Erinnerungsorte in Bewegung: Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen [1. Aufl.] 9783839430590

In the transition to a commemoration without historical eye-witnesses, the sites of national socialist crimes will be as

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Erinnerungsorte in Bewegung: Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen [1. Aufl.]
 9783839430590

Table of contents :
Inhalt
Erinnerungsorte in Bewegung
VERBINDUNGEN
Eine kurze Geschichte über Infrastruktur
»Selbst die Sonne schien damals ganz anders …«. Der Stellenwert der Überreste des Lagers für die Gestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen im historischen Rückblick
Schwierige Orte. Erinnerungslandschaften von sinai
Errungene Erinnerungen. Gedenkstätten als Kontaktzonen
ZUGÄNGE
Relikte, Sinnstiftungen und memoriale Blueprints
Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum. Versuche abstrakter Veranschaulichung von inhaltlich-räumlichen Beziehungen
Von Mauthausen nach Gusen und zurück. Verlassene Konzentrationslager – Gedenkstätten – traumatische Orte
Ein Weg, den Toten ihre Namen zu geben. Entwurf für eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die aus Österreich deportierten und in Maly Trostinec ermordeten Menschen
(UN-)SICHTBARKEITEN
Überschreibungen und Einschreibungen. Die Gedenkstätte als Palimpsest
Unsichtbarkeiten. Aufgedeckte Spuren und Relikte. Archäologie im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen
Rückblick auf einen Drehort
GRENZEN
Gedächtnisverlust, Trauma und das Erhabene. Die unsichtbaren Grenzbereiche des Rassismus in der visuellen Kultur
Das Kollektiv. Vorrede zu VIERZIG MORGEN, gehalten im Frühjahr 2014 im Hörsaal 6, TU Wien
»The universal is an empty place«. Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten
BEWEGUNGEN
»Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen« – memory goes regional
Die Geschichte des Paper Soldier von Chto Delat
Wo die Republik beginnt und endet. Zum erinnerungspolitischen Rahmen für Vermittlung und Gestaltung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Autor/-innen
Index

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Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.) Erinnerungsorte in Bewegung

Architekturen | Band 28

Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.)

Erinnerungsorte in Bewegung Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen

Wir danken dem mauthausen memorial/Bundesministerium für Inneres, Abteilung IV/7 für die Projektzusammenarbeit und die Unterstützung der Vortragsreihe »Erinnerungsorte in Bewegung« im Winterhalbjahr 2013/14 an der TU Wien.

Drucklegung mit freundlicher Unterstützung von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens Erinnerungsorte in Bewegung

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VERBINDUNGEN Irit Rogoff Eine kurze Geschichte über Infrastruktur

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Bertrand Perz »Selbst die Sonne schien damals ganz anders …« Der Stellenwert der Überreste des Lagers für die Gestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen im historischen Rückblick

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A.W. Faust Schwierige Orte Erinnerungslandschaften von sinai

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Nora Sternfeld Errungene Erinnerungen Gedenkstätten als Kontaktzonen

77 ZUGÄNGE

Jörg Skriebeleit Relikte, Sinnstiftungen und memoriale Blueprints

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Ulrich Schwarz Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum Versuche abstrakter Veranschaulichung von inhaltlich-räumlichen Beziehungen

127

Christian Dürr Von Mauthausen nach Gusen und zurück Verlassene Konzentrationslager – Gedenkstätten – traumatische Orte

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Struber_Gruber Ein Weg, den Toten ihre Namen zu geben Entwurf für eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die aus Österreich deportierten und in Maly Trostinec ermordeten Menschen 

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(UN-)SICHTBARKEITEN Brigitta Busch Überschreibungen und Einschreibungen Die Gedenkstätte als Palimpsest

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Claudia Theune Unsichtbarkeiten Aufgedeckte Spuren und Relikte. Archäologie im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen

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Eiko Grimberg/Clemens von Wedemeyer Rückblick auf einen Drehort

219 GRENZEN

Suzana Milevska Gedächtnisverlust, Trauma und das Erhabene Die unsichtbaren Grenzbereiche des Rassismus in der visuellen Kultur

237

Das Kollektiv Vorrede zu Vierzig Morgen, gehalten im Frühjahr 2014 im Hörsaal 6, TU Wien

259

Cornelia Siebeck »The universal is an empty place« Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten

269

BEWEGUNGEN Brigitte Halbmayr »Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen« – memory goes regional

315

Dmitry Vilensky Die Geschichte des Paper Soldier von Chto Delat

335

Wolfgang Schmutz Wo die Republik beginnt und endet Zum erinnerungspolitischen Rahmen für Vermittlung und Gestaltung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

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Autor/-innen

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Index

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Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens

Erinnerungsorte in Bewegung

Im April 2015 verkündete das österreichische Innenministerium per Presseaussendung die Umwandlung des Mauthausen Memorials von einer im Ministerium selbst angesiedelten Abteilung in eine Bundesanstalt mit eigenem Budget und dem Anspruch, selbstständig Spenden und Projektmittel zu akquirieren. In einem neu geschaffenen Bundesgesetz werden die wissenschaftlichen, ethischen und pädagogischen Aufgaben der Gedenkstätte genau festgeschrieben und zugleich die Nebenlager des ehemaligen Konzentrationslagers mit erfasst. Diese institutionelle Neuordnung berührt nicht nur rein verwaltungstechnische Fragen, sondern markiert, 70 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes, eine kritische Phase des Umbruchs, die zum einen mit der zunehmenden zeitlichen Distanz zu den Verbrechen des Nationalsozialismus zu tun hat, zum anderen aber auch mit einem veränderten Verständnis von kultureller Vermittlung, das neue Erwartungen an Erinnerungskultur hervorgebracht hat. Ein zentraler Punkt dieses Prozesses ist die verstärkte Zuwendung zur Systemgestalt des Verbrechens, die anstelle einzelner Täter/-innen ein komplexes Netzwerk an Institutionen, Beteiligungen und Profitinteressen ins Blickfeld rückt. Damit verschiebt sich auch der Fokus der Betrachtung von isolierten Orten des Verbrechens auf unterschiedliche Bereiche der Privatwirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, des gesellschaftlichen Alltags und seiner sozialen Strukturen, deren Zusammenwirken ganze Regionen in den industriellen Komplex des Nationalsozialismus involviert hat. Allein in der unmittelbaren Umgebung von Mauthausen findet sich eine große Dichte an solchen Verbindungen, wie jene mit dem Außenlager Gusen, mit geheimen Stollenanlagen oder innerhalb der Marschroute vom Bahnhof Mauthausen. Angesichts der räumlichen Weitläufigkeit dieses Systems kann der »Ort der Erinnerung« nicht auf einen einzelnen, zweckgebundenen Schauplatz beschränkt werden, sondern betrifft diese

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Erinnerungsorte in Bewegung

Erinnerung viele Orte, die in der Gegenwart oft von anderen Nutzungen überlagert sind. Zur großen Herausforderung für heutige Gedenkorte wird damit immer mehr die Frage, wie Erinnerungsarbeit vor Ort stattfinden soll. Zugleich erleben wir in Bezug auf das nationalsozialistische Regime das Ende der Zeitzeug/-innenära und eine Perspektivenverschiebung auf die materielle Kultur des Gedenkens, einen Übergang von gelebter Geschichte zur Expert/-innenkultur. In diesem Prozess kommt den meist als »authentisch« wahrgenommenen Orten nationalsozialistischer Verbrechen eine zunehmend wichtigere Rolle in der Vermittlung der NS-Geschichte zu, denn sie firmieren immer mehr als imaginative Hauptreferenz des Geschehens. Viele Gedenkstätten reagieren auf diese Entwicklung mit einer verstärkten Konzentration auf die Symbolkraft der Orte und ihrer materiellen Hinterlassenschaften. Als Folge der damit einhergehenden Professionalisierung und Musealisierung von Orten der Erinnerung sind heute zahlreiche gedenkstättenübergreifende Standardisierungen sowohl im Bereich des Wissens als auch im Bereich der Gestaltung zu beobachten. Die Professionalisierung des Gedenkens fördert aber auch eine schleichende Verlagerung von Verantwortung aus dem unmittelbaren Bereich der Politik in die Zuständigkeit von Fachexpert/-innen. Damit stellt sich insbesondere die Frage nach den zukünftigen Träger/-innen von Erinnerung: Wird dies eine Rolle der lokalen Bevölkerung und der Gemeinden vor Ort sein oder eine übergeordnete Aufgabe des Staates, die durch professionelle Institutionen wahrgenommen, gesetzlichen Regelungen unterstellt und von fachlichen Autoritäten gelenkt sein wird? Wenn materielle Kultur zur Leitebene des Erinnerns wird, fällt der Gestaltung von Erinnerungsorten eine wichtige Aufgabe zu. Neue Aspekte, wie die Inszenierung von Raumfolgen, die Szenografie von Alltagsgegenständen oder die Ästhetik von Beschilderungen, räumlichen Interventionen und Erhaltungsmaßnahmen treten in den Vordergrund. In vielerlei Hinsicht werden so neue Bedingungen für die konkrete Form des Erinnerns hergestellt. Inmitten dieser Neuordnungen entstand im Frühjahr 2013 eine Zusammenarbeit zwischen dem Bundesministerium für Inneres, Memorial Mauthausen und der Fakultät für Architektur und Raumplanung der Technischen Universität Wien. Aus einem gemeinsamen Diskussionsprozess heraus wurden Konzepte für die räumliche Gestaltung der Außenbereiche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Einleitung

entwickelt. Mit einer solchen Aufgabe werden wichtige Fragen der Vermittlung berührt, die häufig mit der Gestaltung der örtlichen Wegführung zusammenhängen: Wie wird im Gehen durch das Gelände erkennbar, zu welcher Zeit unterschiedliche Artefakte vor Ort entstanden sind? Wie wird die Vermittlung von Geschichte mit den Anliegen des Gedenkens zusammengeführt? Wie lässt sich die Evidenz des Verbrechens in einem Raum der Anteilnahme festhalten? Welche Erzählungen eine Gedenkstätte über sich liefert, wird darüber hinaus von einer Reihe alltäglicher Aspekte und profaner Bedürfnisse (Besucher/-innenparkplätze, Rastplätze, Speise- und Sanitärräume) beeinflusst, die vor Ort berücksichtigt werden und Platz finden müssen. Alle diese Facetten sind Teil des Erfahrungsumfelds von Erinnerungsorten. Angesichts der laufenden Verschiebungen des Kontexts heutiger Erinnerungskultur befinden sich die Anforderungen an die Gestaltung ihrer Orte vermehrt selbst in Veränderung. Um einen verantwortungsvollen und einfühlsamen Gestaltungsprozess zu initiieren, war es für uns daher entscheidend, ein differenziertes Verständnis über die Reichweiten dieser Veränderungen zu entwickeln. Von besonderer Bedeutung ist hier der Umstand, dass wir es heute sowohl mit der konzeptuellen und räumlichen Erweiterung des Referenzraums als auch mit einem Verlust von unmittelbarer Referenz zu tun haben: Der zunehmenden Betrachtung der NS-Konzentrationslager als Teile einer allumfassenden Ökonomie steht mit einer schwindenden Zahl von Überlebenden das Abhandenkommen direkter Erinnerung gegenüber. Diese Dynamik hat nicht nur Auswirkungen auf den heutigen Umgang mit Fragen von Schuld, Scham und Versöhnung, sondern auch darauf, wie konkrete Gestaltung vor Ort neu gedacht werden muss. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung haben wir eine Reihe von Diskussionspartner/-innen eingeladen, die sich in ihrer Arbeit seit Langem mit Fragen der Erinnerungskultur beschäftigen. Ihre Ideen und Projekte finden sich nun im vorliegenden Buch in textlicher und bildlicher Form versammelt und sollen helfen, eine Vielzahl von Perspektiven auf die heutigen Herausforderungen an Erinnerungsorte darzulegen. Wenngleich diese Befunde auf den weitreichenden Umbruch, den Erinnerungsorte aktuell erfahren, verweisen, ist mit dem stattfindenden Wandel nicht bloß die Gesamtheit der sich ändernden Umstände und Tatsachen gemeint. Um die Spannungen und Widersprüche in der Entwicklung heutiger Gedenkkultur besser einordnen zu können – um die Situation zu

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Erinnerungsorte in Bewegung

verstehen, der die Frage nach der räumlichen Gestaltung von Erinnerungsorten entspringt –, gilt es, die Praxis des Erinnerns auch als eine Praxis von Politik zu begreifen. Nicht nur im Fall der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, sondern generell besteht zwischen den Orten nationalsozialistischer Verbrechen und den Orten des Erinnerns eine unmittelbare Verbindung, die augenscheinlich aus dem Ereignis ersterer erwächst. Die politischen Haltungen, die hinter den jeweiligen Situationen stehen, betrachten wir aber in der Regel als einander entgegengesetzt. Dabei sind beide Realitäten – die Praxis des Verbrechens und jene des Erinnerns – nicht bloß ein Effekt diametral verschiedener Politiken, so wie sich auch die konkrete »Gestaltung« vor Ort nicht einfach aus der jeweiligen Politik an sich ableitet. Sie resultiert vielmehr aus dem Management dieser Politiken, aus der alltäglichen Ökonomie politischer Praxis. Diese wie jede andere Ökonomie ist im Agambenschen Sinn eine Praxis, die vermeintlich außerhalb der Politik ansetzt, angeleitet von Logiken des Anordnens, Einteilens, Darstellens und Umsetzens. Für ein besseres Verständnis der räumlichen Realität von Gedenkstätten ist daher nicht nur eine Analyse des Wandels politischer Kontexte an sich relevant, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der (oftmals von unzusammenhängenden Faktoren beeinflussten) Entwicklung von Systemlogiken, die sich aus den der jeweiligen Politik entsprechenden Managementformen ergeben. Wenn in unserer Zeit, wie Giorgio Agamben in »Herrschaft und Herrlichkeit« feststellt, die Ökonomie den Sieg über jeden anderen Aspekt gesellschaftlichen Lebens davongetragen hat und zur Herrschaftsform aller Aspekte unseres öffentlichen Daseins geworden ist 1, gilt es auch im Umgang mit Gedenkstätten darüber zu reflektieren, wie politisch veranlasste »Gestaltung« durch die Systemlogiken des jeweils wirkenden Managements überformt worden ist. Errichtung und Betrieb von Konzentrationslagern etwa waren in diesem Sinn nicht bloß Ausdruck nationalsozialistischer Ideologie, sondern eine Konsequenz des Managements dieser Politik. In ähnlicher Weise lässt sich heute die Wirkung der in die Politik eingedrungenen Formen neoliberalen Managements betrachten: Ihre Orientierung an Maximen der Effizienz und Eigenregie, an 1

Vgl. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit: Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2), übers. von Andreas Hiepko, Frankfurt a.M. 2010, S. 14.

Einleitung

unternehmerischem Handeln, Flexibilität und Innovationsbereitschaft führt zu einer Verankerung ökonomischer Prinzipien in weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens und bereitet damit auch einen Rahmen für viele Situationen, in denen kollektives Erinnern stattfindet. Wie sich an den heute angewendeten Kriterien für den »erfolgreichen« Betrieb von Bildungs- und Kultureinrichtungen – Selbstständigkeit, Medienpräsenz, Besucher/-innenquoten, Umsatzzahlen – zeigt, ist die Realität von Erinnerungsorten, ungeachtet der sie stützenden politischen Haltung, auch abhängig von den jeweils vorherrschenden Paradigmen des Managements dieser Politik. Wie diese Spannung zwischen Politik und ihrem Management in unterschiedlichen Bereichen des Erinnerns – von der Sprache bis zur Architektur und von der Handlung bis zur Überlieferung – zum Ausdruck kommt, bildet die zentrale Frage der in diesem Band versammelten Beiträge. Der englische Psychoanalytiker Donald Winnicott sah im Management einen intuitiven, therapeutischen und administrativen Zugang zu den psychologischen Bedürfnissen, die in einer Behandlung zutage treten. Nicht die direkte Therapietechnik, sondern die konkrete Gestaltung des Settings, in dem eine Therapie durchgeführt wird – analytische Zuwendung, räumliches Milieu und institutionelle Parameter – ermögliche es in geeigneter Weise auf jemanden unterstützend einzugehen. Die Gesamtheit des psychoanalytischen Settings zu beachten stelle also den Schlüssel zu therapeutischem Erfolg dar.2 In diesem Sinn kann auch ein differenziertes Verständnis des »Settings« von Erinnerungsorten – seiner Rahmungen, Leitlinien und Grenzen für das darin auftretende Verhalten – helfen, die jeweiligen Dynamiken (und die oftmals vorhandenen Widersprüche zwischen verschiedenen Ansprüchen und Bedürfnissen) im Betrieb von Gedenkstätten besser zu verstehen. Eine solche Annäherung an Management als komplexes Bedürfnisunternehmen trägt dazu bei, das Wechselspiel von politischen Vorgaben und gesellschaftlichem Alltag als ein ständiges Ineinandergreifen von Kontinuitäten und Brüchen zu verstehen und so etwa auch die Strukturen staatlicher Gewalt und deren Übergang in totalitäre Systeme als in konkrete kulturelle Prozesse eingebettet zu begreifen. 2

Vgl. Winnicott, Donald W.: »Metapsychologische und klinische Aspekte der Regression im Rahmen der Psychoanalyse«, in: Ders., Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, übers. von Gudrun Theusner-Stampa, Gießen 2008, S. 158–178.

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Erinnerungsorte in Bewegung

Die Zusammenführung beider Perspektiven – jene auf die Logiken des Operierens von Gedenkstätten und jene auf die gesellschaftliche Teilhabe an politischen Gewaltsystemen – eröffnet die Möglichkeit, die beiden Pole der Auseinandersetzung um Erinnerungsorte in einen produktiven Dialog zu bringen: Die Frage der Form des Erinnerns ist somit immer zugleich auch eine Frage der Erfassung des zu Erinnernden. Wir haben im vorliegenden Band diesen Diskussionsprozess entlang einer Reihe von Begriffen strukturiert, die uns helfen sollen, diese räumlich-performative Dimension von Orten der Erinnerung aufzugreifen. Es sind dies Begriffe, die sowohl auf einer physischen als auch auf einer symbolischen Ebene operieren und so einen Einstieg in die komplexen Realitäten heutiger Erinnerungsorte bieten können.

Verbindungen Verbundenheit ist keine auf allen Ebenen durchgängige Erfahrung. Historisch miteinander Verbundenes wird oft unterschiedlich gerahmt, und ein direkter Zusammenhang ist daher nicht immer unmittelbar zu erkennen. Die Praxis von räumlichen Veränderungen, neuen Referenzmustern und geänderten Lebensgewohnheiten überdeckt oder verdrängt häufig alte Bedeutungszusammenhänge. Um diese aufrechtzuerhalten (oder wieder hervorzuholen), bedarf es auf vielen Ebenen der Vermittlung zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen: Zusammenhänge erfahrbar zu machen, verlangt eine Form von Übersetzung in heutige Lebenswelten. Dazu gehören im Fall von Gedenkstätten nationalsozialistischer Verbrechen nicht zuletzt die Verbindungen zwischen den verschiedenen Orten, die zum historischen Gesamtkomplex der NS-Lager gehörten, und die Frage, wie unterschiedliche Aspekte dieses regionalen und überregionalen Netzwerks in einen Bedeutungszusammenhang gebracht werden können. Durch das Schaffen von Verbindungen werden räumlich oder konzeptuell getrennte Elemente aufeinander bezogen, Bewegungsbahnen ermöglicht, Personen miteinander in Kontakt gebracht oder unterschiedliche Erfahrungsbereiche zusammengefügt. Verbindungen lassen sich in vielen Fällen begrifflich darstellen und auf dem Papier planen. Ihre Wirksamkeit zeigt sich aber meist erst in der örtlichen Praxis. Ein wichtiger Punkt der Auseinandersetzung ist daher, wie die konkrete Praxis des Verbindung-Schaffens gegen eine abschließende Fixierung von baulichen, sozialen, historischen

Einleitung

oder lebenspraktischen Verbindungen operiert und Raum für das offen hält, was sein könnte. Verbindungen sind nicht dauerhaft fixiert, sondern Ausdruck des Moments, in dem sie hergestellt werden. Auch in einer von Verbindungen geprägten Welt sind aufeinander bezogene Elemente nie vollständig über ihre Beziehungen zueinander definiert. Auf jeder Maßstabsebene gibt es Zonen der Abweichung, in denen eigene Wege eingeschlagen und autonome Milieus des Operierens gestaltet werden. In diesem Entwicklungsprozess bilden sich Eigenlogiken, die unabhängige Veränderungen erlauben. Autonomie solcher Art entsteht nicht durch übergeordnete Planung und Steuerung, sondern durch interne Verlagerungen, Setzungen, Anordnungen und Auflösungen, die einen Prozess der Selbstregulierung darstellen. Irit Rogoffs Reflexion über einen Besuch der KZ-Gedenkstätten in Mauthausen und Gusen zu Beginn des Jahres 2014 eröffnet den Band mit einem besonderen Augenmerk auf konkrete und dennoch oftmals unbeachtete Formen der Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die sich über infrastrukturelle Einrichtungen und Versorgungsnetze in heutige Räume von Erinnerungsorten eingeschrieben haben. Je länger ihr Aufenthalt an diesem Wintertag fortschreitet und je mehr materielle Kontinuitäten in der Gestalt von weiterverwendeten Telefonleitungen oder der gewerblichen Nutzung von Lageranlagen in den Nachkriegsjahren deutlich werden, umso weniger lässt sich an Darstellungen festhalten, die das Lager als eine von der Umwelt isolierte Erscheinung und geschlossene Einheit ausweisen. »Infrastruktur, so scheint es«, schreibt Rogoff, »ist eine Art und Weise, verwickelt zu sein, sowohl räumlich als auch materiell. Sie normalisiert, funktionalisiert und veralltäglicht sowohl Regierungsgewalt als auch Unterdrückung.« (S. 35) Die zunehmende Anerkennung der alltäglichen Verbindungen zwischen den Logistiken des Lagerbetriebs und dem zivilen Leben der umgebenden Regionen ist ein wichtiger Schritt im Erforschen der NS-Vernichtungspolitik und Gegenstand einer Reihe von Beiträgen dieses Bandes. Zugleich kann der Kontakt mit dem politischen, ökonomischen und kulturellen Umfeld heute eine wesentliche Rolle spielen, wenn es darum geht, die Auseinandersetzung mit Erinnerungsorten am Leben zu halten. Entscheidend für Rogoff ist dabei nicht eine Obsession mit der Auflistung von Verwicklungen, sondern die Aufmerksamkeit für diese Verbindungen an sich voranzutreiben. Aufmerksamkeit selbst wird damit zu einer wichtigen Infrastruktur für

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Erinnerungsorte in Bewegung

Orte des Erinnerns – eine Geste des Verbindens, die auch diesem Band als Leitmotiv zugrunde liegt. Den historischen Gründen für die Isolierung von Mauthausen und der gleichzeitigen Vernachlässigung von Gusen als Gedenkort geht Bertrand Perz in seinem Beitrag über den Stellenwert der Überreste des Lagers für die Gestaltung der KZ-Gedenkstätte nach. Als verbindendes Element kristallisiert sich die Frage heraus, wie in diesem Prozess die Funktion des Konzentrationslagers als »ein – von der SS stolz präsentierter – Ort der Täter/-innen, eingebunden in ein komplexes gesellschaftliches und ökonomisches Umfeld« (S. 41) in den Hintergrund ge­ treten ist. Der Umgang mit den materiellen Überresten erweist sich als wesentlich davon geprägt, ob wir diese vorrangig als Symbol, Denkmal oder Vermittlungsobjekt für historisches Wissen verstehen und behandeln. Mit dem wachsenden Anspruch, auch die weitreichenden Verflechtungen des Lagersystems mit der Kriegsökonomie dieser Jahre sichtbar zu machen (etwa das umfassende Netz an Nebenlagern oder die Zwangsarbeit im Bergbau, der Industrie und Landwirtschaft) treten zudem zahlreiche weitere bauliche Relikte außerhalb der zweckgewidmeten Gelände von Gedenkstätten in den Fokus. Zur Frage nach der konzeptuellen Rolle von materiellen Überresten als historischem Zeugnis, Mahnmal oder Vermittlungsstätte gesellen sich hier Problematiken der baulich-materiellen Konservierung als auch Konflikte um Nutzungen sowie um Eigentumsund Zugangsrechte. Überlegungen zum Zusammenspiel von thematischer und räumlicher Erweiterung bilden angesichts mehrerer Jahrzehnte unterschiedlichster Gedenkkultur auch für die geplante Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen entwurfsbestimmende Impulse. Die »bildhauerische Strategie« des Landschaftsarchitekturbüros sinai richtet sich hier auf eine raumbezogene, archäologische Intervention im Gelände in Verbindung mit wissensvermittelnden Ausstellungen. Ausgehend von dieser Arbeit und den Beispielen der Gedenkstätten Berliner Mauer sowie Platz des 9. Novembers 1989, ebenfalls in Berlin, unternimmt A.W. Faust den Versuch einer Bestandsaufnahme von zeitgenössischen gestalterischen Konzepten im Umgang mit historischen Überresten. Historische Orte erweisen sich dabei als komplexe Konstellationen, für deren Neugestaltung selten nur der jeweils aktuelle Zeitpunkt maßgebend ist, sondern immer auch das Erbe früherer Gestaltungen mitberücksichtigt werden muss. Gerade in der Gestaltung von kollektiven Erinnerungsorten gewinnen

Einleitung

dabei Fragen der Entscheidungshoheit einen besonderen Stellenwert. Wie kommt es zu bestimmten Deutungen eines Ortes, und wer entscheidet über Art und Ausmaß des gestalterischen Eingriffs in der besonderen Widmung als Gedenkstätte? Inwieweit sollen diese Auseinandersetzungen selbst – der »Streit um das richtige Gedenken«, so Faust (S. 59) – in die Gestaltung des Erinnerns und die Repräsentation des zu Erinnernden vor Ort miteinbezogen werden? Erinnern als umkämpftes Terrain steht auch im Mittelpunkt von Nora Sternfelds Beitrag »Errungene Erinnerungen – Gedenkstätten als Kontaktzonen«. Im 21. Jahrhundert ist das für lange Zeit gleichermaßen national wie homogen gedachte Kollektiv des Erinnerns zunehmend in Bewegung geraten. Sowohl die Migrationsgesellschaften der Gegenwart als auch eine sich im Zuge des europäischen Einigungsprozesses entwickelnde transnationale Geschichtsschreibung rufen an den Orten und in der Praxis des Holocaust-Erinnerns – von der Gestaltung von Gedenkstätten bis zum Unterricht in Schulen – zahlreiche Widersprüche und Brüche hervor. Sie erzeugen ein Spannungsfeld, das zwischen den beiden entgegengesetzten Positionen der Universalisierung (dem Versuch, Erinnerung an den Holocaust zu verallgemeinern und zu übertragen) und dem Anspruch auf Singularität (dem Festhalten der Unvergleichbarkeit der Verbrechen des Nationalsozialismus) changiert. Aufbauend auf einem postkolonialen Ansatz des agonistischen Ausverhandelns heterogener Geschichtsbezüge entwickelt Sternfeld ein Konzept der »errungenen Erinnerungen«, mit dem ein Raum des Erinnerns eröffnet werden kann, »der Konflikte anerkennt, Widersprüche nicht herunterspielt, aber auch nicht zu Hauptwidersprüchen werden lässt« (S. 93).

Zugänge Der Zugang bezeichnet eine Situation, die uns an Orten der Erinnerung überall begleitet: von der Ankunft auf Parkplätzen und dem Betreten eines abgegrenzten Areals, über den Zugang zu Exponaten und Gebäuden, die sich auf dem Gelände befinden, bis hin zum Zugang zu Gedenkstätten im Gesamten, als Orte, die sich uns erschließen. Zugänge sind Öffnungen in Bereichen, zu denen einem Einlass geboten oder dieser verwehrt wird. Der Begriff ›Zugang‹ verweist sowohl auf einen physischen Ort als auch auf eine ideelle, rechtliche oder politische Situation. Die Form des Zugangs ist somit

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Erinnerungsorte in Bewegung

ein Zusammenspiel von vielen Komponenten, die alle Einfluss haben, aber nicht in gleicher Weise offenkundig sind. Zugang meint nicht unbedingt Zugänglichkeit. Im heutigen Kultur- und Bildungsbereich, speziell im Museums- und Ausstellungswesen, wird das Bereitstellen von einfachen Zugängen zu einer komplexen Idee gerne mit dem Prädikat der Zugänglichkeit versehen. In den letzten Jahren wurde jedoch vermehrt Kritik an diesem Konzept geäußert und die Frage des Zugangs als inhaltlicher und emanzipatorischer Anspruch formuliert, mit eigenen Fragen und Konzepten an einen Ort herantreten und sich diesen Ort dadurch selbst erschließen zu können. In zeitgenössischer Theorie wird deshalb oft kritisiert, dass Zugänglichkeit zu einer Form von Unterhaltung geworden ist, die den Wert von Ausstellungen nur in Besucher/-innenzahlen misst und einem Massenpublikum altbekannte Kategorien anbietet, um sich darin widerspiegeln zu können. Das Ergebnis sei eine verkümmerte Vorstellung von Kultur als leicht verdauliche Ansammlung von Informationen und Reizen. Es stellt sich daher die Frage, wie die ständig präsente Aufforderung nach Zugänglichkeit in eine andere Möglichkeit verwandelt werden kann: jene des Zugangs zu Kultur in ihrer Gesamtheit und zu einem Artikulieren neuer Fragen.3 Für die Neugestaltung der Außenbereiche der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg wurde hierzu eine reflexive und diskursive Vorgangsweise gewählt, die es ermöglichen sollte, die Vielschichtigkeit des historischen Ortes zu erfassen. Dazu gehört auch die Überformung der Lagerrelikte durch nachfolgende memoriale Sinnstiftungen. Wie Jörg Skriebeleit, der Leiter der Gedenkstätte, in seinem Beitrag beleuchtet, bedeutet diese Mehrdimensionalität nicht nur eine, gleichsam zusätzliche, Erschwernis. Sie kann auch als ein besonderer Wert in der Vermittlung von Geschichte begriffen werden. Je nachdem, wie sie am Ort des Gedenkens erfahren wird, kann die Erfahrung des historischen Wandels des Erinnerns einen wichtigen Beitrag im Prozess der Vermittlung und Erkenntnis liefern und sollte daher in Neugestaltungen eingebunden werden. Der im Fall von Flossenbürg aufgebrochene Konflikt mit einem Teil eines Überlebendenverbandes verdeutlicht für Skriebeleit eine immer noch weitverbreitete »ästhetische Folie«, bestehend aus »Lagertor, Stacheldraht und Schotter« 3

Vgl. Rogoff, Irit: »Access« (2008), unter: http://ck.kein.org/seminar_11 vom 07.09.2015.

Einleitung

– ein »memorialer Blueprint« als Grundlage bestimmter Erwartungshaltungen darüber, wie ein ehemaliges Konzentrationslager auszusehen hat. Aber auch der in Flossenbürg gewählte reflexive Zugang ist letztlich wiederum als eine Station im Wandel von Erinnerungskultur zu verstehen, und das Sichtbarmachen historischer Überformungen wirft selbst neue Fragen zu den Grenzen von Repräsentation – Fragen der »Überästhetisierung« materieller Zeugnisse und der fortgesetzten Dominanz von Strukturen des Verbrechens in der Organisation des Gedenkens – auf. Anhand verschiedener Entwürfe für historische Ausstellungen stellt der Designer Ulrich Schwarz weitere Möglichkeiten für einen veränderten Umgang mit Raum und Geschichte vor. Auch hier ist das Ziel die Sichtbarmachung komplexer Zusammenhänge und die Forcierung einer selbstständigen Erarbeitung von Erkenntnissen durch die Besucher/-innen. Für die 2010 eröffnete Dauerausstellung »was bleibt« in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg bemühte sich sein Büro um einen Paradigmenwechsel gegenüber dem in Gedenkstätten meist vorherrschenden Formenkanon, der die Darstellung allzu oft in der Vergangenheit verankere. Mittels einer hierfür entwickelten »synchronoptischen Medienwand« werden alle verwendeten Medienformate neu interpretiert, um so gängige Wahrnehmungsmuster aufzubrechen. Um ein »Denken im Raum« zu unterstützen, wird die chronologische Darstellung um die thematischen Betrachtungsaspekte »Ort – Erinnerung – Überlebende – Täter« erweitert. Anstatt eine eindeutige Reihenfolge der Betrachtung vorzugeben, soll eine klare und übersichtliche Anordnung der Ausstellung den Besucher/-innen ermöglichen, sich Wissen autonom anzueignen. Wenn es heute bei der Neugestaltung von Gedenkstätten um Fragen des Zugangs geht, dann geht es damit sowohl um ein Nachdenken über heutige Formen der Geschichtsvermittlung als auch um die Frage des Zugangs zur Geschichte der Formation von Erinnerungsorten selbst. Besonders prägend erweist sich dabei oft die Art der Verbindung zwischen der Zeit des zu gedenkenden Verbrechens und dem Moment der Überführung des Ortes in eine Gedenkstätte. Für das Mauthausen Memorial macht Christian Dürr, dortiger Archivar, eine bis heute fortwirkende Ambivalenz aus, die er im Staatsmythos der Zweiten Republik, der Österreich zum ersten Opfer Hitlerdeutschlands erklärte, begründet sieht. »Je mehr er [der Nationalsozialismus] als Gründungsverbrechen geleugnet

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Erinnerungsorte in Bewegung

und verdrängt wird, desto stärker wirkt er strukturell in die Gegenwart weiter. Denkmäler erfüllen häufig den Zweck, dieser Leugnung und Verdrängung den Anschein von Aufarbeitung zu geben.« (S. 150) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Verläufen im Umgang mit den ehemaligen Lagern Mauthausen und Gusen. Während die Überreste des einen 1949 als »Öffentliches Denkmal Mauthausen« zur offiziellen österreichischen Gedenkstätte erklärt wurden, wurde das Gelände von Gusen ab den 1950er-Jahren mit einer Wohnsiedlung überbaut, die dazu beiträgt, dass Gusen heute als »traumatischer Ort« erfahren wird. Von Interesse ist hier nicht die Gegenüberstellung historischer Versäumnisse, von Gedenkstätte versus traumatischer Ort. Neue Zugänge, so Dürr, können sich gerade aus der Spannung zwischen den unterschiedlichen Verläufen und Inanspruchnahmen entwickeln. Während Gedenkorte den Anschein erwecken, dass Geschichte über ihre Erzählung ein Ende finden könnte, beweisen traumatische Orte »als sichtbare Spuren des primordialen Verbrechens« (S. 163), dass sie nicht zum Ende kommen kann. Dienen also Gedenk­ orte der rituellen und diskursiven Selbstvergewisserung, so provozieren traumatische Orte »die kritische Reflexion genau dieser Riten und Diskurse« (ebd.). Um die Schaffung eines lebendigen Erinnerungsraums geht es auch im Projektbeitrag von Struber_Gruber, einem 2013 entstandenen Entwurf für eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die über 13.000 Menschen, die in den Jahren 1941 und 1942 aus Österreich deportiert und in Maly Trostinec in Weißrussland ermordet wurden. Anders als an vielen Orten ehemaliger Konzentrationslager gibt es in Maly Trostinec bis heute kein materielles Gedenkzeichen. Das Projekt schlägt die Errichtung eines Erdhügels als eine Art Ersatz-Grabmal für die Toten vor, dessen Stützmauer aus von Pat/-innen in Wien händisch mit den Namen und Daten der Toten beschrifteten Lehmziegeln gebildet wird. Mit der Koppelung von sozialem Prozess und materieller (Um-)Setzung möchten Struber_Gruber eine geografische und lebensgeschichtliche Verbindung zwischen Wien und dem 1.300 km entfernten Maly Trostinec schaffen. Damit wird die materielle Verortung des Prozesses des kollektiven Erinnerns über den Ort des Verbrechens hinaus auf die Heimat der Opfer und die dort nachkommenden Generationen ausgedehnt. Nicht nur die fertiggestellte Gedenkstätte mahnt so das Erinnern ein. Die Bewusstseinsbildung beginnt vielmehr

Einleitung

mit dem Aufruf zur Teilhabe an der Produktion des Mahnmals, und sie wirkt darüber hinaus, indem die in Wien lebenden Pat/-innen zu Träger/-innen des Erinnerns – nicht nur an einen entfernten Ort, sondern auch an den Prozess des Erinnerns selbst – werden.

(Un-)Sichtbarkeiten Etwas sichtbar zu machen, bedeutet eine bestimmte Art von Kenntnis über einen Sachverhalt herzustellen. Sichtbarkeit zu verleihen ist anders gesagt eine bestimmte Form, Wissen zu verhandeln. Im Fall von Orten der Erinnerung kann sich das zum Beispiel auf ehemalige Lagerstrukturen, materielle Relikte oder die damit zusammenhängenden archäologischen Funde beziehen. Der von uns gebrauchte Doppelbegriff der (Un-)Sichtbarkeiten umfasst nicht nur sichtbar, sondern auch unsichtbar Gemachtes. Er bezieht sich, anders gesagt, nicht nur auf das, was gezeigt werden soll, sondern auch auf das, was bei diesem Unternehmen ins Verborgene rückt. Mit ihm wird deutlich, dass eine Politik des (Un-)Sichtbarmachens immer beide Möglichkeiten zum Ziel haben kann: Zeigen und Verbergen. Die »visuelle Konstruktion« eines Gegenstands oder Orts ist zugleich nie eine nur visuelle. Sie ist von vielfältigen Praktiken des Zu-Sehen-Gebens beeinflusst. Diese Praktiken können als direkte Hinweise, Anregungen oder Aufforderungen formuliert sein. Sie können aber auch mit der Gestaltung einer Umgebung zu tun haben, in der etwas sichtbar gemacht, aufbewahrt, ausgestellt oder inszeniert wird. Interpretieren und Zeigen sollten immer den eigenen Blick mitbedenken, ebenso wie den Ort, von dem aus interpretiert und gezeigt wird sowie dessen Beziehung zu anderen Orten und Feldern der Betrachtung. Jeder Blick ist mit einem Wissen darüber verbunden, wie er sieht und wie er durch das geprägt ist, was wir als kulturelles bzw. soziales Gedächtnis verstehen.4 Eine solche Auseinandersetzung mit (Un-)Sichtbarkeiten betrifft auch eine genaue Betrachtung der Institutionen, in denen »zu sehen gegeben« wird. Institutionelle Vorgaben lenken nicht nur den Blick von Betrachtungen vor Ort, sondern bestimmen oft auch, was im visuellen Feld Präsenz bekommt und wessen Existenz keine Beachtung erfährt. 4

Vgl. Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 104–105.

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Dass Sprache in Form von schriftlichen Erklärungen und Informationen in KZ-Gedenkstätten nicht bloß eine Frage der grafischen Gestaltung ist, sondern sich in einer »chronotopisch« geschichteten Umgebung bewegt, zeigt der Beitrag von Brigitta Busch mit Blick auf die unterschiedlichen Beschriftungssysteme, die sich im Lauf der Jahrzehnte im Außenbereich der Gedenkstätte Mauthausen angesammelt haben. Gerade in einer Phase der Professionalisierung verlangt der Umgang mit der vor Ort vorhandenen Heteroglossie aus verschiedenen Zeiten, Diskursen und Sprachen besondere Beachtung. Während sich das akademische Wissen über das Operieren des nationalsozialistischen Systems erweitert, schwindet mit dem Ableben der Überlebenden die Vielfalt der Stimmen des unmittelbaren Erinnerns. Auch für Busch geht es in der Frage über die zukünftige Ausrichtung der Gestaltung von Erinnerungsorten um die Auseinandersetzung mit (Un-)Sichtbarkeiten und (Un-)Hörbarem sowie um ein Zusammendenken der Wirkmacht von Tatort und Gedenkstätte: Wie schreibt sich die raumzeitliche Verbindung zwischen den Herrschaftsmechanismen des NS-Regimes (etwa sprachliche Gewalt im Negieren des Menschseins der KZ-Häftlinge) und den sprachlichen Praktiken des Gedenkens (etwa die Maxime, die historischen Reste möglichst wenig zu stören) in unsere Erfahrung von Erinnerungsorten ein? Bei vielen Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager machen die oberflächlich sichtbaren Spuren nur einen Bruchteil der ursprünglichen Anlagen aus. Große Teile wurden zumeist entweder kurz vor Kriegsende von abziehenden SS-Truppen zerstört oder in den Nachkriegsjahren aus unterschiedlicher Motivation (erhaltungstechnische Bedenken, konträre Nutzungsinteressen, politisches Desinteresse) abgetragen. In der Aufarbeitung wichtiger historischer Fakten kommt archäologischer Forschung daher eine besondere Bedeutung zu. Wie Claudia Theune anhand einer Reihe von Beispielen, unter anderem dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen, erläutert, bietet zeitgeschichtliche Archäologie einen einzigartigen Zugang zu Erkenntnisgewinnen, die anders nicht möglich wären. Wie viele der Beiträge dieses Bandes deutlich machen, trifft dieses Wissen heute auf ein gesteigertes Interesse an den tatsächlichen Ausmaßen des militärisch-ökonomischen Komplexes der nationalsozialistischen Konzentrationslager (sowohl hinsichtlich seiner kulturellen Verstrickung als auch in seiner räumlichen und infrastrukturellen Natur), zu deren Sichtbarmachung Archäologie einen wichtigen Beitrag leistet.

Einleitung

Mit der Feststellung, dass es an Wissen bedarf, um sehen zu können, eröffnen Eiko Grimberg und Clemens von Wedemeyer ihren Beitrag »Rückblick auf einen Drehort«: »Man sieht nicht, dass dieses ehemalige Benediktinerkloster in Breitenau bei Kassel einmal ein Konzentrationslager war.« (S. 219) In seinen Notizen – im Beitrag im Dreiklang mit kurzen Sentenzen aus Filmszenen und Fotografien von Eiko Grimberg – schildert Wedemeyer die Gedanken, die das Filmen historischer Ereignisse am heutigen Ort evozierte. Wesentliches Instrument für den Zugang zu diesen Überlagerungen und Vermischungen bildete ein Zusammenspiel unterschiedlicher Zeitschichten, von Szenen des Verbrechens mit Momenten des Gedenkens. Die für den Beitrag gewählte Form der Montage eröffnet einen Dialog, in dem nach dem gefragt wird, was eigentlich zu sehen ist, was gesehen werden kann, was nicht zu sehen ist, was gewusst wird oder auch nicht, was nur zu hören ist usw. Diese Herangehensweise gewährt zugleich einen Einblick in die Unsicherheiten und Bedenken, die der Versuch einer Annäherung an diese Zeiten hervorruft.

Grenzen Die Grenze ist nicht einfach nur ein räumliches Objekt, sondern zuallererst ein Konzept, mit dem Einschlüsse und Ausschlüsse hergestellt werden. Sie wird räumlich exekutiert, aber ihr Denken basiert auf einer komplexen Struktur von Anordnungen, Berechtigungen, Eingliederungen und Ausweisungen. Die Grenze ist eine geteilte Fiktion, die in Abhängigkeit von der Art der gesuchten räumlichen und sozialen Organisation eine bestimmte materielle Gestalt anregt. Dieser Zusammenhang der Grenze mit unserer Vorstellungswelt macht deutlich, dass Grenzen ebenso wie Grenzgebiete hochgradig imaginäre Konstrukte sind, voll von Trugbildern, falschen Erinnerungen und Mythen. Ein Operieren in diesen Bereichen überquert so die Schwellen von physischen und imaginären Räumen. Auf den ersten Blick mögen die Grenzen eines Lagers eindeutig erscheinen: Mauern, Zäune, Tore, Wachtürme. Doch nach Agamben meint die Grenze zugleich den Einschluss im Ausschluss, den das Lager als Ort und als System an sich darstellt.5 Grenzen ordnen räumliche Zusammenhänge 5

Vgl. Agamben, Giorgio: »Das Lager als nómos der Moderne«, in: Ders., Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 175–189.

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Erinnerungsorte in Bewegung

ebenso, wie sie unser Denken ordnen. Sie geben vor, was als Bestandteil eines Gebildes anzusehen ist, und was nicht dazugehört. Grenzen verteilen somit Zugehörigkeiten, Berechtigungen und Ansprüche in territorialer wie in ideeller, politischer und rechtlicher Hinsicht. Diese Politik der Grenze lässt sich über ein Insistieren auf der Existenz von Grenzaktivitäten und über ein Intensivieren dieser Aktivitäten herausfordern. Das Unterlaufen und Überschreiten von Grenzen und deren ständig zunehmende Elastizität sind so zu wichtigen Parametern in stadträumlichen und geopolitischen Debatten geworden. Die Architektur der Grenze ist nicht einfach politisch in dem Sinn, dass sie ein gedankliches, politisches oder ökonomisches Innen und Außen manifest werden lässt. Sie ist vielmehr materielle Politik, eine Form von räumlich operierender Konfliktpraxis. In diesem Sinn versteht sich die Grenze als Markierung gegenüber einem weitgehend undefinierten Äußeren, dessen Natur im Akt der Exekution der Grenze erst festgestellt wird. Grenzziehung wird so zu einem Akt performativer Erkenntnisproduktion. In diesem Geschehen legitimiert sich die Grenze gewissermaßen selbst durch das Etablieren einer von ihr ausgeschlossenen Natur. Grenzziehungen zwischen Möglichem und Unmöglichem stehen im Fokus von Suzana Milevskas Beschäftigung mit Beständen von Rassismus in der zeitgenössischen visuellen Kultur demokratischer Gesellschaften. Für das Wesen vieler Denkmäler gilt, dass ihnen eine Verlusterfahrung (etwa der Tod eines Herrschers oder ein kollektives Unglück) zugrunde liegt, dass sie an etwas Unwiederbringliches gemahnen sollen. Doch mit der Katastrophe des Holocaust verbindet sich nicht nur unzähliges Leid sowie persönlicher und gesellschaftlicher Verlust, sondern der Verlust der Darstellbarkeit der Katastrophe selbst. Aus diesem Umstand heraus wurde in der Gestaltung von Gedenkstätten jüngerer Zeit häufig minimalistischen bzw. nicht-abbildenden Zugängen und Ästhetiken der Vorzug gegeben. Der Versuch künstlerisch-forschender Intervention in die Gegenwart vergangenheitsbelasteter Strukturen verlangt damit immer ein zweifaches Arbeiten an den Grenzen des Möglichen: zum einen den steten Kampf darüber, welches Unrecht gezeigt und benannt werden darf, und zum anderen ein andauerndes Ringen um die Form der Artikulation des Unrechts und der Repräsentation der Beteiligten. In ihrer kritischen Analyse von post-repräsentativen Strategien für Gegendenkmäler stützt sich Milevska neben anderen Beispielen vor allem auf die Vorfälle rund um das Projekt

Einleitung

»The Disobedient« von Sanja Iveković für die dOCUMENTA (13) in Kassel 2012, das sich mit der Geschichte des Klosters Breitenau, seiner Funktion als »Arbeitserziehungslager« zwischen 1940–45 und der Involvierung mehrerer größerer deutscher Industriebetriebe, die zugleich als Sponsoren der dOCUMENTA auftraten, beschäftigte. Dass Vorhaben dieser Art fast immer zu Konflikten mit den herrschenden Instanzen staatlicher, ökonomischer und kultureller Ordnung führen, scheint unausweichlich und für Milevska letztlich auch notwendig, »denn es scheint, dass nur in diesem Kontext diese Paradoxien offengelegt werden können und der andernfalls verdeckte Fortbestand rassisierter gesellschaftlicher Strukturen aus der Vergangenheit in der Gegenwart benannt und infrage gestellt wird« (S. 254). Neben dem direkten Dialog mit den in diesem Band versammelten Autor/-innen bildete die Arbeit mit Studierenden an neuen Entwurfszugängen zur Organisation und Gestaltung der Außenanlagen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen einen zentralen Teil unserer Auseinandersetzung. Das Projekt der Gruppe Das Kollektiv verfolgt eine fiktive Erzählung, die es ermöglicht, scheinbar unmögliche Entwicklungen weiterzuspinnen und eine komplexe Dynamik von sozialen, ökonomischen und bautechnischen Logiken entstehen zu lassen. Diese der Moral des Realen enthobenen Grenzüberschreitungen kreieren völlig neue und vermeintlich undenkbare Verbindungen zwischen der Gedenkstätte und seiner Umgebung. Neben umfangreichen architektonischen Darstellungen, wie Plänen und Modellen, bildet für das Projekt »Vierzig Morgen« das performative Vermitteln der (Gegen-)Erzählung einen wichtigen Schritt, um einen alternativen Diskurs einzuleiten. Eine diesem Prinzip folgende erzählerische Verknüpfung von fremden und eigenen Text-Versatzstücken ist hier als »Vorrede zu Vierzig Morgen – gehalten im Frühjahr 2014 im Hörsaal 6, TU Wien« wiedergegeben. Die historischen Entwicklungslinien einer zunehmenden Tendenz der Professionalisierung und Musealisierung in der Gestaltung von KZ-Gedenkstätten sowie Möglichkeiten, die als immer enger gesetzt erfahrenen Grenzen demokratischer Beteiligung aufzubrechen, lotet Cornelia Siebeck in ihrem Beitrag »›The universal is an empty place‹ – Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten« aus. In einer aufschlussreichen Analyse erörtert sie die Harmonisierung des

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Betriebs von Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, die nach der Wiedervereinigung von 1990 erfolgte. Die Entscheidungshoheit an ein Expert/-innentum zu übertragen, erlaubte die gleichzeitige Entstaatlichung im Osten (den Bruch mit einer staatlich verordneten doktrinär-antifaschistischen Gedächtnispolitik) und Verstaatlichung im Westen (den Übergang von staatsfernem Engagement und kollektiver Aneignung zu einer systematischen staatlichen Förderung und Regulierung) unter der vereinenden Klammer einer »demokratischen Erinnerungskultur«. Die Problematik des normativen Ausschlusses von musealisierten Belehrungsorten wird an vielen Gedenkstätten heute anerkannt. Dabei lässt sich die Brücke von institutionalisierter Gedenkstättenarbeit zu einer »zivilgesellschaftlichen Erinnerungskultur« nicht alleine aus einer reformierten Praxis des Expert/-innentums heraus schlagen. Zukunftsweisender erscheint Siebeck ein radikaldemokratisches Aufbrechen der zugelassenen Partikularinteressen und ein Anerkennen der Unentscheidbarkeit des Universalen.

Bewegungen Zirkulation meint oft das reibungs- und konfliktlose, beinahe auch körperlose Fortbewegen von einem Ort zum nächsten, das ohne jegliche Berührung stattfindet – ein Ideal von Ortswechsel, das völlig abstrakt operiert. Demgegenüber findet sich im Begriff der Bewegung etwas von dem, was geschieht, wenn unterschiedliche Bewegungsbahnen aufeinandertreffen, wenn es zu Reibungen, Auseinandersetzungen und Überschneidungen kommt. Bewegung ist mehr als reine Zirkulation. Sie ist eine Dynamik, die entsteht, wenn unterschiedliche Geschichten, Ansprüche, Spannungen und Logiken räumlichen Operierens zusammentreffen und beginnen, einander zu beeinflussen. Bewegungen sind gekennzeichnet durch das Aufeinanderprallen und Auseinanderstreben unterschiedlicher Orientierungsversuche, aus deren Bahnen nach und nach Sinnzusammenhänge entstehen. Obwohl die Gestaltung eines Ausstellungsgeländes daher Bedacht nehmen muss, dass Bewegungsströme in einer sinnvollen Weise koordiniert werden, gilt es auch darüber zu reflektieren, wie Raum für eine komplexe Vielfalt von Bewegungen, Logiken und Interessen geöffnet werden kann, sodass aus den Momenten des Zusammentreffens und Überschneidens etwas Eigen­ ständiges entsteht.

Einleitung

Bewegung hat immer eine verweisende und verlagernde Funktion. So haben wir Orte im Moment unserer Ankunft im Grunde genommen bereits wieder verlassen: Sie sind weniger letztes Ziel als das Versprechen von anderen Orten, zu denen uns die Bewegung führen wird. Orte wirken in diesem Sinn wie Schaltstellen, die auf Gelegenheiten außerhalb ihres eigenen Bereichs verweisen – auf Bewegungen, die noch kommen werden. Die zwischen diesen Bewegungen liegenden Orte dienen als Sammelpunkte, um eine gewisse Art von Stabilität zu ermöglichen, die auf der gemeinsamen Bereitschaft beruht, diese Stabilität auf unterschiedlichste Weise zu erfahren.6 Von Begegnungen und Bewegungen, die außerhalb der physischen wie institutionellen Grenzen von Gedenkstätten stattfinden, erzählt Brigitte Halbmayrs Beitrag zur Entstehungsgeschichte, Durchführung und Wirkung des Beteiligungsprojekts »Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen«, das ab 2011 infolge der Auseinandersetzung um den Erhalt zweier früherer SS-Baracken in der Nähe des ehemaligen KZ-Lagers Gusen begonnen wurde. Der Abschied vom nationalen Opfermythos, der in Österreich in den letzten Jahrzehnten vollzogen wurde, hat auch das Bedürfnis nach einer genaueren Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Familie, des Wohnortes und der Region mit sich gebracht. Für Nachbarschaften ehemaliger Konzentrationslager, deren räumliche Organisation immer noch von den damaligen infrastrukturellen Einrichtungen geprägt ist, bedeutet dies, über ein Überdenken der moralisch-ideologischen Haltung zu familiärer und ortsgemeinschaftlicher Geschichte hinaus die alltägliche Konfrontation mit diesen Materien zu akzeptieren. Was erzielt werden soll, ist, wie die Initiator/-innen des Projekts formulieren, eine bewusste Orientierung darauf, wie »Orte der Erinnerung für die Menschen der Region Teil ihres Lebensbereichs werden« (S. 321) können. Für Halbmayr geraten mit der Ausweitung vom reinen Opfergedenken an einem isolierten Gedenkort zu einer Auseinandersetzung mit der (Mit-)Täter/-innenschaft und der Einbettung des Vernichtungssystems in eine eng verwobene Landschaft von Vorteilsnahme und Abhängigkeiten nicht nur tradierte Gedenkmuster in Bewegung. Neben dem zentralen Ziel eines »Niemals wieder« können solche partizipativen Formen kulturellen Gedächtnisses in einer Zeit beschleunigter Transformationsprozesse 6

Vgl. Simone, AbdouMaliq: City Life from Jakarta to Dakar. Movements at the Crossroads, London/New York 2010, S. 191.

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Erinnerungsorte in Bewegung

entscheidende ethisch-moralische Orientierungspunkte für eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bieten. Von der bemächtigenden – und entmächtigenden – Funktion von dominanter Erinnerungskultur und deren manipulativem Einsatz in aktueller imperialistischer Gewaltausübung handelt die Geschichte vom Paper Soldier des russischen Künstler/-innenkollektivs Chto Delat, verfasst von Dmitry Vilensky. Angesichts des toxischen Gebrauchs des historischen antifaschistischen Sieges des Stalinismus über den Nationalsozialismus im jüngsten Ukrainekonflikt hatten Chto Delat eine/n fragile/n Papiersoldat/-in mit der Aufschrift »Antifaschistische Aktion« geschaffen, der/die sie bei zahlreichen Aktionen und Debatten begleitete. Nach einer mehrwöchigen Zwischenstation im Mai und Juni 2014 in Wien vis-à-vis dem marmornen Heldendenkmal der Roten Armee und der zentralen Bronze­ figur eines sowjetischen Soldaten fiel der/die Papiersoldat/-in kurz darauf in Berlin einem Brandanschlag zum Opfer. Chto Delat haben diesen Akt der Zerstörung in eine Aufforderung gewendet, sich der Überreste anzunehmen, mit ihnen weiter an (Gegen-)Denkmälern gegen den Missbrauch von Geschichte zu bauen und somit aufzuzeigen, dass »jede zerstörte Erinnerung die Chance auf ein Weiterleben hat und dieses neue Leben ein erhebliches Potenzial birgt, sich einzumischen und den Verlauf der Zukunft zu verändern, wenn wir uns den traumatischen Erfahrungen stellen« (S. 340). Der abschließende Beitrag von Wolfgang Schmutz, »Wo die Republik beginnt und endet«, führt uns noch einmal an den Ort der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Anhand historischer wie aktueller erinnerungspolitischer Momente arbeitet er heraus, wie die Gedenkstätte als Bühne und Projektionsfläche entscheidender Kontinuitäten und Brüche in der Formation hegemonialer Geschichtsnarrative zugleich fungierte. Als kritischer Punkt erweist sich immer wieder das Verhältnis von Politik und ihren Instanzen zur Frage von Opfer und Täter/-in. Deutlich wird dabei ein oftmals zynisch anmutendes Gehabe der Politik. Jahrzehntelangen Kämpfen um Anerkennung folgt häufig eine unmittelbare Kooptierung und Inanspruchnahme des Gedenkens für staatliche Repräsentation, während ungelöste gesellschaftliche Fragen an die vor Ort Tätigen abgewälzt werden. Die langwährende Missachtung und Überforderung von

Einleitung

Vermittlungsarbeit spiegelt sich in der fragmentierten und disparaten Gestaltung des Geländes, dessen Erschließung eigentlich eine besondere Rolle in der Vermittlung der Topografie und Geschichte des Lagers zukommen sollte. Die räumlich manifestierte Unklarheit über Ziele und Aufgaben der Gedenkstätte (Bewahrung materieller Zeugnisse des historischen Verbrechens, Erziehung einer besseren Gesellschaft oder Ort des Gedenkens und der Trauer) ist Ausdruck der unbewältigten Vergangenheit Österreichs. Trotz oder gerade wegen des oft zweifelhaften politischen Zugriffs auf materieller und symbolischer Ebene ist die Auseinandersetzung um eine zukunftsweisende Arbeit an der Gedenkstätte für Schmutz nicht eine organisationstechnische Frage der politischen Verwaltung der Gedenkstätte (ob als Abteilung des Ministeriums oder als Bundesgesellschaft), sondern eine Angelegenheit des zivilgesellschaftlichen Streits über Hintergrund, Motivation und Wirkung dieser widersprüchlichen Ansprüche. Gedenkstätten zu den Verbrechen des Nationalsozialismus erfahren heute einen entscheidenden Wandel. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs addieren sich nicht einfach ein paar Jahre mehr Abstand zu den Ereignissen. Mit dem Schwinden von gelebter Erinnerung stellen sich neue Aufgaben an die Funktion und Gestaltung von Erinnerungsorten als Träger eines kulturellen Gedächtnisses. In ihren Analysen unterschiedlichster Momente und Orte des Erinnerns eröffnen die in diesem Band versammelten Beiträge ein breites Spektrum an kritischen Zugängen zu Geschichte und zum Mahnen gegen Systeme der Unmenschlichkeit, damals wie heute. Was die Vielzahl an Perspektiven eint, ist die Erkenntnis, dass über eine dem 21. Jahrhundert gerechte Gedenkpraxis nur dann ernsthaft nachgedacht werden kann, wenn wir zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen Praxis von Politik an sich in die Reflexion miteinbeziehen.

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VERBINDUNGEN

Irit Rogoff

Eine kurze Geschichte über Infrastruktur 1

Ralf und Robert holen mich an einem verschneiten Wiener Morgen in meinem Hotel ab, um zu dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen zu fahren. Sie arbeiten beide für das Ministerium für Inneres und haben mich zur Teilnahme an einer Vortragsreihe eingeladen, in der es um neue Ansätze in Bezug auf die Frage geht, was das Lager heute sein kann: Was es heute noch vermitteln kann, wie und welchem Publikum. Auf unserer langen, kalten, verschneiten Reise frage ich sie, wie sie zu der Auseinandersetzung mit Fragen des Gedenkens gekommen sind und dazu, für die Gedenkstätte Mauthausen im Bundesministerium für Inneres zu arbeiten. Sie sehen weder wie Bürokraten aus, noch hören sie sich wie welche an, sondern eher wie Angehörige einer etwas gelehrtenhaften österreichischen Subkultur, besonders Robert sprüht vor postoperaistischen Begriffen und Ideen. Wie sich herausstellt, hatten sich beide dafür entschieden, ihren Präsenzdienst in einem Archiv und nicht beim Militär abzuleisten und sich mit den unbequemen Geschichten Österreichs zwischen 1936 und 1947 auseinanderzusetzen. Der Tag bessert sich zusehends. Wir kommen beim ehemaligen Lager an, das unter einer leuchtend weißen Schneedecke ruht. Die gewundene Straße dorthin führt an zahlreichen Wohnenklaven und Bauerhöfen vorbei, viele von ihnen sehen einigermaßen alt aus, und ich frage mich, wer hier, so nah am Lager gewohnt hat, als es in Betrieb war. Wie ihre Begegnungen mit den Häftlingen aussahen. Es wäre nicht möglich gewesen, nicht zu sehen, zu hören oder zu riechen, was vor sich ging. 1

Diese Fassung des Textes habe ich für die Neuveröffentlichung erstellt, er basiert auf einem Essay, den ich im Februar 2014 für meine Kolleg/-innen von freethought geschrieben habe, vgl. http://freethought-collective.blogspot.co.at

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Irit Rogoff

Ralf und Robert übergeben mich an Wolfgang, der für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit der Gedenkstätte verantwortlich ist. Er zeigt mir ein seltsames altes Modell des Lagers aus den 1960ern und weist mich darauf hin, dass das Lager in dieser Darstellung von der Bevölkerung in der Umgebung isoliert ist und die Gebäude der SS, die das Lager betrieb, in dem Modell weggelassen wurden – die in Gruppen angeordneten Baracken der Insass/-innen, der Steinbruch, das Zen­ trum der Knochenarbeit sowie die Felder und Zelte außerhalb lassen eine tadellose, seelenruhige und feinsäuberliche interne Organisation erkennen – der Rest der Welt existiert nicht, sieht nicht hinein noch heraus. Wir beginnen unseren Rundgang durch das Gelände, Wolfgang weiß nicht so recht, was er von mir halten soll – er ist es gewöhnt, mit bestimmten Typen von Besucher/-innen zu tun zu haben – österreichische Student/-innen, japanische Tourist/-innen, Wanderer, die mit Rucksäcken durch die Gegend spazieren, Historiker/-innen, die sich mit dieser Zeit beschäftigen – Neugierige, Sachkundige, Gelangweilte, Schuldbewusste etc. Ich beschließe, meine komplizierten Anschauungen für mich zu behalten. Er hält inne und zeigt mir den Umriss von etwas, das seiner Darstellung nach ein Fußballfeld war. Es lag neben der Stelle, an der sich die Krankenstation befand, in der die Häftlinge fast so schnell starben wie sie eingeliefert wurden – ca. 50.000 starben in diesem Bereich des Lagers. Ich bin darüber verwundert, dass Fußballfeld und Krankenlager so nah beieinander lagen und frage mich, wer die körperliche Kraft gehabt haben kann, unter den gegebenen Umständen Fußball zu spielen. Wolfgang erklärt mir, dass dort die SS gegen andere SS-Mannschaften gespielt hat und gelegentlich die Fußballliga Oberösterreichs. In allen Schilderungen derjenigen, die die Spiele besucht haben, wird die Krankenstation nicht erinnert. Ich beginne zu verstehen, dass das Lager in eine umfassendere zivile Infrastruktur integriert war, die seinem Betrieb Normalität verlieh.

Eine kurze Geschichte über Infrastruktur

Auf meine Frage nach den Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung zeigt mir Wolfgang eine Straße, die durch den Steinbruch führt, die Schulkinder während des Krieges zwei Mal täglich als Abkürzung auf ihrem Weg zu und von der Schule benutzten. Er erzählt mir, dass Bäuer/-innen und andere, die einen Betrieb hatten, bei der SS tageweise um Arbeitskräfte ansuchen konnten, wodurch die Produktivität der Gegend in einer Zeit gesteigert wurde, in der so viele an der Front, in der SS oder der zivilen Reichsverwaltung waren. Auch zeigt er mir die vielen verschiedenen Schichten der Beschilderung, die es im Lager gibt, sie sind Zeugnisse der unterschiedlichen Formen, in denen es der Öffentlichkeit präsentiert und von der lokalen Bevölkerung genutzt wurde. Schilder aus den 1950ern, die Autowaschen im Wasserspeicher des Steinbruchs verbieten, Schilder, die den Konsum von Getränken, Herumtollen etc. in der weiteren Umgebung der Gedenkstätte untersagen. Wir gehen durch einen Gedenkpark, in dem praktisch alle Nationen des Nachkriegseuropa Denkmäler für die Angehörigen ihrer Nation im Lager errichteten. Er weist mich auf ein Areal hin, auf dem 1944/45 Zelte standen, in denen viele gegen Ende des Krieges deportierte ungarische Jüd/-innen umkamen. Das Lager erweist sich als immer komplexer, im Zentrum so vieler Ökonomien, dass es unmöglich scheint, an seiner zunächst eindeutigen Bestimmung festzuhalten. In der Ausstellung, die heute in den Baracken gezeigt wird, entdecke ich ein Foto und eine kurze Geschichte über einen spanischen Republikaner, der vor den franquistischen Faschisten fliehen musste, von den deutschen Faschisten interniert wurde, während des Krieges im Steinbruch gearbeitet und wie durch ein Wunder überlebt hatte. Nach dem Krieg konnte er nicht nach Spanien zurück, da Franco immer noch an der Macht war, also blieb er und arbeitete als bezahlter Facharbeiter bei der österreichischen Firma, die einen der Steinbrüche nach 1945 betrieb. Meine Verwirrung kennt keine Grenzen – es zeigen sich jedoch erste Ansätze einer Logik der Infrastruktur, die meine Desorientiertheit eindämmen.

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Irit Rogoff

Als wir gehen, erzählen mir die Herren, dass es ca. 1000 verschiedene Lager gab: Internierungs-, Arbeits-, Vernichtungsund schließlich Flüchtlingslager in ganz Europa. Die meisten von ihnen waren inmitten der Zivilbevölkerung angesiedelt und somit jeden Tag aufs Neue mit dem Leben der lokalen Bevölkerung verwoben. Ich beginne, mir eine Gegen-Kartografie Europas und seiner heutigen Parallelwelt in Form von Lagern vorzustellen: für Asylsuchende, Flüchtlinge und illegale Immigrant/-innen, denen die Abschiebung droht. Sie übersäen die alltägliche Landschaft des heutigen Europas in gleichem Maße. In Form von all den kleinen Hotels und B&Bs in London, die von den Grenzbehörden des Vereinigten Königreiches als Anhalteorte für Menschen genutzt werden, die keine Papiere haben, auf ihr Urteil warten oder demnächst abgeschoben werden. Während das Lager in Mauthausen zur Gedenkstätte wurde und verschiedene narrative Selbstentwürfe durchlaufen hat, wurde das nahe gelegene Lager in Gusen weitgehend zerstört. Seine Infrastruktur – Wasser, Elektrizität, Kanalisation, Telefon etc. – wurde für eine Reihe neuer Siedlungsbauten weiterverwendet, die auf dem Gelände errichtet wurden, und die nahegelegenen Wohnungen der SS für die Nutzung seitens der örtlichen Bevölkerung nach dem Sturz des Reiches renoviert. Beim Abendessen berichten mir Helge und Peter, die mich in dieses Entwürfe und Vortragsreihe umfassende Projekt für das Ministerium eingebunden haben, von einer Begegnung, die sie vor Kurzem in Gusen hatten. Ein alter Mann, der in das Haus des ehemaligen SS-Kommandanten eingezogen war, erzählte ihnen von einem sehr alten Telefon in dem Gebäude, das immer noch an das ursprüngliche Netz des Lagers angeschlossen ist. Er benutzt Netz und Telefon seit rund dreißig Jahren – letzteres hat er kürzlich durch ein schickes neues Modell ersetzt. Meine Gedanken springen zum Anfang von Avital Ronells »Telefonbuch« – zu Martin Heidegger 1933 spät in der Nacht, allein in seinem Büro in den Räumlichkeiten des Rektorats an der Freiburger Universität, zu dem Telefon, das klingelt, zu dem Kommandanten der örtlichen SA, der ihm

Eine kurze Geschichte über Infrastruktur

sagt, was er jetzt zu tun hat: alle jüdischen und kommunistischen Kolleg/-innen feuern und die Student/-innen der Universität verweisen. Ronell stellt Vermutungen darüber an, wie Heidegger via Telefonleitung ereilt wurde, als er den Hörer abnahm, da das Sekretariat nicht besetzt war, über die unvermittelte Konfrontation mit diesen Forderungen des Staates, über Heideggers Unfähigkeit, irgendetwas anderes zu tun als dem Klingeln und den Anweisungen Folge zu leisten. Über den mangelnden Unterschied zwischen diesen beiden Formen, sich genötigt zu sehen. Infrastruktur, so scheint es, ist eine Art und Weise, verwickelt zu sein, sowohl räumlich als auch materiell. Sie normalisiert, funktionalisiert und veralltäglicht sowohl Regierungsgewalt als auch Unterdrückung. Der gegenwärtige Raum, dessen Oberfläche umgeschrieben und den gegenwärtigen Anforderungen und Realitäten entsprechend umgestaltet ist, ist von vorangegangenen Strömungen und Infrastrukturen gezeichnet – ein Glas Wasser einzuschenken, ein Bad zu nehmen, das Telefon abzunehmen, heißt, verwickelt zu sein. Am nächsten Tag halte ich meinen Vortrag, nachdem ich mir den ganzen Tag über all dies den Kopf zerbrochen habe. Das Publikum ist bunt gemischt, und mit seinen Möglichkeiten, die historischen Dimensionen von damals bis heute und wieder retour über Verräumlichung und Konzepte von »Ausnahmezuständen« durchzudeklinieren, kommt mein Vortrag gut an. In der Diskussion beginnen die Leute, darüber zu sprechen, wie sie die Auswirkungen erlebt haben – ein älterer Herr erzählt uns, dass er mit der örtlichen Bevölkerung in der Umgebung des Lagers »Bürger/-innen‐Räte« ins Leben gerufen hat – sie stießen auf große Zurückhaltung, und am Anfang kam niemand. Die unglaubliche Sorgfalt und archivarische Aufmerksamkeit, die die Herren vom Bundesministerium für Inneres der Gedenkstätte widmen, scheint eine Kettenreaktion unter der örtlichen Bevölkerung ausgelöst zu haben – auch sie begann, sich ernst zu nehmen – und immer mehr Menschen haben an den Treffen teilgenommen, haben angefangen zu

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reden und ihre eigene Situation historisch zu kontextualisieren. Ich denke über Aufmerksamkeit als Infrastruktur nach, etwas, das den Fluss und die Überlieferung ermöglicht – könnte es sein, dass nicht das, was sie über den Ort herausgefunden haben, sondern die große Aufmerksamkeit, die sie an den Tag gelegt haben, das Unbehagen der Menschen durchbrochen hat? Vielleicht besteht eine der Möglichkeiten, sich dieser immensen Problematik zu nähern, darin, kleine Geschichten der In­­ frastruktur zu schreiben – als Aufmerksamkeit, als Affekt, als technologischer Zwang. Aus dem Englischen von Dagmar Fink und Katja Wiederspahn für gender et alia

Bertrand Perz

»Selbst die Sonne schien damals ganz anders …« Der Stellenwert der Überreste des Lagers für die Gestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen im historischen Rückblick

»›Erzählen Sie‹, bittet man. Aber der Mann, der einmal ein ›Mauthausner‹ war, schüttelt den Kopf. ›Wie soll ich es Ihnen erklären? Es läßt sich nicht schildern, nicht zeigen, nicht einmal andeuten. Sie sehen hier ein Sanatorium vor sich, wie die Nazis es den Besuchern der Lager zeigten. Aber die Wirklichkeit? Hören Sie, selbst die Sonne schien damals ganz anders …‹.«1

Der Dialog zwischen dem Besucher der eben eröffneten Gedenkstätte in Mauthausen und dem ehemaligen Insassen des Lagers, nachzulesen in einem der vielen Berichte in den Tageszeitungen des Mai 1949, verweist auf eine zentrale Herausforderung der Gestaltung von KZ-Gedenkstätten von ihrem Beginn an. Wir wissen nicht, ob der Dialog fiktiv ist. Die astronomische Metaphorik,2 die hier bemüht wird, um die Differenz zwischen der Erfahrung als Häftling im Konzentrationslager und der des Besuches der Gedenkstätte zum Ausdruck zu bringen, beschreibt jedenfalls die reale Dimension des Problems. Zum Ausdruck gebracht wird in diesen wenigen Sätzen aber nicht nur die Differenz in der Erfahrung, ganz konkret wird die Frage der Überreste des Lagers und des Erscheinungsbildes als ein wesentlicher Faktor benannt, der die schier unüberbrückbare Kluft zwischen dem »Damals« und der Eröffnung der Gedenkstätte mitbestimmte. Man habe kein Lager, sondern ein »Sanatorium« vor sich. Dieser Begriff wurde anlässlich der Eröffnung in mehreren Zeitungsartikeln, die die Gestaltung der Gedenkstätte kritisch begleiteten, bemüht. 1

N.N.: »Wenn das Mahnmal Mauthausen sprechen könnte«, in: Linzer Tagblatt vom 07.05.1949. 2 Vgl. zur Metaphorik der sich verändernden Sonne als Ausdruck von historischen Brüchen oder Kontinuitäten Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997², S. 73 f.

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Bertrand Perz

Was war der Grund für diese kritischen Äußerungen? Gehen wir zwei Jahre zurück.3 Die Bemühungen Überlebender, das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen zu einer Gedenkstätte zu entwickeln, hatten nach längeren Verhandlungen zwischen den österreichischen Behörden und der sowjetischen Besatzungsmacht zu einer klaren Weichenstellung geführt. Der sowjetische Hochkommissar übergab im Juni 1947 das ehemalige Konzentrationslager in Mauthausen in einem feierlichen Akt der Republik Österreich, mit der Verpflichtung, dort eine »würdige« Gedenkstätte zu errichten. Die Sowjets erwarteten, dass Mauthausen »als Gedenkstatt für die Opfer erhalten bleibe, die durch die Hände der Nazihenker gefallen sind«4. Er drücke seine »feste Überzeugung aus«, so der stellvertretende Hochkommissar Generaloberst Sheltow, »dass das österreichische Volk die Lehren der jüngsten Vergangenheit nicht vergessen werde und tatkräftig gegen die Reaktion kämpfen und die Demokratie in seinem Lande festigen wird«5. Der Gedenkstätte Mauthausen war so von Anfang an beim Aufbau der neuen Republik eine spezifische Rolle zugedacht: als Ort der Toten, aber auch als Denkmal zur Mahnung für die Zukunft. Bundeskanzler Leopold Figl versprach in seiner Antwortrede, dass die Bundesregierung das ehemalige Konzentrationslager zu einer Gedenkstätte »sowohl für die Opfer als auch zu einem Warnmal für uns und unsere Nachkommen [machen werde sowie] nie den Weg der demokratischen Freiheit zu verlassen und uns mit unserem Geist und Körper zu wehren gegen ein Regierungssystem, dem die Begriffe Menschlichkeit und Menschenliebe fremd sind«6. Deutlich kommt darin zum Ausdruck, dass es hier um kein von der Gesellschaft getragenes Projekt ging, sondern um eines der österreichischen Bundesregierung. Für sie war die Schaffung einer Gedenkstätte vor allem eine Verpflichtung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht. Mit der Ausgestaltung der Gedenkstätte selbst verbanden sich 3

Der folgende Text basiert auf einer Reihe von Vorpublikationen des Verfassers zur Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Siehe ausführlich dazu Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck/ Wien/Bozen 2006. 4 Sheltow, Alexej zitiert nach N.N.: »Freitag, den 20. Juni 1947, wurde das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen von der sowjetischen Besatzungsmacht der österreichischen Bundesregierung übergeben«, in: Der Mahnruf, Juli 1947, Nr. 6, S. 2. 5 Ebd. 6 Figl, Leopold zitiert nach ebd., S. 3.

»Selbst die Sonne schien damals ganz anders ...«

insbesondere auch außenpolitische Interessen der Darstellung Österreichs als Opfer im Sinne der Moskauer Deklaration. Die nach der Übergabe durchgeführte Transformation des ehemaligen Konzentrationslagers in eine Gedenkstätte und der dabei gepflegte Umgang mit den baulichen Überresten waren sowohl an den denkmalpolitischen Vorstellungen des Staates wie auch an jenen der Opferverbände orientiert. Zwischen 1947 und 1949 etablierte die Republik folglich in Zusammenarbeit mit einem sich zu diesem Zweck konstituierenden Mauthausenkomitee, bestehend aus ehemaligen österreichischen Häftlingen, auf dem Lagergelände eine im europäischen Vergleich frühe staatliche Gedenkstätte, die mit dem Abriss weiter Bereiche des Lagers und einer engen Begrenzung des Gedenkstättenareals einherging. Gleichzeitig bestand auch weitgehende Einigkeit darüber, dass neben den geschaffenen Friedhöfen die zur Erhaltung bestimmten baulichen Überreste besser als jedes nachträgliche Denkmal der Erinnerung dienen würden. Der Aushandlungsprozess, in welchem Ausmaß die baulichen Überreste erhalten und wo die Grenzen des Gedenkstättenareals gezogen werden sollten, bewegte sich in der Folge zwischen der Frage nach zu erwartenden Erhaltungskosten und der Frage nach dem Symbolgehalt der künftigen Gedenkstätte. Welche Teile des Lagers nun genau künftig die Gedenkstätte bilden sollten, darüber herrschten unterschiedliche Vorstellungen. Anfang Oktober 1948 wurde bei einem Lokalaugenschein zwischen den Behörden, den Opferverbänden sowie den Anrainer/-innen konkret festgelegt, welches Gelände die Gedenkstätte umfassen sollte und zugleich unter Denkmalschutz zu stellen war.7 Das Finanzministerium drängte aus Kostengründen darauf, die Gedenkstätte auf ein möglichst kleines Areal zu beschränken und die meisten von der SS für das Lager beanspruchten Grundstücke zu restituieren.8 Zwar konnte sich das Ministerium mit der gewünschten Minimalvariante des Gedenkstättenareals nicht durchsetzen, die tatsächliche Festlegung der Grenzen der Gedenkstätte erwies sich trotzdem als problematisch, da erhebliche Teile des Lagers nicht einbezogen wurden. 7

Vgl. Protokoll über den Lokalaugenschein im ehemaligen KZ-Lager Mauthausen am 5. und 6. Oktober 1948, Abschrift, Zivilverwaltung Mühlviertel, OÖ, Bundesministerium für Inneres (BMI) 109.407-9/48, GeZl. 149.733-9/48. 8 Vgl. Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (ÖStA/AdR) BMF, 345002/48, GeZl. 75.008-2/48.

