäherungen zurückwiesen, war der dänisch-jüdische Literat Georg Brandes. Brandes kommentierte sein Verhältnis zum Zionismus später, 1902, in einem Interview mit Christian Krohg in der Zeitung Verdens Gang. Darin begründete er seinen Widerstand mit der Skepsis dahingehend, dass die Türken jemals auf Palästina verzichten würden.22
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Der Kongress in Basel Als die Pläne für einen Zionistenkongress, oder einen allgemeinen Zionistentag, wie Herzl es anfangs ausgedrückt hatte, organisatorisch ernst wurden, kam neuer Schwung in die Angelegenheit. Die Idee taucht in Herzls Tagebüchern sowie in seiner Korrespondenz unmittelbar nach den Besuchen in Paris und London im Sommer 1896 auf. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich noch immer in der Gewalt der diplomatischen Strategie und hatte eine geheime Zusammenkunft internationaler Führungspersönlichkeiten im Blick. Nachdem die großpolitischen Illusionen nach und nach zerplatzten, meldeten sich indessen Gedanken, den Kongress zu einer spektakulären öffentlichen Angelegenheit zu machen; teils, um die jüdischen Massen zu mobilisieren, teils, um die Existenz und die Ambitionen der Bewegung als einen Fait accompli, eine vollendete Tatsache, zu manifestieren. Im November war die Idee von einem Zionistenkongress in allen wesentlichen Zügen fertig ausgedacht. Im Januar ergriff er die ersten Initiativen für dessen Realisierung. Im Februar hatte er sich entschieden, dass der Kongress in der zweiten Augusthälfte 1897 in Zürich stattfinden sollte. Und im März begann die Arbeit, um für den Kongress breitest mögliche Unterstützung zu sammeln. Die Nachricht, dass Herzl Europas Juden zu einem Zionistenkongress einberufen wolle, jagte Schockwellen durch die Kreise, die geglaubt hatten, Herzl könne durch Totschweigen zum Verstummen gebracht werden. Der Kongress wurde unterdessen als eine weitaus größere Bedrohung für die Sicherheit der bessergestellten Juden betrachtet als die Veröffentlichung von Der Judenstaat im Jahr zuvor und trieb den Konflikt zwischen der staatsbürgerlichen und der jüdisch-nationalen Identität auf die Spitze, in einer Weise, wie es die assimilierten und orthodoxen Juden Westeuropas bisher nicht erlebt hatten. Der Rabbiner Moritz Güdemann, der sich für den Inhalt des Pamphlets verbürgt hatte, als dieses sich noch im Korrekturstadium befand, hielt es nun für erforderlich, das antizionistische Pamphlet Nationaljudenthum zu veröffentlichen, worin er die Assimilation als historische Tradition innerhalb des Judentums verteidigte. Denker wie Philo, Maimonides und Mendelssohn seien alle ein integrierter Teil der nichtjüdischen Kultur gewesen, die sie umgab. Dieser kulturelle Austausch hätte durch die gesamte Geschichte der Diaspora hindurch stattgefunden, und viel von dem, was man
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mit der jüdischen Tradition verband, sei ohne diesen Austausch undenkbar. Güdemann zufolge musste der Assimilationismus nur dann verurteilt werden, wenn er selbstvernichtend wurde. Und das war genau das Problem am politischen Zionismus. Worauf sonst lief der Zionismus hinaus als auf eine weitreichende kollektive Assimilation der Juden in den Nationalismus der Zeit?23 Herzl begegnete nun organisiertem Widerstand. Am stärksten war die Reaktion in München, wo sich säkulare und religiöse Anführer zusammentaten, um zu verhindern, dass Herzl Ernst aus den Plänen machte, den Kongress dort abzuhalten. Deutsche Rabbiner versandten gleichzeitig eine Erklärung, worin sie in scharfen Wendungen Abstand vom Zionismus als einer illegitimen nationalen Bestrebung nahmen. Enorme Unterstützung hatte Herzl von den jüdischen Studenten in seinem Umfeld. Einer der Studenten, Isidor Schalit, gibt in seinen Erinnerungen folgende Darstellung von dem Enthusiasmus, der ihn trug: »Wir waren bei ihm, bewachten ihn, ließen ihn keine Minute alleine; wir knüpften Verbindungen zu Zionisten in anderen Ländern, sammelten Tausende von Unterschriften, organisierten Deputationen usw.«24 Aber keiner der westlichen Prominenten – mit Ausnahme von Max Nordau, der zum Tintenfass stürzte – war bereit, sich auf Herzls Seite zu kompromittieren. Der Leiter der Zionisten in Berlin, Willy Bambus, äußerte öffentlich, der Einberufung niemals zugestimmt zu haben. Nach einem missglückten Versuch, Herzl zu überreden, den Kongress zu entpolitisieren, brach er die Verbindung ab. Herzl antwortete damit, den Kongress nach Basel zu verlegen und die Mobilisierung auszubauen. Anfang Juni lag die erste Ausgabe der Wochenzeitung Die Welt vor, voll finanziert von Herzl und seinem Vater. Die Zeitung wurde mit einer provokanten Bekanntmachung eingeführt, die jeglichem Einwand, das krasse Profil würde zu antisemitischer Schikane führen, zuvorkam: Unsere Wochenschrift ist ein ›Judenblatt‹. Die Zeitung wurde von der ersten Stunde an zu einem Forum für agitatorische Widerlegung der antizionistischen Kritik. Angetrieben von den negativen Reaktionen im Westen richtete Herzl den Blick gen Osten. Es war nunmehr klar, dass der Kongress mit der Zustimmung der russischen Juden, die Herzl weitestgehend als gegeben angesehen hatte, stehen oder fallen würde. Schließlich war dort die Not am drängendsten und der Bedarf an einer kollektiven Lösung der Judenfrage
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am akutesten. Es war aber auch dort, wo die zionistische Sensibilität am stärksten entwickelt und die Verletzlichkeit der Juden durch religiöse und politische Widerstände am größten war. Herzls Kontakt mit den führenden Kräften der Zionisten in Odessa hatte bisher über Zwischenhändler stattgefunden. Jetzt machte er von Grund auf mobil. Ein russischsprachiger Mitarbeiter wurde auf Tournee in die jüdischen Siedlungsgebiete geschickt, um zu agitieren und Teilnehmer zu rekrutieren. Ende Juli – einen knappen Monat, bevor der Kongress beginnen sollte – war klar, dass die Bemühungen Ergebnisse gezeigt hatten. Die Anmeldungen strömten herein. Der ideologische Widerstand war einer fatalistischen Einsicht gewichen, dass der Kongress stattfinden würde. Herzl hatte seinen Willen durchgesetzt und war aus dem Streit mit gestärkter Autorität herausgekommen, gleichzeitig war es ihm gelungen, den Eindruck zu erzeugen, dass er in Vertretung des Volkes und nicht seiner selbst kämpfte. Damit hatte die Problemstellung den Charakter geändert: Es drehte sich nicht mehr darum, Ja oder Nein zu Herzls Ansichten und Methoden zu sagen, jetzt drehte es sich darum, inwieweit man den Wunsch hatte, an der historischen Diskussion über die Zukunft des jüdischen Volkes teilzunehmen. Stattfinden würde sie so oder so. Das war es, was in Basel auf der Agenda stand. Die endgültige Teilnehmerliste zählte fast 250 Männer und Frauen aus insgesamt 24 Staaten. Während der Zugreise nach Basel zog Herzl selbst Bilanz, wohl wissend, dass er sich zu einer Reise ins Unbekannte aufgemacht hatte, mit einer Mannschaft praktisch frei von Plutokraten und Notabilitäten: »Tatsache ist, was ich jedermann verschweige, daß ich nur eine Armee von Schnorrern habe. Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmöcken.«25 Den verleumderischen Ausdruck »Schnorrer« hatte er aus seinem verhängnisvollen Gespräch mit Edmond de Rothschild. Mithilfe der Magie des Theaters sollte der Kongress diese jämmerliche Armee in eine Nationalversammlung sich der Etikette bewusster Juden verwandeln. Bei den Vorbereitungen hatte Herzl keine Mühen gescheut: Alles von der Auswahl des Lokals – einem Casino – bis ihn zur Einrichtung, Konferenzabzeichen, Programmheften und Anzügen war bis ins kleinste Detail durchdacht. Eröffnet wurde der Kongress zu den Klängen von Richard Wagners Tannhäuser, dem Stück, das Herzl im Frühjahr 1895 in Paris zum Schreiben von Der Judenstaat inspiriert hatte. Und als der einzige leuchtende Star des Kongresses in der literarischen Welt, Max Nordau, das Podium einnahm, um die Hauptrede zu halten, hatte Herzl ihn vorab zum Hotel zurückgeschickt, um sich den
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vorgeschriebenen Anzug überzustreifen. Die legendäre Abrechnung mit dem humanistischen Illusionismus der Emanzipation wurde für die armen osteuropäischen Teilnehmer kaum weniger denkwürdig dadurch, dass sie im Frack vorgetragen wurde. Wollte man eine Begebenheit benennen, die das Ende der Judenemanzipation in Europa markiert, dann steht die Wahl zwischen der Gründung des Central-Vereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens 1893 und dem Ersten Zionistenkongress 1897 – beides war politisch motiviert. Ein Jahrhundert war vergangen, seit das Revolutionsparlament in Paris die Emanzipation beschlossen hatte. Jetzt wurde sie von den deutschen Patrioten des Central-Vereins als ein staatsbürgerliches Recht vorausgesetzt und von Herzls oratorischem Waffenträger Max Nordau als ein »Gebilde der reinen Vernunft« abgeschrieben.26 Für die zionistischen Juden hatte das 19. Jahrhundert gezeigt, dass sich die Geschichte in der Gewalt von Gefühlen und Leidenschaft befand, nicht in der der Logik. Für die antizionistischen Juden, von denen es in Westeuropa weitaus mehr gab, sprachen die weltliche Vernunft und die religiöse Überzeugung mit ein und derselben Zunge. In seinem Tagebuch zog Herzl folgende Schlussfolgerung: Faße ich den Baseler Kongress in einem Wort zusammen […] so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.27
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HÅKON HARKET
22. Die Dreyfus-Affäre und der französische Antisemitismus Léon Poliakov hat es einst so ausgedrückt: Es bleibt eine Tatsache, dass Frankreich selbst vor der Dreyfus-Affäre in der westlichen Welt das zweite Zuhause der modernen Form des Antisemitismus war. Und ein drittes gab es nicht. Es war eine Art französisch-deutscher Dialog.1
Daher hat es durchaus etwas von Ironie, dass die Konfrontation, zu der es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zwischen dem deutschen und dem französischen Nationalismus kam, von dem Streit um gerade die Grenzgebiete am Rhein verursacht wurde, in denen die französische Judenfrage ihren Ursprung hatte. Der Krieg um Elsass-Lothringen 1870 wurde an allen Fronten ausgekämpft, auch an der intellektuellen. Während die Kriegshandlungen innerhalb einiger Sommerwochen vorüber waren, sollte der Streit über die Rechtmäßigkeit der Annexion mit ins nächste Jahrhundert übernommen werden. Ernest Renan, der in Georges Brandes Gegenwartsbericht über das französische Geistesleben als »Frankreichs feinster Geist« bezeichnet wird, war zusammen mit Prinz Napoleon im norwegischen Bergen, als die Delegation auf ihrem Weg nach Spitzbergen die erste Nachricht erreichte, dass alles auf einen Kriegsausbruch hinauslief.2 In Tromsø wartete wenige Tage später ein neues Telegramm mit der Nachricht, dass der Krieg mit Bismarck nicht zu vermeiden sei. Die Meldungen über die demütigende Niederlage schockierte Renan, der »in seinem Heimatland vor allem deutsche Gedanken und deutschen Geist verfocht«. Nachdem Repräsentanten von Elsass und Lothringen sich geweigert hatten, die Übertragung der beiden Provinzen an das Deutsche Kaiserreich anzuerkennen, stürzte sich Renan in den Kampf um den Nationsbegriff, einen Streit, den er mit einigen der führenden Gestalten innerhalb der deutschen Hochkultur auskämpfen sollte, darunter dem Historiker Theodor Mommsen, der die Annexion mit wissenschaftlichen Argumenten über das
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ortsübliche Wesen des Menschen und die Verankerung in kollektiven Ausdrucksformen wie Sprache, Rasse und historischer Tradition begleitet hatte. Der Auftakt zu Renans langjährigem Engagement im Nationalismusstreit wurde in dem Artikel La Guerre entre la France et lʼAllemagne (1870) formuliert, gefolgt von Lettre à M. Strauss (1870). Adressat des Briefes war David Friedrich Strauss, Renans Kollege in der »Leben-Jesu-Forschung«, die sich, wie sie es sahen, darum drehte, den historischen Jesus von dem Christus zu befreien, der, inspiriert von mythischen Vorstellungen, im Alten Testament in den Evangelien verkündet wurde. Zwölf Jahre später fasste Renan seine prinzipielle Position in dem le gendären Vortrag Quʼest-ce quʼune Nation? (1882) zusammen. Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, dass es üblich geworden ist, zwischen einem poli tischen Nationalismus, empfangen während der Französischen Revolution, und einem kulturellen Nationalismus mit Wurzeln in der deutschen Romantik zu unterscheiden; zwischen der Nation als Vertrag und der Nation als Geist. Der kulturhistorischen Argumentation dafür, dass Elsass-Lothringen zu Deutschland gehöre, hatte Renan das Selbstbestimmungsrecht des Volkes entgegengesetzt. Die Abrechnung mit Deutschland, wobei Renan unbestreitbar auch die französischen Interessen in dieser Angelegenheit vertrat, war gleichzeitig eine Fortsetzung des Krieges mit intellektuellen Mitteln. Das organische Verständnis von der Nation, die Huldigung an »die mütterliche Wärme der Vorurteile«, wie man sie bei einem reaktionären Denker wie Joseph de Maistre findet, sind bei ihm ebenso französisch wie sie bei Herder deutsch sind.3 Renans Abrechnung mit den deutschen Nationalisten und liberalen Humanisten Strauss und Mommsen, die vor der deutsch-französischen Debatte die Rechte der Juden verteidigt und eine versöhnliche Haltung gegenüber dem Judentum eingenommen hatten, kann daher mit ein wenig Wohlwollen auch als eine Abrechnung mit einem Frankreich gelesen werden, das in der Schmach über die nationale Katastrophe sich selbst entlang einer ideologischen Demarkationslinie neu wählen muss, was wenige Jahre später in der Dreyfus-Affäre veranschaulicht werden sollte.4 Renans Abrechnung wohnte ein selbstkritisches Potenzial inne, und das in doppeltem Sinne: im Namen der Nation, aber auch im eigenen Namen, von einem führenden Intellektuellen, der selbst als »der echte wissenschaftliche Garantist des arischen Mythos in Frankreich« figuriert hatte.5 Durch die zwangsmäßige Einverleibung der Elsässer in die deutsche Nation hatte Renan entdeckt, dass die Vorstellung
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vom Primaten des Volksgeistes »der gefährlichste Sprengstoff der modernen Zeit« war.6
Renan, Gobineau und der Rassismus Als der vielleicht bedeutendste Forscher der Zeit innerhalb der semitischen Sprach- und Kulturgeschichte, der er war, übte Renan durch seine historisch-kritischen Schriften über die hebräische Antike in der Mitte des 19. Jahrhunderts starken Einfluss aus. Zusammen mit dem großen Autor der französischen Nation, dem Historiker Jules Michelet, trug er zu einer Fortführung der Religionskritik Voltaires und der Denker der Aufklärung bei. Für Michelet, der aus seiner Verachtung des Judentums kein Geheimnis machte, war die Vorstellung, dass es ein auserwähltes Volk geben sollte, das in einer besonderen Beziehung zu dem allmächtigen Gott stand, anstößig. Nicht weniger verächtlich hob er in seiner chauvinistischen Prosa hervor, dass es ausgerechnet die Juden – mit all ihren Gebrechen – seien, die sich auf diese exklusive Gunst beriefen. Renan folgte Michelet nicht in dessen offensichtlicher Verachtung für das Judentum, er sollte aber durch seine klassifikatorischen Festlegungen, die aus der komparativen Philologie stammten, entscheidend zur Entwicklung der begrifflichen Werkzeuge beitragen, die dann von rassistischen Publizisten wie Graf Arthur de Gobineau, Henri Roger Gougenot des Mousseaux und später Edouard Drumont in Gebrauch genommen wurden. Es ist das Werk, mit dem Renan seinen Durchbruch erlangte, Histoire générale et système composée des langues sémitiques (1845), in dem die An thropologie in die Sprachhistorie einzieht, oder umgekehrt, in dem ethnografische Eigenarten von den Eigenarten der Sprachen abgeleitet werden. Während das strenge und trockene Klima unter einer gnadenlosen Sonne die Semiten einfach und fanatisch gemacht habe, habe die Sprache sie daran gehindert, die Fähigkeit zu abstraktem Denken und metaphysischer Spekulation zu entwickeln. Renan zufolge sei es unmöglich, sich einen Aristoteles oder einen Kant mit einem vergleichbaren Werkzeug vorzu stellen. Auch wenn er den Semiten dafür andere Qualitäten zuerkennt – die monotheistische Religion kam von den Semiten – konstatiert er, dass die semitische Rasse allen voran durch negative Eigenschaften gekennzeich net sei:
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Die semitische Rasse erscheint uns kraft ihrer Einfachheit mangelhaft. Sie verhält sich, will ich wagen zu behaupten, zu der indoeuropäischen Familie wie die Zeichnung zur Malerei oder wie gewöhnlicher Gesang zu moderner Musik. Ihr fehlen das Register, die Variationen, der Überfluss des Lebens, die notwendig sind, um das Vollkommene zu erreichen.7
Während der junge Renan kritisch dahingehend war, ob die Franzosen vielleicht ihr Interesse für ihre ethnischen Wurzeln verloren hatten, und sich darüber beklagte, dass sie, im Gegensatz zu den Deutschen, zu wenig Interesse an der Rassenfrage hatten, sah er dies gegen Ende seines Lebens anders.8 Als Gobineaus Essai sur lʼinégalité des races humaines zwischen 1853 und 1855 erschien, hatte er dies mit Begeisterung begrüßt. Gobineaus einflussreiches Werk – es hat fast 1000 Seiten – wurde auch von seinem Freund Alexis de Tocqueville gehuldigt, der ihn damit getröstet haben soll, dass die Aufnahme in Deutschland die fehlende Reaktion in Frankreich kompensieren würde. Und es ist nicht wenig deutsches Gedankengut, das sich in Gobineaus Werk findet. Die Vorstellung, dass die Sprachen westlich von China in zwei Stammbäume eingeteilt werden können – einen indoeuropäischen oder arischen und einen semitischen –, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von deutschen Orientalisten entwickelt worden, die die überlieferten Wahrheiten aus der Bibel mit der historischen Wissenschaft über den Ursprung der Völker vereinen wollten. Das christliche Fazit fand sich in der Erzählung von der Sintflut. Die Menschheit stamme von Noahs drei Söhnen ab, Sem, Ham und Jafet. Die Bezeichnung semitisch für die Sprachen, die von Völkern gesprochen wurden, die das Gebiet vom Euphrat bis zum Mittelmeer und von Mesopotamien bis Arabien bewohnten, wurde erstmals 1781 von August Ludwig Schlözer in einem Essay verwendet. Die Semiten waren angeblich Nachkommen des ältesten Sohnes, Sem. Renan warnte vor der Bezeichnung, weil nahezu die Hälfte der Völker, die in der Bibel als Sems Nachkommen aufgelistet werden, und folglich in biblischem Sinne »Semiten« waren, bereits zu Zeiten Renans aus der semitischen Sprachgruppe herausgefallen waren. Der Begriff war allerdings bereits derart eingearbeitet, dass auch er selbst ihn weiter verwendete. Hingegen sollte ein anderes Missverständnis weitaus ernstere Konsequenzen haben. Dabei handelt es sich um Renans eigene »Entdeckung«, die Gobineau weiterentwickelt hatte: Die Vorstellung davon, dass es eine enge Gemeinsamkeit zwischen den semitischen Sprachen gab, weil sie einer ursemitischen Sprache im Nahen Osten entsprangen, führte dazu, dass man
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hieraus darauf schloss, dass es auch eine rassenmäßige Gemeinschaft gäbe, und dass diese Gemeinschaft fundamental anders sei als das, was die indoeuropäischen Volksgruppen konstituiere. Das Problem wuchs, nachdem der Rassenbegriff sich von der Bezeichnung einer kulturellen Gemeinschaft in weiterem Sinne zu einem biologisch begründeten Charakteristikum entwickelte. Damit stand der Weg offen dafür, die kulturellen, religiösen und ethnischen Vorurteile, die in den schablonenhaften Vorstellungen von den Juden abgespeichert waren, durch ererbte Eigenschaften zu erklären. Dementsprechend schuf die kollektive Selbstverherrlichung, die ein untrennbarer Teil aller Nationalstaatsgründungen ist, die Grundlage für das Zelebrieren eines arischen Mythos. Die sogenannte physische Anthro pologie sollte sich innerhalb weniger Jahre zu einer Modewissenschaft entwickeln, die sich im Besitz des Schlüssels zum Verständnis der Eigenart der Völker wähnte. Einer der bedeutendsten Kenner der semitischen Sprachen unserer Zeit, Bernard Lewis, hat diesen Kurzschluss – nach dem sich sprachlich und kulturell bedingte Gemeinsamkeiten und Unterschiede dazu eignen, den Wert des Menschen ausgehend von Vorstellungen über kollektiv ererbte Eigenschaften zu unterscheiden – als einen der unglückseligen Irrtümer der komparativen Philologie bezeichnet. Das hat später zu der missverstandenen Schlussfolgerung geführt, deren Echo man in der heutigen Debatte vernehmen kann, dass Araber unmöglich Antisemiten sein können, weil sie selbst Semiten seien. In Wirklichkeit handelt es sich um einen fehlgeschlagenen Rassenbegriff, der uns noch immer, lange nach seinem Entstehen, rhetorische Streiche spielt, wie er es bereits zu Lebzeiten Renans tat. Es ist indessen wichtig, sich daran zu erinnern, dass weder G obineaus noch Renans theoretisches Denken über die Unterschiede der Rassen von antijüdischer Agitation begleitet waren. Gobineau ließ sich später von seinen Bewunderern von den Konsequenzen seines Werkes überzeugen – allen voran Richard Wagner – und nahm in den 1870er Jahren eine deutlichere antijüdische Haltung ein. Renan hingegen widersetzte sich rassistischen Auslegungen der ethnografischen Grenze zwischen semitischer und arischer »Rasse«, die er ursprünglich selbst gezogen hatte. Er unterstützte die politischen und zivilen Rechte der Juden, und machte deutlich, dass sein Begriff von der semitischen Rasse auf das Volk der Antike bezogen war und nicht auf die assimilierten Juden der Gegenwart angewendet werden konnte.