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Innerhalb der festgelegten Grenzen befanden sich zwar große Teile der vormaligen Häftlingsunterkünfte, des Sanitätslagers (Russenlager) und der Lagerbereich der SS zwischen Steinbruch und dem Tor zum Häftlingslager. Nicht einbezogen wurden aber die Aschenhalde sowie die Exekutionsstätte, die 1944 begonnene Vergrößerung des Häftlingslagers (»Lager III«) und das Gelände des ehemaligen Zeltlagers. In die Gedenkstätte eingebunden wurde die Stiege zum Steinbruch (»Todesstiege«), nicht aber der als »Deutsches Eigentum« weiter unter sowjetischer Hoheit stehende Steinbruch selbst, auch nicht der Weg vom Lager zur Todesstiege. Die Integration des Weges erfolgte erst nach einer Aufforderung des französischen Hochkommissars Béthouart Anfang 1950.9 Der Steinbruch, genannt »Wiener Graben«, wurde 1955 Teil der Gedenkstätte, nachdem eine weitere kommerzielle Nutzung ausgeschlossen worden war. Außerhalb der festgelegten Grenzen sollten auch jene Bauten bleiben, die ausschließlich der SS vorbehalten waren, wie die SS-Führersiedlung mit der Villa des Kommandanten, die Siedlung der Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH (DESt) im »Wiener Graben«, das Pumpwerk des Lagers und die zum Steinbruch gehörenden Wirtschaftshöfe. In den meisten Fällen waren es ökonomische Überlegungen, die dem von der sowjetischen Besatzungsmacht geäußerten, aber durch die Nichtübergabe des Steinbruchs konterkarierten Wunsch, die »Einheit der Schreckensherrschaft, des Terrors und der blutigen Zwangsarbeit«10nicht zu zerstören und die Gedenkstätte nicht auf das Lager selbst zu reduzieren, entgegenstanden. Völlig außerhalb der damaligen Überlegungen blieben die Fragen, wie das nur wenige Kilometer entfernte Konzentrationslager in Gusen, in dem mehr Menschen umgekommen waren als in Mauthausen oder die von Häftlingen errichtete unterirdische Flugzeugfabrik in St. Georgen an der Gusen, deren Bau Tausenden Häftlingen das Leben gekostet hatte, in ein Gedenkstättenkonzept einbezogen hätten werden können. Die Nichteinbindung der genannten Orte und Objekte in die Gedenkstätte hatte für die Erinnerungskultur in Mauthausen langfristige bis heute nachwirkende gravierende Folgen: Sie verstärkt(e) den Charakter des ehemaligen Konzentrationslagers als isolierten Ort der Häftlinge. Dass das Konzentrationslager aber auch ein – von der SS stolz präsentierter – 9

Vgl. Fiereder, Helmut: »Zur Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen«, in: Fritz Mayrhofer/Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 2, Linz 2001, S. 1563–1590, hier S. 1579. 10 Sobek an Bundesminister Hurdes, ÖStA/AdR BKA 753 Pr/47, GeZl. 899 Pr/47.

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Ort der Täter/-innen war, eingebunden in ein komplexes gesellschaftliches und ökonomisches Umfeld, war damit weitgehend ausgeblendet, das Lager weitgehend entkontextualisiert. Der Umgang mit den baulichen Überresten innerhalb des festgelegten Gedenkstättenareals war ebenfalls wesentlich von Kostenfragen bestimmt. Um die Erhaltungskosten möglichst gering zu halten und finanzielle Mittel für die Einrichtung der Gedenkstätte zu lukrieren, wurden alle SS-Baracken und fast alle Baracken des Häftlingslagers sowie noch vorhandene technische Einrichtungen demontiert und verkauft. Das Mauthausenkomitee stimmte diesem weitgehenden Abriss des ehemaligen Konzentrationslagers zu. Den erinnerungspolitischen Vorstellungen vieler Mitglieder des Komitees gemäß, die der KZ-Haft einen Sinn zu geben versuchten, nämlich für eine Sache gelitten und gekämpft zu haben, sollte die Gedenkstätte in erster Linie die zentralen Leidensstationen der Häftlinge präsentieren. Alle nicht für diese Konzeption als notwendig erachteten Lagerobjekte, insbesondere der ganze Bereich der SS-Baracken, wurden als nicht besonders geschichtswürdig und damit als nicht erhaltenswert angesehen. Der großflächige Abriss erhöhte letztlich die symbolische Bedeutung der verbliebenen Baulichkeiten, ein Prozess, den Volkhard Knigge für den Umgang mit den Überresten des KZ Buchenwald auf die treffende Kurzformel gebracht hat: Minimierung der Relikte zur Maximierung von Sinnstiftung.11 Dennoch war dieser Umgang mit den Überresten von der Vorstellung geprägt, dass diesen für die Erinnerung wichtige Bedeutung zukam. Demgegenüber stand ein Konzept zur Diskussion, das den Überresten keinerlei Bedeutung für die Gedenkstätte zumaß. So wurden von christlich-sozialer Seite der Totalabriss des Lagers und die Errichtung eines überdimensionalen zwanzig Meter hohen beleuchteten Kreuzes angedacht. Diese Konzeption konnte sich nicht durchsetzen, nicht zuletzt war dafür die schlichte Tatsache verantwortlich, dass die Kosten für einen Totalabriss des Lagers höher veranschlagt wurden als für die Erhaltung im beschriebenen Sinne. Deutlich verweist die Idee der Kreuzerrichtung darauf, dass sich – ent­­­­­sprechend der hegemonialen politischen Kultur der Nachkriegszeit – 11

Vgl. Knigge, Volkhard: »Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager«, in: Sigrid Weigel/Birgit R. Erdle (Hg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 193–234.

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zur politischen Martyrologie eine katholische gesellte und der gemeinsame Nenner eine auf Österreich bezogene Erzählung war, die der staatsoffiziellen Doktrin von Österreich als dem ersten Opfer des deutschen Nationalsozialismus entsprechen sollte. Häftlinge hätten demnach nicht nur für bestimmte politische Ziele oder für den Glauben gelitten, sondern vor allem auch für die Freiheit Österreichs. Dabei handelt es sich um ein Konzept, dass sich ohne Probleme auch auf andere nationale Gruppen unter der Formel »gekämpft und gestorben für den Frieden und die Freiheit der Nation« (wie auf Denkmälern zu lesen ist) transferieren ließ oder anders formuliert, Österreich in die Reihe der Opferstaaten stellte. Umgesetzt wurde dies durch die Schaffung zweier zentraler Elemente der neuen Gedenkstätte, der christlichen Kapelle und des säkularen Weiheraums der Häftlingsnationen mit der österreichischen Fahne im Mittelpunkt, beides untergebracht im ehemaligen Wäschereigebäude.12

Skizze der geplanten Gedenkstätte: Entwurf des Amtes der oberösterreichischen Landesregierung, 14.02.1949. Quelle: BMI/KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Archiv

Die gewählte Konzeption reduzierte die Baulichkeiten des Lagers beträchtlich. Neben dem Erhalt der Lagermauern, der Lagertore und Wachtürme blieben nur wenige Gebäude bestehen: fünf Häftlingsbaracken (drei am Rande des Appellplatzes, die Baracke  5, die sogenannte »Judenbaracke« und die Baracke  20, aus der die sowjetischen Offiziere im Februar 1945 ausgebrochen waren) sowie die Funktionsgebäude am Appellplatz (Wäscherei, Küche, Bunker, Krankenrevier) und die SS-Kommandantur. Während die abgetragenen Baracken im Häftlingslager 12

Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 93–101.

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gestalterisch als Bodenstruktur sichtbar blieben, erfolgte auf dem SS-Gelände der Totalabriss der Baracken, die leeren Flächen sollten mit Bäumen bepflanzt und damit unkenntlich gemacht werden. Dazu kam, dass man das Lager komplett aufgeräumt, Gebäude instandgesetzt, Türen und Fenster ersetzt, Räume geweißt und Gehwege erneuert hatte, sodass der Lagerkomplex den Eindruck eines eben fertiggestellten Gebäudeensembles vermittelte. Die Eröffnung der Gedenkstätte im Mai 1949 stand unter keinen günstigen Vorzeichen. Es herrschte keine Feierstimmung, denn die Reaktion der österreichischen Öffentlichkeit war, aus unterschiedlichen Motiven, weitgehend ablehnend, die der organisierten ehemaligen Häftlinge vielfach kritisch. Zwei eng miteinander verknüpfte politische Entwicklungen zwischen 1947 und 1949 stellten die Zukunft des Projektes der Gedenkstätte grundsätzlich infrage und prägten so auch unmittelbar die Eröffnungsfeierlichkeiten. So hatte das Auseinanderbrechen des parteiübergreifenden Bundesverbandes der politisch Verfolgten 1948 in parteinahe Opferorganisationen vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges zur Folge, dass vehemente Befürworter/-innen einer Gedenkstätte Mauthausen für das nächste Jahrzehnt fast nur mehr im kommunistischen KZ-Verband zu finden waren. Zum anderen fand die Gedenkstätteneröffnung zeitgleich mit dem Prozess einer fortschreitenden Reintegration der ehemaligen Nationalsozialist/-innen durch die Großparteien ÖVP und SPÖ statt, die 1949 beide heftig um die Stimmen der sogenannten »Ehemaligen« bei den Nationalratswahlen buhlten. Der Stellenwert der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, der unmittelbar nach 1945 in einer Reihe von antifaschistischen Denkmalprojekten seinen Ausdruck fand, verlor bei den Großparteien massiv an Bedeutung und sollte bald von der Errichtung von Kriegerdenkmälern in ganz Österreich, die an die gefallenen Wehrmachtssoldaten erinnerten, abgelöst werden. Im Zuge der Eröffnung der Gedenkstätte wurde in der Öffentlichkeit heftig Kritik laut, wobei in den Medienberichten drei Positionen auszumachen sind, die den Umgang mit den historischen Überresten des Lagers zum Thema hatten. Zum einen findet sich die Position der totalen Ablehnung der Gedenkstätte, die politisch weit rechts einzuordnen ist und wohl der Meinung der ehemaligen Nationalsozialist/-innen am nächsten kam. Am

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deutlichsten ausgedrückt findet sich die ablehnende Position in einem Zeitungsartikel der im oberösterreichischen Grieskirchen erschienenen Zeitung »Echo der Heimat«. Recht offen forderte man dort nicht nur die vollständige Beseitigung der Überreste des Lagers und stellte die Berechtigung einer Gedenkstätte infrage, man hob sogar lobend den Umgang des NS-Re­g imes mit dem Totengedenken im Unterschied zur Republik hervor. Auch wurden die Renovierungsbemühungen des mittelalterlichen Karners nahe der Kirche in Mauthausen während der Zeit des Nationalsozialismus als Kulturleistung betont und dem gegenüber der Erhalt des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen als Gedenkstätte durch die Republik als zynische Tat verurteilt. Implizit machte der Artikel deutlich, dass zwar ein christliches Gebeinhaus, nicht aber ein ehemaliges Konzentrationslager als Ort der Toten erinnerungswürdig sei. Damit wurden die Toten des Lagers noch einmal ausgegrenzt. »Das ›Echo der Heimat‹ hat als erste österreichische Zeitung den Mut gehabt, auf die merkwürdige Art der Ehrung der Opfer des KZ Mauthausen hinzuweisen, die durch die peinlich nach Fremdenverkehrswerbung riechende Wiederherstellung der Schreckensorte einer gottlob überwundenen Zeit erfolgen soll, daß diese wenig dem Frieden und der Verständigung der Völker und insbesonders durchaus nicht dem Ansehen Österreichs dienenden Erneuerungsarbeiten 790.000  Schilling kosten, hat nicht wenig dazu beigetragen, das Vertrauen in die zweckmäßige Verwaltung öffentlicher Gelder und Mittel zu erschüttern. Denn, daß in einer Zeit würgender Wohnungsnot und allgemeiner Knappheit an Baustoffen, ausgerechnet Genickschußkammern wiederhergestellt werden müssen, zeugt von einem solchen Zynismus den Nöten des Tages und des Volkes gegenüber, daß darüber keine Silbe mehr verloren werden muß. Gleichzeitig kommt aus Mauthausen die Kunde, daß dort ein wirkliches Kulturdenkmal zu verfallen droht. Es handelt sich um den Karner, der aus den 13. Jahrhundert stammend, die ältesten Fresken Oberösterreichs birgt. Es ist also ein ganz einzigartiges Monument, das in seiner Bedeutung erst 1907 erkannt worden war. Das gleiche Regime, das in den Mauthausener Steinbrüchen so wenig rühmliche Spuren seiner Herrschaft zurückließ, war es auch, das durch die Entfernung der Erdumwallung für die Trockenlegung des bereits stark gefährdeten Gebäudes sorgte, und zwar mitten in der Kriegszeit.«13 13

N.N. »Zweimal Mauthausen«, in: Echo der Heimat, Grieskirchen vom 05.05.1949. Ein inhaltlich identer Beitrag erschien zwei Tage später von N.N: »Denkmalpflege«,

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Das Konzentrationslager Mauthausen, so im »Echo der Heimat« weiter, hätte als »unösterreichisch«, »landfremd« und nicht zur eigenen Kultur gehörend nicht »konserviert« werden dürfen. Deutlich wird hier postuliert, dass es in Österreich keine Adressat/-innen für eine Gedenkstätte gäbe. Eine zweite Position, die bei der Eröffnung der Gedenkstätte vertreten wurde, war die Ablehnung des Erhalts der Überreste bei gleichzeitiger Forderung nach einem nachträglichen Denkmal. Diese Position entsprach derjenigen von ÖVP-Vertretern, die gerne anstelle der Überreste ein überdimensionales Kreuz gesehen hätten; sie findet sich deutlich in einem Artikel der Kleinen Zeitung wieder. Die Überreste wurden hier als Störfaktor begriffen, ihnen wurde die Eigenschaft zugesprochen, an die Schrecken des Lagers zu erinnern, was aber nicht erwünscht sei. Um diese Position zu untermauern, machte sich der Autor des Artikels zum Anwalt der Opfer, die nicht an die Schrecken erinnert werden wollten. »In Blättern verschiedener Richtungen waren ernste Bedenken gegen den Plan geltend gemacht worden, das einstige KZ Mauthausen originalgetreu zu rekonstruieren und in ein ›Mahnmal‹ umzuwandeln. Man konnte es eigentlich kaum überhören, daß sich gegen dieses Projekt vor allem Warner aussprachen, die selbst alle Schrecken eines KZ kennengelernt hatten. Nun ‑ es ist überhört worden. Wie es scheint, war es auch schon zu spät. Die Arbeiten müssen schon im Gange gewesen sein, als ‑ in den letzten Märzwochen ‑ die Frage zur Diskussion gestellt wurde, ob in einem Lande, in dem es an Geld für die notwendigsten Dinge, wie zum Beispiel für den Wohnungsbau fehlt, 790.000 Schilling für diesen Zweck zur Verfügung gestellt werden könnten und sollten. Und es ist überraschend schnell gearbeitet worden, schneller als sonst bei der Verwirklichung von Regierungsplänen. […] [Die Opfer würden] dies alles nicht sehen wollen. Gerade sie, die ihr Leid hierher tragen, werden nicht das Bedürfnis haben, durch die Schreckenskammern zu wandern, um nur ja recht realistische Vorstellungen davon zu bekommen, wie es geschehen ist. Es wäre in ihrem Sinne gewesen, hätte man ein schlichtes, würdiges Monument errichtet, vor dem sie ihre stille Andacht verrichten könnten.«14 in: Freie Stimmen, Linz vom 07.05.1949. Siehe dazu auch N.N. »Pressefreiheit nur für Demokraten«, in: Wahrheit, Graz vom 07.05.1949. 14 N.N.: »790.000 + 50.000 x?«, in: Kleine Zeitung, Graz vom 04.05.1949.

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Unausgesprochen vorausgesetzt wurde, dass die Gedenkstätte nur für ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen eingerichtet worden wäre, eine Adressierung der österreichischen Gesellschaft war kein Thema. In diesem Punkt unterschied sich die Argumentation wenig von jener der Totalablehnung der Gedenkstätte. Eine dritte Position begrüßte eindeutig die Einrichtung der KZ-Gedenkstätte, verhielt sich aber ebenfalls kritisch zur letztlich gewählten Konzeption. Diese Kritik kam vor allem aus Opferverbänden, besonders aus dem kommunistischen KZ-Verband. Nicht der Erhalt der Überreste war Gegenstand der Kritik, sondern der Umgang mit diesen. Waren die Verfechter eines nachträglichen Denkmals anstelle des Erhalts von Baulichkeiten des Lagers davon ausgegangen, dass die Überreste zu viel an Schreckens vermitteln würden, so wurde hier moniert, dass die renovierten Überreste des Lagers nichts von der Realität des Lagers vermittelten, sondern einen sanatorienhaften Eindruck erweckten. Besonders eindrücklich lässt sich diese Kritik in einem Leserbrief an die Österreichische Zeitung«ablesen, der unter der Überschrift »Geschichtsfälschung in Mauthausen« erschien. Der Schreiber stellte nach einem Besuch der Gedenkstätte fest, dass »dieses ›Bundesdenkmal‹ leider so auffrisiert ist, dass von seinem ursprünglichen Gesicht nur noch die Umrisse erkennbar«15 seien. Er vermutete, dass gerade ein Großteil jener Baracken, die den elendsten Eindruck gemacht hätten, abgerissen worden waren. In der Strafbaracke (gemeint war offensichtlich der Block  20, aus dem die sowjetischen Offiziere im Februar 1945 ausgebrochen waren und damit die »Mühlviertler Hasenjagd« ausgelöst hatten) hätte man anstelle des gestampften Lehms nun neue Dielen gelegt. »Dagegen hat man in einem ehemaligen Waschraum eine prunkvolle Kapelle eingerichtet, deren Sinn mir unerfindlich bleibt. Es war doch so: Während in der Dorfkirche die Bauern Sonntags zur Messe gingen, starben im Lager unzählige Häftlinge ohne priesterlichen Beistand.«16

Auch in der angeblichen Regulierung der Stufen der »Todesstiege« und dem Abriss der SS-Baracken vor dem Lagertor vermutete er Methode, »damit der Gegensatz zwischen Wohlleben und Elend nicht zu offensichtlich 15

Leserbrief von E.S.: »Geschichtsfälschung in Mauthausen«, in: Österreichische Zeitung, Wien vom 13.05.1949. 16 Ebd.

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wird?«17. Unter der Renovierung eines historischen Ortes verstehe er »die Erhaltung seines ursprünglichen Zustandes«18, in Mauthausen hätte man aber das Gegenteil getan: »Man hat jedenfalls den Verdacht, daß dieses Beschönigungswerk den Zweck verfolgt, die Urheber der Verbrechen Mauthausens allmählich immer mehr zu entlasten. Das ist nicht zu verantworten gegenüber denen, die hier unter Martern zugrunde gingen. Das darf auch deshalb nicht geschehen, weil es die heutige Aufgabe dieses Schreckenslagers ist, die nachfolgenden Generationen vor den Folgen faschistischen Denkens und Handelns eindringlich zu warnen.«19

Hier wird den Überresten eine relativ klare Funktion, namentlich die Warnung nachfolgender Generationen, zugeschrieben, die sie in dieser Erscheinung aber offensichtlich nicht erfüllten. Der Leserbriefschreiber sprach ein grundsätzliches Problem des Umgangs mit den Überresten an, das allerdings nicht in der implizit vorgeschlagenen Form, die eine Inszenierung bedeutet hätte, zu lösen war. Nicht zuletzt kam in dieser Kritik am Umgang mit den Überresten eine weitverbreitete falsche Vorstellung vom Aussehen der Konzentrationslager während der Zeit ihrer Existenz zum Vorschein. Unterstellt wurde, dass Konzentrationslager wie Mauthausen schon vom äußeren Anschein her ihre Schrecklichkeit offenbart hätten. Deutlich schlägt hier das von den amerikanischen Armeefotografen gezeigte Bild des Konzentrationslagers mit den chaotischen Zuständen zum Zeitpunkt der Befreiung durch, das aber eben nur das Bild der Endphase war.20 Das Erscheinungsbild des KZ Mauthausen wie auch der anderen Konzentrationslager entsprach aber, solange die Machtstrukturen der SS intakt waren, vom äußerlichen Anschein her eher dem einer militärisch straff geführten, aufgeräumten »ordentlichen« Kaserne. Die SS-Lagerleitungen pflegten in »ihren« Lagern, so auch in Mauthausen, eine scheinbare Idylle mit Blumenbeeten und pedantisch gepflegten Plätzen, und das nicht nur aus Tarnungsgründen oder Seuchenangst, sondern aus einem ideologischen 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20

Vgl. dazu Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 78 ff.

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Selbstverständnis heraus. Viele Erinnerungsberichte von Überlebenden handeln von der Terrorisierung durch die SS bei der permanenten Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung. Das äußere Erscheinungsbild eines Konzentrationslagers, wie es die SS auch in ihren eigenen Fotografien der Lager zum Ausdruck brachte und Besuchenden vorstellte, spiegelte daher nicht einfach die darin stattfindenden Verbrechen wider. Der ehemalige Insasse, der im an den Beginn gestellten Bericht aus dem Linzer Tagblatt zu Wort kommt, war sich, im Unterschied zu vielen anderen, die sich in zeitgenössischen Berichten artikulierten, dieser Tatsache sehr wohl bewusst, er wies explizit darauf hin: »Sie sehen hier ein Sanatorium vor sich, wie die Nazis es den Besuchern der Lager zeigten.« Hatte sich die Position des Erhalts des historischen Überrestes, wenn auch in minimierter Form, bei der Errichtung der Gedenkstätte Mauthausen durchgesetzt, so blieb die Frage offen, wie mit der Kluft zwischen Wahrnehmung der Gedenkstätte und ehemaliger Realität des Lagers umzugehen sei. Nur in ganz wenigen Zeitungskommentaren wurden schon bei Gedenkstätteneröffnung Vorschläge zur Lösung dieses grundsätzlichen Konfliktes – etwa durch historische Kommentierung und Erläuterung – vorgebracht, so in einem Artikel im Kleinen Volksblatt: »Allerdings […] fehlt ein entscheidendes, ja, das schlechthin entscheidende Element, das diesem Lager seinen Stempel als eine der Todesmühlen des Dritten Reiches aufgeprägt hat: die aus Terror, Brutalität und tiefster Verworfenheit einerseits und aus Angst, Hunger und Demütigung anderseits gemischte und durch die Menschen gebildete Atmosphäre dieses Lagers. Die von der Unmenschlichkeit zurückge­ bliebenen Einrichtungen und die leeren Baracken hinterlassen nur ein schwaches Abbild der wirklichen Zustände, die in diesem Lager einmal geherrscht haben. Ohne Belehrung und Hinweise kann in dem Besucher dieser Gedenkstätte ein der seinerzeitigen Wirklichkeit diametral entgegengesetzter Eindruck entstehen. Es wird daher nötig sein, entsprechende Vorkehrungen zu treffen.«21

An die Sorge vor allem ehemaliger Häftlinge, die renovierten Überreste des Lagers könnten ein verharmlosendes Bild vom Konzentrationslager in den Besuchenden erzeugen, knüpften sich schon 1947 erste Forderungen, 21

N.N.: »Mauthausen«, in: Kleines Volksblatt, Wien vom 04.05.1949.

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den Ort durch historische Bezeichnungen und Kommentierungen und letztlich durch eine historische Ausstellung in eindeutiger Weise lesbar zu machen. Diese Forderungen konnten vor dem Hintergrund der negativen Reaktionen auf die Eröffnung der Gedenkstätte und der ausbleibenden gesellschaftlichen Akzeptanz in Österreich erst in den 1960er‑Jahren mit der Einrichtung einer Ausstellung im neugegründeten Museum auf dem Gedenkstättengelände Mauthausen endgültig durchgesetzt werden. Bis dahin behalf man sich mit kleinen Schritten. Trotz der politisch schwierigen Situation zu Beginn des Kalten Krieges versuchte der KZ-Verband die Ausgestaltung der Gedenkstätte Mauthausen voranzutreiben. 1949 gaben die österreichischen Überlebenden Josef Kohl und Hans Maršálek einen ausführlichen »Wegweiser« durch das ehemalige Lager heraus, der die Informationslücke ein Stück weit schließen sollte.22 Bewegung in die Frage der Ausgestaltung der Gedenkstätte kam vor allem durch die Aktivitäten nicht-österreichischer Institutionen, wie die an die Bundesregierung adressierte scharfe Kritik des sowjetischen Hochkommissars an der Gestaltung der Gedenkstätte, »die eher einem Erholungsheim als einer Hitlerischen Todesfabrik ähnlich«23 sei. Bundeskanzler Figl stellte daraufhin in Aussicht, erläuternde Tafeln an einzelnen Objekten des Lagers anzubringen, die den Zweck dieser Stätten erläutern und an die Leiden der Häftlinge erinnern sollten. Im Mai 1950 bekräftige der KZ-Verband auf seinem zweiten Bundesdelegiertentag in Linz die Forderung nach einer entsprechenden »Ausgestaltung des KZ Mauthausen«24. Erst nach langwierigen und konfliktreichen Verhandlungen zwischen den Opferverbänden, dem Land Oberösterreich, das 1949 offiziell die Zuständigkeit für die Gedenkstätte Mauthausen im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung übernommen hatte, und dem Bundesministerium für Inneres konnte man sich trotz unterschiedlichster ideologischer Positionen zumindest in der Frage der historischen Kommentierung des 22

Vgl. Kohl, Josef/Maršálek, Hans: Das war Mauthausen (herausgegeben vom Mauthausen-Komitee des Bundesverbandes der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten), Wien o.J. [1949]. 23 Schreiben des Hochkommissars Swiridow der UdSSR in Österreich an Bundeskanzler Figl vom 28.02.1950, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM) BMI 45.438-9/50, GeZl.45.438-9/50 (S.L.). 24 Bundesverbandes der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten (Hg.): Beschlüsse des zweiten Bundesdelegiertentages des Bundesverbandes der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten vom 06.05.1950.

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Lagers auf gemeinsame Textversionen verständigen. Während bei den Kommunist/-innen Anfang der 1950er‑Jahre die Selbstbefreiungsthese auf der Agenda stand, war das konservativ regierte Land Oberösterreich hingegen daran interessiert, die gesamte österreichische Bevölkerung als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen. Die dreisprachig angebrachten Texte (Deutsch, Französisch, Russisch) spiegelten den komplizierten Aushandlungsprozess wider. Historische Erläuterungen fanden sich vor allem zum Beleg des Häftlingswiderstandes und -leidens. Die ökonomischen Verflechtungen des Konzentrationslagers, die gesamte Täter/-innenseite wie die Einbindung des Lagers in sein Umfeld wurden weitestgehend ausgeblendet. Bei der Erstellung der beschreibenden Texte sollte sich herausstellen, dass man die historischen Überreste zwar als Symbol für das Häftlingsleiden erhalten hatte, ihnen aber letztlich wenig Bedeutung in der Vermittlung historischen Wissens einräumte. Deutlich wird dies an jener Beschriftungstafel, die am oberen Ende der Stiege zum Steinbruch angebracht wurde und sich auch heute noch dort befindet. Unter dem Titel »Todesstiege« ist u.a. zu lesen: »Ihre heute gleichmäßigen und normal hohen Stufen waren zur Zeit des Konzentrationslagers willkürlich aneinandergereihte ungleich große Felsbrocken der verschiedensten Formen. Die oft einen halben Meter hohen Felsbrocken erforderten beim Steigen größte Kraftanstrengung.« Die Stiege zum Steinbruch war jedoch entgegen der teilweise bis heute verbreiteten Auffassung keineswegs während der Existenz des Lagers unreguliert, sieht man von der Bauphase selbst ab. Fotografien von Besuchen Heinrich Himmlers 1941 und 1942 in Mauthausen zeigen – ebenso wie die vielen erhaltenen Fotos aus der Zeit der Befreiung – eine vollkommen regulär gebaute Stiege mit gleichförmigen Stufen.25 Die Vorstellung, die SS hätte eine schlecht gebaute Stiege in »ihrem« Steinbruch zugelassen, verkennt deren Bestrebungen, das gesamte Lager als eine Repräsentation von Macht zu gestalten, in dem der Neuordnungswille des Regimes zum Ausdruck kam. Die Stiege wurde durch die Renovierung 1948/49 nicht in ihrer Bauweise verändert. Lediglich die Fugen der Steine wurden verstrichen, um den Erhalt der Stiege zu gewährleisten. Am Umgang mit der Stiege zum Steinbruch wird der Umstand, dass die Überreste des Lagers die ihnen zugedachte Funktion der Vermittlung 25

Vgl. Toran, Rosa/Sala, Margarida: Mauthausen. Crònica Gràfica d’un Camp de Concentració. Fons Fotogràfic de l’Amicale de Mauthausen, Barcelona 2003, S. 165.

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der Realität eines Konzentrationslagers in den Augen der Verfasser/-innen des Erläuterungstextes nicht ausreichend zu erfüllen vermochten, am deutlichsten in der gesamten Gedenkstätte sichtbar. Anstatt sich auf eine Erläuterung zu beschränken, die den Besuchenden vermittelt hätte, dass das Schleppen schwerer Steine über 183 Stufen einer ordentlich gebauten Stiege bei gleichzeitiger Terrorisierung durch die SS vielfach tödliche Folgen für die Häftlinge hatte, versuchte man, den historischen Überresten eine eindeutige Lesart zuzuschreiben, die sie in dieser Form nicht hatten. Dies ging nur um den Preis der Verfälschung historischer Tatsachen, der vor dem Hintergrund der 1950er‑Jahre, in denen die KZ-Gedenkstätte in Österreich marginalisiert war und es darum ging, die Dimension der NS-Verbrechen in der Gesellschaft überhaupt erst bewusst zu machen, erklärbar ist.

»Todesstiege« 1947. Fotograf: Franz Blaha, Quelle: ÖNB Bildarchiv, ÖGfZG P2956-10_9

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Dass die historischen Überreste des Lagers in den 1950er‑Jahren aber generell – auch als Symbol – an Bedeutung verloren, kann an zwei charakteristischen Entwicklungen in dieser Phase festgemacht werden: zum einen an der Errichtung zahlreicher nationaler Denkmäler auf dem SS-Gelände, die das zwischen 1947 und 1949 gewählte Konzept des historischen Überrestes als Denkmal konterkarierten, und zum anderen an dem nicht realisierten, einem politischen Totenkult 26 verpflichteten Projekt eines überdimensionalen Beinhauses nach dem Vorbild von Douaumont-Verdun.27 Die Bedeutung der historischen Überreste nahm erst wieder ab den 1960er‑Jahren zu, mit der Funktionserweiterung der KZ-Gedenkstätte zu einem zeitgeschichtlichen Museum, das den Überresten nun zunehmend die Funktionen von Quellen und Exponaten zuschrieb. Die grundlegende, schon in der Gründungsphase thematisierte He­rausforderung, wie mit historischen Überresten umzugehen ist und welchen Stellenwert sie sowohl als Denkmal und Symbol als auch gleichzeitig für die Vermittlung in einer KZ-Gedenkstätte haben können, bleibt nach wie vor aktuell. Gerade die Tendenzen der letzten Jahre, die Lager in ihren historischen Ausdehnungen und Verflechtungen zu präsentieren und damit auch Überreste – Wohnsiedlungen, Fabrikanlagen, Stollen, Funktionsgebäude, Geleise – einzubeziehen, die sich nicht innerhalb der in der Nachkriegszeit gezogenen Grenzen von Gedenkstätten befinden, wirft erneut Fragen nach einem adäquaten Umgang mit historischen Relikten auf.

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Vgl. Koselleck, Reinhard/Jeismann, Michael (Hg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994. 27 Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 137–144 sowie Bessone, Claude/Winkler, Jean-Marie: Le »Douaumont de la Déportation«. Le projet d’ossuaire du camp de concentration de Mauthausen (1955–1961). Exhumations et »retour des corps«, Paris 2007.

»Selbst die Sonne schien damals ganz anders ...«

Literatur Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997². Bessone, Claude/Winkler, Jean-Marie: Le »Douaumont de la Déportation«. Le projet d’ossuaire du camp de concentration de Mauthausen (1955–1961). Exhumations et »retour des corps«, Paris 2007. Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. Bundesverbandes der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten (Hg.): Beschlüsse des zweiten Bundesdelegiertentages des Bundesverbandes der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten vom 06.05.1950. Fiereder, Helmut: »Zur Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen«, in: Fritz Mayrhofer/Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd.  2, Linz 2001, S. 1563–1590. Knigge, Volkhard: »Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager«, in: Sigrid Weigel/Birgit R. Erdle (Hg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 193–234. Kohl, Josef/Maršálek, Hans: Das war Mauthausen (herausgegeben vom Mauthausen-Komitee des Bundesverbandes der österr. KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten, Wien o.J. [1949]. Koselleck, Reinhard/Jeismann, Michael (Hg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994. Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. Toran, Rosa/Sala, Margarida: Mauthausen. Crònica Gràfica d’un Camp de Concentració. Fons Fotogràfic de l’Amicale de Mauthausen, Barcelona 2003.

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Schwierige Orte Erinnerungslandschaften von sinai 1

Jede Zeit sucht ihre Form der Erinnerung, schafft ihre eigenen Erinnerungslandschaften. Und die gebaute Erinnerung reflektiert, bewusst oder nicht, aber nie zufällig, neben der erinnerten Vergangenheit auch die Bedingungen der Gegenwart.

Versetzen wir uns in das Tal des Todes in Flossenbürg: die Abgeschiedenheit des Schluchteneinschnitts, die ruhige Symmetrie der Anlage mit ihren Erdarchitekturen, die grünen Grasmatten mit den verwitterten Gedenksteinen. Unmittelbar neben dem eigentlichen Häftlingslager haben die Überlebenden selbst einen Ort entstehen lassen, der die Erinnerung an die Opfer in Würde und Respekt ermöglicht. Das erhaltene Krematorium des Lagers bildet lediglich eine randständige Kulisse, wie eine vorsichtige Kommentierung des Geschehens. Die friedhofsartige Gestaltung scheint dabei Schluss- und Ausgangspunkt gewesen zu sein, um das eigentliche Lagergelände den Alltagsnutzungen der Nachkriegszeit zuzuführen. Die Begegnung mit dem Tal des Todes lässt nicht unberührt. Der Ort unterläuft in seiner unvermeidbaren Idylle dabei völlig die Erwartung, die wir nach 70  Jahren Erinnerungskultur im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus entwickelt haben. Indem zuerst Raum für Trauer und Gedenken an die Opfer geboten wird, die Betrachtung der Taten und der Täter/-innen aber hintangestellt scheint, unterscheidet sich diese Geschichtserinnerung grundlegend von den heutigen Modellen, die viel mehr das historische Geschehen und das Lernen über das historische Geschehen für die Zukunft in den Mittelpunkt stellen. 1

Das Büro sinai wurde 2006 gegründet und ist in allen Handlungsfeldern zeitgenössischer Landschaftsarchitektur tätig. Die Gründungspartner A.W. Faust, K. Schroll und B. Schwarz widmen sich sehr unterschiedlichen Schwerpunkten in der Landschaftsarchitektur, wobei A.W. Faust für die Konzepte und Entwürfe des Büros verantwortlich zeichnet. Seit dem Wettbewerbsgewinn zur Neugestaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen 2003 setzt sich der Autor immer wieder mit der Gestaltung von Gedenkorten und Erinnerungslandschaften auseinander.

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Heute sind es die Nachkommen der Täter/-innen und nicht (jene der) ehemalige(n) Opfer, die an der Erinnerung arbeiten. Die Adressat/-innen sind nicht mehr vordringlich die Opfer, sondern die Menschen der Folgegenerationen, die das Geschehen nicht aus eigener Anschauung abrufen und einordnen können. Entsprechend verändert haben sich die Bedingungen des Erinnerns als Gestaltungsanlass für Erinnerungsorte. Wenn ich aus eigener Sicht vom Gestalten dieser Orte berichte, dann im Bewusstsein, dass auch der eigene Ansatz ein Produkt oder ein Ausdruck unserer Zeit ist und offenbar übereinstimmt mit einer Art Konsens zur Frage, wie Erinnerung heute aussieht. Dieser Konsens besteht jetzt, nicht vor 20 Jahren und wahrscheinlich nicht in 20 Jahren. Gedenkstätten sind heute nicht Ergebnis einer autonomen künstlerischen Produktion, sondern von Gemeinschaftsaufgaben, für die große Netzwerke zusammenarbeiten, die die Expertisen der Historiker/-innen, Kurator/-innen, Didaktiker/-innen, Ausstellungsgestalter/-innenund eben von uns Architekt/-innen beinhalten. Die Arbeit wird begleitet von Bei­ räten, natürlich unter der Beteiligung von Opferverbänden und politischen Vertretungen. Sie wird mehr oder weniger intensiv von der Medienöffentlichkeit kommentiert. Die Arbeit an Gedenkstätten ist also immer auch die Arbeit mit beständigen Diskursen. Ausgehend vom Moment der Konzentration im Gestaltungswettbewerb arbeiten wir gerne innerhalb und mit diesen Diskursen. Wir arbeiten an deren stofflicher Umsetzung, sozusagen als Ingenieur/-innen im Maschinenraum des Gedenkens. An diesen »schwierigen Orten« haben wir schließlich auch die Grenzen der Landschaftsarchitektur gefunden: Mein erster Aufenthalt in Bergen-Belsen war im März 2003. Die Luft auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers war erfüllt von lautem Vogelgezwitscher. In dem Augenblick war mir klar, dass man mit den Mitteln des Landschaftlichen allein für das Grauen dieses Ortes keinen angemessenen Ausdruck finden wird. Selbst wenn wir diese hundert Hektar schwarz schottern würden – das Zwitschern würde immer wiederkehren.

Das Büro sinai und »Schwierige Orte« Das Büro sinai ist 2001 entstanden. Der erste gewonnene Wettbewerb (und ohne diesen gäbe es das Büro wahrscheinlich nicht) war derjenige zur Gedenkstätte in Bergen-Belsen. Ich musste eine Menge innere Widerstände überwinden, um überhaupt teilzunehmen. Nicht viel mehr

Schwierige Orte

bedeutet der Sammelbegriff »Schwierige Orte«: historische Orte, die Widerstände auslösen, wenn man sich mit ihnen befassen soll, die man nicht aus Neigung, sondern eher mit Abneigung betrachtet und die Aufgaben stellen, denen man sich nicht gewachsen fühlt. Mit den Gedenkstätten in Bergen-Belsen, in Flossenbürg oder mit der Gedenkstätte Berliner Mauer und dem Schwesterprojekt, dem Platz des 9.  November 1989, blicken wir heute auf eine Reihe dieser »schwierigen Orte«. Es besteht nun die Gelegenheit zu einer Selbstbetrachtung, zu einer Schilderung der übergreifenden Motive in der Gestaltung der Orte: Was sind ihre grundsätzlichen Aufgaben und Ziele, was wollen sie bewirken und auf welche Weise? Welche Rolle spielt dabei die stoffliche Gestalt des Ortes? Auch wenn wir zu diesen Fragen eine gleichbleibende Haltung einnehmen, stellen wir fest, dass sich die gebauten Ergebnisse deutlich unterscheiden. Die hier im Folgenden vorgestellten Projekte Bergen-Belsen, die Gedenkstätte Berliner Mauer und der Platz des 9. November 1989 in Berlin werden das verdeutlichen.

Wozu Landschaften der Erinnerung? Wozu, fragt man sich eingangs natürlich, will und braucht man Landschaften der Erinnerung? Den einfachsten Zugang haben wir mit der Arbeit an Bergen-Belsen bereits 2003 mitgenommen: Die Aufgaben von Gedenkstätten sowohl für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft als auch für die Opfer der kommunistischen Diktatur sind mit dem Bericht der Zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 19982 definiert worden. Wir verfügen so über eine Art Konstitution für die Gestaltung von Gedenkstätten in Deutschland mit den folgenden zentralen Aufgaben: die Ermöglichung eines würdigen Gedenkens der Opfer und die Erinnerung an ihre Schicksale sowie die Nutzung des Raumes sowohl für historisches Lernen als auch für wissenschaftliches Arbeiten. In der Gleichzeitigkeit dieser Aufgaben entsteht die Gelegenheit, unbequeme gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung zu vereinen. Von besonderem Wert, insbesondere für das historische Lernen, sind dabei diejenigen Erinnerungsorte, die sich an den Schauplätzen des historischen Geschehens befinden. Im Unterschied also zur 2

Vgl. Schlussbericht Zweite Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/11000, 10.06.1998.

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Gedächtnisarchitektur des Tals des Todes aus den Nachkriegsjahren steht der authentische Ort im Mittelpunkt der Betrachtung. Dieser Ort kann Zeugnis ablegen von der Wahrhaftigkeit des Geschehenen. Er ist Beweismittel und verstärkt die Glaubwürdigkeit und Wirkung der historischen Erzählung mit der faktischen und emotionalen Kraft des »Echten«. Je länger das Geschehen zurückliegt, umso bedeutender wird der authentische Ort für diejenigen, die Geschichte nur aus zweiter Hand erfahren. Die Existenz dieses Ortes macht das Geschehen unbestreitbar. Allerdings ist es so, dass diese authentischen Orte ihre Besonderheit nicht unbedingt in ihren stofflichen Eigenschaften entfalten. Sie wirken durch die eingeschriebene geschichtliche Erinnerung, durch das Wissen über das Geschehen. Der Wald in Bergen-Belsen ist ohne seine Geschichte einfach nur Wald. Ein schöner Wald sogar. Überlagert mit den grauenvollen Bildern der letzten Tage des Konzentrationslagers hat er sein Wesen aber für immer verändert. Schönheit wird man hier nicht mehr empfinden. An eine intuitiv »spürbare Aura« des historischen Ortes glauben wir nicht. Ihre Wirkung entsteht durch das Wissen der Besucher/-innen um das Geschehen.

Wo liegen die Landschaften der Erinnerung? Die Wirkungsweisen der authentischen Orte, z.B. jene der historischen Lagergelände in Bergen-Belsen und Flossenbürg oder des Todesstreifens der Berliner Mauer, unterscheiden sich grundlegend von der Wirkung abstrakter Symbolarchitekturen, wie dem Denkmal der ermordeten Juden Europas am Brandenburger Tor. Sie begünstigen eine Imaginationsleistung der Besucher/-innen, indem diese den Ort und das Geschehen an diesem Denkmal plastisch miteinander verknüpfen können. Insofern zielt die Gestaltung historischer Orte auf eine konkrete Bildschöpfung im Bewusstsein der Menschen – in ihnen selbst liegen die Landschaften der Erinnerung. Die Besucher/-innen projizieren mit ihren geistigen Anstrengungen das Geschehen in den Ort. Das Geschehen wird verständlich und einprägsam und nicht zuletzt deshalb emotional umso wirksamer. Für die Gestaltenden eines Gedenkortes bedeutet das die Arbeit an zwei Strängen: die Behandlung des Ortes, der »Landschaft« selbst und die Vermittlung von historischem Wissen und historischer Erfahrung. Die Art, wie diese beiden Stränge ineinander geflochten sind, kann sich dabei grundlegend unterscheiden.

Schwierige Orte

Das Ziel aber ist das Erreichen der Besucher/-innen. Im Idealfall werden sie in der Bewegung über das Gelände von passiven Empfangenden zu aktiven Erforschenden, für die es keine vorgegebenen didaktischen Pfade gibt. Wir von sinai denken, dass diese aktive Aneignung durch eine intuitive Lesbarkeit des Raumes, die die bewusste Wahrnehmung unterschiedlicher Ebenen und Schichten ermöglicht, begünstigt wird. Aktive und mündige Besucher/-innen wird man nicht durch vorgefertigte und endgültige Interpretationen und Botschaften gewinnen. Zur Komplexität dieser Orte gehört z.B. auch die Frage, wann die erzählte »Geschichte« eigentlich endet. Gehören zur Geschichtsvermittlung des Konzentrationslagers auch die Familiengründungen der »Displaced Persons«, also der Befreiten von Bergen-Belsen, die zum Teil noch Jahre nach 1945 dort lebten? Gehört dazu auch die konfliktbehaftete Entstehung der Gedenklandschaft oder der Gedenkkultur (z.T. unmittelbar) nach dem Horror? Gehören zur Existenz der Berliner Mauer auch die Geschichte ihrer Überwindung und der Streit um das richtige Gedenken? Wir wissen, die Antworten sind jeweils ja und wir wollen die Besucher/-innen, je mehr sie sich in den Raum vertiefen, mit der Komplexität und Widersprüchlichkeit von Raum und Geschichte konfrontieren.

Was leistet Landschaftsarchitektur? Nach unserer Auffassung ist Landschaftsarchitektur an diesen schwierigen Orten eine dienende Disziplin, die zuallererst hilft, den Ort und die historische Erzählung miteinander zu verknüpfen. Sie soll den Besuchenden einen Zugang verschaffen, indem sie den Ort lesbar und verständlich macht. Erst die Möglichkeit der Orientierung macht historisches Geschehen verortbar und damit vorstellbar. Dabei ist nichts so wertvoll, wie das authentische historische Zeugnis. Die vorhandenen Spuren und Relikte, egal wie widersprüchlich oder banal sie erscheinen mögen, bezeugen erst die Wahrhaftigkeit des historischen Ortes. Das gilt für die millionenfach fotografierte Grenzmauer in Berlin wie auch für die trostlosen Reste der Latrinen in Bergen-Belsen. Sie sind selbstverständlich zu bewahren und proportional angemessen in die Erinnerungslandschaft einzubinden. Allerdings war die historische Substanz in allen unseren Projekten nur noch derart fragmentarisch vorhanden, dass ohne hinzugefügte Raum­ eingriffe als »Lesehilfen« die Orte kaum identifizierbar und vorstellbar gewesen wären. Wir entwickeln hierfür Zeichensysteme. Erst diese

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Eingriffe ermöglichen eine Orientierung im Raum und eine sinnstiftende Einordnung der vorhandenen Spuren. Jede gestaltende Hinzufügung muss sich allerdings in ein proportional richtiges Verhältnis zum Vorhandenen begeben. Jedes Zeichensystem als Nachzeichnung des nicht mehr Vorhandenen muss sich zeitlich sofort als Hinzufügung, als neue Zeichnungsebene, zu erkennen geben. Rekonstruktionen als Wiedererrichtung des Verlorenen lehnen wir dabei in jedem Fall ab. Die Praxis des Rekonstruierens gefährdet grundsätzlich die Glaubwürdigkeit und den Zeugnischarakter des authentischen baulichen Relikts. Jede gegenständliche Ergänzung ist, gewollt oder nicht, mit einem gestalterischen Ausdruck und der Ausbildung eines atmosphärischen Feldes verbunden. Gestaltung ist dabei natürlich ein bewusster Akt. Wir versuchen einen reflektierten Umgang mit der Tatsache umzusetzen, dass sich in Jahrzehnten gebauter Erinnerungskultur eine gewisse Semantik, sogar eine Gedenkstättenästhetik, herausgebildet hat. Die ästhetische Frage als kulturgeschichtlicher Beitrag steht aber nicht im Mittelpunkt unserer Arbeit, sondern die Genauigkeit und intuitive Verständlichkeit unserer Zeichensysteme im Verhältnis zum historischen Ort. Abgezielt wird dabei auf das Wecken von Erkenntnisinteresse bei den Besuchenden. Jede Gestaltung bedingt eine Gestimmtheit des Ortes. Sicher wird sie angemessen sein müssen. Gewolltes atmosphärisches Gestalten als emotionale »Überwältigungsarchitektur« jedoch gefährdet unseres Erachtens die Wirksamkeit historischer Orte und erscheint uns hier fehl am Platz. Die Schaffung einer atmosphärischen Entsprechung zum Geschehen an einem Ort wie z.B. Bergen-Belsen ist zumindest mit den Mitteln der Landschaftsarchitektur in keinem Fall möglich.

Gedenkstätte Bergen-Belsen Natürlich ist Bergen-Belsen ein furchtbarer Ort. Ein berüchtigter Ort auch deshalb, weil mit den Filmaufnahmen der britischen Streitkräfte nach der Befreiung im April 1945 das Grauen der Lager für alle sichtbar wurde. Bergen-Belsen war zwar nicht als Vernichtungslager konzipiert, aber in der letzen Phase des Krieges war es Ziel zahlreicher Todesmärsche, auf denen unter katastrophalen Bedingungen noch rund 50.000  Menschen zu Tode kamen. Heute ist das Gedenkstättengelände ein verstörend idyllischer Ort. Vom vormaligen Konzentrationslager sind nur wenige Relikte erhalten,

mAsterPlAn 2005 bergen-belsen

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1 Anne-FrAnk-PlAtz 2 DokumentAtionszentrum 3 PlAteAu

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4 obelisk unD inschriFtenwAnD 5 JüDisches mAhnmAl 6 Polnisches holzkreuz

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7 APPellPlAtz 8 kremAtorium 9 relikte DesinFektionsgebäuDe

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die Gesamtstruktur ist völlig überformt. Erste Gedenkzeichen wurden von jüdischen und polnischen Überlebenden bereits 1945 errichtet. Die Briten entschieden sich für die Errichtung eines, allen Opfergruppen gewidmeten, Ensembles aus einer monumentalen Inschriftenwand mit einem Obelisken. Die ersten Geländegestaltungen umfassten die Massengräber mit ihrem Umfeld. Gegen den ausdrücklichen Wunsch der Vertreter/-innen von Überlebendenverbänden wurden die allermeisten Spuren des Lagers beseitigt. Die umfassende (Neu-)Gestaltung in den 1960er‑Jahren erfolgte in einem heute nicht mehr nachvollziehbaren Umgriff durch deutsche Landschaftsgestalter/-innen, ausgerechnet im Stil einer parkartigen Heidelandschaft – ein gestalterisches Motiv, das sich in den Jahren des Nationalsozialismus als Sinnbild eines heimatbezogenen Garten- und Naturverständnisses großer Beliebtheit erfreute. Auf dem weitaus größeren übrigen Gelände war Wald aufgewachsen. Unser genaues Wissen um die historische Lagerstruktur und -organisation ist überraschenderweise verhältnismäßig neu. Erst Ende der 1990er-Jahre tauchte ein Luftbild der Royal Air Force vom September 1944 auf, auf dem das Lager in seiner ausdifferenzierten und komplexen Organisationsform erkennbar ist. Es ist dieses Luftbild, das (digital entzerrt vom Hamburger Institut für angewandte Wissenschaft) unseren Entwurf zur Neugestaltung des Geländes erst möglich gemacht hat. Die markante Figur des Lagers, seine äußeren und inneren Grenzen mit den einzelnen Lagerteilen, wurde als Linienzeichnung in das Massiv des Waldes gerodet. Dies ist eine bildhauerische Strategie der überlagernden Wegnahme, die das historische Lager wieder lesbar macht, ohne die vorhandenen Strukturen der bestehenden Gedenkstätte zu zerstören. Der wichtigste Orientierungsraum ist dabei ein zentraler Lichtungskorridor, der die Hauptachse des Lagers zwischen der Lagerstraße und dem sogenannten Trennstreifen nachzeichnet. So entstand ein eindrucksvoller Raum mit einer Breite von 60  Metern bei einer Länge von über einem Kilometer. Mit einem Blick wird hier die gewaltige Dimension des Lagers wieder erkennbar. Entlang dieser Achse waren alle Häftlingsbereiche aufgereiht. Alle Häftlinge erreichten das Lager und ihr Lagerteil über diese zentrale Achse. Im Wettbewerb haben wir diese Raumdominante als topografische Passage bezeichnet. Alle Besucher/-innen können sich durch das Passieren dieses Korridors über die Topografie des gesamten Lagers informieren. Als Lesezeichen bezeichnete Platzflächen mit

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historischen Modellen geben Orientierung, wo man sich befindet und wie sich die historische Situation darstellte. Mit dem räumlichen Aufbrechen des Waldes rückte ein vormals wenig beachteter, scheinbar randständiger Bereich in den Fokus und erhielt eine ganz neue Zentralität. Außerhalb der gestalteten, historischen Gedenkstätte gelegen, ist es kein Zufall, dass hier alle noch vorhandenen baulichen Relikte liegen. So weist Bergen-Belsen eine Zweipoligkeit auf, mit einem Bereich des Gedenkens im Westen und einem Bereich des historischen Erkundens im Osten. Neben dem Motiv des würdigen Erinnerns, das die Gestaltung der Nachkriegszeit so stark prägt, rückt mit diesem zweiten Pol nun die Konfrontation mit dem authentischen Ort auch in das Sichtfeld – so geringfügig die Reste des von den Briten abgeräumten Lagers auch erscheinen mögen. Es werden Grundmauern sichtbar: jene der sogenannten »Entlausung«, eines Küchengebäudes, zweier Baracken, auch von Latrinen und einigem mehr. Es ist ein fragiles Konstrukt, sind doch die baulichen Reste aus Beton und Kalksteinen fortlaufend der Bewitterung und dem Verfall ausgesetzt. Die im Masterplan formulierten Ziele zum Erhalt und Schutz der Relikte konnten angesichts fehlender Gelder nicht verfolgt werden. In wenigen Jahren wird es nichts mehr zu schützen und zu zeigen geben. Der historische Ort wird immer abstrakter und schwerer verständlich. Eine hohe Verantwortung liegt hier auf den (nicht-)fördernden Institutionen. Wird die nun umgesetzte Gestaltung dem furchtbaren Geschehen gerecht? Nein. Wie in der Einführung vorweggenommen, steht Bergen-Belsen für uns auch für die Grenzen der Möglichkeiten von Landschaftsarchitektur. Im weltweit offenen Wettbewerb zur (Neu‑)Gestaltung BergenBelsens hatte es viele Vorschläge für möglicherweise emotional überwältigende Symbolgestaltungen gegeben, die wir für ungeeignet halten. Wie gesagt, irgendwo zwitschert immer ein Vogel. Was den Ort mehr verändert als seine Gegenständlichkeit, ist das Wissen um die Ereignisse an diesem Ort. Nach der Konfrontation mit den Zeitzeug/-inneninterviews, den Dokumenten und erschütternden Filmaufnahmen im Dokumentationszentrum hat sich der Blick der Besuchenden verändert; sie müssen sich, um einen Zugang zum Gelände zu erhalten, mit diesen Erfahrungen konfrontieren. Wir haben diesen Weg auf das Areal als historische Passage bezeichnet. Es war insofern ein glücklicher Zufall, dass die Neugestaltung des Geländes und des Dokumentenhauses 2002 gleichzeitig als

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Steinerner Weg und Eingang zum Dokumentationszentrum. Fotos: Klemens Ortmeyer

Wettbewerb ausgelobt wurde. Das 200 Meter lange Haus mit seiner Ausstellung ist nun tatsächlich der Beginn des Weges, der zum Areal führt. Der sogenannte »Steinerne Weg« durchdringt das Volumen des Gebäudes. Bereits auf dem Vorplatz wird der Weg als Intarsie im Boden sichtbar, er holt die Besucher/-innen ab und führt sie durch eine halboffene Aussparung im Gebäudekörper zur Ausstellung.

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Nach der Ausstellung erreichen die Besucher/-innen nach einem 120 Meter langen entleerten offenen Korridor das Gelände. Der leicht erhabene Steg führt ins Zentrum des historischen Lagers: Am steinernen Plateau, etwa in der Mitte des Rasenkorridors, machen zwei Modelle den historischen mit dem heutigen Zustand vergleichbar und geben den Besuchenden Orientierung. Nach dieser klaren szenografischen Abfolge werden die Besucher/-innen ihren eigenen Wegen und Gedanken überlassen.

Gedenkstätte Berliner Mauer, Bernauer Straße Berlin Die Gedenkstätte an der Bernauer Straße ist der wichtigste Erinnerungsort an die deutsche Teilung. Sie liegt mit einer Länge von 1,4 km im Zentrum Berlins, zwischen den Bezirken Mitte und Wedding. Innerhalb eines dezentralen Konzepts zur Berliner Mauer, mit dem Mauerweg und zahlreichen Erinnerungsorten, ist sie der zentrale Anlaufpunkt für Besucher/-innen, die auf der Suche nach dem Bauwerk sind, das so gründlich aus der Stadt getilgt wurde. Der Anlass für die Errichtung der Gedenkstätte ist zunächst sicher die Tatsache, dass hier auf einer Länge von 200 Metern die markante Vorderlandmauer noch vorhanden ist und die gesamte Grenzanlage in ihrer vollen Tiefenausdehnung mit zahlreichen baulichen Relikten noch nachvollzogen werden kann. Die Bernauer Straße ist darüber hinaus einer der ganz besonders dramatischen Schauplätze an diesem 160 Kilometer langen Bauwerk: Die Grenzlinie verlief genau entlang der Nordfassade der Gebäude – eine Einmaligkeit in der Stadt. Mit dem Beginn des Mauerbaus im August 1961 und der Sperrung der Straßen prägten sich die Fenstersprünge in das gemeinsame Gedächtnis ein, bis die Fassaden vermauert und die Gebäude später abgerissen und dann in den 1980er-Jahren durch den typischen Grenzausbau ganz überbaut wurden. Die Bernauer Straße war Schauplatz dramatischer Tunnelfluchten, bis die Stasi ihre sogenannten Gegentunnel anlegte. Der Todesstreifen verlief über zwei Kirch- und Friedhöfe, die Bestatteten wurden umgebettet. Und die Versöhnungskirche, die sich auf dem Todesstreifen befand, wurde im Januar  1985 gesprengt. Allein an der Bernauer Straße kamen fünf Menschen bei Fluchtversuchen ums Leben. Die Bernauer Straße war damit auch zur Existenzzeit der Mauer ein berühmter und berüchtigter Ort mit einer enormen öffentlichen Präsenz in allen westlichen Medien. Darunter wurden Fotografien, wie diejenige

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des über den Stacheldraht springenden Grenzsoldaten Conrad Schumann, zu geradezu ikonografischen Bildern. Das Land Berlin hat sich mit der Suche nach der »richtigen Form« des Gedenkens viel Zeit genommen. Das 2006 vorgelegte »Gesamtkonzept Berliner Mauer«3 baute auf eine Situation auf, in der stadtweit von der Mauer kaum noch etwas zu sehen war und verschiedene, unkoordinierte Erinnerungsmotive sich entwickelt hatten. Der im Jahr 2007 ausgelobte Wettbewerb zur Bernauer Straße fand also vor dem Hintergrund des Ringens um das richtige Gedenken in den 18 Jahren seit dem Mauerfall statt. Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1990: Die Mauer war gefallen und niemand konnte sich vorstellen, dass jemand das verhasste Bauwerk je vermissen würde. Auch als Planer/-in ging man in dieser Zeit eher voll Optimismus davon aus, dass die gewaltige städtebauliche Wunde des Todesstreifens wieder bebaut werden würde. Die Grenztruppen der DDR arbeiteten im Abraum effektiv, und bis zum Sommer 1990 war von der Mauer nur noch wenig zu sehen. Wenige stellten sich dem Abriss entgegen, am wirkungsvollsten aber Pfarrer Manfred Fischer von der Versöhnungsgemeinde, dessen Kirche im Todesstreifen der Sprengung zum Opfer fiel. Es ist seinem Veto und seinem Wirken zu verdanken, dass an der Bernauer Straße heute noch verhältnismäßig viel zu sehen ist. Für ihn war es unvorstellbar, dass die Mauer, die das Leben so vieler geprägt und zerstört hatte, ohne Spuren verschwinden sollte. Auf dem rückübertragenen Grundstück der Kirchengemeinde entstand aufgrund seiner Initiative bis zum Jahr 2000 die Kapelle der Versöhnung auf den Fundamenten der Kirche als Stampflehmbau mit Ziegelsplitt aus dem Trümmerschutt – ein kirchlicher Ort der Erinnerung und der Andacht an die Opfer der Mauer. Bereits 1998 war jenseits der Ackerstraße das nationale Denkmal für die Opfer des Mauerbaus und der deutschen Teilung nach dem Entwurf von Kohlhoff & Kohlhoff aus Stuttgart fertiggestellt worden. Zwei mächtige Stahlwände fassen dabei einen erhaltenen, nicht zugänglichen Abschnitt des Todesstreifens zwischen Vorderland- und Hinterlandmauer ein. Die spiegelnden Innenseiten aus Edelstahl sollen die Mauerfluchten dabei ins Unendliche verlängern. Einen Blick in diesen »Innenraum« ermöglicht der Aussichtsturm am Dokumentationszentrum, das 1999 im 3

Vgl. dazu: Flierl, Thomas (Endredaktion)/Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur: Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer: Dokumentation, Information und Gedenken, Berlin 2006, unter: http://opus.kobv. de/zlb/volltexte/2012/13799/pdf/asv2006616_1.pdf vom 23.04.2015.

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Haus der Versöhnungsgemeinde jenseits der Bernauer Straße eingerichtet wurde. Das Dreigestirn aus Kapelle, Denkmal und Dokumentenhaus deckte so den spirituellen, den künstlerischen und den informierenddokumentarischen Aspekt des Erinnerns ab. So stellte sich also der vorläufige Schlusspunkt der Entwicklung zur Jahrtausendwende dar. Man kann davon ausgehen, dass zu diesem Zeitpunkt der übrige Grenzstreifen wieder für eine städtebauliche Reparatur vorgesehen war. Das heute umgesetzte Konzept setzt dagegen auf die Erkenntnis, dass die gewaltige Leerstelle im Stadtgefüge als Abdruck des Grenzstreifens die raumwirksamste Erinnerung an das Bauwerk Berliner Mauer ist. Bereits seine Freihaltung ist ein Beitrag zur Stadterinnerung. Zu Beginn unserer Arbeit stellte sich das Gelände als locker bewachsene Brache dar, in der bruchstückhafte Reste der Grenzanlagen zu finden waren. Die bauliche Originalsubstanz und die verschiedenen archäologischen Befunde stellten natürlich die wertvollsten Zeitzeugnisse und Ausstellungsgegenstände dar. Für die Vorstellungskraft der Besucher/-innen reichten die wenigen Reste aber nicht aus, um die komplexe Abfolge des Grenzsicherungssystems aus der bekannten Vorderlandmauer, der Lichttrasse, dem Signalzaun und der Hinterlandmauer wieder sichtbar und verständlich zu machen. Die erste Ebene unserer Arbeit bestand in der Entwicklung eines differenzierten Systems von Zeichen und Einzeichnungen, das die fehlenden Bauteile und Abschnitte so ersetzt, dass die räumlichen und funktionalen Zusammenhänge wieder verständlich werden. Verschiedene Strukturverläufe konnten nur anhand historischer Karten wieder in den Ort eingeschrieben werden, im Büro sinai sprechen wir deshalb hier von einer Rekartierung im Gelände. Abstrakte zwei- oder dreidimensionale Elemente aus rostigem Stahl ersetzen, einer gedachten Planlegende folgend, die verlorenen Bauteile oder füllen wie Amalgam die Fehlstellen. Es wurde schnell erkennbar, dass die Fülle der Information den Ort und die Wahrnehmung der Besucher/-innen schnell überfordern kann. Die differenzierte Deutlichkeit und Räumlichkeit zielt daher auf eine bewusste Wahrnehmungsreihenfolge und auf die sinnliche Gewichtung der Elemente. Das dominante Element stellt die Vorderlandmauer dar, für viele gleichgesetzt mit »der Mauer« als solcher. Die von den »Mauerspechten« (Souvenirjäger/-innen, die mit Hammer und Meißel Stücke der Mauer entnahmen) freigelegten senkrechten Armierungseisen waren

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bildstiftend für unseren Vorschlag der Nachzeichnung: Locker gereihte und versetzt angeordnete Stahlstäbe bilden dabei eine Art Vorhang in den 3,60 Metern Originalhöhe der Betonelemente. Abhängig vom Blickwinkel verändert die Reihung ihren Charakter: Bei frontalem Blick wirken die Stäbe als transparente »Folie«, während sie sich aus spitzem Win­kel zu einer dichten stählernen Wand zusammenziehen.

Vorderlandmauer. Foto: Klemens Ortmeyer

Als einfache Strichpunktlinien im Boden stellen sich demgegenüber die Licht- und Zauntrassen dar. Der Postenweg, auch für die Ausstellung die Hauptbewegungsachse, ist an Fehlstellen durch großformatige Betonplatten ergänzt. Die Hinterlandmauer erhält wiederum mit einer weitmaschigen Taktung von Stahlprofilen eine gewisse Raumwirksamkeit. Eine eigene Entwicklungsgeschichte haben die Wachtürme genommen: Auf Bürger/-innen- und Betroffenenversammlungen wurde uns mit der Betonung der Vorderlandmauer eine typische »Wessi«-Sicht auf die Mauer vorgeworfen. Die Vorderlandmauer war für die Ost-Bürger/-innen allerdings nur im West-Fernsehen zu sehen. Ausdruck der Bedrohlichkeit des Systems waren vielmehr die regelmäßig getakteten Türme mit ihren bewaffneten Wachmannschaften. Unter diesem Eindruck ist im

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Straßenraum der Strelitzer Straße die abstrahierte Nachzeichnung eines Turms mit vier Winkelelementen aus Cortenstahl entstanden. Sie bildet damit, wie die Türme im Todesstreifen, eine düstere vertikale Dominante in der Erinnerungslandschaft. Die Entstehungsgeschichte der Grenzanlagen ist natürlich verknüpft mit der Zerstörung der Stadt. In das Zeichensystem am Boden sind so als eigener Layer mit gestuften Stahlschwellen die Grundrisse der vom Grenzregime abgetragenen Häuser eingezeichnet. Die Platzierung der Kapelle der Versöhnung auf dem Chor der gesprengten Versöhnungskirche wird so besonders eindrücklich. In den sogenannten »Sondagen« (abgeleitet vom Fachbegriff für Grabungsschnitte) werden die Ergebnisse archäologischer Untersuchungen dauerhaft gezeigt. An der Kirche und an der Bergstraße kommen dabei Zeugnisse der Topografie der Zeit »vor der Mauer« zum Vorschein, ebenso Zeugnisse der Zerstörung der Stadt durch die Mauer. Zur Verräumlichung des Systems Mauer gehört auch die Betrachtung der legendären Fluchtbauten. Eine besondere Faszination lösen bei den Besuchenden die Fluchttunnel aus, die mit quer liegenden Plattenreihen markiert sind. Irritierend wirkt dabei eine Markierung parallel zum Mauerverlauf: Ein Fehler des Grabungsteams könnte man denken. Tatsächlich verlief hier aber der »Gegentunnel« der DDR-Organe, der die Tunnelinitiativen an der Bernauer Straße unterbinden sollte. Die geschilderten Elemente helfen, zusammen mit den originalen Elementen, den Besucher/-innen, einen Vorstellungsraum zu öffnen, »wie die Mauer war«. Letztlich geht es an der Bernauer Straße nicht vorrangig um die Würdigung eines Baudenkmals, sondern um die Schaffung eines Imaginationsraums für die Ereignisgeschichte an der Mauer. An der Bernauer Straße sind tatsächlich viele Hundert Einzelereignisse dokumentiert, vom Fluchtsprung aus dem Fenster über die Politikeransprache »Über die Mauer hinweg« bis hin zur 24-Stunden-Predigt von Pfarrer Fischer anlässlich der Sprengung seiner Kirche. Ereignismarken im Boden belegen die Orte der Einzelereignisse, eine ungeordnete, polyfone Einschreibung von Erinnerungen, die sich mittels Indizes einer Auflistung und Beschreibung der Ereignisse zuordnen lassen. Die Liste wirkt wie ein Feldbuch der dokumentierten Ereignisse. Die Besuchenden werden mit dem Feldbuch in der Hand zu Erkundenden, die ihrem eigenen Interesse folgen. Die Gedenkstätte Berliner Mauer nimmt eine Installation auf, die dem individuellen Gedenken an die Opfer der Mauer gewidmet ist – so wie

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das gemeinsam mit dem Architekten und Ausstellungsgestalter Christian Fuchs entwickelte Fenster des Gedenkens: Die rasterartig geöffnete Stahlwand verläuft parallel zur Mauer, die Fenster lassen sich damit in Ost-West-Richtung durchblicken. Die transparenten Glaselemente in den Fenstern sind mit Fotografien und den Lebensdaten der Opfer bedruckt. In die nischenartigen Laibungen der Fenster werden häufig Blumen oder kleine Steine gelegt.

Fenster des Gedenkens. Foto: Klemens Ortmeyer

Der Ort, an dem das Fenster des Gedenkens steht, ist Teil des Kirchhofs der Sophiengemeinde. Der Todesstreifen verlief an dieser Stelle also über ein Friedhofsgelände. Der Pfarrer der Sophiengemeinde war, anders als Pfarrer Fischer von der benachbarten Versöhnungsgemeinde, über die drohende Erhaltung der Mauerreste derart erbost, dass er, entgegen dem inzwischen geltenden Denkmalstatus, eine Lücke von etwa 20 Metern in die Mauer brechen ließ. Die Mauerelemente wurden achtlos auf dem Geländestreifen abgestellt. Dort stehen sie noch und sind mittlerweile von Götterbäumen überwachsen, obwohl sie zwischenzeitlich wieder zum Gegenstand erbitterter Kontroversen wurden. 2010 wurde erheblicher politischer Druck von verschiedenen Seiten aufgebaut, um die sogenannte

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»Mauerlücke« mit den Elementen wieder zu schließen. Das Hauptargument war, dass die Mauer ohne die Lücke, als geschlossene, graue Raumkante beeindruckender und bedrohlicher wirke. Für uns hätte es wiederum die Zerstörung eines wichtigen Zeugnisses bedeutet, nämlich wie streitstiftend die Mauer über ihr Ende hinaus in unsere Gesellschaft hineinwirkt(e). Wie ist nun die historische Information, die Ausstellung, an den inszenatorisch behandelten Raum gebunden? In Bergen-Belsen ist das Haus als Weg konzipiert. Ausstellung und Doku­mentation liegen als Passage vor dem eigentlichen Gelände. Die Gedenkstätte Berliner Mauer funktioniert völlig anders: Das Gelände ist gleichzeitig Ausstellungsgegenstand und Ort der Ausstellung. Sie ist als Folge von thematischen Stationen entlang des Postenwegs eingebettet. Diese Asphaltbahn, auf der vordem die Grenztruppen ihre Patrouillen fuhren, wird so zur Hauptbewegungsachse der Besucher/-innen. Jede Station ist mit einer Gruppe von Informations- und Medienstelen ausgestattet und in einen der folgenden Themenabschnitte eingeordnet: »Die Mauer und der Todesstreifen«, »Die Zerstörung der Stadt«, »Der Bau der Mauer« und »Alltag an der Mauer«. Dabei gibt es keine Reihenfolge, die Gedenkstätte ist nach allen Seiten zum Stadtraum offen und muss in jede Richtung und mit jedem Einstiegspunkt funktionieren. Sie ist eingespannt zwischen zwei mittlerweile hochfrequentierte Orte: dem Mauerpark im Osten und dem Nordbahnhof im Westen. Das Besondere an dieser Gedenkstätte ist der Todesstreifen, der die Stadt an dieser Stelle verwüstet hat; er ist nun Teil des Stadtraums und Teil des Alltagsraums. Diese Funktion wird begünstigt durch eine zentrale gestalterische Setzung, die den Raum bestimmt. Die Fläche der Gedenkstätte, für uns gleichzeitig Befundebene und Bewegungsraum (»Planum«), ist mit strapazierfähigem, gemähtem und damit sehr grünem Rasen bewachsen. Im Zusammenspiel mit der Grobheit des rostigen Stahls entsteht eine atmosphärische Ambivalenz, die der bedrückenden Erinnerung an das Mauerregime und seine Opfer die Erinnerung an die Überwindung dieses Systems zur Seite stellt. Es ist ein Erinnerungsraum mit Aufenthaltsqualität entstanden, der nicht nur den Hunderttausenden Besucher/-innen im Jahr zur Verfügung steht. Er dient für uns auch als Kontaktraum zwischen den Quartieren Mitte und Wedding, die sich seit dem Fall der Mauer derart dramatisch auseinanderentwickelt haben, dass die Bernauer Straße heute eine soziale Frontlinie darstellt. Auch vor

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diesem Hintergrund ist das Projekt mit einer Anerkennung im Deutschen Städtebaupreis bedacht.

Platz des 9. November 1989 Folgt man dem Verlauf der Mauer wenige Kilometer nach Norden, erreicht man die Bösebrücke – heute die Grenze zwischen den Bezirken Wedding und Pankow. Hier, am vormaligen Grenzübergang Bornholmer Straße, liegt, wie häufig gesagt wird, der Ort, an dem die Mauer fiel. Tatsächlich war es der erste Grenzübergang, der am Abend nach der verunglückten Pressekonferenz des DDR-Ministerrats zur Reiseregelung geöffnet wurde. Schließlich hatte Günther Schabowski, als Sekretär des Zentralkomitees der SED eine Art Regierungssprecher des DDR-Ministerrats, am frühen Abend die neue Reiseregelung mit der weitgehenden Reisefreiheit für DDR-Bürger/-innen vorgestellt. Eher irritiert, unter Zuhilfenahme eines Zettels, hatte er die Nachfrage nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens so beantwortet: »Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.« Eine kaum fassbare Sensation. Die Folge war ein nicht mehr zu bewältigender Ansturm an die Grenzübergänge von DDR-Bürger/-innen, die ihn beim Wort nahmen. Anlässlich eines Staatsbesuchs im Jahr 2009 (die Gäste hatten sich den Besuch des Ortes gewünscht, an dem die Mauer 20 Jahre zuvor gefallen war) richtete sich der Blick von offizieller Seite wieder auf die Bornholmer Straße. Der Befund war verheerend. Tatsächlich war der Ort 20 Jahre lang mehr oder minder vergessen worden. Der eigentliche Standort der Grenz­ übergangsstelle war jahrelang als Abstellplatz für Autos genutzt worden und inzwischen der allgegenwärtigen »Berliner Verbuschung« anheimgefallen. Über die Bornholmer Straße rollen jeden Tag über 20.000  Fahrzeuge. Große Werbeträger flankierten den Verkehrsraum. Lediglich ein Stück der Hinterlandmauer im Seitenraum der Straße bezeugte noch die Geschichte des Ortes. Und ein unscheinbarer, nach dem Mauerfall aufgestellter Gedenkstein für Willy Brandt. Für eine Gestaltung des Ortes stand im Wettbewerb 2009 dann lediglich jener lang gezogene Seitenraum zwischen Gehweg und Hinterlandmauer zur Verfügung. Ein Ort ohne besondere Zuschreibung, die eigentlichen Grenzanlagen befanden sich jenseits der Straße auf einem Gelände, das in Privatbesitz rückübertragen wurde und mittlerweile mit einem Discounter bebaut war.

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Anders als in Bergen-Belsen oder an der Bernauer Straße liegt der Gestaltung hier also kein erzählender, authentischer Ort zugrunde. Es handelt sich tatsächlich um eine Symbolgestaltung für ein historisches Datum, den 9. November 1989.

Bösebrücke, Platz des 9. November. Foto: Klemens Ortmeyer

Wir stellten uns im Büro sinai die Frage, wie man sich an einen historisch herausragenden Tag erinnert. Aus der eigenen Wahrnehmung hatten wir festgestellt, dass ein Tag als solcher keine erinnerbare Einheit darstellt. Der Moment ist die Substanz der Erinnerung, und es ist die Folge starker Einzelmomente, die Deutsche Jahr für Jahr am 9. November abrufen, die an jedem Jahrestag medial verbreitet werden. Es sind Momente, wie eben die Verkündung der neuen Reiseregelung durch Günter Schabowski, die Öffnung für die Ersten, die »Aufsässigen«, im Zuge der sogenannten Ventillösung, die Worte von einem »historischen Tag« von Hajo Friedrichs in den Tagesthemen und kurz vor Ende des Tages schließlich die vollständige Öffnung der Schlagbäume und die Euphorie der Nacht. Die Platzgestaltung nähert sich diesen historischen Momenten als dingliche Einschreibung in den Boden. Den lang gestreckten Raum

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durchziehen auf das Mauerrelikt ausgerichtete Stahlbänder. Sie zeigen die Zitate und Ereignisse des 9.  November  1989, jeweils eingeleitet von den Uhrzeiten. Die Taktung der Bänder von Ost nach West ist chronografisch, ihre Abstände entsprechen räumlich proportional ihrer zeitlichen Abfolge. Die dramatische Zuspitzung am Abend wird so auch in der Dichte der Bänderung sichtbar.

Momente. Foto: Klemens Ortmeyer

Von Osten her verdichten sich einzelne, im Herbst blühende Kirschbäume zu einem Hain mit bedrängender Enge. Der Hain endet abrupt an der engsten Stelle des Platzes. 21:20 Uhr – zu diesem Zeitpunkt konnte der erste DDR-Bürger ohne Ausreisepapiere die Brücke überqueren. Japanische Kirschbäume prägen an vielen Orten den Mauerweg. Ein japanischer Fernsehsender hatte in der Euphorie der Wendetage Hunderte von Bäumen im Zuge einer Spendensammlung für Berlin finanziert. Mit dem Passieren des Raums wird die Folge der Einzelmomente wieder erlebbar. Die Lage des Orts an einem hochfrequentierten Gehweg zwischen Straßenbahnhaltestelle und S-Bahn-Station Bornholmer Straße ermöglicht so eine alltägliche Präsenz für viele Berliner/-innen.

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Die vormaligen kommerziellen Werbeschilder gibt es nicht mehr. Heute besetzt eine Gruppe von großformatigen Leuchttafeln mit den Bildern des 9.  November einen Informationsort am Brückenkopf. Selbst wenn man diesen Ort motorisiert erfährt, in einem der unzähligen Autos oder in der Straßenbahn sitzend, werden der zentrale Schauplatz und die Ereignisse des 9. November noch einmal überlebensgroß sichtbar. Beim Blick in die Gesichter der fotografierten Menschen auf der Bornholmer Brücke ist es wieder da, das allgegenwärtige Wort dieser Nacht: »Wahnsinn«.

Was wird bleiben? Angesichts der völlig unbefriedigenden städtebaulichen Situation an der Bornholmer Straße möchten wir den Platz des 9. November 1989 als skizzenhafte Einschreibung verstehen, die zur Gestaltung des Ortes als Ganzes nicht das letzte Wort ist. Um dem Ereignis Mauerfall gerecht zu werden, bleibt der Ort vor der Kulisse eines Supermarkts zu unproportional und zu banal. Aber wie wird man nach dem Zeitraum einer Generation dieses »dem Ort gerecht werden« verstehen? Im Zuge der deutschen Einheit wuchs mit der Aufarbeitung der DDR-Diktatur der politische Wille, die Teilung und ihre Folgen zu überwinden. Es ist ein Verdienst dieser Jahre, zu erkennen, dass man über Teilung und Diktatur nach dem Krieg nicht sprechen kann, ohne auf die Jahre des NS-Terrors davor zu blicken. Der Blick auf beide Diktaturen schließt die Erkenntnis ein, dass sie nicht gleichzusetzen sind. Seit dem Beginn der 1990er-Jahre ist der Großteil der Gedenkstätten nationaler und internationaler Bedeutung in Deutschland neu entstanden oder neu geprägt worden. Es ist die Gedenkkultur einer Generation, die Erschließung und Interpretation historischer Orte mit subtilen Raumdeutungen und Lesehilfen. Es handelt sich um Symbolarchitekturen, wie z.B. das Denkmal für die ermordeten Juden oder das noch ausstehende Freiheits- und Einheitsdenkmal auf der Schlossfreiheit im Zentrum der Hauptstadt. Baulich, so können wir bald feststellen, sind wir scheinbar »fertig«. Aber was kommt nach den feierlichen und fotogenen Eröffnungen? Die meisten Gedenkstätten arbeiten fortlaufend an Konzepten zur didaktischen Vermittlung und Belebung der Orte. Erinnerung kann nicht überleben an einem toten Ort, sondern besteht nur in einem lebendigen und lebhaften Orga­n ismus fort. Insofern folgt nun auf eine Phase

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des Bauens eine Phase des »szenischen Gestaltens« dieser Orte, die auch auf die veränderten Erlebniserwartungen der heute jungen Menschen eingehen wird. Die gebaute Erinnerung nimmt so Gefäßcharakter für erinnerndes Handeln ein. Und so gegensätzlich die Raumkonzepte sind, so umstritten sie vor der Umsetzung waren, sie werden Zeitzeugnisse sein für das Denken und Empfinden unserer Jahre. Wir sind natürlich gespannt, mit welchem Blick man auf dieses »Massiv« der Erinnerungslandschaften der Jahrtausendwende zurückschauen wird.

Nora Sternfeld

Errungene Erinnerungen Gedenkstätten als Kontaktzonen

Wenn heute in großen memorialkulturellen Projekten nach angemessenen offiziellen Erinnerungsformen gesucht wird, kann leicht vergessen werden, dass diese Form der Erinnerung selbst zunächst einmal erkämpft wurde. Noch viele Jahrzehnte nach der Befreiung der Konzentrationslager lag die Bürde der Erinnerung an den Holocaust in den NS-Nachfolgestaaten vor allem bei den Überlebenden und ihren Angehörigen. »Es waren die Überlebenden, die direkt nach Kriegsende Gedenktafeln und Mahnmale errichteten, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte verfielen und wieder vergessen wurden.«1 Über weite Teile der 1950er- bis 1980er-Jahre ließ man viele Erinnerungsorte offiziell verfallen oder sie erhielten die Funktion, Opfermythen zu untermauern: So war es auch mit den historischen Plänen für den Umgang mit dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen. Bertrand Perz beschrieb immer wieder anschaulich, wie die Gedenkstätte 1949 zu einem Ort für die »Martyrologie für den Freiheitskampf Österreichs«2 umgestaltet wurde. Diese offizielle Deutung war nie unumstritten. Und so gibt es auch eine Geschichte der kritischen Infragestellung des offiziellen österreichischen Narrativs. Nun steht die Gedenkstätte Mauthausen bereits seit mehreren Jahren in einem ambitionierten Prozess der Umgestaltung, und es stellt sich die Frage, was eine Gedenkstätte heute zwischen offiziellen Repräsentationen, heterogenen Vermittlungsansprüchen und geschichtspolitischen Reklamationen sein kann.

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Klenk, Sonja: Gedenkstättenpädagogik an den Orten nationalsozialistischen Unrechts in der Region Freiburg-Offenburg, Berlin 2006, S. 8. 2 Perz, Bertrand: »Österreich«, in Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 155.

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Sehr lange verblieb die Beschreibung und Analyse der Kämpfe um Erinnerung mono-identitär: Was umstritten war bzw. als umstritten galt, waren hauptsächlich nationale Geschichtsschreibungen. Dies hat sich verändert. Einerseits, weil die Idee einer homogenen Organisation des kollektiven Gedächtnisses in den Migrationsgesellschaften der Gegenwart längst infrage gestellt ist, andererseits, weil transnationale Geschichtsschreibungen und damit verbundene Erinnerungsformen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Denken wir an die Heterogenität der Bezüge in heutigen Klassenzimmern, wird schnell klar, dass wir, wenn wir von einem »kollektiven Erinnern« sprechen wollen, jedenfalls die eine nationale Deutungsmacht einer so vorgestellten Erinnerungsgemeinschaft herausfordern und Brüche und Widersprüche zulassen müssen. Denn obwohl die familiären Tradierungen und Bezüge in der heutigen Migrationsgesellschaft transnationale Zugänge notwendig machen würden, bleibt der Unterricht leider weitgehend national orientiert: So erfahren Jugendliche wenig über die Verbrechen der Nazis in Serbien, die Rolle der Türkei im Zweiten Weltkrieg, die Pogrome in der polnischen Ukraine, die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs in kolonialisierten Ländern etc. In den Bezugsangeboten bleiben sie daher oft in der Trias Täter/‑innen–Opfer–Zuseher/-innen angerufen, die offensichtlich wenig Raum für andere Perspektiven lässt (wie etwa für Widerstandsdiskurse der Partisan/-innen oder für postkoloniale Bezüge aber auch für widersprüchliche Erinnerungskontexte, wie in Algerien, dem Iran, Palästina etc.). Auch die Verbrechen an Roma und Sinti bleiben in den Schulbüchern weitgehend ausgeblendet. Vor diesem Hintergrund erscheint eine immer noch wenig transnational organisierte Geschichtsvermittlung im Schulunterricht, aber auch in Gedenkstätten, die vom konkreten Ort ausgehen, zunehmend problematisch. Um der Frage, wer vermittelt was an wen, nachzugehen, werden im Folgenden Ansätze der kritischen Migrationsforschung und der postkolonialen Theorie rezipiert und mit erinnerungskulturellen Diskursen verbunden. Der erste Teil dieses Textes widmet sich der Erinnerung als Ergebnis von Machtverhältnissen und stellt sie im Kontext der Geschichtsvermittlung als umstritten und dennoch nicht beliebig vor. Um im zweiten Teil die Frage nach der Transnationalisierung des Holocaust-Erinnerns in den Blick zu nehmen, sehe ich mir zwei Perspektiven an, die einen Konflikt der Sichtweisen markieren: Michael

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Rothbergs Konzept der »Multidirectional Memories« und Dan Diners Ansatz der »Gegenläufigen Gedächtnisse«. Beide denken darüber nach, wie das Aufeinandertreffen unterschiedlicher historischer Narrative in einer postkolonialen Welt ausgehandelt werden kann und beide machen dies auf sehr unterschiedliche Weise. Während Rothberg aus US-amerikanischer Perspektive zu einer Multiperspektivität einlädt, schlägt Diner aus kritischer deutscher Sicht eine Geschichtsarbeit als konkrete Auseinandersetzung mit historischen Fakten vor. Inmitten dieses unauflösbar scheinenden Widerspruchs zwischen Universalisierung (also der Möglichkeit, die Erinnerung an den Holocaust zu verallgemeinern und zu übertragen) und Singularität (verbunden mit dem Imperativ, auf die Unvergleichbarkeit der nazistischen Verbrechen zu bestehen)3 möchte ich für die Anerkennung der Umkämpftheit von Erinnerung plädieren, um einen ebenso reflexiven wie aktiven Ansatz zu finden, bei dem Gedenkstätten als Kontaktzonen verstanden werden, in denen unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Erinnerungen aufeinandertreffen.

Erinnerung ist umkämpft und umstritten Was heißt Erinnerung? Während in der Geschichtstheorie und in den Sozialwissenschaften großer Wert darauf gelegt wurde, Erinnerung und Geschichte begrifflich genau voneinander zu trennen,4 scheinen Gedenkstätten im öffentlichen Diskurs aber auch in ihren konkreten Funktionen – insofern sie sowohl Friedhöfe und Tatorte als auch Ausstellungs-, Forschungs- und Vermittlungsräume, also »Orte des Gedächtnisses« bzw. »Erinnerungsräume«5 sind – sehr viele Verbindungen zwischen den beiden Begriffen herzustellen. 3

Vgl. in diesem Zusammenhang Marchart, Oliver: »Umkämpfte Gegenwart. Der ›Zivilisationsbruch Auschwitz‹ zwischen Singularität, Partikularität, Universalität und der Globalisierung der Erinnerung«, in Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, Innsbruck 2003, S. 35–65. 4 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967; Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006 und Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990. Enzo Traverso hat an mehreren Stellen auf diesen Umstand hingewiesen und die Diskussionen dargestellt, vor allem in Traverso, Enzo: Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit, Münster 2007. 5 Vgl. in diesem Zusammenhang den Forschungsschwerpunkt »Orte des Gedächtnisses – Erinnerungsräume« der Österreichischen Akademie der Wissenschaften,

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Doch versuchen wir zunächst, im Hinblick auf einen Erinnerungsbegriff, der für die Geschichtsvermittlung produktiv werden kann, die Konzepte von Erinnerung und Geschichte kurz nachzuzeichnen: Erinnerung steht in der Geschichtstheorie und im Gedenkstättendiskurs vor allem für »öffentliche Erinnerung«. Gemeint ist damit die kollektive Dimension des Gedächtnisses,6 die gewissermaßen ständig innerhalb der bestehenden Machtverhältnisse ausgehandelt wird. Nun haben wir es allerdings bei der Erinnerung mit einem schillernden Begriff zu tun – wissen wir doch von Freud, dass diesem etwas Trügerisches anhaftet, dass Erinnerung gerne eben soviel verdeckt, wie sie zeigt und oft ganz anderes zeigt, als intendiert. Wir können wohl davon ausgehen, dass sich, wenn wir von Erinnerung sprechen, das Kollektive nicht fein säuberlich vom Persönlichen trennen lassen wird. Unter »öffentlicher Erinnerung« ist demnach etwas vorzustellen, an dem offizielle Diskurse, persönliche Erinnerungen, Erfahrungen und familiäre Tradierungen sich kreuzen, was zu mehr oder weniger kohärenten, oft widersprüchlichen kollektiven Referenzrahmen führt. Der Begriff der Erinnerung ist also breit und gar nicht leicht zu fassen. In ihm verbinden sich persönliche und kollektive, familiäre und nationale, offizielle und private sowie dominante und marginalisierte Geschichtsbilder. Doch bei all dem bleibt zu betonen, dass die Konzeption der öffentlichen Erinnerung in Verbindung mit dem kollektiven Gedächtnis, seinen Ritualen und seinen Orten steht. Der französische Historiker Pierre Nora prägte in den 1980er-Jahren den heute vor dem Hintergrund eines Erinnerungsbooms selbstverständlich klingenden Begriff »Erinnerungsorte«. Er spricht von Erinnerung im Sinne einer Verortung des kollektiven Gedächtnisses – wobei mit Orten hier nicht nur konkrete Räume Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, unter http://www. oeaw.ac.at/ikt/forschungen/orte-des-gedaechtnisses-erinnerungsraeume/ vom 10.01.2015. 6 Den Begriff des kollektiven Gedächtnisses prägte grundlegend Maurice Halbwachs (1925). Im Wesentlichen geht es dabei um die identitätsstiftende Dimension kollektiver Erinnerung als Tradierung eines geteilten Wissens innerhalb eines Kollektivs als Basis für dessen Formierung und Stärkung. So sind die letzten Worte von Maurice Halbwachs’ Buch über das Gedächtnis, dass »das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis ist, und dass dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, dass aber nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann«. (Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 390)

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gemeint sind, sondern auch Persönlichkeiten, mythische Figuren, Rituale und Symbole. So kristallisiert sich Nora zufolge Erinnerung in Verbindung mit konkreten Topografien heraus, die kollektive (bei Nora geht es hier vor allem um nationale) Identität stiften. Der Diskurs der Erinnerung hat den öffentlichen Raum westlicher Gesellschaften seit den 1990er-Jahren geradezu im Sturm erobert. Enzo Traverso schreibt: »Die ausufernde und überfrachtete Erinnerung prägt den Raum.«7 Er spricht sogar von einer »Erinnerungsbesessenheit«8. Dabei hat eine Depolitisierung der Holocausterinnerung stattgefunden: Denn wenn diese noch bis weit in die 1980er-Jahre in den öffentlichen Diskurs reklamiert werden musste, wurde sie dann zum »master narrative« europäischer öffentlicher Diskurse.9 Nach jahrzehntelangen Kämpfen um Erinnerung und gegen das Ausblenden, Verleugnen und Vergessen der Geschichte der nazistischen Massenverbrechen durch die Überlebendenorganisationen, sind Gedenkstätten heute staatlich organisierte und professionalisierte Institutionen, die keinesfalls mehr um öffentliche Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Einerseits ist das sicherlich als Errungenschaft zu sehen, andererseits geht die notwendige Verstaatlichung der Erinnerung sicherlich auch mit einer Entpolitisierung und unterschiedlichen Vereinnahmungen einher. Und so scheint es in den Kämpfen um Erinnerung mehr darum zu gehen, wie und woran erinnert wird, als darum, ob es überhaupt geschieht. In dieser Hinsicht hat sich die Kampfzone um die Erinnerung ausgeweitet und transnationalisiert. Denn während wir bei Pierre Nora noch einer weitgehend ungebrochenen Idee nationaler Identität bei der kollektiven Erinnerungsbildung begegnen, beschreibt Enzo Traverso Erinnerung heute als »das Ergebnis eines Prozesses, in dem mehrere Elemente interagieren, deren Rolle, Bedeutung und Ausmaße je nach Umständen variieren. Diese Vektoren der Erinnerung artikulieren sich nicht in einer hierarchischen Struktur, sondern koexistieren und verändern sich je nach den jeweiligen Beziehungen. Es handelt sich zunächst um persönliche Erinnerungen, die ein subjektives Gedächtnis bilden, das nicht 7

E. Traverso: Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit, S. 7. Ebd., S. 8. 9 Vgl. Siebeck, Cornelia: »Gedächtnis, Macht, Repräsentation. Zur (Un-)Möglichkeit ›demokratischer‹ NS-Gedenkstätten«, in: Alexandra Klei et al. (Hg.), Die Transformation der Lager. Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen, Bielefeld 2010. 8

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feststeht, sondern sich mit der Zeit ändert und durch die Anhäufung von Erfahrungen gefiltert wird. […] Sodann gibt es das kollektive Gedächtnis, das sich laut Halbwachs in den mehr oder weniger stabilen ›gesellschaftlichen Kadern‹ als ererbte oder geteilte Kultur fortsetzt.«10

So stellt sich ein zunehmend boomender Erinnerungsdiskurs als ein breites Feld widersprüchlicher Bezüge dar. Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, Erinnerungsorte nicht mehr bloß als Orte nationaler Erinnerungskollektive zu begreifen, sondern als Kontaktzonen: Denn als »Contact Zone« beschreiben die beiden postkolonialen Theoretiker/‑innen Mary-Louise Pratt und James Clifford in den 1990er‑Jahren gesellschaftliche Räume, in denen unterschiedliche soziale und kulturelle Positionen aufeinandertreffen; diese müssen miteinander – mehr oder weniger konfliktuell – auskommen und werden innerhalb von Machtverhältnissen verhandelt.11 Gegenüber dieser Gemengelage heterogener Erinnerungselemente scheint Geschichtsschreibung eine strenge und konkrete Tätigkeit zu sein. Als wissenschaftliche Disziplin auf der einen Seite und kritische Tätigkeit auf der anderen Seite hat sie die Aufgabe, sich quellenkritisch und regelgeleitet mit faktischen historischen Überlieferungen und deren Deutung auseinanderzusetzen. Selbstverständlich findet dies immer in der Gegenwart und vor dem Hintergrund und innerhalb aktueller Fragestellungen und Machtverhältnisse statt – wenn hier innerhalb von Machtverhältnissen etwas ausgehandelt wird, dann in Auseinandersetzung mit konkreten Materialien und in Verbindung mit bestehenden Deutungen. Doch kommen wir nach dieser Begriffsklärung zur Aufgabe der Gedenkstätten zurück. Sind sie nun Orte konkreter kritischer Geschichtsarbeit, die das fokussieren, was geschehen ist, oder Orte widersprüchlicher Erinnerungen, die der Auseinandersetzung und Verhandlung um Geschichte gewidmet sind? Möglicherweise liegt ihre Aufgabe gerade genau darin, beides zu sein. Denn Gedenkstätten haben es, wie jede Form der Geschichtsvermittlung, mit zwei ebenso unhintergehbaren wie widersprüchlichen Seiten der »Erinnerungsarbeit« zu tun. Einerseits sind sie 10

Traverso, Enzo: Geschichte als Schlachtfeld. Zur Interpretation der Gewalt im 20. Jahrhundert, Köln/Karlsruhe 2014, S. 220 f. 11 Vgl. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, New York 2008 und Clifford, James: Routes, Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997.

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der Auseinandersetzung mit dem gewidmet, was geschehen ist, und andererseits mit dem, was dies für die Gegenwart bedeutet. Beide Seiten stehen in einem geschichtspolitischen Kontext, sind umkämpft und umstritten, verlangen Positionierungen und sind jeweils aus der Gegenwart neu zu bearbeiten. Und doch unterscheiden sich die Fragerichtungen der beiden Perspektiven grundlegend voneinander: Der Frage, was geschehen ist, kann nämlich letztlich nur mit historischen Mitteln nachgegangen werden. Sie verlangt quellenkritische Auseinandersetzungen mit Dokumenten und Materialien, die vor dem Hintergrund bestehender Deutungsformen verglichen und ausgelegt werden. Einer bestimmten hegemonialen Narration darüber, was war, kann letztlich nur durch die Arbeit am Material und mithilfe der »Macht des Faktischen«12 etwas entgegengesetzt werden.13 Demgegenüber stellt die Frage danach, was dies für die Gegenwart bedeutet, jenen Aspekt der Geschichtsvermittlung dar, der in jeder Gegenwart neu ausgehandelt werden muss – nach der obenstehenden Begriffsklärung könnten wir jetzt sagen: den Aspekt der Erinnerung. Was Geschichte für die Gegenwart bedeutet, ist grundsätzlich offen und verlangt Debatte und Positionierung. Die These dieses Textes ist, dass Geschichtsvermittlung ihrer eigenen Aufgabe nach auf keine dieser beiden Seiten verzichten kann – auch dann nicht, wenn eine der beiden Richtungen Widersprüche zur anderen erzeugt.

Was geschehen ist … Sehen wir uns nun die erste der beiden Seiten der Geschichtsvermittlung etwas genauer an, stellen wir fest, dass sich gerade in der deutschen Gedenkstättenlandschaft in den letzten 20  Jahren eine Auseinandersetzung etabliert hat, die jedenfalls auf die Konkretion der historischen Arbeit bestehen will. Um die zunehmend anwachsende und professionalisierte Gedenkstättenlandschaft kreist ein spezifischer Diskurs der Erinnerungskultur:

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Vgl. Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Herbst/Winter 2008/2009, http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2008/diemachtdesfaktischen.htm vom 10.01.2015. 13 Enzo Traverso erinnert mit Carlo Ginzburg daran, dass das Fach der Geschichte dem Einfluss des Rechtes viel verdankt. Vgl. E. Traverso: Geschichte als Schlachtfeld, S. 218.

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»[Gedenkstätten] verstehen sich als zeithistorische Museen mit eigentümlichen, ihrer Geschichte als ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager entspringenden Eigenschaften, die sie bei aller Gemeinsamkeit von klassischen Geschichtsmuseen unterscheiden. Denn im Gegensatz zu diesen sind sie als Denkmale aus der Zeit sowohl Tat- und Leidensorte wie auch – konkret und symbolisch – Grabfelder und Friedhöfe.«14

Um der Vielschichtigkeit der damit verbundenen Aufgaben gerecht zu werden, entwickelte sich seit den 1990er-Jahren ein Gedenkstättendiskurs, der von einem stark selbstreflexiven Tenor getragen ist. Ein wesentlicher Motor und Vertreter dieser Diskussionen ist Volkhard Knigge, seit 1994 Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. Für ihn geht es in Gedenkstätten um selbstkritische historische Bildung. Und diese ist ihm zufolge reflexiv angelegt, geht von den konkreten Geschichten des Ortes aus und zielt auf die Gegenwart. Knigge spricht von »negativer Erinnerung« und meint damit »absichtliche Selbstbeunruhigung an der (eigenen) Geschichte«15. Diese reflexive Position will sich der Tatsache stellen, dass die Arbeit an einer Gedenkstätte aus vielen Gründen eine schwierige Aufgabe ist, der man eigentlich nicht gerecht werden kann. Hintergrund dafür bilden die Debatten um den »Zivilisationsbruch Auschwitz«16. Sie hinterließen in den 1990er-Jahren ihre Spuren in einer Gedenkstättenarbeit, die es sich nicht erlauben wollte, den Verbrechen Sinn zu unterstellen oder zu 14

Knigge, Volkhard: »Zur Zukunft der Erinnerung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26 (2010), S. 10–16, hier S. 11. 15 Knigge, Volkhard: »Europäische Erinnerungskultur, Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung«, in: Thomas Flierl/ Elfriede Müller (Hg.), Vom kritischen Gebrauch der Erinnerung, Berlin 2009, S. 69–80, hier S. 78. 16 Nach Auschwitz sind Diner zufolge wesentliche westliche Selbstverständnisse gebrochen. Mit Hannah Arendt weist er darauf hin, dass es sich um ein Ereignis »vollendeter Sinnlosigkeit« handelte, das jede Idee von rationaler KostenNutzen-Rechnung hinter sich ließ. Wenn Adorno bemerkte, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, dann geht es um eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenbruch eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens. Wir stoßen auf zahlreiche Aporien: Auschwitz muss vorgestellt werden und wird zugleich als nicht vorstellbar thematisiert. Vor diesem Hintergrund prägte Diner den Begriff des Zivilisationsbruchs, der die Unmöglichkeit, sich nach Auschwitz ungebrochen mit Werten und Epistemen zu identifizieren, auf den Punkt brachte und dabei zugleich die universale Dimension dieses gebrochenen Universalismus betonte. Vgl. Diner, Dan: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1996.

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verleihen. Die Dramaturgie der Vermittlung der Morde sollte kein »Happy End« in einer besseren, toleranteren Welt versprechen. So schreibt Till Hilmar: »Die Voraussetzung eines Gedenkstättenbesuches ist hier die Überwindung einer negativen Differenz, ohne doch jemals auf die imaginiert ›gute Seite‹ zu gelangen.«17 Erhabenheitsgesten – wie sie in der Architektur durchaus angelegt waren – und allzu vereinfachend scheinende Sinnstiftungen wurden kritisch hinterfragt. Vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit der Verbrechen führte das bewusste Aussetzen einer emphatischen Sinngebung in den 1990er-Jahren zu einer Tendenz des Fragmentarischen und Konkreten. Gefordert wurde Kontextualisierung statt Sakralisierung.18 So traten die Orte selbst und ihre konkreten Geschichten in den Vordergrund. Jan Philipp Reemtsma schreibt: »Es ist das historisch Besondere, das sich so sehr der Anwendung sperrt. Und es ist dennoch das historisch Besondere, das uns drängt, es zu dokumentieren, zu analysieren – manches tatsächlich immer wieder neu – und Orte, die für die Besonderheit stehen, zu Orten der Dokumentation und Analyse zu machen.«19

Gegen eine angesichts der Sinnlosigkeit unhaltbar scheinende Moral­ erziehung, die gewissermaßen immer Gefahr laufen würde, Sinn zu unterstellen oder zu verleihen, setzte eine kritische Vermittlung also die Konkretion von Topografien und Spuren. Matthias Heyl formuliert die Aufgabe der Gedenkstättenpädagogik so: »Spuren der Geschichte vor Ort sichtbar zu machen, in ihrem historischen Kontext zu analysieren und zu deuten.«20 Diese investigative Arbeit am konkreten Ort und Material ermöglichte auch eine Auseinandersetzung mit Kontinuitäten – denn die 17

Hilmar, Till: »Abschied vom Erinnerungsort. Studienfahrten als Form der Auseinandersetzung mit NS und Holocaust«, in: Ders. (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 75–93, hier S. 79 f. 18 Vgl. Larndorfer, Peter: »Gedenken, Lernen, Fragen? Praktische Überlegungen zu den Studienfahrten des Vereins Gedenkdienst«, in: T. Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 94–114, hier S. 105. 19 Reemtsma, Jan Philipp: »Wozu Gedenkstätten?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26 (2010), unter http://www.bpb.de/apuz/32663/wozu-gedenkstaetten?p=all vom 11.03.2015. 20 Heyl, Matthias: »Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21. Jahrhundert«, in: T. Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 23–53, hier S. 50.

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an den Orten hinterlassenen Spuren enden ja nicht 1945. Vielmehr weisen diese nicht selten auch Einschreibungen späterer Internierungen, alternativer Nutzungen, geschichtspolitischer Kämpfe, alltäglicher Umgangsformen, offizieller Verharmlosung oder auch neonazistischer Angriffe auf. Gerade weil der Erinnerungsdiskurs zu boomen begann, schien also im Bestehen auf die Konkretion an den Orten der Erinnerung das Versprechen einer gewissen Widerständigkeit gegen Formen der Vereinnahmung durch normative staatliche Politiken oder neoliberale Diskurse zu liegen. Allerdings hatte der Fokus auf Selbstkritik und Konkretion auch eine andere Seite: Der Bezugsrahmen möglicher Deutungen blieb merkwürdig homogen. So scheint es für einen Diskurs, der vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs die konkrete Suche nach Spuren permanent und konsequent in Verbindung mit dem Anspruch auf kritische Selbstreflexion bringt, nicht leicht, aus dem Zirkel des Selbst herauszukommen. Was also dabei kritisch reflektiert wird, ist sehr oft weiterhin eine homogene Erinnerungsgemeinschaft: jene der Täter/-innen und Zuseher/-innen, mit ihrer Hintergrundfolie der Opfer. Und es scheint kein Zufall, dass mit Verweis auf Hilberg 21 diese drei Positionen bei ihrer Rezeption in der deutschsprachigen Geschichtsvermittlung oft als Multiperspektivität bezeichnet werden. Dies hat wohl damit zu tun, dass die Funktion der Zuseher/-innen (Bystander) in die Vermittlungsdebatte integriert werden sollte. Die Tatsache aber, dass dabei weitgehend die nationale Erinnerungsgemeinschaft adressiert bleibt, zeigt die Eingeschränktheit der Vorstellung von Multiperspektivität. Spiegelt doch das Triumvirat von Täter/-innen, Opfer und Zuseher/-innen global betrachtet nur einen Ausschnitt möglicher Perspektiven auf Holocaust, Nazismus und Zweiten Weltkrieg. Astrid Messerschmidt formuliert ihre Skepsis deutlich: »Die Diskussion um kollektive Erinnerung war bisher in Deutschland weitgehend selbstbezüglich, man drehte sich um die eigene nationale Identität, um ein immer noch in nationalen Kategorien beschriebenes Verhältnis zur Geschichte.«22 21

Der Historiker Raul Hilberg etablierte die Kategorien »Täter, Opfer und Zuschauer« in seinem Buch »Perpetrators, Victims, Bystanders: The Jewish Catastrophe 1933–1945«, das 1992 in New York erschien und im Kontext der Holocaust Education stark rezipiert wurde; die Materialien der US-amerikanischen Holocaust Education nehmen oft direkt auf Hilberg Bezug, bei der Referenz in den deutschsprachigen Kontext wird Hilberg oft nicht mehr notwendig erwähnt. 22 Messerschmidt, Astrid: »Involviertes Erinnern. Migrationsgesellschaftliche

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… und was es für die Gegenwart bedeutet Führen wir uns diese Problematik vor Augen, wird klar, dass im Hinblick auf eine Heterogenisierung der Erinnerungsdiskurse Wege der Öffnung in Richtung einer Auseinandersetzung mit Heterogenität gefunden werden müssen. Denn Erinnerung findet eben immer in der Gegenwart und im Verhältnis zu dieser statt. Und in den Migrationsgesellschaften der Gegenwart ist Erinnerung sicherlich heterogener, als dies der deutsche Gedenkstättendiskurs bisher zuließ. Doch wie lässt sich eine solche Transnationalisierung 23 der Erinnerung denken? Eine sicherlich notwendige und immer noch ausstehende Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang lässt sich mit der Frage zusammenfassen: Wer verhandelt darüber, was Geschichte für die Gegenwart bedeutet? In diesem Sinne geht es nicht in erster Linie um eine Analyse von Bezügen von Jugendlichen, sondern wesentlich auch um die Frage: Wer vermittelt? Solange hier die Deutungshoheit bei der Mehrheitsgesellschaft liegt, scheint es schwierig, den Anspruch von Multiperspektivität einzulösen. Doch soll/kann Multiperspektivität überhaupt eingelöst werden? Die ängstliche Frage, die sich vor dem Hintergrund eines Bestehens auf den Zivilisationsbruch hier sofort aufzudrängen scheint, ist: Wie kann eine problematische monoperspektivische Deutungsmacht nun verhandelbar werden, ohne durch eine problematische Multiperspektivität Geschichtsmythen und Revisionismen reproduzierbar zu machen? Gerade wenn es darum geht, Geschichte mit Erinnerung, also den Anspruch auf Konkretion mit der Aushandlung von gegenwartsrelevanten Deutungen zu verbinden, scheint es notwendig, dies aus selbstreflexiven nicht bloß mehrheitsgesellschaftlichen Perspektiven zu tun – denn Bildungsprozesse in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus«, in: T. Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 277–299, hier S. 278. 23 Der Begriff »transnational« will hier eine gleichermaßen deskriptive wie ermöglichende Perspektive markieren: So soll es um die Eröffnung einer Handlungsmacht in pädagogischen Zusammenhängen gehen, die es ermöglicht, bestehende Strukturen nationaler Geschichtsvermittlung aus dem Inneren der Migrationsgesellschaft zu durchkreuzen. Mit der Frage »Wessen Erinnerung?« versucht etwa Astrid Messerschmidt, eine Erinnerungspraxis »jenseits nationaler Identität« zu denken, in: Messerschmidt, Astrid: »Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit«, in: Claudia Lenz/Jens Schmidt/Oliver von Wrochem (Hg.), Erinnerungskulturen im Dialog: Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2002, S. 103–114, hier S. 103.

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nur das ermöglicht produktive und unerwartete Erweiterungen gängiger Deutungen. Für eine reflexive Praxis in der Kontaktzone würde das heißen: Nicht jede Deutung ist vor dem Hintergrund geschichtswissenschaftlicher Ansprüche auf Konkretion möglich. Und dennoch ist die offizielle Deutung – in den Migrationsgesellschaften der Gegenwart und in einer postkolonialen Welt – nicht die einzig mögliche.

Analogie oder Archäologie? Zwei widersprüchliche Projekte einer Transnationalisierung des Holocaust-Gedächtnisses Wenn wir nun wissen, dass Geschichte umkämpft ist, wie sollen wir damit umgehen? Denn wenn Erinnerung als konfliktuell verstanden werden muss, drängt sich die Frage auf, was geschieht, wenn unterschiedliche Erinnerungsnarrative aufeinandertreffen und ausgehandelt werden müssen. Zwei Autoren stehen hier paradigmatisch für zwei Positionen, die diesbezüglich in den letzten Jahren für zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen und umkämpften Erinnerungen formuliert wurden: Michael Rothbergs Buch »Multidirectional Memories« und Dan Diners Essay »Gegenläufige Gedächtnisse«. Beide Titel alliterieren und es wirkt, obwohl Diners Text früher erschienen ist, als antworte Diner in gewisser Weise auf den Vorschlag von Rothberg. Beschreiben ließen sich die kontroversen Positionen mit Narration versus Konkretion und Globalisierung versus Singularität des Holocaust.

Multidirectional Memories – Michael Rothberg Michael Rothberg geht es darum, dass Erinnerung sich stets in ein Verhältnis zu anderen Erinnerungen setzt. Mit seinem Buch will er den »Nullsummen-Konflikten« einer Erinnerungskonkurrenz den Ansatz der Multidirektionalität entgegensetzen und plädiert für eine produktive Interaktion zwischen verschiedenen historischen Erinnerungen.24 Das scheint insofern sinnvoll, als Rothberg Kämpfe um Erinnerung als 24

»Against the framework that understands collective memory as competitive memory – as a zero-sum struggle over scarce resources – I suggest that we consider memory as multidirectional: as a subject to ongoing negotiation, cross-referencing, and borrowing; as productive and not privative.« (Rothberg, Michael: Multidirectional Memories. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009, S. 3)

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miteinander verstrickt und sich aufeinander beziehend beschreibt. Somit kann er zeigen, dass Erinnerung nicht nur Identität produziert und stets umkämpft ist, sondern dass sie immer auch Lücken, Verstrickungen, Brüche, unerwartete Ergebnisse und Beziehungen erzeugt. Und er schlägt vor, das Augenmerk auf gerade diese Multidirektionalität zu legen, die mit jeder Geschichtspolitik und Geschichtsarbeit verbunden ist. Sein Buch endet mit folgenden Sätzen: »Thus, finally, understanding political conflict entails understanding the interlacing of memories in the force field of public space. The only way forward is through their entanglement.«25 Wenn es also darum geht, was Geschichte für die Gegenwart bedeutet, dann müssen wir von Verstrickungen und Beziehungen ausgehen. Und dennoch scheint an der Konzentration auf die Multidirektionalität etwas problematisch. Rothberg präsentiert sie von Anfang an als die richtige Antwort auf bestehende Erinnerungskonkurrenzen. Doch liegt die Antwort wirklich nur in den frei zur Verfügung stehenden Bezugnahmen auf Geschichte, die Rothberg auch als »komparative Imagination«26 bezeichnet? Er diskutiert die Frage danach, was tatsächlich geschah, nicht konkret, sondern als diskursive Praxis, die auszuhandeln ist. So plädiert er für Analogien als »imaginative links«27, als Basis für Solidaritäten und Kämpfe für Gerechtigkeit. Wenn sich der Erinnerungsdiskurs allerdings nur auf Analogien als Aneignungen und Aushandlungen beschränkt, gewinnt er nicht nur, sondern verliert auch eine wesentliche Basis für Solidaritäten – denn kritische Erinnerungsarbeit ist eben nicht nur eine, die sich auf Geschichte als Bestätigung von Kollektividentitäten richtet: Sie hatte immer auch die Funktion, historische Fakten im Hinblick auf die Formulierung von Gegengeschichte/n zu kollektiven Narrativen ins Treffen zu führen. So sehr Rothberg zeigt, dass Analogien nicht nur die Funktion haben, die Erinnerung an den Holocaust zu delegitimieren, sondern auch produktiv sind und neue Möglichkeiten der Allianz bieten, scheint es doch so, als würden dabei immer wieder identitäre Reklamationen reproduziert, die gerade nicht auf Solidarität hin angelegt sind. Obwohl das Buch deutlich gegen die bestehenden Formen des Widerstreits zwischen Singularitätsanspruch einerseits und Vergleichbarkeit andererseits anschreibt, scheint es dabei kaum Raum für brüchige Perspektiven zu geben, die 25

M. Rothberg: Multidirectional Memories, S. 312. Ebd., S. 21. 27 Ebd., S. 18. 26

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bestehende identitäre Angebote radikal durchkreuzen. Das ist insofern schade, als dies doch die Regel aktueller Geschichtsbezüge zu sein scheint. So sind die Perspektiven in den heterogenen Klassenzimmern der Gegenwart alltägliche Aushandlungsprozesse sehr vieler widersprüchlicher Kollektivitäten. Solidaritäten bilden sich hier nicht selten gerade in den Räumen der Durchkreuzung gängiger Identifikationsangebote und binärer Entscheidungen. Oft besteht also die Möglichkeit unerwarteter Solidaritäten gerade nicht in zumeist vorgefertigten Analogien, sondern in der konkreten Arbeit mit Geschichte: in der Erfahrung damit, dass sich Akteur/-innen widersprüchlich verhalten und dass es keine ungebrochenen Identitäten gibt (was sich etwa an der Frage der Positionierung zwischen Widerstand oder Kollaboration innerhalb unterschiedlicher Positionen am Balkan oder an der Frage der Rolle der Türkei im Zweiten Weltkrieg aber auch an vielen anderen Beispielen zeigen lässt). Denn wenn wir uns bloß auf die Multidirektionalität identitärer Gruppenerzählungen konzentrieren, besteht auch die Gefahr, jene Konkurrenzen und Identitäten teilweise erst zu produzieren, von denen dann behauptet wird, sie zu überwinden. Gerade weil Erinnerungsdiskurse in postkolonialen Migrationsgesellschaften brüchig sind, scheint es wichtig, diesen Brüchen Raum zu geben und gerecht zu werden – und dieses Potenzial liegt, so die These dieses Textes, nicht nur auf diskursiver Ebene, sondern auch auf der Ebene des Faktischen. In diesem Sinn lohnt sich nun ein Blick auf das Buch von Dan Diner, der als Historiker das Hauptaugenmerk eines Zusammendenkens von Holocausterinnerung und Kolonialgeschichte auf das legt, was konkret geschehen ist.

Gegenläufige Gedächtnisse – Dan Diner Anhand eines konkreten Tages, dem 8. Mai 1945, arbeitet Diner in seiner Schrift die perspektivischen Widersprüche im Hinblick auf die Ereignisse, die am Tag der Kapitulation der Nazis an unterschiedlichen Orten der Welt stattfanden, heraus. Er spricht in diesem Zusammenhang von »paradoxe[n] Lagen gegenläufiger Gedächtnisse«28, die er mit den ihnen vorausgegangenen konkreten Erfahrungsgeschichten zusammenlesen 28

Diner, Dan: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 41.

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möchte. In Auseinandersetzung mit den konkreten Ereignissen am 8. Mai 1945 und den jeweiligen Verstrickungen im Zweiten Weltkrieg in Deutschland, der Sowjetunion, Polen, den baltischen Staaten, der Tschechoslowakei, Spanien und vor allem in Algerien sowie vor dem Hintergrund der jeweiligen aktuellen nationalen Erinnerungsdiskurse, zeigt Diner die Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit der Wahrnehmung eines historischen Datums. Nicht kreative Analogien, sondern Archäologien, die das, was tatsächlich geschehen ist, in den Blick nehmen, stehen hier im Zentrum der Geschichtsarbeit. Besonders interessant in Diners Buch erscheint die Arbeit an der »Latenz der verborgenen Gedächtnisse«29 der Kolonialgeschichte und der kolonialen Gewalt im Zuge der Dekolonisierung. Diner setzt sich mit den Massakern in Sétif in Nordalgerien auseinander, wo im Zuge der Befreiungsfeierlichkeiten Zehntausende algerische Befreiungsaktivistinnen und ‑aktivisten in einem Blutbad vom französischen Militär, der Polizei und der lokalen Siedlermiliz niedergemetzelt wurden. Diner beschreibt dies so: »Alles hatte im Grunde unverfänglich begonnen, Tausende Algerier fanden sich am Tage der deutschen Kapitulation zusammen, um den Sieg der Alliierten in Aufmärschen und Freudenkundgebungen zu begehen. Unter den mitgeführten Bannern der siegreichen Koalition, darunter das französische, war auch die grün-weiße Fahne der algerischen Nationalbewegung zu erkennen. Nachdem die Organisatoren der Manifestation den Aufforderungen der Behörden nicht nachkamen, das inkriminierte Tuch einzuziehen, eröffneten Sicherheitskräfte das Feuer in die Menge. Von der Gewalt in Sétif angefacht, breiteten sich in den folgenden Tagen Unruhen im gesamten Bereich des Département Constantine aus. Französisches Militär und die Polizei, unterstützt von der lokalen Siedlermiliz, suchten den Aufruhr durch summarische Erschießungen und unterschiedsloses Töten in Blut zu ertränken. Dabei kamen nicht nur Handfeuerwaffen, sondern auch schwere Mörser zum Einsatz. Die Wucht der Gewalt ging auf ganze Dörfer nieder. Begleitet wurde das Töten durch inszenierte Zeremonien der Unterwerfung. Muslimische Algerier hatten sich in demonstrativer Demut vor aufgezogenen französischen Fahnen auf den Boden zu werfen. Die Leichen der niedergemachten algerischen Zivilisten wurden in provisorisch ausgehobenen 29

Ebd., S. 12.

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Massengräbern verscharrt oder in aller Öffentlichkeit auf Scheiterhaufen verbrannt. Bis heute besteht keine Einigkeit darüber, wie viele Menschen dem Blutbad zum Opfer fielen. Verschiedene Quellen sprechen voneinander abweichend von 15.000 bis 45.000 Toten.« 30

Das Beispiel zeigt sehr deutlich, dass es direkte und konkrete Verbindungen zwischen der Befreiung von den Nazis einerseits und kolonialer Gewalt andererseits gibt. »Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn der Dekolonisation fallen«, so kann es Diner herausarbeiten, »auf ein und dasselbe Datum«31. Die konkrete Auseinandersetzung mit dem historischen Material macht nicht nur die Gegenläufigkeit von Gedächtnissen sichtbar, sie macht auch eine eindeutige Positionierung in Anbetracht dessen, was geschehen ist, komplizierter. Und hier scheint die konkrete transnationale Geschichtsarbeit ein Potenzial zu eröffnen: Indem Dan Diner auf die Konkretion der Geschichtsarbeit besteht, entstehen Zwischenräume für mögliche Solidaritäten, die Erinnerungskollektive möglicherweise eher durchkreuzen als bestätigen. Allerdings geht es Diner selbst nicht explizit um die Eröffnung solcher Solidaritäten – für ihn geht es um die Singularität des Holocausts. Die Gedächtnisse, die er verfolgt, bleiben tatsächlich gegenläufig, unverbunden und nicht aushandelbar. Und genau diesen notwendigen Aspekt einer, im Folgenden ausgeführten, agonistischen Aushandlung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem, was tatsächlich geschehen ist, möchte ich mit diesem Text starkmachen.

Errungene Erinnerungen Beide Vorschläge (Analogie vs. Archäologie bzw. Aneignung vs. Konkretion) scheinen trotz ihrer Widersprüchlichkeit wichtige und verständliche Herangehensweisen zur notwendigen Auseinandersetzung mit der Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit von Erinnerung zu sein. Sie miteinander zu lesen und eben gerade nicht gegeneinander, ist möglicherweise ein Beispiel für die Situation der Kontaktzone: Denn in einem geteilten Raum,32 30

Ebd., S. 65 f. Ebd., S. 67. 32 Mit dem Konzept der »geteilten Räume« im doppelten Sinn von »shared« und »divided« beziehe ich mich auf jenes der »geteilten Geschichten« in der postkolonialen Theorie. Vgl. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: »Einleitung. Geteilte 31

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der Konflikte anerkennt, geht es weder darum, Widersprüche herunterzuspielen, noch sie zu Hauptwidersprüchen werden zu lassen. Ich schlage also eine Alternative zu dieser Alternative zwischen Rothberg und Diner vor, eben jene der »Errungenen Erinnerungen« in agonistischen Kontaktzonen. Diese sind weder einfach multiperspektivisch, noch unverhandelbar. Chantal Mouffe spricht von Agonismus als einer »Art konfliktualen Konsens […], der den Opponenten als ›legitimen Feinden‹ einen gemeinsamen symbolischen Raum erschließt«33. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das heißt keineswegs, dass Geschichtsarbeit damit neutral sein soll. Ganz im Gegenteil, denn Agonismus bedeutet bei Mouffe Parteilichkeit: »Der fundamentale Unterschied zwischen der ›dialogischen‹ und der ›agonistischen‹ Perspektive liegt darin, daß letztere sich eine tief greifende Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse und die Schaffung einer neuen Hegemonie zum Ziel setzt. Aus diesem Grund kann die agonistische Perspektive im eigentlichen Sinne ›radikal‹ genannt werden.«34

Wenn hier also von errungenen Erinnerungen in der agonistischen Kontaktzone die Rede ist, dann sind diese in verschiedener Weise errungen: erstens als Anerkennung, dass Erinnerung ein Ergebnis von Kämpfen ist, dass sie brüchig und umstritten ist und ständig neu und immer wieder in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft formuliert wird. Zweitens als Anerkennung, dass es möglich ist, unterschiedliche Geschichtsbezüge zu formulieren und miteinander auszuhandeln, während es nicht im selben Maße möglich ist, Fakten auszuhandeln – denn der Zugang dazu, was geschehen ist, ist eben doch kategorial davon zu unterscheiden, was es für die Gegenwart bedeutet. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Erinnerung agonistisch verhandelt wird, dann ist sie sicherlich veränderlich. Die Aushandlungsprozesse in der Kontaktzone führen oft, aber müssen nicht immer zu Verhärtungen führen. Es ist durchaus möglich, dass sich in diesen Prozessen Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9–49. 33 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M. 2007, S. 70. 34 Ebd.

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der Aushandlung unerwartete Solidaritäten ergeben. Die Erfahrung der Geschichtsvermittlung zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte in geteilten Räumen sehr oft auch die Möglichkeit bietet, sich unerwartet innerhalb von Widersprüchen und auf der Basis einer Auseinandersetzung mit Fakten zu positionieren. Nicht immer werden bloß bestehende hegemoniale Identifikationsangebote reproduziert, diese werden in der Kontaktzone auch wild durcheinander hinterfragt. Sie können zu geschichtspolitischen Positionierungen führen, die die hegemoniale Deutung herausfordern. Drittens meint »errungen« hier durchaus »gegen die bestehenden Erinnerungskollektive errungen«. In diesem Sinn soll hier für eine Geschichtsarbeit in geteilten Erinnerungsorten plädiert werden, die sich gleichermaßen als reflexiver Raum einer Auseinandersetzung versteht und sich antifaschistisch, antirassistisch und gegen Antisemitismus positioniert.

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Literatur Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Clifford, James: Routes, Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: »Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9–49. Diner, Dan: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007. Diner, Dan: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1996. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frank­­furt a.M. 1985. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. Heyl, Matthias: »Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21. Jahrhundert«, in: Till Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 23–53. Hilberg, Raul: Perpetrators, Victims, Bystanders: The Jewish Catastrophe 1933–1945, New York 1992. Hilmar, Till (Hg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010. Hilmar, Till: »Abschied vom Erinnerungsort. Studienfahrten als Form der Auseinandersetzung mit NS und Holocaust«, in: Ders. (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 75–93. Klenk, Sonja: Gedenkstättenpädagogik an den Orten nationalsozialistischen Unrechts in der Region Freiburg-Offenburg, Berlin 2006. Knigge, Volkhard: »Europäische Erinnerungskultur, Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung«, in: Thomas Flierl/ Elfriede Müller (Hg.), Vom kritischen Gebrauch der Erinnerung, Berlin 2009, S. 69–80. Knigge, Volkhard: »Zur Zukunft der Erinnerung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26 (2010), S. 10–16. Larndorfer, Peter: »Gedenken, Lernen, Fragen? Praktische Überlegungen zu den Studienfahrten des Vereins Gedenkdienst«, in: Till Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 94–114. Marchart, Oliver: »Umkämpfte Gegenwart. Der ›Zivilisationsbruch Auschwitz‹ zwischen Singularität, Partikularität, Universalität und der Globalisierung der

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ZUGÄNGE

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Que reste-t-il du camp de Flossenbürg? (Was bleibt vom Lager Flossenbürg?) So fragte der Präsident der französischen »Association des Déportés et Familles de Disparus du Camp de Flossenbürg et Kommandos« im halbjährlich erscheinenden Bulletin seiner Organisation rhetorisch. Und er formulierte sogleich die ebenso zynische wie resignierte Antwort: »Plu­ sieurs hectares de pelouse, quelle agréable perspective!«1 Der höchste Repräsentant des gaullistisch orientierten französischen Flossenbürg-Komitees, ein in erster Generation Nachgeborener des im Flossenbürger Außenlager Hradischko erschossenen Maurice Clisson, resümierte voller Enttäuschung und Wut die aus seiner Sicht völlig misslungene Neukonzeption der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Der wesentliche Grund für dieses harsche Urteil über die Umgestaltung der Flossenbürger Außenanlagen war das Scheitern der vor allem von französischer Seite formulierten Forderung, die noch existierenden Pfeiler des ehemaligen Lagereingangstores an den historischen Ort zurückzuversetzen. Im Zuge des mehrjährigen Konfliktes mit den für die Neukonzeption der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Verantwortlichen hatte sich die Fokussierung des französischen Vertreters auf die Translokation der Pfeiler allerdings immer mehr in eine generelle Missbilligung der konzeptionellen Leitlinien der Umgestaltung ausgeweitet: »Wir verlangen eine kalibrierte Schotterung (wie in Buchenwald) an Stelle des Rasens und die Wiederaufstellung von einigen Originalpfosten (es existieren noch drei in der Nähe vom Krematorium) rechts vom Tor mit den verschiedensten Drähten.«2 1

Clisson, Michel: »Noch mehr Hektar Rasenfläche, welch angenehme Perspektive!«, in: Message Nr. 75, Bulletin d‘Association des Déportés et Familles de Disparus du Camp de Flossenbürg et Kommandos (Januar 2015), S. 13. 2 Einschreiben des Präsidenten der Association des Déportés et Familles de Disparus du Camp de Flossenbürg et Kommandos an den Direktor der Stiftung Bayerische

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Es soll in diesem Beitrag nicht um die Verlaufsform und den zunehmenden Furor dieses Konfliktes gehen, dessen emotionaler Kulminationspunkt im Rücktritt des französischen Komitee-Präsidenten aus dem Berater/-innengremium für die Neukonzeption bestand. Diese mit allen politisch-diplomatischen Bandagen ausgetragene Debatte verdeutlicht aber exemplarisch, vor welchen nicht nur politischen Herausforderungen die (Um-)Gestaltung ehemaliger Konzentrationslager heute steht, auch, oder gerade, wenn sie den Denkmalswert dieser Stätten zu ihrer obersten Maxime erhebt. Denn der Denkmalscharakter ist ein multipler. Er umfasst ganz zuvörderst die historischen Relikte der Lager, bezieht sich aber auch auf die manifesten intentionalen Sinnstiftungen, die auf diesen Arealen über mehrere Jahrzehnte hinweg vorgenommen wurden und die diese bis heute baulich prägen. Der leider viel zu früh verstorbene Kunsthistoriker Detlef Hoffmann hat diese Mehrdimensionalität des Erscheinungszustandes ehemaliger Lager, die für ihn gleichzeitig auch deren besonderen Wert in der historisch-politischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Untersuchung ausmachte, immer wieder betont. »Die jüngeren Schichten interpretieren die älteren um, wie die älteren zur Deutung der jüngeren unerlässlich sind. Gedenken ist auf diese Weise immer gestört, nie eindeutig. Das Miteinander der zeitlich aufeinander folgenden Spuren und Schichten ist nur am Ort erfahrbar – und Erfahrung ist eine notwendige Form der Erkenntnis.« 3

Das ehemalige Konzentrationslager Flossenbürg ist ein Musterbeispiel für einen mehrschichtigen Erinnerungsort. Bei der Formulierung der Leitlinien für die Neukonzeption der Gedenkstätte Flossenbürg ist daher der ambitionierte Versuch unternommen worden, diese vielfältigen Schichtungen zu analysieren, in ihrem zeithistorischen wie zeitgenössischen memorialen Eigenwert zu bewahren und somit, ganz im Sinne Hoffmanns, erfahrbar zu machen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit diesem theoretischanalytischen Rekonstruktionsversuch, der in seiner konzeptionellen Gedenkstätten vom 19. September 2013, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (künftig AGFl), Handakt Neukonzeption Außengelände. 3 Hoffmann, Detlef: »Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Suche nach Echtheit und Erlebnis«, in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hg.), Bauten als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000, S. 31–45, hier S. 39.

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Konsequenz eben gerade nicht zur baupraktischen Rekonstruktion einer einzigen Zeitschicht, sondern bedauerlicherweise zum Bruch mit Teilen des französischen Flossenbürg-Komitees führte.

Was bleibt? Baracken und Krematorien Wie in fast allen befreiten Konzentrationslagern wurden auch die baulichen Relikte des KZ Flossenbürg vonseiten der Alliierten primär als immobile Verfügungsmasse betrachtet und keineswegs als memorial und damit als bewahrenswert behandelt. In Flossenbürg richteten amerikanische Militärstellen im ehemaligen KZ-Areal ab Juli 1945 ein temporäres Kriegsgefangenenlager für SS-Angehörige ein. Danach, zufälligerweise exakt ein Jahr nach der Befreiung des Konzentrationslagers, folgte am 23. April 1946 die Umwandlung in ein Transit Camp für polnische Displaced Persons (DP).4 Für beide Formen pragmatischer Nachnutzung wurden an den Hinterlassenschaften des Konzentrationslagers deutliche Veränderungen vorgenommen. Im Kriegsgefangenenlager wurde ein Teil der Lagerwäscherei zur Theaterbühne sowie Baracken zu Sport- und Sakralräumen umgebaut. Im DP-Lager wurden vonseiten der Verantwortlichen der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) gezielt Verschönerungswettbewerbe durchgeführt, was explizit einer möglichst umfassenden Unkenntlichmachung des früheren Zwecks der nunmehrigen Behausung dienen sollte. Bezeichnenderweise formierte sich aber aus dem Kontext dieser pragmatischen Nachnutzung das Bedürfnis einer memorialen Sinn­ stiftung. Denn nur wenige Wochen nach der Eröffnung des DP-Camps wurde von den dortigen Bewohner/-innen ein »Ausführungskomitee für den Bau des Denkmals und der Kapelle im Konzentrationslager Flossenbürg« ins Leben gerufen.5 »Nach Verlauf eines Jahres nach der Befreiung Flossenbürgs durch die amerikanische Armee sind in diese Ortschaft fünf polnische Lager verlegt worden, denen die amerikanischen Behörden diesen Ort zum vorläufigen Aufenthalt zugewiesen haben. […] Die Polen stellten nach ihrer 4

Zur Nachnutzung des KZ Flossenbürg vgl. Skriebeleit, Jörg: Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder, Göttingen 2009. 5 Vgl. hierzu und zu allen weiteren Details der Denkmalsetzung J. Skriebeleit: Erinnerungsort Flossenbürg, S. 97–160.

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Ankunft fest, daß Flossenbürg die Stätte eines ungeheuren Massenverbrechens ist, begangen an Zehntausenden Häftlingen, und beschlossen, den Märtyrertod dieser Häftlinge […] durch den Bau einer Kapelle auf der Hinrichtungsstätte und eines Mausoleums beim Krematorium zu ehren.«6

Ausdrücklich wurden die Situation der polnischen DP und deren unfreiwillige Verlegung nach Flossenbürg erwähnt, die für diese Gruppe in mehrfacher Hinsicht mit negativen Erfahrungen oder Konnotationen verbunden war. Die Erschütterung über die Vorgeschichte des zugewiesenen Raums erzeugte für einen Teil der DP die Notwendigkeit, sich diesen neu anzueignen und umzuinterpretieren. Dabei schienen pragmatische Umnutzungen, wie die Verschönerung von Baracken, das Anlegen von Vorgärten, der Abbau des Stacheldrahtzaunes und die vonseiten der UNRRA vorgenommene Umbenennung des Lagers in »Freiburg«, offenbar nicht ausreichend. Vielmehr erwuchs der Plan, die Geschichte des (temporären Wohn-)Ortes umzudeuten und den vorgefundenen Raum mittels einer Denkmalsanlage neu zu strukturieren.

»Tal des Todes« – die Matrix eines Kreuzweges Bereits wenige Wochen nach der Gründung des Denkmalkomitees präsentierte ein von diesem beauftragter Architekt erstmals seine Überlegungen für eine große Gedenkstätte.7 »Zum Gedächtnis der fast 54 000 Toten verschiedener Nationen wird auf dem Ostteil des ehem. KZ-Lagerplatzes eine Gedenkkapelle errichtet, die an den zu erhaltenden Wachturm anschließt. Das Gelände zwischen Kapelle und Krematorium wird in einfacher und würdiger Form gestaltet. Der jetzt frei liegende Aschenhügel wird in die Erde versenkt und darüber ein Aschenmal errichtet. Die anschließende Richtstätte, auf der die Erschießungen erfolgten, wird durch einen Gedenkstein mit Inschrift gestaltet.«8 6

Schreiben des Ausführungskomitees für den Bau des Denkmals und der Kapelle im Konzentrationslager Flossenbürg an Papst Pius XIII vom 10. Mai 1947, Evangelisches Pfarramt Flossenbürg (künftig EvA), KZ-Lager 18/3. 7 Vgl. Denkmalkomitee: Sitzung vom 23. Juli 1946, Protokollbuch des Denkmalkomitees, AGFl, Denkmalkomitee. 8 Entwurfskommentar des Architekten vom Juli 1946, AGFl, Nachlass Tröger.

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Areal der geplanten Gedenkstätte (rechts unten) mit Kapellenneubau (rot). Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Das ins Auge gefasste Gelände befand sich am östlichen Rand des ehemaligen Konzentrationslagers in einer Senke unterhalb des früheren Häftlingsbereiches und lag außerhalb des DP-Lagers. Neben einem neuen, über die gesamte Anlage thronenden Kapellenbau, der aus den Steinen abgetragener Wachtürme errichtet werden sollte, war die unmittelbare Umgebung des Krematoriums mit dem ehemaligen Schießplatz der SS und dem Leichenverbrennungsplatz der zweite zentrale Fixpunkt der geplanten Anlage.9 Das ehemalige Krematorium mit der Leichenrampe war neben zwei Wachtürmen das einzige Sachzeugnis des Konzentrationslagers, das in situ in den neu geschaffenen Erinnerungsraum miteinbezogen war. Das Krematorium galt als »Magnet für alle grausigen Emotionen«10, es fungierte als ikonologische Metapher für Konzentrationslager schlechthin. Weitere lagerzeitliche Relikte, die sich in seiner Nähe befanden, be­­ tonten den historischen Referenzcharakter dieses Bereiches, der durch bauliche Ergänzungen zusätzlich »authentisiert« wurde. So wurden die 9

Vgl. Linhardt, Josef: Lageplan des ehemaligen KZ-Lagers Flossenbürg vom Juli 1946, AGFl, Nachlass Linhardt. 10 Hoffmann, Detlef: »Dachau«, in: Ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und Denkmäler 1945–1995, Frankfurt a.M./New York 1998, S. 38–91, hier S. 65.

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Pfeiler, die das Eingangstor des Konzentrationslagers bildeten, an ihrem originalen Standort abgebaut. Diese sollten nun den Eingang zur neuen Gedenkstätte markieren. Es wurde beschlossen, über den beiden translozierten Pfeilern den aus Dantes Inferno entlehnten Spruch »Intrantes nolite turbare discordia vestra requiem nostram!«11 anzubringen.12

Blick über die Gedenkstätte im »Tal des Todes« von der Kapelle in Richtung Krematorium. Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Ausgehend von der Idee eines Kapellenbaus erschuf das Denkmalkomitee im »Tal des Todes« einen komplexen Erinnerungsraum. Die inhaltliche Struktur des Ensembles folgte einem Kreuzweg: Durch das translozierte ehemalige Lagertor in die Tiefen des »Tals des Todes«, zum »Höllenschlund« des Krematoriums, vorbei an den Stationen des Krematoriums, den Gräbern und den nationalen Gedenktafeln erfolgte der Aufstieg zur Erlösung in der Sühnekapelle, die heilsversprechend die gesamte Anlage dominierte. Mit der Einweihung der Kapelle und der Gedenkanlage am Pfingstsonntag des Jahres 1947 war in Flossenbürg europaweit eine der ersten 11

»Besucher: Unsere ewige Ruhe soll durch Eure Zwietracht nicht zerstört werden« (eigene Übersetzung). 12 Vgl. Denkmalkomitee: Sitzung vom 27. Februar 1947, Protokollbuch des Denkmalkomitees, AGFl, Denkmalkomitee.

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Gedenkstätten am Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers entstanden. Eine Gedenkstätte, in die das eigentliche Lagergelände nicht miteinbezogen war.

Einweihung der Denkmalsanlage am 25. Mai 1947. Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Landnahmen – Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen Die Auflösung des DP-Camps im Jahr 1948 bedeutete auch das Ende der Existenz des Denkmalkomitees. Nun bemächtigten sich andere Akteur/-innen der Liegenschaft des ehemaligen Konzentrationslagers und der Gedenkstätte. Zwar hatte der bayerische Ministerrat auf das vorige Drängen des Komitees die Gedenkanlage in Flossenbürg am 28.  April 1949 als erste KZ-Gedenkstätte in Bayern offiziell unter Schutz und Verwaltung des Freistaats gestellt, die Unterschutzstellung betraf aber nur einen Ehrenfriedhof im Ort und die Kapelle mit dem »Tal des Todes«. Der Ministerrat hatte mit seiner Entscheidung ebenso unmissverständlich deutlich gemacht, dass der größte Teil des ehemaligen Konzentrationslagers keinen besonderen Schutz genieße. Somit fundamentierte diese Entschließung die Aufteilung des früheren Lagergeländes in einen

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Gedenkbereich, den es zu bewahren galt und in ein Areal, das der Freistaat infrastrukturell zu verwerten trachtete.13 Die Entscheidung über die Zukunft des früheren KZ-Geländes fiel schließlich erst Mitte der 1950er‑Jahre. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die konkurrierenden Interessenten jeweils einzelner früherer Lagerbereiche bemächtigt und dort wesentliche strukturelle Veränderungen an der historischen Bausubstanz vorgenommen. Ein Gewerkschaftsunternehmen betrieb nun den ehemaligen SS-Steinbruch genossenschaftlich weiter und siedelte gezielt Arbeiter/-innenfamilien in früheren KZ-Bauten an. Die Flüchtlingsverwaltung hatte das ehemalige Lagergefängnis belegt und dort, wie auch in der riesigen KZ-Kommandantur, Vertriebene untergebracht. Der Freistaat Bayern wiederum hatte auf dem früheren Appellplatz und in den diesen flankierenden Gebäuden, der ehemaligen Wäscherei und der Häftlingsküche, eine Holzspielzeugfabrik aus dem Sudetenland untergebracht. Von den Holzbaracken des Konzentrationslagers existierte zu diesem Zeitpunkt keine Einzige mehr, sie waren nach der Räumung des DP-Camps im Herbst 1948 mehr oder weniger legal abgetragen und für andere Zwecke weiter verwendet worden. Erst Anfang der 1950er-Jahre wurde die Zuständigkeit für die KZ-Gedenkstätte in Flossenbürg ebenso wie für jene in Dachau staatlicherseits geregelt. Nach mehrmaligen Revirements fiel diese Aufgabe der »Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen« zu – einer Behörde, die aufgrund der Situierung einer Außenstelle auf dem Schloss Dachau vom bayerischen Ministerrat schließlich ganz pragmatisch mit der Anlagen- und Gräberpflege in Dachau und Flossenbürg beauftragt wurde. Die finale Zuständigkeitsklärung entsprang einem international für Aufregung sorgenden Skandal, dem sogenannten Leitenberger-Gräberfund, der das Ansehen des Freistaates Bayern massiv zu beschädigen drohte. Das Auffinden von offen herumliegenden Gebeinen von KZ-Opfern in der Nähe von Dachau ließ in der internationalen Öffentlichkeit, vor allem in Frankreich, Zweifel am pietätvollen Umgang mit den Gräbern von KZ-Häftlingen in Bayern aufkommen. Diese waren nahezu über 13

Vgl. Bayerischer Ministerrat: Protokoll der Sitzung vom 28. April 1949, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig BayHStA), StK 13624. Vgl. hierzu auch Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Hg.): Das Kabinett Ehard II. 20. September 1947 bis 18. September 1950, Band 2, 1949, München 2005, S. 115.

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den gesamten Flächenstaat verstreut, vor allem entlang der Routen der Todesmärsche oder in der Nähe von KZ-Außenlagern. Als Konsequenz aus dem Leitenberg-Skandal fanden in den 1950er‑Jahren umfangreiche Exhumierungsarbeiten internationaler Suchdienste in ganz Bayern statt, die schließlich zur Auflösung mehrerer Hundert KZ-Grabstätten führten. Nach Unterzeichnung des deutsch-französischen Abkommens am 23. Oktober 1954 und noch vor dessen offiziellem Inkrafttreten am 5. Mai 1955 stimmte der bayerische Ministerpräsident im November  1954 der »vom französischen Ministerium für Kriegsopfer beabsichtigten Exhumierung der Gebeine französischer ehemaliger KZ-Insassen«14 zu. Er zeigte sich vollauf einverstanden, »daß kleinere Grabstätten, die nach der Exhumierung als Einzelgräber anzusprechen sind und als solche aus technischen Gründen und wegen ihrer ungünstigen örtlichen Lage nicht in der erwünschten Weise als würdige Weihestätten unterhalten werden können, nach und nach aufgelassen und die Gebeine in weiträumig angelegte KZ-Gedenk- und Grabstätten unter Beachtung der größten Sorgfalt und Pietät überführt und bestattet werden«15.

Diese weiträumig angelegten KZ-Gedenk- und Grabstätten sollten der Waldfriedhof auf dem Dachauer Leitenberg und ein neu zu errichtender Ehrenfriedhof in Flossenbürg sein.

»Milderung des Gewesenen« Im Juli 1955 wurde von der Nymphenburger Gartendirektion ein erster Vorentwurf für den KZ-Ehrenfriedhof in Flossenbürg erarbeitet, in dem die Absicht deutlich wurde, den Friedhof mit der bestehenden Gedenkstätte harmonisch zu verbinden und in ein einheitliches landschaftsästhetisches Konzept einzubinden.16 Obwohl über diesen Plan noch keineswegs eine Entscheidung getroffen worden war, wurden auf dem Gedenkstättengelände von der Schlösserverwaltung prompt Tatsachen geschaffen. 14

Bundesanzeiger Nr. 105, 1957. Erlass des bayerischen Finanzministers Zietsch an die Schlösserverwaltung vom 5. November 1954, genehmigt vom Ministerpräsidenten am 13. November 1954, BayHStA, StK 13665. 16 Vgl. Schlösserverwaltung Nymphenburg: Vorentwurf zum KZ-Ehrenfriedhof Flossenbürg vom 11. Juli 1955, Ordner 6/1, Neugestaltung 1953–1955. 15

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Die über den translozierten Torpfeilern angebrachte Tafel mit dem Zitat »Intrantes nolite turbare discordia vestra requiem nostram!« aus Dantes Inferno wurde im Sommer 1955 ersatzlos entfernt.17 Der unterirdische Schacht mit der Rampe und der Feldbahn zum Krematorium, der vom damaligen Denkmalskomitee mit einem Holzschild »Des Häftlings letzter Weg zur Freiheit« versehen worden war, wurde verfüllt, das Schild abmontiert. Diese Maßnahmen waren ein massiver Eingriff in das Konzept der ersten Gedenkstätte, denn das Entree der ursprünglichen Gedenkanlage war damit zerstört. Dieser erste Schritt legte das Grundprinzip der Schlösserverwaltung offen: die möglichst vollständige Nivellierung aller historischen Raumbezüge zugunsten einer einheitlichen Deutungsästhetik. Dieses Prinzip verfolgte sie bei den Planungen zur Gestaltung des Ehrenfriedhofes konsequent weiter.

Gräberreihen auf dem neuen Ehrenfriedhof am Standort des früheren Desinfektionsgebäudes, 1959. Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Im Sommer 1956 formulierte die Gartendirektion die konzeptionellen Gestaltungsgrundsätze für die Erweiterung der Gedenkstätte Flossenbürg:

17

Besuchsprotokoll über den Besuch des Vizepräsidenten der Schlösserverwaltung vom 6. Juli 1955, in: ebd.

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»Zur Gestaltung einer würdevollen und friedvollen Anlage ist die Erschließung eines Geländes vorgesehen, das mit der vorhandenen Gedenkstätte verbunden, unmittelbar in die Landschaft einbezogen wurde. Im Gegensatz zu der unabänderlichen Regelmäßigkeit der Gedenkstätte wurde hier eine Linienführung gesucht, die Strenge, Härte und Trostlosigkeit vermeidet. Hinterbliebene und Besucher sollen eine friedliche, gewaltlose Stätte vorfinden, die mit Überlegung aber unaufdringlich geplant, liebevoll gepflegt ist und die Erinnerung an das Gewesene mildert.«18

Die nun vollzogene Umgestaltung nahm allerdings die universell-religiöse Deutung des »Tals des Todes« gezielt auf und verlängerte diese in den neuen Friedhof hinein. Durch die frisch angelegte Wegeführung über Krematorium und Kapelle sowie die Passierzone des Friedhofes wurde die inhaltliche Struktur eines Kreuzwegs zusätzlich betont. Allerdings entsprang diese Übertragung einem ganz anderen Erinnerungsimperativ als dem des seinerzeitigen Denkmalkomitees. Während sich das Komitee gezielt der Matrix einer christlich-religiösen Repräsentationsstrategie bediente, um »den historischen Stoff zu ordnen und zu vereindeutigen«19, war das unverblümte Ziel der staatlichen Umgestaltung in den späten 1950er-Jahren eine »Milderung des Gewesenen«. Die Anlage eines landschaftlich eingebundenen Friedhofs als letzte Ruhestätte, mit dem Versuch einer religiös ausgewogenen Symbolik – granitenen Eisernen Kreuzen und jüdischen Grabsteinen – sowie die Anlage eines abstrakten Steinaltars inmitten der Freifläche zwischen den Grabreihen entsprang dem Deutungsbedürfnis einer nivellierend-versöhnlichen Ruhe über den Gräbern. Zur Herstellung dieses Gesamteindrucks bedurfte es gezielter Eingriffe in die ursprüngliche Konzeption und bewusster Zerstörungen auf dem historischen Gelände. Die sinnstiftenden Tafeln und Beschriftungen beim Entree der ersten Gedenkstätte mussten abmontiert, die Desinfektionsbaracke abgerissen, die Sichtachsen zum restlichen Lagergelände bepflanzt und der Geländeübergang in den angrenzenden Wald weich moduliert werden. Auch für Flossenbürg gilt, was Volkhard Knigge für den Umgang mit den Relikten des KZ Buchenwald pointiert zuspitzte: 18

Erläuterung des Gartendirektors Bauer zum Ehrenfriedhof Flossenbürg vom 28. August 1956, in: ebd. 19 Eschebach, Insa: Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 164.

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»Die Minimierung der Relikte […] schafft wortwörtlich den Raum für eine einheitliche, widerspruchsfreie, scheinbar allgemeingültige Interpretation der Geschichte des Konzentrationslagers; eine Interpretation, die in Bezug auf ihren Geltungsanspruch die Authentizität des Denkmals aus der Zeit in Anspruch nimmt und die dieses doch gleichzeitig selektiv bearbeitet und überformt.«20

Aufteilung des ehemaligen KZ-Geländes in Wohnsiedlung, Gewerbefläche und Gedenkstätte (braun unterlegt). Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Betrachtet man die Minimierung der Relikte und die Umformung des Lagergeländes im Kontext des Friedhofskonzeptes, wird deutlich, dass das ehemalige Konzentrationslager ohne Brüche einem hegemonialen und reduktionistischen Erinnerungsgedanken eingefügt wurde. Auf dem gesamten neu gestalteten Friedhof fanden sich keinerlei Hinweise auf die historische Identität der Toten. Mittels der Landschafts- und Grabästhetik, die sich eindeutig jener deutscher Soldatenfriedhöfe bediente, wurden die KZ-Toten sinnstiftend der allgemeinen Formel »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« untergeordnet, womit die Singularität des sinnlosen 20

Knigge, Volkhard: »Buchenwald«, in: D. Hoffmann, Das Gedächtnis der Dinge, S. 119.

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Todes im Konzentrationslager negiert wurde und eine symbolische Vereinigung von Täter/-innen und Opfern im Motiv der ewigen Friedhofsruhe stattfand.

Ehemaliges KZ-Areal mit neuer Wohnsiedlung (links), Gewerbefläche (Mitte) und Gedenkstätte (rechts oben). Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Wie erfolgreich der beauftragten Schlösserverwaltung diese Sinnstiftung ästhetisch gelungen war und wie sehr diese gleichermaßen öffentlich herbeigewünscht wurde, verdeutlicht ein Bericht über die Umgestaltungsmaßnahmen in einer lokalen Zeitung: »Vieles hat sich getan im Tal des Friedens. Das ›Tal des Friedens‹ wird seit Jahren schon durch die Bayer. Schlossverwaltung betreut. Solange die raue Natur des Tales das Gepräge bestimmte, herrschte ein gewisser Unfrieden in dieser Landschaft. Nun ist nach einer Zwischengestaltung die steile Wand in den Grund verschwunden und zwischen Büschen und Blumen wandelt sich der Steig. Nach 1945 ausgebaute Stätten sind verschwunden und die Stätten sind nicht mehr harte Anklage, sondern mahnende Erinnerungssteine zu wahrem Frieden.«21

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N.N.: »Vieles hat sich getan im Tal des Friedens«, in: Oberpfälzer Nachrichten (künftig ON) vom 16. August 1958.

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Die Umdeutung der KZ-Gedenkstätte vom »Tal des Todes« zum »Tal des Friedens« war mit der Erweiterung der Gedenkstätte um einen Friedhof Ende der 1950er‑Jahre nicht nur landschaftsästhetisch gelungen. Zeitgleich zur Anlage des Ehrenfriedhofes entstand auf dem größten Teil des ehemaligen KZ-Geländes eine Wohnsiedlung. Zudem wurde die Verwendung des ehemaligen Appellplatzes als gewerbliche bzw. indus­ trielle Nutzfläche vertraglich fixiert. Die gleiche Lokalpostille frohlockte: »Lange genug warf die Vergangenheit ihre Schatten über das ehemalige KZ Flossenbürg. Neben dem ›Tal des Todes‹ entsteht nun ein ›Tal des Lebens‹. Die bisher öden Stätten werden bald von schönen Häusern und Gärten abgelöst.«22

Homogenisierung – »KZ-Grab- und Gedenkstätte« Für die Schlösserverwaltung war mit der Anlage des Friedhofs der Ausbau der Gedenkstätte abgeschlossen. Fortan sah sie ihre Aufgabe in der Konservierung einer würdigen Friedhofsruhe, die durch Pflege der bestehenden Anlagen sowie Beseitigung bestehender Missstände zu wahren war. Als ein solcher galt das Gebäude des ehemaligen Lagergefängnisses. Dieses bauliche Relikt und der umliegende Geländestreifen waren als Abstandsfläche zum Ehrenfriedhof definiert worden. Daher störte die Gebäuderuine die Einheit des Gesamtensembles aus Sicht der Schlösserverwaltung ganz empfindlich. Allerdings war völlig unklar, wie mit dem Relikt zu verfahren sei, denn nach öffentlichen Protesten, die vor allem auf den Todesort von Diet­rich Bonhoeffer und Wilhelm Canaris Bezug nahmen, musste der Bau rudimentär erhalten bleiben. Unabhängig von seiner weiteren künftigen Verwendung sollte der Überrest des Lagergefängnisses keinesfalls landschaftsgestalterisch in die Gedenkstätte integriert werden. Demgegenüber galt für die Schlösserverwaltung das Prinzip, optische, die Gesamtästhetik der Friedhofsanlage beeinträchtigende Störungen zu verhindern. Hierbei ließen sich gewisse Probleme im sicheren Umgang mit der eigenen Definition von Würde nicht übersehen. Anlässlich der jährlichen Planungsbesprechung wurden für das Jahr 1966 folgende Prioritäten bei der Gedenkstättenpflege festgelegt: 22

N.N.: »Richtfest für 18 Häuser des Landkreissiedlungswerkes in Flossenbürg«, in: ON vom 16. August 1958.

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»Am Wachturm ist ein gut sichtbares 00-Schild anzubringen, um die Besucher auf die Toiletten-Möglichkeiten hinzuweisen. […] Von gärtnerischen Gestaltungsarbeiten im Bereich der Gefängnisbaracke wird abgesehen. Der Gärtner wird das Gelände gründlich säubern und einebnen sowie die großen Granit- und Steinbrocken aufschichten. […] Es ist (weiterhin) vorgesehen, den Hauptweg vom Eingang an der Friedhofsmauer bis zum Abgang zum Krematoriumsgelände staubfrei zu machen und […] zu asphaltieren.«23

Die praktische Umwidmung des Wachturmes, der in der ursprünglichen Denkmalskonzeption der Gedenkkapelle als Symbol christlichen Triumphs über »das Böse« als kreuzbekrönter Glockenturm beigeordnet worden war, machte eine Neudefinition des Bauwerks notwendig. Nachdem der evangelische Ortspfarrer die Schlösserverwaltung auf die Profanierung des kreuzbewehrten Wachturms aufmerksam gemacht hatte, ordnete sie an, das christliche Symbol dort entfernen zu lassen, da das Kreuz »für dieses Gebäude«, die nunmehrige Damen- und Herren-Toilette, »völlig unpassend sei«24. Die Definition der Gedenkstätte als Friedhof bildete sich nun auch in der amtlichen Nomenklatur ab. War vor der Errichtung des Ehrenfriedhofs stets von den »Flossenbürger Gedenkstätten« gesprochen worden, so schliff sich mit Beginn der 1960er‑Jahre die Bezeichnung »KZ-Grabund Gedenkstätten« ein. Als im Frühjahr 1967 eine erste Besucherordnung für die Flossenbürger Anlage erlassen wurde, trug diese offiziell den Titel »KZ-Grab- und Gedenkstätte«. Die sachlich nicht unzutreffende Beschreibung der Flossenbürger Memorialensembles in der Pluralform hatte sich im Singular zur programmatisch-normativen Bezeichnung einer Grab- und Gedenkstätte verfestigt. Auch der Inhalt der Verordnung ließ keinerlei Zweifel daran, dass die ehemalige KZ-Liegenschaft ausschließlich als Friedhof betrachtet wurde.25

23

Schlösserverwaltung Nymphenburg: Vorbemerkung angesichts der jährlichen Planungsbesprechung vom 16.  August 1966, Flossenbürg 6/8, Schriftwechsel 1965–1972. 24 Schlösserverwaltung Nymphenburg: Anordnung an die Eremitage Bayreuth vom 1. Juli 1966, SV Nymphenburg 238, Flossenbürg KZ Grab- und Gedenkstätte, Ordner 4. 25 Vgl. Schlösserverwaltung Nymphenburg: Gedenkstättenordnung für die KZ-Grabund Gedenkstätte vom Frühjahr 1967, Flossenbürg 6/8, Schriftwechsel 1965–1972.

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Was ist? – Was bleibt? Würdig und gepflegt waren die Verhältnisse in Flossenbürg in der Tat bis in die 1990er‑Jahre hinein – zumindest im Friedhofsbereich der Gedenkstätte. Auch der als Abstandsfläche zum Friedhof definierte Umgriff des Arrestbaus und die südliche Abgrenzung zum früheren Appellplatz, dem jetzigen Industrieareal, erfüllten ihren Zweck. Wie von der Schlösserverwaltung beabsichtigt, hatte sich rund um den Arrestbau inzwischen ein solider Bewuchs aus Birken und Fichten entwickelt, der sich harmonisch in die umgebende Mittelgebirgslandschaft einfügte. Das Industriegelände wurde ebenfalls durch einen blickdichten Grüngürtel abgeschirmt. Gänzlich anders stellten sich die Verhältnisse hingegen im Vorfeld der Gedenkstätte dar. Das frühere Kommandanturgebäude, in dem die Gemeinde Sozialwohnungen eingerichtet hatte, machte einen reichlich verwahrlosten Eindruck.