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Katholischer und sozialistischer Antisemitismus Der Judenhass in Frankreich im Vorfeld der Dreyfus-Affäre war indessen keine Frage der wissenschaftlichen Haltbarkeit des Rassismus. Die Agitation gegen die Juden, die in den 1880er Jahren eine so verblüffende Durchschlagskraft erlangte, konnte aus zwei anderen Quellen Nahrung ziehen. Die eine war sozialistisch und republikanisch. Die andere war katholisch und königstreu. Der Hass des französischen Proletariats auf die »Geldjuden« war über das Jahrhundert hinweg von sozialen Reformern wie Charles Fourier und Pierre-Joseph Proudhon am Leben erhalten worden. Für den sozialistischen Patrioten Proudhon war die jüdische Rasse der eigentliche Feind der Arbeiterklasse und die Verkörperung von allem, was fremd und deshalb böse war. Es seien die Juden, die die bürgerliche Klasse nach ihrem eigenen Bild umgestaltet hätten. Proudhons Programm zur Lösung des Judenproblems war resolut und stand den Maßnahmen, die später im Europa des Nationalsozialismus umgesetzt werden sollten, kaum in etwas nach: Fordert deren Ausweisung aus Frankreich, mit Ausnahme derer von ihnen, die mit französischen Frauen verheiratet sind. Reißt die Synagogen ab, gebt ihnen keine Erlaubnis zu irgendeiner Form von Arbeit und fahrt letztendlich mit dem Verbot der Religion fort. Die Christen haben sie nicht umsonst Gottesmörder genannt. Der Jude ist der Feind der Menschheit. Die Rasse muss zurück nach Asien geschickt oder ausgerottet werden.9
Im katholischen Lager kam es um 1880 zu einem Umschwung in der antijüdischen Agitation, und es ist naheliegend, diesen in einem Zusammenhang mit dem Wechsel von Papst Pius IX. zu Papst Leo XIII. zu sehen. Eine Chronik des katholischen Antisemitismus kommt indessen nicht um einzelne Ereignisse umhin, die mit dem Pontifikat von Papst Pius IX. in Verbindung stehen. Mit dem Buch Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peuples Chrétiens legte der katholische Publizist Henri-Roger Gougenot des Mousseaux 1869 einen gewaltigen Angriff gegen die Juden vor. Das Buch stellt eine Sammlung jüdischer Klischees ohnegleichen dar, alter und neuer, ein wahres Potpourri aus freien Konspirationsfantasien und »talmudischen« Quellenverweisen zweifelhafter Provenienz, kombiniert mit pseudowissenschaftlichen Belegen aus der Medizin. Gleichzeitig ist es ein von einer tiefen Ambivalenz
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verwüsteter Text. Bei Gougenot des Mousseaux ist es nur die Angst vor den böswilligen Ränken der Juden, die größer ist als die Bewunderung für die Vitalität ihres Genies. Der Text ist geprägt von einer übertriebenen Vorstellung von jüdischer Macht und Verschwörungsideen, die eine der Voraussetzungen dafür waren, dass die Dreyfus-Affäre die Dimensionen annahm, die sie letztendlich erhielt. Interessant ist das Buch vor allem, weil es die Widersprüche und die Ambivalenz im christlichen Antisemitismus so deutlich exponiert. Wichtig ist das Buch auch, weil es sich leidenschaftlich der Blutopfermythologie und den Verschwörungen hingibt, die angeblich von Isaac Adolphe Crémieuxs philanthropischer Organisation Alliance Israélite Universelle verantwortet wurden. Es handelt sich um das einzige antisemitische Werk des katholischen Lagers aus dieser Zeit. Zwar wurde das Buch bei seinem Erscheinen still übergangen, das sollte sich aber ändern, als es den Segen von Papst Pius IX. erhielt. In Bezug auf die Judenfrage ist Papst Pius IX. als einer der moderaten Kirchenoberhäupter in die Geschichte eingegangen. Unter seinem Pontifikat war die Agitation in Schach gehalten worden, gegen Ende seines Lebens gibt es jedoch mehrere Belege dafür, dass seine Haltung gegenüber den Juden von bitterer Resignation geprägt war. Er hatte nicht nur den Kampf um den Kirchenstaat aufgeben müssen, in seinen letzten Jahren hatte er sich auch von einer säkularen italienischen Republik belagert sehen müssen, die der Kirche jegliche machtpolitische Befugnis entzog. Als eine Konsequenz beschloss er, seine Füße nie mehr außerhalb der Mauern des Vatikans zu setzen. In derselben Stunde, in der das Juden-Ghetto in Rom fiel, war der Vatikan somit zum Ghetto des Papstes geworden! Bitterer konnte die Ironie kaum sein. Und das Ganze konnte, wie er selbst es sah, weitestgehend als der Preis ausgelegt werden, den er dafür zahlen musste, dass er 20 Jahre zuvor die Seele eines sechsjährigen Jungen gerettet hatte. Eines Nachts im Juni 1858 hatte die Polizei einen sechsjährigen jüdischen Jungen in Bologna mit Gewalt seinen Eltern weggenommen. Gemäß den Anweisungen der Inquisition wurde Edgardo Mortara in Rom in ein Kloster gebracht. Einem der lokalen Priester war zu Ohren gekommen, dass die katholische Haushaltshilfe den kleinen Jungen einige Jahre zuvor auf dem Krankenlager getauft hatte. Die Haushaltshilfe war von einem ortsansässigen Pater zum Verhör einbestellt worden, der die Sache an den Vatikan weitergeleitet hatte. Der Fall war keineswegs einzigartig, und die Kirche hatte klare Richtlinien dafür, wie in einem solchen Fall zu verfahren war.
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Es lag in der Verantwortung der Kirche, dass der Junge gemäß der kirchlichen Lehre erzogen wurde. Für Papst Pius IX. war es ebenso undenkbar, wie es für seine Vorgänger gewesen war, zu erlauben, dass ein christliches Kind von einer jüdischen Familie aufgezogen wurde. Sein Umfeld sah das anders. Die Zeiten hatten sich geändert. Rom stand in Wirklichkeit unter französischer Kontrolle, und das politische Regime beruhte nicht nur auf Gottes Gnade, sondern auch auf der Napoleons III. Neun Jahre zuvor hatten die Franzosen den Kirchenstaat wieder an den Papst übergeben, und seither hielten sie die säkularen nationalen Aufständischen in Schach, die für eine Einheit Italiens kämpften. Der klare Rat von Napoleon III., Edgardo Mortara der besorgten Familie zurückzugeben, war daher als ein Befehl zu verstehen. Der Papst verweigerte sich, unter Verweis auf sein Gewissen. Die Angelegenheit ließ sich nicht lösen, stattdessen trug sie dazu bei, den Prozess in Gang zu setzen, der 1871 mit der Auflösung des Kirchenstaates endete. Und in Frankreich mussten die Katholiken in den folgenden Jahren eine Reihe von Niederlagen in Kauf nehmen. Die Kirche wurde vom Staat getrennt und verlor sowohl die Kontrolle über die Schul- als auch die Scheidungsgesetzgebung. Diese Ereignisse trugen laut Poliakov dazu bei, das katholische Frankreich für die Wende vorzubereiten, die mit dem Pontifikat Leos XIII. 1878 kommen sollte. Ganz konkret waren es die Pogrome 1881 in Russland, die die Anlässe für die ersten verbalen Angriffe auf die Juden in Frankreich boten. Die katholische Zeitschrift Le Contemporain widmete sich bereits im Sommer desselben Jahres den Ereignissen in Russland, wobei sie die Schuld den Opfern gab: Warum die Juden? Was können sie getan haben, dass sie solcher Verfolgungen verdient macht? Das gleiche Phänomen findet man in Deutschland und Rumänien. Warum? In einem Versuch, Antworten auf die Fragen zu erhalten, alliierte sich die Zeitschrift mit einem gewissen Calixte de Wolski, der für das russische Regime arbeitete. Er hatte die Erklärung für die Gewalttaten parat. Die Pogrome waren ihm zufolge eine Antwort auf den Versuch der Juden, die Weltmacht zu übernehmen. Die Dokumentation, die aus der Fälschung Die Rede des Rabbiners stammte, sollte späterhin zusammen mit den Protokollen der Weisen von Zion weltweit Verbreitung finden. Derselbe Text, der vor den Pogromen verwendet wurde, um den Mob zu mobilisieren, wurde in Le Contemporain verwendet, um sie im Nachhinein zu legitimieren. Gleichzeitig startete auch die Civiltà cattolica – das inoffizielle Sprachrohr des Vatikans – eine aggressive antisemitische Kampagne,
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die jahrzehntelang anhalten sollte, zudem tauchten Zeitschriften auf, die sich in ihrer Gesamtheit ausschließlich dem Antisemitismus widmeten: Lʼantijuif 1881 in Paris und Lʼantisémitique 1883 in Montdidier.
Drumonts jüdisches Frankreich Der französische Antisemitismus, wie wir ihn zum Auftakt zur DreyfusAffäre kennenlernen, findet sein Sprachrohr indessen erst mit der Ver öffentlichung von Edouard Drumonts La France Juive (Das jüdische Frankreich) im Frühjahr 1886. Das Buch wurde zu einem unvergleichlichen Bestseller, und es ist vermutlich nur Ernest Renans Buch über das Leben Jesu, La vie de Jesus, das ihm um den Platz des Bestsellers des 19. Jahrhunderts Konkurrenz machen kann. Nicht weniger als 114 Ausgaben lagen bereits im ersten Jahr vor, und im Laufe der kommenden drei Jahrzehnte wurde das Buch in mehr als 200 Auflagen gedruckt. Ursprünglich war der Titel von einer Reihe von Verlagen abgelehnt worden, bevor es bei Flammarion herausgegeben wurde, nahezu als ein Freundschaftsdienst für einen der bedeutendsten Autoren des Verlages, Alphonse Daudet, auch dieser ein unverblümter Antisemit. Drumont war Journalist und besaß die Fähigkeit und Kraft, alle antijüdischen Strömungen der Nation – die rassistische, die katholische, die sozialistische – zusammen zu einer reißenden Flut zu vereinen. Drumont war es, der das Ganze zu einer großen Anklageschrift im Namen des Volkes zusammenfasste: die Ritualmordanklagen, die angebliche Gier, Verrat, Sittenlosigkeit und den Hass auf Christus, kurz gesagt die »Juderei«. Die Anklagen entsprangen dem verbreiteten Volksglauben, und daher hatte der Sprecher des Volkes auch keinerlei Bedenken, seitenlange Passagen aus anderen Texten einzuschieben, die dazu beitrugen, in seinem antisemitischen Volksbuch die Wahrheit über den großen Betrug zu beleuchten. 1892 lancierte Drumont seine propagandistische Wochenzeitung La Libre Parole »zur Verteidigung des katholischen Frankreich gegen Atheisten, Republikaner, Freimaurer und Juden«. Die Zeitung, die teilweise durch die Erpressung wohlhabender Juden finanziert worden sein soll, versetzte der öffentlichen Meinung Frankreichs bald einen Schlag. Als Auftakt zur Dreyfus-Affäre behauptete Drumont im Mai 1892, dass jüdische Offiziere niemals Bedenken haben würden, Militärgeheimnisse zu verraten. Ein
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jüdischer Kavalleriekapitän forderte Drumont daraufhin zum Duell heraus. Drumont wurde leicht verletzt, und einer seiner Unterstützer, Marquis de Mores, forderte daraufhin an Ort und Stelle einen der Zeugen, Kapitän Armand Mayer, zu einem neuen Duell heraus. Obwohl Mayers rechter Arm verkrüppelt war, war er zu stolz, um die Herausforderung auszuschlagen, und wurde erstochen. Zehntausende Pariser waren Zeugen der Beerdigungsprozession, die zu einer der stärksten Manifestationen gegen Rassismus in Frankreich überhaupt wurde. Drumont entschied sich, in seiner Zeitung zu Kreuze zu kriechen und bedauerte, dass der heldenhafte Offizier »nicht die Chance bekommen hatte, sein Blut im Dienste des Vaterlandes auf dem Schlachtfeld zu opfern«. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Drumont bereits eine dreimonatige Verurteilung wegen Verunglimpfung des Vizepräsidenten des Parlaments, Auguste Burdeau, eingehandelt, der sich Behauptungen in La Libre Parole zufolge von Baron Alphonse de Rothschild hatte bestechen lassen, um vorteilhafte Lizenzen der französischen Bank zu erneuern. Drumont war auch dazu verurteilt worden, die Behauptungen in 80 französischen Zeitungen zu dementieren. Sein journalistisches Gespür sorgte jedoch dafür, dass er stets einen neuen Skandal parat hatte, um seine Kritiker zu übertönen. Dieses Mal kam ihm der Panama-Skandal zur Hilfe. Anfang der 1880er Jahre waren französische Kleinaktionäre eingeladen worden, in den groß angelegten Bau des Panamakanals zu investieren, ein geplantes Monument der französischen Technologie und Geisteskraft, das der Welt den Weg in die Zukunft weisen sollte. 1889 war klar, dass das Kapital verloren war, das Projekt Konkurs gehen würde. Zudem hatten unzählige Arbeiter vor Ort sowie französische Ingenieure in dem Versuch, das visionäre Bauprojekt zu realisieren, ihre Leben verloren. Bestechungen, in die ein grandioses Netzwerk aus Parlamentariern, Journalisten und Finanzleuten involviert war, hatten die Sache jedoch unter dem Deckel gehalten, bis Drumont ab September 1892 in einer Serie von Artikeln das Gift streute. Unter den Finanziers befanden sich auch Juden, und La Libre Parole bog die Sache so hin, dass ihre Version den wildesten Konspirationsfantasien, dass der einfache Franzose ein weiteres Mal Opfer der jüdischen Macht in Presse, Parlament und Finanzwelt geworden sei, Nachdruck verlieh. Der Panama-Skandal dominierte das Nachrichtenbild der französischen Presse über den Jahreswechsel hinaus. Als Korrespondent der Neuen Freien Presse berichtete Theodor Herzl fortlaufend aus Paris nach Wien über die Entwicklungen in dem Fall. Der
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Panama-Skandal drehte sich primär um einen realen Skandal, wobei La Libre Parole Korruption und Betrug in einem abenteuerlichen Umfang aufdeckte. Die meisten Menschen, jüdische Beobachter eingeschlossen, waren weit stärker an der politischen Wirklichkeit der Angelegenheit interessiert als an Drumonts antisemitischer Hetze. Dass Herzl das demagogische Klima dennoch nicht vollkommen unberührt ließ, geht aus einem Neujahrsbrief an den Schriftsteller Arthur Schnitzler hervor: »Ich glaube, im kommenden Jahr gibt es hier eine Revolution. Und wenn ich nicht rechtzeitig wegkomme, laufe ich Gefahr, erschossen zu werden, dafür, bürgerlich, deutscher Spion, Jude oder vermögend zu sein.«10 In den Reportagen, die er als Paris-Korrespondent schrieb, schildert Herzl den französischen Antisemitismus Anfang der 1890er Jahre jedoch nicht als eine drohende Gefahr in Paris. Im September 1892 widmete er dem Phänomen, das er, in dem Versuch die Verschiedenartigkeit des französischen Antisemitismus von dem russischen und dem deutschen hervorzuheben, beinahe bagatellisierte, einen ganzen Artikel: Man dürfe sich nicht davon verwirren lassen, dass man die gleiche Bezeichnung benutze, schreibt er und stellt fest: »Es ist ein Kern gesunder Vernunft und Gerechtigkeitssinn in dem französischen Volk […]. Hier wird die Bewegung verschwinden, wenn nicht ohne Exzesse und individuelle Katastrophen.«11 Viele Kommentatoren der Nachwelt schätzten dies anders ein. Hannah Arendt schreibt, dass das Klima in Paris in den 1880er und 1890er Jahren in vielerlei Hinsicht an die Zustände in Zentraleuropa 30 bis 40 Jahre später erinnern konnte. Es war in Frankreich, wo der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, behauptet sie.12 Poliakov gibt ihr ein Stück weit recht. Nirgendwo wurde eine entsprechend große Anzahl antisemitischer Pamphlete publiziert, nirgendwo erreichten die antise mitischen Schriften höhere Auflagen und stärkeren Widerhall in der öffentlichen Meinung als in Frankreich. Und das, obwohl dessen jüdische Bevölkerung zu dieser Zeit nur 40.000 Personen zählte und nicht mehr als 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte.13 Gleichzeitig macht Poliakov aber klar, dass die Dreyfus-Affäre, so wichtig sie auch werden sollte, dennoch vernünftigerweise nicht als »eine Generalprobe des Völkermords des Dritten Reiches« bezeichnet werden kann. Auch unterschied sich seiner Meinung nach die Haltung zum Antisemitismus in Frankreich von der in Deutschland.14 Auch dafür kann die Dreyfus-Affäre nämlich als Beispiel dienen.
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Die Dreyfus-Affäre Hauptmann Alfred Dreyfus wurde im Oktober 1894 verhaftet. Er wurde verdächtigt, Militärgeheimnisse an die deutsche Armeeführung verraten zu haben. Im Dezember desselben Jahres landete der Fall erstmals vor Gericht. Dreyfus wurde wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt und auf die Teufelsinsel deportiert. Der Prozess an sich war innerhalb weniger Tage erledigt, und trotz entgegengesetzter Versicherungen des Offiziers nahm man damals an, dass er schuldig war.15 Theodor Herzl berichtete vom erstinstanzlichen Prozess als Korrespondent, und es ist interessant festzustellen, dass die Reportagen von diesem in einem nüchternen, berichtenden Ton gehalten sind. Nichts in Herzls Artikeln deutet explizit die Unschuld des Hauptmanns an, nichts außer Dreyfus’ eigenen Worten: »Ich schwöre und erkläre, dass Sie einen unschuldigen Mann degradieren. Vive la France!« Sympathie für den Verurteilten scheint jedoch bei der Schilderung der öffentlichen Degradierungszeremonie am 5. Januar hindurch: »Diejenigen hingegen, die faktisch Zeugen der Degradierung gewesen sind, verließen die Zeremonie in einem sonderbaren, aufgeregten Zustand. Der verwunderliche resolute Auftritt des degradierten Hauptmanns hatte auf viele der Augenzeugen einen tiefen Eindruck gemacht.«16 Erst 1897 wurde der Fall zu einer Affäre, und zwar durch die Forderung nach einer Wiederaufnahme. An diesem Punkt wird die Dreyfus-Affäre interessant, denn sie mobilisierte nicht nur den weitverbreiteten Antisemitismus, sondern auch den Widerstand anderer, nicht minder weiter Teile der Bevölkerung gegen den Antisemitismus und den Rassismus. Sie erhielt eine Bedeutung, die sie zum Lackmustest einer ganzen Reihe von verwandten Fragen machte. Die Dreyfus-Affäre ist für immer mit dem offenen Brief des französischen Schriftstellers Émile Zola, J’accuse …!, an den Präsidenten der Französischen Republik, Félix Faure, in Georges Clemenceaus Wochen zeitung L’Aurore verbunden. Jedoch war es der französisch-jüdische Anarchist Bernard Lazare, der zuerst öffentlich argumentierte, dass das Urteil ein Justizmord war.17 Ebenso wie bei Herzl fand sich in Lazares unmittelbaren Kommentaren zu dem Fall nichts, das andeutete, was kommen sollte. Er war 1886 im Alter von 21 Jahren nach Paris gekommen und hatte sich mit seiner eigenen unabhängigen Agenda schnell als ein energischer Polemiker erwiesen. 1892 hatte er seine eigene anarchistische Zeitschrift gegründet. Er war revolutionär
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Abb. 15: Eine antisemitische Darstellung von Alfred Dreyfus am Galgen. Dank einer Mobilisierung, die selbst zum Anschauungsunterricht in intellektuellem Engagement wurde, angeführt von Bernard Lazare und Émile Zola, wurde Dreyfus reingewaschen und freigelassen. Die Affäre aber, die seinen Namen trägt, spaltete Frankreich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.
und antireligiös und dem Judentum gegenüber ebenso respektlos wie dem Christentum gegenüber. Gleichzeitig hatte ihn Drumonts antisemitische Propaganda gezwungen, sich eine ausgeprägte französische Verteidigungsstrategie auszudenken. Indem er eine scharfe Grenze zwischen Juden und Israélites – genuinen Franzosen jüdischer Herkunft – mit Referenzen hinein in die Zeit Napoleons zog, zog er gleichzeitig eine klare Front gegen den Antisemitismus auf der einen Seite, der alles Jüdische ablehnte, und einer jüdischen Solidarität auf der anderen Seite auf, die im Widerstreit mit den
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nationalen Interessen der Republik stand. Ebenso gnadenlos wie er in seiner Hetze gegen die »Horden« von Immigranten war – »Frankfurter Geldwechsler, russische Rentiers, polnische Barkeeper und galizische Pfandleiher« –, ebenso kompromisslos war er in seiner Verteidigung der staatsbürgerlichen Rechte für die verwurzelten französischen Juden.18 1894 veröffentlichte er eine kontroverse Studie über die Geschichte des Antisemitismus, worin er seinen Glauben an eine nationale Lösung der Judenfrage bekundete. Lazars Analyse zufolge war die Judenfrage eine Frage nationaler und sozialer Konflikte, die mit der Revolution verschwinden würden. Und ebenso wie bei Moses Hess vor ihm war das revolutionäre Element im Judentum das Zentrale des hebräischen Geistes – von der Bibel bis zu Marx und Lasalle. Ernsthaftes Engagement in der Dreyfus-Affäre zeigte Lazare erst nach der Urteilsverkündung. Das Schicksal eines Offiziers aus einer reichen jüdischen Familie betraf ihn nicht, die mit antijüdischen Schlagworten gespickte Kampagne, die die Anschuldigungen gegen Alfred Dreyfus zu einem Urteil über alle Juden verwandelte, allerdings schon. Der Direktor des Santé-Gefängnisses – wo Dreyfus in Erwartung, dass man ihn ins Exil auf die Teufelsinsel schickte, in Gewahrsam saß – empfahl der Familie, Kontakt zu Lazare aufzunehmen, da er als ein effektiver Fürsprecher für mehrere der inhaftierten Anarchisten fungiert hatte. Lazare stürzte sich auf die Sache, und im Laufe des Frühjahrs 1895 arbeitete er sich durch die Akten des Falls. Das daraus entstandene Pamphlet wurde von der Familie jedoch in die Schublade gelegt, in der Hoffnung, dass diplomatische Kanäle sich als effektiver erweisen würden. Im Herbst 1896 hatte sich die Strategie als ergebnislos erwiesen, und Mathieu Dreyfus, der Bruder des Offiziers, gab Lazare die Erlaubnis, die Sache in die Öffentlichkeit zu bringen. Lazare verfügte über eine solide Dokumentation und seine Schlussfolgerung in dem Pamphlet Une erreur judiciaire war eindeutig: Dreyfus’ Verrat bestand nur darin, dass er Jude war. Sagte ich nicht, dass Hauptmann Dreyfus einer Pariaklasse angehört? Er war Soldat, aber er war auch Jude, und rechtlich verfolgt wurde er vor allem als Jude. Weil er Jude war, wurde er verhaftet, weil er Jude war, wurde er unter Anklage gestellt, weil er Jude war, wurde er verurteilt, und weil er Jude ist, können sich die Stimmen der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht in seinem Namen erheben.19
Lazares Pamphlet war das Ende des Falls und der Anfang dessen, was zur Affäre werden sollte. Er forderte Drumont zum Duell heraus – das ausge-
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kämpft wurde, ohne dass einer von beiden zu Schaden kam – und er zog die lichtscheuen Verschwörungsaspekte des Falls ins Licht der Öffentlichkeit. Nicht nur gegen den Willen des politischen und des militärischen Establishments, sondern auch gegen den des jüdischen, das befürchtete, der Lärm würde Schlimmes noch schlimmer machen. Der Lärm kam indessen auch aus dem Inneren des französischen Heers. Der neue Kommandant des Nachrichtendienstes, Oberstleutnant Georges Marie Picquart (1854–1914), war unabhängig von Lazare zu dem Schluss gekommen, dass Dreyfus unschuldig war, und forderte eine Wiederaufnahme des Falls, sodass der Schuldige, ein Offizier namens Esterhazy, bestraft werden konnte. Stattdessen begannen seine Vorgesetzten Beweise zu fabrizieren, die sie an die antisemitische Presse weiterleiteten. Es handelte sich um den verzweifelten Versuch, die Ehre des französischen Heers zu retten, indem sie verhinderten, dass der Fall in seiner ganzen Breite erneut aufgerollt wurde. Das Kriegsgericht leitete eine Untersuchung ein, die zu dem absurden Schluss kam, dass Esterhazy freigesprochen wurde, während Picquard wegen des Verrats vertraulicher Informationen verurteilt wurde.20 Die Dreyfus-Affäre war nicht nur ein Streit darüber, was wahr war. Sie war ebenso ein Streit darüber, welche Wahrheiten relevant waren. Antisemitische Fahnenträger wie Edouard Drumont und Charles Maurras und seine rechtsnationale lʼAction Française interessierten sich nicht dafür, ob Dreyfus schuldig war oder nicht. Der Punkt war, dass das Heer eine heilige Institution war, die nicht getadelt werden konnte, ohne gekränkt zu werden. Und bereits hier habe Dreyfus seine hinterlistige Natur und seine eigentliche Schuld als Jude verraten. Ein wahrer Patriot hätte eingesehen, dass die Interessen der Nation Vorrang vor denen des Individuums haben. Wäre er ein guter Offizier und kein hinterlistiger Jude gewesen, hätten er und seine Unterstützer längst die Konsequenz gezogen, dass er den Interessen der Nation am besten diente, indem er das Urteil akzeptierte. Gemäß dieser Logik wuchs Dreyfus’ Schuld proportional zu der Skandalisierung, die die Geschichte über seine faktische Unschuld dem französischen Heer zufügte. Zu dem Zeitpunkt, als Émile Zola zum Stift griff, im Januar 1898, hatte sich die antisemitische Mobilmachung landesweit in Angriffen auf jüdische Ladenlokale und Geschäfte ausgewirkt, der schuldige Offizier war freigesprochen, und die unschuldigen Offiziere, Dreyfus und Picquard, saßen im Gefängnis. All das im Namen der Republik. Es ist diese nationale Lüge, die
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Zola den Präsidenten der Republik anklagt, sich nicht mit ihr auseinandersetzen zu wollen: Heute sehen wir den Beginn der Sache. Vor dem heutigen Tag sind die Positionen nicht klar gewesen: auf der einen Seite die Schuldigen, die das Licht scheuen; und auf der anderen die Praktiker der Gerechtigkeit, die ihr Leben dem widmen wollen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich habe es bereits gesagt und ich wiederhole es hier: Wenn die Wahrheit unter den Teppich gekehrt wird, wird ihr Druck nur zunehmen und eine so mächtige explosive Kraft annehmen, dass sie, wenn sie einmal explodiert, alles in die Luft schleudern wird. Wir werden sehen, ob sie nicht den Boden für das tiefste aller Unglücke bereitet haben, dass sich noch im Werden befindet.21
Zola beendete seinen flammenden Appell mit der Bitte, gerichtlich verfolgt zu werden. Und in diesem Punkt wurde er erhört. Auch für ihn sollte die Dreyfus-Affäre nicht ohne persönliche Kosten bleiben. Der große, gefeierte Schriftsteller wurde wegen Verleumdung zu einem Jahr Gefängnis und einem Bußgeld in Höhe von 3000 Franc verurteilt. Aufgrund eines Fehlers in der Sachbearbeitung musste der Fall erneut vor Gericht behandelt werden. In der Zwischenzeit begab sich Zola ins Exil nach England. Im Juli desselben Jahres wurde er zu einem höheren Bußgeld und einer kürzeren Gefängnisstrafe verurteilt. Gleichzeitig wurde ihm sein Orden in der Ehrenlegion aberkannt. Aber der Kampf, in dem sich nach und nach Intellektuelle in ganz Europa engagierten, war nicht vergeblich. Der Dreyfus-Fall selbst wurde im Sommer 1899 vor dem Kriegsgericht erneut verhandelt. Dieses Mal in Rennes. Erneut wurde Dreyfus verurteilt, aber das Urteil war nicht einstimmig. In den Urteilsprämissen wurde Gewicht auf mildernde Umstände gelegt, und das Strafmaß von lebenslang auf zehn Jahre reduziert. In der europäischen Presse wurde das Urteil verhöhnt. Gleichzeitig eröffnete ein politischer Regimewechsel in dem internationalen Skandal, zu dem sich der Fall entwickelt hatte, die Möglichkeit einer politischen Lösung. Dreyfus akzeptierte, aufgrund schlechter Gesundheit begnadigt zu werden, ohne jedoch den Kampf für einen vollen Freispruch aufzugeben. Im Sommer 1900 beschloss die französische Nationalversammlung ein Gesetz, das allen, die in die Affäre involviert waren, Amnestie erteilte. 1906 wurde Dreyfus von einem Appellationsgericht von allen Anschuldigungen reingewaschen, das alle früheren Urteile für ungültig erklärte. Émile Zola starb 1902 in seiner Wohnung an Kohlenmonoxidvergiftung. Ihm wurde als das Gewissen der Menschheit gehuldigt. Nach seinem Tod
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wurde er wieder in die Ehrenlegion aufgenommen. Im Jahr darauf starb Bernard Lazare – in Armut, nur 38 Jahre alt, ohne Orden, im Tod wie im Leben, bestenfalls in einer Fußnote der heroischen Geschichtsschreibung über die Geburt des modernen Intellektuellen erwähnt. Auf den Punkt gebracht, blieb von der Dreyfus-Affäre nur Folgendes übrig: Sie war eine beispiellose intellektuelle Mobilmachung in der europäischen Geschichte. Die Affäre sollte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in Frankreich die Schablone für alle geistigen Kämpfe bleiben. Aber es war auch eine andere Nuance, die in den Kampf zwischen den Dreyfusianern und den Antidreyfusianern hineinspielte und die Theodor Herzl als eine Eigenart des Antisemitismus französischer Manier ausgemacht hatte. So undenkbar, wie es für einen deutschen Antisemiten war, einem österreichischen Juden Satisfaktion in Karl Luegers Wien zuzugestehen, so undenkbar war es für einen Judenhasser wie Drumont, einem französischen Juden wie Lazare die Möglichkeit zur Genugtuung auf dem Schlachtfeld zu verweigern. Vielleicht trug auch dieser komische kleine Rest der sich der Etikette bewussten Anständigkeit, die in dem deutschen Monolog über die Judenfrage 30 Jahre später vollkommen abwesend war, zu dem Ergebnis bei. Das ist der Unterschied zwischen Pest und Cholera. Deshalb kam Dreyfus letztendlich frei. Im Namen der Gerechtigkeit. Wichtiger war dennoch, dass die Mobilmachung für Dreyfus zu einer Mobilmachung für die Republik wurde, die 1905 nicht nur einen endgültigen Schlussstrich unter die staatspolitische Macht der Kirche zog, sondern die auch die Antidreyfusianer brandmarkte. Nicht nur als Feinde der Juden – damit konnten sie leben –, sondern auch als Feinde Frankreichs.
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23. Die Protokolle der Weisen von Zion Um es gleich vorauszuschicken: die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Agenten der zaristischen, russischen Polizei in Paris verfasst. Obwohl verfasst zu viel gesagt ist, denn es handelt sich nicht nur um ein Falsifikat, sondern auch um eine ganze Serie an verborgenen Zitaten, Paraphrasen und Plagiaten. Und damit sind wir mittendrin in der langen Geschichte um die Entstehung der Protokolle, die an sich bereits derart viele Verschwörungsmomente aufweist, dass es fast ebenso schwer ist, ihr Glauben zu schenken wie den Protokollen selbst. Allein der chronologische Verlauf ist so komplex, dass die Entstehungsgeschichte zeitweise nicht von der Wirkungsgeschichte zu unterscheiden ist. Während das Buch geschrieben wurde, schrieb es bereits selbst Geschichte. Man könnte es als die gelungenste Köpenickiade der Kulturgeschichte bezeichnen. Allein verbietet sich dieser lockere Ton, waren die Konsequenzen doch zu katastrophal. Ebenso wichtig wie zu verstehen, warum es entstand, ist es zu verstehen, wie die vielen kleinen Komplotte um die Entstehung ineinander verwoben sind und zu einer solch historischen Kraft heranwachsen konnten. Nicht als Ergebnis einer gigantischen Verschwörung, sondern als Konsequenz vieler kleiner. Heute ist es für einen durchschnittlich begabten Leser beinahe unmöglich, nicht zu erkennen, dass die Protokolle der Weisen von Zion nicht das sind, wofür sie sich ausgeben. Dennoch konnten sie Jahrzehnt um Jahrzehnt als Dokumentation eines angeblichen Plans der Juden zur Übernahme der Weltherrschaft dienen – sowohl vor als auch nachdem sie in aller Öffentlichkeit unbestreitbar als Fälschung entlarvt wurden, zuerst von der Londoner Times 1921 in einer Artikelserie und anschließend durch eine gerichtliche Überprüfung in Bern 1934/35.1 Wofür gaben sie sich also aus? Hier erscheint es angemessen, das Wort an Lauritz Carlsen zu übergeben, dem dänischen Herausgeber von Nilus’ Jødefaren – de verdensberygtede jødiske protokoller (Die Judengefahr – die welt-
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weit berüchtigten jüdischen Protokolle), wie es auf der Titelseite heißt. Wir schreiben das Jahr 1920: Dieses Buch ist das meistgelesenste Buch der Welt, das meisterwähnte Buch, das aktuellste Buch, es ist das interessanteste Buch der Welt, weil es das aufschluss reichste Buch der Welt ist. – Es liefert nämlich nicht weniger als eine vollständige Enthüllung, Aufklärung und Erklärung darüber, wer die wahren – bisher verborgenen – Urheber des Weltkrieges, des Chaos und der Verwirrung sind, die in einigen Ländern herrschen, sowie den sinnlosen und gesetzeswidrigen Streiks und Unruhen, die in anderen Ländern herrschen.2
Das Buch besteht aus 24 »Protokollen«, die drei Hauptthemen verfolgen: Zunächst eine Kritik an der liberalen Ideologie, die gleichzeitig zu einem effektiven Instrument in der Strategie gemacht wird, die Gesellschaft von innen heraus zu zerstören. Anschließend eine relativ ausführliche Beschreibung der Intrigen und Methoden, die eingesetzt werden müssen, um eine weitere Auflösung der alten europäischen Gesellschaft zu sichern. Und letztendlich eine apokalyptische Beschreibung der durchkontrollierten Gesellschaft – der »Angstherrschaft« –, die als eine Konsequenz der endgültigen Machtübernahme der Weltgesellschaft durch die Weisen von Zion heranwächst. Diese drei Perspektiven sind im Text miteinander verflochten, der zeitweise sowohl diffus als auch voller innerer Widersprüche ist. Letzteres ist leichter zu verstehen, wenn man einen Blick für die Fäden der verschiedenen Textfragmente bekommt, aus der die Protokolle zusammengenäht sind. In Wirklichkeit dreht es sich nicht um einen Text, sondern um viele einander überlappende und anpassungsfähige Texte, die innerhalb ein und desselben Genres redigiert werden und die nach Zeit, Sprache und Ort zurechtgelegt werden. Der Schrift ist daher nicht zu glauben, es sei denn, man ist mit dem Aberglauben des Antisemitismus an die jüdische Allmacht ausgestattet – wie es in der Zwischenkriegszeit bei Millionen von Europäern der Fall war. In den 1920er und 1930er Jahren war es lediglich die Bibel, die in höheren Auflagen gedruckt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Buch seine historische Rolle scheinbar ausgespielt. Jedoch ist es zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer im Umlauf – nun im Wesentlichen in der arabischen Welt – und es wird noch immer versucht, es als endgültigen Beweis für weltumspannende Konspirationen der Juden und des Judentums zu verwenden.
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Die historischen Referenzen der Protokolle Im Laufe der Zeit haben wir gesehen, dass diverse Schablonen über die Juden auftauchten, die eine Furcht und eine Verachtung rechtfertigen konnten, die sich durch ihre manifeste Macht in der Gesellschaft nicht verteidigen ließen. Diese Stereotypien waren Konzentrate aktueller Feindbilder: Überall, wo subversive Kräfte in Bewegung waren, waren die Juden am dichtesten an der jeweiligen Quelle. Herrschte die Pest, waren es die Juden, die die Brunnen vergiftet hatten. Herrschte Revolution, waren es die Juden, die die Gemüter vergiftet hatten – von unten her durch Agitation, von oben her durch Missbrauch der Kapitalmacht. Herrschte Krieg, waren es die Juden, die Geheimnisse an den Feind verrieten. Aufgrund dieser allgegenwärtigen und unermüdlichen subversiven Tätigkeit war es naheliegend zu glauben, dass es einen übergeordneten Plan geben musste, eine durchdachte Strategie, um konkurrierende Religionen zu schwächen und sich nicht nur die nationale Gesellschaft zu unterwerfen, sondern die ganze Weltgesellschaft. Und wenn es sich so verhielt, war es da nicht wahrscheinlich, dass dieser Plan existierte, nicht nur in Form von Geständnissen, hervorgebracht unter Zwang der Art, wie der französische Konsul Ratti-Menton sie 1840 von den Juden in Damaskus erhalten hatte, sondern in Form von geheimen Protokollen, in denen das Ganze schriftlich festgehalten war? Es ist auffallend, dass die verschiedenen verschwörungstheoretischen Schriften, die den Protokollen vorgriffen und in sie eingingen, die zarten Versuche, jüdischer Gemeinschaften, sich über die Landesgrenzen hinweg zu organisieren, mit einer paranoiden Konsequenz überwachten. Hier wurde Ursache mit Wirkung verwechselt: Zuerst erfolgte Napoleons Einberufung zum Sanhedrin, danach die Gründung der jüdischen Hilfsorganisation Alliance Israélite Universelle Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch die erste Zusammenkunft und anschließende Organisation von Zionisten in Odessa nach den Pogromen Anfang der 1880er Jahre fand hier Beachtung. Jedoch erst mit dem Auftauchen der Zionisten in der internationalen Wahrnehmung während des Ersten Zionistenkongresses 1897 in Basel machten die Juden ihrerseits den ersten ernsthaften Schritt dahingehend, als politischer Machtfaktor sichtbar sein zu wollen. Diese epochemachende Begebenheit feuerte bei jenen, die das Judentum und den jüdischen Geist als eine alles überschattende Gefahr sahen, die Fantasie an. Worüber grübelten die
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Zionisten eigentlich nach, was für unsägliche Ränke, was für weltumstürzende Verschwörungen gärten da in Basel? Norman Cohn, der 1967 das Referenzwerk über die Protokolle der Weisen von Zion, Warrant for Genocide, schrieb, behauptet, dass der Mythos über eine jüdische Weltkonspiration in der modernen Zeit auf den französischen Jesuiten Abbé Barruel zurückgeführt werden kann. 1797 veröffentlichte dieser das fünfbändige Werk Mémoire pour servir à lʼhistoire du Jacobinisme, in dem die Französische Revolution als die Kulmination einer jahrhundertelangen Verschwörung von verschiedenen geheimen Gesellschaften interpretiert wurde, darunter der Tempelorden, die Freimaurer und bayrische Illuminati. Den Juden indessen wurde in dieser Darstellung keine spezielle Rolle zugewiesen. Erst einige Jahre später, nachdem das große Werk, dessen Thesen er weitestgehend von dem schottischen Mathematiker John Robison gestohlen hatte, ihn reich und berühmt gemacht hatte, fand das erste Steinchen im Puzzle der Protokolle seinen Platz. Barruel behauptete, einen Brief von einem Offizier aus Florenz erhalten zu haben, der sich J. B. Simonini nannte. Einigen Juden aus Piemont gegenüber habe sich Simonini als von jüdischer Herkunft ausgegeben. Als Kind sei er von seiner Familie getrennt worden, das starke Gefühl, durch das Band des Blutes mit seinem Volk verbunden zu sein, habe ihn jedoch nie losgelassen. Er habe das Vertrauen der Juden gewonnen und Schätze aus Gold und Silber zu sehen bekommen, die zur Belohnung derjenigen verwendet würden, die für die Sache der Juden kämpften. Wenn er sich bereit erkläre, Freimaurer zu werden, erhalte er das Versprechen, zum General befördert zu werden. Die Juden aus Piemont hätten ihn sodann in eine Reihe von Geheimnissen eingeweiht, sowohl über die aktuelle Machtbasis der Juden als auch über die langfristigere Strategie für die Übernahme der Weltherrschaft, mit allem, was das für die christliche Welt beinhaltete. Barruel erhielt den Brief angeblich 1806, unterließ es jedoch, ihn zu veröffentlichen, mit dem Hinweis, dass dies zu einem Massaker an den Juden führen könne. Hingegen ließ er ihn in Paris in einflussreichen Kreisen zirkulieren. Poliakov zufolge diente der Brief damit seiner Absicht: Ursprünglich war er von der französischen Polizei fabriziert worden, um Napoleon gegen die Juden aufzubringen.3 Die Jahreszahl ist alles andere als zufällig. Der Kaiser hatte soeben auserwählte Juden zum ersten Sanhedrin seit dem Fall des Tempels einberufen. Die Vorstellung, dass das oberste politische Organ der Juden über 18 Jahrhunderte hinweg intakt gewesen ist, und die
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Angst, dass Napoleon selbst nicht nur Jude war, sondern außerdem auch Antichrist, begann sich zu verbreiten. In der Zeitschrift der französischen Emigranten in London, LʼAmbigu, war im Oktober 1806 folgender Kommentar zu lesen: »Uns fehlt es nur Zeuge dessen zu sein, dass dieser Antichrist gegen Gottes ewige Verordnungen kämpft; das muss der letzte Akt seiner teuflischen Existenz sein.«4 Schnell wurde deutlich, dass Napoleon mit seinem jüdischen Rat einen ganz anderen Plan verfolgte, als die politische Macht des Judentums zu stärken. Der einmal gefasste Gedanke wollte seinen Griff deshalb aber nicht lockern. Gegen Ende seines Lebens soll Barruel seine Fantasien rund um die große Verschwörung zwischen den Juden und den Freimaurern weiterentwickelt haben. Nur wenige Tage bevor er 1820 starb, verbrannte er das Manuskript, aber nicht, ohne sich einem jüngeren Ordensbruder anzuvertrauen, der erst fast 60 Jahre später – 1878 – Barruels vertrauliche Mitteilungen über die revolutionäre Verschwörung veröffentlichte, in die der Simonini-Brief nur einen kleinen flüchtigen Einblick gegeben hatte.5
Von Biarritz zur Rede des Rabbiners Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchte ein Manuskript auf, dass Barruels Verschwörungstheorien weiterentwickelte. Dieses Mal handelte es sich um eine fiktionale Schrift, verfasst von dem deutschen Schriftsteller Hermann Goedsche, allerdings eine Fiktion, die bald mit dem Wasserzeichen der Authentizität ausgestattet werden sollte. Goedsche hatte seine Karriere im preußischen Postwesen aufgeben müssen, nachdem er als ein literarischer Falschmünzer entlarvt worden war. Nach den revolutionären Unruhen 1848 hatte er versucht, den demokratischen Anführer, Benedikt Waldeck, außer Gefecht zu setzen, indem er in Waldecks Namen Briefe verfasste, in denen Pläne für ein Attentat auf den König auftauchten. Als der Schwindel aufgedeckt wurde, wechselte Goedsche in die Redaktion des Sprachrohrs der Landbesitzer, Neue Preußische Zeitung. Späterhin schrieb er unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe Erzählungen. Ein Kapitel in dem Roman Biarritz sollte Retcliffe zu einem gefeierten Namen in der Ahnengalerie des Antisemitismus machen. In dem Kapitel »Auf dem jüdischen Friedhof in Prag« spielt sich im Mondschein ein Drama ab, das kein Motiv der romantischen Schauerlite-
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ratur auslässt. Vertreter der zwölf Stämme der Juden sowie ein dreizehnter Repräsentant für die Unglücklichen und Verbannten werden von einer Stimme aus dem Grab willkommen geheißen, während eine blaue Flamme ihre Gesichter erleuchtet. Seit ihrer letzten Begegnung war ein Jahrhundert vergangen. Kraft des Goldes hatte Israel seine Macht gestärkt, und der Tag, an dem die ganze Welt den Juden gehören sollte, war nicht mehr weit entfernt. Jetzt berichten sie einander von den Ereignissen, die sich im Laufe der Zeit zugetragen haben. Die Übernahme der Börsen hatte die Königshäuser und Regierungen Europas zu Schuldensklaven gemacht; die geplante Übernahme der großen Landgüter ist im Begriff, die Bauern zu den Sklaven der Juden zu machen; die Entwicklung der jüdischen Industrie hatte die Handwerker zu Fabrikarbeitern reduziert, die ideologischer Kontrolle unterliegen; die Propaganda für den freien Gedanken hatte die geistige Macht der Kirche untergraben; die Zeit sei gekommen, Anspruch auf die einflussreichsten Machtpositionen zu erheben, die militärischen Klassen zu bekämpfen und volle Kontrolle über das Justiz- sowie das Schulwesen zu erlangen, und es eile, den Rest der Presse zu übernehmen, damit sich die Massen voll und ganz steuern ließen. Die Zusammenkunft wird mit einem Appell beendet, sich treu an die gemachten Pläne zu halten, sodass ihre Enkelkinder sich in 100 Jahren treffen könnten, um zu feiern, dass es ihnen gelungen sei, alle Nationen der Welt zu Sklaven der zwölf Stämme Israels zu machen. Biarritz wurde 1868 veröffentlicht, und Norman Cohn sieht den Zeitpunkt der Veröffentlichung im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Abschluss der Emanzipation, der in Deutschland auf sich hatte warten lassen. Streng genommen betrafen die Veränderungen nur die 1,2 Prozent der Bevölkerung, die Juden waren, was von den 98,8 Prozent der Bevölkerung, die damit leben sollten, dass die Juden als vollwertige Deutsche akzeptiert wurden, jedoch nicht ohne Weiteres gebilligt wurde. In den norddeutschen Staaten wurden die Gesetzesänderungen 1869 verabschiedet, die Vereinigung Deutschlands 1871 führte jedoch dazu, dass die Emanzipation für das ganze Reich gültig wurde. Der Vereinigungsprozess wurde von einem enthusiastischen Nationalismus getragen, der durch den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg weiter gestärkt wurde. Dieser späte Nationalismus aber, der den Juden Platz machte, entfachte auch die antisemitische Glut. Jetzt – als der Kampf für die Emanzipation in Westeuropa scheinbar vollbracht war – geriet der moderne und politische Antisemitismus ernst-
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haft auf die Tagesordnung. Und Hermann Goedsches kleine Erzählung sollte sich dabei als ungewöhnlich nützlich erweisen. Bereits 1872 tauchte sie in St. Petersburg auf. Nun war das, was ein Kapitel in einem Roman gewesen war, zu einem Pamphlet geworden, das sich zwar offen als Fiktion ausgab, das aber nahelegte, in der Wirklichkeit zu wurzeln. Vier Jahre später erschien in Moskau eine ähnliche Ausgabe. 1880 erschien das Pamphlet in Odessa und Prag, und 1881 wurde es in Paris in der katholischen Zeitschrift Le Contemporain abgedruckt. Und da war nicht mehr von Fiktion die Rede. Alle Selbstgespräche waren zu einem Monolog zusammengefasst, der einem Rabbiner in Prag zugeschrieben wurde. Es wurde behauptet, der Text sei ein Auszug aus dem kommenden Buch eines britischen Diplomaten – Sir John Readclif! [sic!]. Wir können Norman Cohn dafür danken, dass Redcliffes weiteres Schicksal nachgezeichnet ist. Das geadelte Pseudonym begnügte sich in den kommenden Jahren nicht mit einer Karriere in der britischen Diplomatie. 1896 wurde er zum Chef rabbiner ernannt, bevor er in den folgenden Ausgaben der Rede Genugtuung erfuhr und für seinen unerschrockenen Kampf gegen die Juden gehuldigt wurde. In der ersten schwedischen Ausgabe der Rede des Rabbiners, die 1933 erschien, wurde er mit einem Nachruf, der feststellte, dass er sein Leben im Kampf gegen die große jüdische Verschwörung gelassen habe, schließlich zur letzten Ruhe gebettet. Da war der kleine Text bereits zu einem unumgänglichen Klassiker im antisemitischen Katechismus avanciert, der 1887 von dem Deutschen Theodor Fritsch als ein Handbuch in der Judenfrage ausgearbeitet worden war. Bis 1933 hatte er sich insgesamt in 100.000 Exemplaren verkauft. Es war jedoch in Russland, wo die Rede des Rabbiners zuerst große Bedeutung erlangen sollte. Im Vorfeld der Pogrome 1903 in Kischinew, die im westlichen Europa schockiert aufgenommen wurden, wurde dieser Text auf Anweisung des antisemitischen Publizisten P. A. Krusjewan verteilt. Nun wurde der Text erstmals zusammen mit einem anderen Text, nicht weniger obskuren Ursprungs, präsentiert, wobei die verschiedenen Variationen desselben Themas sich nun gegenseitig verstärkten. Jetzt entstand tatsächlich der Eindruck eines jahrhundertealten Plans für eine jüdische Weltherrschaft.