Maximale Überformung des früheren KZ-Geländes mit industriell genutzten Gebäuden auf dem Appellplatz (mittig). Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

In diesem Zustand präsentierte sich 1995 die KZ-Grab- und Gedenkstätte Flossenbürg zum 50. Jahrestag des Kriegsendes. Die Nachrangigkeit, mit

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der die Flossenbürger Gedenkstätte von staatlichen Verwaltungsstellen behandelt wurde, beeinflusste das Geschichtsbild des Konzentrationslagers massiv. Die Minimierung der Relikte und die parkähnliche Anlage »milderten das Gewesene« dauerhaft. Dieser Status wurde im Kontext des Gedenkjahres 1995 in und vor einer breiten Öffentlichkeit massiv kritisiert.26 Die Debatten zeitigten zunächst institutionelle Veränderungen, denen alsbald auch räumliche und damit grundsätzliche konzeptionelle Konsequenzen folgten. Ab 1996 wurde die Liegenschaft »KZ-Grab- und Gedenkstätte« sukzessive zur arbeitenden Einrichtung mit wissenschaftlichem und pädagogischem Personal aufgewertet. Durch eine Schenkung des letzten Eigentümers wurden im Jahr 1997 die fünfzig Jahre lang industriell genutzten Gebäude der Häftlingsküche und der Lagerwäscherei mit dem ehemaligen Appellplatz an die Gedenkstätte übereignet. Die ein Jahr später erfolgte Beseitigung der drei dort befindlichen Industriehallen aus den 1980er‑Jahren zählte zur Überlassungsleistung des Vorbesitzers.27 Damit hatte sich die Liegenschaft der Gedenkstätte nicht nur räumlich um den Zentralbereich des ehemaligen Konzentrationslagers erweitert. Mit der Häftlingsküche und der Lagerwäscherei waren nun auch zwei historische Gebäude, wenngleich baulich durch die Nachnutzung stark verändert, Bestandteil der Gedenkstätte geworden. Mit dieser Übereignung formierten sich die konzeptionellen Überlegungen für die weitere Verwendung des Areals und die Verknüpfung mit den früher gestalteten Gedenkstättenelementen. Als Grundphilosophie des Umgangs mit dem mehrfach überformten Erinnerungsort wurden von der Gedenkstättenleitung und den sie beratenden Fachgremien archäologisch-schürfende, rezeptionsgeschichtlich-bewahrende und neukonzeptionell-interpretierende Leitlinien entwickelt. Fundamental war dabei die Entscheidung, die Gedenkbereiche »Tal des Todes« und »Ehrenfriedhof« in ihrer jeweiligen ursprünglichen Gestaltungsform zu erhalten bzw. im Sinne Detlef Hoffmanns wieder erkenntnisgeleitet erfahrbar zu machen. 26

Vgl. N.N.: »Situation in Flossenbürg skandalös«, in: Der neue Tag (künftig NT) vom 11. April 1994, o.S.; N.N.: »Taten sind gefragt«, in: NT vom 13. April 1994 sowie: N.N.: »KZ Flossenbürg hat keine Lobby«, in: Mittelbayerische Zeitung vom 16. April 1994, o.S. 27 Letzter Eigentümer war der französische Alcatel-Konzern, zu dessen Tochterunternehmen der in Flossenbürg produzierende Automobilzulieferer ke-autoelectric gehörte.

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Hinsichtlich der durch die Schenkung hinzugekommenen Zentralbereiche des ehemaligen Konzentrationslagers wurden Rekonstruktionen von historischen Baukörpern grundsätzlich ausgeschlossen, Wiederherstellungen von verlorenen Gebäude- bzw. Raumelementen allerdings nicht kategorisch abgelehnt. Entscheidend für die konzeptionelle Bewertung waren neben der lagerzeitlichen Bedeutung der jeweiligen Gebäude bzw. Räume und deren künftige Funktion auch die Nutzungsspuren der letzten Jahrzehnte. Dies bedeutete, dass das Gebäude der ehemaligen Lagerwäscherei mit dem sogenannten Häftlingsbad als Museumsgebäude für die Ausstellung »Das Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945« konzipiert wurde, worin dem »Raumensemble Häftlingsbad« eine ganz wesentliche historische, museologische und auch pädagogische Funktion zukam.28 Die frühere Häftlingsküche war hingegen für eine Ausstellung zur Rezeptionsgeschichte des »Erinnerungsortes Flossenbürg« vorgesehen, die sich mit der komplexen Nachgeschichte des Ortes beschäftigt und gleichzeitig auch die Genese der Gedenkstätte in ihren Teilbereichen erklären sollte. Am 22. Juli 2007 wurde in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg unter großer internationaler Beachtung die neue Dauerausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg der Öffentlichkeit übergeben, die in der internationalen Presse als »Wiederentdeckung eines europäischen Erinnerungsortes« gewürdigt wurde.29 Über 62 Jahre nach der Befreiung des Lagers wurde die Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg, seiner Außenlager und seiner Häftlinge erstmals umfassend am historischen Ort dokumentiert.30 Drei Jahre später eröffnete die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg im Oktober 2010 ihre zweite Dauerausstellung unter dem Titel »was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg«.31 Für das in28

Vgl. Schmidt, Alexander: »Geschichte auf zwei Ebenen – Die neue Dauerausstellung ›Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945‹«, in: Dachauer Hefte 23 (2007), S. 236–246. 29 Vgl. exemplarisch N.N.: »Ein Ort deutscher Schande«, in: Süddeutsche Zeitung (künftig SZ) vom 23. Juli 2007, o.S.; N.N.: »Neue Dauerausstellung in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (künftig FAZ) vom 23. Juli 2007; N.N.: »Ein Meilenstein für diesen Ort«, in: Prager Zeitung vom 26. Juli 2007. 30 Vgl. KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.): Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945. Katalog zur ständigen Ausstellung, Göttingen 2008. 31 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ulrich Schwarz in diesem Band sowie KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.): was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg. Katalog zur Dauerausstellung, Göttingen 2011.

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haltliche Konzept und die gestalterische Umsetzung dieser Schau wurde die Gedenkstätte 2011 mit dem Bayerischen Museumspreis ausgezeichnet 32 und im Jahr 2014 mit einer Special Commendation für den Museum of the Year Award.33

Appellplatz mit den Ausstellungsgebäuden Lagerwäscherei (rechts) und Häftlingsküche, 2011. Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Was wird? Noch mehr Rasen? Die bauliche und museologische Neukonzeption des früheren Zen­ tralbereichs des Konzentrationslagers war jedoch nur die erste Etappe der »Wiederentdeckung des europäischen Erinnerungsortes Flossenbürg«. Die in den Jahren 2013 bis 2015 erfolgte Umgestaltung des 1997 rückübertragenen Geländes, das ausschließlich Areale des ehemaligen Häftlingsbereiches und des inzwischen ebenfalls im Besitz der Gedenkstätte befindlichen SS-Bereichs mit der Lagerkommandantur und dem SS-Casino umfasste, stellte die festgelegten Leitlinien der Neugestaltung auf einen neuen Prüfstand und auf eine mehrfache Belastungsprobe. Galt es doch, den ursprünglichen Lagereingang und die Separierung von 32

Vgl. exemplarisch: N.N.: »Bayerischer Museumspreis für Gedenkstätte«, in: Die Welt vom 21. Juli 2011 und N.N.: »KZ-Gedenkstätte erhält Bayerischen Museumspreis«, in: Augsburger Allgemeine vom 22. Juli 2011, o.S. 33 Vgl. exemplarisch N.N.: »Man muss ein Lieblingsobjekt mitbringen«, in: Süddeutsche Zeitung SZ vom 26. Januar 2014 und N.N.: »Ein Vorbild für Europa«, in: NT vom 19. Mai 2014.

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Häftlings- und SS-Bereich markant hervorzuheben, dabei aber auch Rücksicht auf die durch den ehemaligen SS-Bereich seit 1958 öffentlich verlaufende Straße zu nehmen. Die Struktur des Konzentrationslagers sollte (ausschließlich) innerhalb der Liegenschaft der KZ-Gedenkstätte wieder erkennbar gemacht werden. Die in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte lebenden Menschen sollten sich aber nicht permanent als »im KZ-lebend« empfinden müssen. Entsprechend komplex war die Aufgabenstellung für die angeforderten konkurrierenden Plangutachten. »Ein entscheidendes Kriterium der Neukonzeption stellt der ehemalige Lagerzugang als heutiger Eintritt […] dar. […] Von Seiten ehemaliger Häftlinge wird immer wieder die Rückversetzung (der originalen Torpfosten) an den ursprünglichen Standort gefordert. Die Gedenkstättenleitung und die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit steht diesen Forderungen skeptisch gegenüber. Die Neugestaltung dieser historisch und aktuell bedeutenden Zugangssituation ist daher eine der zentralen Herausforderungen.«34

Das Motiv für die defensive Haltung gegenüber einer Translokation war nicht nur die seinerzeit formulierte Grundposition des wissenschaftlichen Beirates, die sich mehrheitlich gegen Rekonstruktionen aussprach. Das maßgebliche Argument war vielmehr der Eingriff, den die Versetzung der Torpfosten in das ursprüngliche Denkmalensemble aus den Jahren 1946/47 bedeutet hätte. Die vorsichtige Formulierung im Auslobungstext war dem Respekt vor der eindeutigen Haltung des französischen Komitees geschuldet, die diese im Beirat stets vehement als Minderheitenposition artikuliert hatte. Bemerkenswerterweise nahmen alle drei geladenen Büros35 die von der Schlösserverwaltung gewählte landschaftsgestalterische Haltung bei der Anlage des Ehrenfriedhofs 1966 zur »Milderung des Gewesenen« auf, verkehrten die ästhetische Handschrift der grünen Freiraumgestaltung aber in das exakte inhaltliche Gegenteil. Mit vegetativen Spuren und einer dezidiert kontrafaktischen Materialauswahl sollten die früheren 34

Auslobungstext für Maßnahmen zu Infrastruktur, Organisation und Gestaltung der Besucherführung mit Schwerpunkt Lagerzugang in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg vom 6. April 2009, AGFl, Handakt Neukonzeption Außengelände. 35 Eingeladen waren Otto A. Bertram, Landschaftsarchitekt München, Treibhaus Landschaftsarchitektur Berlin und sinai, Büro für Freiraumplanung und Projektsteuerung Berlin.

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Lagerstrukturen nachgezeichnet und erfahrbar gemacht werden. Damit wurde einerseits die landschaftsgestalterische Verzeichnung des historischen Geländes bewusst zitiert, andererseits aber als Gegenposition neu formuliert.

Entwurf für den Lagereingang von sinai, Büro für Freiraumplanung und Projektsteuerung, Berlin 2009. Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Der Münchener Landschaftsarchitekt Bertram variierte bei der Zonierung der historischen Lagerbereiche verschiedene organische Materialien (Eichenbohlen, Sedum, extensiver Grünbewuchs). Die Gestalter des Büros Treibhaus schlugen vor, die Kubatur der Baracken mit Wuchsvolumen über Gräseransaat sichtbar zu machen. Beide Büros wiesen, ebenso wie der Siegerentwurf, die Translokation der Pfosten zum Lagereingang zurück. Sie deuteten diese historische Eingangssituation, wie auch den Zaunverlauf, mit artifiziellen Materialien (Stahl, Beton, Glas) an.36 Der Siegerentwurf des Berliner Büros sinai 37 überzeugte sowohl die Jury wie auch die Fachöffentlichkeit. Die konsequente Haltung der Gestalter, die sich dezidiert für materialfremde Nachzeichnungen der Barackenfundamente, Zaunpfosten und Torpfeiler aussprachen, Rekonstruktionen 36

Vgl. Protokolle der Jurybesprechungen vom 10. Juni 2009, AGFl, Handakt Neukonzeption Außengelände. 37 Vgl. den Artikel von A.W. Faust in diesem Band.

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oder Versetzungen von Zaun- und Torelementen aber strikt ablehnten, führte zu den anfangs erwähnten Verwerfungen mit dem Präsidenten des französischen Komitees. In dem sich rasch zuspitzenden Konflikt ging es schließlich nicht mehr nur um die Re-Translokation der Pfeiler des Lager­ eingangstores, sondern um die Einforderung eines memorialen Blueprints »wie in Buchenwald«. Die spezifische Flossenbürger Lösung, die explizit beabsichtigte, die älteren Sinnstiftungen und Zeitschichten, die sich in das historische Gelände eingeschrieben hatten, zu bewahren und deren Historizität in den zur Gedenkstätte hinzugekommenen Flächen zu interpretieren, verfehlte offensichtlich die historischen Vereindeutigungsabsichten. In der französischen Forderung nach einem Erscheinungsbild »wie in Buchenwald« konkretisierte sich eine ästhetische Folie und mit ihr ein gestalterischer Masterplan aus Lagertor, Stacheldraht und Schotter. Offensichtlich existiert – vermutlich auch unter Besucher/-innen – eine Erwartungshaltung, die diesem memorialen Blueprint entspricht und dem sich der Flossenbürger Erinnerungsort auch nach der Neukonzeption seines Außengeländes sperrt. Allerdings, und dieses Faktum gilt es resümierend und keineswegs triumphierend zu erwähnen, unterstützte die überwältigende Mehrheit der anderen Häftlingskomitees, Überlebenden und Angehörigen den Weg der Gedenkstätte. Als wesentliches Argument galt diesen wie auch den Fachgremien nicht ausschließlich das Dogma des Rekonstruktionsverbotes, sondern der Eigenwert der ersten Gedenkstätte im »Tal des Todes« und ihrer Erweiterung um den Ehrenfriedhof. Mit der von französischer Seite vehement geforderten Rückversetzung der Torpfeiler wäre ein konstitutives Element des ältesten Gedenkstättenensembles entfernt und damit ein zentrales nachkriegszeitliches Erinnerungssymbol zerstört worden. Gerade die sich im Konflikt mit dem französischen Komitee bewährende Diskursivität des Neukonzeptionsprozesses und die Reflexivität der gestalterischen Lösungen schien für die übergroße Mehrheit der an der Neugestaltung Beteiligten eine adäquate Antwort auf die Frage nach dem »was bleibt«. Diese Frage ist bei der (Neu-)Gestaltung von Erinnerungsorten von ebenso fundamentaler Bedeutung, wie jene nach dem »was wird«. Denn inwiefern die Neukonzeption der Außengelände von ehemaligen Konzentrationslagern bei aller Sorgfalt und Reflexivität gegenüber älteren Gestaltungs- und damit Sinnstiftungsschichten nicht gleichzeitig eine weitere massive Überformung, ja vielleicht Überästhetisierung der Gelände bedeutet, wird künftig kritisch zu analysieren sein. Der

Relikte, Sinnstiftungen und memoriale Blueprints

Münchener Aktionskünstler Wolfram Kastner hatte bei der öffentlichen Präsentation des Flossenbürger Entwurfes im Rahmen einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing im Frühjahr 2014 sein Urteil schnell gefällt: Heute gebe es überall nur noch die gleiche »Design-Sch…« und keinen allgemeingültigen kraftvollen symbolischen Ausdruck des Gewesenen mehr.38 Die Sehnsucht nach memorialen Blueprints scheint ungebrochen.

38

Vgl. Kastner Wolfram am 5. April 2014 bei der Vorstellung des Entwurfs anlässlich einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema »Geschichts- und Erinnerungsorte. Zum Umgang mit den belasteten Zeugnissen der Vergangenheit«, 4. bis 6. April 2014.

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Literatur Ausführungskomitee für den Bau des Denkmals und der Kapelle im Konzentrationslager Flossenbürg: Schreiben an Papst Pius XIII vom 10. Mai 1947, Evangelisches Pfarramt Flossenbürg, KZ-Lager 18/3. Auslobungstext für Maßnahmen zu Infrastruktur, Organisation und Gestaltung der Besucherführung mit Schwerpunkt Lagerzugang in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg vom 6.  April 2009, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Handakt Neukonzeption Außengelände. Bayerischer Ministerrat: Protokoll der Sitzung vom 28. April 1949, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, StK 13624. Besuchsprotokoll über den Besuch des Vizepräsidenten der Schlösserverwaltung vom 6.  Juli 1955, in: Schlösserverwaltung Nymphenburg, Vorentwurf zum KZ-Ehrenfriedhof Flossenbürg vom 11.  Juli 1955, Ordner 6/1, Neugestaltung 1953–1955. Bundesanzeiger Nr. 105, 1957. Clisson, Michel: »Noch mehr Hektar Rasenfläche, welch angenehme Perspektive!«, in: Message Nr. 75, Bulletin d´Association des Déportés et Familles de Disparus du Camp de Flossenbürg et Kommandos (Januar 2015), S. 13. Denkmalkomitee: Sitzung vom 23. Juli 1946, Protokollbuch des Denkmalkomitees, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Denkmalkomitee: Sitzung vom 27. Februar 1947, Protokollbuch des Denkmalkomitees, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Einschreiben des Präsidenten der Association des Déportés et Familles de Disparus du Camp de Flossenbürg et Kommandos an den Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten vom 19. September 2013, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Handakt Neukonzeption Außengelände. Entwurfskommentar Architekt vom Juli 1946, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Nachlass Tröger. Erlass des bayerischen Finanzministers Zietsch an die Schlösserverwaltung vom 5. November 1954, genehmigt vom Ministerpräsidenten am 13. November 1954, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, StK 13665. Erläuterung des Gartendirektors Bauer zum Ehrenfriedhof Flossenbürg vom 28. August 1956, in: Schlösserverwaltung Nymphenburg, Vorentwurf zum KZ-Ehrenfriedhof Flossenbürg vom 11. Juli 1955, Ordner 6/1, Neugestaltung 1953–1955. Eschebach, Insa: Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Frankfurt a.M./New York 2005. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Hg.): Das Kabinett Ehard II. 20. September 1947 bis 18. September 1950, Band 2/1949, München 2005.

Relikte, Sinnstiftungen und memoriale Blueprints

Hoffmann, Detlef: »Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Suche nach Echtheit und Erlebnis«, in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hg.), Bauten als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000, S. 31–45. Hoffmann, Detlef: »Dachau«, in: Ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und Denkmäler 1945–1995, Frankfurt a.M./New York 1998, S. 38–91. Knigge, Volkhard: »Buchenwald«, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und Denkmäler 1945–1995, Frankfurt a.M./New York 1998, S. 92–173. KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.): Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945. Katalog zur ständigen Ausstellung, Göttingen 2008. KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.): was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg. Katalog zur Dauerausstellung, Göttingen 2011. Linhardt, Josef: Lageplan des ehemaligen KZ-Lagers Flossenbürg vom Juli 1946, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Nachlass Linhardt. Präsident der Association des Déportés et Familles de Disparus du Camp de Flossenbürg et Kommandos: Einschreiben an den Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten vom 19. September 2013, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Handakt Neukonzeption Außengelände. Protokolle der Jurybesprechungen vom 10. Juni 2009, Archiv der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Handakt Neukonzeption Außengelände. Schreiben des Ausführungskomitees für den Bau des Denkmals und der Kapelle im Konzentrationslager Flossenbürg an Papst Pius XIII vom 10. Mai 1947, Evangelisches Pfarramt Flossenbürg, KZ-Lager 18/3. Schlösserverwaltung Nymphenburg: Anordnung an die Eremitage Bayreuth vom 1. Juli 1966, Flossenbürg KZ Grab- und Gedenkstätte, Ordner 4. Schlösserverwaltung Nymphenburg: Gedenkstättenordnung für die KZ-Grab- und Gedenkstätte vom Frühjahr 1967, Flossenbürg 6/8, Schriftwechsel 1965–1972. Schlösserverwaltung Nymphenburg: Vorbemerkung angesichts der jährlichen Planungsbesprechung vom 16. August 1966, Flossenbürg 6/8, Schriftwechsel 1965–1972. Schlösserverwaltung Nymphenburg: Vorentwurf zum KZ-Ehrenfriedhof Flossenbürg vom 11. Juli 1955, Ordner 6/1, Neugestaltung 1953–1955. Schmidt, Alexander: »Geschichte auf zwei Ebenen – Die neue Dauerausstellung ›Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945‹«, in: Dachauer Hefte 23 (2007), S. 236–246. Skriebeleit, Jörg: Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder, Göttingen 2009.

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Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum Versuche abstrakter Veranschaulichung von inhaltlich-räumlichen Beziehungen

»Erfahrung ist die Hauptquelle aller Erkenntnis. Die Erfahrung ist abhängig von Raum und Zeit.« Arthur Schopenhauer 1

In Ausstellungen geht es in erster Linie darum, eine Geschichte zu erzählen. Das gilt in besonderem Maße auch für Erinnerungsstätten. Das Faszinierende dabei ist weniger die kreative Ausstellungsgestaltung als die Geschichte selbst – wenn sie nur gut erzählt wird. Die nachfolgenden Beispiele aus der Entwurfspraxis von Bertron-Schwarz-Frey 2 zeigen Möglichkeiten auf, wie der Raum als Mittel zur Wissensorganisation eingesetzt wird, um Inhalte in sinnvoller Weise anzuordnen und Informationen verständlich zu vermitteln. Gleichermaßen geht es auch darum, die Ausstellung als eigenständiges Medium zu begreifen, das sich von anderen Medien, wie dem Buch oder dem Film, unterscheidet. Es liegt im Wesen des Museums, seine Geschichten anhand von Objekten zu erzählen. Die Doktrin »Lasst Objekte sprechen« hat sich jedoch längst relativiert. Das Objekt selbst ist eigentlich stumm – seine Bedeutung muss entschlüsselt werden. Das setzt voraus, dass die Betrachtenden das Objekt bereits in seiner Grundfunktion kennen, also einen Zugang haben. Dabei hängt Verstehen vom Kulturkreis ab, mit dem das Objekt in Zusammenhang steht. Ein Beispiel dafür ist die Videoarbeit mit dem Titel »Kago« eines Studenten, 3 der in Papua Neuguinea einen Eierschneider als Gastgeschenk übergab, in dem Wissen, dass der Empfänger keine Ahnung hat, wofür das Ding zu gebrauchen ist. Gleichzeitig war klar, dass 1

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, Leipzig 1919, S. 507. 2 Der vorliegende Artikel entstand durch intensiven Dialog mit Aurelia Bertron und repräsentiert ihren analytisch-assoziativen Entwurfsansatz. 3 Ich beziehe mich hier auf die Vorarbeiten zu einem Video mit dem Titel »Kago« von Denis Bivour, Universität der Künste, Berlin 2006.

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sich an dem Gegenstand eine Kommunikation entwickelt, die von den beiden Beteiligten als neue Erfahrung aufgenommen wird. Das Beispiel ist deshalb so interessant, weil es sehr anschaulich verdeutlicht, wie man einerseits über Objekte sprechen muss und andererseits sich Objekte in besonderem Maße dazu eignen, miteinander ins Gespräch zu kommen – wobei die Kommunikation, wie im Fall oben genannter Videoarbeit, sogar ohne Kenntnis einer gemeinsamen Sprache stattfinden kann.

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Geführter Rundgang Individueller Rundgang Audioguide Beschriftungen Informationsflächen Medien Authentische Präsentation Museale Präsentation Didaktische Präsentation Szenische Präsentation Inventar, Exponate, Objekte Haus, Ausstattung

Bei der Kommunikation mithilfe von Objekten kommt es auch darauf an, wie das Objekt präsentiert wird. Die vielleicht erfolgreichste Präsentation eines Gegenstandes ist, wenn sie durch eine Person erfolgt. Der Gestus, wie das Ding übergeben wird, die Art und Weise der Erklärung, die menschliche Präsenz, das alles spielt dabei eine große Rolle. In Ausstellungen kommt es darauf an, auf welche Weise sich die Objekte dem Publikum darbieten. Zimelien verlangen eine andere Präsentationsform als dokumentarische Schriftstücke. Eine sorgfältige, analytische Betrachtung der Triade Objekt/Präsentation/Information hilft der Ausstellungsgestaltung bei der Entscheidung über den ästhetischen Duktus und der Beantwortung essenzieller Fragen, wie: Um welche Art von Objekten handelt es sich? Wie sollen die Objekte präsentiert werden? Was erfährt das Publikum über das präsentierte Objekt? Wie vermitteln sich die Informationen und welche Medien kommen zum Einsatz?

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Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

Dienstag, 17. April 1945

Zerstörung Brettheims Dienstag, 10. April 1945

19:30 Uhr, Friedhof Brettheim Hinrichtung Dienstag, 10. April 1945

15:30 Uhr, Schloss Schillingsfürst 2. Standgericht und Todesurteil Montag, 9. April 1945

NSDAP-Kreisleitung Rothenburg Verkündung des Todesurteils Samstag, 7. April 1945

20:00 Uhr, Rathaus Brettheim Verhör und Standgericht Samstag, 7. April 1945

8:30 Uhr, Molkerei Entwaffnung

Chronologische Anordnung In klassischer Weise erzählt das Museum seine Geschichten anhand von Objekten, die Erzählstruktur ist in der Regel chronologisch. Die zeitliche Anordnung ist logisch, nachvollziehbar und leicht verständlich – aber sie birgt auch immer die Gefahr, durch die Vorhersehbarkeit der Reihenfolge langweilig zu erscheinen. Ein Ereignis folgt dem nächsten und dies bedingt in chronologisch organisierten Raumabläufen zwangsläufig eine lineare Struktur und weist damit Gemeinsamkeiten mit dem Medium Film auf. Bei der Rezeption eines Films sitzt das Publikum statisch auf seinem Platz und der Eindruck, sich scheinbar durch Räume zu bewegen, entsteht durch filmische Mittel, wie Kamerafahrt, Schwenk und Zoom. Das Gegenteil findet beim Medium Ausstellung statt. Die Räume sind statisch und es ist das Publikum selbst, das sich durch die Räume hindurch bewegt. Vergleichbar mit dem Film ist der vorgegebene Ablauf durch einen geplanten Rundgang festgelegt. Der chronologische Aufbau geht davon aus, dass sich die Geschehnisse durch ihre zeitlich bedingte Reihenfolge erklären. Dies macht da Sinn, wo sich die zu erzählende Geschichte gerade durch die Zwangsläufigkeit aufeinander folgender Handlungen als Ereigniskette erschließt. Die Abfolgen der zeitlichen

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Ereignisse werden durch eine chronologische Struktur im Raum ebenfalls als aufeinanderfolgende Ereignisse gelesen. Die Chronologie ist also ein striktes Nacheinander, das durch seine zwingende Folge die Informationen in ihrer zeitlichen Abhängigkeit wiedergibt. So kann, wie im Fallbeispiel der Erinnerungsstätte mit Namen »Die Männer von Brettheim«, eine Tragödie durch ihr Ende in der Katharsis als Lehrstück sehr nachhaltige Erkenntnisse vermitteln. Die Ausstellung der Erinnerungsstätte in Brettheim erzählt die Geschehnisse zwischen dem 7. und 17. April 1945 in grausam-minutiöser Chronologie. Ihre gestalterische Qualität bezieht sie durch die absolute Konzentration auf die wesentlichsten Fakten, die sich über strikt chronologisch angeordnete Texttafeln erschließen. Dem Ausstellungselement Texttafel fällt dabei eine besondere Rolle zu: Es ist das Wort, das hier seine ganze Wirkungskraft entfaltet, indem es eine neue Interpretation des Formates »Bühnenbild mit gesprochener Aufführung« erfindet. Aus authentischen Sentenzen wird, wie bei einem Bühnenstück, ein Ausstellungsstück geschrieben.4 Szenografisch ist der Rundgang so angeordnet, dass sich im Heute, in der Ausstellung der Erinnerungsstätte »Die Männer von Brettheim«, Opfer und Täter gegenüberliegend erneut konfrontieren – eingerahmt durch einen vorangestellten Raum mit dem Thema »Erziehung zum Krieg« und einem abschließenden Segment »Nachkriegsprozesse«, um so den Kontextbezug zu den Geschehnissen herzustellen. Der Handlungsstrang der Ausstellung erschließt sich auf zwei Ebenen, schildert die Geschichte aus zwei Perspektiven.5 Einerseits geschieht die Schilderung subjektiv, durch ein Zitat wörtlicher Rede: »Wir wollten den Jungen deswegen die Waffen wegnehmen, weil wir nicht wollten, daß diese mit den Waffen irgendetwas unternehmen und der Amerikaner uns dafür dann das Dorf zerstört.«6Andererseits wird objektiv durch Fakten, die durch historische Dokumente belegt sind, berichtet: »Entwaffnung in Brettheim: Der Bauer Hanselmann, Gemeindediener Uhl und Bauer Knauer nehmen den Hitlerjungen die Waffen ab und Molkerei-Lehrling Schwarzenberger versenkt die Waffen dann im Dorfteich.«7 4

Vgl. Schultheiß, Hans: »Ausstellungskonzeption«, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.), Die Männer von Brettheim, Villingen-Schwenningen 1993, S. 166. 5 Vgl. Schwarz, Ulrich: »Museografie einer Geschichte«, in: ebd., S. 173. 6 Text der Ausstellungstafel in der Erinnerungsstätte »Die Männer von Brettheim« im Ortsteil Brettheim der Gemeinde Rot am See. 7 Ebd.

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Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

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Samtene Revolution

Prager Frühling

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1968 Kommunistischer Umsturz

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Münchner Abkommen

Staatsgründung

Verräumlichung des Zeitstrahls Geschichte verläuft zwar in zeitlicher Folge chronologisch, aber nicht immer zwangsläufig geradlinig. Die Ausstellung »Nähe und Ferne – Deutsche, Tschechen und Slowaken« im Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum des Hauses der Geschichte zeigte eine räumliche Umsetzung der Brüche in den deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen. Das Gestaltungskonzept zeigt, wie Schlüsseljahre die Wendepunkte in der Geschichte markieren. Dies ist in der Ausstellung umgesetzt durch überdimensionale Jahreszahlen, die als Projektionsfläche ikonische Bilder zeigen und gleichsam als Metapher dafür stehen, dass es sich um Ereignisse handelt, die ihre Schatten weit voraus auf kommende historische Entwicklungen werfen. Die grafische Visualisierung ist zugleich das Konzept für die räumliche Anordnung, die auch eine weitere Besonderheit veranschaulicht, nämlich, dass es Entwicklungen mit unterschiedlichen Zeitläufen zwischen 1938 und 1968 gibt, die parallel verlaufen.

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Achse der Information

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Bevölk eru ng Täter Opfe r

Achse des Gedenkens Memorialer Bereich

Inhaltliche Achsen Die Erschließung eines Themas durch die Verortung der Erzählstränge auf einem Gelände veranschaulicht der Wettbewerbsentwurf für den ehemaligen »SS-Schießplatz Hebertshausen« der KZ-Gedenkstätte Dachau. Der Entwurf zeigt die Intention, den Ort, das Freigelände, in seiner geschichtlichen Nutzung und Bedeutung lesbar zu machen. Ursprünglich war der Ort als Schießplatz zum Erlernen des Schießens angelegt. In der Folge wurde der Ort Hinrichtungsstätte und Friedhof. Die geplante Neugestaltung als Ort des Gedenkens, der Information und Dokumentation sollte das Gelände für Besucher/-innen erschließen. Der Entwurf stellt die Opfer inhaltlich wie räumlich in den Mittelund Kreuzungspunkt zwischen emotionalem Gedenken und rationaler Dokumentation. Ein Weg des Gedenkens sollte entlang der Schutzwälle des Schießplatzes führen und sich im überwucherten Gelände verlieren. »Am Ende gibt es nichts mehr zu schauen.« Diese Erkenntnis entsteht durch geistige Auseinandersetzung, und letztlich ist es das Vorstellungsvermögen, das Empathie erzeugt. Die Positionierung der Themen im Raum sortiert diese in hierarchischer Ordnung und lässt so ihre Wichtigkeit ablesen – was im Zentrum der Überlegungen steht und was eher in der Peripherie zu suchen ist. Die

Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

Achse des Gedenkens widmet sich dem emotionalen Zugang, die Achse der Information kommt dagegen dem Wunsch nach rationaler Erklärung und Verstehen entgegen.

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Geografische Verortung Was verbindet uns mit der Heimat? Für viele bezieht sich das Gefühl von Heimat mehr auf Erfahrungen der Vergangenheit als auf die Gegenwart. Heimat ist meist verknüpft mit Erinnerungen an Personen aber auch mit Orten und Landschaften. »Natur kennt keine Grenzen.« – Dies war der Leitgedanke des Beitrags von Bertron-Schwarz-Frey zu einem Wettbewerb der Stiftung Flucht-Vertreibung-Versöhnung für eine Ausstellung, die sich mit dem Thema Zwangsmigration im Mitteleuropa des letzten und vorletzten Jahrhunderts beschäftigt, einem Thema, das zu besonderer Sorgfalt und Ernsthaftigkeit verpflichtet. Das Konzept für die gestalterische Umsetzung dazu lautete »Sachlichkeit und Empathie«. Es sollte als Landkarte zur geografischen Einordnung dienen, aber auch als emotionaler Zugang durch die Verbindung der Orte mit Berichten von Zeitzeug/-innen. Die Erzeugung von Empathie erfolgt nicht über suggestive Bilderwelten, sondern über die inhaltliche Aufbereitung und die Darstellung individueller Schicksale. Immer wenn Zeitzeug/-innen sprechen und Geschichten anhand von Schlüsselobjekten erzählt werden, entsteht ein emotionaler Bezug.

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Der Entwurf zeigt die zeitlich-örtlichen Beziehungen auf einer raumgreifenden, in den Boden gefrästen geografischen Karte. Diese Karte zeigt zur Orientierung lediglich Ortsnamen und Gewässer, jedoch keine Grenzen, denn diese verliefen nicht zu jeder Zeit gleich. Es geht um die Orte selbst, an welchen sich jeweils Auslasspunkte befinden, an denen über bewegliche Hörrohre authentische Berichte von Zeitzeug/-innen eingespielt werden.

Raum als Metapher Die Geiselnahme von München 1972 durchschneidet die Lebenslinie von elf israelischen Sportlern. Der Entwurf für den Erinnerungsort »Olympia-Attentat 1972«8 folgt der landschaftsplanerischen Idee des Olympiaparks. Die Hügellandschaft steht für die Intension der »heiteren Spiele« und konfrontiert das Heitere und Unbeschwerte der Landschaft mit der Geschichte des Attentats von 1972. Im Kontrast zur lieblichen Landschaft steht eine 22  Meter lange Stahlscheibe, die sich in den Biografie-Pfad schneidet. Die kantige, schwarze Scheibe schafft als Fremdkörper den ersten Blickpunkt der szenografischen Anordnung und bietet das Tableau für die strikt chronologische Erzählung des Ablaufes der 22 Stunden mit tragischem Ende. Die absolut analoge Anordnung der Geschehnisse auf diesem Zeitstrahl macht nicht nur die Folge der Aktivitäten, sondern auch die aus 8

Der Entwurf ist ein gemeinsamer Wettbewerbsbeitrag aus dem Jahr 2014 von Bertron-Schwarz-Frey mit Betcke Jarosch Landschaftsarchitekten und Art+Com, Berlin sowie Tehiru Architekten, Tel Aviv.

Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

heutiger Sicht unendlich langen Wartezeiten ablesbar. Kerninformation hier ist die Tatsache, der Bericht. Die Schilderung der Geschehnisse auf dem Zeitstrahl erfolgt ohne Abbildungen, ausschließlich durch den Text. Ebenso sind die Schilderungen der Biografien der Opfer dauerhaft aufgedruckt. Die Präsenz des Textes sorgt dafür, dass die wichtigsten Inhalte immer verfügbar sind. Es ist das Wort, das bleibt. Alle dazu gehörenden weiteren Informationen, wie Tondokumente, Kommentare, Erklärungen, Bilder und Filmsequenzen sind optional abrufbar.

Raum-Zeit-Bezug durch geschichtliche Überblendungen In München entsteht ein NS-Dokumentationszentrum als gemeinsames Projekt der Landeshauptstadt München, dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland. Auf dem Gelände des früheren »Braunen Hauses« soll nun ein Lern- und Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus eingerichtet werden. Der neue Bau9 stellt dazu historische Sichtbeziehungen her. Große Glasflächen geben Ausblicke auf die umliegenden Gebäude. Diese Ausblicke sind quasi Fenster in die Geschichte. Für die Besuchenden ist es interessant zu erfahren, was sich einmal an den betreffenden Orten befunden hat. Wo heute die »Staatlichen Graphischen Sammlungen« sind, waren früher Verwaltungsbauten der NSDAP. Auf dem Königsplatz befand sich ein Ehrentempel, anstelle der Hochschule für Musik und Theater war der Führerbau und in Richtung Karolinenplatz befand sich das Parteiviertel. Für die Ausstellungsgestaltung lassen sich die folgenden raum- und sichtachsenbezogenen Themen zuordnen: die Propaganda, die Zerstörung Münchens, die Bücherverbrennung auf dem Königsplatz und der Einmarsch ins Sudetenland. Hier stellt sich die Aufgabe, den Blick

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Architektur: Georg-Scheel-Wenzel, Berlin 2009.

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auf die reale Situation der Gegenwart mit den historischen Bildern zu konfrontieren. Die Idee, die Realität mit diesen historischen Bildern zu überblenden, kann durch neuartige, im Bereich des Bühnenbildes bereits bekannte LED-Netze umgesetzt werden.10 Man muss sich das so vorstellen, dass die gesamte Fensterfläche durch ein halbtransparentes Netz überlagert wird, das den Blick nach außen zulässt. Schlüsselfotos, wie zum Beispiel Aufmärsche auf dem Königsplatz, ziehen wie dunkle Wolken vor die heutige Aussicht. Die räumliche Strukturierung ist zugleich inhaltliche Strukturierung, welche die Ausblicke und Einsichten unterscheidet.

Raum und Wahrnehmung Im Alltag nehmen wir den Raum, der uns umgibt, mit großer Selbstverständlichkeit wahr. Wir erleben ihn intuitiv in seinen euklidischen Dimensionen – Breite, Höhe, Tiefe. Der wahrgenommene Raum wird bestimmt durch seine Grenzen und die Lagerelation der Dinge, die sich in ihm befinden. Der Ausblick aus einem Innenraum nach draußen bringt zwei verschiedene Räume in Beziehung zueinander. In Ausstellungen kann eine Situation erwünscht sein, bei der die Besuchenden durch den Blick nach draußen eine inhaltliche Beziehung zum Thema herstellen und damit einen Erkenntnis-Mehrwert erlangen.11 10

Diese Idee stammt aus dem nicht realisierten Wettbewerbsbeitrag von BertronSchwarz-Frey zur Einrichtung der Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrum München 2012. 11 Als Beispiel möchte ich hier das Besucherzentrum UNESCO-Welterbe Regensburg mit dem Blick auf die Altstadt durch ein mediales Fernrohr mit Überblendungen in die Vergangenheit anführen.

Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

Als Mittel, die Beziehung von innen nach außen zu inszenieren, kann eine gestalterische Betonung des Fensterrahmens als Wahrnehmungsrahmen dienen – die Idee des »gelenkten Blicks«12. So wird der Blick auf die Berliner Mauer durch das Alltagsgeschehen (vorbeigehende Menschen, Fahrradfahrende, Autos etc.) abgelenkt und überlagert. Gegenstände erreichen durch ihre Bewegung mehr Aufmerksamkeit als das Objekt, um das es eigentlich geht: die Mauer. Die Aufstellung von Wandelementen beeinflusst den Blickwinkel, verengende Flächen fokussieren den Blick auf die Mauer. Durch die ausschnitthafte Betrachtung entsteht eine Art Standbild. Vorbeiziehende Elemente sind nur kurze Zeit sichtbar, das Auge folgt ihnen nicht. Ziel des Ausstellungsentwurfs ist eine Fokussierung, in diesem Fall also der bewusste Blick auf die Mauer. Der Blick wird konzentriert, durch eine Verengung des Blicks soll der Erkenntnishorizont erweitert werden.13

Der Raum als Beziehungsgefüge Erinnerungen werden mit Orten und Gegenständen verknüpft. Darüber hinaus kann der Raum ein Beziehungsgefüge sein, das sowohl der Erinnerung als auch der Informationsvermittlung gleichsam als Erkenntnisinstrument dient. Räumliche Beziehungen können abstrakte inhaltliche Beziehungen auf klärende Weise veranschaulichen. In diesem Sinne kann man auch den Raum als eigenständiges Medium verstehen. Das Ausstellungsprojekt »was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg« in der Oberpfalz behandelt die Geschichte von der Befreiung des Lagers im April 1945 bis heute. Das Konzept zur Ausstellungsgestaltung beschreibt die Möglichkeiten einer künstlerisch-gestalterischen Übersetzung von geschichtsbezogenen Archiven in eine medial erfahrbare, räumliche Museografie. Das »Interface«, also die Benutzeroberfläche des Archivs, ist der Raum. Dieser fungiert als Denkmodell und Erkenntnishilfe.

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Aurelia Bertron hat diese Idee des gelenkten Blicks in der Entwurfssitzung zum nicht realisierten Wettbewerbsbeitrag für das Gestaltungskonzept der Dauerausstellung des Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Berliner Mauer am 14.06.2012 eingebracht. 13 Vgl. Aurelia Bertron: Entwurfssitzung zum Wettbewerb »Berliner Mauer«.

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Modus 1: Filmsequenzen Modus 2: Rezeptionsgeschichte, Text Modus 3: Kontext, Foto

Paradigmenwechsel 14 Recherchen zum allgemeinen Duktus von Gedenkstätten haben ergeben, dass der Formenkanon gekennzeichnet ist durch funktionale Text-Bild-Anordnungen mit strikt dokumentarischem Charakter, eine streng chronologische Anordnung, semantisch neutrale Typografie und gedeckte Farbgebung. Gängige Darstellungen repräsentieren zwar in glaubwürdiger Weise die geschichtliche Realität, jedoch handelt es sich dabei überdeutlich um das Präteritum, um Handlungen und Vorgänge, die in der Vergangenheit abgeschlossen wurden und die keinen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart haben. Es stellt sich die Frage, wieweit man sich von diesem allgemeinen, ausschließlich vergangenheitsbezogenen Gedenkstätten-Design entfernen kann, ohne Gefahr zu laufen, eine dem Thema unangemessene Darstellung zu entwerfen. 14

Vgl. :dasa (Hg): Szenografie in Ausstellungen und Museen VI, Zwischenräume – Wandel und Übergang. Aussichten – zur Öffnung des Unverhofften, Essen 2014, S. 143 ff.

Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

Alte Medienformate neu interpretiert Gegliedert ist die Ausstellung wie ein klassisches Drama, mit Prolog und Epilog. Im Foyer bezieht eine raumgreifende Medieninstallation die Anwesenden mit ein. Projektoren werfen Zitate von Besucher/-innen auf die Wände. Das projizierte Zitat bleibt für gewisse Zeit präsent, bevor es dann wieder verschwindet. Die Besucher/-innen sehen ihre eigenen Schatten an der Wand, so können sie sich selbst in Beziehung zu den Zitaten setzen und die Reaktionen, Eindrücke, Meinungen und Fragen an die Geschichte reflektieren. Der Hauptteil durchbricht mit einem neu interpretierten Medienformat, das mit der Verfremdung von bewegtem Bild und separiertem Ton arbeitet, die gängigen Wahrnehmungsmuster. Die ausgestellten Objekte dagegen präsentieren sich in gewohnter Weise, sind jedoch zusätzlich mit originalen Tondokumenten kombiniert.

Denken im Raum Die Struktur ordnet sich im Prinzip chronologisch – erweitert sich jedoch durch eine Gliederung in die vier Betrachtungsaspekte: Ort – Erinnerung – Überlebende – Täter. Originale Objekte belegen die Geschichte und bieten thematische Bezüge. Die Präsentation erfolgt klassisch, in jeweils auf das Objekt speziell abgestimmten Vitrinen. Die Objektpräsentationen sind teilweise mit Audio-Installationen kombiniert, die Originaltexte über gerichtete Lautsprecher abspielen. Die Hör-Dokumente haben ebenso wie originale Objekte authentischen Charakter. Gesprochene Sprache erzeugt bei den Zuhörenden ein eigenes, inneres Bild und beglaubigt außerdem, zum Beispiel bei Berichten von Zeitzeug/-innen, die abstrakten historischen Darstellungen. Akustische Medien sind auch in besonderem Maße dazu geeignet, Emotionen zu erzeugen. Kaum jemandem kommen beim Anblick eines Bildes oder beim Lesen eines Textes Tränen – dagegen lösen Musik und erzählte Geschichten sehr starke Emotionen in uns aus. Das »Hinsehen müssen« bei Abbildungen des Gräuels wird ersetzt durch ein »Hinhören müssen«. Das Abstoßende und Distanzierende wird ersetzt durch Erkenntnis und Empathie. Der Wandel der Geschichte gliedert sich in definierbare Zeitphasen: Schwellensituation – Übergang – Schlussstrich – Verdrängen und

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Vergessen – selektives Erinnern – Wiederentdeckung – europäischer Gedenkort. Die Geschichte ist linear in Zeitschnitten angeordnet. Neu ist eine zusätzliche Gliederung in thematische Handlungsstränge, die sowohl für sich als auch in ihren Beziehungen zueinander durch ihre Verortung im Raum ablesbar werden. Das Ziel ist die Vergegenständlichung der Zeit durch den Raum. Anstelle von einem strikten Nacheinander, einer zwangsweise vorgegebenen Reihenfolge, steht ein strukturiertes Nebeneinander von Informationen und Vermittlungsformen, das Bezüge erkennen und Schlüsse ziehen lässt. Die Wissensaneignung leistet das Publikum autonom. Eine Reihenfolge ist nicht vorgegeben. Die klare, übersichtliche Anordnung der einzelnen Ausstellungselemente – Vitrinen, Hörstationen und synchronoptische Medienwand – bietet jedoch jederzeit, an jeder Stelle, eine zeitliche und thematische Orientierung und Zuordnung. Dieser neue Ansatz begreift das Denken als offenes System, mit dem Ziel, Erkenntnis durch Lesbarkeit von Zusammenhängen zu erreichen. Wie bereits erwähnt, ist das »Interface«, die Benutzeroberfläche, dabei der Raum. Die räumliche Anordnung macht Beziehungen und Zusammenhänge lesbar. Mit der synchronoptischen Medienwand wurde eine neue Darstellungsform gefunden. Bewegte Bilder – animierte Fotografien, Darstellungen, Zeichnungen und Erläuterungen – vermitteln sich ohne zusätzlichen Ton. Dieser Verfremdungseffekt bindet in erstaunlichem Maße die Aufmerksamkeit des Publikums und bringt das historische Material in seiner dokumentarischen Kraft besser zur Geltung. Filmdokumenten haftet durch die spezifischen technischen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind, häufig etwas an, das unter Umständen dem Verständnis und einer objektiven Bewertung des Gesehenen entgegenwirkt. Nimmt man z.B. bei Aufzeichnungen von Nachkriegsprozessen den für die Zeit typischen, bellenden Ton weg, entsteht ein wesentlich neutraleres, einfacher wahrzunehmendes und verständlicheres Bild. Die Medienwand der Ausstellung »was bleibt« ist klassischen Ausstellungstafeln überlegen; sie bietet auf relativ begrenztem Raum, autoaktiv gesteuert, drei verschiedene Modi: Modus A: Modus B: Modus C:

Bewegtbild – Unmittelbarer Bezug zu Flossenbürg Text – Ereignisse aus der Rezeptionsgeschichte Bild – Ikonen zur Zeitgeschichte nach 1945

Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

Am Ende gibt die Ausstellung den Blick frei auf den ehemaligen Appellplatz, das Zentrum des Häftlingslagers. Diese Konfrontation bietet Raum zur Reflexion. Der Titel »was bleibt« stellt hier gleichzeitig die Frage »was wird?«. Die Ausstellung zeigt, wann und wie die Verbrechen in einem bestimmten KZ-Komplex erinnert oder vergessen wurden. Sie zeigt auch, dass das Erinnern, die Aufmerksamkeit für die Opfer und das Bewahren von Spuren lange Zeit nicht selbstverständlich waren. Und sie zeigt damit nicht zuletzt, dass die Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg kein geschichtliches Phänomen sind, sondern bis in die Gegenwart zur Auseinandersetzung herausfordern. Das Ausstellungsprojekt »KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Wiederentdeckung eines europäischen Erinnerungsortes« beschreibt mit seinen neuen Vermittlungsformen die Möglichkeiten einer künstlerisch-gestalterischen Übersetzung und einer Wandlung von geschichtsbezogenen Themen in medial erfahrbare, räumliche Museografien, die zum Ziel haben, zu Auseinandersetzungen anzuregen und das Gestern mit dem Heute und Morgen in Beziehung zu setzen. Die Ausstellung »was bleibt« beschreibt einen Aggregatzustand der gegenwärtigen Erinnerungskultur.15 In Flossenbürg wurde dazu folgender Paradigmenwechsel vollzogen: parkähnliche Friedhofsanlage → »arbeitende« Gedenkstätte Darstellung im Präteritum → Denken im Präsens Verallgemeinerte Darstellung → Zeitzeugen Berichte »Gedenk-Establishment« → Erkenntnis Instrument abstoßende Distanz → empathische Nähe Inszenierung der Schrecken → sachliche Darstellung strikt dokumentarisch → didaktisch interpretativ kontextualisiert fokussiert → → autonome Wissensaneignung vorgegebener Rundgang statische Text-Bild-Tafeln → dynamische Medien

15

Vgl. Skriebeleit, Jörg: »Nachwirkungen und Perspektiven – Eine Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungskultur«, in KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.), Was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg. Katalog zur Dauerausstellung, Göttingen 2011, S. 9 f.

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Ulrich Schwarz

Für Gestalter/-innen bedeutet das: Entwerfen heißt verändern, Neues in die Welt bringen und nicht Altes wiederholen. Dies muss aber auch immer mit der Option des Verwerfens einhergehen. Mitzudenken bleibt ebenfalls, dass das Entwerfen auch eine Entsprechung im »Entbergen«16 hat. Entwerfen ist das Arbeiten am Übergang von einem Zustand zu einem anderen. Entwerfen ist Projektion im Sinne von »hinauswerfen«17, vorauswerfen. Diese Maximen gelten nicht nur für die Gestaltung von Gedenkstätten, sondern sind kennzeichnend für die gesamte Entwurfsarbeit.

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Vgl. zum Entbergen im Sinne aufschlussreichen Erkennens Zielinski, Siegfried: Entwerfen und Entbergen – Aspekte einer Genealogie der Projektion, Köln 2010, S. 55. 17 Vgl. ebd., S. 6, mit Bezug auf Knapp, Ernst: Philosophie der Technik, Braunschweig 1877, S. 30–31.

Der Zugang zur Erkenntnis über den Raum

Literatur :dasa (Hg): Szenografie in Ausstellungen und Museen VI, Zwischenräume – Wandel und Übergang. Aussichten – zur Öffnung des Unverhofften, Essen 2014. Knapp, Ernst: Philosophie der Technik, Braunschweig 1877. KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.): was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg. Katalog zur Dauerausstellung, Göttingen 2011. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, Leipzig 1919. Schultheiß, Hans: »Ausstellungskonzeption«, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.), Die Männer von Brettheim, Villingen-Schwenningen 1993. Schwarz, Ulrich: »Museografie einer Geschichte«, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.), Die Männer von Brettheim, Villingen-Schwenningen 1993. Skriebeleit, Jörg: »Nachwirkungen und Perspektiven – Eine Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungskultur, in: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Hg.), Was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg. Katalog zur Dauerausstellung, Göttingen 2011. Zielinski, Siegfried: Entwerfen und Entbergen – Aspekte einer Genealogie der Projektion, Köln 2010.

Film Bivour, Denis: Video mit dem Titel »Kago«, Universität der Künste Berlin, 2006

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Christian Dürr

Von Mauthausen nach Gusen und zurück Verlassene Konzentrationslager – Gedenkstätten – traumatische Orte

Theoretische Annäherung: das »primordiale 1 Verbrechen« Wie der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek festgestellt hat, liegt jeder Ordnung – sei sie sozialer, politischer oder sonstiger Art – eine ursprüngliche Verdrängung zugrunde, die sie gegen andere mögliche, aber nicht realisierte Ordnungen durchsetzt. Die Verdrängung basiert wiederum auf einem gewalttätigen Gründungsakt, einem »primordialen Verbrechen«. Dieses liegt am Ursprung jeder »Geschichte« und bleibt bis hinein in die Gegenwart in ihr konstitutiv präsent.2 Die durchgesetzte Ordnung kann dennoch nie endgültig und permanent sein. Ihr Gründungsakt muss immer wieder symbolisch wiederholt werden, um wirksam zu bleiben. Die Ordnung bleibt so in Wahrheit ein offenes Feld von Kämpfen und Auseinandersetzungen. Dieses Feld markiert das, was die Psychoanalyse nach Lacan als »das Reale« bezeichnet. Um diesen ewigen »Fluss des Realen« zumindest temporär zu stabilisieren, um ihre immanente Negativität in positive Begriffe zu fassen, etabliert die menschliche Kultur symbolische Systeme. Diese übersetzen das Reale zum einen in ein System synchronischer Identitäten und Begriffe, zum anderen in eine Abfolge diachronischer historischer Ereignisse. Der Fluss des Realen wird somit in einzelnen Momenten und einzelnen Identitäten temporär »eingefroren«. Das zugrunde liegende Verbrechen wird historisiert. 1

Vgl. Duden: primordial: von erster Ordnung, uranfänglich, ursprünglich seiend, das Ur-Ich betreffend (nach Husserl). 2 Vgl. Žižek, Slavoj: Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000, S. 111–113. Žižek schreibt dort auf Seite 112: »Wenn man von einem narrativen Muster zu einem anderen übergeht, das es uns gewissermaßen ermöglicht, ›die Vergangenheit umzuschreiben‹, muss das neue ›Beschreibungsvokabular‹ den traumatischen Exzess seiner eigenen gewaltsamen Durchsetzung ausschließen bzw. verdrängen.«

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Christian Dürr

»Geschichte« ist eigentlich ein ambivalenter Begriff, der sich auf unauflösbar widersprüchliche Weise sowohl auf die Ebene des Realen als auch auf die des Symbolischen bezieht, auf das historische Ereignis ebenso wie auf die historische Erzählung.3 In »der Geschichte« nimmt das Ereignis die Gestalt der Erzählung an, und die Erzählung erscheint als Ereignis. Historische Ereignisse wie etwa »der Holocaust« – das ist dem Namen bereits immanent – sind gleichzeitig einzigartig und paradigmatisch4 und beziehen gerade aus dieser Spannung ihre besondere Bedeutungskraft. Aus dieser Sicht ist die historische Erzählung nichts anderes als die andere Seite des historischen Ereignisses. Sie ist gewissermaßen seine Verlängerung, seine »symbolische Vollendung«5. Allem, was wir herkömmlicherweise als Prozesse der »Memorialisierung« bezeichnen – die symbolische Repräsentation des kollektiven Gedächtnisses in Denkmälern, Gedenkorten und Ähnlichem –, ist dieses Moment der »symbolischen Vollendung« als Praxis immanent. Die Memorialisierung bildet Geschichte nicht nur ab, sondern bringt sie gleichsam »zu einem Ende« – ein Ende das, wie wir noch sehen werden, jedoch selbst nur temporär sein kann. Anstatt die verdrängte, verlorene Vergangenheit zu evozieren, ist ihre Funktion zumeist die der Affirmation der Gegenwart und ihrer symbolischen Ordnung. Dieser Artikel unternimmt den Versuch, sich zweier ähnlicher und doch unterschiedlicher Orte vor dem skizzierten theoretischen Hintergrund anzunähern: die beiden »verlassenen Konzentrationslager« Mauthausen und Gusen. Die Verbrechen, die an diesen beiden Orten begangen wurden, sind einerseits Quelle und Ursprung einer Vielzahl daran anknüpfender Zeichen, Erzählungen und manchmal auch Mythen. Andererseits markieren sie aber genau jenen Abgrund, der jeder positiven Sinnbildung eine Grenze setzt, den kein Zeichen und keine Erzählung letztlich zu fassen vermögen. Ich werde versuchen, diese beiden Orte als »Gedenkort« – im Fall von Mauthausen – und »traumatischen Ort« – im Fall Gusen – schematisch gegenüberzustellen. Zugleich wird diese 3

Vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991. 4 Für eine Diskussion dieser Thematik vgl. etwa das Kapitel von Bauer, Yehuda: »Is the Holocaust Explicable?«, in: Rethinking the Holocaust, New Haven/London 2001, S. 14–38. 5 Das Konzept der »symbolischen Vollendung« (»realización simbólica«) übernehme ich von Feierstein, Daniel: El genocidio como práctica social. Entre el nazismo y la experiencia argentina, Buenos Aires 2007.

Von Mauthausen nach Gusen und zurück

Gegenüberstellung am Ende jedoch in einem Konzept von »verlassenen Konzentrationslagern« als »polyvalente Orte« wieder aufgelöst werden.

Verbrechen und Staatsmythos in der Zweiten Republik Seit der Unabhängigkeitserklärung Österreichs am 27. April 1945 war das offizielle Selbstverständnis der Zweiten Republik im Hinblick auf die Zeit zwischen 1938 und 1945 von einer wesentlichen Annahme geprägt: Österreich war das erste Opfer Hitlerdeutschlands. Mit Heidemarie Uhl lässt sich dieser mindestens bis in die 1980er-Jahre, teilweise darüber hinaus wirksame offizielle Staatsmythos folgendermaßen zusammenfassen: »Österreich wurde im März 1938 gewaltsam besetzt und im April/ Mai 1945 vom österreichischen Widerstand und den Alliierten befreit. Die Jahre 1938 bis 1945 wurden als Fremdherrschaft dargestellt und – soweit es um den österreichischen Anteil ging – unter dem Aspekt von Widerstand und Verfolgung, vor allem aber als Kampf um die Befreiung Österreichs betrachtet.«6

Diese nach innen wie nach außen gültige Selbstdarstellung der neu gegründeten Republik konnte sich dabei auf die Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister vom 30. Oktober 1943 stützen, welche die wesentlichen Eckpunkte einer späteren europäischen Nachkriegsordnung regeln sollte. In ihr wurde auch der Wille zum Ausdruck gebracht, Österreich, »das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte«7, als unabhängigen Staat wiederherzustellen. Die Alliierten behielten sich aber eine endgültige Entscheidung darüber vor, wie mit Österreich nach dem Krieg zu verfahren sei, und machten dies von einer Bedingung anhängig: »Österreich wird aber auch daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und daß anläßlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.«8 6

Uhl, Heidemarie: »Das ›erste Opfer‹. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik«, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30/1 (2001), S. 21. 7 Verosta, Stephan: Die internationale Stellung Österreichs. Eine Sammlung von Erklärungen und Verträgen aus den Jahren 1938 bis 1947, Wien 1947, S. 52 f. 8 Ebd.

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Diese Betonung des Widerstands gegen das »Hitlerregime« war für die Zweite Republik in der Nachkriegszeit daher mehr als nur »Geschichtskosmetik«. Sie war Bedingung für die Möglichkeit der Neugründung eines unabhängigen Staates. Der Opfer- und Widerstandsdiskurs wurde so zur vitalen Lebenslüge der Zweiten Republik. Die offiziellen Geschichtsdarstellungen zeichneten zumindest bis in die 1980er-Jahre das Bild einer vermeintlich mehrheitlichen Ablehnung des Nationalsozialismus durch die österreichische Bevölkerung. Sie waren geprägt von einer tief sitzenden »Leugnung der breiten Zustimmung zum ›Anschluss‹, der Identifikation mit der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und der Virulenz eines aggressiven Antisemitismus«9. Was diese Strategie der Verdrängung und Leugnung von Mitverantwortung aus dem Blick schob, war die Tatsache, dass die politische »Wiederauferstehung« der Zweiten Republik und das »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit zu nicht unwesentlichen Teilen auf Fundamenten gebaut waren, die zwischen 1938 und 1945 gelegt worden waren. Ganze Regionen, wie etwa der oberösterreichische Zentralraum um die Städte Linz, Wels und Steyr, waren während der Zeit des Nationalsozialismus auf Basis der Nachfrage der Kriegswirtschaft industrialisiert worden. So zentrale Nachkriegsunternehmen wie die verstaatlichte VÖEST10, die Steyr-Daimler-Puch AG11 oder die Lenzing AG12 waren in jener Zeit entweder neu gegründet worden oder hatten einen großen Wachstumsschub erfahren. Die soziale und politische Zusammensetzung der Gesellschaft war während des Nationalsozialismus durch die Marginalisierung, Vertreibung, Verfolgung und massenhafte Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen – Juden, Roma und Sinti, Angehörige der linken Arbeiter/-innenbewegung, Homosexuelle, Angehörige verschiedener gesellschaftlicher Randgruppen – gewaltsam umgekrempelt worden. Deren Diskriminierung fand in der Ordnung der österreichischen Nachkriegsgesellschaft bis

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H. Uhl: »Das ›erste Opfer‹«, S. 21. Vgl. Rathkolb, Oliver (Hg.): NS-Zwangsarbeit. Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945 (= Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien 1), Wien/Köln/Weimar 2001. 11 Vgl. Perz, Bertrand: Das Projekt »Quarz«. Der Bau einer unterirdischen Fabrik durch Häftlinge des KZ Melk für die Steyr-Daimler-Puch AG 1944–1945, Innsbruck/Wien/Bozen 2013. 12 Sandgruber, Roman: Lenzing. Anatomie einer Industriegründung im Dritten Reich (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 9), Linz 2010. 10

Von Mauthausen nach Gusen und zurück

hin zur staatlichen Gesetzgebung und der Praxis der Opferfürsorge ihre Kontinuität.13 Die Umverteilung von meist jüdischem Vermögen mittels Entrechtung, Enteignung und Raub kam teilweise einer ursprünglichen Kapital­ akkumulation gleich. Entschädigungszahlungen wurden so lange wie möglich – oft im Rückgriff auf fadenscheinige staatsrechtliche Argumente – verweigert oder als Akt der Wohltätigkeit interpretiert,14 was den britischen Historiker Robert Knight im Zuge der »Waldheim-Affäre« zu der Aussage veranlasste: »Österreichs Regierungen waren immer schneller, die im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen erlittenen Verluste der Nazis auszugleichen, als die jüdischen Opfer zu entschädigen.«15 Die ehemaligen Nationalsozialist/-innen wurden im Nachkriegsösterreich von allen politischen Parteien bald als wichtiges Wählerpotenzial betrachtet und spätestens mit der Amnestie der »Minderbelasteten« wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Täter/-innen kam dagegen spätestens mit der Abschaffung der »Volksgerichte« im Jahr 1955 allmählich zum Erliegen.16 13

Vgl. Bailer-Galanda, Brigitte: »›Es sind bereits 2 Jahre her, dass ich beim löblichen Magistrats-Amt um Ausstellung eines Opferausweises angesucht habe …‹. Am Beispiel des Opferfürsorgegesetzes: Der Staat und die Opfer des Nationalsozialismus«, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hg.), Die Republik und das NS-Erbe. Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute, Wien 2005, S. 40–52. 14 Vgl. Blimlinger, Eva: »Und wenn sie nicht gestorben sind … Die Republik Österreich, die Rückstellung und die Entschädigung«, in: V. Pawlowsky/H. Wendelin (Hg.), Die Republik und das NS-Erbe, S. 186–206. Die Autorin kommt auf Seite 206 zu dem Schluss: »Da die Republik Österreich zwischen 1938 und 1954 nicht existierte, könnten ihr die Untaten nicht zugerechnet werden, sei die Republik Österreich nicht verantwortlich. […] Die Republik Österreich will Sicherheit vor den Überlebenden und den Nachkommen.« 15 Knight, Robert: »Der Waldheim-Kontext: Österreich und der Nationalsozialismus«, in: Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt/New York 2008, S. 87. 16 Vgl. Garscha, Winfried R./Kuretsidis-Haider, Claudia: »Die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen – eine Einführung«, in: Thomas Albrich/ Winfried R. Garscha/Martin F. Polaschek (Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 11–25. Die Autorinnen und Autoren kommen auf Seite 24 zu dem Schluss: »Für die [politischen Entscheidungsträger] stellte die Ahndung der von österreichischen Tätern begangenen NS-Verbrechen meist nur dann ein vordringliches Anliegen dar, wenn dies aus außenpolitischen Gründen opportun erschien.«

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Die Opferthese als offizieller Staatsmythos der Zweiten Republik brachte das ursprüngliche Verbrechen des Nationalsozialismus zu seiner »symbolischen Vollendung«, indem sie es auf doppelte Weise externalisierte: Die Betonung des Widerstands externalisierte nicht nur die Täter/-innen, die als Agent/-innen einer fremden Okkupationsmacht dargestellt wurden, sondern letztlich auch deren Opfer. Indem man vielen Opfergruppen diesen Status bis weit in die Nachkriegszeit hinein verwehrte, suggerierte man, dass ihre Verfolgung »rechtens« gewesen sei, und erkannte sie so auch weiterhin nicht als gleichwertige Mitglieder der österreichischen Gesellschaft an.17 Der Nationalsozialismus hatte in Wahrheit wesentliche Fundamente der Nachkriegsgesellschaft geschaffen. Je mehr er als Gründungsverbrechen geleugnet und verdrängt wird, desto stärker wirkt er strukturell in der Gegenwart weiter. Denkmäler erfüllen häufig den Zweck, dieser Leugnung und Verdrängung den Anschein von Aufarbeitung zu geben.

Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen: »Denkmal« und »Museum« Am 5. Mai 1945 waren die Lager Mauthausen und Gusen von der US-Armee befreit, jedoch noch im Sommer 1945 an die sowjetische Besatzungsmacht übergeben worden. Sowjetische Häftlinge waren nach den polnischen die zweitgrößte nationale Gruppe im KZ Mauthausen. Viele Tausende sowjetische Kriegsgefangene waren dort systematisch ermordet worden. Für die sowjetische Besatzungsmacht war Mauthausen daher ein äußerst symbolträchtiger Ort. Um es auch künftig als sichtbares Mahnmal für die von Deutschen und Österreicher/-innen begangenen Verbrechen zu erhalten, wurde beschlossen, das ehemalige Lager offiziell an die Republik Österreich zu übergeben und dies mit der Auflage zu verknüpfen, es als »Denkmal zur Erinnerung an die durch nazistische Henkersknechte hingemordeten Opfer«18 zu erhalten. Die offizielle Übergabezeremonie fand im Juni 1947 statt.19 Diese Entscheidung der sowjetischen Besatzungsmacht und die Verpflichtung, die damit der Republik 17

Vgl. dazu Dejnega, Melanie: Rückkehr in die Außenwelt. Öffentliche Anerkennung und Selbstbilder von KZ-Überlebenden in Österreich (= Wiener Studien zur Zeitgeschichte 4), Wien/Berlin 2012. 18 Bundesministerium für Inneres (Hg.): Forschung, Dokumentation, Information. KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Mauthausen Memorial 2007, Wien 2008, S. 49. 19 Vgl. ebd., S. 48–59.

Von Mauthausen nach Gusen und zurück

Österreich auferlegt wurde, sind wesentlich für die gegenwärtige Existenz einer KZ-Gedenkstätte in Mauthausen verantwortlich. Der österreichische Staat war nun rechtlich verpflichtet, das ehemalige Lager zu erhalten. Doch, was sollte damit geschehen? In der wirtschaftlich schwierigen Situation der Nachkriegszeit waren die Erhaltungskosten für das ehemalige KZ eine finanzielle Last.20 Im Interesse des Staates lag es daher, seine baulichen Reste so weit wie möglich zu reduzieren. Dies deckte sich mit den Interessen der österreichischen Überlebendenverbände, die Mauthausen vor allem als Symbol, als Chiffre für Leiden und Widerstand sahen. Aus dieser Interessenskonstellation wurde letztlich die Idee geboren, nur jene Gebäude und Lagerteile zu erhalten, die das Leiden und den Widerstand der Häftlinge am nachdrücklich­ sten symbolisierten.21 Darunter fielen vor allem die Hinrichtungsstätten und die Gaskammer. Orte, an denen Tausende vor allem aus politischen Motiven Deportierte systematisch von Einheiten der SS ermordet worden waren. Nicht dazu gehörten offenbar etwa das Sanitätslager, in dem ab Sommer 1943 viele Tausende Häftlinge völlig »unheroisch« an Krankheit, Schwäche und Vernachlässigung gestorben waren, oder der berüchtigte »Judenblock Nr.  5«, in dem die Lebensbedingungen ebenfalls immense Todesraten zur Folge gehabt hatten. Beide, sowohl das Sanitätslager22 als auch der »Judenblock«, verschwanden in unterschiedlichen Phasen der Nachkriegsgeschichte aus dem Gesamtbild der Gedenkstätte. Volkhard Knigge hat für diese Strategie im Umgang mit historischen Überresten, die keineswegs nur für Mauthausen typisch war, eine prägnante Formel gefunden: »Die Minimierung der Relikte als Voraussetzung für die Maximierung historischer Sinnbildung.«23 Mauthausen wurde so 20

Die Darstellung der Geschichte der Gedenkstätte Mauthausen nach 1945 stützt sich im Wesentlichen auf Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis in die Gegenwart, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. 21 Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis in die Gegenwart, S. 77–108. 22 Das Sanitätslager wurde noch im Mai 1945 von der US Army aus seuchenhygienischen Gründen niedergebrannt. Ursprünglich als Lager für sowjetische Kriegsgefangene errichtet, aber nie als solches verwendet, wurde der Ort, an dem es sich befand, nach 1945 vor allem zu einem Gedenkort für den Heldentot der in Mauthausen ermordeten sowjetischen Armeeangehörigen. 23 Knigge, Volkhard: »Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu den Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager«, in: Sigrid Weigel/Birgit R. Erdle (Hg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 207–210.

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im Verständnis der österreichischen Überlebenden ebenso wie in jenem der staatlichen Entscheidungsträger24 von einem authentischen historischen Überrest – einem aufgelassenen Konzentrationslager – zu einem Denkmal transformiert. Es war daher nur folgerichtig, dass die 1949 gegründete Gedenkstätte offiziell den Namen »Öffentliches Denkmal Mauthausen« erhielt.

Einmarsch durch das Lagertor im ehemaligen »Jourhaus«, KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1955. Fotograf unbekannt. Quelle: BMI/KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Fotoarchiv

Die »authentischen« Relikte des Lagers waren symbolisch überformt worden. Die konkrete Bedeutung, die sie für das Leben der Gefangenen hatten, verblasste im selben Maße, in dem sie im Kontext erinnerungspolitischer Diskurse mit sich universal gebendem, tatsächlich aber partikularem symbolischen Gehalt überfrachtet wurden. »Bedenklich erscheinen die Inszenierungen der Erinnerung am jeweiligen Gedächtnisort – unter Ausnutzung der Authentizität des Tatortes und der vermeintlichen Unmittelbarkeit der historischen Ereignisse – ja vor allem deshalb, weil die Visualisierung und Vergegenwärtigung 24

Entscheidungsträgerinnen gab es in den maßgeblichen staatlichen Institutionen zu jener Zeit nicht.

Von Mauthausen nach Gusen und zurück

verschleiert, dass sie eben nicht die unvermittelte Geschichte selbst ist, sondern ein rekonstruiertes, zudem politisch gewolltes und mit moralischem Anspruch ausgestattetes Bild von ihr.«25

Diese Zurichtung des aufgelassenen Konzentrationslagers zum »Denkmal«, zum »Symbol« in den ersten Jahren der Nachkriegszeit war Voraussetzung dafür, es in der Folge auch mit konkretem politischen Inhalt füllen zu können. Die Chiffre für das Leiden der (politischen) Häftlinge sollte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum Anknüpfungspunkt für verschiedenste Staatsmythen werden, allen voran den zentralen Mythos der Zweiten Republik von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus. Mit der allmählichen Rehabilitierung ehemaliger Nazis26 und vor dem Hintergrund des aufkommenden Kalten Krieges war die KZ-Gedenkstätte Mauthausen seit den 1950er‑Jahren zunehmend marginalisiert worden. In Österreich hatte man begonnen, nicht mehr der Opfer des Nationalsozialismus, sondern der Opfer des Krieges insgesamt zu gedenken – dies schloss zivile deutsche Opfer ebenso ein, wie ehemalige Angehörige der Wehrmacht oder gar der SS. Überall im Land sprossen sogenannte Kriegerdenkmäler aus dem Boden, die sichtbares Zeichen für dieses neue »Opfergedenken« waren.27 Der nationale Gedenkort Mauthausen hatte in sich das Potenzial, diesen österreichischen Nachkriegskonsens zu gefährden. Die nationalen Überlebendenverbände, vor allem getragen von ehemaligen politischen Häftlingen aus kommunistischem und sozialdemokratischem Umfeld, gerieten in der Folge über die konkrete Gestaltung der KZ-Gedenkstätte in zunehmenden Konflikt mit dem (konservativ regierten) Staat und dem Innenministerium, das seit 1949 für die Erhaltung der Gedenkstätte zuständig ist. 25

Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München/Wien 1995, S. 28. 26 Die als »Minderbelastete« eingestuften NSDAP-Mitglieder erhielten im Jahr 1947 das aktive Wahlrecht zurück, ein Jahr darauf folgte die »Minderbelastetenamnestie«. Die ehemaligen Nazis stellten mit einem Male ein riesiges Wählerpotenzial dar, um das im Vorfeld der Nationalratswahlen 1949 sämtliche politische Parteien zu buhlen begannen. Damit endete praktisch der Prozess der Entnazifizierung in Österreich. 27 Zum kulturhistorischen Kontext der Kriegerdenkmäler in Österreich vgl. Uhl, Heidemarie: »Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im ›österreichischen Gedächtnis‹«, in: Christian Gerbel et al. (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur »Gedächtnisgeschichte« der Zweiten Republik (= Kultur.Wissenschaften 9), Wien 2005, S. 60–64.

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Da die Unterstützung der Bundesregierung fehlte und die politischen Überlebendenverbände untereinander zerstritten waren, konnte ein Projekt zur Einrichtung eines Museums im ehemaligen Lager Mauthausen zunächst über viele Jahre nicht realisiert werden. Erst Mitte der 1960er-Jahre einigten sich Überlebende und Staat auf ein Konzept für eine Dauerausstellung zur Geschichte des Lagers. Sie wurde von Hans Maršálek, selbst Überlebender und zugleich Beamter im Bundesministerium für Inneres, in mehrjähriger Arbeit konzipiert und im Mai 1970 eröffnet.28 Der gemeinsame politische Nenner der am Projekt beteiligten Institutionen und Personen war die Betonung des österreichischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Die Protagonisten des Ausstellungsnarrativs waren die politischen Gefangenen. Im Unterschied zur Masse jener Häftlinge, die im Wesentlichen als passive Opfer gezeichnet wurden, erhielten sie in der Ausstellung den Status autonomer politischer Akteur/-innen. Den Täter/-innen wurde in der Ausstellung nur wenig Raum gegeben. Dort wo sie vorkamen, wurden sie als »dämonische Andere« dargestellt.29 Mitläufer/-innenschaft und eine mögliche Mitverantwortung der Bevölkerung als Ganzes für die in Mauthausen begangenen Verbrechen spielten keine Rolle. Die Nazis sind immer die anderen. Für die in Verbänden organisierten politischen Überlebenden repräsentierte die Ausstellung zweifellos ihre eigenen Verfolgungsgeschichten und Hafterfahrungen. Für den österreichischen Staat war sie dagegen vor allen Dingen Ausdruck des Gründungsmythos der Zweiten Republik: dem Mythos von Österreich als dem ersten Opfer des Nationalsozialismus. Das ehemalige Lager und nunmehrige »Öffentliche Denkmal und Museum Mauthausen« konnte so allmählich einen zentralen Platz im historisch-politischen Narrativ Österreichs einnehmen.

»Gedenkort« oder »traumatischer Ort«? Die deutsche Kulturwissenschafterin Aleida Assmann formulierte eine Typologie historischer Orte als Träger kollektiver Erinnerung. Sie unterscheidet dabei unter anderem Gedenkorte von traumatischen Orten. 28

Vgl. Perz, Bertrand: »Die Ausstellungen in den KZ-Gedenkstätten Mauthausen, Gusen und Melk«, in: Dirk Rupnow/Heidemarie Uhl (Hg.), Zeitgeschichte ausstellen in Österreich: Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, Wien 2011, S. 87–116. 29 So waren etwa auf einer Tafel mehrere Portraitfotos von SS-Personal in Uniform dargestellt, die ursprünglich aus den Personalakten der SS-Zentralstellen

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Kennzeichnend für einen Gedenkort ist der Umstand, dass dort eine »bestimmte Geschichte […] gewaltsam abgebrochen«30 wurde. »Das Abgebrochene ist in Überresten erstarrt und steht beziehungslos zum örtlichen Leben der Gegenwart.«31 Dasselbe kann man auch für die Überreste des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen feststellen: Sie wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt verlassen, ihre Geschichte wurde (gewaltsam) unterbrochen, und ihr Bezug zur lokalen und regionalen Umgebung ist heute von einer seltsamen Abstraktheit, einer Form der »Bezugslosigkeit« geprägt. Im Fall von Mauthausen handelt es sich um einen Bruch im doppelten Sinne: Erstens kam dort das zu einem abrupten und gewaltsamen Ende, was man die »Vorgeschichte« der Deportierten nennen könnte: ihre kulturelle Identität, soziale Zugehörigkeit und politische Sozialisation. Das ist es, woran der Gedenkort Mauthausen aus Sicht der Opfer anknüpfen will, woran er erinnern will. Andererseits kam im Mai 1945 auch eine andere Geschichte zum Abbruch: die der Täter/-innen und des nationalsozialistischen Terrorregimes. Als Gedenkort will Mauthausen daher auch an die Verbrechen der Täter/-innen – als die verdrängten Ursprünge der Gegenwartsgesellschaft – erinnern. Beide Aspekte sind zentral für eine KZ-Gedenkstätte wie Mauthausen. Die Erinnerung an die Verbrechen der Täter/‑innengesellschaft ist gegenüber dem Gedenken an die Opfer jedoch über viele Jahrzehnte vernachlässigt worden. Dies nachzuholen wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre sein. Doch wie wird ein bloßer historischer Überrest zu einem Gedenkort? Assmann schreibt dazu: »Ein Gedenkort ist das, was übrigbleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen und weitergehen zu können, muss eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ergänzt.«32 Anders gesagt: Der Ort allein kann keine Geschichte transportieren. Er muss immer mit einem Narrativ verknüpft sein, das auf diskursiver Ebene die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart schlägt. stammten. In der Ausstellung wurde der historische Kontext dieser Fotos vernachlässigt. Sie wurden stattdessen unter der Überschrift zusammengefasst: »Mörder sehen dich an …«. 30 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006, S. 309. 31 Ebd. 32 Ebd.

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Im Denkmal sind Ort und Narrativ untrennbar miteinander verbunden. Denkmäler sind daher das bevorzugte Medium des Gedenkorts. Mit seiner Gründung als »öffentliches Denkmal« vollzog sich die Transformation Mauthausens vom Konzentrationslager zum Gedenkort. Diese Transformation lässt sich an vielen Stellen im Lager ablesen. Im Zuge der Gründung des »Öffentlichen Denkmals Mauthausen« wurde etwa 1949 ein als »Sarkophag« bezeichnetes Monument errichtet und inmitten des Ensembles baulicher Überreste des Lagers als symbolisches Zentrum der Gedenkstätte inszeniert.33 Noch heute werden bei offiziellen Gedenkanlässen an diesem für die Lagergeschichte selbst völlig insignifikanten Ort Kränze abgelegt. Ebenfalls ab 1949 entstand etwa in dem Lagerbereich, in dem ursprünglich die SS-Truppen untergebracht waren, ein sogenannter »Denkmalpark«. Hier errichteten in den Jahrzehnten nach dem Krieg mehr als 25 »Opferstaaten« Monumente zu Ehren »ihrer« Toten. Diese Monumente sind immer auch Träger nationaler Geschichtsnarrative.34 Wie sehr diese Narrative mit der Zeit selbst zu Geschichte werden, lässt sich etwa daran erkennen, dass viele der dort repräsentierten Staaten heute gar nicht mehr existieren: die Sowjetunion, Jugoslawien, die DDR, die Tschechoslowakei. Manche der Staaten, wie etwa die Ukraine, gab es zur Zeit des Nationalsozialismus gar nicht. Andere »nationale Monumente« sind in sich paradox: Das vom Staat Israel errichtete Denkmal ist allen jüdischen Opfern gewidmet, die in jener Zeit von fast überall deportiert worden waren, nur nicht aus Israel. An dem Denkmal zu Ehren der in Mauthausen ermordeten republikanischen Spanier – errichtet im Jahr 1960 – defilieren heute Vertreter/-innen eines Staates, den jene gar nicht wollten und der auch sie noch lange Zeit danach nicht haben wollte. Heute weht bei den alljährlichen Befreiungsfeiern sowohl die republikanische Flagge als auch die Flagge der Monarchie. Gedenkorte sind Träger von konkurrierenden Geschichtserzählungen. Diese sind temporär und vergänglich, oft widersprüchlich, immer jedoch politisch. Ein Gedenkort ist daher – im Unterschied zu den toten Ruinen der Vergangenheit – insofern ein »lebendiger« Ort, als diese Erzählungen stets erneuert werden müssen, um ihre Gültigkeit zu 33

34

Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis in die Gegenwart, S. 105–107. Für eine ausführliche Darstellung der einzelnen Monumente vgl. Schmid, Hildegard/Dobrowolskij, Nikolaj: Kunst, die einem Kollektiv entspricht … Der Internationale Denkmalhain in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2007.

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bewahren. Was zeichnet im Gegensatz zu den Gedenkorten das aus, was Assmann als »traumatische Orte« bezeichnet? »Traumatische Orte unterscheiden sich von Gedenkorten dadurch, dass sie sich einer affirmativen Sinnbildung versperren. […] Während der Erinnerungsort stabilisiert wird durch die Geschichte, die von ihm erzählt wird, […] kennzeichnet den traumatischen Ort, dass seine Geschichte nicht erzählbar ist. Die Erzählung dieser Geschichte ist durch psychischen Druck des Individuums oder soziale Tabus der Gemeinschaft blockiert.«35

Traumatische Orte evozieren das eingangs diskutierte »primordiale Verbrechen«. Der traumatische Ort steht für den Bruch mit einer Vorgeschichte, der nicht einfach mittels einer integrierenden Erzählung überwunden werden kann. Er ist jener Abgrund, der jede mögliche Erzählung zu verschlingen droht. Was traumatische Orte laut Assmann daher auszeichnet, ist eine bestimmte »Aura«. Diese besteht aus einer »eigentümlichen Verbindung von Nähe und Ferne«36, aus einer Unmittelbarkeit, die jedoch unaussprechlich ist. Was an diesen Orten geschah, ist unfassbar. Dennoch sind sie praktisch greifbar. Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen umfasst – jenseits aller Memorialisierung – viele solcher Orte: die Duschräume, in denen die Häftlinge ihre ersten Erniedrigungen erfuhren, die Unterkunftsbaracken, in denen man noch den Mief der Vergangenheit zu riechen glaubt, die Krematorien oder die Gaskammer.37 Weil viele von ihnen weitgehend unverändert über Jahrzehnte aus der Vergangenheit in die Gegenwart herübergerettet wurden, haftet ihnen eine seltsame »Unmittelbarkeit« an. Doch obwohl die Besucher/-innen sie praktisch berühren können, sind sie ihnen – zeitlich, aber auch ideell und affektiv gesehen – fern. Möglicherweise stellen aber gerade die verschütteten und überbauten Überreste des nur wenige Kilometer von Mauthausen entfernt liegenden ehemaligen KZ Gusen einen traumatischen Ort par excellence dar: Statt eines Geschichtsnarrativs knüpft sich an sie vielmehr ein soziales Tabu: die verdrängte Geschichte als Ursprung der Gegenwart. 35 36

A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 328 f. Ebd., S. 337. 37 In Gesprächen mit Überlebenden habe ich bemerkt, dass diese häufig eine zu »glatt polierte Oberfläche« der KZ-Gedenkstätten bemängeln, hinter der tendenziell die traumatischen Aspekte dieser Orte, welche ihre eigene Erinnerung dominieren, verschwänden.

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Das ehemalige KZ Gusen: ungeliebte Überreste Was in der im »Öffentlichen Denkmal und Museum Mauthausen« repräsentierten nationalen Geschichtserzählung außen vor blieb, was diese ausschloss, war die Frage nach dem Nationalsozialismus in seiner Funktion als »primordiales Gründungsverbrechen« der Zweiten Republik. Das Fortwirken dieser Leerstelle, dieser Negation, teilweise bis in die Gegenwart lässt sich besonders gut anhand des ehemaligen Konzentrationslagers Gusen erkunden. Dieses war von 1939 bis 1945 ein Zweiglager des KZ Mauthausen. In den sechs Jahren seines Bestehens waren dort rund 70.000 Personen inhaftiert, von denen etwa die Hälfte ermordet wurde oder an den Haftbedingungen zugrunde ging. In manchen Phasen war sowohl die Zahl der Gefangenen als auch die Todesrate um einiges höher als im Hauptlager Mauthausen.38 Zwischen 1945, dem Jahr der Befreiung, und 1955 diente das ehemalige Lager als Militärstützpunkt für die sowjetische Armee. Die lagereigenen Steinbrüche wurden in dieser Zeit als USIA-Betrieb39 weitergeführt. Gleichzeitig verschwand ein Großteil der baulichen Überreste des Lagers. Nach Abzug der sowjetischen Besatzungsmacht im Jahr 1955 gelangten das ehemalige Lagergelände und die verbliebenen Gebäude und Einrichtungen in die Hände des österreichischen Staates. Zu jenem Zeitpunkt war das ehemalige KZ Mauthausen längst als »öffentliches Denkmal« etabliert worden. In Gusen verfolgte der Staat pragmatischere Ziele: Das gesamte Lagergelände wurde als Bauland gewidmet, parzelliert und verkauft. In den 1960er-Jahren begann man mit der Errichtung einer bis heute bestehenden Einfamilienhaussiedlung. Kaum etwas blieb in jener Zeit erhalten, das an die Existenz des zeitweise größten Konzentrationslagers auf österreichischem Territorium erinnerte. Ein Spaziergang durch den heutigen Ort Gusen kann auf sehr anschauliche Weise vermitteln, was es bedeutet zu sagen, die Zweite Republik beruhe auf einer Verdrängung seiner nationalsozialistischen 38

Zur Geschichte des Lagers Gusen vgl. Dobosiewicz, Stanisław: Vernichtungslager Gusen (= Mauthausen-Studien 5), Wien 2005 sowie Haunschmied Rudolf A./Mills, Jan-Ruth/Witzany-Durda, Siegi: St. Georgen-Gusen-Mauthausen. Concentration Camp Mauthausen Reconsidered, St. Georgen an der Gusen 2007. 39 Die USIA (Uprawlenije Sowjetskim Imuschtschestwom w Awstriji – Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich) verwaltete beschlagnahmtes Eigentum des Deutschen Reiches in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich.

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Vergangenheit. Die Siedlung Gusen hat heute das ehemalige Konzen­ trationslager verdrängt. Sie nimmt fast exakt dessen Platz ein, ja ist teilweise sogar auf seinen Fundamenten errichtet. Ein Vergleich von Luftaufnahmen aus 1944/1945 und der Gegenwart bestätigt das eindrucksvoll: Form, Kontur und innere Struktur von Lager und Siedlung sind faktisch ident. Einige wenige Lagergebäude – der Sitz der Lagerführung etwa, Baracken der Häftlinge und der SS oder das Häftlingsbordell – sind bis in die Gegenwart erhalten geblieben, jedoch auf eine Weise überformt, die es unmöglich macht, sie auf den ersten Blick aus ihrer Gegenwart zu lösen und mit ihrer Geschichte in Verbindung zu bringen. Diese Gebäude befinden sich heute in Privatbesitz, dienen als Wohnhäuser oder werden gewerblich genutzt. Sie sind nahtlos in das alltägliche Leben des Ortes integriert.40

Das »Jourhaus«, ehemals Sitz der Lagerführung des KZ Gusen, 1975. Foto: Heimrad Bäcker. Quelle: Museum der Moderne Salzburg 40 Ein

Bewusstsein von staatlicher Seite für die Erhaltungswürdigkeit der baulichen Relikte des ehemaligen Konzentrationslagers Gusen entstand erst sehr spät. Ein um das Jahr 2010 gestarteter und mehrere Jahre andauernder Prozess zu deren Unterschutzstellung durch das Bundesdenkmalamt stieß auf beträchtlichen Widerstand in Teilen der Bevölkerung und der Lokalpolitik. Im August 2014 erging schließlich der endgültige Unterschutzstellungsbescheid für das historische Ensemble baulicher Lagerrelikte.

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Doch verdrängen heißt nicht zum Verschwinden bringen – und so kehrt die Vergangenheit, kehrt das Lager an manchen Stellen immer wieder zurück. Dass diese Vergangenheit des Ortes Gusen nicht zur Gänze verschwand, verdankt sich vor allem dem Einsatz von Überlebendenorganisationen aus dem Ausland. Inmitten des zum Brachland verkommenen Lagergeländes war in den 1960er-Jahren der ehemalige Krematoriumsofen als einziges erkennbares Relikt des ehemaligen Konzentrationslagers und als unmittelbare Spur der an diesem Ort begangenen Verbrechen erhalten geblieben. Das nackte Vorhandensein dieser Spur in der Landschaft warf unweigerlich Fragen nach Schuld, Verstrickung und Verdrängung auf und rührte damit auch an wesentlichen Aspekten des nationalen Selbstverständnisses. Spätestens mit den Plänen zum Bau der Wohnsiedlung wurde der Krematoriumsofen von Gusen lokalen wie staatlichen Behörden zunehmend zu einem Dorn im Auge.41 Die neuen Bewohner/-innen wollten in Ruhe dort leben. Die Gemeinde beantragte von der Republik eine Abrissbewilligung, welche diese auch erteilte. Die tatsächliche Zerstörung des Ofens wurde erst durch die Intervention internationaler Überlebendenverbände verhindert. In den 1960er-Jahren kaufte eine Vereinigung italienischer Überlebender schließlich das betreffende Grundstück und ließ um den erhaltenen Krematoriumsofen herum ein Denkmal errichten, das durch Spendengelder finanziert wurde. Das sogenannte »Memorial Gusen« ist heute vor allem ein Gedenkort für Überlebende und Angehörige aus ganz Europa, für das der österreichische Staat erst im Jahr 1997 offiziell Verantwortung übernahm. Lange Zeit blieb es zugleich auch ein Fremdkörper innerhalb der Siedlung und ein Störfaktor für die Bevölkerung, legte es doch auch sichtbares Zeugnis vom Versuch der Verdrängung von Geschichte und vom Verhindern 41

Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis in die Gegenwart, S. 199– 207 sowie Dürr, Christian: »Konzentrationslager Gusen. Ehemaliges Zweiglager des KZ Mauthausen und erinnerungspolitisches Konfliktfeld«, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.), Forschung, Dokumentation, Information. KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Mauthausen Memorial 2007, Wien 2008, S. 36–41. Der oberösterreichische Landeshauptmann-Stellvertreter Ludwig Bernaschek bemängelte etwa Ende der 1950er-Jahre, dass die baulichen Reste des Lagers, insbesondere der erhaltene Krematoriumsofen, »beim Siedlungsgrundabverkauf ein Hindernis« darstellen würden und wünschte sich eine möglichst unauffällige und unter Stillschweigen durchgeführte Abtragung des Ofens und Versetzung der bestehenden Gedenksteine »in das große Denkmal, zu dem das ehemalige KZ Mauthausen gemacht wurde« (zit. nach B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis in die Gegenwart, S. 203).

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von Erinnerung ab.42 Im nationalen österreichischen Gedenkdiskurs blieb Gusen im Verhältnis zu Mauthausen bis in die Gegenwart weitgehend marginalisiert.43 Mauthausen, als nationaler und internationaler Gedenkort, hatte von seiner Gründung an den Charakter einer Art exterritorialen Raums, eines zunehmend mit symbolischem und narrativem Gehalt überformten Orts mit allenfalls abstraktem Bezug zu seiner konkreten regionalen und sozialen Umgebung. Das Memorial Gusen – mit seinem mit Müh und Not erhalten gebliebenen Krematoriumsofen – liegt dagegen als ganz konkretes »Störobjekt« inmitten der alltäglichen Lebensumgebung einer österreichischen Einfamilienhaussiedlung. Anders als Mauthausen fungiert Gusen nicht als Träger eines positiven Inhalts, einer historischen Erzählung. Der Krematoriumsofen von Gusen verweist als konkrete Spur der Vergangenheit vielmehr auf deren Abwesenheit, auf deren Nicht-Erzählen und Nicht-Symbolisierung. Die Siedlung, die über den historischen Ort des ehemaligen Lagers gebaut wurde, verdeckt diese Vergangenheit und will nicht zulassen, dass sie zu(r) Geschichte (als Erzählung) wird. Und gerade deshalb kann sich »die Geschichte« (als Ereignis, als verdrängter Ursprung der Gegenwart) 42

Zu dieser jahrzehntelangen Geschichte der Verdrängung gibt es jedoch auch wichtige Gegeninitiativen. So wurde Mitte der 1980er-Jahre das sogenannte Gedenkdienstkomitee Gusen als unabhängiger Verein gegründet, der sich unter anderem für die Erhaltung der wenigen Lagerrelikte und die Austragung jährlicher Befreiungsfeiern einsetzt (siehe: http://www.gusen.org). Auf Initiative des Bundesdenkmalamts entstand im Jahr 2011 infolge der Kontroversen rund um die Unterschutzstellung der historischen Lagerreste ein Bürger/‑innenbeteiligungsprojekt mit dem Namen »Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen« (siehe den Beitrag von Brigitte Halbmayr in diesem Band; vgl. auch Halbmayr, Brigitte/Zauner, Alfred: »Mit dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten. Das Projekt Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen, Raum des Gedenkens und Lernens«, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.), KZ‑Gedenkstätte Mauthausen. Jahrbuch 2013, Wien 2014, S. 137–140, siehe dazu auch http://www.bewusstseinsregion.at. 43 Nicht so im internationalen Diskurs. In Polen, aber auch in einigen westeuropäischen Ländern, kommt Gusen der Rang eines zentralen Gedenkortes im jeweiligen nationalen Erinnerungsnarrativ zu. Verschiedene Projekte haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, Gusen als Gedenkort zu stärken. Im Jahr 2004 wurde neben dem »Memorial Gusen« ein Besucher/-innenzentrum mit einer Dauerausstellung zur Lagergeschichte eröffnet (vgl. B. Perz: Die Ausstellungen in den KZ-Gedenkstätten Mauthausen, Gusen und Melk, S. 113–115 und C. Dürr: Konzentrationslager Gusen); 2007 wurde der sogenannte »Audioweg Gusen« installiert, siehe dazu http://audioweg.gusen.org/.

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an manchen Stellen durch sie hindurch Bahn brechen. Erfahrbar wird sie dort, wo die zwei unterschiedlichen Zeitschichten in sichtbaren Konflikt zueinander treten: im ehemaligen »Jourhaus« etwa, das zur Villa umgebaut seine ursprüngliche Architektur nach wie vor deutlich erkennen lässt, in dem privaten Wohnhaus, das noch heute die Charakteristika der Bordellbaracke aufweist, die es einmal war, oder in der ehemaligen Schotterbrecheranlage, die heute praktisch unversehrt, aber ihrer ursprünglichen Funktion beraubt wie ein toter Klotz in der Landschaft steht. Gerade die jahrzehntelang andauernde Verdrängung der Geschichte kann Gusen heute also paradoxerweise zu einem hochinteressanten Ort für die historisch-politische Aufklärungsarbeit werden lassen. In seiner Funktion als »traumatische Erinnerungslandschaft« interessiert an ihm weniger das, was er »sagt«, als das, was er »verschweigt«.

Schluss (oder doch nicht): »Das Trauma ist ›ewig‹, es lässt sich nie vollständig temporalisieren-historisieren, es ist der Punkt der ›Ewigkeit‹, um den herum die Zeit zirkuliert, das heißt es ist ein Ereignis, das innerhalb der Zeit nur durch seine vielfältigen Spuren zugänglich ist. […] Zeitlichkeit wird aufrechterhalten durch unser Scheitern, das ›ewige‹ Trauma zu begreifen/symbolisieren/historisieren. Sollte das Trauma erfolgreich temporalisiert/historisiert werden, würde die Dimension der Zeit in ein zeitloses ewiges Jetzt implodieren/zusammenfallen.«44

Das Trauma, so Slavoj Žižek, lässt sich nicht schließen und besitzt deshalb den Charakter des »Ewigen«. Zugleich bringt es jenen permanenten und unabschließbaren Prozess der Historisierung in Gang, welcher es ohne Hoffnung auf Erfolg in immer neuen Erzählungen symbolisch zu fassen versucht. Würde dies jemals gelingen, so wären wir tatsächlich am »Ende der Geschichte«45 angelangt.

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S. Žižek: Das fragile Absolute, S. 115. Damit beziehe ich mich auf Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. In einer eigenwilligen Deutung der Hegel’schen Geschichtsphilosophie kommt Fukuyama zu dem Schluss, dass nach dem Ende des Realsozialismus der letzte große historische Widerspruch aufgelöst und die Welt durch diese letzte »Synthese« somit am »Ende der Geschichte« angekommen sei.

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Gedenkorte erwecken den Anschein, als könnte die Geschichte tatsächlich »zu Ende« erzählt werden. Denkmäler verkörpern diese Erzählung. Traumatische Orte – als sichtbare Spuren des primordialen Verbrechens – sind dagegen manifeste Zeugnisse dafür, dass sie nicht zum Ende kommen kann. Gedenkorte sind Orte ritueller und diskursiver Selbstvergewisserung. Traumatische Orte provozieren dagegen die kritische Reflexion genau dieser Riten und Diskurse. Ich habe in diesem Artikel versucht, Mauthausen und Gusen als Gedenkort und traumatischen Ort einander gegenüberzustellen. Doch die Sache ist nicht so einfach. Gusen als traumatischer Ort hat ebenso Aspekte eines Gedenkorts, wie es am Gedenkort Mauthausen auch traumatische Orte gibt. Die zu KZ-Gedenkstätten transformierten verlassenen Konzentrationslager sind grundsätzlich multiple Orte, die, anders als etwa Museen oder Denkmäler, nicht in einer bestimmten Funktion oder Rolle fassbar sind. Sie sind ambivalente oder polyvalente Orte: Sie erzählen an manchen Stellen Geschichten, die sie an anderen implizit widerrufen. Sie sind gleichzeitig geschwätzig und still. Sie führen sich selbst permanent ad absurdum. Die zu KZ-Gedenkstätten transformierten verlassenen Konzentrationslager sollen irritieren. Sie sollen sich einer positiven Sinnbildung versperren, weil sie nichts anderes als eine unwiderrufbare Abwesenheit – jene der Opfer – markieren. Sie sollen das Historisch-Faktische aufbrechen, indem sie diese Abwesenheit permanent als seine unausgesprochene Kehrseite evozieren. Zugleich soll sich in ihnen »die Gesellschaft« an dem Versuch abarbeiten, das zugrunde liegende Trauma aus dem Blickwinkel der Gegenwart zu begreifen und zu benennen. Nur wenn es ihnen gelingt, all das in Gang zu bringen, sind KZ-Gedenkstätten im wahrsten Sinne des Wortes »lebendige«, relevante Orte: Orte, die die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart immer neu interpretieren, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft immer wieder herausfordern und die dazu zwingen, über sich selbst nachzudenken.

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Literatur Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. Bailer-Galanda, Brigitte: »›Es sind bereits 2 Jahre her, dass ich beim löblichen Magistrats-Amt um Ausstellung eines Opferausweises angesucht habe …‹. Am Beispiel des Opferfürsorgegesetzes: Der Staat und die Opfer des Nationalsozialismus«, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hg.), Die Republik und das NS-Erbe. Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute, Wien 2005, S. 40–52. Bauer, Yehuda: »Is the Holocaust Explicable?«, in: Ders., Rethinking the Holocaust, New Haven/London 2001, S. 14–38. Blimlinger, Eva: »Und wenn sie nicht gestorben sind … Die Republik Österreich, die Rückstellung und die Entschädigung«, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hg.), Die Republik und das NS-Erbe. Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute, Wien 2005, S. 186–206. Bundesministerium für Inneres (Hg.), Forschung, Dokumentation, Information. KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Mauthausen Memorial 2007, Wien 2008. Dejnega, Melanie: Rückkehr in die Außenwelt. Öffentliche Anerkennung und Selbstbilder von KZ-Überlebenden in Österreich (= Wiener Studien zur Zeitgeschichte 4), Wien/Berlin 2012. Dobosiewicz, Stanisław: Vernichtungslager Gusen (= Mauthausen-Studien 5), Wien 2005. Dürr, Christian: »Konzentrationslager Gusen. Ehemaliges Zweiglager des KZ Mauthausen und erinnerungspolitisches Konfliktfeld«, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.): Forschung, Dokumentation, Information. KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Mauthausen Memorial 2007, Wien 2008, S. 36–41. Feierstein, Daniel: El genocidio como práctica social. Entre el nazismo y la experiencia argentina, Buenos Aires 2007. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. Garscha, Winfried R./Kuretsidis-Haider, Claudia: »Die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen – eine Einführung«, in: Thomas Albrich/ Winfried R. Garscha/Martin F. Polaschek (Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 11–25. Halbmayr, Brigitte/Zauner, Alfred: »Mit dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten. Das Projekt Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen, Raum des Gedenkens und Lernens«, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.), KZ‑Gedenkstätte Mauthausen. Jahrbuch 2013, Wien 2014, S. 137–140. Haunschmied Rudolf A./Mills, Jan-Ruth/Witzany-Durda, Siegi: St. Georgen-Gusen-Mauthausen. Concentration Camp Mauthausen Reconsidered, St. Georgen an der Gusen 2007.

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Ein Weg, den Toten ihre Namen zu geben Entwurf für eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die aus Österreich deportierten und in Maly Trostinec ermordeten Menschen

Im Sommer 2013 haben wir, der Architekt Klaus Gruber und die bildende Künstlerin Katharina Struber, für den Wettbewerb »Den Toten ihre Namen geben« eine Gedenkstätte für Maly Trostinec entworfen. Maly Trostinec bei Minsk in Weißrussland ist ein Ort, an dem Jüd/-innen aus vielen Nationen und Teilen Europas im Rahmen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ermordet wurden. Um den aus Österreich dorthin deportierten Menschen am Ort ihrer Ermordung zu gedenken, schrieb der gemeinnützige Verein »IM-MER Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern. Zum Gedenken an die österreichischen Opfer der Shoa in Minsk und Maly Trostinec«, unter der Leitung von Frau Waltraud Barton, 2013 den Wettbewerb »Den Toten ihre Namen geben« aus. In der Ausschreibung heißt es: »[…] für kaum einen anderen Staat ist Maly Trostinec so wichtig wie für Österreich. Denn an keinem anderen Ort sind so viele Österreicher und Österreicherinnen als Opfer der Shoa ermordet worden, wie in Maly Trostinec. Maly Trostinec ist im Kontext des unverzichtbaren Erinnerns an die Shoa für Österreich der mit Abstand wichtigste Gedenkort. Dennoch erinnert in Maly Trostinec nichts an die weit rund 13.000 Österreicher und Österreicherinnen, die dort ermordet worden sind. […] Die heute zugeschütteten und mit Mischwald aufgeforsteten Gruben in der Blagowschtschina, wo die Deportierten sofort nach ihrer Ankunft erschossen worden (oder in Gaswägen erstickt worden) sind, sind ein riesiges Grab, auf dem die Grabsteine fehlen mit den Namen der dort ermordeten Österreicher und Österreicherinnen.«1 1

Ausschreibung zum Ideen-Wettbewerb »Den Toten ihre Namen geben«, unter: http://www.architekturwettbewerb.at/data/media/med_binary/orignal/1369135998. pdf, S. 1 vom 12.03.2015.

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Im Herbst 2013 entschied die Jury2 einstimmig für das Projekt von Struber_Gruber, da unser Entwurf als Einziger auch das Erinnern in Wien in die Gestaltung integriert.

Wien – Minsk auf der Europakarte: Verlauf der Bahnstrecke. Bild: Struber_Gruber

Gedächtnis an Maly Trostinec in Wien Obwohl die meisten der 13.000 Menschen aus Wien deportiert wurden, ist Maly Trostinec vielen Wiener/-innen unbekannt. Deshalb wollen wir durch eine partizipative Herangehensweise einen Raum schaffen, um auch in Wien an die Toten zu erinnern. Die Gestalt der Gedenkstätte entwickelt sich mithilfe der aktiven Beteiligung von vielen in einer gemeinsamen Erinnerungshandlung, die von Beginn an durch Geschichtsvermittlung begleitet ist. 2

Die Sitzung fand am 3. Oktober 2013 im Wien Museum statt, die Jury bestand aus Prof. Dr. Friedrich Achleitner, Architekturchronist (Vorsitz), Paul Chaim Eisenberg und Michael Brooks (IKG Wien), Martin Krenn (bildender Künstler), Ass.Prof. Univ.-Doz. Dr. Bertrand Perz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Lisl Ponger (Künstlerin und Filmemacherin), Dr. Susanne Scholl (langjährige Russlandkorrespondentin des ORF) sowie Dr. Gabriele Kohlbauer-Fritz (Jüdisches Museum Wien).

Ein Weg, den Toten ihre Namen zu geben

Der Entwurf Unser Entwurf schafft eine geografische und lebensgeschichtliche Verbindung zwischen Wien und dem 1.300  km entfernten Maly Trostinec. Angehörige, Nachkommen und Interessierte werden gesucht, um selbst Gedenksteine zu gestalten. Sie schreiben die Namen der Toten in feuchten Lehm. Die in Wien entstandenen Lehmziegel werden zu Klinker verarbeitet und in Maly Trostinec zwischen den Kiefernwäldern der Blagowschtschina zu einer zwei Meter hohen, ringförmigen Mauer mit einem Durchmesser von 70 Metern gefügt. Diese Mauer aus den Gedenksteinen umfasst einen mächtigen mit Gras bewachsenen Erdhügel, der über den Massengräbern aufgeschüttet wird.

Entwurfsskizze zur Lage der Gedenkstätte in den Kiefernwäldern von Maly Trostinec (Grundriss und Schnitt überlappend). Bild: Struber_Gruber

Lebendiger Erinnerungsraum Wir reagieren mit unserem Entwurf auf die besonderen räumlichen Voraussetzungen, die davon geprägt sind, dass die Menschen, an die wir erinnern wollen, vor ihrer Ermordung deportiert wurden. Insbesondere im jüdischen Totengedenken ist das Grab unverrückbar mit einem Ort

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verbunden. In der Ausschreibung wurde nach gestalterischen Möglichkeiten gesucht, der Toten am Ort ihrer Ermordung zu gedenken. Das Grabmal hat aber auch eine soziale Funktion. Als eine der ältesten Formen des materiellen Gedenkens bindet es die Toten als Erinnerung in das lebendige soziale Gefüge ein. Die Deportation aus Wien und die Ermordung an einem weit entfernten Ort zerstörte die Möglichkeit dieser posthumen Verbindung. Auf vielen jüdischen Grabsteinen ist zu lesen: »Möge seine/ihre Seele ins Bündel des Lebens eingefügt sein«. Welche Möglichkeiten gibt es unter diesen Voraussetzungen, die Einbindung »ins Bündel des Lebens« herzustellen? Wir verstehen diese Seele auch als die Spur, die das lebendige Wirken der Verstorbenen den Hinterbliebenen zurücklässt. Dieses Erbe kann ideell oder materiell sein. Das Erbe der vielen Tausend Opfer aus Wien wurde respektlos und oft auch verbrecherisch von gänzlich Fremden übernommen. Das Schweigen über dieses nach der gewalttätigen Dislozierung und Ermordung angetretene Erbe ist unsichtbar mit dem Wiener Stadtraum verwoben. Es gibt nicht einen, sondern viele konkrete solche Orte, wie etwa Wohnungen oder Produktionsstätten, die über die ganze Stadt verteilt sind. Die Frage nach dem Profit, der aus den Verbrechen der Nationalsozialisten gezogen wurde, ist bis heute ein umstrittenes und oft abgewehrtes Thema. Durch ein erweitertes Raumverständnis, das auch sozialen Bezügen nachgeht, suchen wir nach Möglichkeiten, diejenigen Menschen, die in Österreich gelebt haben und in Maly Trostinec ermordet wurden, respektvoll in das »Bündel des Lebens« in Wien einzubeziehen. Wir wollen einen Raum schaffen, um die Deportationen, die Arisierungen und die Morde in Maly Trostinec zur Sprache zu bringen. Die Form, die wir für das Gedenken in Wien gewählt haben, hat keinen konkreten permanenten Ort, wie auch die Verbrechen der Deportationen, der Verlust aller Rechte und die Arisierungen des Eigentums nicht an einen einzigen Ort festgemacht werden können. Dass ein öffentlich sichtbares Erinnern stattfindet, ist immer eine politische Entscheidung. Der Ort eines Mahnmals ist oft Gegenstand langer Verhandlungen. Der Prozess unserer Ideen- und Formfindung war auch von Fragen an die repräsentativen Funktionen eines Mahnmals und vom sozialen Element des Erinnerns begleitet: Welche Bedeutung hat dieser Ort historisch und gegenwärtig, wer will oder soll sich erinnern? Welche Passant/-innen kommen vorbei und welche Informationen können sie ohne Vorwissen aus der Form beziehen? Wie erschließt sich das Mahnmal oder die

Ein Weg, den Toten ihre Namen zu geben

Gedenkstätte? Wird ein gemeinsamer Erinnerungsraum eröffnet? Wer oder was wird repräsentiert? Gibt es eine begleitende Geschichtsvermittlung und wen erreicht sie? Nicht alle Vorbeikommenden wissen Bescheid, haben einen Bezug zum Inhalt und sind erinnerungswillig. Wodurch kann Interesse am Inhalt geweckt werden? Welche Formen der aktiven Erinnerung werden möglich gemacht?

Grundriss und Schnitt der geplanten Gedenkstätte in Maly Trostinec. Bild: Struber_Gruber

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Reaktivieren von Beziehungsgeflechten Eine Grundlage unseres Konzepts ist es, den sozialen Prozess, das gemeinsame Erinnern, umzudrehen. Nicht das fertige Mahnmal weist zum Erinnern an, sondern diejenigen, die an der Erinnerung teilhaben wollen, werden gesucht, um die Gedenkstätte als Akteur/-innen zu produzieren. Um dieses Gedenken möglichst persönlich zu gestalten, werden wir für jede Einzelne und jeden Einzelnen der Toten Pat/-innen suchen und so insgesamt 13.000 Personen in diesen Prozess einbinden. Bereits die Suche nach den Handelnden ist von Geschichtsvermittlung begleitet. So kann der Erinnerungsraum zwischen vielen Beteiligten entstehen, ohne an einen bestimmten Ort gebunden zu sein, indem die Abwesenden von Menschen, die sich für sie interessieren, beim Namen genannt werden und über deren Lebens- und Todesumstände gesprochen wird. Die partizipative Entstehung kann Beziehungsgeflechte reaktivieren. Gemeinsam mit einer unmittelbar begleitenden Geschichtsvermittlung werden Schnittstellen in den ehemaligen Wohnungen, Schulen, Arbeitsstellen und in verwandtschaftlichen Beziehungen der rund 13.000 Ermordeten gesucht, um Menschen zu finden, die aktiv werden wollen, die sich für diese Toten interessieren. Die Suche nach engagierten Beteiligten ist bewusst als ein komplexer, offener und aufwendiger Prozess gestaltet, der keiner Verkürzung oder seriellen Rationalisierung Platz geben soll. In jedem Fall soll ein breiter öffentlicher Diskurs zwischen Vermittler/-innen und den zahlreichen potenziell interessierten Menschen an sehr unterschiedlichen Orten ermöglicht werden. Er beinhaltet die Chance, den Ort Maly Trostinec und die dort begangenen Verbrechen der Nationalsozialisten im historischen Bewusstsein der heute in Wien Lebenden zu verankern.

Den Namen schreibend nennen Die bei dieser Suche gefundenen 13.000 Beteiligten schreiben, wie bereits erwähnt, die Namen der Toten, die später an der Gedenkstätte in Maly Trostinec lesbar sind. Jeweils eine Person, die als Verwandte/r, Angehörige/r oder durch gänzlich andere Gründe mit den Ermordeten verbunden ist, schreibt den Namen des Menschen, dessen sie gedenken will, in einen feuchten Lehmziegel. Die Handlung des Schreibens ist eine vielschichtige

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Einprägung. Sie ist eine persönliche Nennung, bei der ein Moment der Berührung entsteht, eine direkte Beziehung zum Material, zum Gedenkstein und vor allem zum Namen der Person. Der beschriebene Lehmziegel wird zu Klinker verarbeitet. Auf dieser robusten Keramik mit ihrer außerordentlichen Haltbarkeit bleibt die handschriftliche Prägung für lange Zeit für die Außen- und Nachwelt lesbar. Der Nachhall des Namens in der Innenwelt der vielen Schreibenden wird individuell verschieden sein und davon abhängen, wie sich die jeweiligen Lebensgeschichten in Beziehung setzen lassen.

Schreiben in Lehm. Bild: Struber_Gruber

Öffentliches gemeinsames Erinnern Das Schreiben der Namen ist als kollektive Handlung im öffentlichen Raum in Wien geplant, um die gemeinsame Produktion der Gedenkstätte für Maly Trostinec im sozialen Gefüge Wiens sichtbar werden zu lassen. Noch gibt es keinen konkreten Ort dafür, er muss erst gemeinsam mit dem Verein IM-MER, der politischen Vertretung der Stadt Wien und den Interessierten gefunden werden. Jedenfalls soll dieser Ort prominent und würdig sein. Hier sollen die einander Unbekannten zusammenkommen und, indem sie gemeinsam ein Werk schaffen, zu dessen Autor/-innen werden. Zwischen den Handelnden soll sich Raum für Diskussionen oder für einen Gedankenaustausch über die der Arbeit

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Struber_Gruber

inhärenten Schwierigkeiten ergeben. Den Namen, den Geburtstag und das Sterbedatum von Ermordeten zu schreiben ist keine unbelastete Aufgabe.

Die Gedenkstätte in Minsk Einen Leichnam mit Erde zu bedecken ist in vielen Kulturen die erste Handlung der Lebenden, um die Verstorbenen bewusst zu verabschieden. Aus dieser Geste, tausendfach über den Massengräbern wiederholt, entsteht ein mächtiger Hügel, der seit vorgeschichtlichen Zeiten das Zeichen ist für: Hier liegen Tote. Dieser Hügel wird mit einer ringförmigen Mauer eingefasst, errichtet aus den Wiener Gedenksteinen. Die Ziegel ergeben eine zwei Meter hohe Mauer von etwa 220 Metern Länge, was einen Hügel mit einem Durchmesser von 70 Metern ergibt. Jede Ziegelschar wird um ein paar Zentimeter eingerückt, sodass jeder einzelne Ziegel Platz bietet, um einen Stein des Erinnerns daraufzulegen. So entsteht für jedes einzelne der 13.000 Opfer ein eigener Platz in der Gedenkstätte.

Schnitt durch die Mauer und Detail eines Gedenksteins mit einem Stein der Erinnerung. Bild: Struber_Gruber

Ein Weg, den Toten ihre Namen zu geben

Zwischen den Kiefernwäldern wollen wir einen Ort schaffen, der Ruhe und Kraft ausstrahlt. In Wien haben viele Menschen jedem einzelnen Opfer gedacht. Dieses gemeinsame Erinnern soll sich in der Gedenkstätte zu einer Form schließen, die mit ihrer stillen Präsenz einem würdigen Andenken Platz gibt.

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(UN-)SICHTBARKEITEN

Brigitta Busch

Überschreibungen und Einschreibungen Die Gedenkstätte als Palimpsest

Sprache, sichtbar in Manifestationen von Schriftlichkeit, ist überall auf dem Gelände des Mauthausen Memorials präsent. Diese Sprachlandschaft kann gelesen werden wie ein Palimpsest von Schreibungen, Auslöschungen und Überschreibungen, das auf unterschiedliche Zeiträume verweist. Sichtbar sind sowohl unterschiedliche Zeugnisse kollektiven Gedenkens und persönlichen Erinnerns als auch wechselnde museumspädagogische Orientierungen in der Vermittlung. Erst in einer tiefer gehenden Beschäftigung werden Sprachspuren lesbar, die direkt aus der Zeit des Lagerterrors zwischen 1938 und 1945 stammen. Spuren einer Sprache der Gewalt, von Gewalt durch Sprache, aber auch die Spuren der lagerszpracha, eines sprachlichen Konglomerats, das in der Kommunikation zwischen den aus über achtzig Staaten stammenden Inhaftierten entstand und für das Überleben im Lager unabdingbar war. In diesem Sinn kann die sprachliche Gestaltung eines Erinnerungsortes wie des Mauthausen Memorials nicht als etwas Unschuldiges, Technisches oder Neutrales gesehen werden, sondern sie muss vielmehr darauf Bedacht nehmen, dass Sprache dazu beiträgt, Raum zu konstituieren, dass Diskurse über den Raum in ihr gefasst sind und dass sie beeinflusst, auf welche Arten Räume gelesen und erlebt werden.1

Die »Klagemauer« Die sichtbaren Auf- und Inschriften spannen einen Raum auf und weisen ihn als einen des (kollektiven und persönlichen) Gedenkens und einen 1

Für die diesen Überlegungen zugrundeliegende Triade in der Betrachtung von Raum siehe Lefebvre, Henri: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 330–342. Zu Sprache und Raum siehe Busch, Brigitta: Mehrsprachigkeit, Wien 2013, S. 127–196.

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der (museumspädagogischen) Vermittlung aus. Um mich dem anzunähern, was man in der Soziolinguistik heute oft als »linguistic landscape« oder »semiotic landscape« bezeichnet,2 fokussiere ich auf einen Bereich innerhalb der Gedenkstätte, wo in Form von Inschriften, Aufschriften und anderen Aufzeichnungen verschiedene Diskurse, Sprachen und Stimmen sichtbar werden, die unterschiedlichen Raum-Zeit-Gefügen zugeordnet werden können. Als Beispiel nehme ich einen kurzen Abschnitt jener Mauer, die vom Haupteingangstor ausgehend den Kernbereich des Lagers abgrenzt; dabei handelt es sich um eine hohe Mauer mit einem mehrfachen Stacheldrahtzaun auf der Mauerkrone. Entlang dieser Mauer sind Stein- und Metalltafeln angebracht zum Gedenken an jene, die im Lager inhaftiert waren, gefoltert und getötet wurden. Von der Lebendigkeit dieses Gedenkens zeugen da und dort Kerzen am Fuß der Mauer, ein Strauß weißer Papier-Chrysanthemen oder kleine Steine, die von Besucher/-innen, der jüdischen Tradition folgend, auf den oberen Rand vieler Tafeln gelegt wurden. Ganz in der Nähe des Eingangs zieht als Erstes eine weiß emaillierte Metalltafel mit der Aufschrift »Klagemauer« den Blick an. Ihre Größe, die schwarze Schrift und der schwarze Rand erinnern an topografische Aufschriften wie auf Ortsschildern. Schräg darunter sind schlichte Aluminiumtafeln mit Erläuterungen in sechs Sprachen – Deutsch, Französisch, Russisch, Italienisch, Englisch und Serbokroatisch – angebracht. Der deutsche Text lautet: »Klagemauer. Hier wurden die neu eingelieferten Gefangenen aufgestellt. Hier mussten gewisse Häftlinge stunden- und tagelang mit dem Gesicht zur Wand stehen. An den noch vorhandenen Eisenringen an der Mauer wurden sie festgebunden.« Ein Stück weiter links befindet sich am Fuß der Mauer eine weitere Beschriftung, ein dreiseitiges, liegendes Prisma aus transparentem Plexi­ glas, das mit »klagemauer / wailing wall / audioguide 2« auf den entsprechenden Hörtext verweist, der in deutscher und englischer Sprache zur Verfügung steht. Jeder dieser Texte, jede Generation von Beschriftungssystemen ist im Hinblick auf eine gedachte Leser/-innenschaft gestaltet und verfasst und verweist auf unterschiedliche historische Momente mit ihren unterschiedlichen Diskursen zu Geschichte und Erinnerung. Der mit »Klagemauer« bezeichnete Ort innerhalb der Gedenkstätte bildet im Sinne Bachtins einen chronotopisch geschichteten Raum, in 2

Vgl. dazu Shohamy, Elena/Gorter, Dirk (Hg.): Linguistic landscape. Expanding the Scenery, New York/London 2009 sowie Jaworski, Adam/Thurlow, Crispin (Hg.): Semiotic Landscapes. Language, Image, Space, London 2010.

Überschreibungen und Einschreibungen

dem aus unterschiedlichen historischen Zeiten und geografischen Räumen stammende Diskurse an einer Stelle zusammentreffen. Es ist ein Ort, der mit Zeit angefüllt ist, mit historischer Vergangenheit, die sich in Form sichtbarer sprachlicher Zeichen und unsichtbarer Resonanzen abgelagert hat. Ein Raum, der in unterschiedlichster Weise lesbar und erfahrbar für jene wird, die ihn betreten, ein Raum der Verdichtung, der »Verflechtung des Historischen und Gesellschaftlich-Öffentlichen mit dem Privaten und sogar höchst Privaten, Intimen«3.

Sprache der Gewalt und Gewalt durch Sprache Die Bezeichnung »Klagemauer« ist ein Wort aus der »Lagersprache«, das Hans Maršálek, ein Überlebender des KZ Mauthausen und späterer Leiter der Gedenkstätte, in seiner Dokumentation über das KZ Mauthausen in der Liste der »Lagerausdrücke« anführt.4 Auch andere solche Ausdrücke haben in die Bezeichnungen Eingang gefunden, die heute in der Gedenkstätte sichtbar sind, so die Bezeichnung »Fallschirmspringerwand«. Der von den Häftlingen übernommene SS‑Ausdruck »Fallschirmspringer« bezeichnete jene Häftlinge, »die von der SS oder von Capos gezwungen wurden, über eine Felswand des Steinbruches ›Wiener Graben‹ in die Tiefe zu springen«5. Viele dieser Lagerausdrücke wurden sowohl von den Häftlingen als auch von den SS‑Bewacher/-innen gebraucht. Sie waren gleichzeitig Teil einer durch äußersten Zynismus gekennzeichneten Sprache der Gewalt und einer von den Häftlingen unterschiedlichster Herkunftssprachen geteilten Sprache des Überlebens. Ausdrücke wie »Klagemauer« und erst recht »Fallschirmspringerwand« irritieren und schockieren, wegen des Untertons, der ihnen anhaftet. Sie im Kontext der (museumspädagogischen) Vermittlung zu verwenden, verlangt danach, sich damit auseinanderzusetzen, woher sie kommen: zum einen mit dem, was die Sprache der Gewalt ausmacht, zum anderen mit dem, was sich als Reaktion oder Replik darauf verstehen lässt. Wie sehr die Sprache der Gewalt und Gewalt durch Sprache Teil des NS-Terrors und insbesondere des Systems der »totalen Herrschaft« 3

Bachtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt a.M. 2008, S. 184. Vgl. Maršálek, Hans: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation (4. Auflage), Wien 2006, S. 423. 5 H. Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 419. 4

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(Arendt 1986)6 in den Konzentrationslagern waren, wissen wir aus Zeugnissen Überlebender, wie Primo Levi, Jean Améry, Viktor Frankl oder Victor Klemperer. Der Sprachterror in den Konzentrationslagern äußerte sich unter anderem dadurch, dass den Häftlingen verboten wurde, untereinander zu kommunizieren. Die einzig offiziell erlaubte Sprache war Deutsch: »Alle Befehle, Anordnungen, Arbeitsanweisungen, Ersuchen, Briefe usw. usf. mussten in deutscher Sprache vorgebracht respektive geschrieben werden.«7 Die Sprache der Gewalt ist durch eine extrem asymmetrische Kommunikationssituation gekennzeichnet. Sie kommt vor allem in Befehlen und Drohungen zum Ausdruck, die den Umschlag von sprachlichem Handeln in unmittelbare Gewalt markieren, die keine Widerworte dulden und den Angesprochenen als Optionen nur widerspruchslose Ausführung, stillschweigende Verweigerung oder Widerstand lassen – wobei die beiden letzten Optionen unter den Bedingungen des Konzentrationslagers einem Todesurteil gleichkamen. Die Sprache der Gewalt manifestiert sich in einem Durchbrechen der konventionellen sprachlichen Ordnung, indem sie das Anschreien derer, denen das Wort – im KZ sogar das Recht, den Blick zu heben – entzogen wird, zur Norm in der Umgangsform macht. Eine andere Form, in der sich Gewalt in der Sprache äußert, sind Inszenierungen einer ritualisierten, formelhaften und sinnentleerten Massenkommunikation, wie sie in den Konzentrationslagern in erzwungenen Sprechchören beim täglichen Appell stattfanden. Ein weiteres Charakteristikum sind Zynismus und verschleiernde Euphemismen, von denen auch die SS-Bewacher/-innen häufig Gebrauch machten. Ein Beispiel dafür waren die in den Häftlingsbaracken des KZ Mauthausen angebrachten Tafeln mit dem folgenden »Sinnspruch«: »Es gibt einen Weg zur Freiheit / seine Meilensteine heißen / Gehorsam – Fleiss / Ehrlichkeit – Ordnung / Sauberkeit – Nüchternheit / Wahrheit – Opfersinn / Liebe zum Vaterland.« Die Terrorsprache im KZ, so ließe es sich mit Hannah Arendt sagen, ist Teil des Systems totaler Herrschaft. »Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten, ist nur möglich, 6

Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 1986. 7 H. Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 415.

Überschreibungen und Einschreibungen

wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so daß jedes dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist.«8

Das Spezifische an der Sprache der Gewalt ist, dass sie der/dem anderen die Subjektqualität abspricht. Judith Butler setzt sich in »Haß spricht«9 mit der sprachlichen Verletzbarkeit auseinander und stellt fest, dass es schwierig ist, die sprachliche Verletzbarkeit gegenüber der körperlichen zu bestimmen. Die Besonderheit der sprachlichen Verletzbarkeit rührt ihr zufolge daher, dass wir erst durch Sprache, erst indem wir »angerufen« werden, als soziale Subjekte konstituiert werden. Die Subjektwerdung definiert sie als einen Prozess sowohl der Unterwerfung unter vorgegebene sprachlich-soziale Normen als auch der Befähigung zum sozialen Handeln. Die Verweigerung der Anerkennung der/des anderen als Subjekt entzieht ihr/ ihm den sozialen Ort, von dem aus sie/er sprechen oder handeln kann. Deshalb, sagt Butler, wirken bestimmte Wörter oder Anredeformen nicht nur als Bedrohung des körperlichen Wohlbefindens, sondern bedrohen den Körper als solchen in seiner gesellschaftlichen Existenz. »Die totalitäre Sprache […]«, schreibt Imre Kertész, »dringt mittels einer gutproportionierten Dynamik von Gewalt und Furcht unaufhaltsam ins Bewußtsein des einzelnen ein und eliminiert ihn selbst langsam daraus, eliminiert ihn aus seinem eigenen Leben.«10 Im KZ Mauthausen war die sogenannte »Klagemauer« der Ort, wo der Eintritt in das KZ-System begann. Über die erste Phase des »Aufnahmeschocks« schreibt Viktor Frankl, dass die neu Eingelieferten mittels Gewalt, Beraubung und Erniedrigung abrupt aus dem eigenen Leben herausgerissen, depersonalisiert und in einen Schwellenzustand gestoßen wurden, der mit extremer Verunsicherung und Angst verbunden war.11 Primo Levi beschreibt diesen Moment des Eintritts in das Lagersystem mit folgenden Worten:

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H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 907. Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006, S. 14 f. 10 Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt a.M. 2004, S. 209. 11 Vgl. Frankl, Viktor E.: Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers, Berlin/Heidelberg 1961, S. 744 ff. 9

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»Man hat uns die Kleider, die Schuhe und selbst die Haare genommen; werden wir reden, so wird man uns nicht anhören, und wird man uns auch anhören, so wird man uns nicht verstehen. Auch den Namen wird man uns nehmen; wollen wir ihn bewahren, so müssen wir in uns selber die Kraft dazu finden, müssen dafür Sorge tragen, daß über den Namen hinaus etwas von uns verbleibe, von dem, wie wir einmal gewesen.«12

Das Aberkennen des Namens, also dessen, was einen Menschen als Individuum bezeichnet, war Teil der durch Sprache ausgeübten Gewalt im Zuge der Aufnahmeprozedur. Im Gegenzug wurden die Häftlinge in ein hie­ rarchisches System von Winkeln, Nummern, Buchstaben und anderen Zeichen gepresst, das sie von da an kennzeichnete. Maršálek gibt wieder, wie eine Meldung, die nicht in der ersten Person erfolgen durfte, vor sich zu gehen hatte: »Der französische Schutzhäftling Nr. 38.467 bittet vorbeigehen zu dürfen.«13 Identifiziert und zugleich charakterisiert wurde man in der Logik des Lagersystems fortan mit Häftlingskategorie und -nummer.

Die lagerszpracha als Heteroglossie des Überlebens Der Sprache der Gewalt stand eine Sprache des Überlebens gegenüber. In der Literatur finden sich dafür verschiedene Bezeichnungen wie Lagerjargon (Améry14), Lager-Sabir (Aschenberg15) und lagerszpracha 16 (Oschlies17). Die Herausbildung einer Lingua franca ergab sich aus der Notwendigkeit der Verständigung unter Häftlingen, die aus unterschiedlichsten Ländern, Milieus und weltanschaulichen Lagern kamen. Im KZ Mauthausen waren unter den Häftlingen mehr als vierzig Sprachen vertreten. 12 13 14

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Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 1992, S. 28. H. Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 43. Vgl. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuch eines Überwältigten (Neuausgabe der Erstauflage von 1966), Stuttgart 1977. Vgl. Aschenberg, Heidi: »Sprachterror. Kommunikation im nationalsozialistischen Konzentrationslager«, in: Zeitschrift für romanische Philologie 118/4 (2002), S. 529–572. Zur Sprache der Häftlinge in den Konzentrationslagern gibt es kaum sprachwissenschaftliche Untersuchungen. Am intensivsten wurde dazu in Polen geforscht, wo sich der Begriff lagerszpracha durchgesetzt hat; ich bevorzuge diesen Begriff nicht zuletzt deshalb, weil er das Hybride dieses Sprechens zum Ausdruck bringt. Vgl. Oschlies, Wolf: »›Lagerszpracha‹. Zu Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik«, in: Zeitgeschichte 13/1 (1986), S. 1–27.

Überschreibungen und Einschreibungen

Die Lagersprache speiste sich aus den Sprachen der Herkunftsländer, aus Jargons wie dem der Gefängnisse und Kasernen, unterschiedlichen Soziolekten und Dialekten. Auch wurden Ausdrücke aus dem Repertoire der sprachlichen Gewalt übernommen und mit einem neuen, konträren Akzent versehen.18 Die lagerszpracha war eine Art Sondersprache einer vielsprachigen Gemeinschaft in einer extremen Situation und in totaler Isolation. Es mussten Sachverhalte benannt werden, die es vor dem Entstehen dieser Lager und außerhalb davon gar nicht gab.19 Für die Häftlinge war es überlebensnotwendig, Befehle, Anordnungen usw. augenblicklich zu verstehen – oder wie Primo Levi sagt, zumindest so zu tun, als habe man verstanden –, um darauf vorschriftsmäßig, mit den vorgegebenen Formeln reagieren zu können. Genauso überlebensnotwendig war es, eine Sprache zu finden, in der man mit Mitgefangenen, die einen anderen sprachlichen Hintergrund hatten, kommunizieren konnte, in der man sich Dinge mitteilen konnte, über die man nicht sprechen durfte – es ging also unter anderem auch um die Entwicklung mehrdeutiger Tarnausdrücke. In dem Sinn war die sich immer wieder verändernde heteroglossische Lagersprache, also der nicht auf Einzelsprachen zurückführbare Sprachmix, sowohl Sprache des traumatischen Erlebens als auch des Überlebens und der Hoffnung – später auch Sprache der Erinnerung. Nach 1945 verfasste autobiografische Berichte von Überlebenden fanden in der Öffentlichkeit oft wenig Gehör. Sie wurden als verstörend empfunden, einerseits weil sie über etwas berichteten, das sich dem Erfahrungshorizont all jener entzog, die das Erlebte nicht teilten und dagegen eine Abwehrhaltung entwickelten, andererseits weil Begriffe aus der Lagersprache verwendet wurden, die ohne »Übersetzung« nicht verständlich waren. Die Überlebenden der Konzentrationslager sahen sich damit konfrontiert, etwas sagen zu müssen, das aber unübersetzbar und radikal anders war.20 Viele dieser Berichte von Überlebenden fanden keine Verleger/-innen, weil sie den Erwartungen nach geglätteten, allgemein »verständlichen« Erzählungen nicht gerecht wurden. Der Graben zwischen der Forderung nach »assimilierten Erinnerungstexten« und der unterdrückten, als Krematorium-Esperanto stigmatisierten Lagersprache 18

Vgl. Vološinov, Valentin: Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, Frankfurt a.M. 1975. 19 Vgl. W. Oschlies: »Lagerszpracha«. 20 Vgl. Gramling, David: Where Here Begins: Monolingualism and the Spatial Imagination, Berkeley 2008.

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war oft nicht überbrückbar.21 Das Verwenden von Begriffen aus der lagerszpracha kann die Bedeutung einer Geste haben, mit der diese anerkannt wird, stellt aber auch eine Herausforderung dar: die Bereitschaft, sich auf eine Auseinandersetzung darüber einzulassen, was Sprache unter Bedingungen extremster Gewalt bedeutet.

Diskurse der Vermittlung Die zu unterschiedlichen Zeitpunkten an der Mauer angebrachten Tafeln und Beschriftungen zeugen von der Schwierigkeit, das aus der lagerszpracha stammende Wort »Klagemauer« zu übersetzen und für die Vermittlung zugänglich zu machen.

Eine »Ortstafel«, ein sechssprachiger Kommentar und eine sowjetische Gedenktafel. Foto: Brigitta Busch

Die auf dem Foto ins Auge springende, schwarz umrandete und weiß emaillierte Tafel mit erhabener schwarzer Aufschrift stammt aus den Jahren 1949/1950, als die Gedenkstätte eröffnet wurde. Sie ist Teil einer Reihe 21

Vgl. W. Oschlies: »Lagerszpracha«, S. 181 ff.

Überschreibungen und Einschreibungen

gleichartiger Tafeln, mit denen Objekte bzw. Orte innerhalb des ehemaligen Lagerareals damals bezeichnet wurden. Diese Beschriftungen erfolgten in einem Raum, der von der SS, im Bestreben, möglichst alle Spuren ihrer Verbrechen zu tilgen, in den letzten Tagen vor der Befreiung durch Verbrennung der Akten und Entfernung von Aufschriften gewissermaßen schriftlos gemacht worden war. Die Tafeln mit den Objektbezeichnungen wurden auf Initiative ehemaliger politischer Häftlinge angebracht. Begriffe aus der Lagersprache, die vordem nur mündlich existierten, wurden verschriftlicht. Die Schrift, so Derrida,22 ist nicht eine bloße Visualisierung der Stimme, sondern sie schafft Bedeutung, indem sie diese einer Gravur, einer Furche, einem Relief, einer Oberfläche anvertraut, die man sich als unendliche Weitergabe wünscht. Die materielle Qualität der Schrift – hier in Metall gestanzt – tritt in den Vordergrund, die an eine Ortstafel gemahnende Gestalt verleiht der Tafel einen quasi offiziellen Charakter. Sie gibt dem Bestreben Ausdruck, ein Wort aus der informellen, einer spezifischen Gruppe eigenen, Lagersprache herauszuheben, es festzuschreiben und ihm so öffentliche Anerkennung zukommen zu lassen. Die Tafeln aus den Jahren 1949 und 1950 wurden in jüngster Zeit dahin gehend kritisiert, dass sie eine Illusion von Authentizität vermittelten, als ob sie aus der Zeit des Konzentrationslagers stammten. In der Tat verweisen die Tafeln in ihrer Gestalt auf den Zeitpunkt ihres Entstehens. Aber sie verweisen auch darauf, welche Bedeutung ihrem Anbringen für die Überlebenden in mehrfacher Hinsicht zugekommen sein mag. Als Akt des Benennens von Orten, die mit einschneidenden persönlichen Erinnerungen aufgeladen waren, als Bestreben, das persönlich Erinnerte öffentlich und tradierbar zu machen, von einem Raum symbolisch Besitz zu ergreifen, in dem ihnen von der SS jede Subjekthaftigkeit und Handlungsmacht abgesprochen worden war. Ungelöst blieb nach Anbringung dieser Tafeln die Frage, welche Informationen Besucher/-innen über die einzelnen nun bezeichneten Stätten erhalten bzw. welche Kommentierungen in schriftlicher Form zusätzlich angebracht werden sollten. Bertrand Perz zeichnet in seinem Buch »Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart« im Detail nach, wie in der Diskussion über diese Frage unterschiedliche Geschichtsdiskurse, die zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen 22

Vgl. Derrida, Jacques: L‘écriture et la différence, Paris 1967a, S. 24.

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Akteur/-innen vertreten wurden, aufeinanderprallten. Immer wieder wurden vom KZ-Verband bzw. Mauthausen-Komitee vorgebrachte Vorschläge vonseiten der österreichischen Behörden mit unterschiedlichen Begründungen verworfen: Sie seien zu drastisch, zu wenig objektiv oder wegen ihrer Ausführlichkeit und Mehrsprachigkeit in der Produktion zu teuer. Erst 1955 kam es im Hinblick auf die bevorstehende Zehnjahresfeier der Befreiung zu einem Kompromiss: Zur Kommentierung der einzelnen Stätten wurden auf dem Gelände der Gedenkstätte 59 mit Glas und Holzrahmen versehene Texttafeln sowie eine Anzahl massiver Granitsteine angebracht. Alle Texte waren in deutscher, französischer und russischer Sprache gehalten.

Ein zweistimmiges Wort Sechssprachige graue Alutafeln, wie jene, die auf dem Foto zu sehen ist, ersetzten später die auf Papier gedruckten Texte, die sich als nicht wetterbeständig erwiesen hatten. Die Texte zum Mauerabschnitt neben dem Eingangstor sind übertitelt mit: KLAGEMAUER – LE MUR DES LAMENTATIONS – CTEHA ИCTЯЗAHИЙ – IL MURO DEI LAMENTI – THE »WAILING« WALL – ZID OBTUŽBE. Im Grunde widersetzt sich der aus der Lagersprache stammende Begriff »Klagemauer« einer Übersetzung, auch einer solchen ins Deutsche. Was in einem extremen Moment erlebt wurde und im heteroglossischen Sprachmix der Lagersprache Bedeutung erlangte, lässt sich nicht einfach in ein monolinguales Narrativ transferieren. Etwas, das in der Erlebenssituation bedrohlich und mit herkömmlichen sprachlichen Mitteln nicht zu bezeichnen war, wird aus diesem spezifischen Erlebenszusammenhang herausgelöst und in eine Gegenwart versetzt, von der her es für jene, die es nicht erlebt haben, kaum zu begreifen ist. Das Problematische am Begriff Klagemauer ist, dass er sich nicht als Begriff aus der lagerszpracha zu erkennen gibt, sondern eine Illusion von Verstehen erzeugt, indem er eine falsche Fährte legt, weg vom dem, was hier bezeichnet werden soll, zu einer anderen Mauer, die in Jerusalem steht und auf Hebräisch ‫ כותל מערבי‬heißt, was soviel bedeutet wie »Westliche Mauer«, da sie die Westmauer des früheren Tempels bildete. Der Begriff Klagemauer wurde – mit einem antisemitischen Unterton? – ab dem 19. Jahrhundert durch westliche Reiseliteratur verbreitet. Derrida

Überschreibungen und Einschreibungen

zeigt,23 dass das Bezeichnende nicht einfach auf ein Bezeichnetes verweist, das ihm als Gegenstück eigen ist, sondern in einer nicht endenden Kette stets nur wieder auf ein anderes Bezeichnendes. So ist zumindest Skepsis gegenüber einem vorschnellen Verstehen angebracht, das den Weg zu einem tiefer gehenden Erschließen von Bedeutung verbauen kann. In der englischen Version des Kommentars auf der Aluminiumtafel werden in der Überschrift THE »WAILING« WALL Anführungszeichen gesetzt. Die Anführungszeichen rufen beim Lesen eine gewisse Irritation hervor, ein Innehalten, eine Verzögerung im Lesefluss. Sie bewirken eine geringfügige Verschiebung, die anzeigt, dass es sich um einen Begriff handelt, der aus einer anderen Begriffswelt hineingetragen wurde, um ein »zweistimmiges« Wort, »eine fremde Rede in fremder Sprache«24. Die Anführungszeichen können als Warnung verstanden werden, den Begriff nicht vorschnell und unhinterfragt zu interpretieren. Die in die Alutafel eingravierte Überschrift in russischer Sprache, CTEHA ИCTЯЗAHИЙ (stena istjazanie), lässt sich mit »Mauer der Folter« oder mit »Mauer der Misshandlungen« übersetzen und führt somit in eine andere Richtung als der Begriff Klagemauer, die auf Russisch stena plača heißt. Warum im Russischen dieser andere Begriff gewählt wurde, erschließt sich ein Stück weit, wenn man die Gedenktafel einbezieht, die zur linken Hand an die bisher besprochenen Tafeln anschließt. Sie ist dem sowjetischen General Karbischew gewidmet und lenkt den Blick auf ein spezifisches Ereignis, das an dieser Stelle stattfand. Auf der Tafel heißt es: »In der Nacht vom 17. zum 18. Februar 1945 führten nach unerhörten Foltern die deutschen Faschisten den General Karbischew in die eisige Kälte, nahmen ihm die ganze Kleidung ab und begossen ihn mit kaltem Wasser, bis der Körper des Generals zu einem Eisklumpen erstarrte. Den Leichnam des Generals verbrannten die Faschisten in den Öfen von Mauthausen.«25

Maršálek schreibt über diese Februarnacht im Kapitel über die »Massenvernichtung von Häftlingen«. Er berichtet, dass der sowjetische General zu einer Gruppe von 200 bis 300 willkürlich ausgesuchten Kranken und Alten verschiedener europäischer Nationen gehörte, vor allem 23

Vgl. Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris 1967b. Bachtin, Michail M.: »Das Wort im Roman«, in: Rainer Grübel (Hg.), Ästhetik des Wortes, Frankfurt a.M. 1979, S. 154–300, hier S. 213. 25 H. Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 319. 24

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Sowjetbürger/-innen und Polinnen/Polen, die in derselben Nacht auf gleiche Weise ermordet wurden. Die Gestalt der Tafel – grauer Granit mit schwarzer Inschrift, links deutsch, rechts russisch – weist sie als Gedenktafel aus, doch gleichzeitig verfolgt der Text ein Vermittlungsanliegen. Als Gedenktafel war sie, als die frühen Debatten um den »richtigen« und »angemessenen« Vermittlungsdiskurs geführt wurden, außer Streit gestellt. Für die von sowjetischer Seite errichtete Tafel galt nicht die vonseiten der österreichischen Behörden damals vertretene Position, wonach »die historischen Vorgänge im Lager Mauthausen [nicht in einer] brutal-realistischen Weise«26 der Öffentlichkeit übergeben werden sollten. Diese Position kommt in den bewusst zurückhaltend formulierten Texten auf den Aluminiumtafeln deutlich zum Ausdruck. Formulierungen wie »feuriger Kämpfer« oder »Held der Sowjetunion« ebenso wie die Embleme Hammer und Sichel sowie fünfzackiger Stern zeugen davon, dass die Gedenktafel für den sowjetischen General aus einem anderen, entfernten Chronotopos stammt, der wie ein Fremdkörper in die heutige Zeit ragt. Aus aktueller Sicht mögen diese Formulierungen befremdlich klingen, aber wenn man sich bewusst macht, dass sie aus einem anderen historischen Kontext stammen, erlaubt der Text auf seine Weise, wie durch ein Prisma gebrochen, eine Annäherung an das, wofür das Wort Klagemauer in der Lagersprache stand.

Postulat nach Transparenz Die bisher letzte Generation von Beschriftungssystemen beschränkt sich auf die Bezeichnung des jeweiligen Orts innerhalb der Gedenkstätte und den Verweis auf den entsprechenden Audioguide-Text, der auf Deutsch und Englisch verfügbar ist. Der Hörtext zur Station Klagemauer beschäftigt sich mit der Einlieferung der Häftlinge und beginnt mit folgender Einleitung: »Die Einlieferung nach Mauthausen war eine Prozedur, die die neuen Häftlinge von Beginn an schockieren und demütigen sollte. Nachdem sie unter Schlägen und Schreien von der SS vom Bahnhof zum Lager getrieben worden waren, mussten sich die neu Eingelieferten in der 26

Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006, S. 127.

Überschreibungen und Einschreibungen

Regel auf dem kleinen Platz vor der Wäschereibaracke aufstellen, mit dem Gesicht zu jener Mauer, die im Lagerjargon den Namen Klagemauer erhielt. Diese Phase des Wartens, der extremen Verunsicherung und wachsenden Angst konnte Stunden, wenn nicht Tage dauern.«

An diese Einleitung schließt ein Auszug aus einem Zeitzeugenbericht eines ehemaligen italienischen Häftlings an, in dem er sich an den Tag seiner Einlieferung und die damit verbundenen Ängste und Demütigungen erinnert. Den Abschluss des Audioguide-Textes zu dieser Station bildet eine kurze Reflexion zu Viktor Frankls Analyse des »Aufnahmeschocks«. Den Audioguide-Texten liegt generell das Prinzip zugrunde, jene zu Wort kommen zu lassen, denen es im Lager geraubt worden war. Im aktuellen Vermittlungskonzept kommt Gruppenführungen bzw. den ausführlichen Audioguide-Texten für Besucher/-innen, die an keiner Führung teilnehmen, die zentrale Rolle zu. Informationen für »nicht geführte« Besucher/-innen werden an den einzelnen »Stationen« nicht mehr primär über Informationstafeln vermittelt, sondern über die am Eingang auszuborgenden Audioguides. Für die Zukunft ist ein Multimediaguide-System, das Ton und Bild kombiniert, vorgesehen. Dementsprechend tritt das visuelle Element der Beschriftung in den Hintergrund: Ein milchig weißer Schriftzug in radikaler Kleinschreibung auf einer transparenten Unterlage aus Plexiglas, die knapp über dem Boden angebracht ist, verweist mit »klagemauer / wailing wall / audioguide 2« auf den entsprechenden Hörtext. Die Wahl des Materials, der Ort der Anbringung und die minimalistische Gestaltung zeigen das Bemühen, die Materialität des Mediums möglichst »unsichtbar« werden zu lassen, um die Aufmerksamkeit auf das, was als das Wesentliche gesehen wird, die Botschaft, zu lenken. Damit wird einem Postulat gefolgt, demzufolge Medien »ihrer Aufgabe umso besser gerecht werden, je durchsichtiger sie bleiben, je unauffälliger sie unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verharren«27. Jürgen Spitzmüller bezeichnet dieses Postulat, das außer Acht lässt, dass die Materialität von Schrift immer eine situierte soziale Praxis darstellt, als Transparenzhypothese. Er führt es auf einen derzeit verbreiteten 27

Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.), Me­– dien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, München 1998, S. 157–176, zitiert nach Spitzmüller, Jürgen: Graphische Variation als soziale Praxis, Berlin/Boston 2013, S. 29.

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Diskurs zurück, der Lesbarkeit und Sichtbarkeit einander als Gegensätze gegenüberstellt und der Lesbarkeit den Vorzug gibt.

Diskurse des Gedenkens Durch die in den Beschriftungen sichtbar werdenden, verschiedenen Zeiträumen und sozio-ideologischen Welten zuordenbaren Diskurse der Vermittlung wird der historische Ort als ein Museum, als museumspädagogisch konzipierter Raum konstituiert. Gleichzeitig zeugen Monumente, Gedenktafeln und Zeichen persönlicher Erinnerung davon, dass er auch ein Ort des Gedenkens und der Trauer ist. Die »Klagemauer« mit dem daran anschließenden Mauerabschnitt bildet einen der Orte, an dem im Lauf der Jahrzehnte eine große Zahl von Gedenktafeln angebracht wurde. Nach der oben besprochenen Tafel für den sowjetischen General sind nacheinander folgende weitere Tafeln angebracht: eine für 7.000 republikanische Spanier, die im KZ Mauthausen und KZ Gusen Opfer des Nazismus wurden; dann eine zweisprachige weiße Marmortafel für die antifaschistischen Kämpfer Rumäniens; eine Metalltafel vom »Club ignoranti von Padua seinen gefallenen Mitbürgern«; eine stellenweise gesprungene Steintafel zur Erinnerung an die Helenen, die in Mauthausen ihr Leben ließen; eine für die Zivilpersonen und Soldaten der Vereinigten Staaten von Amerika, die für die Befreiung starben; eine den bulgarischen Antifaschisten, gewidmet vom Zentralkomitee der Kämpfer gegen den Faschismus; eine für die Angehörigen der tschechischen und slowakischen Volksgruppe in Österreich mit Namen und Todesdaten; eine an einen rosa Winkel gemahnende rötliche Marmortafel, »totgeschlagen / totgeschwiegen / den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus«; daneben eine von der arbeitenden und lernenden Jugend der Bundesrepublik Deutschland gestiftete Tafel mit einem Gedicht von Bertold Brecht; die einer österreichischen und französischen Pfadfindervereinigung zum Gedenken an ein getötetes Mitglied; eine erst kürzlich angebrachte, schwarz polierte mit Goldaufschrift – den Söhnen und Töchtern Aserbaidschans; daran anschließend weitere Tafeln neueren Datums zum Andenken an die kroatischen, die armenischen und die kasachischen Opfer; eine in den Farben Kubas, den kubanischen internationalen Brigadisten gewidmet; eine mit den nach Parteizugehörigkeit gruppierten Namen von 43 oberösterreichischen Widerstandskämpfern; eine zum Andenken an die hier ermordeten chinesischen Mitbürger; eine

Überschreibungen und Einschreibungen

den Opfern der Kärntner Slowenen (»Sie liebten ihre Sprache, die Heimat und ihr Volk«); eine mit türkischem Halbmond und Davidstern versehene und in türkischer, hebräischer, englischer und deutscher Sprache verfasste Tafel für die Opfer mit türkischer Staatsbürgerschaft und ihre Angehörigen; die nächste, »den Frauen des KZ Mauthausen zum Gedenken«, erinnert an die vielen, die durch die ausschließliche Verwendung der männlichen Form auf den allermeisten Tafeln ausgeblendet bleiben; und die Reihe setzt sich mit immer weiteren Tafeln fort. Das öffentliche Gedenken war in den ersten Jahrzehnten nach der Befreiung überwiegend national strukturiert. Davon zeugt beispielsweise die 1947 am Eingangstor angebrachte Gedenktafel in deutscher und russischer Sprache, die über 120.000 nach ihrer Staatsangehörigkeit angeführten Ermordeten gewidmet ist; davon zeugen auch die von Staaten errichteten Monumente im sogenannten Denkmalpark. Allen Toten zum Gedenken wurde 1949 an zentraler Stelle ein gemeinsamer Stein errichtet, in diesem Fall mit lateinischer Inschrift. Dass das öffentliche Gedenken weiterhin auch national strukturiert bleibt, zeigen Tafeln, wie einige der oben genannten, die von Staaten gestiftet wurden, die erst nach 1989 entstanden sind. Erst ab den 1970er-Jahren kamen Gedenktafeln für Opfergruppen dazu, die im national strukturierten Erinnerungsdiskurs nicht genannt wurden. So wurde 1970 eine Tafel zum Gedenken an die weiblichen Häftlinge angebracht, erst 1976 wurde ein Denkmal für die ermordeten Juden errichtet. Im folgenden Jahrzehnt rückten in dem Maß, wie sie gesellschaftliche Anerkennung erringen konnten, auch andere Opfer des Nationalsozialismus ins Blickfeld, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen verfolgt worden waren. So wurden von Vereinen und Verbänden ab den 1980er-Jahren weitere Tafeln für im Lager internierte und getötete Homosexuelle, Roma, Angehörige anderer österreichischer Volksgruppen und die Zeugen Jehovas angebracht. An verschiedenen Stellen der Gedenkstätte finden sich berührende Zeugnisse persönlicher Erinnerung – gerahmte Fotografien oder Briefe, Platten mit Aufschriften wie auf Grabsteinen, Gedenkplaketten, Kinderzeichnungen –, mit denen bestimmter Personen, Angehöriger und Freund/-innen, für die es keine Grabstätte gibt, liebevoll gedacht wird. Sie erinnern daran, dass die, derer hier gedacht wird, nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie Angehörige eines bestimmten Staates oder einer bestimmten vom NS-Regime verfolgten Gruppe waren, sondern auch

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Eltern, Partner/-innen, Kinder, Mitglieder einer Gemeinde, eines Vereins, eines Freundeskreises. Gedacht wird in vielen Sprachen, unter He­ranziehung verschiedenster religiöser, politischer und sonstiger Symbole. Neu angebrachte Tafeln und Inschriften, Kerzen, Grablichter, Kränze, Blumen oder hinzugelegte Erinnerungssteine sprechen davon, dass auch und gerade diese persönliche, intime Dimension des Erinnerns bis heute lebendig bleibt.

Ein heteroglossisches Palimpsest Betrachtet man die Gedenkstätte als »semiotic landscape«, also im Hinblick auf Manifestationen von Sprache im Raum bzw. als einen Raum, der (auch) durch Sprache und Schrift als soziale Praxen konstituiert wird, so fällt zunächst die große Dichte von unterschiedlichsten Aufschriften, Inschriften und Symbolen auf. Sie sind chronotopisch geschichtet, d.h., sie verweisen auf die jeweiligen zeitgeschichtlichen Momente, in denen sie angebracht wurden, nehmen auf zeitlich und geografisch gestreute Raumzeiten mit ihren spezifischen Diskursen Bezug, z.B. auf den Erinnerungsdiskurs der Sowjetunion in den 1940er- und 1950er-Jahren oder den Mythos von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, der bis in die späten 1980er-Jahre dominierte. Sie weisen dem Raum verschiedene Funktionen zu, die einander überlagern, ergänzen, manchmal konterkarieren. Verschiedene Generationen von Beschriftungssystemen zeugen sowohl vom Bemühen, der Nachwelt etwas von der unbegreifbaren Realität des Konzentrationslagers mitzuteilen, als auch vom Ringen darum, wem es zusteht, Geschichte wie zu vermitteln. Darauf, dass jährlich Hunderttausende Menschen aus der ganzen Welt die Gedenkstätte besuchen, weisen auch zahlreiche andere Beschriftungen hin, mit denen ich mich in diesem Beitrag nicht auseinandergesetzt habe: Warnhinweise, Verbote, Gebote usw., die im Kontext der Gedenkstätte fallweise als störend empfunden werden können. Aber das Memorial ist nicht nur Museum, sondern auch Friedhof für über hunderttausend Tote. Verschiedene Formen des Gedenkens überlagern einander – staatliche, gruppenspezifische, persönliche; sie bringen Trauer zum Ausdruck, aber auch die Forderung nach Anerkennung des Leidens und des Beitrags, der für die Befreiung erbracht wurde. Und schließlich ist darunter noch eine Sprachschicht vorhanden, die nur noch in Spuren, Wörtern wie »Klagemauer«, an die Oberfläche tritt: die

Überschreibungen und Einschreibungen

monolithische Sprache der Gewalt und die heteroglossische des Überlebens. So gesehen kann »semiotic landscape« als Palimpsest gelesen werden. Die tiefste Schicht, jene der lagerszpracha und der Sprache der Gewalt, bildet eine Art Dauerspur, wie beim immer wieder neu beschreibbaren »Wunderblock«, anhand dessen Freud 28 das Wechselspiel von bewusster Wahrnehmung und unbewusstem Erinnerungssystem skizziert. Diese Dauerspur blieb unter den bisherigen sukzessiven Löschungen und Überschreibungen im Zuge neuer Vermittlungskonzepte erhalten und gibt den Untergrund ab, über den sich auch künftige Schreibungen legen werden. Zur Kopräsenz verschiedener Raumzeiten im gegenwärtig erlebten Raum schreibt Henri Lefebvre: »In der Tat schreiben sich die Geschichte und ihre Folgen, die ›Dia­ chronie‹, die Etymologie der Orte, d.h. all das, was dort geschehen ist und dabei Orte und Plätze verändert hat, in den Raum ein. Die Vergangenheit hat ihre Spuren hinterlassen, ihre Inschriften, die Schrift der Zeit. Aber dieser Raum ist immer noch, heute wie früher, ein gegenwärtiger, als ein aktuelles Ganzes gegeben, mit seinen gerade wirksamen Verbindungen und Vernetzungen.«29

Diese vielfachen raumzeitlichen Verbindungen und Vernetzungen treten auf sprachlicher Ebene als Heteroglossie in Erscheinung, als ein Übereinander, Nebeneinander und Durcheinander verschiedener Diskurse, Sprachen und Stimmen, die sich der Vereinheitlichung, Bereinigung und Glättung widersetzen und gerade dadurch Gegensätze zur totalitären Sprache bilden.