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Maurice Jolys Dialoge Ist die Geschichte über die Rede des Rabbiners in all ihrer Unbehaglichkeit noch einen Hauch komisch, so ist die Geschichte über die Protokolle der Weisen von Zion ein Lehrstück in schwarzer Ironie. Dieses Mal drehte es sich nicht nur um einen Roman, der den Anspruch erhob, ein authentisches Dokument zu sein. Jetzt drehte es sich außerdem um ein Plagiat, das manipuliert wurde, um fast das Gegenteil von der Idee der fiktiven Vorlage zu dokumentieren. Ein Pendant zu diesem grotesken Missbrauch eines geistigen Werkes kann die Literaturgeschichte kaum vorweisen. Und während das heldenhafte Original ein Dasein im Verborgenen fristete, erfuhr das Plagiat einen Durchbruch, der Weltgeschichte schrieb. Es war der Jurist Maurice Joly, der 1864 als eine verdeckte Abrechnung mit dem Polizeistaat von Napoleon III. den Dialogue aux Enfers entre Montesquieu et Machiavel verfasste. Die Abrechnung fand in Form von 25 ausgedachten Dialogen zwischen Montesquieu, der für die Ideen der liberalen Sache eintritt, und Machiavelli, der die zynische Staatsvernunft repräsentiert, statt. Das Buch wurde in Brüssel gedruckt und nach Frankreich hineingeschmuggelt. Die Abrechnung war jedoch nicht verdeckt genug, um die Polizei in die Irre zu führen. Das Buch wurde konfisziert und vernichtet und Joly verhaftet und zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Joly nahm sich 1879 das Leben. Er war indessen ein starker und überzeugender Stilist und ein visionärer Kritiker der autoritären Staatsordnung. Und hierin kann Norman Cohn zufolge zum Teil der Grund für die Faszinationskraft der Protokolle liegen. Es gibt ganze Passagen, die die redaktionelle Misshandlung überlebt haben und die der Entwicklung der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts vorgreifen. Jolys Dialoge waren nicht die einzige literarische Arbeit, die in die Protokolle hineinplagiiert wurde. Im Jahr nachdem Hermann Goedsche Biarritz veröffentlicht hatte, erschien in Frankreich, wie bereits erwähnt, Gougenot des Mousseaux’ monströse Abhandlung Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peuples Chrétiens. Eines der Hauptmotive, die dieser antisemitische Klassiker hervorhebt, ist die Vorstellung von den Juden als Teufelsanbeter. Mousseaux nahm einige stark verzerrte Vorstellungen über die Kabbala als Ausgangspunkt und legte die esoterische Richtung innerhalb der jüdischen Mystik als geheimes Wissen aus, das unter der Überwachung wechselnder jüdischer Großmeister innerhalb der Freimaurerei heimlich verwaltet
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wurde. Zum organisatorischen Zentrum wählte er die Alliance Israélite Universelle aus. Die humanitäre Organisation, die 1860 von Rothschild und Crémieux gegründet worden war, konnte mit ihrem prätentiösen Namen leicht als das geheime internationale Zentrum der jüdischen Verschwörung durchgehen. Mousseaux sah die Geschehnisse der Gegenwart in einer weltgeschichtlichen Perspektive und zog die Linien bis zurück in die biblische Urzeit. Auf der Basis von Textfragmenten aus den Büchern des Mose und dem zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher konstruierte er eine Linie von Kains Söhnen über Sekten mit dem Ursprung in unterschiedlichen Breiten graden – die Gnostiker, die Assassinen, der Tempelorden, die Freimaurer und die Kabbalisten – bis zur baldigen Ankunft des Antichristen in Gestalt eines jüdischen Messias. Das klingt heute unbestreitbar exzentrisch, was es auch bereits für die Leser der damaligen Zeit getan haben muss, auch wenn derart weitschweifige Perspektiven nicht beispiellos waren. Ebenso ist und bleibt es einer der unfassbarsten Aspekte des modernen Antisemitismus, dass er trotz seiner Einbettung in die Moderne, und scheinbar ohne den wissenschaftlichen Ansprüchen der rassistischen Lehre zu widersprechen, es schaffte, die obskursten Hirngespinste aus dem religiösen Mittelalter zu revitalisieren. Das geschah in den nächsten 75 Jahren wieder und wieder: im katholischen Frankreich mit begrenztem Erfolg, im orthodoxen Russland mit weitaus blutigerem Ausgang und schließlich im nationalsozialistischen und Götzen verehrenden Deutschland mit vernichtenden Konsequenzen. Mehr als irgendeine andere Schrift »dokumentierten« die Protokolle, dass die Weltgeschichte eigentlich die Geschichte einer Verschwörung sei, und dass es die Juden seien, die die Intrigen geschmiedet hätten.
Nilus und die ersten russischen Protokolle Die erste bekannte Ausgabe der Protokolle wurde im August 1903 in Form einer Artikelserie in der russischen Zeitung Znamya (Das Banner) in Regie von P. A. Krusjewan veröffentlicht. Über das Dokument wurde nicht viel mehr mitgeteilt, als dass es authentisch sei und ursprünglich aus Frankreich stamme. 1905 passierte dasselbe Manuskript unter dem Titel Die Wurzel der Probleme die Zensur in St. Petersburg. Im Jahr darauf wurde das Pamphlet mit neuem Titel, Die Feinde der Menschenrasse, in Regie der rechtsextremen
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und paramilitärischen Organisation Schwarze Hundert, die die Pogrome in Bessarabien anführte, erneut herausgegeben. In den folgenden Jahren wurden die Protokolle in der Region in mehreren Ausgaben und in Massenauflage gedruckt. Ungefähr zur gleichen Zeit – 1905 – erschien in Form eines Zusatzkapitels zur zweiten Ausgabe der autobiografischen Reiseschilderung in die Welt des Geistes, Das Große im Kleinen, des russisch-orthodoxen Mystikers Sergej Nilus eine sorgfältiger ausgearbeitete und internationale Ausgabe der Protokolle. Diese Ausgabe hatte wahrscheinlich den Zweck, Einfluss auf Zar Nikolaus II. auszuüben, der Mystik und alles Französische liebte. Sämtliche Herausgeber insistierten, dass die Protokolle französischen Ursprungs waren. Nilus genoss am Zarenhof zeitweise großes Ansehen. Um den Jahrhundertwechsel herum war er als ein heiliger Wanderer und Mystiker eingeführt worden, der dem Nihilismus der modernen Welt nach einer dramatischen Bekehrung den Rücken gekehrt hatte. Gleichzeitig war er ein despotischer Frauenheld, der seinen Grundbesitz verloren hatte, während er mit seiner Geliebten im Exil in Frankreich war. Mit Nietzsche als Götze war er als Freidenker und Kosmopolit aufgebrochen und als russisch-orthodoxer Nationalist zurückgekehrt. Eine Zeit lang war erwartet worden, dass seine Priesterweihe und seine kommende Ehe mit einer der Hofdamen der Zarin ihn zum vertraulichen Orakel der Familie machen würden. Stattdessen fiel er aufgrund von Geschichten aus seiner bunten Vergangenheit, die der Zarenfamilie zu Ohren kamen, eine Zeit lang in Ungnade. Daher musste das Ehepaar von einer Rente des Hofes in einer Villa leben, die dem Optina Pustyn, dem legendären Kloster angeschlossen war, das unter anderem aus Dostojewskis Roman über die Brüder Karamasow bekannt ist. Dort teilten Nilus und seine Frau das Haus mit einer seiner ehemaligen Geliebten und den vielen Jurodiwy, heiligen Idioten, denen das Kloster seine Pforten öffnete. In dieser Umgebung vertiefte der Fantast und Weise sich in die großen Verschwörungen, die sich im Zeitalter des Antichrist abspielten, während er vis-à-vis des Hofes beständig neue Offensiven vorbereitete.
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Ratschkowskis Ränke Das Große im Kleinen wurde am Hofe als eine Sensation aufgenommen. Das Exemplar des Zaren war am Rand voller begeisterter Notizen, und im ersten Jahr soll er es eine Zeit lang als eine Art politisches Handbuch verwendet haben. Auch in der orthodoxen Kirche war die Bereitschaft zu einer kritischen Lesart nicht sonderlich hoch. Auf Anordnung des Metropoliten wurden am 16. Oktober 1905 in allen 368 Kirchen Moskaus alle 24 Protokolle rezitiert.6 Nilus wurde als ein Seher gehuldigt, obwohl Nilus sie weder verfasst hatte noch vorgab, dies getan zu haben. Er behauptete, sie von einem Freund erhalten zu haben. Er selbst sei nur ein Medium. Der Freund heiße Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski. In dem Gespinst aus Lügen und Flunkereien verliert sich die Geschichte über die Entstehung der Protokolle schnell. Die meisten von ihnen wurden später jedoch mit dem nötigen Maß an Misstrauen und dem Anspruch auf Dokumentation untersucht. Zuerst auf Anordnung des Innenministers des Zaren, Stolypin, der Zar Nikolaus II. bereits im Jahr nach der Veröffentlichung mitteilen musste, dass die prophetische Schrift, der er so großes Vertrauen schenkte, eine Fälschung war. Die Reaktion bestätigte, dass er sie faktisch für authentisch gehalten hatte: »Die Protokolle müssen zurückgezogen werden. Wir können eine edle Sache nicht mit schmutzigen Mitteln verteidigen.« Die genaueren Details wurden jedoch erst im Rahmen des ersten Gerichtsprozesses bekannt, den die jüdischen Gemeinden in der Schweiz fast 30 Jahre nach der Veröffentlichung in Russland gegen die Führung der Schweizer Nazipartei anstrebten. 1934 und 1935 kam der Fall in Bern vor Gericht und der Prozess wurde zu einer rechtlichen Prüfung der Authentizität der Protokolle. Dass der Prozess weltweit Aufmerksamkeit erlangte, zeigt uns, was auf dem Spiel stand. Zeugen konnten berichten, dass die Protokolle auf Befehl von Ratschkowski fabriziert worden waren, der die Auslandsaktivitäten der zaristischen Geheimpolizei, der Ochrana, geleitet hatte. Er selbst war für den Geheimdienst rekrutiert worden, nachdem er wegen den Staat untergrabender Tätigkeiten verhaftet worden und vor die Wahl zwischen der Verbannung nach Sibirien oder einer Karriere in der Geheimpolizei gestellt worden war. Von 1884 bis 1902 war er in Paris stationiert und baute ein Spionagenetzwerk mit Verbindungen in London, Paris, Berlin und Genf auf, was ihn in die Lage versetzte, Revolutionäre im Exil unter konstanter
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Beobachtung zu halten. Im Laufe dieser Jahre bewies er ein großes Talent für Verschwörungen und erwies sich als ein Intrigant von Rang. Es wird erzählt, dass er 1890 die Produktion von Bomben in Paris aufgedeckt haben soll, die für Terrorhandlungen in Russland verwendet werden sollten. In der Folge wurden 63 namentlich bekannte Terroristen von der Ochrana verhaftet. Erst viele Jahre später wurde bekannt, dass die Bomben auf Anweisung von Ratschkowski platziert worden waren. Aus diesen Jahren gibt es viele Geschichten über revisionistische Briefe, die verfasst und verteilt wurden, um Zwietracht in der revolutionären Bewegung zu säen. Viele von ihnen soll Ratschkowski selbst geschrieben haben. Und er zögerte nicht, überall, wo es dazu beitragen konnte, Konflikte zu verschärfen, und das konnte es im Großen und Ganzen überall, die jüdische Karte ins Spiel zu bringen. In der Dokumentation findet sich ein Brief, den er 1891 nach Hause an seine Vorgesetzten geschrieben hat, in dem er sich für eine große antijüdische Kampagne aussprach. Es kursierten auch Theorien, die Protokolle könnten von dem Exil russen und politischen Schriftsteller Elie de Cyon verfasst worden sein, der in starkem Konflikt mit dem mächtigen Finanzminister des Zaren, Sergei Witte, stand, der in den 1890er Jahren für die Modernisierung der russischen Wirtschaft verantwortlich gewesen war. Cohn zufolge gibt es Gründe, dieser Theorie einen gewissen Glauben zu schenken, ganz einfach, weil sie einzelne der polemischen Tiraden erklärt, die in den Text eingehen, die an andere von Cyon verfasste Texte erinnern. Er hatte sich bereits früher des gleichen Kniffs bedient: einen alten Text ausfindig zu machen, den er in satirischer Absicht aktualisierte. Jedoch ist schwer zu verstehen, was für ein Interesse ein kultivierter politischer Polemiker jüdischer Herkunft, der sich, nachdem er konvertiert war, für die Rechte der russischen Juden einsetzte, gehabt haben soll, die vulgären antisemitischen Verschwörungstheorien zu verfassen, die in die Protokolle hineingeschrieben wurden. Cohn glaubte an eine andere Erklärung. Als eine Konsequenz seiner Polemik gegen die Geldpolitik des Regimes und auf direkten Befehl des Finanzministers wurde Cyons Zuhause in der Schweiz 1897 von Ratschkowskis Männern durchsucht. Große Mengen an Dokumenten wurden beschlagnahmt. Daher besteht die Möglichkeit, dass sich unter diesem Material ein Manuskript befand, das Ratschkowski anschließend umschrieb, und dass die Absicht darin bestand, es Elie de Cyon zuzuschreiben, um ihn als einen jüdischen Verschwörer zu kompromittieren. Das würde auch den merkwürdigen Titel erklären: Elie
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de Cyons russischer Name war Ilya Tsion. Zions Protokolle spielten also auf Tsions Protokolle an; ein Scherz ganz im Geiste Ratschkowskis. Näher ist man einer Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Protokolle nicht gekommen: Jolys Satire auf Napoleon III. wurde von Elie de Cyon zu einer gegen Witte gerichteten Satire verwandelt, die in der nächsten Runde in Regie von Ratschkowski zu den Protokollen der Weisen von Zion umgeschrieben wurde.7 1902 wurde er aus Paris abberufen und in St. Petersburg kam er in Kontakt mit Nilus, der die Protokolle dann in Das Große im Kleinen aufnahm. Es ist diskutiert worden, ob Nilus’ oder Krusjewans Ausgabe die authentischere der Protokolle ist, wenn man diesen Ausdruck für eine Fälschung verwenden kann. Lange wurde dahingehend argumentiert, dass es Nilus’ Ausgabe sei, weil sie im Gegensatz zu Krusjewans voll von französischen Referenzen ist. Späterhin wurde indessen eingewandt, dass es ebenso gut denkbar ist, dass die »russischen« Teile der Protokolle französischer gestaltet wurden, um die Glaubwürdigkeit des ausländischen Dokuments zu stärken. Eine neuere historische und philologische Textanalyse kam zu dem Schluss, dass die Schlussredaktion der Erstausgabe zwischen April 1902 und August 1903 in Russland stattgefunden haben muss.8
Die Protokolle erobern die Welt So gelangten die Protokolle allem nach zu urteilen nach Russland. Wie sie dann wiederum aus Russland heraus kamen, ist eine andere Geschichte. Die Geschichte vom internationalen Durchbruch der Protokolle ist eine Geschichte von Niederlagen. Erst die Niederlage der Weißen Armee gegen die Bolschewiki im Bürgerkrieg, der der Russischen Revolution 1917 folgte; anschließend die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Niederlagen, die sich mit einer Verschwörung erklären ließen, die die Protokolle angeblich dokumentierten. Die interne Untersuchung der Protokolle am Hofe hatte dazu beigetragen, dass die Schrift zu Nilus’ großer Verzweiflung zunächst nur eine äußerst begrenzte Verbreitung erfuhr. Nach der ersten Begeisterung finden sich in den Jahren vor der Revolution in der russischen Presse fast keine Spuren der Protokolle, und man konnte nie einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verbreitung der Protokolle und den Pogromen dokumentieren, wie man es kann, was den Einsatz der Rede des Rabbiners in Verbindung
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mit den Pogromen 1903 in Kischinew betrifft. Mehrere neue Ausgaben in den Jahren vor der bolschewistischen Revolution änderten daran nichts. 1903 zog Nilus Bilanz: Ich kriege die Leute nicht dazu, die Protokolle mit der Aufmerksamkeit ernst zu nehmen, die sie beanspruchen. Sie werden gelesen, kritisiert, oft lächerlich gemacht, aber es sind nur sehr wenige, die ihre Bedeutung sehen und sie als eine wirkliche Bedrohung des Christentums erkennen, einen Plan für die Zerstörung der christlichen Ordnung und für die Eroberung der ganzen Welt durch die Juden. Niemand glaubt das …9
Die Wende kam mit der bolschewistischen Revolution. Als die Streitkräfte der Weißen Armee im Juli 1918 Jekaterinburg einnahmen, wo die Zarenfamilie anderthalb Wochen zuvor von den Bolschewiki hingerichtet worden war, wurden drei Bücher gefunden, die der Zarin gehört hatten: Tolstois Krieg und Frieden, die Bibel auf Russisch sowie die letzte Ausgabe von Nilus’ Buch aus dem Jahr 1917, nun mit dem apokalyptischen Titel Es ist nah, direkt vor der Tür: Über das, was wir nicht zu glauben wagen und was so nah ist. Sie hatte auch eine Swastika in den Fensterrahmen geritzt. Früher war das Hakenkreuz als Symbol für Glück gedeutet worden. Alles deutet daraufhin, dass die Zarin, die für ihren Aberglaube bekannt war, es deshalb in das Holz geritzt hatte. Der Fund des Hakenkreuzes zusammen mit Nilus’ Protokollen wurde als ein Zeichen der Toten dahingehend ausgelegt, dass die Juden hinter dem Mord an der Zarenfamilie steckten: Die Herrschaft des Antichrist sei von den Bolschewiki eingeleitet worden, und der Kampf gegen das Böse, der jetzt ausgekämpft werden musste, sei ein Kampf gegen die Juden. Während des russischen Bürgerkriegs erfuhren die Protokolle einen gewaltigen Auftrieb, und die Massenverbreitung des Pamphlets zusammen mit anderen Fälschungen, die den jüdischen Ursprung der Bolschewiki dokumentierten, begleiteten die Verwüstungen der Weißen Armee. Unter dem Schlagwort »Tötet die Juden, erlöst Russland« wurden in den Jahren von 1918 bis 1920 mehr als 100.000 Juden massakriert.10 So gelangten die Protokolle wieder in den Umlauf. Und so gelangte das kleine Buch aus Russland heraus – und kam nach Deutschland: im Gepäck von Offizieren der Weißen Armee auf der Flucht vor der Niederlage. Von dort aus verbreitete sich die Schrift in antisemitische Milieus in ganz Europa sowie über den Atlantik bis in die USA. An den meisten Erscheinungsorten finden wir dasselbe Muster: Antisemitische Zeitschriften und Zeitungen
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brachten das Material als Feuilleton, bevor es zusammen mit einer ausführlichen Einleitung in gesammelter Form als Buch herausgegeben wurde. Verantwortlich für das Ganze war ein kleiner Kreis von Fanatikern. In Deutschland war es Auf Vorposten unter der Regie von Ludwig Müller alias Gottfried zur Beek. Die deutsche Ausgabe wurde auf Januar 1920 verschoben, um zeitgleich mit der englischen zu erscheinen, die auf sich warten ließ, weil es sich als schwierig erwies, einen Verleger dafür zu finden. In Frankreich zeichnete der katholische Priester Monsignor Jouin für die Übersetzung ins Französische verantwortlich, in Konkurrenz zu Drumonts alter Zeitung La Libre Parole. In den USA war es kein Geringerer als Henry Ford, der das Material von 1920 bis 1922 in einer Artikelserie in seiner eigenen Zeitung, Dearborn Independent, präsentierte und als Buch unter dem Titel The International Jew: The World’s Foremost Problem herausbrachte, das zu einem sensationellen Bestseller wurde und das seinen Siegeszug durch die Welt auch dann weiterging, nachdem Ford es 1927 hatte zurückziehen müssen. Da hatte er kraft seiner eigenen Berühmtheit bereits mehr dafür getan, die Glaubwürdigkeit der Protokolle zu untermauern, als irgendein anderer.11 Vielerorts wurden die Ausgaben von Einleitungen begleitet, in denen die Herausgeber ihr Äußerstes taten, um die Glaubwürdigkeit der Schrift zu garantieren. In Lauritz Carlsens dänischer Ausgabe von 1920 wird nicht an rhetorischen Effekten gespart und typischerweise auch nicht an den typografischen Affekten: Was ist Antisemitismus? Antisemitismus ist: Ohne Grund alle Juden zu hassen oder zu verabscheuen, weil sie Juden sind. Aber – wenn Sie einen Juden hassen oder verabscheuen, nicht weil er Jude ist, sondern weil er sich gemein und verbrecherisch benommen hat, dann ist das kein Antisemitismus. Das ist ein voll und ganz berechtigtes menschliches Gefühl, wovon Sie sich weder von privat noch von der Presse – das heißt, dem Judengeschrei – abschrecken lassen sollten. Es ist auf jeden Fall ein Gefühl, für das Sie niemand anrühren würde, gelte es einem Christenverbrecher!!! Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie wissen, dass die jüdische Rasse jahrhundertelang eine verbrecherische Verschwörung geplant hat und nun vollends dabei ist, sie auszuführen.12
In England war Lord Alfred Douglas einer von denen, die den Kampf für die Authentizität der Protokolle anführen sollten. 25 Jahre zuvor hatte er die Londoner Gesellschaft durch den Prozess auf den Kopf gestellt, den er Oscar Wilde überredet hatte, gegen seinen Vater, den Marquess of Queensberry, anzustrengen. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, konvertierte
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Douglas zum Katholizismus und entwickelte starke reaktionäre Einstellungen. 1920 gründete er die antisemitische Zeitschrift Plain English. Als 1921 in der Londoner Zeitung The Times aufgedeckt wurde, dass die Protokolle eine Fälschung waren, bei denen es sich in Wirklichkeit um das Plagiat eines Buches des Franzosen Maurice Joly handelte, rückte Douglas geistesgegenwärtig aus und erklärte, dass Joly Jude war und dass seine Dialoge in Wirklichkeit codiert waren; erst mit den Protokollen war der Code geknackt worden. Das war eine Verteidigungsstrategie, die Alfred Rosenberg wenige Jahre später zu der seinigen machen sollte. Douglas’ antisemitischer Kreuzzug endete 1923 vor Gericht, nachdem er Winston Churchill beschuldigt hatte, bestochen worden zu sein, sich während des Ersten Weltkrieges an einer jüdischen Verschwörung zu beteiligen. Die Behauptungen waren nachweislich grundlos, und Lord Alfred Douglas musste eine Strafe von sechs Monaten Gefängnis verbüßen. In Deutschland ging es härter zu. Bereits 1920 waren Die Geheimnisse der Weisen von Zion in sechs Auflagen erschienen, und 1933 lagen auf Deutsch 33 Auflagen vor.13 Sollen wir Norman Cohn glauben, begann die Wirkungsgeschichte mit dem Mord an dem jüdischen Außenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, und endete mit dem Völkermord an den Juden. Nicht alle sehen das so drastisch. Die konkrete Bedeutung der Protokolle für die nationalsozialistische Endlösung ist umstritten. Es herrscht indessen kein Zweifel daran, dass Cohn recht damit hat, dass die Zwangsvorstellungen von einer jüdischen Gefahr eine wesentliche Rolle spielten, als es galt, die Massaker an den Juden, zu denen es kommen sollte, zu rechtfertigen: Die Protokolle und der Mythos einer jüdischen Weltkonspiration wurden von der Nazipropaganda in jedem Stadium ausgenutzt, vom ersten Auftreten der Partei Anfang der 1920er Jahre bis hin zum Zusammenbruch des »Dritten Reiches« 1945. Erst wurden sie verwendet, um der Partei an die Macht zu verhelfen – anschließend, um das Terrorregime zu rechtfertigen – anschließend, um den Krieg zu rechtfertigen – anschließend, um den Völkermord zu rechtfertigen – und letztendlich, um die Kapitulation vor den Alliierten zu vertagen.14
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Rosenbergs Apokalypse und Hitlers Judengefahr Einer der wichtigsten Ideologen in den ersten Jahren der deutschen Nazipartei war Alfred Rosenberg (1893–1946). Er ist im Nachhinein mit seinem ebenso monumentalen wie unlesbaren Werk Der Mythus des 20. Jahrhunderts verbunden, übte jedoch durch eine Flut von antisemitischen Pamphleten, Übersetzungen und Kommentaren Anfang der 1920er Jahre, die sich alle um die Protokolle und deren Vorstellungen von einer jüdischen Verschwörung zentrierten, die er mit Theodor Herzl und dem Ersten Zionistenkongress 1897 in Basel in Verbindung brachte, einen stärkeren direkten Einfluss aus. Diese Vorstellung war 1933 derart eingearbeitet, dass sich Julius Streicher in seinem Versuch, den Boykott der jüdischen Geschäfte als eine nationale Verteidigungsstrategie gegen den »Weltfeind« zu rechtfertigen, damit begnügen konnte, die Protokolle als den »Basel-Plan« zu bezeichnen.15 Zu Rosenbergs großen Verkaufserfolgen zählt eine verkürzte Übersetzung von Gougenot des Mousseaux’ Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peuples Chrétiens. Als in Russland die Revolution ausbrach, hatte er in Moskau Architektur studiert und sich 1918 während des Rückzugs aus Russland den deutschen Truppen angeschlossen. In Deutschland schloss er sich der Nazipartei an und wurde zum Bindeglied zwischen den reaktionären Exilrussen, den Pogromshchiki, und dem Kreis völkischer Rassisten um Adolf Hitler. Er war besessen von apokalyptischen Vorstellungen, und auch wenn seine Bedeutung später nachlassen sollte, hinterließen seine prophetische Rhetorik und seine konspiratorischen Spekulationen in der nationalsozialistischen Ideologie dauerhafte Spuren. Inwieweit Hitler sich mit den Protokollen befasste, ist unklar, unter anderem, weil sich die Führungsebene der Nazipartei in geringem Maße direkt in die Debatte um die Authentizität der Protokolle einmischte. Diesen Kampf überließen sie anderen. Was aber die Judenfrage an sich betrifft, steht das Gedankenmuster in Hitlers hinterlassenen Texten von 1919 bis 1945 mehr oder weniger fest. Seine antisemitische Kampagne begann er als Soldat im deutschen Heer, wo seine Aufgabe darin bestand, die Soldaten gegen ungünstige Beeinflussung durch sozialistisches und demokratisches Gedankengut zu immunisieren. In einem Brief, den er im September 1919 schrieb, charakterisierte er die Juden als »Rassentuberkulose der Völker« und sprach sich dafür aus, dass es nicht ausreiche, ihnen die Rechte zu entziehen, sie müssten entfernt werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die
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Protokolle in Form einer Vorabbesprechung in der Zeitung Auf Vorposten bereits eingeführt worden, zudem gibt es in Hitlers frühen Reden viele Referenzen auf sie. In Mein Kampf (1924) bezieht er sich auf Behauptungen in der liberalen Frankfurter Zeitung, dass sie gefälscht sein sollen, weist diese jedoch als irrelevant zurück: Es ist ganz gleich aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, daß sie in geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlußzielen klarlegen. Die beste Kritik an ihnen jedoch bildet die Wirklichkeit. Wer die geschichtliche Entwicklung der letzten hundert Jahre von den Gesichtspunkten dieses Buches aus überprüft, dem wird auch das Geschrei der jüdischen Presse sofort verständlich werden. Denn wenn dieses Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.16
»Wir können eine edle Sache nicht mit schmutzigen Mitteln verteidigen«, hatte Zar Nikolaus II., wie bereits erwähnt, gesagt, als ihm dokumentiert wurde, dass es sich bei den Protokollen um eine Fälschung handelt. Trotz seines Antisemitismus erließ er ein Verbot gegen die Nutzung des Dokuments im Umgang des Regimes mit der Judenfrage. Hitlers Haltung war eine andere. Deshalb hatte auch die Dokumentation, die während des Prozesses in Bern vorgelegt wurde, keine Konsequenzen auf die Nutzung des Materials durch die Nationalsozialisten. Ihre Antwort war nur ein noch lauteres Geschrei. 1935 wurde die parteieigene Ausgabe der Protokolle als eines der Grundwerke in die deutsche Schulbildung eingegliedert. Es gehört zu den vielen dunklen, ironischen Wendungen in dieser Geschichte, dass viel dafür spricht, dass sich Hitler in seiner übergeordneten Strategie für die kommende Weltherrschaft in mehreren Punkten scheinbar von den Protokollen der Weisen von Zion hat inspirieren lassen. Damit war der Reigen der Projizierungen komplett.17 Und zu was kehrte er in den Schlussworten seines eigenen Testaments neben der gleichen »tuberkulösen« Judengefahr, die ihn ein Vierteljahrhundert zuvor in Bereitschaft versetzt hatte, noch zurück? Bevor er sich das Leben nahm, forderte er die deutsche Nation noch einmal »zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum«, auf.18
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EINHART LORENZ
24. Erster Weltkrieg, Weimarer Republik und Österreich zwischen den Weltkriegen Das Deutschland der Weimarer Republik, das heißt die Jahre zwischen 1919 und Hitlers Machtübernahme, werden oft als die »Goldenen Zwanziger« bezeichnet. Die Weimarer Republik brachte der jüdischen Bevölkerung zwar die rechtliche Gleichstellung, aber keine »goldenen« Jahre. Die Republik war in ihrer Gründungsphase bis etwa 1923 sowie in ihrer Endphase von politischer Gewalt geprägt, die sich vor allem gegen die Arbeiterbewegung und das »Weimarer System«, aber auch gegen die jüdische Bevölkerung richtete, für die die Zeit durch »kalte Pogrome«1, das heißt Übergriffe und Diskriminierungen, geprägt war. Die politische Kultur wurde zu einer brutalisierten Unkultur. Das Ziel der Antisemiten war die Segregation der Juden und in der radikalsten Form deren Vertreibung aus Deutschland. Die Verunsicherung der jüdischen Bevölkerung führte dazu, dass etwa 40.000 Juden Deutschland bereits vor 1933 verließen.2 Der Erste Weltkrieg veränderte die Situation für Deutschland und Österreich-Ungarn radikal. So lange der Imperialismus das identitätsstiftende Element im Deutschen Kaiserreich war, und so lange der Imperialismus nationale Ziele repräsentierte und die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum und Fortschritt bildete, brauchte es keine anderen systemstabilisierenden Faktoren. Im Deutschen Kaiserreich war Antisemitismus ein »kultureller Code«, als politisches Instrument jedoch nicht erforderlich. Aus diesem Grund stand er unter staatlicher Kontrolle. Als in der Schlussphase des Ersten Weltkrieges die Krise kam und über die ersten Nachkriegsjahre hinweg anhielt, erreichte der Antisemitismus ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß.3 Durch die Niederlage gingen nationale, politische und ökonomische Positionen verloren. Sowohl innere als auch äußere Faktoren schufen schlechte Startbedingungen für eine Demokratie. Intern hatte man die
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Abb. 16: Für die Antisemiten waren die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Versailler Vertrag das Werk der Juden. Das Symbol für Deutschland – Germania – war von jüdischen Diplomaten und anrüchigen Geschäftsleuten gefangen und gefesselt.
»Dolchstoßlegende«, das heißt die Behauptung, der Krieg sei nicht auf dem Schlachtfeld verloren worden, sondern weil die politisch Linke den Truppen in den Rücken gefallen war. Dazu kamen antidemokratische Eliten und eine durchaus demokratische, aber zugleich schwache Verfassung. Extern sorgten der Versailler Vertrag sowie hohe Entschädigungsforderungen der Alliierten für äußerst ungünstige Bedingungen für eine Demokratie. Andere politische und wirtschaftliche Faktoren, wie die französische Besetzung des Ruhrgebietes und die Hyperinflation 1923 sowie eine hohe Erwerbslosigkeit wurden für die Republik ebenfalls zu starken Belastungen. Auch Österreich
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traf es hart, zumal das Land von einer kaiserlichen Großmacht zu einer kleinen Alpenrepublik degradiert wurde. Der Staat Österreich war wirtschaftlich nicht in der Lage, die Umstellung zu bewältigen, und durchlebte in den 1920er Jahren beständig Krisen, mit Konkursen, Bankenzusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit. Der bürokratische Apparat, dimensioniert für einen Staat mit 50 Millionen Einwohnern, stürzte in die soziale Unsicherheit. Dem Wunsch der Österreicher, ein Teil von Deutschland zu bleiben, kamen die Siegermächte nicht nach. Die Verliererseite, die politisch Rechte, fand ihre Feindbilder in dem neuen politischen System und in den Juden. Die Weimarer Republik war für sie eine »Judenrepublik«. So wurde ein Bild von »dem Juden« konstruiert, der national und international an den ökonomischen und politischen Fäden zog, durch die die Deutschen zu Verlierern geworden waren. Derartige Vorstellungen bildeten – so die Historikerin Yfaat Weiss – »einen integralen Bestandteil der Realitätsauffassung jener, die die nationalsozialistische Politik gestalteten.«4 Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs übernahmen in Deutschland und Österreich Sozialdemokraten und Linkssozialisten die Regierungsverantwortung. Dass einige Politiker obendrein einen jüdischen Hintergrund hatten, erlebten die alten adeligen, militärischen, nationalkonservativen und kirchlichen Machteliten als eine enorme Bedrohung. Sie fühlten sich teils sozial, teils politisch, wirtschaftlich oder aber in ihren religiösen Positionen bedroht. Dass die neuen politischen Führungskräfte nach dem Krieg die Friedensverträge unterzeichneten und somit äußerst unpopuläre Verpflichtungen auf sich nahmen, nutzte die politisch Rechte für ihre eigenen Zwecke. Die Angehörigen der neuen politischen Führung wurden als Landesverräter und »Novemberverbrecher« bezeichnet. Gleichzeitig wurden die neuen demokratischen Systeme angegriffen. Nach dem Krieg setzten die Nationalisten und die Konservativen Niederlage, Sozialismus, Demokratie und Judentum gleich.
Radikalisierung des Antisemitismus während des Krieges Die Frage, ob es in der deutschen Geschichte eine antisemitische Kontinuität gibt oder ob der Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg neue und andere Formen annahm, wurde in unterschiedlichen Zusammenhängen
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erhoben.5 Um diese Frage zu beantworten, erscheint es sinnvoll, zuerst die Entwicklung während des Weltkrieges zu betrachten. Der »Burgfrieden« während der ersten Phase des Weltkrieges führte in Deutschland und Österreich zu einer Abnahme der administrativen antisemitischen Maßnahmen. Die Worte Wilhelms II. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche«, mit denen vor allem die Arbeiterklasse gewonnen werden sollte, wurden von den Juden begeistert aufgenommen.6 Die größte Organisation der deutschen Juden, der Central-Verein, forderte seine Mitglieder auf, sich über die normalen Verpflichtungen hinaus zu engagieren. Auch die Orthodoxen sowie die Zionisten waren von Patriotismus geprägt. Die Haltung der Juden unterschied sich nicht von jener der Deutschen. Führende Juden unterzeichneten gemeinsam mit deutschen Künstlern und Intellektuellen einen Aufruf, der Gerechtigkeit für die Sache der Deutschen forderte. Mehrere führende Juden gaben Auszeichnungen zurück, die sie von der britischen Regierung erhalten hatten. In Wien stand die von Juden redigierte Neue Freie Presse für eine »unkritisch-patriotische Haltung«.7 Hintergrund für diese kriegsfreundliche Einstellung waren zwei Dinge. Auf der einen Seite stand die Hoffnung, von den Behörden und der Mehrheitsgesellschaft als »echte« und vollwertige deutsche beziehungsweise österreichische Mitbürger anerkannt und akzeptiert zu werden. Auf der anderen Seite war es eine Unterstützung im Kampf gegen den »Erzfeind« Russland, der als die Inkarnation des Antisemitismus und eine gegen die Juden gerichtete Politik betrachtet wurde. »Geradezu revolutionär«8 war, dass Juden hohe staatliche Positionen erhielten: Walther Rathenau trug die Verantwortung für die deutsche Kriegsökonomie, Julius Hirsch wurde Leiter der Preisregulierungspolitik, und Felix Warburg fungierte als wirtschaftlicher Ratgeber der Regierung. Die deutsche Regierung brauchte die jüdischen Ressourcen, um draußen den Krieg führen zu können und zu Hause »Burgfrieden« zu haben. Die Juden wurden auch bewusst benutzt, um diplomatische Ziele zu erreichen. Jetzt konnten sie zum ersten Mal aktive Teilnehmer der Politik und nicht mehr nur deren Objekte werden.9 So konnten sie aber auch schnell zwischen die Fronten geraten. Ein wichtiges Ziel sowohl für die Deutschen als auch für die Österreicher war die Destabilisierung des Zarenregimes. Noch wichtiger war es, die amerikanische Öffentlichkeit zu gewinnen. Die deutschen Behörden und die jüdischen Organisationen beschlossen eine Zusammenarbeit, um die
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eventuelle Kriegsteilnahme der USA zu beeinflussen. Deutsche Diplomaten und jüdische Intellektuelle wurden benutzt, um Deutschland als Freund der Juden darzustellen. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich wurde eine Reihe von Organisationen gegründet, die russische Juden für die Sache der Deutschen gewinnen sollten. In der im November 1915 gegründeten Deutschen Vereinigung für die Interessen der osteuropäischen Juden waren die führenden Persönlichkeiten der großen repräsentativen jüdischen Organisationen vertreten. Die Juden versuchten in diesem Zusammenhang auch zu zeigen, wie sie am besten zum Nutzen sein konnten: Zum einen konnten – so argumentierte einer von Theodor Herzls früheren Mitarbeitern, der zionistische Autor Adolf Friedemann – die sechs Millionen Juden in Russland Pioniere der deutschen Kultur im Osten werden und »dem deutschen Handel unschätzbare Dienste« erweisen.10 Ein anderes Argument war: Würden die Deutschen die Juden in Polen und Russland gut behandeln, würde das zu einem Ende der Migration gen Westen beitragen. Die Zionisten argumentierten auch damit, dass die kulturelle und wirtschaftliche Stellung Deutschlands im Osmanischen Reich gestärkt würde, wenn man die Auswanderungspläne unterstützte. Die großen expansiven Kriegsziele Deutschlands erhielten hingegen von jüdischer Seite wenig Unterstützung.11 In der Zeit des »Burgfriedens« wurde der Antisemitismus weder in Deutschland noch in Österreich toleriert und deshalb von der Zensur unterdrückt. In den ersten Kriegsjahren wurde es für Juden sogar möglich, Offizier zu werden. Auch entwickelte sich ein positives Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Offizieren. An der Oberfläche konnte es jetzt so aussehen, als sei die endgültige Assimilierung der Juden lediglich eine Frage der Zeit. Doch der Schein trog. Die Realität war eine andere und alle Hoffnungen der Juden bauten auf Illusionen auf. Als der militärische Fortschritt ausblieb, gelangte der Antisemitismus schnell wieder an die Oberfläche.
Die »Judenzählung« von 1916 Der »Burgfrieden« wurde definitiv durch die sogenannte »Judenzählung« zerstört, die zu einem traumatischen Erlebnis für die deutschen Juden wurde.12 Ab Ende 1915 kam es zu einer Lawine von Klagen, die Juden wür-
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den sich dem Militärdienst entziehen.13 Selbst wenn solche Klagen Helmut Berding zufolge die Stimmung im Heer widerspiegelten – wo »manche Offizierskasinos sich in Zentren antisemitischer Agitation verwandelten«14 –, handelte es sich hierbei um eine organisierte Aktion.15 Im Oktober 1916 entschied der preußische Kriegsminister, dass man untersuchen solle, ob sich Juden dem Kriegsdienst entzogen. Gleichzeitig forderte der Finanzausschuss des Reichstags auf Vorschlag eines katho lischen Abgeordneten, eine Untersuchung über den Umfang des jüdischen Engagements in der kriegsrelevanten Industrie. Der Vorschlag wurde vom Reichstag abgelehnt, von der öffentlichen Meinung aber dennoch gut aufgenommen. Das war eine erste Warnung, doch war die Regierung zu diesem Zeitpunkt noch stark genug, um den Vorschlag zu bremsen. Rechtsextreme Organisationen wie der Alldeutsche Verband und der Reichshammerbund verwendeten in ihrer Agitation indessen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden auf allen Ebenen. In einer Zeit mit zunehmender Warenknappheit und sichtbaren sozialen Unterschieden wurden die Juden beschuldigt, Spekulanten, Schwindler und Kriegsprofiteure zu sein. In dieser Agitation spielte es nunmehr keine Rolle, dass die Bedeutung der jüdischen Privatbanken längst abgenommen hatte und dass die Juden nicht in der kriegswichtigen Schwerindustrie engagiert waren. Der Hintergrund für die »Judenzählung« des Heeres ist nicht eindeutig geklärt, man ging jedoch davon aus, dass der Antisemitismus dahintersteckte – nicht zuletzt, weil die »Zählung« wenige Wochen nach Übernahme des Kriegsministeriums durch die Generäle Hindenburg und Ludendorff beschlossen wurde. Nationalliberale Kreise behaupteten hingegen, die Absicht hätte gerade darin bestanden, antisemitische Anschuldigungen zurückweisen zu können.16 Keine andere Handlung während des Krieges fühlte sich für die Juden in derselben Weise wie ein Schlag ins Gesicht an. Die Ergebnisse der »Judenzählung« wurden nie veröffentlicht, und das Grundlagenmaterial ging während des Zweiten Weltkriegs verloren. Die »Judenzählung« gab jedoch Stereotypen Nahrung, indem Juden als erbärmliche Feiglinge und Drückeberger gebrandmarkt wurden. Zudem wurde die »Judenzählung« von den Antisemiten in jeder erdenklichen Weise ausgenutzt, nicht zuletzt, weil die Geheimhaltung der Ergebnisse zur Verbreitung von Gerüchten verwendet werden konnte. Der dokumentierbare Kriegseinsatz seitens der Juden zeigte deutlich, dass die Behauptungen hinsichtlich mangelndem Patrio-
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Abb. 17: Der reiche osteuropäische jüdische Emporkömmling war für den Antisemitismus ein beliebtes Thema. In der Weimarer Republik wurde das Stereotyp mit den Aktienbesitzern und Spekulanten verbunden – hier unter der Bezeichnung »Börsenhyänen«.
tismus nicht haltbar waren. Der Kriegseinsatz der Juden war im Gegenteil beträchtlich. In Deutschland fanden sich unter den etwa 100.000 jüdischen Kriegsteilnehmern mehr als zehn Prozent, die sich freiwillig gemeldet hatten. 30.000 Juden wurden ausgezeichnet und mehr als 12.000 opferten ihr Leben für ihr deutsches Vaterland, 2000 davon als Offiziere. Selbst ein Antisemit wie Houston Steward Chamberlain äußerte sich anerkennend über ihren Kriegseinsatz.17 Gleichzeitig wirkte die Aktion spaltend, da die liberalen Juden teils empört waren, teils auch meinten, dass sie die Ehre der Juden verteidigen
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müssten. Vielen wurde aber auch klar, dass es in Deutschland nicht miteinander vereinbar war, deutsch und Jude zu sein, dass die Assimilation in eine Sackgasse geführt hatte und dass selbst die größten Opfer und großer Patriotismus den Antisemitismus nicht beseitigen konnten.
Verbot jüdischer Einwanderung Eine andere Maßnahme, die das Gesicht der politischen Rechten zeigte, nachdem Hindenburg und Ludendorff die deutsche Politik bestimmten, war ein Verbot jüdischer Einwanderung, das 1917 beschlossen wurde. Ein solches »Einwanderungsverbot« hatten die Antisemiten von Anbeginn gefordert, doch hatte sich die Reichsregierung dem widersetzt. Jetzt wurde das Außenministerium nicht einmal gefragt. Das politische Klima hatte sich geändert und der Forderung nach einem Verbot wurde nachgekommen. Die militärische Führung degradierte die Juden wieder zu Objekten. Das Verbot erwies sich als ein antisemitischer Propagandatrick. Zwischen 1914 und 1918 verdoppelte sich zwar die Anzahl osteuropäischer Juden in Deutschland, was jedoch nicht jüdischer Einwanderung geschuldet war. Zu den 90.000 ausländischen Juden, die schon vorab in Deutschland lebten, kamen in dieser Zeit 35.000 osteuropäische Juden hinzu. Diese waren aber nicht freiwillig gekommen, sondern waren mehr oder weniger Zwangsrekrutierte für die Rüstungsindustrie. Ebenso viele waren Kriegsgefangene und Zivilinternierte. Die »Einwanderung« war also keineswegs von den Juden frei gewählt. Dennoch sprachen die Antisemiten in ihrer Agitation von »Heuschreckenschwarm« und der Bedrohung, die »6 Millionen minderwertige, vermongolisierte Menschen« für Deutschland darstellten.18 Osteuropäische Juden wurden auch beschuldigt, Fleckfieber und andere ansteckende Krankheiten zu verbreiten. Die zunehmende Anzahl osteuropäischer Juden aktualisierte erneut das gespaltene Verhältnis der assimilierten Juden gegenüber den neuen Gruppen. Diese wurden angeklagt, »Ghettoluft« in die aufgeklärte deutsch-jüdische Kultur hineinzubringen und den Integrationsprozess zu erschweren. Gegen den Einwanderungsstopp protestierten jedoch alle repräsentativen jüdischen Organisationen und Richtungen. Sie befürchteten einen Rückfall in die voremanzipatorische Zeit. Ihnen wurde bewusst, dass die Maßnahmen gegen die »Ostjuden« einen Angriff auf alle Juden darstellten.19
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Der »Burgfrieden« in den ersten Kriegsjahren hatte den Alldeutschen Verband und die Nationalisten nicht daran gehindert, ihre antisemitische Arbeit weiterzuentwickeln, oder verhindert, dass ihre Organisationen eine Massenbasis erhielten. Radikale Antisemiten im Alldeutschen Verband, der während des Weltkrieges eine Verdoppelung seines Mitgliederbestandes erlebte, mit dem Leiter des Verbandes Heinrich Claß und dem pensionierten General Gebsattel an der Spitze, hatten während des Krieges für eine großdeutsche Expansion Richtung Osten gekämpft. Sie forderten eine Änderung des Stimmrechts sowie die Einschränkung der Möglichkeiten für die Sozialdemokratie und verlangten die »Entfernung des […] Giftes aus unserem Volkskörper«.20 Im Juni 1917 veröffentlichten sie in der Zeitung der Deutschen Vaterlandspartei, die innerhalb kürzester Zeit mit 1.250.000 Mitgliedern zur größten bürgerlichen Massenpartei wurde, eine »Kriegserklärung an das Alljudentum«. Ihr Ziel war ein »Siegfriede«, den sie meinten selbst zu repräsentieren, und kein »Verzichtfriede«, für den »die internationalen Juden« standen. Die antisemitische Strategie war bereits fertig, bevor die militärische Niederlage eine Tatsache war. Unter Gebsattels Führung hatten die Alldeutschen im September 1918 auch einen Judenausschuss gebildet. Ziel war es, das Judentum zu bekämpfen und die Juden zu Sünden böcken für die militärische Niederlage und den politischen Zusammenbruch zu machen. Claß erklärte, dass selbst Mord gerechtfertigt sei und dass man im Kampf gegen die Juden keine Mittel scheuen müsse: »Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!«, erklärte er seinen Anhängern.21 Als die Heeresführung die militärische Niederlage einräumen musste, wurden die Juden umgehend als Sündenböcke stigmatisiert. Sie seien es gewesen, die mit ihren Zeitungen den deutschen Verteidigungswillen unterminiert und den »Volkskörper« vergiftet hätten.