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Vgl. Freud, Sigmund: »Notiz über den ›Wunderblock‹«, in: Gesammelte Werke XIV, 4. Auflage, Frankfurt a.M. 1968 (19251), S. 387–391. 29 H. Lefebvre: »Die Produktion des Raums«, S. 334.

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Literatur Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuch eines Überwältigten, Neuausgabe der Erstauflage von 1966, Stuttgart 1977. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 1986. Aschenberg, Heidi: »Sprachterror. Kommunikation im nationalsozialistischen Konzentrationslager«, in: Zeitschrift für romanische Philologie 118/4 (2002), S. 529–572. Bachtin, Michail M.: »Das Wort im Roman«, in: Rainer Grübel (Hg.), Ästhetik des Wortes, Frankfurt a.M. 1979, S. 154–300. Bachtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt a.M. 2008. Busch, Brigitta: Mehrsprachigkeit, Wien 2013. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006. Derrida, Jacques: L‘écriture et la différence, Paris 1967a. Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris 1967b. Frankl, Viktor E.: Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers, Berlin/ Heidelberg 1961. Freud, Sigmund: »Notiz über den ›Wunderblock‹«, in: Gesammelte Werke XIV, 4. Auflage, Frankfurt a.M. 1968 (19251), S. 387–391. Gramling, David: Where Here Begins: Monolingualism and the Spatial Imagination, Berkeley 2008. Jaworski, Adam/Thurlow, Crispin (Hg.): Semiotic Landscapes. Language, Image, Space, London 2010. Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt a.M. 2004. Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.), Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, München 1998, S. 157–176. Lefebvre, Henri: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 330–342. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 1992. Maršálek, Hans: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, 4. Auflage, Wien 2006. Oschlies, Wolf: »›Lagerszpracha‹. Zu Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik«, in: Zeitgeschichte 13/1 (1986), S. 1–27. Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006. Shohamy, Elena/Gorter, Dirk (Hg.): Linguistic Landscape. Expanding the Scenery, New York/London 2009. Spitzmüller, Jürgen: Graphische Variation als soziale Praxis, Berlin/Boston 2013. Vološinov, Valentin: Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, Frankfurt a.M. 1975.

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Unsichtbarkeiten Aufgedeckte Spuren und Relikte. Archäologie im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen

An Standorten ehemaliger Konzentrationslager, die heute als Gedenkstätten dienen, steht in der Regel noch eine gewisse Anzahl von Gebäuden und Einrichtungen, die gezielt bewahrt wurden, um an diesen historischen Plätzen Originale zu erhalten und sie als Dokument des nationalsozialistischen Terrors sichtbar zu präsentieren. Die Lager waren aber weitaus größer und viel dichter bebaut, als es heute den Anschein hat. Zum Lagerkomplex Mauthausen gehörten bei Kriegsende knapp 100 Gebäude. Schon während der Betriebszeit durch die SS gab es zahlreiche Veränderungen im Baubestand, meist Erweiterungen, um immer mehr Häftlinge in Baracken oder gegen Kriegsende in Zelten unterzubringen. Bei Kriegsende versuchten die Nationalsozialisten durch Entfernung von Tötungsanlagen ihre Gewaltverbrechen zu vertuschen. Nach dem Krieg sind aus unterschiedlichen Gründen diverse Abtragungen vorgenommen worden. In Mauthausen beispielsweise brannten die amerikanischen Soldaten, die das Lager befreit hatten, aus Angst vor Seuchengefahr einige Baracken ab, die Zelte wurden abgebaut. Manche Baracke ist als noch intaktes Gebäude an einem neuen Ort einer neuen Verwendung zugeführt worden. Schließlich wurde im Zuge der Einrichtung der Gedenkstätte das Areal weiter reduziert und lediglich das Hauptlager bzw. Teile des Hauptlagers als Ort der Erinnerung bewahrt. Heute ist man sich bewusst, dass auch die nun unsichtbaren Teile der ehemaligen Konzentrationslager für das Erinnern, für die Geschichte der Lager und der nationalsozialistischen Gewaltstrukturen von wesentlicher Bedeutung sind. Durch archäologische Methoden können diese verdeckten Spuren wieder sichtbar gemacht werden. Sowohl die aufgedeckten baulichen Überreste als auch die zahlreichen ausgegrabenen Funde aus der Lagerzeit geben einen tiefen

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Einblick in die Strukturen der Lager. So können durch die Materialität der Objekte Zusammenhänge oft einprägsamer (und haptischer) vermittelt werden als durch eine Beschreibung oder ein Bild. Zudem werfen die nachkriegszeitlichen Veränderungen ein Licht auf den Umgang mit den nationalsozialistischen Relikten durch die Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Mauthausen stehen im Hauptlager noch ganz unterschiedliche Bauwerke. Um den Appellplatz gruppieren sich auf der einen Seite drei Häftlingsbaracken, auf der anderen Seite befinden sich die steinernen Funktionsgebäude, also das Arrestgebäude, das Krankenrevier, die Wäscherei und die Küche. Außerdem sind noch die Ummauerung bzw. Umzäunung des Hauptlagers, Wachtürme sowie die Kommandantur und der Garagenhof erhalten. Die drei Funktionsgebäude sind zwar im Verlauf der letzten 70 Jahre nach Kriegsende mehrfach verändert und auch restauriert worden, sie sind aber in ihrer Grundstruktur unverändert. Das Gleiche gilt für die Kommandantur, das Ensemble des Garagenhofes und die Ummauerung bzw. Umzäunung. Jedoch gab es bei Weitem nicht nur drei Häftlingsbaracken im Hauptlager bzw. in den Erweiterungen innerhalb der noch stehenden Lagermauern, sondern rund 25 Baracken, in denen Zigtausende Häftlinge untergebracht waren. Und es stand noch eine Vielzahl von Gebäuden der SS im näheren Umfeld. Vor dem Haupttor etwa, wo sich heute der Denkmalpark befindet, waren ursprünglich die Gebäude der SS-Verwaltung, das Lazarett und auch die Effektenkammer positioniert. Südwestlich des Lagers, wo nun das Besucher/-innenzentrum situiert ist, waren Werkstätten, ebenso im Norden und im Nordosten des Lagers. Hinzu kommen etliche Erweiterungen, bei denen weitere Häftlingsbaracken gebaut wurden, etwa in Lager 3 südöstlich des Hauptlagers oder auch im nordwestlich gelegenen Sanitätslager, in dem zunächst sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren. Im Frühjahr 1943 wurden dorthin kranke Häftlinge verlegt und es wurde fortan als Sanitätslager bezeichnet. Zu den Häftlingsunterkünften mit ganz katastrophalen Verhältnissen zählte das Zeltlager im Norden. Auf diesen Arealen sind alle Gebäude abgetragen worden, heute prägen landwirtschaftliche Flächen, Felder oder Wiesen das Bild dieses Orts. Auch der Steinbruch, jener Ort, an dem die Häftlinge zu schwerster Zwangsarbeit genötigt wurden,1 ist stark verändert: Der Boden wurde für 1

Vgl. dazu allgemein Freund, Florian/Perz, Bertrand: »Mauthausen – Stammlager«, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der

Unsichtbarkeiten

ein Konzert im Jahr 2000 eingeebnet. Während des KZ-Betriebs waren hier etliche Gebäude vorhanden, darunter auch massiv ausgeführte sowie diverse Betriebsmittel, wie z.B. Feldbahnen. Einige wenige Bauteile sind zwischen den Bäumen und im Unterholz als Ruinen erhalten; vieles ist auch dort abgetragen worden. Weitere Beispiele ließen sich ergänzen. Trotz der vielen Veränderungen ist der Erhaltungszustand in Mauthausen verglichen mit anderen Standorten ehemaliger Konzentrationslager oder anderer Internierungslager in Europa, an denen mehr oder weniger alle Gebäude abgetragen wurden, recht gut. Dies liegt sicherlich auch an der Lage des Konzentrationslagers abseits der Ortschaft Mauthausen und an der frühen Entscheidung, hier eine Gedenkstätte einzurichten. An anderen Orten, etwa im benachbarten Gusen, ist viel weniger erhalten, dort wurde das Konzentrationslager fast vollständig abgetragen und auf dem Gelände wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Wohnhäuser errichtet. Eine Betrachtung der sichtbaren und unsichtbaren Überreste muss auch die Spuren und Relikte einbeziehen, die sich innerhalb der Gebäude befunden haben, z.B. die Tötungseinrichtungen, wie die Erschießungsanlagen, die technischen Installationen der Gaskammer, die Krankenrevierausstattung, die einfachen Stockbetten in den Häftlingsbaracken – all dies ist ebenfalls nicht mehr vorhanden. Lediglich fest installierte, große runde Waschbecken wurden nicht abmontiert. Die Veränderung bzw. die Entfernung des ehemals Vorhandenen und des ehemals Sichtbaren ging in der Nachkriegszeit so weit, dass auch die Wände der Innenräume übertüncht wurden und somit der optische Eindruck der nationalsozialistischen Funktionszeit als Konzentrationslager völlig verändert wurde. Aus dem Beschriebenen geht hervor, dass diese Umgestaltungen, dass dieses Abtragen des ehemals Sichtbaren ein bewusster Vorgang gewesen ist. Das Areal des Konzentrationslagers Mauthausen wurde schon 1947 an die Republik Österreich, mit der Auflage, dort eine Gedenkstätte zu errichten, zurückgegeben. Die maßgeblich an der Konzeption beteiligten Opferverbände bzw. das Mauthausen-Komitee stellten den Appellplatz als zentralen Platz in das Zentrum der Gedenkstätte, ein Bereich mit hoher symbolischer Geltung für die Leiden der Häftlinge und den Terror der Nationalsozialisten. Um das Gedenken an die Opfer zu betonen, wurde auf dem Appellplatz nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, S. 293–346.

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ein Sarkophag mit der lateinischen Inschrift »Mortuorum sorte discant viventes« (Aus der Toten Geschick mögen die Lebenden lernen) errichtet. Für das Gedenken der Überlebenden an ihre Mitopfer wurden lediglich die an den Appellplatz angrenzenden Gebäude für notwendig befunden, also die Funktionsgebäude und die erste Reihe der Häftlingsbaracken. Man hielt einerseits die übrigen Baracken für explizit historisch nicht erhaltenswert, andererseits wurde durch die gezielte Reduzierung des Baubestandes das noch Vorhandene in seiner symbolischen Bedeutung zu erhöhen versucht.2 Ein neuer Anstrich veränderte die noch stehenden Gebäude optisch, der frühe Einbau einer christlichen Kapelle griff auch massiv in die ehemalige Funktion der Wäscherei ein und gab der Gedenkstätte eine christliche Konnotation, obwohl die Häftlinge des Konzentrationslagers unterschiedlichen Religionen und Konfessionen angehörten. Es ist zudem zu bedenken, dass die zahlreichen Holzbaracken in der Nachkriegszeit ein wertvolles Gut waren, daher ist es nachvollziehbar, dass sie abgetragen und anderweitig verwendet wurden. Das ehemals dicht bebaute Areal hat heute also sehr viele Freiflächen, die Größe und Dichte des nationalsozialistischen Konzentrationslagers sind nicht mehr sichtbar. Ohne spezifische und detaillierte Informationen wird leicht der Anschein erweckt, dass das Lager deutlich kleiner gewesen ist. Im Prinzip sind nur die abgetragenen Baracken im Hauptlager durch Fundamentstreifen und eine Schotterung kenntlich gemacht, alles andere ist zumindest oberflächlich unsichtbar. Wenn man jedoch mit offenen Augen durch die Außenbereiche der Gedenkstätte geht, werden andere Teile des Lagers wieder sichtbar. An zwei Beispielen sei dies erläutert: Das Sanitätslager bzw. Russenlager, welches 1941 und 1942 gebaut wurde, umfasste ursprünglich zehn Häftlingsbaracken, eine Küchenbaracke und eine Sanitätsbaracke. Nicht zuletzt wegen drohender Seuchengefahr gehörte es zu den Bereichen, die nach der Befreiung frühzeitig abgebrannt bzw. abgetragen wurden. Allerdings verblieben die steinernen Fundamente im Boden, an etlichen Stellen erkennt man zwischen dem Rasen auch Betonfundamente und man kann recht gut mit geübtem Blick die Barackengrundrisse ausmachen. Zusätzliche Hinweise geben auch Bewuchsmerkmale, gewisse Pflanzen wachsen 2

Vgl. ebd. sowie Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S. 61–118.

Unsichtbarkeiten

mehrheitlich auf den Fundamenten und weniger in den Innenflächen der Baracken. Die Überreste der Baracken sind also noch direkt unter der Oberfläche erhalten.

Blick auf das Sanitätslager, durch Bewuchsmerkmale kann man links die Lage der Küchenbaracke und rechts eine Ringstraße im Eingangsbereich erkennen. Foto: Claudia Theune

Das zweite Beispiel betrifft das ehemalige Zeltlager. Für die Errichtung der Zelte auf einer einigermaßen ebenen Fläche mussten die Häftlinge zunächst das Gelände terrassieren. Diese Terrassierung prägt bis heute das Areal, wodurch die einzelnen Standorte der großen Zelte schnell erfassbar sind. Auch auf dem landwirtschaftlich genutzten Feld, wo sich die Erweiterung des Lagers 3 befand, werden immer wieder Relikte hochgepflügt, die bezeugen, dass dieses Feld ehemals zum Konzentrationslager gehörte. Wer sich also die Mühe macht und nach Spuren und Relikten sucht, die erst auf den zweiten oder dritten Blick sichtbar werden, wird diese Spuren auch finden. Während, wie oben geschildert, bei der ersten Konzeption des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen als Gedenkstätte sich das

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Erinnern der Überlebenden vornehmlich auf den zentralen Bereich des Appellplatzes konzentrierte, versucht man bei heutigen Gedenkstättenplanungen generell das gesamte Ausmaß der ehemaligen Lager einzubeziehen, um den Besucher/-innen das komplexe Konzentrationslagersystem umfassend erläutern zu können. Dies steht sicherlich auch mit veränderten Besucher/-innengruppen in Zusammenhang; nicht die Überlebenden, die die Größe der Lager noch aus eigenem Erleben kannten und ihre Angehörigen machen den Großteil der Besucher/‑innen aus, sondern Schulklassen, junge Erwachsene, historisch Interessierte sowie Tourist/-innen. Diese Gruppen benötigen andere Informationen, als die Besucher/-innen in den 1950er- bis 1980er-Jahren – dazu gehören auch Erläuterungen zu den heute unsichtbaren Teilen der ehemaligen Konzentrationslager. So sind vorrangige Ziele, zu denen die Archäologie eingesetzt wird, die weitgehende Erfassung und die Sichtbarmachung etlicher Aspekte der Lager selbst.3 In der Archäologie gibt es ein vielfältiges Methodenspektrum, um anhand der materiellen Hinterlassenschaften Erkenntnisse zur Geschichte der Menschen zu erlangen. Grundsätzlich zu unterscheiden sind sogenannte nichtinvasive und invasive Maßnahmen. Im ersten Fall erlauben verschiedene Prospektionsmethoden einen Einblick unter die Erdoberfläche ohne einen direkten Bodeneingriff. Im zweiten Fall werden durch Ausgrabungen die verborgenen Spuren freigelegt, detailliert dokumentiert und zudem die Funde in ihrem ehemaligen Kontext erfasst. Aufgrund der Größe der Lager kann man zwar großflächig prospektieren, jedoch in der Regel nur kleinere Areale archäologisch ausgraben. 3

Die folgenden Beispiele beziehen sich auf archäologische Projekte, die von der Autorin selbst geleitet und durchgeführt worden sind, die bauarchäologischen Untersuchungen unternahm Paul Mitchell. Ich nenne daher hier Fachliteratur, in der weiterführende oder auch detailliertere Informationen zu finden sind: Theune, Claudia: Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts. Archäologie in Deutschland, Stuttgart 2014; Theune, Claudia: »Archaeological research in former concentration camps«, in: Natascha Mehler (Hg.), Historical Archaeology in Cen­ tral Europe. Society of Historical Archaeology Special Publications, Rockville 2013, S. 241–260; Theune, Claudia: »Archäologische Relikte und Spuren von Tätern und Opfern im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen«, in: Mauthausen Memorial neu gestalten. Tagungsbericht zum 1. Dialogforum Mauthausen 18.–19. Juni 2009, Wien 2010, S. 33–38; Theune, Claudia: »Zeitschichten. Archäologische Untersuchungen in der Gedenkstätte Mauthausen«, in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Mauthausen Memorial Forschung – Dokumentation – Information, Wien 2009, S. 25–30; Mitchell, Paul: »Bauarchäologie in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen«, in: Bulletin Mauthausen 1, Mai 2013, S. 47–50.

Unsichtbarkeiten

Die Auswahl der Grabungsbereiche orientiert sich stets an zuvor formulierten Fragestellungen, wie beispielsweise der Suche nach einem spezifischen Komplex innerhalb des Lagers, der Analyse von Überlebensstrategien der Häftlinge, einer exakten zeitlichen Bestimmung und Abfolge von bestimmten Bereichen oder auch der bewussten Freilegung von Strukturen, die wieder sichtbar gemacht werden sollen. Die Ergebnisse können in Ausstellungen präsentiert werden, wieder offenliegende Grundrisse zeigen den Besuchenden die Lage, die Größe, den Aufbau oder auch die Innengliederung der Gebäude. Hier ist jedoch zu bedenken, dass freiliegende historische Mauern einer steten Pflege bedürfen, damit diese nicht durch wechselnde Witterung Schaden nehmen. Hilfreich für die Recherchen sind zunächst zeitgenössische Luftbilder, auf denen das gesamte Ausmaß der ehemaligen Lager abgebildet ist. In seltenen Fällen sind Zeichnungen oder Skizzen ehemaliger Häftlinge erhalten, auf denen die Lage der Gebäude verzeichnet ist. Mit diversen Prospektionsmethoden lässt sich Weiteres erkennen. Neben von Satelliten aufgenommenen Luftbildern wurden in den letzten Jahren flächendeckend moderne digitale Geländemodelle erstellt; dabei werden durch eine laserbasierte Fernerkundung feinste Oberflächenstrukturen sichtbar gemacht. Auf diese Weise können kleine regelmäßige Geländeunebenheiten erkannt werden, die z.B. auf ehemalige Gebäude hinweisen. Hinzu kommen geophysikalische Methoden. Hierbei ist es möglich, Mauerstrukturen, Gruben oder andere Einbauten zu sehen, die sich unter der Erdoberfläche befinden. Man unterscheidet zwischen geomagnetischen Verfahren, bei denen durch menschliche Eingriffe verursachte Anomalien des natürlichen Erdmagnetfeldes gemessen werden, und Georadarmessungen, wo die Laufzeit elektromagnetischer Impulse nach einer Reflexion an Schichtgrenzen oder z.B. Gebäudestrukturen ermittelt wird. Erfahrungsgemäß sind Gruben besser durch geomagnetische Messungen und steinerne Einbauten besser durch das Georadar zu erkennen. In Mauthausen wurden beide Methoden angewandt. Als weitere Methode der Prospektion muss noch die Begehung angeführt werden. Bei einem systematischen Kontrollgang über das Areal findet man in der Regel immer Anzeichen der ehemaligen Bebauung, der ehemaligen Nutzung. Erwähnt seien schließlich noch flächendeckende Bohrungen. Die Bohrkerne lassen sich im Hinblick auf die Nutzung des Geländes analysieren.

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All diese Verfahren können eingesetzt werden, wenn es um die Erfassung der Dimension und die funktionale Gliederung der Lager geht. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die genannten Methoden nur ein Abbild des letzten Ausbauzustandes widerspiegeln und nicht einzelne Entwicklungsphasen aufzeigen. Erst nach Ausschöpfung der Prospektionsmethoden ist es sinnvoll, Ausgrabungen durchzuführen. Aufgrund der Größe und Ausdehnung aller nationalsozialistischen Lager, insbesondere gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, ist es selten möglich, große Flächen zu öffnen. Grundsätzlich sollten nur solche Bereiche für die Freilegungen ausgewählt werden, die eine möglichst hohe Informationsdichte zu zuvor formulierten Fragestellungen versprechen. Bei der Ausgrabung von im Boden noch existierenden Befunden ehemaliger Strukturen können etwa durch Überschneidungen oder Überlagerungen verschiedene Phasen erkannt werden. Die Bergung von zahlreichen Objekten und Funden in diesen historischen Kontexten ermöglicht weitere detaillierte Aussagen über den Ort. Archäologische bzw. bauarchäologische Methoden werden auch bei noch aufrechterhaltenen Gebäuden angewandt. Neben der Dokumentation von verschiedenen Bauphasen, etwa durch Baunähte und dem Zumauern oder Aufbrechen von Fenster- oder Türöffnungen, besteht die Möglichkeit, die übereinanderliegenden Anstriche und Putze an den Wänden zu analysieren und so die verschiedenen Bemalungen und Fassungen wieder sichtbar zu machen. Es besteht also ein breites Repertoire an unterschiedlichen Methoden, um verschiedenste Spuren und Relikte aufzudecken und Unsichtbares in den ehemaligen Konzentrationslagern wieder sichtbar zu machen. All die genannten Prospektionsmethoden sind in Mauthausen angewandt worden. Auf dem Gelände des Sanitätslagers, des Zeltlagers und der Werkstattbaracken östlich des Hauptlagers wurde der Untergrund geophysikalisch untersucht. Zusätzlich wurden noch Georadarmessungen im Bereich der Gaskammer durchgeführt. Die noch stehenden Gebäude sind systematisch bauarchäologisch erforscht worden.4 Ausgrabungen fanden im Sanitätslager, im Zeltlager, im Bereich der Werkstätten und auf dem Weg zum Steinbruch statt, zusätzlich werden alle anfallenden Bau- und Restaurierungsmaßnahmen in der Gedenkstätte archäologisch begleitet, dadurch ergeben sich zusätzliche Informationen. Im Folgenden 4

Lediglich die Kommandantur muss noch bauarchäologisch erfasst werden.

Unsichtbarkeiten

werden die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen in Mauthausen vorgestellt. Das Sanitätslager wurde 1941/42 geplant. Nach einem zeichnerischen Entwurf wollte man in zwei Reihen neun große sowie zwei kleine Baracken errichten. Ein großes Küchengebäude sollte im vorderen Bereich und Trockenaborte an den Schmalseiten gebaut werden. Luftbilder und die geophysikalische Prospektion haben gezeigt, dass man von diesen Plänen abgewichen ist. Von den beiden kleinen Baracken wurde nur eine ausgeführt, als sanitäre Anlage diente eine längs ausgerichtete Baracke zwischen den beiden Reihen. Die Luftbilder belegen noch Veränderungen kurz vor Kriegsende, im Eingangsbereich erscheint ein kleiner Bau und ein Bereich ist zusätzlich mit einem Zaun abgegrenzt worden, hier waren bei Kriegsende weibliche Häftlinge untergebracht. Die Georadarmessungen erbrachten einen sehr klaren Plan des ehemaligen Sanitätslagers in seinem letzten Ausbaustadium.

Die Georadarmessungen lassen sehr klar einen Grundrissplan des Sanitätslagers mit der Innengliederung der Baracken erkennen. Quelle: ArcheoProspections

Eine erste archäologische Ausgrabung fand 2009 im Sanitätslager statt. Ziel der Ausgrabung war es, die Erhaltungsbedingungen der Barackenreste

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unterhalb der Grasnarbe zu ergründen. Dies war von besonderer Bedeutung, da nach schriftlichen Dokumenten der Alliierten das Sanitätslager aufgrund von Seuchengefahr abgebrannt werden sollte. Es galt, dazu Hinweise zu finden. Da die Baracken eine Breite von rund 9,60 m und eine Länge rund 40 m hatten, wurde nur der Kopf einer Baracke mit dem Eingangsbereich geöffnet. Die Holzbaracke stand auf einem Streifenfundament aus Bruchsteinen und gemauerten Ziegeln. Der Innenraum selbst war dreigeteilt, wie regelmäßig ausgeführte Stützen belegen. Zusätzlich konnte noch ein Ofenfundament dokumentiert werden. Besondere Sorgfalt hat der Eingangsbereich erfahren. Der Platz vor der Tür war mit Steinplatten gepflastert, die seitlichen Bereiche mit einer Schotterung befestigt. Eine Bohle im Innenbereich kann noch von dem ehemaligen Fußboden stammen. Die hier geborgenen Funde gehören in erster Linie zur Baracke selbst: es sind zahllose Nägel, Scherben von zerbrochenen Glasfenstern, Scharniere der Fenster und Türen sowie Schlösser und Riegel. Weitere Funde können den Opfern oder den Täter/-innen zugewiesen werden. Zu erwähnen sind persönliche Objekte der Gefangenen, so ein kleines Blech mit einer kyrillischen Inschrift, welches möglicherweise auf einen sowjetischen Soldaten hinweist, der in der Schwarzmeerflotte diente. Ebenfalls auf Gefangene aus der sowjetischen und polnischen Armee deuten Knöpfe mit entsprechenden Emblemen und Inschriften hin, weitere Herkunftsländer der Opfer werden durch Feldgeschirre mit korrespondierenden Inschriften sichtbar. Etliche Gürtelschnallen können eventuell den Gefangenen gehört haben. Des Weiteren seien einige Besteckteile, vornehmlich Löffel, genannt. Zahlreiche Schuheisen und wohl auch eine Zigarettenspitze bzw. eine Pfeifenmundstück aus Kunststoff sind wohl den Bewacher/-innen zuzuordnen. Interessant ist der Fund eines Taschenmessers und anderer Messerfragmente. Der Besitz eines Taschenmessers war den Häftlingen strengstens verboten, es mag aber auch zur Ausrüstung des Sanitätslagers selbst gehört haben, ebenso ein Schneideaufsatz für eine Haarschneidemaschine. Weitere Funde stammen aus einer größeren Grube dicht neben der Baracke. Sie ist scheinbar erst nach dem Krieg angelegt worden, um verschiedene Dinge zu entsorgen. Neben einer Schubkarre fand sich eine große Milchkanne. Auf der Kanne findet sich eine Herstellermarke, die auf die Metallwerke in Laa verweist, wo die Kanne produziert wurde; sie diente im Sanitätslager wahrscheinlich für den Transport der Suppe für die Häftlinge.

Unsichtbarkeiten

Etliche der Funde waren verschmolzen, insbesondere war dies am Glas zu beobachten. Auch Bereiche der Erdschichten zeigten einen Brandhorizont. Das kann in Zusammenhang mit den oben genannten Berichten gebracht werden. Es mag sein, dass Baracken angezündet worden sind, jedoch waren die Brandspuren insgesamt zu gering, sodass man nicht von einem massiven, das gesamte Sanitätslager betreffenden Feuer sprechen könnte. Bestätigt wird diese Hypothese durch Fotografien vom Sanitätslager kurz nach der Befreiung. Auf den Bildern fehlen zwar einige Baracken, andere stehen aber noch aufrecht, die Einebnung wird nicht in einem Zuge erfolgt sein. Die relativ kleine Ausgrabung im Sanitätslager erbrachte somit etliche Einblicke in die Strukturen dieses Bereiches, sowohl in Bezug auf die Baracken selbst als auch durch die Objekte, die dort von Häftlingen und Bewacher/-innen genutzt wurden. Ein anderer Gefangenenbereich war das Zeltlager. Es wurde erst im Herbst 1944 für ungarische Gefangene errichtet. Ursprünglich war ein großes Zelt für ca. 800 Häftlinge vorgesehen, durch Zeitzeug/-innen ist bekannt, dass sich dort allerdings bis zu 2000 Menschen zusammendrängen mussten. Planen bedeckten nur das Dach und die Seitenwände der Zelte. Nach Auskunft von Überlebenden war der Zeltboden in keiner Weise befestigt. Hier wurde ebenfalls bei der Ausgrabung auf einer der Terrassen nur ein Teil eines Zeltareals untersucht. Zunächst konnte festgestellt werden, dass die Stufen der Terrassen ehemals deutlich steiler waren als heute. Folglich bestand stets die Gefahr, dass von oben Regenwasser in die Zelte hineinlief. Dass dies passierte, konnte durch die Ausgrabung nachgewiesen werden. Am Rande der Zelte waren kleine Drainagegräbchen ausgehoben worden, die das Eindringen des Wassers verhindern sollten. Es konnte dokumentiert werden, dass die Gräbchen mehrfach ausgebessert bzw. gereinigt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass die Zelte keinen festen Boden besaßen, war zu erwarten, dass im Erdreich etliche Gegenstände der Häftlinge eingetreten worden waren. Solche persönlichen Objekte fanden sich dann auch; ein Spiegel und eine Schuhsohle lagen dicht beieinander. Andere persönliche Gegenstände der Häftlinge sind Zahnbürsten und Zahnpasta, Kämme, Rasierzeug, fragmentierte Brillen, Lederreste von Schuhen, eine aus fragilen Hohlkugeln bestehende Kette und Medizinröhrchen. Viele der Objekte tragen ungarische Aufschriften bzw. wurden sie von ungarischen Firmen produziert. Die ungarischen Gefangenen haben diese

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wenigen Habseligkeiten wohl auf ihrem Leidensweg nach Mauthausen mit sich getragen. Wiederum können Schuheisen und eventuell eine Taschenlampe den Bewacher/-innen zugewiesen werden. Die beiden Ausgrabungsareale, in denen Häftlinge gefangen gehalten wurden, haben Einsichten in die Struktur der Gebäude bzw. des Zeltes, und durch die Funde in die Überlebensbedingungen, gegeben. Während im Sanitätslager eine Sanitätsbaracke gebaut wurde und in der festen Holzbaracke noch ein Ofen vorhanden war, der zumindest – wenn die Heizmittel vorhanden waren – eine gewisse Wärme ausstrahlen konnte, gab es im Zeltlager keinerlei Einrichtungen, die in irgendeiner Weise auch nur die Grundbedürfnisse der Gefangenen zum Überleben gestillt hätten. Die Funde von beiden Grabungen sind vergleichbar, es gibt Gegenstände wie die Schuheisen, die die SS-Wachen trugen. Die angeführten persönlichen Objekte können als der wenige Besitz der Opfer angesehen werden. Die unterschiedlichen Inschriften geben Hinweise auf die Herkunftsländer der Häftlinge, im Sanitätslager stammten sie vornehmlich aus Polen und der Sowjetunion, im Zeltlager aus Ungarn. Die Ausgrabungen am Weg zum Steinbruch im Jahr 2010 hatten eine andere Intention. Es sollte eruiert werden, ob dieser Weg aus der NS-Zeit stammt oder jünger ist. Der heutige Weg ist an den Rändern von Gras überwachsen, sodass seine ursprüngliche Breite nicht mehr wahrnehmbar ist. Zudem sind die verlegten Feldsteine sehr unregelmäßig und un­­ eben. Die Grabung hat die tatsächliche Breite des Weges von rund 6 m offensichtlich werden lassen, zusätzlich waren an beiden Seiten Abflussrinnen und Bordsteine. Die langrechteckigen Bruchsteine der Wegpflasterung wurden senkrecht verlegt, darunter befindet sich eine Lage von flachen Steinplatten als Sicherung bzw. Fundamentierung, sodass die Bruchsteine nicht weiter in den Grund einsinken konnten. Eine ähnliche Konstruktion konnte am Appellplatz und vor den Funktionsgebäuden dokumentiert werden. Damit kann der Weg zum Steinbruch direkt mit der Konzentrationslagerzeit in Verbindung gebracht werden. Er ist stabil und breit gebaut, schließlich mussten täglich zahlreiche Häftlinge den Weg vom Lager zum Steinbruch mehrfach bewältigen. Die heutigen Unebenheiten sind auf die lange Zeit, die seit der Anlage des Weges verstrichen ist, zurückzuführen; vor mehr als 70 Jahren war er relativ eben. Inzwischen sind viele Sommer und Winter vergangen und damit war der Weg einer Vielzahl von Witterungseinflüssen ausgesetzt. Zudem sind in dieser Zeit die Wegränder überwachsen. Eine gewisse Pflege sowie die

Unsichtbarkeiten

Menge der Gedenkstättenbesucher/-innen lassen in der Mitte keinen Grasbewuchs hochkommen. Zum Schluss sei noch auf Beispiele aus der Bauarchäologie hingewiesen, die im Hauptlager an allen noch vorhandenen Gebäuden durchgeführt wurde. Neben Untersuchungen zum Bauablauf der einzelnen Gebäude während der NS-Zeit werden auch Veränderungen der Nachkriegszeit dokumentiert. Wie oben angedeutet, wurde zwar der Grundplan bei den noch erhaltenen Gebäuden nicht oder kaum verändert, jedoch gab es zahlreiche Umgestaltungen, die deutlich das Erscheinungsbild der Bauten beeinflussten. Zunächst ist festzuhalten, dass bis Kriegsende die Häftlingsbaracken mit eng gestellten Bettgestellen, einigen Spinden, Tischen und Stühlen möbliert waren. Die steinernen Bauten auf der anderen Seite des Appellplatzes waren nach Maßgabe ihrer Funktion ausgestattet. Die Nationalsozialisten hatten lediglich kurz vor der Befreiung versucht, die eindeutigen Beweise der Ermordungen in der Gaskammer bzw. den zugehörigen Vorräumen zu vertuschen und haben z.B. die Installationen zur Einführung des Gases in die Gaskammer abmontiert. Nach der Befreiung haben einerseits ehemalige Häftlinge etliches Inventar aus Mauthausen entfernt und in andere geplante Gedenkstätten verbracht, 5 andererseits wurden in der Phase der Einrichtung der Gedenkstätte entsprechend den oben genannten Prämissen auch die verbliebenen Gebäude verändert. In der Kommandantur waren Teile der Verwaltung der neuen Gedenkstätte untergebracht, in dem Krankenreviergebäude wurde eine Ausstellung eingerichtet. Die Häftlingsbaracken waren bis auf wenige symbolisch verbliebene Möbel geleert. Diese Maßnahmen wurden in den Funktionsgebäuden von neuen Anstrichen der Wände begleitet. Weiß oder Gelb waren von nun an die vorherrschenden Farben. Bis zu den bauarchäologischen Maßnahmen war vergessen bzw. nicht bekannt, dass die nationalsozialistischen Farbfassungen noch unter den nachkriegszeitlichen Neuanstrichen erhalten waren. Besonders deutlich ist dies im Bereich der Bordellbaracke (Baracke 1), im Speziellen in den Sexkabinen, in denen die Häftlinge aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zwangsprostituiert wurden. Bei genauem Hinsehen sind unter der gelben Farbe noch die bunten Bemalungen und streifenartigen Fassungen an den Wänden und an der Decke der Sexkabinen zu erkennen. 5

Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 39–42.

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Freigelegte Farbschichten im Lagerbordell (Baracke 1). Foto: Claudia Theune

Wenn man die gelbe Farbe abnimmt, treten mehrere alte Bemalungen zutage. Dies bedeutet, dass während der Zeit des Konzentrationslagers die Räumlichkeiten mehrfach ausgemalt und auf diese Weise ansprechend gehalten wurden. Überraschungen haben auch entsprechende Freilegungen im Krankenreviergebäude ergeben. Während der Umwandlung des Gebäudes in ein Museum in den 1960er-Jahren wurden die Wände weiß gestrichen und die Fußböden erhielten einen schwarzen Gussasphaltboden. Zusätzlich wurden einige Wände entfernt, um Raum für die damalige Ausstellung zu schaffen. Die gegenwärtige Neukonzeption der Gedenkstätte definiert den Tag der Befreiung am 5. Mai 1945 als Referenzzustand des Lagers für den behutsamen Rückbau von Baulichkeiten, um auch konzentrationslagerzeitliche Spuren wieder zu zeigen. Abgetragene Wände werden durch dunkle Fassungen und Markierungen gekennzeichnet. Die Entfernung der nachkriegszeitlichen Farben und Putze zeigte, dass sich noch die farbigen Fassungen der Krankenzimmer erhalten haben. Sie waren in Pastelltönen gehalten und in mehrfarbigen parallelen Linien oder anderen Mustern ausgeführt. Auch der alte Fußboden war in vielen Bereichen noch erhalten, der bräunlich-rote Ton, den man vom Boden

Unsichtbarkeiten

im Tötungsbereich kennt, findet sich in zahlreichen anderen Räumen. In einem Krankenzimmer wurde die ehemalige Farbgebung wieder hergestellt, sodass die Besucher/-innen heute einen Eindruck von dem ehemaligen Krankenzimmer erhalten können. Ein Band vor dem Zimmer macht allerdings deutlich, dass man sich in einem Museum befindet. Wichtige Erkenntnisse konnten im Tötungsbereich gewonnen werden. Neben der Aufzeichnung der baulichen Relikte und deren Veränderungen sollten auch die noch vorhandenen Spuren der Tötungseinrichtungen dokumentiert werden. Durch die bauarchäologischen Untersuchungen waren zunächst die Standorte der Krematorien und die Spuren einer der Erschießungsstandorte erfasst worden. Zusätzlich erbrachte eine genaue Analyse der Wandfliesen in der Gaskammer, dass die Fliesen hinsichtlich ihrer Farbgebung (unterschiedliches Weiß) und Kantengestaltung (scharfkantig, abgerundet) verschieden sind. Auch die rückseitigen Firmenstempel enthalten Hinweise auf das Alter der Veränderungen. In dem Vorraum, in dem der Apparat zum Einfüllen des Gases installiert war, konnte mithilfe alter Fotografien das Geschehen bzw. die zeitliche Abfolge der Veränderungen belegt werden. Zunächst fiel auf, dass ein Quadrat von vier mal vier Fliesen von den übrigen Fliesen im Raum abwich. Auf einer alten Fotografie, die kurz nach der Befreiung angefertigt wurde, ist zu sehen, dass lediglich drei mal drei Fliesen differieren und in deren Mitte eine runde größere Beschädigung ist. Es ist daraus zu schließen, dass die Nationalsozialisten die Apparatur zum Einfüllen des Gases kurz vor der Befreiung entfernten und dann das Loch mit insgesamt neun Fliesen verschlossen. Den amerikanischen Soldaten, die das Lager befreiten, wurde die Stelle gezeigt und die Fliesen wurden wieder aufgeschlagen. Da die Ränder des Fliesenquadrats beschädigt waren, hat man anschließend nicht nur neun Fliesen erneuert, sondern sechzehn. In der Gaskammer selbst wurden im Lauf der Zeit die vermeintlichen Duschköpfe zum Teil entfernt. Ein weiteres wichtiges Element ist die Ventilation für die Luftreinigung. Da das eingefüllte Gas schwerer als Luft ist, musste es aktiv aus der Gaskammer abgesaugt werden, bevor die SS die Gaskammer nach der Ermordung der Eingeschlossenen wieder betreten konnte; ein Vorgang, der zwei bis drei Stunden dauerte. Der Deckel der Lüftung wurde angehoben und das Gas mittels einer elektrischen Absaugvorrichtung abgesaugt. Heute ist noch erkennbar, dass diese Stelle mit zwei elektrischen Leitungen verbunden ist. In einer Ecke in der Decke der Gaskammer ist die Klappe zu sehen, jedoch waren keinerlei Spuren mehr

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im Bereich oberhalb bzw. auf der darüberliegenden Gaskammerdecke zu sehen. Bei den Ausgrabungen dort fanden sich über der originalen Decke der Gaskammer drei massive Betonschichten sowie dazwischen einige Schichten Teerpappe, den oberen Abschluss bildeten Waschbetonplatten. In der Gaskammerdecke wurden die Reste des Abluftrohres dokumentiert. Es handelt sich um ein rundes Rohr, welches zu drei Vierteln abgeschnitten wurde, der restliche Teil wurde abgerissen. Anschließend wurden die Ränder nach innen gedrückt. Spuren von einem Stemm­eisen und einem Hammer zeigen zudem, mit welchen Werkzeugen gearbeitet wurde. Da das Rohr auf einer Fotografie, die aus der Zeit kurz nach der Befreiung stammt, noch zu sehen ist, muss diese Veränderung in die Nachkriegszeit datiert werden. Es kann vermutet werden, dass das Rohr entfernt und möglicherweise von ehemaligen Häftlingen für andere Ausstellungen oder Sammlungen mitgenommen wurde. Der Fundort mit dem Abluftrohrrest auf der Plattform zwischen Krankenreviergebäude und Arrestgebäude ist heute ein Teil der nun wieder sichtbaren Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, ebenso wie die darunter liegende Gaskammer, der Gaseinfüllraum und andere Stationen, wo Tötungen stattfanden. Die bisher dargestellten Freilegungen und Sichtbarmachungen betrafen in erster Linie Gebäude oder Installationen von Gebäuden. Es soll aber noch einmal deutlich gemacht werden, dass auch die Funde und Gegenstände in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung sind. Historiker/-innen und Archäolog/-innen, die sich mit der jüngeren Geschichte befassen, müssen immer alle zur Verfügung stehenden Quellen für die Analyse heranziehen. Bei dem eben geschilderten Beispiel aus dem Tötungsbereich konnte mithilfe der Bildquellen und der archäologischen Befunde eine schlüssige Argumentationskette dargelegt werden; die Quellengattungen ergänzen sich also. Andere Objekte geben Hinweise auf die Dinge, die den Opfern oder den Täter/-innen im Konzentrationslager zur Verfügung standen. Deutlich ist ein Unterschied zwischen den jeweils verfügbaren Gegenständen erkennbar. Insbesondere Objekte, die die Häftlinge offensichtlich mit wenigen Hilfsmitteln aus einfachen Materialien selbst herstellten, um wenigstens Grundbedürfnisse des Alltags zu erfüllen, lassen den Überlebenswillen und Überlebensstrategien erkennbar werden. Gemeint sind z.B. Löffel, ohne die man keine Nahrung zu sich nehmen kann oder einfachste Schuhe, um die Füße ein wenig zu schützen.

Unsichtbarkeiten

Selbst gefertigter Schuh aus Lager 3 in Mauthausen. Foto: Judith Benedix

Von anderen Fundorten kennen wir noch selbst gefertigte Kämme oder kleine Aufbewahrungsdöschen. Weiters anzuführen sind Markierungen von Objekten mit den Häftlingsnummern, Initialen oder Namen. Einerseits wurde so das wenige Hab und Gut als Eigentum gekennzeichnet, andererseits versuchten die Häftlinge mit der Nennung ihres Namens ihre Persönlichkeit, ihre Identität, zu bewahren und nicht nur als eine Nummer zu gelten. Solche Erkenntnisse sind aus insbesondere durch die Nationalsozialisten überlieferten schriftlichen Quellen kaum zu gewinnen, auch die Berichte von Zeitzeug/-innen erwähnen diese Aspekte nicht. Vor 70 Jahren haben die Alliierten Deutschland, Österreich, die besetzten Gebiete und die Häftlinge in den Konzentrationslagern von den Nationalsozialisten befreit. In den ersten Jahrzehnten danach war das Wissen um die Zeit der 1930er- und 1940er-Jahre noch lebendig, was sich auch in der Gestaltung der frühen Gedenkstätten ausdrückte, in die die Opferverbände eingebunden waren. Die Überlebenden der Konzentrationslager haben zudem in der Vergangenheit wesentlich zur politischen Bildung und der Vermittlung demokratischer Leitlinien und Prinzipien der Toleranz beigetragen, indem sie von ihren Erfahrungen in den Lagern berichteten. Leider gibt es heute kaum noch Überlebende.

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Inzwischen ist die Zeit des Zweiten Weltkrieges schon in eine fernere Vergangenheit gerückt. Gedenken, Mahnen und Erinnern sind weiterhin zentrale Aufgaben der Gedenkstätten, jedoch müssen jüngeren Generationen, die keinen direkten Bezug zu dieser Zeit haben, die Hintergründe und Strukturen der nationalsozialistischen Herrschaft und das System der Konzentrations- und Vernichtungslager mit anderen Mitteln und Grundlagen vermittelt werden als noch vor 30 oder 50 Jahren. Archäologischen und materiellen Komplexen und Objekten kommt dabei, neben den anderen historischen Schrift- und Bildquellen, eine bedeutende Rolle zu. Größe und Dimension der Lager können visualisiert werden, das Begehen des gesamten Areals und die Sichtbarmachung der Relikte verdeutlichen die immensen Ausmaße. Die Fundobjekte bieten vielfältige Möglichkeiten, Konzentrationslager – auch haptisch – zu begreifen. Beispielsweise verweisen selbst gefertigte Objekte auf das Leid und den Überlebenswillen der Häftlinge, die Tötungseinrichtungen zeigen die menschenverachtende Gewalt der SS über die Häftlinge; weiteres ließe sich anschließen. Sowohl die Baustrukturen als auch die Funde sind also Spuren und Relikte der Lagerzeit, die ehemals Unsichtbares wieder sichtbar und fassbar machen und damit wesentlich für die Arbeit in den Gedenkstätten und Erinnerungsorten sind.

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Literatur Freund, Florian/Perz, Bertrand: »Mauthausen – Stammlager«, in: Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, S. 293–346. Mitchell, Paul: »Bauarchäologie in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen«, in: Bulletin Mauthausen 1, Mai 2013, S. 47–50. Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Wien 2006. Theune, Claudia: »Archaeological research in former concentration camps«, in: Natascha Mehler (Hg.), Historical Archaeology in Central Europe. Society of Historical Archaeology Special Publications, Rockville 2013, S. 241–260. Theune, Claudia: »Archäologische Relikte und Spuren von Tätern und Opfern im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen«, in: Mauthausen Memorial neu gestalten. Tagungsbericht zum 1. Dialogforum Mauthausen 18.–19. Juni 2009, Wien 2010, S. 33–38. Theune, Claudia: »Zeitschichten. Archäologische Untersuchungen in der Gedenkstätte Mauthausen«, in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Mauthausen Memorial Forschung – Dokumentation – Information, Wien 2009, S. 25–30. Theune, Claudia: Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts. Archäologie in Deutschland, Stuttgart 2014.

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Rückblick auf einen Drehort  Notizen Clemens von Wedemeyer Fotografien Eiko Grimberg

Man sieht nicht, dass dieses ehemalige Benediktinerkloster in Breitenau bei Kassel einmal ein Konzentrationslager war. Im November 2011 habe ich den Film »Muster« an diesem Ort gedreht. Präsentiert auf der dOCUMENTA(13) auf drei Leinwänden, die zu einem umgehbaren Dreieck angeordnet waren, handelt der Film synchron von drei Epochen des Ortes: 1945 von der Befreiung des Lagers durch die US-Armee, 1970 von einem Filmdreh in einem Mädchenerziehungsheim und 1994 vom Besuch einer Schulklasse in der Gedenkstätte neben der offenen Psychiatrie, die dort etabliert wurde. Das Kloster hat eine kontinuierliche Geschichte von brutalen Institutionen, die in einem Kirchengebäude untergebracht waren.

Aus einem historischen Ort ein Filmset zu machen, hat etwas Unheimliches. Man nagelt Stacheldraht über ein Eingangstor und sucht Schauspieler, die dem Schema »Häftling« entsprechen sollen, man integriert eine Narration, die die Erinnerung notwendig anders vermittelt als der Ort selbst. Ist man dem Ort gerecht geworden oder hat man ihn durch den Film für immer verändert? Ich glaube, Fiktionen funktionieren nur über Enttäuschung, das heisst, der Film entsteht erst, wenn der eigentliche Film vorbei ist und man wieder in der Realität ankommt. Der Film ist wie eine Ausstellung, er existiert neben dem Ort und lässt ihm seine eigene Wirklichkeit, seine Zukunft.

SERGEANT

What is this place? DOLMETSCHER

A work education camp. SERGEANT

Not a church? DOLMETSCHER

Name is Breitenau. It is a former monastery.

Betritt man das Treppenhaus der Kirche, führt der Weg nicht nach oben, sondern abwärts, in die Hölle, als ob der Kirchturm in die Erde gerammt wäre. Vielleicht haben sich so auch die Gefangenen gefühlt: dass die ihnen vormals bekannte Wirklichkeit Kopf steht.

Schüler  Ein Konzentrationslager in einer Kirche versteckt. Schüler 2 

Das ist echt intelligent.

Orte werden durch Menschen aktiviert. In Belgien haben wir eine Gruppe kontaktiert, deren Mitglieder in ihrer Freizeit amerikanische Soldaten spielen. Sie sind spezialisiert auf historisch authentische Waffen, Uniformen und Fahrzeuge. Sie waren sehr froh, im Film mitspielen zu können und symbolisch ein Lager zu befreien. Zur Premiere des Filmes kamen sie in ihren Paradeuniformen!

Die Planung eines Films könnte mit der Einsatzplanung in Kriegszeiten zu vergleichen sein: Jeden Tag kann sich alles ändern, einen Plan gibt es immer nur in letzter Minute.

Der GI geht auf den Eingang zu, denn aus der Kirche dringt Orgelmusik. Die Tür ist halb offen. Innen ist es ganz dunkel. Er bleibt an der Seite mit dem angewinkelten Gewehr, kann aber nichts sehen – die Fenster sind alle mit Holz verschalt. GI

Hey you! Get out!

Mit dem Umbau des Klosters wurde eine Mauer eingebaut, die die Kirche in zwei Hälften teilt. Dass in dieser Kirche immer noch Gläubige beten und ihre Kinder taufen, war für mich kaum vorstellbar, bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Hinter der Orgel das Gefängnis. Eine Szene zeigt einen Zwangsarbeiter, der nach seiner Befreiung in den anderen Teil des Gebäudes geht und auf der Orgel spielt, deren Töne er während seiner Gefangenschaft jeden Sonntag durch die Mauern gehört hat. Dass es so gewesen sein könnte, ist nicht wirklich naheliegend. Für einen Film aber sind solche Vorstellungen attraktiv.

Wir leben in einer dünnen Wirklichkeit. Reist man in der Zeit zurück oder reist die Vergangenheit uns nach?

Die Zwangsarbeiter habe ich mit Freunden und Bekannten besetzt. Ich erhoffte mir dadurch Authentizität. Auch wenn ihr Spiel »falsch« wirkt, ist es doch richtig. Der Film ist unsere Geschichte, nicht die der Bewohner des Dorfes oder der offiziellen Geschichtsschreibung; ein Autorenfilm, der seine eigenen Grenzen kennt, die man als Betrachter überschreiten kann.

LEHRER

Im Blick zurück entstehen die Dinge.

Der stärkste Moment von »Muster« ist für mich die Präsentation von historischen Objekten aus der Gedenkstätte, die im Film als Beweise präsentiert werden. In solchen Momenten spürt man, dass etwas tatsächlich stattgefunden hat, dass sich das Spiel nicht im luftleeren Raum bewegt. Stark hätte vielleicht auch eine Szene gewirkt, wenn wir mit der Kamera den Gottesdienst im Kirchenraum gefilmt hätten, jetzt, heutzutage. Das ist etwas, was der Film nicht zeigt, oder auch nicht zeigen kann, die tatsächliche Existenz dieses Ortes, das, was er geworden ist: Eine Kirche, ein Heim, eine Psychiatrie. Der Film kann das nur exemplarisch zeigen, der ganze Ort und das Wissen um seine Geschichte ist die eigentliche Potenzialität.

Die Schüler stehen herum. Sie rauchen Zigaretten. Sie spielen sich gegenseitig Musik auf dem Walkman vor. SCHÜLER

Immer nur Geschichte.

Der Film präsentiert drei verschiedene Zeiten: 1945, 1970 und 1994 als eigene Geschichten, die aber ineinander übergehen: Während zum Beispiel auf der einen Seite ein Kriegsgefangener 1945 auf Französisch eine Erschiessung durch die SS erzählt, wird dies im Film synchron, aber 50 Jahre später von Schülern auf Deutsch vorgelesen. Beim Umrunden der Leinwände kann man als Betrachter selbst in der Zeit reisen und Überschneidungen wahrnehmen.

In Ulrike Meinhofs Recherche für ein Radiofeature über Mädchenerziehungsheime in der BRD, die sie 1970 vor Ort durchführte, findet sich keine Erwähnung des ehemaligen Konzentrationslagers. Dieser Teil der Geschichte war seit 1945 verschüttet, versteckt. Die Erfahrungen aus Breitenau bilden auch das Material für ihren Film »Bambule«. Es sollte ein agitatorischer Film werden. Regie führte Eberhard Itzenplitz, mit dem ich mich im Vorfeld des Drehs 2011 unterhalten hatte. Er plädierte dafür, die Insassen durch Schauspielerinnen zu ersetzen, denn er sagte zu mir: »Wehe wenn man (mit den Insassen) beim Mittagstisch grundsätzliche theoretische Erörterungen über Heimzöglinge im Allgemeinen oder über Verwahrung oder über grundsätzlich Politisches führen wollte, dann war man geliefert. Das konnten sie nicht.« Ulrike Meinhof, die gelegentlich den Dreharbeiten beiwohnte, war von dem Ansatz der Regie mehr und mehr enttäuscht, bis sie das Set verliess. 1971 schrieb sie aus dem Untergrund an ihren Redakteur: »Ein Fernsehspiel, das die Mädchen verschaukelt, man darf sagen: ein Scheißspiel… Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln.«

REGISSEUR

Film ist Trennung. Mit jeder Sekunde trennen wir uns von der Gegenwart. AMELIE

Ich dachte, der Zweck des Films ist, dass die Leute über die Zustände hier im Heim aufgeklärt werden. REGISSEUR

Ja, aber der Film hängt immer der politischen Debatte hinterher. AMELIE

Dann muss man eben radikaler sein!

Für die grafische Unterstützung des Beitrags von Eiko Grimberg und Clemens von Wedemeyer bedanken wir uns bei Timo Grimberg / ARC Gestaltung und Carsten Humme.

GRENZEN

Suzana Milevska

Gedächtnisverlust, Trauma und das Erhabene Die unsichtbaren Grenzbereiche des Rassismus in der visuellen Kultur

Hauptanliegen dieses Textes ist es, die Strategie zu untersuchen, die hinter verschiedenen undurchsichtigen rassisierten Repräsentationsregimes in der visuellen Kultur steht und des Weiteren aufzuzeigen, wie bestimmte zeitgenössische Kunstprojekte diese Strategie offenlegen und ihr entgegentreten. Etliche rassistische Repräsentationsregimes sind in demokratischen Kulturen noch immer am Werk, so werde ich argumentieren, und sie perpetuieren und reproduzieren die »Zone[n] der Ununterscheidbarkeit«1 und den »Ausnahmezustand« der Realität (als Metaphern für den Holocaust in Agambens Begrifflichkeiten verwendet). Sie nachzuzeichnen und ihnen entgegen zu arbeiten, ist jedoch schwierig, da sie zumeist mit Bedacht verschleiert werden. Es gibt viele raffinierte politische Strategien, um Spuren und Grenzbereiche zum Verschwinden zu bringen, die die Konturen rassisierter Räume der Vergangenheit unsichtbar werden lassen: angefangen mit der Benennung und Umbenennung von Orten und Institutionen, der Veränderung visueller Symbole oder der Verschönerung von Gebäuden oder städtischen Räumen, bis hin zum Implantieren »falscher Erinnerungen«.2 Änderungen in der Konzeption von Denkmälern und Gedenkstätten müssen ebenfalls zur Sprache gebracht werden, denn diese Änderungen haben direkten Einfluss darauf, 1

Agamben, Giorgio: Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002. 2 Für eine ausführliche Diskussion darüber, wie die mazedonische Regierung durch das Implantieren »verfälschter Erinnerungen« mit der Realisierung des städtebaulichen Monumentalprojekts Skopje 2014 kürzlich den öffentlichen Gedächtnisverlust gegenüber der antifaschistischen Vergangenheit befördert hat, vgl. Milevska, Suzana: »Ágalma: The ›Objet Petit a‹, Alexander the Great, and Other Excesses of Skopje 2014«, in: e-flux, Journal Nr. 57, September 2014, unter: http://www.e-flux. com/journal/agalma-the-objet-petit-a-alexander-the-great-and-other-excesses-ofskopje-2014 vom 28.02.2015.

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wie öffentliches Gedenken (und der Verlust öffentlichen Gedächtnisses) die visuelle Kultur beeinflusst und beeinträchtigt hat. Deshalb möchte ich mit diesem Text vorschlagen, sich genauer anzusehen, auf welche Art und Weise verschiedene rassisierte Repräsentationen dazu eingesetzt wurden, gesellschaftliche Hierarchien sowie rassistisch begründete Enteignung von Besitz und Land durchzusetzen. Darüber hinaus möchte ich argumentieren, dass die kulturelle Übersetzung politischer Repräsentationsregimes in Bilder häufig genau den Grund verfolgt, die Vektoren verschiedener Machtstrukturen und ihrer hierarchisch verorteten Bewegungen zu vermengen und verschwimmen zu lassen. Ich halte es für zielführend, die Problematik rassisierter und rassistischer Repräsentationen mithilfe der Philosophie der Kategorie des Erhabenen (in Verbindung mit negativer Theologie und formalistischer Ästhetik) und anhand filigraner visueller ›Landschaften‹ multikultureller Umfelder und Kontexte darzustellen.

Die Wiederkehr des Konzepts ›Rasse‹ 3 Es wird heute immer wichtiger, wenn auch schwieriger, historische Erinnerungen beziehungsweise die Verdrängung von Traumata (zum Beispiel Scham aufgrund historischer Gräueltaten) als repressive Mechanismen im Kontext weit verbreiteter anti-islamischer Tumulte mit neonazistischen Wurzeln in Deutschland und Österreich zu diskutieren.4 Im Kontext Osteuropas ist darüber hinaus die Leugnung der lokalen Beteiligung am Holocaust hervorzuheben sowie in der EU die offensichtliche Duldung

3

[A.d.Ü.] Der Begriff »race« lässt sich nicht einfach ins Deutsche übertragen, da der Begriff »Rasse« im Deutschen unweigerlich auf Kolonialismus, faschistische Ideologien, Nationalsozialismus und Schoah verweist. Wir verwenden in unseren Übersetzungen daher zumeist den Begriff der Rassisierung, mit dem eine Denaturalisierung vermeintlich natürlicher bzw. biologischer Klassifizierungen angestrebt ist und zugleich das aktive Moment rassistischer (Sprach-)Praxis benannt wird. Da es in diesem Text jedoch an einigen Stellen explizit um eine Kritik des Konzepts »race« geht, haben wir den Begriff hier mit ›Rasse‹ in einfachen Anführungszeichen übersetzt - eine Lösung, die wir in anderen Fällen als simple Scheinlösung ablehnen. 4 Parallel zu den Demonstrationen gegen die anti-islamischen Kundgebungen der Pegida-Bewegung in Dresden und anderen deutschen Städten fanden in Wien die Proteste gegen den jährlich abgehaltenen Akademikerball – einer Versammlung rechtsgerichteter Parteiführer/-innen, die 2015 in der Wiener Hofburg unter der Schirmherrschaft der radikal rechten Partei FPÖ – statt. Fast zeitgleich gab es jedoch auch in Wien Pegida-Kundgebungen.

Gedächtnisverlust, Trauma und das Erhabene

von Denkmälern für Persönlichkeiten mit Nazi-Biografien, 5 wie auch das bewusste Ignorieren von früher gefeierten antifaschistischen Ereignissen und Persönlichkeiten sowie das noch häufigere Phänomen der Zerstörung von antifaschistischen Denkmälern in osteuropäischen Städten mit schwieriger Vergangenheit und die Verwüstung von jüdischen Gedenkstätten und Friedhöfen. Die Frage, was hinter dem Konzept ›Rasse‹ steht, wenn nicht Biologie, lauert hinter jedem Versuch, sich essentialistischer Auffassungen von Rassisierung zu entledigen. Manche Theoretiker/-innen sind nicht bereit, die Bedeutung der Frage sichtbarer Differenz aufzugeben, die mit der Hautfarbe in Verbindung steht, trotz der Befunde des Genomprojekts im Jahr 2000, gerade weil sie sich von Beginn seiner Konzeption an auf Rassisierung als kulturelles und nicht als biologisches Konzept beziehen.6 Das Problem, Rassismus in Ländern zu verstehen, in denen rassistische Ausbrüche Alltag geworden sind, ist nicht nur eine Frage visueller Unterscheidung, und Osteuropa ist angesichts des Anstiegs von Antisemitismus und Antiromaismus in der lokalen Bevölkerung hierfür das beste Beispiel. Paul Gilroy weist jedoch auch auf die Gefahr einer auf »Gleichheit« basierenden Identifikation hin. In einem Gespräch mit Tommie Shelby unter dem Titel »Kosmopolitismus, Schwarzsein und Utopie« erläutert Gilroy den Begriff rassisierter Identität: »Ich habe mich immer bemüht, den Begriff der Identität gründlich zu zerlegen. Wenn Sie rassisierte Identität sagen, mache ich sofort ein Dreieck daraus: Da ist die Frage der Gleichheit, da ist die Frage der Solidarität (mit der wir uns bereits beschäftigt haben), und da ist das Thema 5

Die Ankunft des weltweit größten Schiffs, der Pieter Schelte, in Rotterdam, benannt nach dem niederländischen Offizier der Waffen-SS (kurz bevor 2015 in Paris Jüd/-innen ins Visier genommen und ermordet wurden und kurz vor dem 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz), ist ein Beispiel dafür, wie der Anschluss an die Nazi-Vergangenheit durch subtile und weniger subtile Strategien einschließlich Namensgebungen hergestellt wird. Trotz Protesten von Vorständen jüdischer Organisationen und Holocaust-Gedenkgruppen in Großbritannien und den Niederlanden wurde das Schiff nicht umbenannt. Vgl. Vulliamy, Ed: »Jewish outrage as ship named after SS war criminal arrives in Europe«, in: The Guardian, 24. Januar 2015, unter http://www.theguardian.com/world/2015/jan/24/pieter-schelte-worldsbiggest-ship-ss-officer vom 20.02.2015. 6 Vgl. Zimmer, Carl: »White? Black? A Murky Distinction Grows Still Murkier«, in: The New York Times, Online-Ausgabe, 24. Dezember 2014, unter http://www. nytimes.com/2014/12/25/science/23andme-genetic-ethnicity-study.html?_r=0 vom 28.02.2015.

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der Subjektivität. Identität kann also in mindestens drei einigermaßen getrennte Probleme zerlegt werden, die üblicherweise in einen Topf geworfen werden, wenn wir über Identität sprechen.«7

Auf dieser Achse zwischen Gleichheit und Differenz haben die Themen Nationalismus, Rassisierung und Rassismus das visuelle Terrain der zeitgenössischen Gesellschaft geformt und dem Thema der Repräsentation auf zahlreichen verschiedenen Ebenen und Registern Bedeutung verliehen, von denen viele üblicherweise nicht in der traditionellen Kunstgeschichte und Ästhetik diskutiert werden.8

Das Böse, das Erhabene, das Schweigen: Die Paradoxien kritischer Denkmäler Der Bau eines Denkmals ist per definitionem ein Versuch, das Erhabene darzustellen. Erhabener Verlust, erhabene Schuld, erhabener Schmerz oder erhabenes Trauma – was auch immer. Ein Denkmal zu errichten bedeutet folglich, etwas nicht Repräsentierbares darzustellen, indem ein Ereignis, eine Persönlichkeit oder Tat als etwas Negatives Kennzeichen wird, da es Abwesenheit, Vergangenheit und Tod anzeigen soll. Jedes Denkmal bietet somit ein Gedenken an ein bestimmtes ethisch Erhabenes und erinnert zugleich an das Ereignis des Verlusts, der Abwesenheit oder 7

Shelby, Tommie: »Cosmopolitanism, Blackness, and Utopia, a conversation with Paul Gilroy«, in: Transition – An International Review, W.E.B. Du Bois Institute, 18. Februar 2015, unter http://www.transitionmagazine.com/articles/shelby.htm vom 18.07.2009. 8 Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür, dass die Politik des Nationalismus in der traditionellen Kunstgeschichte lange nicht berücksichtigt wurde, ist die herrschende Interpretation von Jan Vermeers (1632–1675) Gemälden, die einzig auf dessen malerischen Stil und vermeintlichen Gebrauch einer Camera obscura oder anderer Instrumente basiert, die er verwendet haben könnte, um seine perfektionistischen Perspektiven zu erreichen. Da jedoch sein schmales, aber komplexes Werk zu seinen aktuellen Interessen und den Verweisen auf zeitgenössische nationalistische Konflikte und Kriege (französisch-niederländischer Krieg und englisch-niederländischer Krieg) nicht in Beziehung gesetzt wurde – sie sind auf den provokanten Karten gegenwärtig (die seine politischen und religiösen Ansichten zeigen), die in den Hintergrund seiner gelassenen häuslichen Szenen integriert sind und aus ihm hervor lauern, – wurde über eine bedeutende Dimension seines Werkes und Lebens (die Tatsache, dass diese Konflikte für Vermeer schließlich zu massiver Verarmung und Tod führten) lange Zeit hinweggesehen. Vgl. Montias, John Michael: Vermeer and His Milieu: A Web of Social History. New Jersey 1989, S. 189 f.

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sogar des Bösen, beziehungsweise, in Jacques Derridas Worten, verweist jede Grabstätte letztendlich auf den »Tod des Dynasten«9 oder irgendeinen anderen Tod. Eine der wichtigsten Fragen ist folglich, welche Art von Denkmal die Unmöglichkeit, das Erhabene darzustellen, anfechten und so dessen Verwechslung mit dem Bösen entgehen könnte – letztlich ließe sich diese Frage entlang jeden Diskurses über das Erhabene und der Frage nach der Fähigkeit des Menschen aufwerfen, seine eigenen Möglichkeiten neu zu bestimmen. Die Gefühle von Verlust und Mangel sind eng mit traumatischen Erfahrungen verwandte Affekte und stehen mit dem Vorherrschen eines bestimmten minimalistischen Zugangs zu Repräsentationen des Gedenkens in Verbindung. Die Unmöglichkeit der Repräsentation und die Grenzen des ästhetischen Diskurses über erhabenen Schmerz sind in vielen Texten und Kunstwerken bereits reflektiert worden. Zudem bestätigen die Debatten über Gedenkstätten und Denkmäler, zum Beispiel Maya Lins renommierte minimalistische Gedenkstätte für Vietnam-Veteranen (im Jahr 1982 errichtet und eingeweiht) und Alfred Hrdlickas 1988 geschaffenes »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus« auf dem Albertinaplatz in Wien, eine figurative Darstellung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus, die Komplexität des Themas. Als Folge der Kontroversen führte die Debatte über Repräsentation versus Abstraktion auf beiden Seiten der Achse zum Bau von Gegenbeispielen: Rachel Whitereads »Mahnmal für die 65.000 ermordeten österreichischen Juden und Jüdinnen der Schoah« (2000, auch »Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah«; »Holocaust Monument a.k.a. Nameless Library«) wurde auf dem Judenplatz in Wien errichtet,10 und in den USA, nur wenige Meter von Lins Denkmal entfernt, eine figurative Bronzestatue mit dem Titel »Die drei Soldaten« (»The Three Soldiers«, manchmal auch als »The Three Servicemen« bezeichnet). Lins minimalistischer Entwurf führte zu einer heftigen Kontroverse. Ein Kompromiss zwischen den Konfliktparteien 9

Derrida, Jacques: »Die différance«, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, übers. von Gerhard Ahrens, Henriette Beese, Mathilde Fischer et al., Wien 1988, S. 30–52, hier S. 30. 10 Simon Wiesenthal hatte die Beauftragung einer den jüdischen Opfern des Nazi-Faschismus in Österreich gewidmeten Gedenkstätte initiiert. Sie wurde von der Stadt Wien unter Bürgermeister Michael Häupl gebaut, Rachel Whitereads Entwurf wurde von einer internationalen Jury unter Leitung des Architekten Hans Hollein einstimmig ausgewählt.

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wurde darüber erzielt, Frederick Hart zu beauftragen, der ein überaus problematisches figuratives Denkmal schuf, das drei Soldaten mit klar unverkennbar als weiß, schwarz und gelb rassisierten Merkmalen darstellt. Viele Arbeiten Whitereads scheinen die Tatsache zu betonen, dass die Objekte, die sie repräsentieren, selbst nicht anwesend sind, da sie den Raum repräsentieren, den sie einst eingenommen haben, weshalb Kritiker/-innen ihre Arbeit häufig als Beschwörung von Abwesenheit und Tod gesehen haben. Whitereads Denkmal in Wien ist dennoch nicht bar jeglicher figurativer Referenzen und Repräsentationen: Es handelt sich um eine in Beton gegossene Arbeit, ihre Wände bestehen aus Buchreihen, deren Seiten nach außen zeigen. (Dies lässt sich als Verweis auf die Judenheit als ›Volk des Buches‹, aber auch als Verweis auf die Bücherverbrennungen der Nazis interpretieren.) Begriff und Konzept des ›Gegendenkmals‹ resultieren zum Teil aus dem Versuch, die künstlerische Strategie der ›Pionier/-innen‹ zu verdeutlichen, die mit radikalen Strategien experimentierten, um Probleme der Repräsentation in Bezug auf Denkmäler und Gedenkstätten zu bewältigen. Diese Praxis entstand aus den Debatten rund um einige renommierte Denkmäler und Gedenkstätten von etablierten Künstler/-innen und Architekt/-innen (wie zum Beispiel Oskar Hansen, Jochen Gerz, Esther Shalev-Gerz, Alfredo Jaar, Rachel Whiteread, Peter Eisenman etc.), die den Opfern von unfassbaren Geschehnissen wie dem Holocaust und anderen ›Ereignissen‹ des Bösen gewidmete, ungegenständliche Denkmäler bauen.11 Seit Theodor W. Adorno das rätselhafte Diktum niederschrieb, dass »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, barbarisch [ist]«12, wurde es in vielen verschiedenen Kontexten als Schlagwort verwendet, dabei jedoch stets von Unbehagen und Beklemmung begleitet. Nicht nur, weil es Poesie 11

Ich beziehe mich hier nicht auf Claes Oldenburgs ungebaute Denkmäler, sondern vielmehr auf James E. Youngs Begriff des Gegendenkmals, den er in Zusammenhang mit verschiedenen Denkmalarbeiten von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz geprägt hat. Vgl. z.B. Young, James E.: »Spaces for Deep Memory: Esther Shalev-Gerz and the First Counter-Monuments«, in: Jason E. Bowman (Hg.), Esther Shalev-Gerz. The Contemporary Art of Trusting Uncertainties and Unfolding Dialogues, Stockholm 2013, und Murwaska-Muthesius, Katarzyna: »Oskar Hansen and the Auschwitz ›Countermemorial‹, 1958–59«, in: ARTMargins, Online-Ausgabe, 20. Mai 2002, http://www.artmargins.com/index.php/2-articles/311-oskar-hansenand-the-auschwitz-qcountermemorialq-1958-59 vom 28.02.2015. 12 Adorno, Theodor W.: » Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Ders. Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1969, S. 7–31, hier S. 31.

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und den Ort der unfassbarsten Naziverbrechen gegeneinander stellt und so betont, dass sie zusammen undenkbar sind. Sondern auch, weil Adornos Worte als offenes Eingeständnis der Paradoxie zu sehen sind, dass Menschen nicht in der Lage sind, unterschiedliche Phänomene der Menschenwelt zu verstehen und darzustellen, oder, genauer gesagt, ihre eigenen Taten, insbesondere ihre negativen, in Kunst zu übersetzen. Einerseits diente diese Feststellung als Vorwand dafür, apolitisch zu schweigen, es aufgrund ihrer metaphysischen Unmöglichkeit zu unterlassen, eine politische Haltung einzunehmen. Andererseits lassen sich die modernistische Enthaltsamkeit in Bezug auf Repräsentationen und Adornos negative Dialektik als direkte Folge des Eingeständnisses ethischer Versehrtheit und der Unfähigkeit interpretieren, das menschliche Wesen zu verstehen und darzustellen, auch wenn verschiedene Künstler/-innen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und auch später andere Erklärungen für die Dringlichkeit anti-gegenständlicher Kunst hatten.13 Es ist daher nicht verwunderlich, dass in dem bahnbrechenden Essay des US-amerikanischen, dem abstrakten Expressionismus zugerechneten Malers Barnett Newman, »The Sublime is Now – Das Sublime ist jetzt« (1948), die Kategorie des Erhabenen, definiert als »Triebkraft der modernen Kunst«, dem »Verlangen« innewohnt, »das Schöne zu zerstören«,14 da Schönheit die Künstler/-innen davon abhält, das Verlangen des Menschen nach der Erhöhung, nach dem Erhabenen zu verwirklichen. Für Newman hat insbesondere in der sakralen Kunst, die das Figurative herausstellt, die Konzentration auf das Schöne die Wahrnehmung des »Absoluten« erschwert.15 Der zeitgenössische politische Vorwurf des Bösen hängt ebenfalls mit diesem Verständnis des Erhabenen zusammen. In der gesamten Moderne, in der jedes Argument gegen die Repräsentation Beachtung fand, wurde das Erhabene als zielführende Begründung der Abstraktion angenommen, als eine Art mythischer Kunstgriff, der es ermöglicht, das Nicht-Repräsentierbare zu denken. Barnett Newmans Auffassung steht hier im 13

Kazimir Malevich kam in seiner Kunst und seinen Texten den Argumenten einer radikalen Andersheit und der Unmöglichkeit der Repräsentation in einer früheren Zeit am nächsten, für die Barnett Newmans Skulptur »Broken Obelisk« (1963) sehr viel später ein gutes Beispiel ist. 14 Newman, Barnett: »The Sublime Is Now – Das Sublime ist jetzt«, in: Ders., Schriften und Interviews 1925–1970, hg. von John O’Neill, übers. von Tarcisius Schelbert, Bern/Berlin: 1996, S. 176–179, hier S. 178. 15 Vgl. ebd.

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Einklang mit jener der Philosophen Immanuel Kant und Edmund Burke.16 Was das Erhabene und das Böse – zumindest nach den Definitionen von Kant und Burke – verbindet, sind Unvergleichlichkeit und Unbegreiflichkeit. »Das Erhabene also ist eher auf Seiten des Geistes als der Natur. Und da der Geist keine Grenzen kennt, lässt er sich nicht angemessen durch ein Objekt mit bestimmten Grenzen repräsentieren.«17 Diese Diskussion hängt in gewisser Weise mit dem Versuch einiger philosophischer Entwürfe jüngerer Zeit zusammen, das Potenzial des »Prometheismus« und der »Aufklärung« über die schlichte Rekapitulation modernistischer Werte hinaus neu zu bewerten und zu rehabilitieren. Ich würde behaupten, dass die Negativität in der metaphysischen Tradition der westlichen Philosophie (die bis zu der mystischen Tradition sowohl des Ostens als auch des Westens zurückreicht, negative Theologie und ihre Argumente in Bezug auf die Möglichkeit der Menschen zu erörtern, ihre Grenzen und ihr Wesen zu verstehen und zu überwinden) bis heute zu einer Überfrachtung unseres Glaubens an die Fähigkeit der Menschheit führt, auf den Verlauf ihrer Entwicklung Einfluss zu nehmen und ihr eigenes Wesen neu zu definieren.18 Die Grenzen der Fähigkeit des Menschen zu verstehen sind sowohl für die Konzeption des Erhabenen als auch der des Bösen verantwortlich, was 16

In seiner »Analytik des Erhabenen« in der Kritik der Urteilskraft (1790) findet Kant Beispiele des Erhabenen nicht nur in der Natur, sondern auch in der conditio humana. Bekanntlich argumentiert er, dass das Erhabene, im Unterschied zum Schönen »in keiner sinnlichen Form enthalten sein [kann], sondern […] nur Ideen der Vernunft [trifft].« (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Band 10. Frankfurt a.M. 1974, § 23, S. 166.) 17 Shaw, Philip: »Sublime Destruction: Barnett Newman’s Adam and Eve«, in: Nigel Llewellyn, Christine Riding (Hg.), The Art of the Sublime, Tate online, Januar 2013, unter http://www.tate.org.uk/art/research-publications/the-sublime/phil ip-shaw-sublime-destruction-barnett-newmans-adam-and-eve-r1140520 vom 28.02.2015. Phillip Shaw zufolge ist das ›Thema‹ von Newmans Arbeit »die Schöpfung selbst«, »ein Akt, der nicht mehr mit Gott in Verbindung steht, sondern mit dem Menschen.« (Ebd.) 18 In seinem Vortrag am MoMA PS1 New York hat der Philosoph Ray Brassier unlängst die Diskurse über Posthumanismus, Zukunft und die Möglichkeit, die Grenzen eines vorbestimmten menschlichen Wesens zu überwinden mit eben der Notwendigkeit in Verbindung gebracht, das alte Verhältnis zwischen »vorgegeben« und »hergestellt« zu hinterfragen und zu mehr Vertrauen in die »Neudefinition der menschlichen Natur« sowie in das Potenzial eines neuen »Prometheus« und Aufklärungsprojekts aufgerufen. Siehe Ray Brassier: Lecture, MoMA PS1 New York, 19. Juli 2013, unter http://www.momaps1.org/expo1/event/raymond-brassier vom 28.02.2015.

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häufig irreführende Behauptungen zufolge hat, die letztlich darin münden, beide in eins zu setzen (der Tatsache zum Trotz, dass sie in völlig verschiedenen Registern am Werk sind). Wird nicht der Versuch unternommen, die Gründe für diese Verwechslung zu verstehen, ist dies eine politische Haltung und ebenso gefährlich wie Adornos oft simplifiziertes Diktum, das zu radikaleren Überlegungen hätte führen können.19 Terror, Politik und Ästhetik werden jedoch, im Unterschied zu diesem Diktum, nicht immer als so unvereinbar gedeutet wie Adorno dies tut.20 Adornos fortwährende Überarbeitung und Neuinterpretation seines Aphorismus’21 haben zu zahlreichen widersprüchlichen Standpunkten hinsichtlich der Frage geführt, ob das Böse begriffen und repräsentiert werden kann und welche Repräsentationen des Bösen politisch vertretbar sind. Adornos Kritik am herrschenden Klima im Nachkriegsdeutschland richtete sich auch gegen die Diskussionen über Heidegger und dessen (mehrfache) Leugnung seiner Verbindung zum Nationalsozialismus. Ungeachtet des großen Einflusses, den Adornos Diktum hatte, scheint es mir wichtig, die Kritik des österreichischen Essayisten Jean Améry (Hans Chaim Mayer) zu erwähnen, der Gefangenschaft und Folter in Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebte. Améry wandte sich gegen Adornos Zurückweisung der Möglichkeit, das Böse zu repräsentieren. Viel eher als sich politischen Bedenken zu widmen, so Améry, instrumentalisiere Adorno Auschwitz für seinen metaphysischen Diskurs unter dem Titel »absolute Negativität« in einer »von sich selber bis zur 19

Das beste Beispiel hierfür ist die bekannte Passage aus Walter Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in der er sich mit der extremen Selbstentfremdung im Faschismus auseinandersetzt, die es ihm zufolge ermöglicht, die Vernichtung der Menschheit zu einer ästhetischen Erfahrung werden zu lassen. Vgl. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Aufsätze. Frankfurt a.M. 1977, S. 7–44, hier S. 44. 20 Vgl. Allison, Rebecca: »9/11 wicked but a work of art, says Damien Hirst«, in: The Guardian, Online-Ausgabe, 11. September 2002, unter http://www.guardian. co.uk/uk/2002/sep/11/arts.september1 vom 10.07.2013. Arnold Berleant spricht sich in seinem Artikel »Art, Terrorism and the Negative Sublime« (in: Contemporary Aesthetics, Jg. 7, 14. November 2009) dafür aus, eine Feststellung wie diese nicht einfach zu verwerfen, http://www.contempaesthetics.org/newvolume/pages/article. php?articleID=568 vom 10.07.2013. 21 Adorno überdenkt und überarbeitet sein Diktum in der Negativen Dialektik folgendermaßen: »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen […].« (Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1982, S. 355.)