Nach dem Weltkrieg und der Revolution blüht der Antisemitismus auf Da die Mehrheit der Bevölkerung der Kriegspropaganda vertraut hatte, kam die Niederlage im November 1918 wie ein Schock. Die Kriegsherren flohen vor ihrer Verantwortung und überließen die Abwicklung des Kriegszustandes zivilen Politikern. Die demokratischen Kräfte waren bereit, die Verantwortung zu übernehmen, diejenigen, die aber den Versailler
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Vertrag unterzeichneten – die Sozialdemokraten – wurden schnell zu »Novemberverbrechern« erklärt. Als der Zusammenbruch eine Tatsache war, hatten zahlreiche Organisationen monokausale Erklärungen parat und gaben den Sozialdemokraten, den Juden und anderen Anhängern der Republik die Schuld an der Niederlage. Die revolutionären Umwälzungen in vielen europäischen Ländern in Verbindung mit dem Weltkrieg »stärkten« die antisemitischen Kräfte zusätzlich. Zu den alten Stereotypen gesellten sich nun neue, nämlich der »Revolutions- oder Kommunistenjude«. Dass viele Sozialisten und auch führende Personen der Kommunistischen Internationalen sowie der Revolutionsregierungen, zum Beispiel denen in Russland, Ungarn und Bayern, Juden waren, bestärkte die Vorstellungen von einer jüdischen Weltverschwörung. Auch die internationale Hilfsarbeit der Juden wurde im Rahmen einer globalen Verschwörung gedeutet. Unter solchen Umständen fiel die Fälschung Protokolle der Weisen von Zion, die russische Emigranten mit nach Westeuropa brachten, in Deutschland auf fruchtbaren Boden. Zu Beginn der Weimarer Republik gab es rund 400 extrem nationalistische – völkische – Organisationen und etwa 700 antisemitische Zeitungen und Zeitschriften.22 Sie sahen ihre Hauptaufgabe darin, die Demokratie als »Judenrepublik« zu untergraben, zu verleumden und den »Sündenbock« für die Niederlage im Ersten Weltkrieg zu definieren. Über Millionen von Flugblättern und Broschüren sowie zahllose Versammlungen wurde die antisemitische Botschaft selbst bis in das abgelegenste Dorf verbreitet.23 Die Publikation Judas Schuldbuch bediente sich aller Klischees und Propagandakniffe, um die These einer jüdischen Verschwörung und der in Deutschland errichteten »Judenrepublik« zu untermauern. Rassentheorien wurden als Wissenschaft präsentiert, die Protokolle der Weisen von Zion als Wahrheitsbeweis hingestellt und die »Judenzählung« als Beweis für die »Drückebergerei« der Juden ausgelegt. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs wurde in diesem Gedankengang zum Schlusspunkt des Kampfes der Juden um die Weltherrschaft. An der Spitze eines neuen aggressiven Antisemitismus stand der Nachfolger des Alldeutschen Verbands, der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der 1919 auf einer großen Antisemitismuskonferenz in Bamberg gegründet wurde.24 Der Bund behauptete, Deutschlands Zusammenbruch sei »dem unterdrückenden und zerstörenden Einfluss des Judentums« geschuldet. Der Kampf gegen die Republik und die Juden wurde zu einem Haupt
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anliegen. Die Entwicklung des Verbandes war rasant: Waren es im Gründungsjahr 30.000 Mitglieder, so waren es bereits vier Jahre später, 1923, 200.000 verteilt auf 600 Ortsverbände.25 Ihre soziale Basis war die bürgerliche Mittelklasse, während 40 Prozent der Leiter des Bundes Akademiker wie Lehrer und Ärzte waren. Der Verband sollte zur bedeutendsten rassenantisemitischen Organisation werden. Er hatte sogar eine geheime Nebenorganisation für Anhänger, die sich nicht öffentlich als Mitglieder zu erkennen geben konnten. Im Juli 1919 veröffentlichte der Verband die erste deutsche Ausgabe der Protokolle der Weisen von Zion. Hinter dem Namen des Herausgebers – dem Pseudonym Gottfried zur Beek – versteckte sich der Redakteur einer konservativen antisemitischen Zeitschrift, Ludwig Müller. Eine reichhaltige Flora rechtsradikaler, nationalistischer Verlage verbreitete Unterhaltungsliteratur, zum Beispiel Artur Dinters Romane Die Sünde wider das Blut (1918, 15. Auflage 1921), Die Sünde wider den Geist (1920, 20. Auflage 1921) und Die Sünde wider die Liebe (1922), die an die sexuellen Fantasien der Leser appellierten.26 Der Roman Die Sünde wider das Blut handelt zum Beispiel vom behaupteten unnormalen Sexualverhalten der Juden. Er schildert, wie ein jüdischer Unternehmer blonde arische Jungfrauen schwängert und damit bewusst und planmäßig die deutsche Rasse vergiftet.27
Gewalttätiger Antisemitismus in der ersten Phase der Weimarer Republik Der Schutz- und Trutzbund begnügte sich nicht mit schriftlicher Propaganda, selbst wenn diese an sich erschreckend genug war. Es war eine Kampforganisation, die Hunderte von Demonstrationen und Versammlungen abhielt, auf denen ehemalige Generäle, Theologen und Professoren sprachen. Am wichtigsten war dennoch, dass der Verband ein neues Element in den modernen Antisemitismus in Deutschland einführte: Man griff auf die Hilfsmittel des gewalttätigen »Radauantisemitismus« zurück und unterstützte Terroraktionen und führte sie selbst durch. In einigen Städten wie Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien, Nürnberg und Oldenburg wurden pogromähnliche Unruhen organisiert, auch wenn diese nicht denselben Umfang und dieselbe Verbreitung hatten wie in Polen.28 In München wurde die SA der Hitler-Bewegung bereits ab dem Frühjahr 1921 zu einer permanenten
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Bedrohung für die jüdischen Einwohner der Stadt.29 Die Juden wurden als »Schädlinge«, »Ungeziefer« und »Schmarotzer« bezeichnet, die ausgerottet und ausgeräuchert werden mussten. Die rechtsradikale Presse stellte die unseriösen Geschäftsmethoden einzelner Juden als »Musterexemplare für den modernen jüdischen Geschäftsstil« dar. Der Hass bekam Name und Adresse. In diesem Zusammenhang wurden Listen über jüdische und judenfreundliche »Schädlinge« veröffentlicht. Zum prominentesten Opfer wurde Außenminister Rathenau, der im Juni 1922 von einer rechtsextremistischen Gruppe ermordet wurde. Der antisemitische Hass richtete sich aber auch gegen zahlreiche Geschäfte und Einzelpersonen. In Verbindung mit Hitlers Putschversuch 1923 wurden Juden überfallen, misshandelt oder als Geiseln genommen. Die Gruppe, die es am härtesten traf, waren indessen die »Ostjuden«. Ihre Verfolgung äußerte sich sowohl in staatlichen – legalen – Maßnahmen wie auch in illegalen »radauantisemitischen« Übergriffen. In Bayern wurden die osteuropäischen Juden durch neue Ausländergesetze und Internierung stigmatisiert. In Berlins Scheunenviertel standen im November 1923 führende Agitatoren des Schutz- und Trutzbundes hinter den Pogromen gegen osteuropäische Juden. Sie lebten in der ersten deutschen Republik »in ständiger Angst, in ihre Herkunftsländer abgeschoben zu werden.«30 Nach dem Mord an Rathenau wurde der Schutz- und Trutzbund verboten, die Agitation hatte jedoch Früchte getragen. Nach dem Verbot schlossen sich die Mitglieder des Verbandes großteils der Deutschvölkischen Freiheitspartei an, einige auch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, NSDAP. Obwohl der Schutz- und Trutzbund nur einige wenige Jahre existiert hat, wurde er als ein Multiplikator des existierenden Antisemitismus bezeichnet, weil der Verband den Antisemitismus modernisierte und der Nachkriegszeit anpasste. Akademiker, zum Beispiel Lehrer, Ärzte und Anwälte, dominierten den Schutz- und Trutzbund noch stärker als im Kaiserreich. Gleichzeitig kämpfte der Verband gegen das demokratisch-parlamentarische System und trat für die Wiedergeburt eines starken deutschen Nationalismus ein. Die akademischen Multiplikatoren des Kaiserreichs verbreiteten weiterhin ihre antisemitische Botschaft und rekrutierten neue Antisemiten. Zahlreiche nationalistische Studentenorganisationen, besonders die Burschenschaften, führten »Judenparagrafen« ein, die jüdische Studenten ausschlossen. Selbst die öffentlichen Schulen waren keine Orte mehr, an denen sich jüdische Schüler sicher fühlen konnten. Nach
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dem Mord an Rathenau versuchte die Regierung diese Entwicklung zu stoppen, aber solchen Versuchen wurde von Lehrern und Eltern oft effektiv entgegengearbeitet.31 Mord und Terror schreckten auch große Teile der Bevölkerung auf – und führten außerdem zu einer inneren Krise bei der äußersten Rechten. Der Central-Verein konzentrierte sich auf die Praxis der Gerichte, die Anhänger der Republik machten gegen den Antisemitismus mobil, weil sie erkannten, dass der Kampf gegen die Juden auch ein Kampf gegen die Republik als politisches System war. Bei der Reichstagswahl im Mai 1924 erzielten die Antisemiten 6,5 Prozent der Stimmen und bei der Präsidentenwahl im Dezember 1924 lediglich 3 Prozent. Auch bei den Reichstagswahlen 1928 entfielen zum Beispiel auf die Nationalsozialisten und andere rassistische Parteien weniger als 5 Prozent der Stimmen. Nach der Stabilisierung der Republik und dem Ende der Hyperinflation ging auch die Zahl der antisemitischen Straftaten markant zurück. Es konnte den Anschein haben, als seien die Antisemiten und die äußerste Rechte zurückgedrängt und die Weimarer Republik stabilisiert worden.
Alltagsantisemitismus Betrachtet man ausschließlich die Wahlergebnisse, sah es zu diesem Zeitpunkt nicht danach aus, als könnten die Nationalsozialisten eine ernstzunehmende politische Kraft werden. Die Zustimmung der Wähler ist jedoch nur ein Indikator für die Verbreitung des Antisemitismus. Der militante »Radauantisemitismus« war rückläufig, aber auch in den relativ stabilen Jahren von 1924 bis 1928 kam es auf dem Land und in Kleinstädten zu Übergriffen auf Juden. Mit gutem Grund schrieb die Zeitung des CentralVereins über eine Periode der »kalten Pogrome«. In den Städten, in den Mittelschichten und im akademischen Milieu nahm der Antisemitismus in der stabilen Phase der Weimarer Republik zu. In den Universitätsstädten führten nationalsozialistische Studentenorganisationen Protestaktionen gegen jüdische Professoren durch und forderten Begrenzungen in der Anzahl jüdischer Studenten. Jüdische Professoren erhielten nur in Ausnahmen Unterstützung von ihren »arischen« Kollegen. Die Forschungsinstitution Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft akzeptierte nach 1927 keine Juden mehr als Mitglieder.
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In den Jahren von 1923 bis 1932 wurden fast 200 Fälle der Schändung von Friedhöfen und Angriffe auf Synagogen und andere jüdische Einrichtungen registriert.32 Daneben wurde der Antisemitismus jetzt auch ein Straßenphänomen. Eine Begebenheit, die weit über Deutschlands Grenzen hinaus für Aufsehen sorgte, war der Überfall von Nazis auf jüdische Mitbürger auf Berlins elegantem Kurfürstendamm im September 1931. Hinter den Übergriffen steckten nationalistische Elemente, vor allem jedoch die SA der Nazis. Die Gerichte bagatellisierten solche Übergriffe und klassifizierten sie als »unpolitisch« oder gaben den Nationalsozialisten die Möglichkeit, während der Prozesse ihre antisemitische Propaganda zu verbreiten.33 Griff die Polizei ein, wurden ihre Anordnungen von stark rechts orientierten Richtern häufig aufgehoben. Der Übergriff in Berlin in der Schlussphase der Weimarer Republik war keineswegs ein einmaliges Phänomen und auch nicht ausschließlich ein SA-Phänomen, sondern Ausdruck einer zunehmenden Verrohung, die diese Zeit kennzeichnete. Es wurde indessen behauptet, dass der Antisemitismus in der generellen nationalsozialistischen Agitation eine relativ untergeordnete Rolle spielte. Dennoch fand eine Segregation statt, zum Beispiel durch »Judenparagrafen« im Vereinsleben, aber auch in intellektuellen Milieus, die der Meinung waren, dass Juden prinzipiell nicht assimiliert werden könnten und deshalb aus Deutschland entfernt werden müssten. Der tägliche Antisemitismus war nahezu überall sichtbar. Er traf jüdische Viehhändler auf dem Land, jüdische Schüler und jüdisches Theaterpublikum. Er traf das jüdische Bürgertum an Urlaubs-, Bade- und Kurorten an der Nord- und an der Ostsee sowie im Gebirge. Hotels und Ferienanbieter annoncierten, dass sie ausschließlich »christliche« Gäste aufnahmen oder dass sie »judenfrei« waren. Restaurants stellten an den Eingangstüren Schilder mit Aufschriften wie »Kein Zutritt für Juden und Hunde« auf. In einer Reihe von Badeorten brachen nationalistische und antisemitische Krawalle aus, und es kam zu Drohungen, jüdische Gäste zu ermorden. Die Nordseeinsel Borkum und Zinnowitz an der Ostsee, aber auch viele andere Orte, entwickelten sich zu reinen Zentren der antisemitischen Agitation. Touristenorganisationen wie der Deutsch-Österreichische Alpenverein führten Anfang der 1920er Jahre »Arierparagrafen« ein, die Juden von der Mitgliedschaft ausschlossen. Diesen »Bäder-Antisemitismus«34 hatte es bereits im Kaiserreich gegeben, jetzt aber kam es zu einer Radikalisierung und Brutalisierung.
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Neben den akademischen Multiplikatoren gab es auch in anderen Gesellschaftsgruppen ein latent antisemitisches Potenzial, besonders bei den bürgerlichen Mittelschichten und den Bauern. In einer Zeit, die von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit geprägt war, fühlten sich kleine Gewerbetreibende, Beamte und Angestellte ökonomisch und sozial oft bedroht. Selbstständige Ladenbesitzer erlebten die jüdischen Warenhäuser und die Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung – in ihren Augen also Judentum und Marxismus –als eine Bedrohung. Das deutsche Bildungsbürgertum und die sich weitestgehend selbstrekrutierenden Akademiker betrachteten die Juden als Konkurrenten im Arbeitsleben, besonders traf dies auf Ärzte und Anwälte zu. Dieselben Kreise sahen die Juden als Repräsentanten eines »zerstörerischen Intellektualismus« und des Pazifismus. 1927 stimmten 77 Prozent der Studenten in Preußen dafür, jüdische Studenten von den Universitäten auszuschließen. Zwei Jahre später erzielte der nationalsozialistische Studentenverband eine Mehrheit für die Einführung eines Numerus clausus für jüdische Studenten in Berlin und an anderen Universitäten. Und 1931 übernahmen die Nazis die Leitung der deutschen Studentenunion. Die großen Landwirtschaftsorganisationen mit ihrem aggressiven Nationalismus, der Volksgemeinschafts-Ideologie und der Verehrung des Bodens und dem Wert der Landwirtschaft, repräsentierten den Antisemitismus im ländlichen Deutschland. Bei auseinanderklaffenden Teilinteressen wurde der Antisemitismus selbst zur Integrationsideologie.
Die Bedeutung der Juden in der Weimarer Republik Obwohl die rechten Parteien, Interessenorganisationen, Veteranenverbände und akademischen Multiplikatoren in ihrem Kampf gegen die Weimarer Republik diese als »Judenrepublik« verleumdeten, war die Bedeutung der Juden in der Wirklichkeit reduziert. Als das Kaiserreich 1871 gegründet wurde, machten die Juden 1,05 Prozent der Bevölkerung aus, im ersten Jahr der Weimarer Republik 0,9 Prozent und 1933 nur 0,76 Prozent.35 Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland 2283 jüdische Gemeinden, 1932 lediglich 1611. 45 waren aufgelöst worden, 627 waren aufgrund neuer Grenzziehungen nach dem Krieg verloren gegangen (sowohl in Polen als auch im Elsass). 200 Gemeinden waren nur an großen Festtagen in der Lage, Gottesdienste abzuhalten. Mehrere Prozesse lassen sich konstatieren:
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Michael Brenner weist darauf hin, dass die Juden in der Weimarer Republik »das Jüdische« wiederentdeckten und dass es zu einer Renaissance der jüdischen Kultur kam.36 In Teilen der jüngeren Generation wuchs das Interesse am Zionismus. Generell kann man für die deutschen Juden jedoch auch feststellen, dass, trotz der Dissimilation, ein kontinuierlicher Assimilationsprozess stattfand. So waren zum Beispiel rund ein Drittel aller von Juden geschlossenen Ehen »Mischehen« mit Nichtjuden.37 Aufgrund dieser Entwicklung meint der Historiker Moshe Zimmermann feststellen zu können, dass die Juden in Deutschland auch ohne Hitler ihre Bedeutung und ihre Eigenart verloren hätten.38 Juden unterschiedlicher religiöser und politischer Provenienz waren bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten besorgt. Sie befürchteten den Untergang der Juden aufgrund der demografischen Entwicklung oder weil die Traditionen verfielen, oder prophezeiten den Untergang, weil sie den Kommunismus als eine positive Lösung ansahen.39 Die abweichende Berufsstruktur der Juden war im Begriff sich zu ändern. Die meisten Juden gehörten zu den bürgerlichen Mittelschichten, ihr Anteil am Großbürgertum hatte sich reduziert, während ihr Anteil am Proletariat zunahm. Es gab eine Überrepräsentation im Handel sowie im Kredit- und Versicherungswesen, wo 4,9 Prozent der Juden arbeiteten, zudem waren sie in freien Berufen überrepräsentiert, vor allem bei den Ärzten und Anwälten. Unverkennbar war jedoch, dass der Prozentanteil der Juden auch hier rückläufig war. Im Kreditwesen wurde ihr Prozentanteil von 22 Prozent im Jahr 1882 auf 3,84 Prozent im Jahr 1925 reduziert, ihr Anteil unter den Studenten reduzierte sich von 9,61 Prozent 1882 auf 5,08 Prozent 1925. Die wirtschaftliche Krise traf die meisten Juden in etwa ebenso wie die nichtjüdische Bevölkerung, möglicherweise sogar härter. 1925 war fast die Hälfte der berufstätigen Juden lohnabhängige Arbeitnehmer. Die Bedeutung der Juden für die erste deutsche Demokratie und deren internationalen Ruf war beträchtlich.40 Sie trugen dazu bei, dass die Hauptstadt der Weimarer Republik Weltruf erlangte und zu einem Zentrum der Modernisierung wurde. Den Beitrag der Juden zum wissenschaftlichen und kulturellen Leben der Weimarer Republik nahmen die Nationalisten und die Nazis als Beweis für eine »Verjudung«, die bekämpft werden musste. In konservativen und kirchlichen Kreisen war der Beitrag der Juden zur Weimarer Kultur ein Symbol für die Auflösung von Normen und kulturellen Verfall. Die Rechten sprachen von einem »jüdischen Kulturbolschewismus«,
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kirchliche Kreise und Kulturpessimisten nannten es »Zerstörung« und »Verflachung« der Kultur. Nach 1933 versuchten die Nazis die Spuren auszulöschen, indem sie eine »deutsche Mathematik« und »deutsche Physik« zu entwickeln versuchten. Sie verboten expressionistische Literatur und Filme, verbannten die Zwölftonmusik und entfernten »entartete« Kunst aus öffentlichen Museen. Für die Antisemiten repräsentierten die Juden »das Moderne« wie Kommunismus und Materialismus, Sozialismus und Kapitalismus, »kulturellen Verfall« und Liberalismus. Hielten die Juden an ihrer Kultur und ihrem Glauben fest, wurde dies als Widerwille ausgelegt, die Normen und Kultur der Mehrheit zu akzeptieren. Waren die Juden assimiliert und wurden Teil der deutschen Gesellschaft, bedeutete dies, dass sie auf eine besonders raffinierte Weise den »deutschen Volkskörper« von innen heraus zerstören wollten. In jüdischen Kreisen herrschte eine »eigentümliche Mischung aus gelassenem Optimismus und beginnender Unsicherheit«. Der Rabbiner und Religionsphilosoph Leo Baeck verglich den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur mit den Höhepunkten der jüdischen Kulturassimilation in der Antike und in Spaniens »goldenem Zeitalter«.41 Noch typischer war ein solches Gemeinschaftsgefühl für Juden, die ihrem persönlichen Hintergrund kein Gewicht beimaßen. Für sie stellte die Weimarer Republik ein einzigartiges Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte dar. Auf andere wirkte die Lage weniger optimistisch. Es gab Juden, nach deren Ansicht Zurückhaltung angebracht war, um die deutsche Bevölkerung nicht zu provozieren. Als Walter Rathenau deutscher Außenminister werden sollte, wurde er von Albert Einstein und dem Präsidenten der deutschen Zionisten, Kurt Blumen feld, aufgesucht. Beide versuchten Rathenau davon zu überzeugen, diese Funktion nicht zu übernehmen. Eine Jude könnte zu diesem Zeitpunkt der deutschen Geschichte bestenfalls Postminister werden, meinten sie.42 Die beiden sollten Recht behalten. Die Zeit war nicht reif. Knapp fünf Monate, nachdem Rathenau Außenminister geworden war, wurde er ermordet. Die Antisemiten behaupteten, in der Politik gäbe es eine jüdische Dominanz. Schaut man sich jedoch die ersten 19 Regierungen bis 1930 an, zeigt sich indessen, dass es unter den insgesamt 250 Ministern nur fünf Juden gegeben hat. 1928 erzielte Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei der Reichstagswahl nur 2,6 Prozent der Stimmen. Hätte jemand prophezeit, dass sie nur vier Jahre später mit sensationellen 37,4 Prozent Deutsch-
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lands größte Partei sein würde, hätte dies kaum einer geglaubt. Aber die Weltwirtschaftskrise traf Deutschland 1929 hart. Zu der ökonomischen und sozialen Krise gesellte sich die Krise der Demokratie. Die alten sozialen und wirtschaftlichen Eliten waren nicht bereit, das demokratische System zu unterstützen. Der Antisemitismus nahm wieder zu. Getragen und propagiert wurde er von der Deutschnationalen Volkspartei des Medien- und Rüstungsmagnaten Alfred Hugenberg und Hitlers Nationalsozialisten. Daneben gab es nahezu in allen Parteien der Weimarer Republik antisemitische Tendenzen, selbst wenn ihre Programme keine explizit antisemitischen Formulierungen enthielten. Im Ausland erklärte Hitler, sein Ziel sei nur ein »Deutschland für die Deutschen«, wie er es im Oktober 1930 in einem Interview gegenüber der Times äußerte, im Inland ließ er dagegen »unheilverkündende Vorhersagen« über die deutschen Juden verlauten.43 Zusammenfassend kann man sagen, dass die Juden in der Weimarer Republik sowohl Outsider als auch Insider (Peter Gay) waren. In der jungen deutschen Demokratie erlangten sie die volle Gleichstellung. Nicht zuletzt innerhalb der Kultur und der Forschung waren sie eine Avantgarde. Gleichzeitig wurden sie mit aggressiven Mitteln bekämpft. Der Antisemitismus durchlief dabei verschiedene Phasen. Direkt nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs können wir von einer gewissen Desorientierung im antisemitischen Lager sprechen. Man begriff, dass die Republik die soziale Gleichstellung der Juden vorbereitete und dass dieser Prozess nur durch einen Kampf gegen die Republik rückgängig gemacht werden konnte. Ein Mittel, um das zu erreichen, war die Destabilisierung der Republik mittels Gewalt. Die unvollendete Revolution in Deutschland hatte zur Folge, dass das Rechtswesen diese Gewalt bagatellisierte. Auf der anderen Seite mobilisierte die Gewalt die Verteidiger der Demokratie und der Republik und führte in der stabilen Phase von 1924 bis 1928 zu einer Schwächung des Antisemitismus, auch wenn es auch in dieser Phase auf allen Gebieten des täglichen Lebens zu Übergriffen und Diskriminierung kam. Ab 1928/29 nahmen die Übergriffe in der Stärke zu. Im Unterschied zum Kaiserreich gab es Kräfte, die bereit waren, sich Gewalt und sogar Mordes zu bedienen. Das kann im Zusammenhang mit der generellen Brutalisierung der politischen Kultur betrachtet werden, die auch andere politische Gegner traf. Der Antisemitismus hatte jedoch einen neuen Charakter bekommen. Der Antisemitismus hatte seine Wurzeln und seinen Ausgangspunkt in weiten Teilen der Bevölkerung, nicht in einer staatlichen Politik. Allein
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die Nationalsozialisten hatten ein eindeutig antisemitisches Programm. Das wurde jedoch abgeschwächt, weil sich zeigte, dass der Antisemitismus nicht die mobilisierende Wirkung hatte, mit der sie gerechnet hatten. Die Grundhaltung der Bevölkerung zeigte, dass der gewalttätige »Radau antisemitismus« wenig Zustimmung fand.44 Der volkstümliche Antisemitismus hatte jedoch bereits ab dem ersten Jahr der Republik Mobilisierungspotenzial. Das bedeutete indessen nicht, dass die Entwicklung notwendigerweise im Nationalsozialismus und dessen extremer Segregationspolitik enden musste. Trotz eines umfassenden und verbreiteten Antisemitismus fand sich in der Bevölkerung keine offene Pogromstimmung – selbst wenn im gesamten Zeitraum der Existenz der Weimarer Republik in den Kleinstädten und auf dem Land Übergriffe begangen wurden, was dazu führte, dass die jüdische Bevölkerung in zunehmendem Maße in die großen Städte zog.45 Aber auch dort gab es gegen Ende der Weimarer Republik keine Sicherheit mehr. Das zeigte überdeutlich ein pogromartiger Überfall im September 1931, als einige Hundert Nationalsozialisten auf dem Berliner Kurfürstendamm jüdische Passanten brutal zusammenschlugen.46
Österreich Anfang der 1930er Jahre brach die Weimarer Demokratie zusammen. Mit der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 wurde sie definitiv abge wickelt. Die österreichische Republik war nicht sonderlich erfolgreicher. Dort wurde die Demokratie im März 1934 von einem religiös-autoritären System abgelöst. Dieses System war an der Macht, bis die Mehrheit des Landes im März 1938 Hitlers Einmarsch begeistert willkommen hieß. Der Historiker William Hagen hat Österreich als ein »Nest von Antisemiten«47 charakterisiert, und ein anderer Historiker, Bruce Pauley, hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit in Österreich intensiver war als in Deutschland oder in irgendeinem anderen westlichen Land. Der Erste Weltkrieg war, sagt er, für die Juden eine Katastrophe.48 Bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges war die Entwicklung für die Juden in Österreich-Ungarn weitaus dramatischer als in Deutschland. Als die Russen zu Beginn des Krieges das österreichische Galizien eroberten, löste das eine Fluchtwelle gen Westen aus. Bis Ende 1915 waren 340.000 Men-
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schen aus Galizien geflohen. Infolge dieser Flucht kamen 70.000 bettelarme Juden nach Wien. Fast die Hälfte verließ Wien bis 1918 wieder. Weitere 26.000 wurden 1921 gezwungen, die Stadt zu verlassen. Die Antisemiten benutzten diese Flucht-Einwanderung, um den Juden »die Schuld« am Kohlen- und Lebensmittelmangel, am Schwarzmarkthandel und am Wohnungsmangel während des Krieges zu geben. Die Einwanderung wurde bis ins Unkenntliche überdimensioniert, und es wurde von 400.000 Juden geschrieben und gesprochen.49 Der Leiter des Christlichsozialen Arbeitervereins, Leopold Kunschak, forderte im Parlament, dass die Juden deportiert und in Konzentrationslagern interniert werden sollten und dass ein »Dissimilierungsgesetz« verabschiedet werden sollte.50 Luegers Antisemitismus wurde von der Christlichsozialen Partei weitergeführt. Der Antisemitismus wurde je nach Bedarf in Gebrauch genommen, nicht zuletzt gegen die Sozialdemokratie und deren Führung.51 Die Christlichsozialen agitierten gegen die »Gefahr«, die die Juden darstellten, und bezeichneten sie bei den ersten Wahlen 1918/19 als »Fremde«. Auf den Wahlplakaten wurde »das jüdische Kapital« als eine Riesenschlange dargestellt, die den österreichischen Adler tötete, zudem hieß es, die Sozialdemokratie wolle mit ihren jüdischen Kandidaten Österreich »den Fremden ausliefern«. In den Programmen von 1926 und 1932 trat die Partei für den Kampf gegen den »destruktiven und revolutionären Einfluss« der Juden im intellektuellen und ökonomischen Leben ein. Die Juden wurden nicht nach Rassenkriterien definiert, aber auch die Assimilation stellte für die Christlichsoziale Partei keinen möglichen Weg mehr dar. Das Parteiorgan Reichspost schlug dieselbe Richtung ein, forderte die Leser auf, jüdische Geschäfte zu boykottieren, und klagte über den Einfluss der Juden an der Universität Wien und in den Medien. Als Regierungspartei hatten die Christlichsozialen jedoch auch die Verantwortung für die Interessen des Landes als Ganzes. Daher war ihr Antisemitismus im Großen und Ganzen auf die vergiftende Rhetorik begrenzt. So lange die österreichische Demokratie funktionierte, bis zum Februar 1934, wurden keine diskriminierenden Gesetze verabschiedet. Im Gegensatz zur katholischen Partei Zentrum in der Weimarer Republik war die Christlichsoziale Partei in Österreich auch bereit, den traditionellen katholischen Antijudaismus in Gebrauch zu nehmen. Parteichef Ignaz Seipel war selbst Priester und fand auf den unterschiedlichen Ebenen der katholischen Kirche ausreichend Gleichgesinnte. Es gab katholische Bischöfe, die in ihren Blättern sowohl vor als auch nach Hitlers Machtergrei-
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fung in Deutschland gegen die Juden agitierten. Ihr Antisemitismus gründete jedoch nicht auf Rassendenken. Der Bischof von Linz, Gföllner, forderte zu einem »geistigen und ethischen Antisemitismus« auf und erklärte, dass man sowohl ein guter Katholik als auch ein guter Nazi sein könne.52 Der Bischof von Graz, Hudal, stellte in dem Buch Die Grundlagen des Nationalsozialismus (Leipzig, 1937) fest, dass sich der Nationalsozialismus und das Christentum vereinen ließen, und verteidigte die Rassengesetzgebung als »Notwehr« des Volkes.53 Die Argumentation war voll von katholischem Kulturpessimismus und Stereotypen, die mit verschiedenen politischen und ökonomischen Ideologien verknüpft wurden. Erneut wurden die Juden für die »moderne« Kultur, inklusive Rechtswesen, Medizin, Medien, Theater und Film, aber auch für den Kapitalismus, den Sozialismus und den Kommunismus verantwortlich gemacht. Führende Persönlichkeiten der Kirche forderten zwar nicht zu Pogromen auf, jedoch traten nahezu alle für eine Begrenzung des »übermächtigen Einflusses« der Juden in Österreich ein. Die grobe Arbeit wurde radikaleren Gruppierungen überlassen: Die Katholische Kirchenzeitung behauptete, dass alles, was gegen die Juden getan wurde, eine Fortsetzung von Gottes Urteilsprophezeiung sei: »In der alten Zeit hatte er die Römer als Instrument seiner Strafe benutzt, jetzt nutzt er die Nationalsozialisten. Ein Christ wird niemals selbst als Rächer oder Exekutor eines göttlichen Gerichts auftreten – das überlassen wir den Heiden!«54 Der militantere Antisemitismus fand sich bei dem bürgerlichen, paramilitärischen Gesellschaftsschutz Heimwehr, der von Großindustriellen55 unterstützt wurde und der im Ausgangspunkt als eine Kampforganisation gegen die Sozialdemokratie angedacht gewesen war. Die Heimwehr lehnte die Demokratie und den Parlamentarismus ab und versuchte 1931 einen Staatsstreich durchzuführen. Dennoch wurde ihr drei Jahre später die Funktion als Hilfspolizei übertragen. Ideologisch bildete die Organisation keine Einheit. Was sie zusammenhielt, waren Antisemitismus, Antisozialismus sowie der Hass des ländlichen Österreichs gegen »das rote Wien«. Der langjährige Führer der Heimwehr, Graf Guido von Starhemberg, konnte pragmatisch auftreten, aber auch von seiner Vision eines Österreichs sprechen, das nur aus »Volksgenossen«, das heißt Menschen mit »deutschem Blut«, bestand. In der Heimwehr verschmolzen Elemente des traditionellen katholischen Antisemitismus, Luegers Pragmatismus und der moderne Rassenantisemitismus. Nach Schönerer wurde die Tradition von der Großdeutschen Volkspartei weitergeführt, die in den Jahren 1921 und
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1932 in der Regierung vertreten war und die sich im Mai 1933 mit den österreichischen Nationalsozialisten zusammenschloss. Die Ideologie der Partei war vom Antisemitismus geprägt. Das Ziel war die Volksgemeinschaft ohne »schmarotzende Juden«. Die völkischen Studentenverbindungen entwickelten sich zur »Avantgarde des rassistischen Antisemitismus«, kämpften für die Einführung des »Rassenprinzips« und forderten über eine »Volksbürgerschaft« einen Numerus clausus an den Universitäten und beklagten, dass die deutschen Studenten ihrer »völkischen Pflicht« nicht entsprechend radikal nachkamen.56 Zum aktivsten antisemitischen Element in Österreich wurden die Nationalsozialisten. Als 1925 der Internationale Zionistenkongress in Wien stattfand, taten sie sich stark mit gewalttätigen Demonstrationen hervor. Ihren politischen Durchbruch erlangten sie Anfang der 1930er Jahre.57 Bei der Kommunalwahl hatten sie mit dem Plakat »Wenn Judenblut vom Messer spritzt!« appelliert.58 Unter dem autoritären Regime, das 1934 in Österreich errichtet wurde, wurde die nationalsozialistische Partei verboten. Viele assimilierte Juden betrachteten dieses Regime als eine Garantie gegen einen Zusammenschluss mit Deutschland. Obwohl die Verfassung weiterhin allen Staatsbürgern Gleichheit garantierte, wurden die Juden im täglichen Leben diskriminiert. Wiens kommunale Behörden kündigten jüdischen Gemeindeärzten, zudem bekamen Juden keine kommunalen Wohnungen mehr. Der Staat griff gegen den Antisemitismus nicht ein und ließ zu, dass er über die Presse verbreitet wurde. Hinzu kamen Organisationen wie Heimwehr, Antisemitenbund, Pro-arische Union und Freiheitsbund. Sie und ein dem Stürmer ähnliches Blatt wie Der eiserne Besen trugen – aus unterschiedlichen Motiven – dazu bei, Übergriffen den Boden zu bereiten. Als Österreich im März 1938 in Hitlers »Drittes Reich« eingegliedert wurde, kam es in Wien umgehend zu Pogromen und Übergriffen. Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert. Unter dem Jubel zahlreicher Zuschauer wurden die Juden gezwungen, die Gehwege mit Lappen und Zahnbürsten zu reinigen. Jüdische Firmen und Geschäfte wurden von österreichischen Antisemiten innerhalb weniger Wochen so schnell und effektiv »arisiert«, dass dies sogar bei den Deutschen für Irritation sorgte. Die Sozialdemokratie, die als »Judenschutzpartei« und »Judenschutztruppe« angegriffen wurde, war bis zu ihrem Verbot im Jahr 1934 die einzige Partei ohne antisemitisches Programm, war aber – zumindest was ihre Presse betraf – dennoch vom österreichischen Zeitgeist geprägt. In
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ihren Druckerzeugnissen fanden sich zahlreiche Karikaturen von »jüdischen Ausbeutern«, »Bankjuden« und »Börsenjuden«. Ihre Plakate zeigten »kapitalistische Juden«, und ihre Broschüren berichteten über »jüdische Betrügereien«. Über den ersten christlich-demokratischen Präsidentschafts kandidaten hieß es, er sei jüdischer Herkunft, und ein anderer wurde beschuldigt, eine jüdische Frau zu haben. Nach Hitlers Machtübernahme wurde betont, dass Hitler mit »den jüdischen Kapitalisten« Geschäfte mache, zudem war »jüdischer Intellektualismus« neben dem »jüdischen Kapitalismus« ein häufig benutztes Klischee der österreichischen Sozial demokratie.59 Der israelische Historiker Avraham Barkai hat die Frage gestellt, ob »traditionelle antijüdische Vorurteile und Stereotype« in der deutschen Gesellschaft – trotz der Zustimmung zu antisemitischer Propaganda vor dem Ersten Weltkrieg – tiefer verwurzelt oder weiter verbreitet waren als in anderen europäischen Staaten.60 Die Frage ist berechtigt. Die Juden waren nämlich nicht nur in Deutschland und Österreich Diskriminierung und Übergriffen ausgesetzt, sondern auch in zahlreichen anderen europäischer Staaten. Frankreich und England können als Beispiele dienen. Wie die meisten europäischen Länder traf Anfang der 1930er Jahre auch Frankreich eine dramatische Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit. Die Krise währte während des gesamten Jahrzehnts. 1932 fiel die Produktion in Frankreich um 27 Prozent. Eine Flut antisemitischer Bücher, Zeitschriften und Pamphlets beeinflusste besonders das französische Kleinbürgertum. Die Enthüllungen rund um den ukrainisch-jüdischen Finanzmann Alexandre Stavisky im Herbst 1934 lösten eine Staatskrise sowie die größte antisemitische Welle aus, die Frankreich jemals erlebt hat. Die Unruhen im Kielwasser dieses Skandals, die Ver öffentlichung von Hitlers Mein Kampf auf Französisch im selben Jahr sowie die Bildung der linksorientierten Volksfront-Regierung unter Léon Blum 1936 führten zu einer umfassenden Mobilisierung innerhalb des rechtsextremen, konservativen und katholischen Frankreich. Die Regierung, der neben Blum zwei weitere jüdische Minister angehörten, wurde als Frankreichs »Judaisierung« und als jüdische Verschwörung gegen die Nation dargestellt.61 Im selben Zeitraum wurde Frankreich zu einem Ziel für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland. Sie waren nicht die Einzigen. Es kamen auch Emigranten und Flüchtlinge aus osteuropäischen Ländern, zudem aus Italien
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und Spanien. Daneben waren bereits in den 1920er Jahren etwa 70.000 zentral- und osteuropäische Juden nach Paris gezogen. Auch wenn Frankreich arbeitsfähige Männer dringend benötigte und Arbeitseinwanderung erwünscht war, waren jüdische Flüchtlinge wenig willkommen. Sie wurden als Bedrohung für die Arbeitsplätze der Franzosen betrachtet. Im Vergleich zum Kontinent wurde die jüdische Bevölkerung in England in den meisten politischen Milieus nur wenig von negativen Haltungen beeinflusst. Bei dem Gründer von British Citizen Movement und The Britons (1919) und Hitler-Bewunderer Henry Hamilton Beamish tauchte jedoch bereits 1923 der Gedanke auf, die Juden nach Madagaskar zu deportieren. Jedoch blieben er wie auch die Zeitschrift Jewry über Alles eher Randphänomene. Hingegen konnte der Antisemitismus andere Formen annehmen – Hooligan-Krawalle, die jüdische Viertel terrorisierten, bis hin zu den »Arierparagrafen« der feineren Golf-, Tennis- oder Motorklubs.62 Agens des britischen Antisemitismus der 1930er Jahre war die 1932 von Oswald Mosley gegründete British Union of Fascists (BUF), deren Zeitung Blackshirt unverhohlen gegen die jüdische Bevölkerung agitierte. Einen »Höhepunkt« der BUF-Hetze bildeten die Demonstrationen und Konfrontationen in der Battle-of-Cable-Street im Oktober 1936.63 Selbst das Interesse der Juden an physischer Aktivität und Sport, und dabei besonders ihr Erfolg im Boxen, wurde von der BUF in einem Rahmen der »jüdischen Andersartigkeit« und der »Rassenunterschiede« gedeutet.64 Mosley genoss Sympathien innerhalb bürgerlicher und konservativer Kräfte, und seine Propaganda gegen jüdische Einwanderer und Flüchtlinge wurde von Regierungsvertretern und Teilen der Presse geteilt. Auch verabschiedete das demokratische Großbritannien 1933 ein Antischächtungsgesetz sowie 1936 Gesetze zum Nachteil des Handels an Sonntagen, die besonders die Juden trafen. Oftmals ist der Umfang des Antisemitismus in den einzelnen Ländern schwer festzumachen, in Krisensituationen wurde er jedoch deutlich und sichtbar. Zunehmender Antisemitismus während der wirtschaftlichen Depression oder Proteste gegen jüdische Einwanderung waren also nicht ausschließlich deutsch-österreichische Phänomene, sondern in den meisten westeuropäischen Ländern üblich. Dort aber gab es ausreichend demokratische Traditionen und Gegenkräfte und schwächere antisemitische Traditionen als in Deutschland und Österreich.
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EINHART LORENZ UND IZABELA A. DAHL
25. Osteuropa in der Zeit zwischen den Weltkriegen Die Zwischenkriegszeit erscheint für viele Osteuropäer gern in einem nostalgischen Licht. Staaten wie Polen, Litauen, Lettland, Estland, die Tsche choslowakei und Ungarn erhielten ihre ersehnte Selbstständigkeit, das Territorium von Rumänien wurde beträchtlich erweitert. Denkt man an die Geschichte dieser Länder vor 1918 und nach 1938/39 sowie nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die 1920er und 1930er Jahre »goldene Jahre«, wobei leicht vergessen wird, dass sie alle – mit Ausnahme der Tschechoslowakei – als Demokratien misslangen. Auch die Juden in diesen Staaten hofften nach den Minderheitenverträgen von 1919 auf bessere Zeiten. Die große Mehrheit der osteuropäischen Juden hatte unter zaristischer Führung gelebt und war diskriminierenden Gesetzen, Verordnungen und Ansiedlungsbeschränkungen unterworfen. Nun sollte ihre Stellung gesichert werden, indem die neuen Staaten sich verpflichten mussten, die Rechte der Minderheiten und damit auch die der Juden zu garantieren. Wie aber sah es in der Realität aus? Mit Ausnahme der Tschechoslowakei etablierten sich in den übrigen Staaten nach kurzer Zeit autoritäre Regime. Im Vergleich mit der Lage in Deutschland fassten damals viele die Situation für Juden in Polen, Ungarn und Rumänien als weitaus bedrohlicher auf. Viele hatten das Gefühl, dass es nicht in Deutschland, sondern in Osteuropa zur Katastrophe kommen würde. Der Anführer der Zionisten, Vladimir Jabotinsky, fürchtete, dass für Osteuropa »eine Sintflut ausbrechen wird, mit solch schrecklicher Gewalt, daß die deutsche Katastrophe dagegen schnell verblassen wird«.1 Der Historiker Michael Wildt stellt in seiner Studie über Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz fest, dass »Pogrom-Antisemitismus kein deutscher Sonderfall [war] als vielmehr ein europäisches Phänomen«.2 In diesem Kapitel liegt das Hauptaugenmerk auf Polen, in dem in der Zwischenkriegszeit rund ein Drittel aller europäischen Juden lebte, ferner auf Rumänien, in dem den meisten Juden die Staatsbürgerschaft verweigert
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wurde, auf Ungarn, das 1920 als erstes Land in den Jahren zwischen den Weltkriegen ein antisemitisches Gesetz verabschiedete, und auf Litauen, wo zumindest versucht wurde, der jüdischen Bevölkerung die Rechte einzuräumen, die ihnen nach dem Pariser Friedensvertrag zustanden.
Die Stellung der Juden im neuen polnischen Staat Polen war historisch durch eine Verschmelzung des Nationalen und des Religiösen geprägt. In der Zeit, in der das Land nicht als selbstständiger Staat existiert hatte, sondern zwischen Russland, Österreich-Ungarn und Preußen / Deutschland aufgeteilt war, waren die katholische Kirche und deren Priester das tragende Element zur Bewahrung einer nationalen Identität gewesen. Die Kirche hatte sich im Kampf um die Selbstständigkeit des Landes engagiert, zum Beispiel während der Aufstände 1830/31 und 1861/63. 1918 wurde Polen ein selbstständiger Staat, ohne eine einheitliche Nation zu sein. Ebenso wie die übrigen neuen osteuropäischen Länder war es ein Staat mit großen Minoritätengruppen. Die katholische Kirche forderte für sich das Recht, an der Ausformung des Staates beteiligt zu werden. Es sollte ein katholisches Polen sein, ein »Polen Christi« (Polska Chrystusowa). Gehörte man einer nationalen, ethnischen oder religiösen Minderheit an, war man »fremd«. Auch wenn die Bevölkerungszahl während der Zwischenkriegszeit variierte, so kann man doch festhalten, dass es in dem neuen Staat viele »Fremde« gab. Neben 19 Millionen Polen lebten dort ca. vier Millionen Ukrainer (orthodoxe oder griechisch-katholische), drei Millionen Juden, eine Million Deutsche (die Mehrheit Lutheraner), eine Million Weißrussen (orthodoxe) sowie eine Reihe kleinerer Minderheiten. In einzelnen Regionen und Städten waren die ethnischen Polen in der Minderheit. Formal waren die Rechte der Minderheiten durch die Bestimmungen der Verfassung gesichert. Diese waren jedoch auf Druck aus dem Ausland bei der Pariser Friedenskonferenz beschlossen worden. Die Nationalisten deuteten das als ein Werk der Juden und einen Eingriff in die Souveränität Polens.3 Die Minderheitenrechte wurden in vielen Fällen nicht respektiert. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis die letzten diskriminierenden Bestimmungen aus juristischen Texten entfernt wurden. Auch danach blieb die adminis trative Praxis auf kommunaler Ebene oft diskriminierend. Die Mehrheit der Juden waren Chassiden, die nur in geringem Maße assimiliert waren
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Abb. 18: Die Jahre von 1936 bis 1939 wurden für die Juden in Polen »die dunklen Jahre«. In mehr als 150 Städten und Dörfern kam es zu Pogromen und Übergriffen. Das Foto zeigt brennende jüdische Häuser während des Pogroms in Mińsk-Mazowiecki im Juni 1936.
und an ihrer Kultur und Jiddisch als Sprache festhielten.4 Die Minderheit passte sich dem neuen Staat an und organisierte sich politisch. Die meisten Juden lebten in größeren und kleineren Städten. Ungeachtet dessen, ob sie assimilierte Juden oder orthodoxe »Ostjuden«5 waren – die abwertend als »Litvaken« bezeichnet wurden –, hatten sie eines gemeinsam: In einem »Polen für die Polen« wurden sie als ein »Fremdkörper« betrachtet.6 Hinzu kamen zwei weitere Faktoren. Zum einen war Polen von ökonomischen Problemen heimgesucht, weshalb gut qualifizierte Polen häufig nicht die Möglichkeit erhielten, attraktive Stellen in der Wirtschaft oder im Kulturleben zu bekommen. Zum anderen durchdrang der katholische, volkstümliche Antisemitismus die Bevölkerung. In einer Gesellschaft mit »einem wachsenden ›Konsens-Antisemitismus‹«7 wurden die Juden, vor allem in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, zur einzigen Gruppe, die kein Recht haben sollte, in Polen zu leben. Durch ökonomischen Boykott und Unterdrückung sollte das langfristige Ziel erreicht werden. Die führende Kraft in dem politischen Antisemitismus war die »Nationale Demokratie« (Narodowa Demokracja, auch Endecja), die bereits in ihrem Programm von 1903 forderte, dass die Juden aus Schlüsselpositionen in der Wirtschaft und in der Politik entfernt werden müssten. Die Partei
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wurde unter verschiedenen Namen zur zentralen Kraft für die politische und ideologische Rechte. Deren Leitfigur Roman Dmowski war neben dem Präsident General Józef Piłsudski der einflussreichste Politiker im Polen der Zwischenkriegszeit. Für Dmowski – im Unterschied zu Piłsudski – waren die Juden ein eindeutiges Fremdelement im polnischen Volkskörper. Er war der Meinung, sie könnten nicht in die polnische Nation integriert werden und wären dessen auch nicht wert. Bereits 1909 hatte Dmowski behauptet, die Juden würden sich gegen die Polen wenden und aus diesem Grund könne die »jüdische Frage« nicht durch Assimilation gelöst werden. Vor dem Ersten Weltkrieg unterstützten er und seine Partei Boykottaktionen und demagogische antisemitische Kampagnen. Nach 1918 wurde sein Antisemitismus zu einer paranoiden Besessenheit. Dmowski beschwor Visionen von einem bevorstehenden »internationalen Pogrom gegen die Juden« und einem »Ende des jüdischen Kapitels in der Geschichte«8 herauf. Die Boykottaktionen sollten, so die Historikerin Viktoria Pollmann, auch in der weiteren Entwicklung zu einem wichtigen Bestandteil der Politik der Rechten werden. Die Aktionen wurden in einem christlich-ethischen Rahmen eingeordnet und als eine legitime und nicht gewalttätige »Verteidigungsstrategie« gegen angebliche jüdische Dominanz dargestellt.9 Die Jahre von 1918 bis 1920 wurden in der polnischen Politik zu einer Zeit des Umbruchs. 1918 war der Krieg im östlichen Europa noch immer nicht beendet. In einer Zeit mit innerer Unruhe und unsicheren Grenzen sollte ein neuer Staat konsolidiert werden. Weite Teile der Bevölkerung des Landes waren durch Krieg, Invasionstruppen, Warenmangel und Hunger geplagt. Die Not war besonders in den östlichen Regionen groß. Für Antisemiten trugen die Juden die Schuld für alle Arten von Kriegsphänomenen. Sie haben Klischees von Juden als Wucherer, Kriegsprofiteure und Kollaborateure mit fremden Mächten mobilisiert. Die Folge waren zahlreiche Pogrome.10 Fehlende nationale Loyalität wurde immer wieder als ein Vorwurf benutzt, um ständig neue Konflikte zu schaffen. In einigen Regionen wurden die Juden angeklagt, proukrainisch zu sein und die Bolschewiki zu unterstützen, andernorts wurden sie beschuldigt, unnational und prodeutsch zu sein. In Galizien kam es in mehr als 100 Orten zu Übergriffen. In Städten wie Kielce, Lwiw und Pińsk beteiligte sich auch die Armee. Besonders aktiv traten die Einheiten unter der Leitung von General Józef Haller bei den gewalttätigen Aktionen auf. Teilweise wurden dabei schikanierende Schautorturen veranlasst. An einem Ort zwangen polnische Militärs jüdische Frauen, ihre
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Häuser zu verlassen und bis zum Hals durch eiskaltes Wasser zu waten. Juden wurden öffentlich ausgepeitscht und ermordet, Torarollen geschändet und Gerüchte über Ritualmorde verbreitet. Als der Jüdische Nationalrat im November 1918 erklärte, dass die Juden im Polnisch-Ukrainischen Krieg neutral seien, kam es in Lwiw zu einem Pogrom, bei dem 150 Juden ermordet wurden. Und als polnische Truppen im April 1919 in Vilnius, und im Mai in Rzeszów im östlichen Polen, einrückten, bestand ihre erste Handlung in der Inszenierung von Pogromen, um die Juden für ihre prolitauischen und probolschewistischen Haltungen zu bestrafen. Im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919–21) wurden Juden als unerwünschte »Fremde« behandelt. Neue Pogrome suchten Städte wie Białystok und Pińsk heim. Jüdische Soldaten, auch diejenigen, die sich auf polnischer Seite als Freiwillige gemeldet hatten, wurden als »schädliche Elemente« bezeichnet und 1920 von christlichen Soldaten getrennt. Das Militär ging so weit, dass 17.000 jüdische Soldaten entwaffnet und in eigenen Lagern interniert wurden.11 Dabei wurden jüdische Mitkämpfer beschuldigt, eine Mitverantwortung für die Russische Revolution zu tragen und Kommunismus zu verbreiten. Bei den Wahlen 1922 verwendete die politisch Rechte den Antisemitismus bewusst und zielgerichtet. Als die Rechten verloren, nahm die antisemitische Agitation ihrerseits zu und es wurde die Forderung erhoben, den jüdischen Mitbürgern das Stimmrecht zu entziehen. Der neugewählte Präsident, Narutowicz, wurde angeklagt, ein »Judenpräsident« zu sein, weil er auch Stimmen aus jüdischen Parteien bekommen hatte. Als er nach kurzer Zeit ermordet wurde, wurde das Gerücht verbreitet, dass die Juden und die Sozialisten (»die bolschewistischen Juden«) die Untat durch ihr Verhalten provoziert hätten.