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Selbstblendung entzückte[n] Sprache«22. Auch wenn Améry der pessimistischen Ansicht war, dass unabhängig davon, was eine/-r tut, das Böse immer Teil der conditio humana sein wird, vertrat er den Standpunkt, dass auch die entsetzlichsten Erfahrungen im Sinne seiner »geringe[n] Neigung zur Versöhnlichkeit«23 erinnert und nochmals aufgesucht werden sollten. Unabhängig von Adornos Biografie und seinen erwartbaren Unstimmigkeiten mit Heidegger scheinen die Argumente, die Jacques Derrida zur Verteidigung von Heidegger und dessen nie erfolgter öffentlicher Distanzierung von seinen Verbindungen zum Nationalsozialismus vorbrachte, Adornos Absage an das Potenzial von Poesie und Sprache, das Grauen von Auschwitz auszudrücken, ähnlich zu sein.24 Adornos ursprüngliches Diktum stellte nicht nur die deutsche Kultur und deren Zukunft nach Auschwitz in Frage, es zwang darüber hinaus Intellektuelle auf der ganzen Welt, Stellung zu der Frage zu beziehen, ob politisch und sozial engagierte Kunst unter den Bedingungen unbegreiflicher Grausamkeit und unfassbarem Bösen möglich ist. Das paradoxe Nichtvorhandensein eines menschlichen Vermögens, ein Prinzip zu verstehen, das ja selbst ein Erzeugnis des Menschen ist, ruft unweigerlich einen Diskurs auf, in dem es um Argumente jenseits des Menschlichen geht. Möglicherweise ist dies ein weiterer Grund dafür, dass Interpretationen des Erhabenen und des Bösen diese im gleichen Register ansiedeln oder zumindest im Reich ähnlicher transhumaner Argumente. Auch wenn es augenscheinlich unangemessen ist, die ethische Kategorie des Bösen mit der ästhetischen Kategorie des Erhabenen gleichzusetzen (obwohl schon Kant ethische Aspekte des Erhabenen erörtert hat), 22

Améry, Jean: »Jargon der Dialektik«, in: Ders., Werke, hg. von Irene Heidelberger-Leonard, Band 6, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2004, S. 265–296, hier S. 290. 23 Vgl. Améry, Jean: »Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten«, in: Ders., Werke, von Irene Heidelberger-Leonard, Band 2, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S. 7–177, hier S. 132. Es fällt nicht leicht, Amérys Bedenken nachzugeben, dass es das Gute möglicherweise gar nicht gibt. 24 Gleich zu Beginn des ersten Kapitels seines Buches »Vom Geist: Heidegger und die Frage« erwähnt Derrida einen möglichen Titel »Wie nicht sprechen (Comment ne pas parler)«, den er unter der Überschrift »Wie nicht sprechen: Verneinungen« als eigenständigen Text veröffentlicht hat. Dieser bezieht sich nicht nur auf Heidegger sondern behandelt auch Derridas eigene »Leugnung« einer unreflektierten Übernahme negativer Theologie. Vgl. Ders.: Vom Geist: Heidegger und die Frage, übers. von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M. 1988, S. 8 und Ders.: Wie nicht sprechen: Verneinungen, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien 1989.

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lässt sich feststellen, dass diesen beiden Kategorien eine bestimmte negative Dialektik, wenn nicht gar negative Theologie gemeinsam ist – und diese Korrespondenz verlangt nach einer weiteren gründlichen Untersuchung. Dieses Argument unterscheidet sich jedoch von Hannah Arendts berühmten syntagmatischen Konzept der »Banalität des Bösen«, demzufolge die Erörterung der Repräsentation des Bösen möglicherweise ebenfalls für banal gehalten werden könnte. In gewisser Weise hat Arendt die Gefahr einer Verwechslung von Erhabenem und Bösem vorhergesehen, daher fand sie in weiterer Folge ein Argument, das erklären soll, warum die Nazis die Potenziale einer Verbindung zwischen Bösem und Erhabenem nicht weiter untersuchten. Die These ihres Buches, das auf dem Eichmann-Prozess basiert (bei dem sie nur teilweise anwesend war), ist, dass der Holocaust ebenso wie andere außerordentlich böse Taten in der Geschichte nicht von Fanatiker/-innen, Perversen oder Soziopath/-innen verübt wurden, sondern von gewöhnlichen Menschen. Indem sie die Grundlagen ihres Staates akzeptierten und sich damit an dessen Verbrechen beteiligten wie wenn diese normal wären, legitimierten die Nazis Arendt zufolge den Genozid als etwas Banales, das nicht über das Normale und damit auch nicht über die Repräsentation hinausging.25 Die zentrale Frage an dieser Stelle lautet, warum bestimmte Zeiten dazu führen, dass dem Schweigen der Vorzug vor lauten Protesten gegeben wird und der Passivität der Vorzug vor aktiven Reaktionen auf das als falsch und böse Gemiedene. Eine weitere Frage ist, wie das Böse von dem Erhabenen verschieden repräsentiert werden kann, dessen Bedeutung gemeinhin so verstanden wird, als sei es der Rubrik des Ästhetischen zuzuordnen. Doch gerade weil die modernistische Trennung zwischen ethischen und ästhetischen Argumenten in den meisten zeitgenössischen Diskussionen über Kunst unhaltbar geworden ist, erweist sich die Unterscheidung zwischen der Repräsentation des Erhabenen und der des Bösen als komplizierter denn je zuvor (wie in der bereits erwähnten Debatte über den Fall des britischen Künstlers Damien Hirst, der Kunst, das Böse und das Erhabene zueinander in Beziehung gesetzt hat). Ein Überdenken der Theorie des Erhabenen war dringend geboten, und die Ernüchterung über das Erhabene wurde zu einem beliebten Thema.26 25

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 7. Aufl., München 1991. 26 Vgl. Elkins, James: »Gegen das Erhabene«, in: Roald Hoffmann/Ian Boyd (Hg.), Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst: Über Vernunft und Einbildungskraft, übers. von Friedrich Griese unter Mitarbeit von Trixi Bücker, Berlin 2010, S. 97–113.

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Die religiösen Aspekte des Erhabenen als unbegreiflich und radikal anders stehen in Einklang mit den negativen Grundannahmen der negativen (apophatischen) Theologie. Nach Frederick Coplestons Interpretation des Pseudo-Dionysos bedeutet negative Theologie, »verschiedene Auffassungen von Gott zu untersuchen, um zu zeigen, dass sie alle unzulängliche Beschreibungen des Wesens Gottes sind«.27 Die negative Methode nimmt ihren Ausgang also damit, Gott jene Eigenschaften abzusprechen, die am weitesten vom ihm entfernt sind. Die affirmative (kataphatische) theologische Methode andererseits nimmt ihren Ausgang in den »allgemeinsten Aussagen« und nähert sich Gott dann durch Zwischenbegriffe.28 Anders ausgedrückt spricht die negative Theologie den Menschen die Fähigkeit ab, Gott zu verstehen, weil sie von ihm verschieden sind, während die positive Theologie sich auf die »Sichtbarkeit« Gottes in seinen Taten konzentriert, die erklären, warum die Menschen an ihn glauben, obwohl sie sein Wesen nicht zur Gänze zu erfassen vermögen. Um die Gegenüberstellung klarer herauszuarbeiten, möchte ich eine etwas vereinfachte Übersichtskarte der Ideen umreißen, die in Psychoanalyse, Theologie und aktuellen Gesellschaftstheorien zu dem Thema formuliert worden sind. Die negative Theologie beinhaltet zwei charakteristische Blickwinkel. Der eine besteht darin, angemessene Namen und Beschreibungen für das Göttliche zu finden und genau aufzulisten.29 Der andere Blickwinkel ist wichtiger, denn er zeigt, dass diese Namen unangemessen sind.30 27

Copleston, Frederick: A History of Philosophy, Band 2: Medieval Philosophy - From Augustine to Duns Scotus, New York 1962, S. 106–115. 28 Vgl. ebd., S. 108–110. In Bezug auf eine sorgfältige Weiterführung negativer Theologie und positiver Theologie vgl. Lossky, Vladimir: Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, übers. von Mirjam Prager, Graz/Wien/Köln 1961. 29 Vgl. Faulconer, James. E.: »Deconstruction«, 18. Oktober 2004, unter http://james faulconer.byu.edu/selected.php vom 10.01.2010. 30 Negative Theologie, wie sie im Westen rezipiert wird, unterscheidet sich von den Doktrinen der orthodoxen Kirche. Ihr wesentliches Prinzip des negativen Mystizismus ist an der Grenze zum Agnostizismus angesiedelt und findet seinen Nachhall in der Logik und Metaphorik negativer Denktraditionen im Osten. Eckhart zufolge sind das Sein und das Gute »Hüllen« oder »Schleier«, hinter denen sich Gott verbirgt. Hier ähnelt sein Denken dem Mystizismus des syrischen Philosophen und Theologen Pseudo-Dionysius, daher würden einige Philosophiehistoriker/-innen der Annahme zustimmen, dass Pseudo-Dionysius die Quelle der westlichen Tradition des negativen Denkens ist, wie beispielsweise Eriugena oder Meister Eckhart und die Rheinländische Mystik. Vgl.: »Pseudo-Dionysius The Areopagite«, Encyclopaedia Britannica, Online-Ausgabe, unter http://www.britannica.com/EBchecked/ topic/481216/Pseudo-Dionysius-The-Areopagite vom 15.05.2015.

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Affirmative Strategien oder wider den Schleier negativer Theologie Minimalismus, Anti-Denkmäler, Gegendenkmäler und andere postrepräsentative Strategien der Konstruktion von Gedenkstätten und skulpturalen Denkmälern wurden durch zeitgenössische Künstler/-innen um unterschiedliche, eher affirmative, performative Forschungs- und Kritikstrategien erweitert. »The Disobedient« von Sanja Iveković beispielsweise ist ein komplexes künstlerisches Projekt, das aus zwei Teilen besteht, die beide auf gründlicher kritischer Forschung in den Archiven von Breitenau (einem Konzentrationslager, das 1933 etwa fünfzehn Kilometer südlich von Kassel eingerichtet wurde und 1940–45 als sogenanntes »Arbeitserziehungslager« fungierte) basieren und 2012 in Kassel ausgestellt wurden.31 Der erste Teil, »The Disobedient (The Revolutionaries)«, bestand aus einer Installation in der Neuen Galerie, der zweite, »The Disobedient (Reasons for Imprisonment)«, aus Plakaten, die in verschiedenen öffentlichen Räumen präsentiert wurden und sich mit der Zeit des frühen Nationalsozialismus beschäftigten. Im Zuge der Recherche in den lokalen Archiven entdeckte Iveković in den Presseberichten eine einzelne Fotografie. Die ursprünglich im April 1933 in der »Hessischen Volkswacht« veröffentlichte Fotografie zeigt einen Nazioffizier und einen Esel umgeben von einem Stacheldrahtzaun an einem identifizierbaren Ort: dem Kasseler Opernplatz gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hauptausstellungsortes der documenta am Friedrichsplatz. Die Szene zielt auf eine einfache Metapher ab, das Konzentrationslager, das für störrische Bürger/-innen da ist (störrisch wie ein Esel) und ruft die Öffentlichkeit dazu auf, nicht bei Juden zu kaufen. Als Einspruch gegen den Verlust des historischen Gedächtnisses warnt uns Ivekovićs Re-Präsentation dieser Fotografie vor der ewigen Wiederkehr des Rassismus. Zusätzlich zur Präsentation der Fotografie und erklärender Texte beinhaltete Ivekovićs Installation in der Neuen Galerie Vitrinen, in denen Spielzeugesel ausgestellt waren. Sie waren Namen von Personen zur Seite gestellt, die dem Naziregime in Deutschland und dessen gewaltsamer Politik gegen Jüd/-innen die Gefolgschaft verweigert hatten sowie den 31

Beide Projekte sind das Ergebnis von Ivekovićs Besuchen in Breitenau und ihrer Forschung in lokalen Archiven, an der auch Mitarbeiter/-innen der documenta beteiligt waren. Das Projekt wurde von der künstlerischen Leiterin der documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev, im Jahr 2012 in Auftrag gegeben.

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Namen von verschiedenen ›ungehorsamen‹ Personen, die im zwanzig­ sten und einundzwanzigsten Jahrhundert auf der ganzen Welt ›störrisch‹ Widerstand gegen Ungerechtigkeiten geleistet haben. Da Iveković auch Personen wie Rosa Luxemburg, Martin Luther King, Che Guevara, Primo Levi und Ahmed Basiony, der im Arabischen Frühling aktiv war, anführt, betonen die Namen die Bedeutung einzigartiger und individueller Opfer für jedes gemeinschaftliche Projekt politischen Widerstands, in der Vergangenheit wie heute. Der zweite Teil des Projekts, »The Disobedient (Reasons for Imprisonment)«, bestand aus sechs Plakaten im Offsetdruck (jedes davon in einer Auflage von 100 Exemplaren). Die Plakate wurden an Litfaßsäulen in verschiedenen öffentlichen Räumen in Kassel und in unterschiedlichen Institutionen gezeigt: Neue Galerie, Hotel Hessenland, Kulturbahnhof, Universität Kassel, Martin-Luther-King-Schule, Paul-Julius-von-Reuter-Schule, Landesgericht, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Kunst­ universität. Eine weitere Auflage kleinformatigerer Drucke wurde mit Unterstützung von Ayşe Güleç vom lokalen Kulturzentrum Schlachthof über das Projekt »Vielleicht-Vermittlung« verteilt. Texte auf den Plakaten zitierten die ›legitimen‹ Gründe, die zur Inhaftierung ungehorsamer Personen oder Personengruppen während der Nazizeit (vor und während des Zweiten Weltkriegs) führen konnten, wie beispielsweise »an seinem Arbeitsplatz Radio hören« oder »eine ihm zugeteilte Nachtschicht ablehnen«. Präsentationen von verschiedenen Plakaten nebeneinander reflektierten die spezifischen Gründe für die Internierung von Männern und Frauen. Und die Arbeit wartete mit einer weiteren, noch radikaleren Enthüllung auf: Am unteren Rand der Plakate befanden sich die Logos von sieben großen deutschen oder globalen Marken, die vom Antisemitismus und dem Holocaust profitierten. Iveković zufolge musste sie die Logos umgestalten, um Prozesse wegen des Verstoßes gegen das Urheber/-innenrecht und andere Klagen zu verhindern. Das achte Logo, mit dem Iveković die Volkswagen AG, die Hauptangeklagte und eine der Hauptsponsor/-innen der documenta 13, entlarven wollte, wurde ausgespart, nachdem ihr Vorschlag, das Logo um 180 Grad zu drehen, von den Organisator/-innen der documenta 13 abgelehnt worden war. Dieser leere Raum war schließlich Anlass für spontane aktivistische Aktionen: Während der Eröffnungstage der Ausstellung provozierten einige der leeren Kreise ›partizipative Graffiti‹ seitens des Publikums. Gut informierte lokale Aktivist/-innen, denen klar war,

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welche Firmen in dieser Liste mächtiger Konzernmarken fehlten, ergänzten das Volkswagen-Logo auf diversen Plakaten. Mit ihrer Vergegenwärtigung der Verbindung zwischen Imperialismus und Rassismus erinnert die Arbeit an Hannah Arendts Ideen. Allerdings kam Arendt bereits in ihrem (1948 in erster Auflage erschienenen) »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« der historisch-materialistischen Interpretation des Rassismus sehr nahe. Der Antisemitismus lässt sich für Arendt nicht getrennt von der Entstehung/Formierung des Nationalstaates verstehen. Ihrer Auffassung nach trugen rassistische Ideologien und sogar der Humanismus dazu bei, die imperialistische Eroberung und Ausbeutung fremder Territorien und die Akte physischer Herrschaft über andere Menschen, die mit der Kolonisierung einhergingen, zu legitimieren.32 Arendt zufolge ist Rassismus ein Mechanismus, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ablenkt und sie so davon abhält, klar zu sehen, was es ermöglicht, dass der Imperialismus im Sinne seiner eigenen Inte­ ressen funktioniert. Es ist unverkennbar, dass derartige Prozesse den neu erwachten Rassismus der neoliberalen Gesellschaft prägen. Mit der Veränderung der sieben Logos und der Aussparung des achten weist dieser Fall darauf hin, dass die institutionelle Strategie, die Kontinuität des Nationalsozialismus in einem postnationalsozialistischen Raum zu benennen, zu brandmarken und mit Schande zu überziehen, an ihre Grenzen stoßen muss: Die größte Ausstellung der Welt und deren künstlerische Leiterin konnten das Risiko nicht auf sich nehmen, aus der laufenden stillschweigenden Übereinkunft des Schweigens über die »Akkumulation durch Enteignung«33 auszubrechen, die letztlich die Ausstellung und sogar (wenn auch indirekt) diese Arbeit ermöglicht hat. Die Arbeit zeigte, dass die Künstlerin-Forscherin entschlossen war, die heikelsten Geheimnisse der Vergangenheit anzusprechen und kritisch zu beleuchten, ihr dies aber nur so lange möglich war, wie ihre Enthüllungen nicht

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Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Aufl., München 1991. 33 Harvey, David: Der »neue« Imperialismus: Akkumulation durch Enteignung, Supplement 5 der Zeitschrift Sozialismus, übers. von Ingar Solty, Hamburg 2003. In Bezug auf neuere weiterführende Überlegungen über die Verbindungen von Neoliberalismus, Multikulturalismus und Rassismus vgl.: Mitropoulos, Angela: »The materialisation of race in multiculture«, in: darkmatter – in the ruins of imperial culture, Online-Zeitschrift, 23. Februar 2008, unter http://www.darkmatter101. org/site/2008/02/23/the-materialisation-of-race-in-multiculture vom 28.02.2015.

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an die heutige Situation rührten und sie nicht versuchte, die Kontinuität der Vergangenheit mit deren Folgen für die Gegenwart aufzuzeigen. Darüber hinaus verweist die Arbeit auf eine Frage, die der Philosoph Giorgio Agamben gestellt hat: »Was ist ein Lager? Was ist das für eine juridisch-politische Struktur, die solche Ereignisse möglich macht?«34 Während sie gegen den Verlust des historischen Gedächtnisses Einspruch erheben, warnen uns die versammelten Dokumente und Informationen sowohl vor der ewigen Wiederkehr des Rassismus als auch vor der Aporie des »stellvertretenden Zeugnisses«: das akkumulierte Vermögen, da »das Zeugnis eine Potenz [ist|, die durch eine Impotenz zu sagen Wirklichkeit erlangt, und eine Unmöglichkeit, die durch eine Möglichkeit zu sprechen Existenz erlangt.«35 Hier wird die Künstlerin zur unmöglichen Zeugin der inneren Widersprüche der Kunstinstitutionen im Zusammenhang mit einer Art Aufruf zu einer »ökologischen Ökonomie«, die gerechte und ökonomisch nachhaltige Verteilung von Waren und finanziellem Vermögen ermöglicht.36 Da in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, schlage ich vor, einen genaueren Blick auf die Fallstudie des (von Tschech/-innen betriebenen) ehemaligen Rom/-nija-Arbeits- und Konzentrationslagers Lety zu werfen. Der Text stellt den Versuch dar, mit der Konfrontation der rassisierten visuellen Repräsentationen von Rom/-nija zugleich das Wechselverhältnis zwischen den Machtregimes der Repräsentation und gewissen schwerwiegenden sowie einigen absurden Ungereimtheiten in Recht, Justiz und Justizsystem der Gegenwart zu reflektieren, nicht zuletzt über die Diskussion von Kunstwerken, die mit dem Thema in Zusammenhang stehen. Einige Künstler/-innen bemühten sich darum, den kulturellen Gedächtnisverlust und die Grenzen repräsentativer Politik zu überwinden und antirassistische Bilder und Arbeiten zu produzieren. »Pearls before Swine« (2000) ist eine ältere Arbeit des (in Wien aufgewachsenen und in Deutschland lebenden) Rom/Sinto-Künstlers Alfred Ullrich, die aus einer Serie von Fotografien besteht. Sie dokumentiert seine Performance gleichen Titels, die am 13. Mai 2000 in der Tschechischen 34

G. Agamben: Homo sacer, S. 175. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt – Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), übers. von Stefan Monhardt, Frankfurt a.M. 2003, S. 127. 36 Vgl. Nelson, Anitra: »Money Versus Socialism«, in: Anitra Nelson/Frans Timmermann (Hg.): Life without Money. Building Fair and Sustainable Economies, London 2011, S. 3–46. 35

Gedächtnisverlust, Trauma und das Erhabene

Republik vor Lety stattfand.37 Seit den 1970er-Jahren befindet sich auf dem Gelände ein Schweinemastbetrieb. Der Künstler warf die Perlen einer Kette seiner Schwester durch das verriegelte Tor des Betriebs auf den Boden und vor den Gedenkstein zu Ehren seiner Verwandten und anderer Rom/-nija, die in verschiedenen Konzentrationslagern interniert waren. Die Aktion des Künstlers und der Titel der Arbeit weisen auf den absurden und bestürzenden Versuch der tschechischen Regierung hin, die Geschichte und Existenz des Lagers Lety, das im Zweiten Weltkrieg ausschließlich von Tschech/-innen betrieben wurde (und vor dem Einmarsch der deutschen Nazis errichtet wurde) zu überschreiben. Der Versuch, jede öffentliche Erinnerung in Bezug auf das Konzentrationslager und die Gräuel, die dort stattfanden, dadurch auszulöschen, dass sie einfach mit einer anderen Art Schmutz zugedeckt werden, um so verfälschte Erinnerungen an eine unschuldige Vergangenheit zu erzeugen, schändet zugleich das Andenken der Rom/-nija, die dort gelitten haben.38 In jüngerer Zeit schuf Ullrich eine weitere Arbeit, die sich auf den Holocaust bezieht: »Blackout« (2014).39 Rhetorische Fragen, die sich hier weiterhin stellen, sind: Wer hat die Kontrolle über die Art der Repräsentation, und wer hat die Macht, bestimmte herrschende kulturelle und moralische Prinzipien zu reproduzieren und zu verbreiten sowie bestimmte Erinnerungen im öffentlichen Raum zu manipulieren und sogar ›auszulöschen‹? Der Geschichte und Realität staatlich finanzierter Kunst- und Kulturinstitutionen, die die Schatten der Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet haben, ist 37

Vgl. Milevska, Suzana: »›… dass wir etwas tun müssen, um Solidarität herzustellen‹. Künstlerische Eingriffe gegen die rassistische Diskriminierung von Rom_nija«, übers. von Birgit Mennel, in: Katharina Morawek/Lisa Boyle (Hg.): Diktatorpuppe zerstört, Schaden gering. Kunst und Geschichtspolitik im Postnazismus. Wien 2012, S. 60–68. 38 Mehr Informationen zur Geschichte von Lety finden sich bei: van Baar, Huub: »The Way Out of Amnesia? Europeanisation and the Recognition of the Roma’s Past and Present,« in: Third Text, Jg. 22, Nr. 3, Mai 2008, S. 373–385. Interessant sind auch verschiedene Äußerungen von Paul Polansky, ein US-amerikanischer Amateur-Historiker, der die letzten Überlebenden von Lety interviewt hat. Vgl. Polansky, Paul: »Pig Sick – Interview«, 27. Januar 2011, unter http://travellerstimes.org.uk/News/ Pig-Sick.aspx vom 28.02.2015. 39 Die Arbeit Blackout besteht aus einer Plakatserie, die sich offensichtlich auf die Gepflogenheit der Deutschen bezieht, sich einen ›Persilschein‹ als Beweis für die eigene Reinheit auszustellen und stellt einmal mehr eine kritische Stellungnahme zur Verwendung ›hygienischer‹ Metaphern in Bezug auf den Versuch dar, die eigene Unschuld zu beweisen und sich von jeglichem Fehlverhalten zu distanzieren.

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Suzana Milevska

kaum damit beizukommen, einfach Kunstwerke zu produzieren, die auf diese Paradoxien hinweisen. Die Internalisierung der Regimes der Repräsentation, Identifikation, Selbst-Essentialisierung und des Rassismus produzieren eine bedrohliche Anzahl an Widersprüchen, ja sogar einen Teufelskreis, aus dem dringend ein Ausweg gesucht werden muss. Künstler/-innen, die versuchen, die verborgenen gesellschaftlichen und Repräsentationsstrategien aufzudecken, stoßen auf diesem Weg aus naheliegenden Gründen an gewisse Grenzen, statt dass ihnen selbst von den angesehensten Institutionen Unterstützung zuteil würde. Aus genau diesem Grund sind solche Arbeiten jedoch so wichtig und unabdingbar, denn es scheint, dass nur in diesem Kontext diese Paradoxien offengelegt und der andernfalls verdeckte Fortbestand rassisierter gesellschaftlicher Strukturen aus der Vergangenheit in der Gegenwart benannt und infrage gestellt werden können.

Aus dem Englischen von Dagmar Fink und Katja Wiederspahn für gender et alia

255 Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1982. Adorno, Theodor W.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1969, S. 7–31. Agamben, Giorgio: Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt – Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), übers. von Stefan Monhardt, Frankfurt a.M. 2003. Allison, Rebecca: »9/11 wicked but a work of art, says Damien Hirst«, in: The Guardian, Online-Ausgabe, 11. September 2002, unter http://www.guardian. co.uk/uk/2002/sep/11/arts.september11 vom 10.07.2013. Améry, Jean: »Jargon der Dialektik«, in: Ders., Werke, hg. von Irene Heidelberger-Leonard, Band 6, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2004, S. 265–296. Améry, Jean: »Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten«, in: Ders., Werke, hg. von Irene Heidelberger-Leonard, Band 2, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S. 7–177. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 7. Aufl., München 1991. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Aufl., München 1991. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Aufsätze, Frankfurt a.M. 1977, S. 7–44. Berleant, Arnold: »Art, Terrorism and the Negative Sublime«, in: Contemporary Aesthetics, Jg. 7, 14. November 2009, unter http://www.contempaesthetics.org/ newvolume/pages/article.php?articleID=568 vom 10.07.2013. Brassier, Ray: Lecture, MoMA PS1 New York, 19. Juli 2013, unter http://www. momaps1.org/expo1/event/raymond-brassier vom 28.02.2015. Copleston, Frederick: A History of Philosophy, Band 2: Medieval Philosophy – From Augustine to Duns Scotus, New York 1962. Derrida, Jacques: Vom Geist: Heidegger und die Frage, übers. von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M. 1988. Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen: Verneinungen, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien 1989. Derrida, Jacques: »Die différance«, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, übers. von Gerhard Ahrens, Henriette Beese, Mathilde Fischer, Karin Karabaczek-Schreiner, Eva Pfaffenberger-Brückner, Günther Sigl, Donald Watts Tuckwiller, S. 30–52. Wien 1988. Elkins, James: »Gegen das Erhabene«, in: Roald Hoffmann/Ian Boyd Whyte (Hg.), Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst: Über Vernunft und Einbildungskraft, übers. von Friedrich Griese unter Mitarbeit von Trixi Bücker, Berlin 2010, S. 97–113.

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Gedächtnisverlust, Trauma und das Erhabene

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Das Kollektiv Vorrede zu VIERZIG im Hörsaal 6, TU Wien

MORGEN, gehalten im Frühjahr 2014

Jede Geschichte hat einen Anfang, wird ein Gastredner am City College in Harlem, New York, sagen, dem ältesten Teil der City University of New York. Eine Liveaufzeichnung hält die Vorlesung von 1981 fest. So weit, so banal. Was folgt, ist:

Es gibt immer einen Unterschied zwischen einer Geschichte und dem, was tatsächlich passiert ist, was weder Anfang noch Ende hat, sondern einfach da ist oder nicht, und sich überhaupt als zu schnell und zu riesig und zu vernetzt für Wörter erweist. Natürlich kann eine Geschichte mit Fakten und Daten und Namen belegt werden, das Ergebnis aber wird vor allem über den Erzählenden etwas aussagen, über die Umrisse eines winzigen Teils des Inhalts einer Empfindung oder Erfahrung, die gemacht wurde. Vornweg: Wir könnten in eine Falle geraten sein. Wir haben einen Film gedreht: VIERZIG MORGEN. Wobei das nicht stimmt. Wir haben wenig gedreht und viel montiert. Im Spätherbst des vergangenen Jahres brachten wir und weitere Studenten der Architektur und Raumplanung zwei Nächte in Linz zu, gemeinsam mit einem halben Dutzend Professoren und Betreuern.

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An beiden Morgen wartete vor dem hochgeschossenen Hotel ein alter Mannschaftsbus der Polizei, mit dem unser Tross zur KZ-Gedenkstätte Mauthausen bewegt wurde. Hin oder zurück ist das eine zwanzigminütige Fahrt hinter blankem Scheibenglas nach allen Seiten. Umgeben von Wald, Ackerflächen und vereinzelten Gehöften ist das ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager auf einem Hügel gelegen. Eine gebogene Auffahrt führt hinauf.

Man hört das Sausen des Windes. Man sieht die Wachtürme weggefegt von ihren Gründen. Ein wogender Regenvorhang gleitet in das Tal, steht es in einer literarischen Verarbeitung eines Wolkenbruchs, der weit entfernt über den Schweizer Alpen fiel. Es ist eine erhabene Vorstellung, die sich einem bietet. Ähnlich erhaben wie andere Vorstellungen von potentiell gefährlichen Erscheinungen, die Natur sind. Oder vom Menschen gemacht. Es lebte ein irischer Maler, den zog es in Metzgereien. Weniger in die kleinen Ladengeschäfte, mehr in die großen Lagerhäuser, in die riesigen Hallen des Todes, wie er schrieb. Man sieht Fische und Vögel und vieles andere tot daliegen. In der Tat, so der irische Maler, ist die Farbe von Fleisch sehr schön. We are meat, trank er an späten Abenden in piekfeinen Lo­­ kalen den Mitgästen zu. Man muss wissen, dass der irische Maler auf seinen Gängen durch die Metzgereien wiederholt von dem Gedanken überrascht wurde, nicht selbst dort statt eines Tieres zu liegen. Wenn Sie sich fragen, was wir sagen wollen: Es geht um das, was erhaben ist, wie eben ein nacherzählter Wolkenbruch oder totes ausgelegtes Fleisch. Erhaben ist das Ungeheure, welches den Menschen bedrohen könnte, ihn aber nicht (unmittelbar) bedroht, ästhetisch entrückt ist und daher (schauernd) genossen werden kann. Manche Wunde ist erhaben.

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Sie alle werden Ihr Bild von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen haben. Von der Straßenschranke und vom angeschlossenen Asphaltplatz, der eingefasst ist durch das neu hinzugefügte Besucherzentrum, durch die Umfassungsmauer und durch den SS-Garagenhof, von der Treppe am Ende des SS-Garagenhofs zum SS-Kommandanturgebäude, zum Park mit den einundzwanzig Denkmälern und zum Schutzhaftlager mit den sieben übrig gebliebenen Baracken und Steingebäuden. Ihr Bild hätte ein anderes sein können. Vor siebenundsechzig, achtundsechzig Jahren, zwei, drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde angedacht, die gesamten Baulichkeiten auf dem Gelände abzureißen. Ein Kreuz wäre auf dem Hügel errichtet worden. Zwanzig Meter hoch. Beleuchtet. (Wenn Sie zu einem der Fenster hinausgucken, werden Sie ein Wohnhaus mit vorgehängten Betonplatten und einem ebenen Dach sehen, das sechs Stockwerke hoch ist. Über den Daumen gepeilt reicht die Höhe dieses Wohnhauses an die beabsichtigt gewesene Höhe des Kreuzes heran.) Es ist so, dass kaum ein Sinnbild, wie ein Wort oder eine andere Form, in diesem Fall das Kreuz, sich auf nur eine Erinnerung, auf nur eine Bedeutung zurückführen lässt. Zumeist ruht hinter einem Sinnbild eine ganze Welt, bespielt mit unterschiedlichen Figuren. Solche die brüchig sind oder aufgetürmt, gestutzt oder unscheinbar. Jede Figur steht für eine Erinnerung, für eine Bedeutung hinter einem Sinnbild. (Vor dem Wohnhaus ist eine Bogenlaterne aufgestellt, die eingeschaltet ist. Verschiedene Schatten sind auf die Straßendecke geworfen. Darunter der Schatten des blauen VW Passats neben dem Schatten des Markierungsklotzes. Stünden Sie nah bei der Bogenlaterne, würden Sie vielleicht von den Motten Notiz nehmen, die im vollen Laternenlicht umherschwirren. Wäre das Fenster, zu dem Sie schauen, ein Sinnbild, dann könnten die Erinnerungen und Bedeutungen dahinter, im übertragenen

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Sinn, die Bogenlaterne, das Laternenlicht, die Straßendecke, der blaue VW Passat, der Markierungsklotz, die verschiedenen Schatten und die Motten sein. Kurzum: Sie würden auf ein reichlich verworrenes Beziehungsgefüge blicken.) Die frühesten Erinnerungen und Bedeutungen hinter dem Sinnbild KREUZ sind annähernd so alt wie die Menschheit, darauf lassen Felsritzungen aus der Steinzeit schließen. Zweifellos weist das Kreuz die physischen Attribute eines guten Sinnbilds auf: Es ist leicht herzustellen. Schon als Geste lässt es sich erkennbar mit dem Finger beschreiben. Um sofort auf den Punkt zu kommen: Ein Kreuz anstelle des ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagers in Mauthausen hätte (auch) an die Verendung und Auferstehung von Jesus von Nazaret erinnert. Den Bibelfesten und Kunstinteressierten unter Ihnen wird der ungläubige Thomas ein Begriff sein. Ein berühmtes Gemälde zeigt ihn im Beisammensein mit Jesus von Nazaret, nach dessen Wiederkehr aus dem Totenreich, und zwei anderen Jüngern. Die Vorgeschichte zu dieser wundersamen Begegnung ist schnell erzählt. Sie beginnt damit, dass man zu Thomas sagt:

Wir haben den (aufgelebten) Herrn gesehen. Thomas bezweifelt, was er (nur) zu hören bekommt:

Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und nicht meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich es nicht. So erschien ihm Jesus von Nazaret und sprach:

Reiche deinen Finger her und deine Hand und lege sie in meine Hände und reiche deine Hand und lege sie an meine Seite.

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Noch am Kreuz hängend, war dem (späteren) Heiland die Spitze einer Lanze seitwärts in den Rumpf getrieben worden … Sie sehen also auf der Reproduktion des Gemäldes hier, das an und für sich zum Fahlen hinneigt, einen mittelalten Mann, mit dunklem Bart und Haar, gefurchter Stirn, einem weit aufgesperrten rotunterlaufenen Auge und einem geröteten Nasenrücken, der mit dem zartroten Zeigefinger seiner rechten zartroten Hand mit solch einer (vermeintlichen) Selbstverständlichkeit in die offene Seitenwunde des weitgehend entblößten Jesus von Nazaret reingefahren ist, als handle es sich bei der tiefen Stichverletzung um eine natürliche Öffnung des geschundenen Körpers. Das allein ist nicht entscheidend: Jesus von Nazaret umgreift mit seiner Linken die Hand von Thomas. Die Datierung des Gemäldes vom ungläubigen Thomas fällt in eine Zeit, die uns zurückbringt zum Gastredner am City College in New York – Sie sehen ihn bereits im Hintergrund sprechen – und zu seiner Vorlesung zur Geschichte der körperlichen Wunde.

Noch in der Frühmoderne stellte man sich den menschlichen Körper für gewöhnlich als säftehaltiges Gefäß vor. Von dia­ gnostischem Belangen war alles, was sich auf der Haut an Farben und Farbveränderungen, Erhabenheiten, Vorwölbungen, Hohlräumen und an Neubildungen ablesen ließ. Hinzu kam alles, was aus dem Leib hinaus strömte. In diesem Zusammenhang, dass da ein verborgenes Innen und ein wahrnehmbares Außen war, das dann, mit dem Aufkommen von Anästhetika und Röntgenmaschinen neu ausgemacht werden sollte, galt eine Wunde allein als Unterbrechung eines Kontinuums der Haut. Demnach rückte die Behandlung einer Wunde das Heften, Nähen oder Verbinden in den Mittelpunkt. Gerade im Verbinden wird der Versuch zum Ausdruck gebracht, eine Beschädigung anzuerkennen und in eine neue Ganzheit einzupassen.

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Gewiss gab es schon WUNDEN-MÄNNER: Schemata vom Leibinneren, die ungefähr bestimmten, durch welche Gewalteinwirkungen die Organe unter der Haut beschädigt werden könnten. Sie kennen die spätmittelalterlichen Holzschnitte, auf denen Äxte, Schwerter, Säbel, Degen, Dolche, Speere und Pfeile alle auf einmal im Kopf, in der Brust, im Bauch, in den Armen und Füßen eines aufrecht stehenden Mannes stecken und ihn zu einem Mischwesen aus Fleisch und Metall formen. Später treffen Kanonenkugeln den Körper und reißen die Glieder ab. Zumeist sind den WUNDEN-MÄNNERN Handschriften beigegeben, die einzeln die abgebildeten Verwundungen benennen und ihren voraussichtlichen Verlauf aufzeigen. Auch die ersten anatomischen Schaubühnen gab es bereits – im Besonderen in Italien, in Frankreich und in den Niederlanden. Wir blicken nach Italien zum bekanntesten Beispiel: einem spitzen, hohen trichterförmigen Saal, der die Zuhörer, die früher zu Hunderten von den Anatomien angezogen wurden und bunt durchmischt waren, in dichtgedrängten Reihen über­einander schichtet und sie von ihren Plätzen steil herunter sehen lässt, auf den engen Boden, wo ein rechteckiger Tisch

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: Collage aus fremden und eigenen Text-Versatzstücken. Böll, Heinrich: »Interview mit Leslie Wilson«, in: Paris Review. Interviews 1 (2011), S. 149–170. · Demuth, Volker: »Ästhetik der Wunde. Von Schrecken, Ekel und eindringlicher Schaulust«, in: Lettre International 107 (2014), S. 32–36. · Demuth, Volker: »Fleisch. Warum wir es verhüllten und weshalb wir es nun entblößen«, in: Lettre International 101 (2013), S. 70–76. · Deutsche Bibelgesellschaft (Hg.): Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, Stuttgart 1999. · Frisch, Max: Schwarzes Quadrat, Frankfurt a.M. 2008. · Fischer-Homberger, Esther: »Haut und Trauma. Zur Geschichte der Verletzung«, in: Günther H. Seidler/Wolfgang U. Eckart (Hg.), Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung, Gießen 2005, S. 57–83. · Fischer-Homberger, Esther: »Zur Medizingeschichte des Traumas«, in: Gesnerus 56 (1999), S. 260–294. · Goethe, Johann W.: Italienische Reise, Leipzig 1977. · Jetter, Werner: Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1986. · Klestinec, Cynthia: »Theater der Anatomie. Visuelle, taktile und konzeptuelle Lernmethoden«, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/ Jan Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde. Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin/New York 2011, S. 75–96. · Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M. 1984. · Max, D.T.: Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte, Köln 2014. · Moser-Ernst, Sybille K.: »Incarnazione. Caravaggios Finger des Ungläubigen Thomas als Verführung zum Fenster der Welt. Ein Beitrag zum Denken über eine Theorie des Bildes«, in: Roman A. Siebenrock/Christoph J. Amor (Hg.), Handeln Gottes. Beiträge zur aktuellen Debatte, Freiburg im Breisgau 2014, S. 508–534. · Perz, Bertrand: »Ein Blick auf 60 Jahre Gedenkstätte Mauthausen«, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.), Mauthausen Memorial neu gestalten. Tagungsbericht zum 1. Dialogforum Mauthausen 18. – 19. Juni 2009, Wien 2009, S. 25–32. · Plackinger, Andreas: »Visus und tactus, Affekt und Wahrheit in Caravaggios Ungläubigen Thomas. Überlegungen zum religiösen Sammlerbild im Rom des frühen 17. Jahrhunderts«, in: kunsttexte.de 4 (2010), unter: http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-4/ plackinger-andreas-1/PDF/plackinger.pdf vom 20.03.2014. · Réthely, Miklós: »Der Mensch auf der Bühne der moralisierenden Anatomie«, unter: http://www.ana.sote.hu/ teatrn.htm vom 15.03.2014. · Toellner, Richard: »Bild(ung) und Medizin. Der Wundenmann«, unter: https://gesellschaft-medizinische-ausbildung.org/files/ZMA-Archiv/1988/2/Toellner_R-g.pdf vom 22.03.2014. · Ursprung, Philip: »Krisen der Repräsentation und Kriege der Bilder«, in: Arch+ 204 (2011), S. 18–21. · Wallace, David F.: In alter Vertrautheit, Köln 2006.

Das vollständige Projekt VIERZIG MORGEN (Video und Architekturdarstellungen) ist unter http://cargocollective.com/vierzigmorgen in deutscher und englischer Sprache abruf bar.

Cornelia Siebeck

»The universal is an empty place« Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten 1

Der Anlass für diesen Artikel ist nicht zuletzt ein subjektiver: Ich möchte einem Unbehagen nachgehen, das mich in meinem eigenen professionellen, sowohl praktisch-pädagogischen als auch theoretisch-reflexiven Umgang mit Orten ehemaliger Konzentrationslager seit vielen Jahren immer wieder einmal beschleicht. Dieses Unbehagen bezieht sich auf die nach meinem Eindruck gelegentlich allzu selbstverständliche Deutungs- und Definitionsmacht, die wir als ›Expert/-innen‹ mit der Autorität der Wissenden und einschlägig Erfahrenen über diese Orte ausüben; auf die scheinbar unverrückbaren Gewissheiten, die sich in den zeitgenössischen Insiderdiskurs der postnazistischen Gesellschaften zum ›richtigen‹ Umgang mit diesen Orten eingeschlichen haben: wie sie zu musealisieren und pädagogisieren seien, wie man sie angemessen historisiert, interpretiert, sortiert, ästhetisiert, kartiert, erklärt

1

Dieser Aufsatz ist unter gleichem Titel erstmals erschienen in: Hansen, Imke/ Heitzer, Enrico/Novak, Katarzyna (Hg.), Ereignis & Gedächtnis. Neue Perspektiven auf die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin 2014, S. 217–253. Eine wesentliche Voraussetzung für sein Entstehen war die Diskussion über Fragen der Deutungs-, Definitions- und Gestaltungsmacht in der zeitgenössischen Gedenkkultur im Zuge des Workshops ›Repolitisierung! Display im Postnazismus‹ (vgl. Rest, Magdalena/Siebeck, Cornelia: »Repolitisierung! Display im Postnazismus. 15.03.–11.05.2011, Wien«, in: H-Soz-u-Kult, 10.9.2011, unter http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/-d=3800 vom 15.04.2012). Für die Lektüre früherer Textversionen und kritische Nachfragen danke ich Ulrike Gatzemaier, Imke Hansen, Verena Haug, Enrico Heitzer, Ronald Hirte, Peter Larndorfer, Magdalena Rest und Nora Sternfeld. Die Problematik eines ›verräumlichten Gedächtnisses‹ habe ich seither weitergedacht in: »Verräumlichtes Gedächtnis. ›Topolatrie‹ oder ›Orte von Belang‹?«, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Schwierige Orte. Regionale Erinnerung, Gedenkstätten, Museen, Halle 2013, S. 25–42.

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Cornelia Siebeck

usw. usf. – »Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.«2 Angesichts der Unmöglichkeit, einer irreduzibel komplexen und vieldeutigen vergangenen Realität im Medium des musealisierten Ortes gerecht zu werden, hat der Historiker Dan Diner einmal für ein »Bilderverbot« plädiert: »[f]ür einen Diskurs, der sich des Wortes und nicht der Festlegung innerer Präferenzen des Denkmals und damit des Bildes bedient«3. Wenn mit Diner gedacht das Problem des Mediums darin besteht, dass es ohne eine problematische Fixierung und Objektivierung von Bedeutung nicht auskommt, könnte man dem allerdings auch auf der Ebene der Deutungs- und Definitionsmacht begegnen. In diesem Sinne möchte ich hier danach fragen, ob diese professionell und institutionell hegemonialisiert sein muss oder ob sie nicht vielmehr radikal geöffnet werden sollte. Das würde allerdings erfordern, dass wir die damit zweifellos einhergehenden Unwägbarkeiten nicht als Bedrohung, sondern als Charakteristikum demokratischer Praxis begreifen. Dabei will ich auf diese Frage keine eindeutige Antwort geben – mir geht es darum, sie überhaupt einmal zu stellen. Im Folgenden soll daher zunächst das Medium des Gedächtnisortes selbst charakterisiert und in Bezug auf die ihm inhärenten Machtverhältnisse diskutiert werden, um anschließend die Genese einer Expert/-innenHegemonie nachzuvollziehen und zu problematisieren, wie sie in den großen bundesrepublikanischen KZ-Gedenkstätten im Verlauf der letzten 20 Jahre entstanden ist. Daraufhin sollen grundlegende Ambivalenzen der Musealisierung und Professionalisierung an Orten ehemaliger Konzen­trationslager ausgelotet werden, um dann im Anschluss an die Sozialtheorie von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau sowie kritische Museumstheoretiker/-innen eine hegemonietheoretische und radikaldemokratische Perspektive auf den Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager zur Diskussion zu stellen.

2

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M. 1970, S. 17. 3 Diner, Dan: »Nach-Denken über Gedenkstättenpolitik«, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg/Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche, Berlin 1992, S. 151–155, hier S. 152, 154.

»The universal is an empty place«

»… if the landscape is a text, then it is a very powerful one indeed« – KZ-Gedenkstätten als ›Medien der Bewusstseinsproduktion‹ Wer eine etablierte KZ-Gedenkstätte besichtigt, setzt sich dort nicht nur mit dem Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers auseinander, sondern trifft auch auf eine Institution, die diesen Ort aufbereitet und reguliert. Den materiellen und ideellen Realitäten, mit denen Besucher/-innen konfrontiert werden, ist somit ein doppelter Referenzcharakter zu eigen. Per definitionem repräsentieren sie den vergangenen Ort – das ist schließlich die offenkundige Funktion einer Gedenkstätte. Zugleich jedoch verweisen sie auf sich selbst, oder genauer gesagt: auf vielfältige Entscheidungen über den historischen Ort. Denn schon die Definition des jeweiligen Ortes als Gedächtnisort ist ja keineswegs selbstverständlich, sondern Ergebnis einer Entscheidung, die notwendig mit einer Fixierung von Bedeutung einhergeht, welche alternative Bedeutungs- und Nutzungspotenziale des Ortes (der ja immer auch ein anderer hätte werden können) weitgehend ausschließt. Auch die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit von Orten und Dingen im Gelände, die Gestaltung von Übersichtsplänen und empfohlenen Erschließungsrouten, die Besucher/-innenordnung oder das museale und pädagogische Angebot sind immer schon Resultate voraussetzungsvoller Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse erinnerungskultureller, gedächt­ nispolitischer und pragmatischer Art. Deren Kriterien jedoch sind für Besucher/-innen – so sie sich dessen überhaupt bewusst werden4 – nicht umstandslos nachvollziehbar, zumal die Entscheidungsträger/-innen über­w iegend ›hinter den Kulissen‹ agieren. Die geschaffenen Fakten treten ihnen daher in ihrer räumlichen, materiellen und performativen Tatsächlichkeit buchstäblich als ›Objektivität‹ entgegen.

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Für die überwiegende Mehrheit der Besucher/-innen kann erfahrungsgemäß und bestätigt durch Besucher/-innenforschungen davon ausgegangen werden, dass sie Gedenkstätten als ›authentische‹ Orte begreifen und auch genau deshalb aufsuchen, was deren Wahrnehmung als ›konstruierte‹ Orte entgegenstehen dürfte. Vgl. Pampel, Bert: »Gedenkstätten als ›außerschulische Lernorte‹. Theoretische Aspekte – empirische Befunde – praktische Herausforderungen«, in: Ders. (Hg.), Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011, S. 11–58, hier S. 54.

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»We all do read the landscape, but we are not all equal in the process of authoring it – nor in controlling its meanings«5, stellt der Geograf Don Mitchell fest und gibt gleichzeitig zu bedenken: »If the landscape is text, then it is a very powerful one indeed.«6 In seiner unhintergehbaren räumlichen Tatsächlichkeit, die auf die darin befindlichen Subjekte nicht nur kognitiv, sondern über sinnliche Wahrnehmungsprozesse auch atmosphärisch7 zu wirken vermag, wird der gestaltete Ort zum »Medium von Bewusstseinsproduktion«8. Damit ist nicht mehr, aber eben auch nicht weniger gemeint, als dass vorgefundene materielle und semantisch-normative Arrangements wirkmächtige Rahmenbedingungen darstellen, innerhalb derer Subjekte basierend auf mitgebrachten Dispositionen eigensinnig Bewusstsein ausbilden.9 Die Produktion von Orten und Räumen ist stets mit Deutungs-, Definitions- und Gestaltungsmacht verbunden und von daher immer ein Politikum. Bei KZ-Gedenkstätten handelt es sich zudem um explizit normative und gesellschaftspolitisch relevante Orte, die mittels Vergangenheitsrepräsentation zwangsläufig auch mehr oder weniger konkrete »Lehren« für Gegenwart und Zukunft bereithalten. Mit dem Sozialpsychologen Jürgen Straub gesprochen: »Historische Erzählungen eröffnen und verschließen Handlungsoptionen, sie implizieren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsaufforderungen, sie strukturieren den Handlungsraum von Menschen, die sich in bestimmter Weise in der narrativ

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Mitchell, Don: Cultural Geografy. A Critical Introduction, Malden u.a. 2000, S. 139 f. (Herv. i. O). 6 Ebd., S. 140. 7 Vgl. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 45 ff. ›Atmosphäre‹ wird hier als »spürbare Ko-Präsenz von Subjekt und Objekt« (S. 57) verstanden. Die Bezugnahme des Subjekts wird dabei nicht nur vom Wahrnehmungsobjekt determiniert, sondern auch von »anderen Weltbezügen, nämlich vor allen Dingen den gesellschaftlichen«. (S. 86) 8 Selle, Gert: »Im Raum sein. Über die Wahrnehmung von Architektur«, in: Michael Hauskeller (Hg.), Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Zug 2003, S. 261–279, hier S. 263. 9 Vgl. auch Siebeck, Cornelia: »Denkmale und Gedenkstätten«, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 177–183, v.a. 180 f.; Dies.: »›Im Raume lesen wir die Zeit‹? Zum komplexen Verhältnis von Geschichte, Ort und Gedächtnis (nicht nur) in KZ-Gedenkstätten«, in: Alexandra Klei/Katrin Stoll/ Annika Wienert (Hg.), Die Transformation der Lager. Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen, Bielefeld 2011, S. 69–97.

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repräsentierten Historie situieren.«10 Solche Repräsentationen werden dabei »nicht nur in einer Gegenwart gebildet und tragen – aus Perspektive des Erzählers – zu deren Klärung bei, sondern sie führen auch in eine Zukunft, indem sie den Subjekten gewisse Handlungen nahelegen«11.

»… bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung« – ›Demokratische Erinnerungskultur‹ als Expert/-innen-Hegemonie Nun ist natürlich entscheidend, wer in einem jeweiligen sozialen Raum die Macht hat, solche normativen Erzählungen zu formen und in Denkmälern und Gedenkstätten zu objektivieren. Mit Foucault gesprochen hat »[j]ede Gesellschaft […] ihre eigene Ordnung der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht«12. Mit Blick auf Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager wurde eine solche Ordnung im vereinten Deutschland neu ausgehandelt. Im Zeichen des nation building und des politischen Systemwechsels auf dem Gebiet der ehemaligen DDR kam es in der Bundesrepublik nach 1990 zu einer grundlegenden Neukonstitution des gedächtnispolitischen Feldes.13 An deren Anfang standen einerseits in der Öffentlichkeit kontrovers 10

Straub, Jürgen: »Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung«, in: Ders. (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1998, S. 81–169, hier S. 130. 11 Ebd. 12 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 51. 13 Vgl. Lindenberger, Thomas: »Governing Conflicted Memories: Some Remarks about the Regulation of History Politics in Unified Germany«, in:Muriel Blaive/ Christian Gerbel/ders. (Hg.), Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck u.a. 2011, S. 73–87; Rudnick, Carola S.: Die andere Hälfte der Erinnerung. DieDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S. 33 ff.; Meyer, Erik: »Erinnerungskultur als Politikfeld. Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik«, in: Wolfgang Bergem (Hg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen: 2003, S. 121–136; »Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes als Instrument geschichtspolitischer Steuerung«, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 2009, S. 101– 107; Sabrow, Martin: »Das Unbehagen an der Aufarbeitung. Zur Engführung von Wissenschaft, Moral und Politik in der Zeitgeschichte«, in: Thomas Schaarschmidt

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diskutierte Fragen bezüglich des ›richtigen‹ Umgangs mit aus der DDR überkommenen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen, die infolge der Enttabuisierung der dort nach 1945 befindlichen sowjetischen Internierungslager als Orte mit sogenannter ›doppelter Vergangenheit‹14 definiert wurden.15 Andererseits erfuhr das öffentliche Gedächtnis an die NS-Vergangenheit staatlicherseits eine symbolpolitische Aufwertung: nach innen und außen sollte signalisiert werden, dass der neu begründete Nationalstaat »die Abkehr von jenem Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 sichtbar und glaubwürdig vollzogen hat«16. Im Zuge ebenso vielschichtiger wie konfliktreicher Aushandlungsprozesse zwischen Parteipolitiker/-innen, Historiker/-innen, Opferverbänden und anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen, deren Inhalte und Verlauf hier nicht im Einzelnen rekonstruiert werden können,17 wurde der öffentliche Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager (Hg.), Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 11–20. 14 So die damals vorherrschende Bezeichnung, vgl. u.a. Deutscher Bundestag: Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer, in: Schlussbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 10.06.1998, Bundestagsdrucksache 13/11000, S. 226–255, hier S. 240 ff. 15 Die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten waren mit dem Einigungsvertrag in die kulturpolitische Hoheit des Bundes übergegangen. Gemäß dem kulturpolitischen Föderalismus wären dafür die neuen Bundesländer zuständig gewesen, die mit deren Erhalt und Neukonzeption indes überfordert waren, so dass auf Bundesebene eine Diskussion über anteilige Gedenkstättenförderung begann. Vgl. C.S. Rudnick: Die andere Hälfte, S. 41 ff. 16 Garbe, Detlef: »Von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur. Tendenzen der Gedenkstättenentwicklung«, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.), »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?« Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Essen 2005, S. 59–84, hier S. 81. 17 Einschlägig sind hier die Auseinandersetzungen im Rahmen der beiden Enquetekommissionen des Bundestags zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit (1992– 1994; 1995–1998), die sich auch mit gedächtnispolitischen Fragen beschäftigten. Vgl. Beattie, Andrew H.: Playing Politics with History. The Bundestag Inquiries into East Germany, New York/Oxford 2008, v.a. S. 161 ff.; C.S. Rudnick: Die andere Hälfte, S. 47 ff. Zugleich entspannen sich intensive öffentliche Konflikte um die Neukonzeptionen der Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen, die mit der Arbeit der Enquetekommissionen interferierten. Vgl. Haustein, Petra: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006; Zimmer, Hasko: Der Buchenwald-Konflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Prozess der deutschen Vereinigung, Münster 1999.

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neu definiert: Auf dem vormaligen Gebiet der DDR sollte ein Bruch mit einer staatlich verordneten doktrinär-antifaschistischen Gedächtnispolitik vollzogen werden, wie sie in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten praktiziert worden war. Diese sollten nun nicht nur ideell neu ausgerichtet, sondern auch formal entstaatlicht werden. Zugleich wurden KZ-Gedenkstätten in der alten Bundesrepublik, die bisher primär von einem zivilgesellschaftlichen, dem Selbstverständnis nach eher staatsfernen Engagement getragen worden waren, erstmals Gegenstand einer systematischen staatlichen Förderung und Regulierung. In diesem Spannungsfeld von Ent- und Verstaatlichung und in ostentativer Abgrenzung zur DDR wurde das Postulat einer ›demokratischen Erinnerungskultur‹ zentral: Das öffentliche Gedächtnis wurde als ›gesamtgesellschaftliche Aufgabe‹ definiert, für deren Umsetzung der Staat primär Rahmenbedingungen schaffen solle. Gedenkstätten an ›authentischen Orten‹ wurden dabei zu ›Stützpunkten der demokratischen Erinnerungskultur‹ erklärt.18 Angesichts der akuten Konflikthaftigkeit des öffentlichen Gedächtnisses gerade auch im Zuge der Neugestaltung der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten19 wurde zugleich die Rolle von Expert/-innen im gedächtnispolitischen Feld signifikant aufgewertet:20 Bald nach 1990 wurden Expertenkommissionen für die Neugestaltung der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR eingesetzt; eine Förderung von Gedenkstätten durch die Bundesregierung wurde seit 1992 von fachwissenschaftlichen Gutachten abhängig gemacht.21 Auch die Enquetekommissionen des Bundestags, die sich zwischen 1992 und 1998 um eine Aufklärung und Bewertung der DDR-Vergangenheit bemühten und schließlich Empfehlungen für ›Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen 18

Vgl. Deutscher Bundestag: Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung. Vgl. P. Haustein: Geschichte im Dissens; H. Zimmer: Der Buchenwald-Konflikt. 20 Vgl. T. Lindenberger: »Governing Conflicted Memories«, S. 82ff. Martin Sabrow spricht hier von einer »Allianz von Wissenschaft und Politik«. 21 Vgl. Gedenkstätte Buchenwald (Hg.): Zur Neuorientierung der Gedenkstätte Buchenwald. Die Empfehlungen der vom Minister für Wissenschaft und Kunst des Landes Thüringen berufenen Historikerkommission, Weimar-Buchenwald 1992; Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung: »Empfehlungen zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten, Januar 1992«, in: Dies. (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten, S. 215–270. Zu den Anforderungen an eine befristete Gedenkstättenförderung durch die Bundesregierung vgl. C.S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung, S. 44, Anm. 12. 19

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und ihre Opfer‹ aussprachen, zogen dezidiert außerparlamentarische Expertise heran.22 Die auf diesen Empfehlungen basierende ›Gedenkstättenkonzeption des Bundes‹ (1999) wiederum machte ein »wissenschaftlich, museologisch und gedenkstättenpädagogisch fundiertes Konzept«23 zur Voraussetzung für die staatliche Finanzierung von Gedenkstätten; künftige Förderentscheidungen sollten auf dem Rat eines »Expertengremium[s]« basieren. Um direkte staatliche oder parteipolitische Einflussnahme weiter zu erschweren, wurde die »politische Unabhängigkeit der Gedenkstätten«24 betont. Obwohl die Gedenkstättenkonzeption eine »Einbeziehung« von Opferverbänden, Zeitzeug/-innen sowie Bürger/-inneninitiativen in die Gedenkstättenarbeit ausdrücklich nahe legte, 25 privilegierte sie über formale Förderkriterien und die Formulierung eines spezifischen Aufgabenprofils einen wissenschaftlich fundierten professionellen Zugriff auf die Orte ehemaliger Konzentrationslager. Von politischen Entscheidungsträger/-innen institutionell abgesicherte, zugleich aber deren direktem Einfluss entzogene Expert/-innen sollten vor Ort sachkundig entscheiden und zwischen divergierenden gedächtnispolitischen Interessen vermitteln können. Ihr Status kann mit dem Soziologen Ronald Hitzler als »relationales Phänomen beschrieben werden […]: als etwas, was […] in Relation steht zum Laien einerseits, was aber (und das ist eben für die Analyse seines politischen Handlungspotentials relevant) im Zwei­ felsfall auch in Relation steht zum Entscheidungsträger andererseits. 22

So waren außerparlamentarische Expert/-innen, mehrheitlich professionelle Akademiker/-innen (überwiegend Historiker/-innen), einerseits Mitglieder der Kommissionen selbst, andererseits wurden weitere außerparlamentarische Expertise in Form von Gutachten und Berichten eingeholt. Vgl. A.H. Beattie: Playing Politics with History, S. 41 ff. 23 Deutscher Bundestag: Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes, 27.07.1999, Bundestagsdrucksache 14/1569, S. 3. Diese Ansprüche wurden trotz einer gewissen gedächtnispolitischen Akzentverschiebung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, auch in der so genannten ›Fortschreibung‹ der Gedenkstättenkonzeption von 2008 beibehalten, vgl. Ders.: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen, 19.06.2008, Bundestagsdrucksache 16/9875. 24 Ebd. 25 Vgl. Deutscher Bundestag: Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes, S. 4, 8; Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, S. 2.

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Politisch gesehen – d.h. im Hinblick auf als ›politisch‹ definierbare Interaktionskonstellationen – hat der Experte sozusagen per se die Position des ›Dritten‹.«26

Die vielfältigen, oft konfligierenden Ansprüche und Repräsentationswünsche, die sowohl aus der Zivilgesellschaft als auch von Politiker/-innen an KZ-Gedenkstätten herangetragen werden, wurden in dieser Relation zu partikularen (Laien-)Interessen, denen eine ›überparteiliche‹, gleichsam ›unpolitische‹ Expert/-innenkompetenz gegenübersteht. Resultat war eine umfassende Institutionalisierung und Professionalisierung der geförderten KZ-Gedenkstätten, die sich nun zunehmend auch als ›zeitgeschichtliche Museen‹ verstanden.27 Der Staat beschränkte sich dabei jenseits eines normativ fixierten ›antitotalitären Konsenses‹28 auf eine regulierende Rolle; allerdings wurden auch die Einflussmöglichkeiten von Überlebenden und zivilgesellschaftlichen Akteuren stark beschnitten, die den Umgang mit Orten ehemaliger Konzentrationslager in der alten Bundesrepublik geprägt hatten.29 26

Hitzler, Ronald: »Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung«, in: Ders./Anne Honer/Christoph Maeder (Hg.), Expertenwissen: die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, S. 13–30, hier S. 19 (Herv. i. O.). 27 Vgl. diesbezüglich den im Selbstverständigungsdiskurs der KZ-Gedenkstätten kanonisch gewordenen Text von Knigge, Volkhard: »Tatort – Leidensort – Friedhof – Gedenkstätte – Museum. Notizen für eine Gedenkstättenarbeit der Zukunft«, in: Bundesministerium für Unterricht und Kulturelle Angelegenheiten (Hg.), Erinnern in Gedenkstätten. Beiträge zum Thema anlässlich der Tagung der ZeitzeugInnen 1997, Wien 1998, S. 55–66. Knigge betont hier die Bedeutung von historischem Wissen für das Gedenken: »Deshalb müssen KZ-Gedenkstätten in Zukunft moderne historische Museen mit starken pädagogischen Abteilungen sein […]; aber zeithistorische Museen, die nicht vergessen – oder vergessen machen – dass sie zugleich Tat- und Leidensorte sind.« (S. 66). 28 Vgl. Deutscher Bundestag: Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung, S. 227, 241, 245; Deutscher Bundestag: Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes, S. 3; Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, S. 1 f., 7. Vgl. dazu kritisch A.H. Beattie: Playing Politics with History, v. a. S. 235 ff. 29 Vgl. etwa die Einschätzung der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V. in: Dies. (Hg.), »… das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Die Geschichte eines Überlebendenverbands, Hamburg 2008, hier S. 166: »Diejenigen, die über 50 Jahre lang maßgeblich zur Erinnerung an das KZ Neuengamme beigetragen, Ausstellungen und Führungen organisiert und Öffentlichkeit hergestellt haben, sehen sich nun einem Behördenapparat gegenüber.«

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Man kann dies mit dem Politikwissenschaftler Erik Meyer als Konsolidierung bundesrepublikanischer KZ-Gedenkstätten, als »Entdramatisierung von […] Entscheidungsprozessen«30 mittels »Sachverstand« und Einhegung unterschiedlicher Interessengruppen in »institutionelle Arrangements« positiv werten. Die inhaltlichen, theoretisch-reflexiven und gestalterischen Errungenschaften der konfliktreichen Suche nach einer sowohl historiografisch als auch moralisch ›gerechten Erinnerung‹ (Volkhard Knigge)31 an den Orten ehemaliger Konzentrationslager verdienen jedenfalls größten Respekt. In allen geförderten KZ-Gedenkstätten wurde seit 1990 eine historische Komplexität rekonstruiert, die vereindeutigende Sinnstiftungsversuche erschwert und vielfältige Fragestellungen und Bezugnahmen ermöglicht; mit einer Orientierung auf kritische (Selbst-)Reflexion statt (Selbst-)Affirmation32 wurden dabei wesentliche Voraussetzungen für eine ›demokratische Erinnerungskultur‹ geschaffen. Allerdings ließe sich vom Postulat einer ›demokratischen Erinnerungskultur‹ her auch fragen, ob diesem mit der institutionellen Absicherung einer Expert/-innen-Hegemonie, die sich einer wissenschaftlich fundierten pluralistischen Gedächtniskultur jenseits tages- und identitätspolitischer Funktionalisierungen verschrieben hat, genüge getan ist. Könnte dieses Postulat nicht auch dahin gehend ausgelegt werden, dass Bedeutung, Gestaltung und Regulierung der Orte ehemaliger Konzentrationslager immer wieder aufs Neue und dabei maximal partizipativ ausgehandelt werden sollten?

»… die Frage nach den Spielregeln selbst« – Die (Un-)Möglichkeit demokratischer KZ-Gedenkstätten Die spezifische Qualität und gesellschaftspolitische Relevanz eines kritischen geschichtswissenschaftlichen Ansatzes, wie er sich in den bundesrepublikanischen KZ-Gedenkstätten seit den 1990er-Jahren durchsetzen 30

E. Meyer: Erinnerungskultur als Konfliktfeld, S. 131 f. Vgl. Knigge, Volkhard: »Die Gedenkstätte Buchenwald seit 1989/90«, in: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.), Die Neukonzeption der Gedenkstätte Buchenwald, Weimar 2001, S. 5–12, hier v.a. S. 11 f.; siehe auch dessen rückblickende Reflexion: »Die Umgestaltung der DDR-Gedenkstätten nach 1990. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel Buchenwalds«, in: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.), Woran Erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Weimar/Wien 2006, S. 91–108. 32 Vgl. M. Sabrow: Das Unbehagen an der Aufarbeitung, S. 15. 31

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konnte, beschreibt der Historiker Lutz Niethammer wie folgt: Als »spezifisch moderne Praxis innerhalb des kulturellen Kampfs um Vergangenheit«33 könne historische Forschung »die Magie überwältigender Konstruktionen nicht nur der alten Tradition, sondern auch der modernen Geschichte herausfordern, zumindest aber auf den Status von Entwürfen herunterholen, die verfügbares Wissen synthetisieren und also kritisierbar und revidierbar sind.«34 In diesem Sinne sollten nun auch die Orte ehemaliger Konzentrationslager entmystifiziert und aus der Umklammerung durch sinn- und identitätsstiftende master narratives gelöst werden. Durch eine radikale Historisierung der Orte – nicht nur der historischen Tat- und Leidensorte, sondern auch der Gedächtnisorte – und deren weitgehende »Profanisierung«35 zu ›Lernorten‹ wurden sie für kontroverse Debatten über ihre soziopolitische Bedeutung und ihre ›angemessene‹ Repräsentation geöffnet. Niethammer deutet allerdings zugleich an, was in den oben beschriebenen gedächtnispolitischen Aushandlungsprozessen der 1990er-Jahre klar erkennbar wurde: dass nämlich Historiker/-innen und sonstige Expert/-innen letztlich auch nur partikular motivierte Akteur/-innen sind, die ihren spezifischen Zugang zu Vergangenheit hegemonialisieren wollen. Eine solche Hegemonialisierung indes impliziert stets eine strategische Behauptung und Stabilisierung von Selbstverständlichkeiten, hier bezüglich des ›richtigen‹ Umgangs mit den Orten ehemaliger Konzen­ trationslager. Und in der interpretativen, gestaltenden und performativen Praxis vor Ort ist die Produktion von Tatsächlichkeiten, die dann schnell den Status von Selbstverständlichkeiten gewinnen können, letztlich unumgänglich. Aus der Position einer institutionalisierten Deutungshoheit in die Tat umgesetzt, läuft noch das kritisch-reflexivste Projekt Gefahr, zumindest teilweise zum autoritativen Diskurs zu gerinnen, der das, was eben noch in kritischer Absicht geöffnet wurde, wieder schließt: »[T]he division between the hidden space of the museum in which knowledge is produced 33

Niethammer, Lutz: »Gedächtnis und Geschichte. Erinnernde Historie und die Macht des kollektiven Gedächtnisses«, in: WerkstattGeschichte 30 (2001), S. 32–37, hier S. 33. 34 Ebd., S. 36. 35 Vgl. Zülsdorf-Kersting, Meik: »Historisches Lernen in der Gedenkstätte. Zur Sta­ bilität vorgefertigter Geschichtsbilder«, in: B. Pampel (Hg.), Erschrecken – Mitgefühl – Distanz, S. 171–192, hier S. 172.

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and organized and the public spaces in which it is offered for passive consumption produces a monologic discourse dominated by the authoritative cultural voice of the museum.«36 Dieses Problem wird in der professionellen Gedenkstättenpädagogik durchaus gesehen. Im Zeichen dekonstruktivistischer und partizipativer pädagogischer Ansätze wird daher angeregt, »die eigenen Geschichtsnarrative für andere transparent zu machen«, um »Gedenkstätten als Räume einer reflexiven Bildungsarbeit zu nutzen, […] welche […] interaktive, offene Bildungsprozesse ermöglicht, die die Heterogenität der Zugänge zu historischem Geschehen nutzt und für Befragungen offen bleibt«37. Gefordert wird nicht nur eine »Relativierung und Transparenz der eigenen Position«, sondern eine pädagogische »Kultur […], die Emanzipation nicht im Konsens über das Gute zu verwirklichen sucht, sondern die Vo­raussetzungen emanzipativen und mündigen Handelns schafft, indem sie (politischen) Streit zulässt«38. Die Museumstheoretikerin Nora Sternfeld geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. Ihrer Ansicht nach kann von Partizipation nur dann die Rede sein, wenn dabei auch »bestehende Definitionsmachtverhältnisse« zur Disposition stehen und veränderbar sind: »Partizipation im demokratischen Verständnis des Wortes ist die Teilhabe an der Entscheidung über die Bedingungen des Teilnehmens, an den Bedingungen der Entscheidungen und der Repräsentation. Partizipation ist nicht das bloße Mitspielen, sondern die Öffnung für die Frage nach den Spielregeln selbst: nach den Bedingungen, unter denen Bildung, Öffentlichkeit und Repräsentation in Institutionen stattfindet.«39 36

Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London/New York 1995, S. 103. 37 Wrochem, Oliver von: »Geschichtsnarrative und reflexives Geschichtsbewusstsein im Bildungsprozess«, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt a.M. 2010, S. 59–63. 38 Geißler-Jagodzinski, Christian/Haug, Verena: »Gedenkstättenpädagogik – Ziele, Grenzen und Widersprüche«, in: Janne Mende/Stefan Müller (Hg.), Emanzipation in der politischen Bildung. Theorien – Konzepte – Möglichkeiten, Schwalbach am Taunus 2009, S. 299–329, hier S. 326. 39 Sternfeld, Nora: »Um die Spielregeln spielen! Partizipation im postrepräsentativen Museum«, in: Susanne Gesser et al. (Hg.), Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld 2012, S. 119–131, hier S. 122. Sternfeld verschweigt in ihrem Artikel nicht, dass mit diesem Ansatz auch immense Herausforderungen und offene

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Eine ›demokratische Erinnerungskultur‹ in KZ-Gedenkstätten wäre dann eine Praxis, die Heterogenität von Vergangenheitsbezügen nicht nur pädagogisch ›zulässt‹ und organisiert, sondern auch eine effektive Teilhabe entsprechend heterogener Akteur/-innen an institutionellen Entscheidungen ermöglicht. Ein derart radikaldemokratisches (und entsprechend ergebnisoffenes) laissez faire mag im sensiblen Kontext von KZ-Gedenkstätten, die sich einem angemessenen Gedächtnis an die NS-Verbrechen und würdigen Gedenken an deren Opfer verpflichtet fühlen, in vieler Hinsicht utopisch erscheinen. Gerade vor einem utopischen Horizont jedoch können mög­ liche Defizite des gegenwärtig Bestehenden erkennbar werden, und in diesem Sinne sollen im Folgenden einige Aspekte einer institutionalisierten Definitions- und Deutungsmacht über die Orte ehemaliger Konzentrationslager ausgelotet und reflektiert werden.

»Die erhalten gebliebenen Gebäude und Einrichtungen des Lagers werden dabei als Exponate verstanden« – Das Unbehagen an der Musealisierung »Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken« betitelte der Fotograf Reinhard Matz ein Projekt, in dessen Zuge er zwischen 1987 und 1992 zahlreiche Orte ehemaliger Konzentrationslager besuchte.40 Dabei bemühte er sich um eine »weitestgehende Banalisierung der Fotografierweise«41 und lenkte den Blick der Betrachter/-innen auf die geordnete Inszenierung und die triviale Gegenwärtigkeit der KZ-Gedenkstätten. Seine menschenleeren Bilder zeigen frisch restau­ rierte historische Gebäude, sorgfältige Objektarrangements, anschauliche KZ-Modelle, Beschriftungen, Beschilderungen und Bebilderungen, Hinweise auf Verhaltensmaßregeln, schließlich Souvenirläden, Parkplätze und Picknickgelegenheiten. Matz problematisiert eine objektivierende Fragen verbunden sind, die aus ihrer Sicht aber nicht gegen, sondern für ihn sprechen (vgl. ebd, S. 125). 40 Vgl. Matz, Reinhard: Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken, Reinbek bei Hamburg 1993. Zu Matz’ grundsätzlicher Musealisierungskritik vgl. auch Ders.: »Räume oder das museale Zeitalter. Ein Essay«, in: Ders., RÄUME oder das museale Zeitalter. Ein Essay und zwanzig Fotografien, Köln 1990, o.S. 41 Ders.: Vergegenwärtigen / Die unsichtbaren Lager. Projekttagebuch. Beobachtungen, Notizen 1987–92 (Auszüge), unter http://www.matzfotografie.de/deu/textar chiv/p_lager.htm vom 13.12.2012.

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Ordnung der Vergangenheit und den Versuch einer Regulierung nicht nur des Blicks, sondern auch des Verhaltens von Gedenkstättenbesucher/-innen sowie einen Wunsch nach Kontrolle über den historischen Ort und seine vergangene Realität, die sich allerdings immer weiter zu entziehen scheint, je näher die zuständigen Akteur/-innen ihr ordnend, bezeichnend und regulierend kommen wollen. Immer wieder haben Überlebende und Künstler/-innen mal mehr, mal weniger kritische Blicke auf den Erhalt und die Musealisierung ehemaliger Konzentrationslager geworfen.42 Mitunter trifft man dabei auf ein Unbehagen, das nicht nur aus der viel diskutierten Unmöglichkeit einer ›angemessenen‹ Repräsentation der NS-Verbrechen resultiert (die ja nicht nur diese Vergangenheit betrifft), sondern sich vielmehr auf die Kategorie der musealen Ordnung an sich bezieht. Im Folgenden möchte ich zwei weitere ästhetische Artikulationen vorstellen, die diesem Unbehagen auf besonders eindringliche Weise Ausdruck verleihen. Die erste stammt aus der Feder des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész, der in seiner Jugend als ›Jude‹ verfolgt wurde und mehrere Lager überlebte. In seiner Anfang der 1960er-Jahre verfassten Erzählung »Der Spurensucher«43 beschreibt er die Rückkehr eines Überlebenden an einen der Orte seiner Lagerhaft. Der Protagonist erkennt diesen zunächst nicht wieder und ist vollkommen desorientiert. Als er einen Passanten nach dem Weg fragt, wird ihm das ehemaliger Lager als gut organisierte Tourist/-innenattraktion angepriesen: »Sie suchen die Sehenswürdigkeit der Gegend? Immer nur voran, beeilen Sie sich, das Programm geht bald los: es gibt dort Filme und ein Museum; Sehenswürdigkeit für die Lebenden und Ruhestätte für die 42

Vgl. etwa Różewicz, Tadeusz: »Ausflug ins Museum« [1959], in: Ders., In der schön­ sten Stadt der Welt. Erzählungen, Berlin (DDR) 1971, S. 102–113; Semprun, Jorge: Die große Reise [1963], Frankfurt a.M. 1981, S. 193 ff.; Kunert, Günther: »Betonformen« [1968], in: Herbert Greiner-Mai (Hg.), Weimar im Urteil der Welt, Berlin/ Weimar 1977, S. 453–466; Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 69 ff. 43 Die Erzählung geht nach Kertész’ Angaben auf seinen eigenen Besuch in Buchenwald 1962 zurück. Vgl. Kertész, Imre: »Nachwort«, in: Ders., Der Spurensucher [1977], Frankfurt a.M. 2002, S. 125–130. Die zitierten Passagen beziehen sich auf die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald in der DDR. Jedoch geht Kertész auf deren spezifische Gestaltung und Sinnstiftung in seiner Erzählung nicht explizit ein, insofern ist anzunehmen, dass sich seine literarische Reflexion auf KZ-Gedenkstätten allgemein bezieht.