Die katholische Kirche und die Juden Die Haltung der katholischen Kirche zu den Juden war zwiespältig. In den 1880er Jahren hatte sie sich von dem österreichischen, deutschen und französischen Antisemitismus distanziert, sich selbst aber vorbehaltlos zu einem christlichen Antisemitismus bekannt. Von einer theologischen Argumentation ausgehend, hatte der Jesuit Marian Morawski den Begriff »Asemitismus« als »Selbstverteidigung gegen den verderblichen Einfluß des jüdischen Elements« lanciert.12 Morawskis Selbstverteidigung beinhal-
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tete keinen Einsatz von Gewalt, sondern eine vollkommene Trennung in Form einer geistigen und kulturellen Isolation der Juden. Die polnischen Katholiken sollten jeglichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontakt zu den Juden vermeiden. Auch wenn die katholische Kirche vor einer prinzipiellen antijüdischen Haltung warnte, forderte sie gleichzeitig dazu auf, die eigenen Leute zu begünstigen. Die Kirche distanzierte sich von der Zerstörung der Geschäfte und Verkaufsstände der Juden, forderte jedoch zum Wirtschaftsboykott auf, denn der Boykott war, so Kardinal Hlond, eine Selbstverteidigung.13 Die Kirche verurteilte physische Gewalt, wollte das Volk aber gegen die »antichristliche Kultur« der Juden, gegen deren Presse und »demoralisierenden« Verlage beschützen. Die Logik war: Die Juden sollte man als Geschöpfe Gottes ehren, auch wenn man sie nicht dafür ehren konnte, dass sie Gott verworfen hatten. Wenn die Juden den Weg zum christlichen Gott fanden, sollten sie »mit Freude in unsere christlichen Reihen aufgenommen werden«. Da aber die meisten Juden nicht bereit waren, dieser Logik zu folgen, wurden sie einer »Stammessolidarität«, einer Exklusivität und einer feindlichen Einstellung gegenüber der ganzen nichtjüdischen, und da besonders der christlichen Welt angeklagt sowie beschuldigt, hinter den schlimmsten Verbrechen zu stecken. Viktoria Pollmann hat dokumentiert, wie die katholische Presse eindeutig negative Signale aussandte: Die Juden waren vaterlandslose Nomaden, »Fremde«, die Polen im Grunde okkupiert hatten, während die Polen selbst gezwungen waren, ihren Unterhalt im Ausland zu verdienen. In der Presse hieß es, dass Juden gegen »uns« »feindlich eingestellt«, und gegen »unseren Glauben und unsere Moral« seien. Eine propagandistische Wirkung erzielten die negativen Zuschreibungen, dass die Juden »unerwünscht, schädlich und feindlich« seien sowie Anklagen, dass sie Polen »betrögen«, ein »Fremdelement« wären und »unserem nationalen Leben« und der Wirtschaft schadeten. Weiter hieß es auch, sie führten zu einer »schrecklichen Verjudung unserer Städte und Dörfer« und Juden seien ein »Pestgeschwür«, gegen das man sich wehren müsse.14 Folglich sollte der Gedanke einer Assimilation abgelehnt werden und stattdessen die Verhinderung jeglicher Assimilation der Juden angestrebt werden.15 Vorstellungen von einer jüdischen Weltverschwörung gegen den polnischen Nationalstaat flossen mit einem ökonomisch motivierten Antisemitismus und den traditionellen christlichen Stereotypen zusammen. Die antisemitische Argumentationslogik lässt sich wie folgt zusammenfassen:
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Die Juden waren Christusmörder, schändeten die Hostie und begingen Ritualmorde. Gott selbst hatte sie verurteilt. Dass sie über die ganze Welt verstreut wurden, war die Strafe, die sie für die Ermordung Christi erhalten hatten – gleichzeitig wurde das als Beweis dafür genommen, dass das Christentum der rechte Glaube war. Dass führende politische Kommunisten wie Trotzki, Sinowjew und Kamenew aus jüdischen Familien stammten, benutzten die katholische Kirche und die politische Rechte, um die Begriffskopplung »Jude = Kommunist« einzuführen. Die Vorstellung von einer internationalen jüdischen Verschwörung bekam Wind in die Segel, als im Dezember 1919 die Protokolle der Weisen von Zion auf Polnisch erschienen (weitere Ausgaben folgten 1926, 1930, 1934 und 1936). Hinzu kamen zahlreiche andere antisemitische Schriften und Pamphlete. Die katholische Presse, die oft als Forum für antisemitische Angriffe diente, erlebte in den Jahren zwischen den Weltkriegen eine Blütezeit. 1927 gab es ca. 130 katholische Zeitschriften, zehn Jahre später war die Zahl auf 229 gestiegen. Die meisten erschienen wöchentlich oder monatlich. Hierbei spielte der Franziskaner-Pater Maximilian Kolbe eine zentrale Rolle. Er stand hinter der redaktionellen Linie der führenden katholischen Tageszeitung Mały Dziennik (Kleines Tagebuch). Die Zeitung verwendete als erste Krankheitsmetaphern. Orthodoxe Juden wurden 1939 beschuldigt, in Kielce die Ansteckungsquelle für das Fleckfieber zu sein. Es wurde die Idee verbreitet, Juden in Ghettos zu isolieren oder zur Auswanderung in afrikanische Länder zu zwingen. Kolbe war auch Redakteur der größten Monatsschrift des Landes, Rycerz Niepokalanej (Die Ritter der Unbesudelten; Auflage Ende der 1930er Jahre: über 800.000). In der Zeitschrift behauptete er, die Juden versuchten durch eine jüdisch-freimaurerische Verschwörung Kontrolle über die Welt zu erlangen und deshalb sollten die Juden aus Polen entfernt werden. Weiterhin behauptete die Zeitschrift, die Juden seien die Krankheit der polnischen Nation und das »biologische Hauptreservoir« für das »Weltjudentum« sowie ein »Krebsgeschwür« im polnischen »Volkskörper«.16 Der Historiker Ronald Modras kommt zu dem Schluss, dass Redakteur Kolbe ein typischer Vertreter des katholischen Mainstream-Antisemitismus war.17 Das katholische Pressebüro KAP verbreitete Flugblätter, die dazu aufforderten, die Juden zu isolieren und jüdische Schüler und Lehrer aus den Schulen zu entfernen. Die Kirche und das KAP unterstrichen in den 1930er Jahren, dass der Kommunismus und die Juden gemeinsame Ziele hätten. Die polnische Bevölkerung sollte glauben, dass die Geheimpolizei eine jüdi-
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sche Polizei sei, die die Bevölkerung terrorisierte.18 Mit seinen quasiwissenschaftlichen Analysen des Talmud hielt der Priester und Professor Stanisław Trzeciak den Mythos über die Ritualmorde am Leben.19 Ein anderer publizistisch aktiver Priester, Ignacy Charszewski, benutzte sein Buch über die »jüdische Gefahr als eine Gefahr für die Frauen«, um gegen den Feminismus zu polemisieren.20 Er sah die Gleichstellung und das Stimmrecht der Frauen als einen Teil der weltumspannenden Verschwörung der Linken, der Juden und der Freimaurer, die auch die katholische Kirche treffen würde. Als der Antisemitismus in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zunahm, hielt die Kirche an ihrer Haltung fest und schuf auf diese Weise den Boden für neue Übergriffe. Das wird deutlich in dem, was das Oberhaupt der Kirche in Polen, Kardinal Hlond, im Februar 1936 in einem Fastenhirtenbrief verkündete:21 Es ist ein Faktum, daß die Juden die katholische Kirche bekämpfen, die Freidenkerei blühen lassen, die Avantgarde der Gottlosigkeit, des Bolschewismus und aller umstürzlerischen Bewegungen bilden. Es ist ein Faktum, daß der Einfluß der Juden auf die Sitten verderblich ist und ihre Verlage Pornographie vertreiben. Es ist wahr, daß die Juden Betrug, Wucher und Menschenhandel betreiben. Es ist wahr, daß der Einfluß der jüdischen Jugend auf die katholische in den Schulen unter religiösem und ethischem Gesichtspunkt im allgemeinen negativ ist.
Die ambivalente Haltung der katholischen Kirche hat die Pogromstimmung bei den Kirchgängern nicht kontrollieren können. Auch wenn die Kirche Rassismus als eine Abweichung vom Christentum betrachtete und der erwähnte Hirtenbrief auch positive Eigenschaften der Juden anführte, so waren die starken Generalisierungen eindeutig polarisierend. Hlonds Gedanken wurden von der konservativen Partei Stronnictwo Zachowawcze übernommen und somit zu einem Teil der politischen Agitation.
Ökonomischer und politischer Antisemitismus Im Mai 1923 wurde Endecja in einer neuen Koalitionsregierung zur größten Partei. Ziel der Regierung war, den Staat durch einen nationalen polnischen Charakter zu stärken. Eine Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, bestand darin, dass im Ausbildungssektor das Numerus-clausus-Prinzip eingeführt wurde. Wie in Deutschland und Österreich hatte der Antise-
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mitismus auch unter den Studierenden in Polen eine starke Stellung. Sie fürchteten Arbeitslosigkeit und die ökonomische Konkurrenz von jüdischen Studenten, versteckten ihre Angst jedoch hinter einer Mischung aus ökonomischen, religiösen und nationalistischen Gesichtspunkten. Der Antisemitismus wurde zu einer gemeinsamen Plattform für die katholischen und nationalistischen Studentenorganisationen, und die Universitäten verwandelten sich zu »Brutstätten« des Antisemitismus.22 Die Studenten sorgten dafür, dass der Judenhass an den Universitäten Fuß fasste und forderten eine »Entjudung« der Universitäten, spezielle separate Sitzplätze für jüdische Studenten in den Auditorien und Seminarräumen sowie eine Begrenzung der Anzahl jüdischer Studenten, vor allem in den Fächern Jura und Medizin. 1932 wurde erstmals die Forderung nach einem Numerus nullus erhoben, das heißt, alle Juden von der Universität in Warschau aus zuschließen. Ein Jahr zuvor war es an den Universitäten in Krakau, Warschau, Lwiw und Vilnius zu physischen Übergriffen auf jüdische Studenten durch ihre polnischen Kommilitonen gekommen. Ende 1935 etablierte die Technische Hochschule in Lwiw als erste Einrichtung der höheren Ausbildung separate »Judenbänke«. Im November 1937 forderte die Regierung die Universitäten auf, für jüdische Studenten spezielle »Ghettobänke« einzurichten.23 Einzelne Rektoren und Professoren weigerten sich, diese Forderung umzusetzen. Das zu dieser Zeit polnische Vilnius folgte jedoch der Aufforderung. Das war nur einer von vielen Schritten zur »Ghettoisierung« der Juden. Nationalistische Studenten, Młodzież Wszechpolska (Die allpolnische Jugend), führten eigene »judenfreie« Tage und Wochen durch, an denen die jüdischen Kommilitonen mit Gewalt daran gehindert wurden zu studieren. Das geschah häufig in der Examenszeit. Die »polnisch-arischen« Studenten benutzten dabei Stöcke mit Rasierklingen, um die jüdischen Kommilitonen daran zu hindern, in die Gebäude zu gelangen. Die Weigerung, sich in die »Judenbänke« zu setzen, führte zu Schlägereien, bei denen es zu Todesfällen kam. Die Universitätsleitung und die katholische Kirche distanzierten sich von dem Einsatz von Gewalt, drückten aber auch Verständnis für sie aus. Zur Begründung hieß es, dass die Jugend ein Recht hätte, nach Wegen zu suchen, »um Ungerechtigkeiten in unserem nationalen Leben zu korrigieren«, oder dass die Übergriffe ein Ausdruck »edler Ziele« seien.24 Viele Berufsorganisationen, wie beispielsweise der Ärzteverband und der Journalistenverband, führten Bestimmungen zum Ausschluss der Juden
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ein. Der staatliche und kommunale Boykott jüdischer Unternehmen und Gewerbetreibender verstärkte den Verarmungsprozess, der während der großen wirtschaftlichen Depression Ende der 1920er Jahre eingeleitet worden war. Als der Leiter des Board of Deputies of British Jews, Neville Laski, 1934 das jüdische Warschau besuchte, hatte er zuvor »nie eine derartige Armut und so viel Schmutz gesehen«.25 Historikern wie Yfaat Weiss, Yisrael Gutman und Emanuel Melzer zufolge kam der deutschen Politik gegenüber den Juden nach 1933 für viele Polen ein »Vorbildcharakter« zu, auch wenn man Deutschland in zunehmendem Maße als eine nationalsozialistische Bedrohung empfand.26 Die deutsche antisemitische Politik hatte dagegen als ein erfolgreiches Modell ein hohes Attraktionsniveau in einigen politischen Kreisen Polens. Als Joseph Goebbels 1934 an der Universität in Warschau eine Vorlesung über den Nationalsozialismus und »die jüdische Frage« hielt, konnte er unter den Zuhörern sowohl den Ministerpräsidenten als auch viele polnische Notabilitäten begrüßen.27 Der polnische Botschafter in Berlin, Lipski, erklärte sogar, man wolle in Warschau ein »hübsches Monument« für Hitler errichten, wenn es ihm gelänge, die »Judenfrage« der Deutschen und anderer osteuropäischer Staaten zu lösen, indem er die Juden zwangsweise in überseeische Kolonien schickte.28 Sogar die Nürnberger Gesetze, die die Juden in Deutschland zu Bürgern zweiten Rangs degradierten, betrachteten die Antisemiten als eine positive Maßnahme. Ähnliche Gesetze wurden deshalb für Polen empfohlen. Die Endecja forderte, dass sich die Regierung nicht zum Vorteil polnisch-jüdischer Staatsbürger in Deutschland engagiere oder zuließ, dass diese nach Polen zurückkehren konnten. In den letzten Jahren vor Kriegsausbruch verfolgte die Regierungspartei Obóz Zjednoczenia Narodowego – als Gegnerin jeglicher Integration – das Ziel, den Juden generell die polnische Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Die dunklen Jahre: 1936 bis 1939 Nach dem Tod von Präsident Piłsudski im Mai 1935 wurden die Juden Opfer des politischen Wettbewerbs zwischen der rechtsradikalen Endecja und der regierenden Sanacja. Es begann eine Phase, in der der Staat organisierte, nationalistische Gewalt gegen die Juden zuließ.29 Fast 1400 Juden wurden bei antisemitischen Übergriffen verletzt und mehrere Hundert getötet. Die
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katholische Kirche, antisemitische Organisationen und Parteien mobilisierten ihre Mitglieder zu Boykottaktionen auf Marktplätzen und in den Dörfern. Marktstände wurden zerstört. Jüdische Handwerker und Kaufleute wurden terrorisiert und ihre Tätigkeit schrittweise aus den Kleinstädten verdrängt. Die polnischen Kleinhändler manifestierten ihre »Rassenzugehörigkeit« dadurch, dass sie ihre Läden mit Schildern wie »Das ist ein christliches Geschäft« ausstatteten und die Schaufenster mit Christusund Maria-Bildern schmückten. Christliche Polen wurden aufgefordert, nicht bei Juden zu kaufen, keine Geschäftsverbindungen mit ihnen zu unterhalten und keine Unterkünfte an sie zu vermieten. Diejenigen, die es dennoch taten, wurden in den rechtsextremistischen Zeitungen angeprangert. In den Jahren von 1935 bis 1937 kam es in mehr als 150 Städten und Dörfern zu Pogromen und Übergriffen, unter anderem in Grodno, Przytyk, Mińsk Mazowiecki, Brest und einem von Polens großen Wallfahrtorten, Częstochowa. In der Region um Białystok im nordöstlichen Polen kam es im Jahr 1936 zu 21 Pogromen und 348 antisemitischen Aktionen.30 Im August 1937 kam es in 79 verschiedenen Städten zu etwa 400 Übergriffen. Die Gewaltagitation richtete sich gegen »den reichen Juden«, Opfer der Aktionen wurden die Armen und Schutzlosen. Die Hemmschwelle zu physischen Übergriffen sank und das Ergebnis waren Übergriffe, bei denen die Juden als Kollektiv verantwortlich gemacht und deshalb »abgestraft« werden sollten. Ezra Mendelsohn bezeichnet den Zeitraum von 1936 bis 1939 als »den Krieg gegen die Juden«. Diese Zeit »gehört zu den dunkelsten in der modernen polnischen Geschichte«, schreibt Ronald Modras.31 Yfaat Weiss hat die Ansicht vertreten, dass die Verarmung und die tägliche physische Gewalt dazu beitrugen, dass bis zu den deutschen Novemberpogromen die Situation der Juden in Polen zum Teil schlimmer war als in Hitler-Deutschland.32
Staatlicher Antisemitismus Offiziell distanzierte sich die polnische Regierung von allen Arten der Übergriffe, führte auf Druck der äußeren Rechten jedoch antisemitische Maßnahmen wie zum Beispiel die schon genannten »Ghettobänke« ein. Außenminister Beck forderte, dass der jüdische »Bevölkerungsüberschuss« von 80.000 bis 100.000 Menschen pro Jahr das Land verlassen solle. Dabei sollten vorzugsweise die Vermögenden in Polen bleiben können. In Fragen
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der Auswanderung gab es Berührungspunkte zwischen den Interessen der Behörden und Zionisten wie Jitzchak Gruenbaum und Vladimir Jabotinsky. Die wirtschaftliche Not der Juden brachte sie dazu, umfassende Auswanderungsprogramme zu entwickeln, die von der Regierung unterstützt wurden und die, wie es hieß, dazu beitragen sollten, das antisemitische Klima zu reduzieren.33 Die Kehrseite der Medaille war indessen, dass die Rechten die wachsende Zustimmung zum Zionismus und zur Auswanderung als einen Beweis für die fehlende Loyalität gegenüber dem polnischen Staat ansahen. Wie die Regierung ihrerseits ihre jüdischen Staatsbürger sah, wurde offenbar, als Hitler-Deutschland Mitte Oktober 1938 etwa 17.000 polnische Juden auswies34. Die meisten von ihnen hatten zehn, 20 oder noch mehr Jahre in Deutschland oder Österreich gelebt und gearbeitet. Hintergrund der Ausweisung war, dass ein Gesetz, das vom polnischen Parlament im Oktober verabschiedet wurde, das darauf abzielte, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten und deren Pässe nicht verlängert worden waren, automatisch die Staatsbürgerschaft entzogen würde. Da die Deutschen keine potenziell staatenlosen Juden haben wollten, wurden viele von ihnen verhaftet und in Sonderzügen über die deutsch-polnische Grenze ins Niemandsland geschickt, wo polnischen Behörden dem Gros die Einreise verweigerten. Das Schicksal dieser ca. 8000 polnischen Juden, die zum Teil monatelang und unter extremen Bedingungen gezwungen waren, sich in der Grenzstadt Zbąszyń aufzuhalten, weckte international Aufmerksamkeit. Die antisemitische Politik mit ihrer Kombination aus staatlicher Diskriminierung, bewusster Verarmung, Übergriffen durch das Volk und – zeitweise – gewalttätigen Pogromen mit Morden, war in dem Sinne »erfolgreich«, dass sie zu einer zunehmenden Emigration führte. In der vierten Einwanderungsphase nach Palästina, der vierten Alija (1924–28), kamen die meisten Immigranten aus Polen. Das reichte jedoch bei vielen nicht aus, um Finanzminister Grabskis Programm zur jüdischen Auswanderung als zufriedenstellend anzusehen. 40.000 bis 45.000 jüdische Auswanderer entsprachen nur einem Drittel des jährlichen Bevölkerungswachstums. In der fünften Phase (1929–39) kamen 78.000 polnische Juden (bis 1937) nach Palästina. Beides war ein eindeutiger Ausdruck der beunruhigenden Zustände in Polen. Hinzu kam die Auswanderung nach Südafrika und Südamerika. Der polnische Staat versuchte auch mit den Kolonialmächten Verträge hinsichtlich eines Exports polnischer Juden zum Beispiel nach Angola, Madagaskar
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und Afghanistan abzuschließen, während die katholische Presse auch Guyana, nicht näher spezifizierte »leere Gegenden« und ebenfalls Madagaskar als für Juden geeignete Siedlungsgebiete ansah.35 Die Auswanderung war indessen nur für Menschen mit ökonomischen Ressourcen möglich. Da der Großteil der Juden aufgrund von Grabskis diskriminierender Steuerpolitik immer mehr verarmte, stellte die Emigration für die Mittelschichten keine Alternative mehr dar. Es existierten also für die polnischen Juden nur wenige Möglichkeiten, sich dem Antisemitismus zu entziehen. Ihre Möglichkeiten, nach Palästina zu gelangen, waren aufgrund britischer Restriktionen begrenzt. Auch die amerikanischen Einwanderungsbeschränkungen begrenzten die jüdische Emigration aus Europa. Der traditionelle Ausweg war damit verschlossen. Als 1938 eine internationale Flüchtlingskonferenz in Evian ergebnislos endete, betraf das die Juden in Polen und Rumänien mindestens ebenso stark wie die in Deutschland und Österreich. Die Zionisten Grünbaum und Jabotinsky meinten, es gäbe »objektive« Gründe für den Antisemitismus, die in den speziellen ökonomischen und sozialen Strukturen der Juden lägen.36 Sie setzten sich daher für eine äußerst umfassende Auswanderung ein. Für die jüdische Arbeiterpartei Bund war diese Haltung der Beweis dafür, dass der Zionismus und der Antisemitismus »siamesische Zwillinge« waren.37 Die Partei trat für das Recht der Juden, in Polen zu leben, ein und wurde im Kampf gegen den Antisemitismus zu einer bedeutenden Kraft. Seit ihrer Gründung hatte sich die Partei dafür engagiert, eine jüdische Selbstverteidigung zu organisieren. In der Zwischenkriegszeit unterstützte sie Studenten und schützte jüdische Frauen und Kinder in öffentlichen Parkanlagen vor Übergriffen. Sie half auch jüdischen Kleinhändlern, die vom ökonomischen Boykott betroffen waren. In Warschau, wo Bund zu einem Proteststreik gegen die Gewalt aufforderte, erhielt die Partei von den polnischen Arbeitern der Stadt solidarische Zustimmung. Auch in Kielce und Łomża verhinderten jüdische und polnische Arbeiter gemeinsam Übergriffe. Bei den Kommunalwahlen im Winter 1938/39 gelang es Bund und den Sozialisten gemeinsam in den großen Städten die extremen Nationalisten zu stoppen, die Mehrheit verhielt sich den Übergriffen gegenüber im Großen und Ganzen jedoch passiv.38 Vergleicht man Polen mit Deutschland in der Zwischenkriegszeit, findet man sowohl Parallelen als auch markante Unterschiede. In beiden Ländern haben wir