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Toten – ein abwechslungsreiches und lehrreiches Programm mit einem garantierten, minutengenauen Stundenplan, und für alles gibt es einen fachkundigen Vortragenden oder Ausstellungsführer.«44

Dem Protagonisten drängt sich angesichts der von ihm erfahrenen permanenten Inkongruenz von subjektiver Erinnerung und gegenwärtiger Verfasstheit des Ortes als Gedenkstätte ein »heimatloses Gefühl der Unwirklichkeit«45 auf. Er folgt schließlich anderen Besuchern und gerät auf diesem Wege in das Museum der Gedenkstätte: »Es war, als hätte er sich in ein Aquarium verirrt, unter tote Monster, ausgestopfte Drachen, urzeitliche Fossilienfunde; der Raum roch noch nach frischer Farbe, alles war heiter beleuchtet, mittels Schranken abgesperrt, hinter Glasscheiben gesteckt, und in der überlegenen Ordnung, dem Sicherheit verleihenden Umfeld wissenschaftlicher Präparate und diskreter Abstraktion ein eigentümliches, wenn nicht gar beschämendes Ausstellungsmaterial.«46

Neben der bereitgestellten Ordnung nimmt der Protagonist auch die sich darauf beziehende »Gebärde der Besichtigung«47 mit Befremden wahr: »Und wie lässig sich diese wählerischen Scharen in diesem temperierten Medium hier bewegten: auf den Gesichtern ein maßvolles Interesse für ein vorausberechenbares Abenteuer, in das sie sich aus Leichtsinn und Langeweile stürzten, sie nickten, blickten umher, es gab Dinge, die ihnen gefielen, und es gab Dinge, von denen sie sich abwendeten und weitergingen.«48

Kertész’ Erzählung kreist um die Subjektivität des Überlebenden, und darum, dass dieser seine Erinnerung nicht in einem ›Außen‹ wieder finden kann, sondern nur in sich selbst; und dass auch dieses Wiederfinden ›in sich‹ nicht unmittelbar, sondern nur ein kreativer Akt der Rekon­ struktion sein kann. Der Ort des ehemaligen Lagers wäre dem Protagonisten also vermutlich auch dann fremd, wenn er nicht musealisiert 44

I. Kertész: Der Spurensucher, S. 59. Ebd., S. 72. 46 Ebd., S. 73. 47 Rumpf, Horst: »Die Gebärde der Besichtigung«, in: Kirsten Fast (Hg.), Handbuch der museumspädagogischen Ansätze, Opladen 1995, S. 29–45. 48 I. Kertész: Der Spurensucher, S. 74. 45

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worden wäre. Bemerkenswert ist aber, wie brutal dem Spurensucher eben gerade der musealisierte Ort mitsamt seiner Behauptung, die subjektiv erlebte Vergangenheit in objektivierter Form zu repräsentieren, entgegen tritt. Hier erscheint das moderne Prinzip des Musealisierens als an sich schon zweifelhafte Form der Repräsentation des nicht mehr vorhandenen Lagers. In diese Richtung weist auch ein semantisches Feld, das der Autor mit Begriffen wie Lehre, Programm, Führen, Fachkundigkeit, Sicherheit, Ordnung, Wissenschaftlichkeit, Berechnung oder Abstraktion absteckt. Ein weiteres Beispiel, welches das museale Ordnen an Orten ehemaliger Konzentrationslager provokant problematisiert, ist ein Frühwerk des prominenten Denkmalkünstlers Jochen Gerz: »EXIT. Das Dachau-Projekt«. 1972–74 entstanden, wurde es anschließend sowohl in Form von Installationen öffentlich ausgestellt als auch in Buchform publiziert.49 Auf schwarz-weiß Fotos dokumentierte Gerz die Regulierung des Ortes des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau durch die dortige Gedenkstätte in Form von Schildern und Markierungen, die von Verboten, Verhaltensregeln, Administrativem und Sicherheitsmaßnahmen künden oder einzelne Orte innerhalb des Geländes bezeichnen; hinzu kamen Bilder von einem allzu aufgeräumt wirkenden Gelände, kollektiven Sitzgelegenheiten, Garderobenleisten oder Abfalleimern. Diese Fotos integrierte Gerz schließlich in eine begehbare Installation: Besucher/-innen betraten einen abgedunkelten Raum, der von ordentlich aufgereihten, grob gezimmerten Holztischen und -stühlen dominiert wurde. Bei schwacher Beleuchtung und vor dem Hintergrund einer Soundkulisse aus Schreibmaschinentippen und menschlichem Keuchen sollten sie das Material studieren, das in Lesemappen auf den Tischen fixiert war. Gerz formulierte sein Anliegen in knappen Texten als radikale Sprachund Zeichenkritik, die er zu einer Kultur- und Museumskritik verallgemeinerte: Sowohl das Konzentrationslager als auch das Museum Dachau vermittelten sich durch das gleiche Medium, worunter Gerz zunächst »Schriftzeichen« und »Beschriftungen«, später eine spezifische Form der »sprachlichen Organisation« fasste. Museum und Konzentrationslager 49

Gerz, Jochen/Lévy, Francis: EXIT. Das Dachau-Projekt, Frankfurt a.M. 1978. Neben den Materialien enthält das Buch einen Essay von Francis Lévy sowie eine Dokumentation zeitgenössischer Reaktionen auf das Projekt. Für eine eindrückliche Beschreibung und Reflexion des Dachau-Projekts aus kunsthistorischer Perspektive vgl. Steinhauser, Monika: »Erinnerungsarbeit. Zu Jochen Gerz’ Mahnmalen«, in: Daidalos 49 (1993), S. 104–113.

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implizierten sich auf diese Weise gegenseitig; sie seien Teil ein- und desselben, nämlich des ›Dachau-Projekts‹.50 Entgegen der Annahme empörter Kritiker/-innen behauptete Gerz dabei keineswegs, dass dieses ›Dachau-Projekt‹ in einer qualitativen Gleichartigkeit der Institutionen wie ›Konzentrationslager‹ und ›Museum‹ bestünde. Vielmehr verweist sein Projekt auf eine formale Verwandtschaft beider Institutionen mit Blick auf ihre subjektivierenden Funktionen, also ihre Funktion, das Subjekt in eine bestimmte, immer schon vorhandene und daher seinem Einfluss entzogene Ordnung zu zwingen.51 So erläuterte Gerz 1978: »Meine Kritik richtet sich dagegen, dass das Museum letztlich in seiner sprachlichen Organisierung – ›sich würdig verhalten‹, ›Bitte, nicht rauchen‹, ›Eingang‹, ›Ausgang‹ usw. – eine Form des Lagers ist, und dass das Lager eine Art des Museums ist, und dass beide in ihrer Art gleichsam nur die Äste vom gleichen Stamm sind, dass beide eine Legalität vortäuschen, die unangreifbar wird. Wenn man sich das einmal unbefangen ansieht, vor dem sensiblen Hintergrund des Lagers, dann empfindet man, jedenfalls ich, dass, wenn man sich gut im Museum verhält, man sich auch gut im Lager verhält, d.h. gut in dem Sinne, wie es nicht gut ist, nämlich als Opfer.«52

Es ist nicht verwunderlich, dass »EXIT. Das Dachau-Projekt« von Akteur/-innen vor Ort, die gegen massive gesellschaftliche und lokale Widerstände dafür gekämpft hatten, dass in Dachau überhaupt eine Gedenkstätte eingerichtet werden konnte, bis heute als unangebracht und 50

1972 schreibt Gerz: »Die […] Beschriftungen aus dem KZ Dachau zeigen, dass die gleiche Funktion dem Schriftzeichen eigen ist, im Museum und im KZ. Sie sind das Medium, das beides möglich macht. Latent beinhaltet die Beschriftung im KZ Dachau das Museum Dachau und die im Museum das KZ. Sie selbst ist das Dachau-Projekt.« (J. Gerz/F. Lévy: EXIT, S. 41) Später resümiert er: »Die Vergleichbarkeit der sprachlichen Organisation dessen, was gemeinhin als Extremfall von Lebensbeschränkung angesehen wird und dessen, was allgemein als lebensbereichernd gilt (Museum/Kultur) ist in Dachau etwas spürbares.« (Ebd., S. 137) 51 Vgl. ebd. Ähnliches klingt auch in Francis Lévys Essay an (vgl. ebd., S. 9–38). Es steht zu vermuten, dass sowohl Gerz als auch Lévy sich hier implizit Louis Althussers Paradigma der ›Ideologischen Staatsapparate‹ bedienen, das dieser 1970 in Form von ›Notizen für eine Untersuchung‹ erstmals in Frankreich publizierte (vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbband, hg. v. Frieder Otto Wolf, Hamburg 2010). 52 Gerz, Jochen: Gegenwart der Kunst. Interviews 1970–1995, Regensburg 1995, S. 49; für weitere Statements zum Dachau-Projekt vgl. ebd., S. 25, 33 ff. und 117.

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verletzend empfunden wird. Noch 2006 bezeichnete Barbara Distel, die sich an der Seite Überlebender bereits als Studentin für den Aufbau dieser Institution engagiert hatte und später deren Direktorin wurde, Gerz’ Projekt als »Denunziation der Gedenkstätte«: »Die meisten deutschen Institutionen waren damals noch weit davon entfernt, sich mit der eigenen Verstrickung in das verbrecherische System des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Kontinuitäten […] hätten sich an vielen Orten in Deutschland finden lassen. Dass sich Jochen Gerz für seine Beweisführung die von den ehemaligen Opfern geschaffene Einrichtung aussuchte, stieß bei den Betroffenen auf völliges Unverständnis, ja auf Entsetzen.«53

Distels nachvollziehbare Entrüstung geht indes teilweise an Gerz’ Projekt vorbei. Denn dieses sollte ja nicht institutionelle und personelle Kontinuitäten des in der Bundesrepublik ›beweisen‹, sondern vielmehr gerade am Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers zeigen, dass ein Bruch mit historisch tiefer verwurzelten (Denk-)Strukturen ausgeblieben war, die sowohl die Institution des Konzentrationslagers als auch die des Museums hervorgebracht hätten. Ich selbst würde gegen Gerz argumentieren, dass bei aller strukturellen Kontinuität moderner Ordnungsvorstellungen und daraus resultierender Formen der ›Gewaltausübung‹ über das Soziale und das Subjekt – denn darauf läuft seine These ja letztlich hinaus54 – auch der normative Zweck sowie der tatsächliche Zwangs- und Unterwerfungscharakter so unterschiedlicher Institutionen wie ›Konzentrationslager‹ und ›Museum‹ nachvollzogen werden müssten. Selbst wenn beide – in ihrer Eigenschaft als Institutionen – eine bestimmte Deutung des Sozialen hegemonialisieren, so kann dieses Tertium Comparationis ohne eine Reflexion formaler und inhaltlicher Unterschiede beider Institutionen nicht nur moralisch, sondern auch analytisch in die Irre führen. 53

Distel, Barbara: »Neue Formen der Erinnerung?«, in: Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Heft 22 (2006), S. 3–10, hier S. 4 f. 54 In diesem Sinne finden sich bei Gerz auch Anklänge an Adornos Kritik des ›identifizierenden Denkens‹ in der erstmals 1966 erschienenen ›Negativen Dialektik‹: »Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes umso weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leibe rückt.« (T.W. Adorno: Negative Dialektik, S. 152)

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Aus einer bestimmten kulturtheoretischen Perspektive, nämlich einer radikalen Kritik am modernen Ordnungs- und Identitätsdenken, bleibt Gerz’ Problematisierung einer Musealisierung der Orte ehemaliger Konzentrationslager allerdings bedenkenswert. Mit einem ähnlichen Impetus, jedoch behutsamer und differenzierter, spürte auch der Soziologe Tony Bennett den historisch-diskursiven Bezügen zwischen Gefängnis und Museum nach, wobei er an Gramsci und Foucault anschloss: Sowohl ›strafende/vor dem öffentlichen Blick verbergende‹ als auch ›überzeugen wollende/zur Schau stellende‹ Varianten moderner Institutionen hätten die Formierung und Disziplinierung einer kontrollier- und regierbaren Gesellschaft zum Ziel gehabt. Ausführlich geht Bennet dabei auf koloniale, rassistische und sozialdarwinistische Selbst- und Weltbilder ein, die im Zuge wissenschaftlicher Welterklärung in Ausstellungen und Museen vielfach (re-)produziert und objektiviert wurden.55 Nun verhält sich der zeitgenössische Musealisierungsdiskurs durchaus kritisch-reflexiv gegenüber seiner gewaltvoll-positivistischen Vergangenheit, was aber noch lange nicht heißt, dass diese ihm nicht in vieler Hinsicht nach wie vor eingeschrieben ist.56 Musealisierung bleibt eine heikle Praxis der Selbstermächtigung, ein ordnender und kontrollierender Zugriff auf eine unordentliche Wirklichkeit. Dass ein rigoroser Musealisierungsdiskurs auch bezüglich der Orte ehemaliger Konzentrationslager keineswegs der Vergangenheit angehört, zeigt sich beispielsweise im »Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen«, das sich explizit auf vorangegangene Neugestaltungen von KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik bezieht.57 In energischem Ton heißt es dort etwa: »Die erhalten gebliebenen Gebäude und Einrichtungen des Lagers werden […] als Exponate verstanden, anhand derer Geschichte und Funktionsweise des 55

Vgl. Bennett, Tony: »The Exhibitionary Complex«, in: new formations 4 (1988), S. 73–102. Ausführlicher: T. Bennett: The Birth of the Museum. 56 Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Dirk Rupnow, inwiefern eine bisher kaum reflektierte Forschungs- und Musealisierungspraxis des NS-Regimes mit Blick auf seine Opfer den späteren Gedenk- und Musealisierungsdiskursen zu den NSVerbrechen eingeschrieben bleibt. Vgl. Rupnow, Dirk: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005, hier v.a. S. 319 ff. und S. 337. 57 Vgl. Bundesministerium für Inneres, Abt. IV/7 (Hg.): mauthausen memorialneu gestalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2009, S. 7 f.

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Konzentrationslagers Mauthausen erklärt werden.«58 Um Rezipient/-innen, deren potenziell »spontane Entscheidungen«59 von den Autor/-innen offenbar als problematisch angesehen werden, auf den ›richtigen Weg‹ durch das musealisierte Terrain zu bringen, solle ein künftiger Rundgang so gestaltet werden, »dass ihm die BesucherInnen quasi von selber folgen. Dies ist nur möglich, wenn sich der Weg als eine schlüssige Aufeinanderfolge von historisch wichtigen Anlagen und Bauten und den dazugehörigen Inhalten präsentiert.«60 Wer einmal in einer KZ-Gedenkstätte gearbeitet hat, kann die pragmatischen und normativen Erwägungen, die in einen solchen Kontrolldiskurs münden, gut verstehen; ebenso wie anzunehmen ist, dass die Mehrheit der Besucher/-innen eine »stringente Besucherführung«61 und ein klares »Leitsystem«62 durchaus begrüßen wird. Andere werden der vorgegebenen Route durch die von Expert/-innen zu »Exponaten« und »Großexponate[n]«63 reduzierten Überreste des Lagers nicht ›wie von selbst‹ folgen wollen, sondern eigensinnige Wege suchen. Davon wird sie auch niemand abhalten, solange sie nicht gegen die Besucherordnung verstoßen. Nichtsdestotrotz muss angesichts einer derart apodiktischen Musealisierungsrhetorik mit dem Erziehungswissenschaftler Horst Rumpf kon­ statiert werden, dass hier »wie in allen Belehrungsinstitutionen das Erklären, das Einordnen, das Verständlichmachen« und eine »Orientierung auf Resultatewissen« die Oberhand gewonnen hat: »Dass es auch eine Art des Hinsehens, des Nachdenkens, des Sprechens gibt, die den Dingen ihre Selbstverständlichkeit nimmt – die es nicht plausibel, sondern geradezu unverständlich macht, dass dieses Gebäude, dieses Bild, diese Gegenstände entstehen konnten«64, wie Rumpf schreibt, geht zumindest in den resoluten Formulierungen des ›Rahmenkonzepts‹ konsequent unter. Und 58

Ebd., S. 24, vgl. auch S. 25 f. und S. 40. »KZ-Gedenkstätten weisen hinsichtlich des Besucherverhaltens Ähnlichkeiten mit Freilichtmuseen auf. Im Gegensatz zum klassischen Museum ist eine stringente Besucherführung wegen der Weitläufigkeit des Areals sehr schwierig. So sind bei BesucherInnen, die den Ort selbständig, d.h. ohne Führung erkunden wollen, sehr häufig spontane Entscheidungen für oder gegen eine Besichtigungs- bzw. Informationsmöglichkeit zu beobachten.« (Ebd., S. 26) 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 27. 63 Ebd., S. 25 f., 51. 64 H. Rumpf: Die Gebärde der Besichtigung, S. 40. 59

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auf welcher Grundlage sollte eigentlich wer entscheiden können, was eine ›schlüssige Aufeinanderfolge‹ in der Auseinandersetzung mit einem einstigen Konzentrationslager ist, welche Relikte ›historisch wichtig‹ sind und was hier die jeweils ›dazugehörigen Inhalte‹ sind?

»… was von einer Sache gesehen, gewollt und gesagt werden kann« – Institutionalisierung, Professionalisierung, Standardisierung »Gedenken braucht Wissen!«, lautet ein Slogan, der sich in den aktuellen pädagogischen Materialien der Gedenkstätte Buchenwald immer wieder findet und sogar die Einkaufstüten des gedenkstätteneigenen Buchladens ziert. Im Sinne eines pädagogischen Auftrags repräsentiert er die zentrale Legitimation der zeitgenössischen ›Gedenkstättenlandschaft‹ im deutschsprachigen Raum, die sich auch und vor allem als eine Landschaft von ›Lernorten‹ definiert. So betonte die ›Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland‹ 2007 in einer gedächtnispolitischen Stellungnahme: »Gedenken setzt […] fundiertes kognitives und emotionales Wissen voraus, wenn es nicht zu einem Akt leerer Pietät werden soll […]. Ein zukunftstauglicher Gedenkstättenbegriff ist sich deshalb der notwendigen Verbindung von Opfergedenken, kritischer Erinnerung und geschichtswissenschaftlich fundierter historischer Bildung bewusst.«65

Aber die Objektivierung, Institutionalisierung und Regulierung von Wissen und deren Vermittlung in KZ-Gedenkstätten ist mit Foucault gesprochen auch mit der Macht verbunden, eine derartige Programmatik überhaupt zu entwickeln sowie entsprechende ›Lernorte‹ zu schaffen und zu gestalten – und ein solcher ›Nexus von Macht-Wissen‹66 65

Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland: »Stellungnahme zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom 22. Juni 2007«, in: GedenkstättenRundbrief 139 (2007), unter http://www.gedenkstaettenforum. de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/news/stellungnahme_zur_fortschrei bung_der_gedenkstaettenkonzeption_durch_den_beauftragten_der_bundesregie/ vom 15.04.2012. Zu erkenntnispolitischen Ambivalenzen einer solchen ›Pädagogisierung‹ vgl. Meseth, Wolfgang: »Die Pädagogisierung der Erinnerungskultur. Erziehungswissenschaftliche Beobachtungen eines bisher kaum beachteten Phänomens«, in: Zeitschrift für Genozidforschung 8, Heft 2 (2007), S. 96–117. 66 Für eine komprimierte Programmatik dieser »Analysefront« vgl. Foucault, Michel: Was ist Kritik? [1978], Berlin 1992, S. 32 ff. Hier heißt es u.a.: »Denn nichts kann als

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sollte entsprechend benannt und reflektiert werden.67 Die Forschungs-, Gestaltungs- und Vermittlungspraxis in KZ-Gedenkstätten im deutschsprachigen Raum ist gleichwohl nach wie vor eher heterogen. Jede Institution hat ihre eigene Entstehungs- und Gestaltungsgeschichte, die zwar von übergreifenden gedächtnispolitischen und erinnerungskulturellen Diskursen bestimmt war, sich aber unter jeweiligen regionalen und lokalen Bedingungen und nach Maßgabe eigensinniger Akteur/-innen stets auch spezifisch entwickelt hat. Die einzelnen Gedenkstätten pflegen in vieler Hinsicht ihre eigene Handschrift im Umgang mit den Orten; Mitarbeiter/-innen bringen subjektive Perspektiven in die institutionelle Agenda und alltägliche Praxis ein. Infolge des eingangs beschriebenen Institutionalisierungsprozesses ist jedoch in den vergangenen 20 Jahren eine Tendenz zu gedenkstättenübergreifenden Standards in Form »typisierte[r] Wissens- und Handlungsmuster«68 kaum zu übersehen. Nicht nur wurde versucht, festzuschreiben, was KZ-Gedenkstätten seien (und damit auch nicht seien),69 sondern es kam innerhalb kurzer Zeit auch zu einer Welle von Neugestaltungen,70 wobei ein übersichtlicher Kreis einschlägiger Expert/-innen grundsätzliche Fragen der narrativen Ausrichtung und Gestaltungsästhetik anhand von KriWissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform geht – etwa mit dem System eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses in einer bestimmten Epoche, und wenn es nicht andererseits, gerade weil es wissenschaftlich oder rational oder einfach plausibel ist, zu Nötigungen und Anreizungen fähig ist. Umgekehrt kann nichts als Machtmechanismus funktionieren, wenn es sich nicht in Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssystemen fundiert sind.« (S. 33) 67 Vgl. auch die diskursanalytischen Überlegungen zur Funktionalisierung von KZ-Gedenkstätten bei Bauer, Jan-Patrick: »Historischer Lernort KZ-Gedenkstätte? Eine diskursanalytische Perspektive«, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.), Orte historischen Lernens, Berlin 2008, S. 179–194. 68 J. Bauer: Historischer Lernort KZ-Gedenkstätte?, S. 186: »Institutionen werden […] verstanden als typisierte Wissens- und Handlungsmuster mit eigener Historizität. Durch die eigene Genese werden sie verstetigt und entlasten das Subjekt von Entscheidungen; gleichzeitig stellen diese sich dem Subjekt als objektiv gegeben dar, wodurch dessen Verständnis von Wirklichkeit vorstrukturiert ist.« 69 Vgl. etwa die Funktions- und Aufgabenbeschreibung in Deutscher Bundestag: Gesamtdeutsche Formen, S. 241 ff.; ferner den kanonischen Text von V. Knigge: Tatort – Leidensort – Friedhof – Gedenkstätte – Museum. 70 Umfassend neu gestaltet wurden in diesem Zeitraum u.a. die KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Ravensbrück, Neuengamme, Bergen-Belsen, Dachau und Flossenbürg; in Österreich die Gedenkstätten Mauthausen und Gusen.

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terien zeitgenössischer Diskurse über den ›richtigen‹ (und damit auch ›falschen‹) Umgang mit diesen Orten festlegte. Rund um das Paradigma des ›Lernortes‹71 entspann sich zudem ein institutionenübergreifender Austauschprozess über Prinzipien der pädagogischen Vermittlungsarbeit in NS-Gedenkstätten, der laut einer aktuellen Bestandsaufnahme einen »Basiskonsens«72 sowie umstrittene, aber allgemein für diskussionswürdig erachtete Fragen gezeitigt hat. Mit der immer wieder erhobenen Forderung nach einer weiteren ›Professionalisierung‹73 nicht nur der historiografischen und museologischen, sondern gerade auch der pädagogischen Arbeit in KZ-Gedenkstätten, wird eine Standardisierung weiter befördert: »Der Begriff der Professionalisierung bezeichnet den Prozess, in dem die Berufsausbildung und die Weiterentwicklung der professionellen Wissensbasis systematisiert und institutionalisiert werden und bestimmte Tätigkeitsfelder für die Angehörigen eines Berufs reserviert werden.«74 Angesichts des viel beschworenen ›Abschieds von den Zeitzeug/-innen‹ und dem sich anbahnenden Abschied von der ›Generation Aufarbeitung‹ 71

Vgl. z.B. Haug, Verena: »Staatstragende Lernorte. Zur gesellschaftlichen Rolle der NS-Gedenkstätten heute«, in: Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte, S. 33–37 und J. Bauer: Historischer Lernort KZ-Gedenkstätte?. Beide betonen, dass es sich hierbei nicht um eine intrinsische Qualität der Orte ehemaliger Konzentrationslager, sondern um eine soziopolitische Funktionalisierung handelt. 72 Vgl. die in einem Projekt, an dem pädagogische Mitarbeiter/-innen aus elf NS-Gedenkstätten beteiligt waren, entwickelte »Bestandsaufnahme zu aktuellen Zielsetzungen gedenkstättenpädagogischer Vermittlung«. Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.), »Einführung«, in: Dies. (Hg.), Orte, S. 9–17, hier S. 10 f. 73 Wer sich von der Hochkonjunktur des Begriffs im Zusammenhang mit Gedenkstättenarbeit überzeugen möchte, dem sei eine Google-Recherche mit den Schlagworten »Gedenkstätte« und »Professionalisierung« empfohlen. 74 Heidenreich, Martin: »Berufskonstruktion und Professionalisierung. Erträge der soziologischen Forschung«, in: Hans-Jürgen Apel et al. (Hg.), Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozess, Bad Heilbrunn 1999, S. 35–58, hier S.39. ›Beruf‹ ist im Kontext der Gedenkstättenpädagogik allerdings (noch?) eher im Sinne eines geteilten professionellen Ethos zu verstehen denn als Fixierung von Ausbildungswegen. So werden etwa im jüngst formulierten »Berufsbild Gedenkstättenpädagogik« keine Zugangsvoraussetzungen, sondern »Herausforderungen in diesem Arbeitsfeld« benannt. Vgl. Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte, S. 25–30, hier S. 25; vgl. dazu kritisch Meseth, Wolfgang: »›Beruf Gedenkstättenpädagoge/-pädagogin‹ zwischen Qualitätsmerkmalen und Standardisierung«, in: GedenkstättenRundbrief 160, Heft 4 (2011), unter http:// www.gedenkstaetenforum.de/nc/gedenkstaettenrundbrief/rundbrief/news/beruf_ gedenkstaettenpaedagoge_paedagogin_zwischen_qualitaetsmerkmalen_und_stan dardisierung/ vom 15.04.2012.

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(Volkhard Knigge)75, die im Bündnis mit Überlebenden KZ-Gedenkstätten in der alten Bundesrepublik als primär zivilgesellschaftliches und dabei immer auch gesellschaftspolitisch motiviertes Projekt erkämpft hat, gewinnt das Professionalisierungsparadigma zusätzliches Gewicht, da damit die Vielfalt möglicher Motivationen und Praktiken im Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager eingeschränkt oder doch zumindest einem professionellen Zugang nachgeordnet werden könnte: »Professionalisierungsprozesse sind immer auch Aushandlungsprozesse über die ›richtige‹ Definition der Welt; es geht nicht nur um Macht und Einfluss, sondern auch um eine neue Definition der Wirklichkeit. Die Etablierung eines Berufs geht mit einer Neuordnung dessen einher, was von einer Sache gesehen, gewollt und gesagt werden kann.«76

Diese Entwicklung wird vonseiten professioneller Akteur/-innen durchaus (selbst-)kritisch reflektiert. So fragte der Historiker und Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Habbo Knoch, jüngst im »GedenkstättenRundbrief« nach den gedächtniskulturellen Veränderungen, die sich durch Verstaatlichung, Institutionalisierung und Professionalisierung der ›Gedenkstättenlandschaft‹ ergeben hätten, und zwar insbesondere bezüglich des Verhältnisses zwischen »zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur« und institutionalisierter Gedenkstättenarbeit. In seinem Artikel würdigte er zivilgesellschaftliches Engagement als »notwendiges Korrektiv für erinnerungskulturelle Prozesse«77 und berief sich dabei explizit auf einen Begriff von Zivilgesellschaft, der sich »nicht darin erschöpft, Individuen als Lernsubjekte partizipatorisch in Bildungsprozessen zu ermächtigen, sondern von staatsfreien Netzwerken, Diskursen und Handlungszusammenhängen ausgeht, die unter anderem Erinnerung prozesshaft entstehen lassen und als Korrektiv für übergeordnete Programmatiken dienen«78 75

Knigge, Volkhard: »Die Zukunft der Erinnerung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26 (2010), S. 10–16, hier S. 12. 76 M. Heidenreich: Berufskonstruktion und Professionalisierung, S. 46. 77 Knoch, Habbo: »Mehr Wissen und mehr Recht: Koordinaten einer zukünftigen Erinnerungskultur. Eine Replik auf Harald Welzer«, in: GedenkstättenRundbrief 163 (2011), unter http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rund brief/rundbrief/news/mehr_wissen_und_mehr_recht_koordinaten_einer_zu kuenftigen_erinnerungskultur/ vom 15.04.2012. 78 Ebd.

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Dennoch will Knoch eine staatlich regulierte und professionell begründete Deutungsmacht über die Orte ehemaliger Konzentrationslager offenbar weiterhin privilegiert wissen: »Zivilgesellschaft […] sollte als gelebte soziale Praxis im Kontext von notwendiger Professionalisierung und staatlicher Verantwortung eingebunden bleiben.«79 Einige Zeilen weiter heißt es dann, dass Gedenkstätten die Aufgabe zufalle, »neben den mitgebrachten Vorstellungshaushalten (›Wo sind die Gaskammern?‹) die Suggestionskraft und den Erlebniswert der historischen Orte durch Wissensorientierung und partizipative Aneignung [zu] kontrollieren, um dem ›Überwältigungsverbot‹ Rechnung zu tragen«80. Dabei erscheint die Zivilgesellschaft – hier in Form von Gedenkstättenbesucher/-innen – nun doch wieder als zu rahmendes ›Lernsubjekt‹, das zunächst einmal vor seinen suspekten ›Vorstellungshaushalten‹ geschützt werden muss, um es (mit einem etwas schiefen Verweis auf den Beutelsbacher Konsens81) durch ›Wissensorientierung‹ davon abzuhalten, sich selbst zu überwältigen. Solchen ›Lernsubjekten‹, die ohne professionelle ›Kontrolle‹ und ›Einbindung‹ zweifelhaften Fantasien ausgeliefert sind, kann aber schwerlich zugleich die Kompetenz zugesprochen werden, herrschende gedächtniskulturelle und -politische Programmatiken zu ›korrigieren‹. Die Widersprüchlichkeit, die hier zum Ausdruck kommt, markiert meines Erachtens ein Paradoxon im zeitgenössischen Gedenkstättendiskurs, das man wie folgt zuspitzen könnte: Zivilgesellschaftliches Engagement wird als notwendig erachtet und begrüßt – aber nur innerhalb bereits professionell abgesteckter Rahmenbedingungen, die ein solches Engagement autoritativ einhegen sollen. Neben dem nachvollziehbaren Anliegen, dass Besucher/-innen und mögliche Aktivist/-innen sich den Orten ehemaliger Konzentrationslager nicht projektiv, sondern (selbst-)kritisch-reflexiv nähern, scheint sich im Wunsch nach Kontrolle 79

Ebd., Herv. C.S.

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Das von Knoch zitierte ›Überwältigungsverbot‹ ist der erste von drei Punkten des Beutelsbacher Konsenses, auf den sich 1976 eine Fachtagung zur historisch-politischen Bildungsarbeit in der Bundesrepublik geeinigt hat. Hier geht es allerdings nicht darum, dass Lernende davor bewahrt werden müssen, sich selbst zu überwältigen. Vielmehr sollen sie davor bewahrt werden, von Lehrenden überwältigt zu werden: »Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern.« (Bundeszentrale für politische Bildung: Beutelsbacher Konsens, 07.04.2011, unter http://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens vom 01.12.2012)

80 Ebd.

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und Einbindung allerdings auch ein Bewusstsein dafür zu äußern, dass es für die Privilegierung eines professionellen Zugriffs auf die Orte ehemaliger Konzentrationslager keinen ›letzten Grund‹, sondern nur spezifische Begründungen gibt. Aus der eigenen – entmystifizierenden und historisierenden – Praxis heraus weiß man dabei selbst am besten, dass diese Begründungen sich nicht aus der polyvalenten Realität eines vergangenen Orts ableiten lassen, sondern nur aus den eigenen professionellen und normativen Kriterien im Umgang damit.82 Über die Allgemeingültigkeit dieser Kriterien besteht in einer breiteren Öffentlichkeit erfahrungsgemäß nicht notwendigerweise Konsens. Vielmehr gibt es zu jedem Zeitpunkt nicht nur alternative Deutungs- und Gestaltungsideen, sondern werden auch allerlei affektiv gelagerte Begehren und daraus resultierende ›Geschichtsgeschichten‹ (Volkhard Knigge) an die Orte ehemaliger Konzentrationslager herangetragen.83 Und sind nicht die Expert/-innen immer auch gleichzeitig Teil dieser zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit? Jedenfalls agieren sie nie ausschließlich nach professionellen Kriterien, sondern notwendig auch als interessierte und motivierte Subjekte, denen ihr Denken und Handeln nicht vollkommen transparent sein kann: »Eine völlig rationale, sich selbst durchsichtige und reflexiv kontrollierte Geschichtskonstruktion ist […] eine idealtypische Vorstellung. Jeder Akt historischer Sinnbildung ist teilweise durch Hintergründe, Kontexte und Motive bestimmt, über die Subjekte keine oder nur eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten besitzen.«84

Im Bestreben, die Orte ehemaliger Konzentrationslager deutend und gestaltend zu besetzen, bleiben Expert/-innen für sich selbst und andere als partikulare Akteur/-innen, deren Hegemonie bedroht ist, erkennbar.

82

»Eine ›Vergangenheit‹ als ein aus der Perspektive der Gegenwart gebildetes narratives Konstrukt ist prinzipiell an die gedanklichen, sprachlichen und kommunikativen Grundlagen ihrer Erzeugung gebunden.« (J. Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden, S. 161) 83 Vgl. Knigge, Volkhard: ›Triviales‹ Geschichtsbewusstsein und verstehender Geschichtsunterricht, Pfaffenweiler 1988, S. 39 f. und S. 65; Kölbel, Carlos/Straub, Jürgen: »Geschichtsbewusstsein als psychologischer Begriff«, in: Journal für Psychologie 1/11 (2003), S. 75–102, hier S. 80 f. 84 J. Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden, S. 167 f. Vgl. auch L. Niethammer: Gedächtnis und Geschichte, S. 33 f.

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»… a theory of decision in an undecidable terrain« – Hegemonietheoretische Reflexionen Ob mit Blick auf das Musealisierungs- oder das Professionalisierungsparadigma der Gedenkstättenarbeit: im Zentrum meiner Reflexionen standen tendenziell verabsolutierende Praktiken der Objektivierung und damit einhergehende Machtfragen, Widersprüche und Dilemmata. Im Folgenden möchte ich das (natürlich nicht nur) für KZ-Gedenkstätten konstitutive Verhältnis von Macht und Objektivität noch einmal systematischer reflektieren, um schließlich auf meine eingangs gestellte Frage zurückzukommen, wie eine ›demokratische(re) Erinnerungskultur‹ an den Orten ehemaliger Konzentrationslager aussehen könnte. Ich werde mich dabei wesentlich auf die Sozialtheoretiker/-innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe beziehen, die nicht nur eine deskriptiv-analytische Hegemonietheorie, sondern auch eine normative Theorie einer radikalen und pluralen Demokratie entworfen haben.85 Mit Laclau gesprochen implizieren sich Objektivität und Macht gegenseitig: »[A]ll objectivity necessarily presupposes the repression of that which is excluded by its establishment.«86 Von daher ist jedwede Objektivität zunächst einmal »nothing but the sedimented form of power, in other words a power whose traces have been erased.«87 Die Rede ist hier jedoch keineswegs von gewaltsamer Unterdrückung,88 sondern von den zwangsläufigen Konsequenzen jeder realisierten Entscheidung: Stellt man etwa an einem bestimmten Punkt im Gedenkstättengelände ein Schild auf – was bekanntlich nicht jede/r darf –, so sind die Alternativen, an dieser Stelle kein oder ein anderes Schild aufzustellen, faktisch verworfen. Das Schild steht nun ›selbstverständlich‹ da, ihm ist nicht ohne weiteres zu entnehmen, welche Entscheidungen zu seiner Aufstellung geführt haben. Ein Ort wird definiert, der Besucher/-innenblick entsprechend 85

Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics [1985], London/New York 2001; anschließend theoretisch weiter entwickelt und präzisiert vor allem von Laclau, weshalb ich mich im Folgenden primär auf dessen Beiträge beziehe. 86 Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of Our Time, London/New York 1990, S. 31. 87 Ebd., S. 60. 88 »By ›repression‹ we simply mean the external suppression of a decision, conduct or belief, and the imposition of alternatives which are not in line with them.« Ebd., S. 31.

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gelenkt: »In other words, […] the ›objectivity‹ arising from a decision is formed, in its most fundamental sense, as a power relationship.«89 Eine solche Machtausübung wird dabei als einzig möglicher, dabei jedoch immer schon politischer Modus verstanden, in dem ein an sich kontingentes Soziales zu sinnhaften sozialen Ordnungen stabilisiert werden kann: »Without power, there would be no objectivity at all.«90 Für eine solche Objektivität gibt es allerdings aus der Perspektive von Laclau und Mouffe keinen ›letzten Grund‹. Aus einer prinzipiellen Kontingenz bzw. Überdeterminiertheit des Sozialen folgern sie im Anschluss an Derrida dessen ›Unentscheidbarkeit‹. Entscheidungen für eine bestimmte Deutung und Definition des Sozialen werden von daher als hegemoniale Operationen gedacht, mit der partikulare Ordnungsvorstellungen sich im Zeichen eines ›sozialen Imaginären‹ zur ›Selbstverständlichkeit‹ zu universalisieren versuchen. In Bezug auf die Orte ehemaliger Konzentrationslager heißt das nicht mehr und nicht weniger, als das, was sich in deren nunmehr über 70-jähriger Geschichte vielfach studieren lässt, nämlich dass diese als solche nicht vorgeben, was sie bedeuten oder wie und von wem sie zu gestalten sind. Insofern sind sie grundsätzlich kontingent, in einer bestimmten historischen Situation jedoch jeweils durch eine Vielzahl möglicher Bedeutungszuschreibungen und Gestaltungsideen überdeterminiert,91 die mehr oder weniger explizit um den ›richtigen Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager‹ konkurrieren. Hier eine Entscheidung zu treffen und für deren Realisierung zu kämpfen, wäre eine hegemoniale Operation; sie erfolgreich durchzusetzen, ist Hegemonie: »One can see hegemony as a theory of the decision taken in an undecidable terrain.«92

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Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. 91 Wenn bei Laclau von einer Kontingenz des Sozialen die Rede ist, dann nicht in einem postmodernen Denker/-innen häufig unterstellten Sinne völliger Beliebigkeit. Vielmehr wird das Soziale nur als ›in letzter Instanz‹ indeterminiert, in einer jeweiligen historischen Situation jedoch als vielfach überdeterminiert gedacht: »It is true that in the final instance no objectivity can be referred back to an absolute ground, but no important conclusion can be drawn from this, since the social agents never act in that final instance. […] [W]hat we always find is a limited and given situation in which objectivity is partially constituted and also partially threatened; and in which the boundaries between the contingent and the necessary are con­ stantly displaced.« (Ebd., S. 27) 92 E. Laclau/C. Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy, S. xi. 90

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Soziale Wirklichkeit, verstanden als sinnhaftes Relationsgefüge, das dezidiert auch einen sinnhaften Umgang mit physischen Objekten und Realitäten umfasst,93 wird daher von Laclau und Mouffe als machtvolles Ergebnis vorangegangener Kämpfe um Deutungs- und Definitionsmacht verstanden. Für ihre konkrete Ausformung gibt es keinerlei außerdiskursive oder überhistorische Gründe. Idealtypischerweise werden kompatible Alternativen von einem hegemonialen Projekt integriert, inkompatible Alternativen aber radikal verworfen. Die Tatsache, dass ein solches Projekt nur über Ausschlüsse funktionieren kann, unterminiert allerdings zugleich seine behauptete Universalität – wäre es tatsächlich universal, müsste ja zu seiner Durchsetzung und Erhaltung nichts ausgeschlossen werden. In diesen Ausschlüssen bleibt die Kontingenz des hegemonialen Projekts also aufgehoben. Wenn sich etwa die bundesrepublikanische Gedenkstättenpraxis gegen die der DDR konstituiert,94 bleibt letztere eben präsent: als realhistorische Alternative und – wichtiger – als Beweis dafür, dass es Alternativen gibt. Eine stabile Fixierung des hegemonialen Projekts in Form einer erfolgreichen diskursiven Schließung ist daher unmöglich, sein partikularer Charakter bleibt wahrnehmbar: »The universal is an empty place, a void which can be filled only by the particular«.95 Faktisch rivalisieren (potenziell oder tatsächlich) stets unterschiedliche Projekte um den leeren Ort des ›Universalen‹ oder ›sozialen Imaginären‹, in diesem Fall um den ›richtigen‹ Umgang mit Orten ehemaliger Konzentrationslager. Die Besetzung eines ›sozialen Imaginären‹ ist also immer potenziell umkämpft, eine hegemoniale Operation somit ein prekäres Unterfangen, Stabilisierung von Bedeutung immer nur temporär.

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Laclau und Mouffe unterscheiden nicht zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken und Objekten. In ihrer sozialen Bedeutsamkeit seien vielmehr alle Praktiken und Objekte immer schon diskursiv verfasst, so dass der Diskurs seinerseits immer auch materiell verfasst ist (vgl. ebd., S. 107 f. sowie E. Laclau/ C. Mouffe: »Post-Marxism without Apologies«, in: New Left Review I, 166 (1987), S. 79–106, hier S. 82 f.) 94 Mit Laclau und Mouffe gedacht, handelt es sich dabei übrigens nicht um die tatsächliche Gedenkstättenpraxis der DDR, sondern um ein Konstrukt, das die bundesrepublikanische Praxis als ihr ›konstitutives Außen‹ definiert. Das wiederum soll nicht heißen, dass Konstrukt und historische Realität nichts miteinander zu tun hätten. 95 Butler, Judith/Laclau, Ernesto/Žižek, Slavoj: Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, S. 58 (Herv. i. O.).

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»… nothing prevents this positivization from symbolizing impossibility as such …« – Radikaldemokratische Ausblicke Es scheint, als werde dieser ›unruhige Modus der Hegemonie‹ (Martin Nonhoff)96 vonseiten professioneller Akteur/-innen in KZ-Gedenkstätten nicht selten als Bedrohung wahrgenommen, die es mit einem intensiven Musealisierungs- und Professionalisierungsdiskurs zu beantworten gilt. Aus der Perspektive von Laclau und Mouffe liegt aber genau in dieser Instabilität das Potenzial für eine ›demokratische Erinnerungskultur‹: Dass das ›Universale‹ in Form und Inhalt nicht fixierbar ist, sondern stets von partikularen Akteur/-innen umkämpft werden könne, sei die elementare Voraussetzung für Demokratie.97 Unter demokratischen Vorzeichen sei diese Offenheit daher eben gerade nicht durch den Versuch (ohnehin unmöglicher) diskursiver Schließungen zu bekämpfen, sondern vielmehr grundsätzlich anzuerkennen. Im Sinne einer Radikalisierung und Pluralisierung demokratischer Praxis gelte es darüber hinaus, die Unmöglichkeit ›abschließender‹ und ›allgemeingültiger‹ Deutungen als solche offensiv zu repräsentieren: »[A]lthough positivization is unavoidable, nothing prevents this positivation from symbolizing impossibility as such, rather than concealing it through taking us beyond it. […] The possibility of this weakened type of naturalization is important for democratic politics, which involves the institutionalization of its own openness and, in that sense, the injunction to identify with its ultimate impossibility.«98

Auf der Ebene der Gedenkstättenarbeit würde eine solche Institutionalisierung von Offenheit bedeuten, noch die letzte ›Magie des Ortes‹99 zu ver96

Nonhoff, Martin: »Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie – Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, S. 7–23, hier S. 7. 97 Vgl. Laclau, Ernesto: »Universalism, Particularism, and the Question of Identity«, in: Ders.: Emancipation(s)London/New York 1996, S. 20–35, hier S. 35 sowie Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of Our Time, S. 83. 98 J. Butler/E. Laclau/S. Žižek: Contingency, Hegemony, Universality, S. 186 f. Hier beschreibt Laclau das »project for a radical democracy« wie folgt: »[…] a form of politics which is founded not upon dogmatic postulation of any ›essence of the social‹, but, on the contrary, on affirmation of the contingency and ambiguity of every ›essence‹, and on the constitutive character of social division and antagonism.« (S. 193). 99 Vgl. Michel, Karl Markus: »Die Magie des Ortes. Über den Wunsch nach authentischen Gedenkstätten und die Liebe zu Ruinen«, in: Die Zeit 38, 11.09.1987. Michel

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abschieden und die eigenen Ansätze in ihrer Diskursivität, Historizität, Kontingenz und ihrem genuin politischen Charakter radikal zur Disposition zu stellen. Dass dies vielen Mitarbeiter/-innen von Gedenkstätten gar nicht fern liegt, zeigt sich etwa im Anspruch, die eigenen »Kriterien offen [zu] legen, hinterfragbar [zu] machen und zur Debatte [zu] stellen«100. Auch im aktuellen gedenkstättenpädagogischen Diskurs finden sich, wie eingangs erwähnt, vielfältige Ansatzpunkte für institutionelle und subjektive Transparenz sowie für die Relativierung eigener Perspektiven.101 Dennoch bleibt auch in diesen Versuchen der ›Schwächung‹ bestehender Objektivierungen ein Machtgefälle erhalten: Die einen treten als mehr oder weniger transparente professionelle Vermittler/-innen am bereits gestalteten Ort auf, den anderen tritt ein ›fertiger Ort‹ mitsamt Personal entgegen, mit dem sie sich auseinandersetzen wollen oder sollen. ›Demokratische Erinnerungskultur‹ hieße aber im Anschluss an Laclau und Mouffe, von vornherein möglichst viele Menschen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse zu integrieren – auch auf die ›Gefahr‹ hin, dass sich dadurch institutionelle Rahmenbedingungen, in diesem Falle das Erscheinungsbild von KZ-Gedenkstätten, massiv verändern würden: »[A]s the constituencies of a potential democratic deliberation are constantly transformed and expanded, the institutional framework which makes that interaction possible will also be variable. Radical democracy cannot be attached to any a priori fixed institutional formula.«102 Oder mit der Museumstheoretikerin Nora Sternfeld ausgedrückt: »[W]arum sollte überhaupt irgendjemand Lust haben, bei einem Spiel mitzuspielen, das gänzlich andere erfunden haben?«103 Ohne die frühe Gedenkstättenbewegung rückblickend idealisieren zu wollen, sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die bundesrepublikanische kritisiert hier u.a., dass vorangegangene Operationen der Sinnstiftung durch konkrete Akteur/-innen im vermeintlich ›authentischen Ort‹ tendenziell verschleiert werden. 100 Knigge, Volkhard: »Abschied von der Erinnerung. Zum notwendigen Wandel der Arbeit der KZ-Gedenkstätten in Deutschland«, in: GedenkstättenRundbrief 100, Heft 4 (2001), S. 136–143, hier S. 141 f. 101 Vgl. zahlreiche Beiträge in: Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte sowie C. Geißler-Jagodzinski/V. Haug: Gedenkstättenpädagogik – Ziele, Grenzen und Widersprüche, v.a. S. 317 ff. 102 Laclau, Ernesto: »Glimpsing the Future«, in: Simon Critchley/Oliver Marchart (Hg.), Laclau. A Critical Reader, London/New York 2004, S. 279–328, hier S. 295 (Herv. i. O.). 103 N. Sternfeld: Um die Spielregeln spielen!, S. 119.

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Gedenkstättenlandschaft auf vergleichsweise radikaldemokratische An­fänge zurückblicken kann: Den damaligen Akteur/-innen ging es zunächst einmal nicht um professionelle Museumsarbeit, sondern um eine kollektiv-diskursive Aneignung der Orte ehemaliger Konzentrationslager. Im Zeichen einer ›Spurensuche‹ wurde die öffentliche Auseinandersetzung mit diesen Orten als aktivistischer, politischer, kreativer und partizipativer Aushandlungsprozess entworfen, in dem sich auch Habbo Knochs Idee vom zivilgesellschaftlichen Engagement als ›notwendigem Korrektiv für erinnerungskulturelle Prozesse‹ wiederfindet. So schrieb ein Aktivist (und heutiger Gedenkstättendirektor) 1983: »Spurensicherung ist ein politisches Verfahren zur Wiederaneignung heimatlicher Umwelt. […] Spurensicherung ist entdeckendes Lernen. Die Beteiligten machen selbst ihre Erfahrungen und gewinnen eigene Einsichten. Spurensicherung ist auch eine Form demokratischen Lernens. Die in Schule und Gesellschaft vermittelte Geschichtsschreibung ›von oben‹ wird durch eine selbst erarbeitete Geschichtsschreibung ›von unten‹ ergänzt und zum Teil auch korrigiert.«104

Die gegenwärtige ›Gedenkstättenlandschaft‹ hätten die damaligen Aktivist/-innen vermutlich als Bestandteil einer Gedächtniskultur ›von oben‹ identifiziert; die einstigen Visionen spielen hier jedenfalls nur noch sehr vermittelt eine Rolle, etwa in Form relativ explorativer und ergebnisoffener pädagogischer Methoden. Eine Aktualisierung erfahren radikaldemokratische Ansätze allerdings jüngst im Zuge einer Kritik an der institutionalisierten Gedenkstättenkultur, so in zwei Papieren der »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges Jugend-KZ Uckermark«.105 Hier wird die Programmatik eines 104

Garbe, Detlef: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983, S. 23–35, hier S. 26 ff (Herv. i. O.). Vgl. dort auch weitere Aufsätze. 105 Zur Geschichte des Jugend-KZ, seiner ersten gedächtnispolitischen Markierung 1995, der anschließenden FrauenLesbenTransgender Workcamps und den aktuellen Stand der Verhandlungen bezüglich einer Sicherung des Ortes bei gleichzeitigem Beibehalten des Konzepts des ›Offenen Gedenkens‹ vgl. die Website der Initiative: http://www.gedenkort-kz-uckermark.de/. Vgl. weiters: sowie Limbächer, Katja/Merten, Maike/Pfefferle, Bettina (Hg.), Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Münster 2005; Steininger, Lisa: »Das Mädchen-Konzentrationslager Uckermark«, in: Mitteilungsblatt der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, Jänner 2007, S. 8–14, unterhttp://www.ravensbrueck.at/pdf/MBL_07.pdf vom 15.04.2012 und diverse

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›Offenen Gedenkens‹ skizziert, das die Initiative an diesem (noch) ›vergessenen‹ Ort zu etablieren versucht.106 Ebenso wie im Diskurs der frühen Gedenkstättenbewegung wird dabei der politische Charakter des eigenen Tuns hervorgehoben: »Einen Ort des Gedenkens zu gestalten ist eine politische Handlung […] und wird von uns auch als dieses wahrgenommen.«107 Geschaffen werden soll ein Gedächtnisort, der niemals »abgeschlossen oder fertig sein soll, sondern […] ein Prozess ist und bleibt, in dem die verschiedenen Auseinandersetzungen und Arbeiten einen Ausdruck finden«108. Das Konzept des ›Offenen Gedenkens‹ beschreiben die Autorinnen und Autoren wie folgt: »Offenes Gedenken […] heißt, den Ort in einem Prozess zu gestalten, an dem viele Personen und Gruppen beteiligt sind. Dieses als einen Akt an sich zu betrachten, der Menschen dazu veranlasst, Verantwortung für den Ort und die Geschichte zu übernehmen.«109 Dabei wird betont: »Eine offene Gestaltungsform ist keine Beliebigkeit, sondern betont den gemeinsamen Prozess und ein demokratisches Vorgehen.«110 Der befürchteten ›Beliebigkeit‹ soll mithilfe allgemein gehaltener und in ihrer konkreten Ausformung zweifellos verhandelbarer Prinzipien begegnet werden, nämlich einer (im weitesten Sinne)

Beiträge in Ravensbrückblätter 36, Nr. 138 (2010), unter http://www.lg-ravens brueck.de/ravensbrueckblaetter/ravensbrueckblaetter-138.pdf vom 15.04.2012. 106 Der vorliegende Beitrag wurde im Frühjahr 2012 abgeschlossen. Die Diskussionen, die seither um den Ort des Jugend-KZ Uckermark und das ›Offene Gedenken‹ geführt wurden, konnten leider nicht mehr berücksichtigt werden. Sie finden sich teilweise dokumentiert in: Forschungswerkstatt Uckermark (Hg.), Unwegsames Gelände. Das Jugendkonzentrationslager Uckermark - Kontroversen um einen Gedenkort, Gütersloh 2013. 107 Cordes, Wiltrud: Offenes Gedenken – politisch verortet. Redebeitrag auf dem Uckermarkforum November 2010, unter http://www.gedenkort-kz-uckermark. de/assets/downloads/berichte/2009_beitrag_politisches_gedenken.pdf vom 15.04.2012. 108 Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.: Wie kann ein Gestaltungskonzept für das Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers und späteren Vernichtungslagers Uckermark aussehen? Entwurf Oktober 2010, unter http://www.gedenkort-kz-uckermark.de/assets/downloads/berichte/2010_ gestaltungskonzept_okt.pdf vom 15.04.2012. 109 N.N.: »Was bedeutet offenes Gedenken? – Gedanken über offenes Gedenken«, o.J. [vermutl. 2010/11], unter http://www.gedenkort-kz-uckermark.de/assets/down loads/berichte/2011_was-bedeutet-offenes-Gedenken.pdf vom 15.04.2012 (Herv. i. O.). 110 Ebd., (Herv. i. O.).

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»antifaschistischen Haltung«111 und dem »Respekt vor den Opfer[n] des Nationalsozialismus«112. Wie auch immer man zur konkreten Praxis der Initiative stehen mag, und welche spontanen Bedenken auch immer sich mit Blick auf Möglichkeiten und Grenzen der Realisierung eines solchen Konzepts auftürmen mögen: So könnte ein radikaldemokratischer Umgang mit Orten ehemaliger Konzentrationslager aussehen. Die Unentscheidbarkeit des Ortes wird hier von vornherein als solche anerkannt. Zugleich lässt sich hier zeigen, dass radikaldemokratische Politik die Kontingenz des Sozialen zwar anerkennt, deswegen aber selbst noch lange nicht in ein anything goes verfallen muss:113 Es wird hier ja durchaus ein Rahmen gesteckt, innerhalb dessen Verhandlungen stattfinden sollen, aber dieser wird eben auch als solcher, nämlich per definitionem als politischer und nach Hegemonie strebender Rahmen benannt. Historiker/-innen, Sozialwissenschaftler/-innen, Museolog/-innen, Gestalter/-innen sowie Gedenkstättenpädagog/-innen könnten sich in dieses Projekt einbringen, ihre spezifischen Zugänge wären jedoch nicht von vornherein privilegiert gegenüber denen von Menschen, die vor Ort »einen Apfelbaum pflanzen und einen handschriftlich beschriebenen Stein daneben legen«114 möchten. Angestrebt werden, wie es im Konzept der Initiative heißt, »ständige Aktivitäten vor Ort, ohne den Ort zu besetzen«115. Wenn das gelingen würde, dann bliebe immer noch Platz – zum Weiter denken, -diskutieren und -gestalten; der Ort bliebe in Bewegung und würde Menschen einladen, sich zu beteiligen. Mit Laclau und Mouffe gesprochen können partikulare Projekte das leere ›Universale‹ ohnehin nie ganz ausfüllen; es macht aber einen signifikanten Unterschied, ob ein Projekt dennoch danach strebt, dies auf dem Wege von Musealisierungsund Professionalitätsdiskursen zu tun, oder ob diese Unmöglichkeit von Anfang an offen und konzeptionell zugrunde gelegt wird. 111

Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.: Wie kann ein Gestaltungskonzept für das Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers und späteren Vernichtungslagers Uckermark aussehen? 112 Ebd. 113 »[C]ontingency is not the negative other side of necessity, but the element of impurity which deforms and hinders ist full constitution.« (E. Laclau: Reflections, S. 27). 114 N.N.: Was bedeutet offenes Gedenken? 115 Dost, Käthe: »5. Uckermark-Forum 2010. Schwerpunktthema: Offenes Gedenken«, in: Ravensbrückblätter 36, Nr. 138 (2010), S. 4 f., unter http://www.lg-ravensbrueck. de/ravensbrueckblaetter/ravensbrueckblaetter-138.pdf, 15.04.2012.

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Auch wenn der radikaldemokratische ein utopischer Horizont sein sollte, so wird im Kontrast dazu doch sichtbar, dass Gedenkstättenarbeit nur bedingt als ›demokratisch‹ gelten kann, solange sie nicht gleichzeitig bereit ist, ihre grundsätzliche Objektivierungsmacht offensiv zur Disposition zu stellen: »Um vielfältigen Bezügen Raum zu geben braucht es […] mehr als bloß ein Bekenntnis zur Offenheit. Partizipation muss, wenn sie über eine bloß erwartbare Interaktion hinaus gehen will, konzeptuell und strukturell verankert werden.«116 Ziel wäre dabei in einem bewussten Bruch mit dem Museum des 19. Jahrhunderts nicht die Produktion von Identität, Homogenität und Konsens, sondern eine auch praktisch wirksame Anerkennung von Hybridität, Heterogenität und Dissens – nicht zuletzt auch in ihrer Eigenschaft als Resultate historischer und gegenwärtiger Machtverhältnisse.117 Aus Perspektive einer kritischen Museumstheorie würden KZ-Gedenkstätten sich dann nicht mehr oder nur noch teilweise als Institutionen der Aufklärung und Wissensvermittlung präsentieren, sondern als flexible Infrastrukturen, innerhalb derer sich plurale Akteur/-innen gleichberechtigt artikulieren und in eine öffentliche Auseinandersetzung treten können.118 Eine »effiziente Diskussion und Entscheidungsbildung«119 über die Gestaltung von Orten ehemaliger Konzentrationslager, wie sie unter Expert/-innen derzeit offenbar umstandslos zu erzielen ist, wäre dann allerdings nicht mehr möglich. Vielmehr wäre eine solche Praxis in der Tat anstrengend und unberechenbar. Es gibt viele gute Gründe, die gegen ein solches laissez faire an den Orten ehemaliger Konzentrationslager sprechen. Aber vielleicht wären diese Orte als gegenwärtige Medien 116

Sternfeld, Nora: Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft, Wien 2013, S. 129. 117 Vgl. Clifford, James: »Museums as Contact Zones«, in: Ders., Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge/London 1997, S. 188–219, hier S. 210. Vgl. auch Christian Geißlers Forderung, Gedenkstättenmitarbeiter/-innen müssten »ein Bewusstsein der eigenen sozialen Positionierung in den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen und den blinden Flecken, die sich z.B. aus dieser Positionierung ergeben«, entwickeln, Ders.: »Inklusive Gedenkstättenpädagogik. Heterogenität und Diskriminierung als Kategorien für die Reflexion und Konzeption pädagogischen Handelns«, in: Thimm/Kößler/ Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte, S. 70–75, hier S. 74. 118 Vgl. T. Bennett: The Birth of the Museum, S. 103 ff. 119 Bundesministerium für Inneres, Abt. IV/7 (Hg.), mauthausen memorial neu gestalten, S. 7.

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gesellschaftspolitischer Bewusstseinsproduktion und als Orte, an denen einst ein radikal antidemokratisches und gewaltsames social engineering umgesetzt wurde, nicht die falschen, den Kontrollverlust zu wagen und die daraus resultierende Unordnung, Vielstimmigkeit und Konflikthaftigkeit anerkennen, ertragen und vielleicht sogar schätzen zu lernen. »It is this final failure of society to constitute itself as society […] which makes the distance between the universal and the particular unbridgeable and, as a result, burdens concrete historical agents with the impossible task of making democratic interaction achievable.«120

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E. Laclau: Universalism Particularism, and the Question of Identity, S. 35.

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Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M. 1970. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbband, Hamburg 2010. Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland: »Stellungnahme zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom 22. Juni 2007«, in: GedenkstättenRundbrief 139 (2007), unter http://www.gedenkstaettenfo rum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/news/stellungnahme_zur_ fortschreibung_der_gedenkstaettenkonzeption_durch_den_beauftragten_ der_bundesregie/ vom 15.04.2012. Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V. (Hg.), »… das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Die Geschichte eines Überlebendenverbands, Hamburg 2008. Bauer, Jan-Patrick: »Historischer Lernort KZ-Gedenkstätte? Eine diskursanalytische Perspektive«, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.), Orte historischen Lernens, Berlin 2008, S. 179–194. Beattie, Andrew H.: Playing Politics with History. The Bundestag Inquiries into East Germany, New York/Oxford 2008. Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London/New York 1995. Bennett, Tony: »The Exhibitionary Complex«, in: new formations 4 (1988), S. 73–102. Berufsbild Gedenstättenpädagogik. in: Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte, S. 25–30. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Bundesministerium für Inneres, Abt. IV/7 (Hg.): mauthausen memorial neu gestalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2009. Bundeszentrale für politische Bildung: Beutelsbacher Konsens, 07.04.2011, unter http://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens vom 01.12.2012. Butler, Judith/Laclau, Ernesto/Žižek, Slavoj: Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000. Clifford, James: »Museums as Contact Zones«, in: Ders., Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge/London 1997, S. 188–219. Cordes, Wiltrud: Offenes Gedenken – politisch verortet. Redebeitrag auf dem Uckermarkforum November 2010, unter http://www.gedenkort-kz-ucker mark.de/assets/downloads/berichte/2009_beitrag_politisches_gedenken.pdf vom 15.04.2012. Deutscher Bundestag: »Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden

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BEWEGUNGEN

Brigitte Halbmayr

»Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen« – memory goes regional 1

Erinnern als Generationenfrage Das Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus, an die Verbrechen im Holocaust, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Jede Generation muss sich ihren Bezug zur eigenen Geschichte neu erarbeiten. Bis Mitte der 1980er-Jahre hatte sich nicht nur das offizielle Österreich im »Opfer­ mythos« eingerichtet.2 Diese gesamtgesellschaftliche Verortung als Opfer bildete den Hintergrund dafür, dass eine individuelle Beschäftigung mit der Geschichte weitgehend unterblieb, etwa mit jener der eigenen Familie, des Wohnortes, der Region. Die prägnante Zusammenfassung tradierter Geschichte in deutschen und österreichischen Familien, die da lautete: »Opa war kein Nazi«3, zeugt zum einen von der Sehnsucht nach 1

Die Namen Mauthausen, Gusen und St. Georgen benennen jene Orte, in denen in der Zeit des Nationalsozialismus Zigtausende Konzentrationslager-Häftlinge unter menschenverachtenden Bedingungen eingesperrt waren und Zwangsarbeit leisten mussten, was für viele von ihnen den Tod bedeutete. Die Region umfasste das Stammlager Mauthausen mit dem nahegelegenen Steinbruch »Wiener Graben«, die Lager Gusen I und Gusen II in direkter Nachbarschaft von Mauthausen mit den dortigen Steinbrüchen und Industriehallen und schließlich das riesige Stollensystem »Bergkristall« für die unterirdische Flugzeugproduktion in der angrenzenden Gemeinde St. Georgen an der Gusen. Das Areal des ehemaligen KZ Gusen ist Teil der Gemeinde Langenstein. 2 Und das, obwohl dabei erhebliche Widersprüche integriert werden mussten. Im Opfermythos wurde von Beginn an die Tatsache verdrängt, dass Millionen von Österreicher/-innen das NS-Regime mitgetragen und unterstützt hatten, sei es als NSDAP-Mitglieder, als Mitbeteiligte und Täter/-innen oder als Zuschauer/-innen – mehr oder weniger überzeugt von der NS-Ideologie und mehr oder weniger in Verbrechen involviert. Der Opfermythos brachte eine Position der Nicht-Verantwortung für den Holocaust mit sich (vgl. Pelinka 2012, S. 73 ff.). Insbesondere die Kriegsgeneration übernahm diese Position für die folgenden Jahrzehnte bis hin zu den 1980er-Jahren. Bis in die 1970er-Jahre schien der Nationalsozialismus in den Curricula der österreichischen Schulen überhaupt nicht auf. 3 Siehe Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002.

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Brigitte Halbmayr

Nicht-Verstrickung (nichts »damit« zu tun haben wollen, es gar nicht so genau wissen zu wollen), zum anderen zeigt es die fehlende Tradierung persönlicher Erlebnisse bei der Mehrheit der Bevölkerung. So wurde die Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen verharmlost und insgesamt Geschichte nach eigenen Vorstellungen zurechtgerückt.4 Mittlerweile wächst eine Generation heran, die keinen direkten familiären Bezug mehr zur Erfahrungsgeneration des Nationalsozialismus aufweist. Großeltern, die noch Erinnerungen ihrer Eltern oder älteren Geschwister und/oder Freund/-innen an das Geschehen in dieser Zeit weitergeben können, sind selbst bereits oft nach dem Krieg geboren. Damit wird die Epoche des Nationalsozialismus historisiert. Die Ungeheuerlichkeit des industriellen Massenmordes verlangt weiterhin nach einer kognitiven wie auch emotionalen Auseinandersetzung mit den Bedingungen, die ihn inmitten moderner Gesellschaften ermöglichten, um einem »Niemals wieder« auch in Zukunft zu entsprechen. Mit dem Übergang vom individuellen Erfahrungsgedächtnis zum kulturellen Gedächtnis, 5 einem Prozess, der mit dem Sterben der Zeitzeug/-innen des Nationalsozialismus unaufhebbar einhergeht, kommt der gesellschaftlichen Verständigung darüber, woran wie und warum erinnert werden soll, verstärkt Bedeutung zu. Dabei geht es auch um Ressourcen für die Selbstdefinition von Kollektiven. Vor dem Hintergrund beschleunigter Transformationsprozesse in den 1980er-Jahren (politisch, gesellschaftlich, kulturell) und des Wegfalls von Fortschrittsglauben und Zukunftserwartungen »wird Gedächtnis – die Art und Weise, wie Gesellschaften sich erinnern – nun zum Orientierungspunkt für die ethisch-moralische Selbstvergewisserung der Gegenwartsgesellschaft«6. Der generationsbedingte Wegfall kommunikativer Tradierung von Erinnerung erfordert neue Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, um diese Zeit weiterhin empathisch zugänglich zu 4

Vgl. Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a.M./New York 1995 sowie Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. 5 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 6 Uhl, Heidemarie: »Gedenken ›vor Ort‹. Das Denkmalprojekt in St. Georgen im Kontext der neuen Erinnerungskultur«, in: Plattform Johann Gruber (Hg.), DenkStatt Johann Gruber. Neue Wege der Erinnerungskultur, Linz 2014, S. 58–63, hier S. 62.

»Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen«

machen. Erinnerung braucht Identifikation und emotionale Nähe, innere Anteilnahme und Vergegenwärtigung. »Was hat es mit mir zu tun?« ist eine Frage, die sich als Abwehr, als eine Historisierung des Geschehens, lesen lässt, aber auch als besondere Form der Annäherung, wie es das Vermittlungskonzept der Gedenkstätte Mauthausen nahelegt.7 »Erinnerung dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns.«8 Dieser Bedarf nach Selbstverortung gilt gesamtgesellschaftlich wie auch individuell. In diesem Kontext lassen sich auch die zahlreichen lokalen und regionalen Gedenkinitiativen verorten. In ihnen spiegelt sich – neben vielen weiteren Aspekten – das Bedürfnis nach eigener individueller Auseinandersetzung wider, das sich von einem zunehmend ritualisierten Gedenken abgrenzt bzw. dieses zu ergänzen versucht. Der Generationenwechsel bietet die Möglichkeit, offener als bisher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umzugehen. Nicht zufällig hat erst um die Jahrtausendwende die Täter/-innenforschung wahrnehmbar eingesetzt. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, ob familiär, lokal oder regional, ist eher umsetzbar, wenn sich die Möglichkeit direkter Bezugspunkte zu Täter/-innenschaft, Mittäter/-innenschaft oder unterlassener Solidarität und Unterstützung der Opfer in Grenzen hält. Für Menschen, die an Orten (offenkundiger) nationalsozialistischer Verbrechen leben, stellt sich die Frage nach Erinnern und Gedenken viel direkter, radikaler. Durch die baulichen Überreste werden sie täglich aufs Neue damit konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit lässt sich hier nicht in eine Exkursion an einen »authentischen Ort« verpacken, um anschließend mehr oder weniger unverändert in den Alltag zurückzukehren – vielmehr fordert die alltägliche Umgebung zur Auseinandersetzung heraus.9 Dazu kommt der Anspruch von außen, sich als Bewohner/-in von Mauthausen und Umgebung besonders reflektiert mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, was aufgrund des Ortsnamens und der ständigen Mahnung, die aus ihm spricht, naheläge. Unberücksichtigt bleibt dabei, 7

Vgl. Lapid, Yariv/Angerer, Christian/Ecker, Maria: »Was hat es mit mir zu tun?« Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen. KZ-Gedenkstätte Mauthausen / Mauthausen Memorial 2011. 8 Giesecke, Dana/Welzer, Harald: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012, S. 75. 9 Vgl. hierzu Erfahrungen aus dem Schulalltag in Bastel, Heribert/Halbmayr, Brigitte (Hg.): Mauthausen im Unterricht. Ein Gedenkstättenbesuch und seine vielfältigen Herausforderungen, Wien/Berlin 2014.

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dass ein Konzentrationslager in unmittelbarer Umgebung die Bevölkerung zwangsläufig involvieren musste (Versorgung der Häftlinge, Wohnraum für SS und Wachmannschaften, gesellschaftliches Leben, Zwangsarbeit in Sichtweite etc.)10 und daher Familiengeschichte an diesen Orten oft belastende und tabuisierte Erinnerungen aufweist. Gleichzeitig steht der (nicht nur unausgesprochene) Vorwurf im Raum, wie man »dort« nur leben könne. Bedeutete lokales/regionales Gedenken »vor Ort« bislang in erster Linie Opfergedenken, weitet sich auch hier die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zunehmend auf Beteiligung und Mittäter/-innenschaft aus. Die »generation of memory«11 will Gedenken mittragen und Verantwortung übernehmen – wie dies Gedenkinitiativen (mit einem überschaubaren Kreis von Engagierten) seit Langem fordern. Diese zunehmende Bereitschaft zur »Vergangenheitsbewahrung«12 und zu aktiver Aneignung der Geschichte ist gerade auch in der Region Mauthausen – Gusen – St. Georgen erkennbar. Parallel zur Transformation der Gedenk- und Erinnerungskultur sind Änderungsprozesse im Demokratieverständnis zu beobachten. Bürger/-innen des fortschreitenden 21. Jahrhunderts geben sich in Gesellschaften westlicher Prägung mit periodisch wiederkehrenden Urnengängen als einzige Möglichkeit politischer Beteiligung längst nicht mehr zufrieden. Sie wollen selbst ihr Umfeld mitbestimmen, mitgestalten, bei Entscheidungen über ihr unmittelbares Lebensumfeld einbezogen und gefragt werden. Bürger/-innenbeteiligung entwickelt sich zunehmend zur demokratiepolitischen Herausforderung schlechthin, gilt doch Partizipation als Mittel gegen Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederverluste von Parteien und Verbänden und generell gegen politisches Desinteresse. Wenngleich die Vorbehalte in Verwaltung und Politik gegenüber einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung gerade in 10

Vgl. Kropf, Rudolf/Baumgartner, Andreas: »Man hat halt mit dem leben müssen«. Nebenlager des KZ-Mauthausen in der Wahrnehmung der Lokalbevölkerung. Endbericht eines Forschungsprojektes des Mauthausen Komitee Österreich, Wien/Linz 2002. 11 H. Uhl: Gedenken »vor Ort«, S. 58. »Generation of memory« umreißt den Umstand, dass mit absehbarem Ende der Ära der Zeitzeug/-innen die nachfolgenden Generationen sich zunehmend der Notwendigkeit bewusst werden, Erinnern und Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus selbst aktiv weiterzutragen. 12 Vgl. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 57 f.

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»Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen«

Österreich noch weit verbreitet sind, ist die Öffentlichkeit bei Planungsund Entscheidungsfindungsprozessen mehr und mehr beteiligt.13

MAUTHAUSEN

ST. GEORGEN

GUSEN

N

Die ehemaligen Anlagen der Nationalsozialisten in St. Georgen, Gusen und Mauthausen. Grafik: Ralf Lechner, KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Hier setzt das Projekt der »Bewusstseinsregion« an, auf das ich im Folgenden näher eingehen möchte. Die Bevölkerung der Region Mauthausen – Gusen – St. Georgen war eingeladen, sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Lebensumwelt auseinanderzusetzen und ein Bewusstsein für die spezifische Situation ihrer Region zu entwickeln. Dabei ging es auch darum, die Möglichkeiten für einen »Raum des Gedenkens und Lernens«, wie als Untertitel dem Projekt beigefügt war, gemeinsam mit der Bevölkerung auszuloten. Erstmalig war die Wohnbevölkerung Akteur/-in in einem Projekt, sie war nicht nur Auskunftgeber/-in oder Negativfolie. Im Zentrum dieses Beitrags stehen daher die Erläuterung des partizipatorischen Zugangs und damit die Einbindung der Bevölkerung in die Projektanliegen sowie die Präsentation von Gestaltungsideen, die insbesondere individuelle Handlungsmacht und Verantwortung sowie 13

Vgl. Handler, Martina/Walter, Florian: »Demokratie in der ›Knirschzone‹. Beteiligungskultur in Österreich«, in: Stiftung Mitarbeit (Hg.), Teilhaben und Mitgestalten. Beteiligungskulturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bonn 2014, S. 32–59, hier S. 42.

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regionale Identität betreffen. Selbst mit dieser Einschränkung kann der Bezug auf die im Projekt »Bewusstseinsregion« entwickelten Ideen nur exemplarisch erfolgen.

»Bewusstseinsregion«: Entstehungskontext und Ziele des Projekts Ausgangspunkt für das Projekt waren Pläne des Bundesdenkmalamtes (BDA), bauliche Überreste der NS-Zeit im Gemeindegebiet Langenstein unter Schutz zu stellen. In erster Linie ging es um zwei ehemalige SS-Baracken in direkter Nähe des KZ-Geländes im Ortsteil Gusen, deren Abriss 2007 durch den Privateigentümer unmittelbar und für viele überraschend bevorstand. Das von Aktivist/-innen vor Ort informierte BDA erließ einen Mandatsbescheid und leitete in der Folge ein Verfahren zur Unterschutzstellung der Anlagen des ehemaligen KZ Gusen ein. Seitdem wurde die Zukunft der SS-Baracken, aber auch diverser anderer architektonischer Zeugnisse immer wieder heftig diskutiert, wobei das Schutz-Vorhaben des BDA zunehmend Sorge und Abwehr bei der Bevölkerung auslöste. Bald wurde deutlich, dass bloße Schutzmaßnahmen ohne Akzeptanz und Verständnis der Bevölkerung zu kurz greifen. Es galt zu klären, wie ein reflektierter Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ein Verständnis für den Erhalt materieller Zeugnisse in breiten Teilen der Bevölkerung ermöglicht, unterstützt und begleitet werden können. Über die konkreten Lebensweltbezüge hinaus stellten sich folgende Fragen: Welche Erfahrungen mit der Integration der Geschichte vor Ort lassen sich für gesamtgesellschaftliche Lernprozesse nützen? Wie lässt sich mit dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten? Diese Fragen waren und sind nicht von außen für die Bevölkerung zu beantworten, sondern gemeinsam mit ihr. Daher installierte das BDA im November 2011 einen »Runden Tisch«, der zur Kommunikation der Unterschutzstellungsmaßnahmen zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen diente – im Konkreten vereinte er die Bürgermeister der drei Gemeinden, Vertreter/-innen von Bund und Land, von Opferverbänden und von regionalen Gedenkinitiativen sowie Wissenschaftler/-innen. In der Folge wurde Alfred Zauner14, Moderator und Prozesssteuerer des »Runden Tisches«, mit der Planung 14

Alfred Zauner sei hier auch für die zahlreichen Ideen und kritischen Anmerkungen zu diesem Beitrag gedankt.

»Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen«

eines Entwicklungsprojektes unter expliziter Einbeziehung der Bevölkerung beauftragt. Im Herbst 2012 konnte ein Projektteam 15 die laufend adaptierten und präzisierten Projektschritte in Angriff nehmen. Die Projektbeteiligten handelten gemäß folgendem Leitgedanken: »Alle Beteiligten wollen erreichen, dass die Orte der Erinnerung für die Menschen der Region Teil ihres Lebensbereichs werden. Auch soll zukünftig niemand die BewohnerInnen zu ›Ersatztätern‹ stilisieren. Der Ansatz vom Projekt Bewusstseinsregion sieht vor, die Bevölkerung aktiv in die Neugestaltung der Region einzubeziehen. Aus der Geschichte der Region entwickeln alle gemeinsam neue Perspektiven für die heutige Gesellschaft.«16

Der Projektablauf selbst ist rasch umrissen: Im November 2012 fand die offizielle Auftaktveranstaltung vor den Gemeinderäten der drei Gemeinden Mauthausen, Langenstein und St.  Georgen statt, mit der Präsentation der Projektvorhaben und erster Überlegungen zur Entwicklung der Region. Ein Pressegespräch tags darauf und eine Projekt-Website (www. bewusstseinsregion.at) sollten rechtzeitig über Pläne und anstehende Termine informieren. Dem folgte eine intensive Arbeitsphase von drei Monaten, in denen die Beteiligungsformate umgesetzt wurden. Die dort erarbeiteten Ideen für die Region zu vermitteln, stellte das Kernstück der

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Das Projekt-Kernteam setzte sich aus Alfred Zauner (Projektleitung), Brigitte Halbmayr (Projektmanagement), Peter Menasse (Projektkommunikation), Michael Patak (Moderation der Großveranstaltungen) und Paul Mahringer (Bundesdenkmalamt) zusammen. Wesentlich für den Erfolg des Projekts war die Mitarbeit der beiden Moderatorinnen Martina Handler und Lisa Purker von ÖGUT – Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik, die die Ideenwerkstätten mit der Bevölkerung leiteten. Von großer Bedeutung war auch die Unterstützung der Bürgermeister der drei Gemeinden Mauthausen, Langenstein und St. Georgen – namentlich Thomas Punkenhofer, Christian Aufreiter und Erich Wahl –, die das Projekt von Beginn an mit großem Engagement mitgetragen haben. Ihnen ist die Namensgebung »Bewusstseinsregion« zu verdanken. Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich, den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, durch das Land Oberösterreich (Direktion Kultur der Oö. Landesregierung) und das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Abt. IV/3 Denkmalschutz). 16 Aus: http://www.bewusstseinsregion.at/personen.html vom 12.01.2015. An dieser Stelle sei auch an die sechs Thesen zum gesellschaftspolitischen Hintergrund des Projekts von Alfred Zauner auf der Projekt-Website verwiesen: http://www. bewusstseinsregion.at/thesen.html

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öffentlichen Präsentation am 26. April 2013 im Donausaal Mauthausen dar, die zugleich Projektschlussveranstaltung war.17

Die regionale Bevölkerung ist am Wort Herzstück des Beteiligungsprojekts waren die Ideenwerkstätten. Sie wurden nach der Methode der Bürger/-innenräte durchgeführt. Hier hatte ausschließlich die ortsansässige Bevölkerung das Wort. Dazu wurden Bewohner/-innen der drei Orte Mauthausen, Langenstein und St.  Georgen per Zufallsstichprobe ausgewählt. Angestrebt war eine entsprechend der Bevölkerungszahl der drei Gemeinden aliquote Beteiligung,18 wobei zusätzlich die Faktoren Geschlecht und Alter (Altersklassen 15–25, 26–55, 56–75 Jahre) berücksichtigt wurden. 500 Personen wurden schriftlich kontaktiert und erhielten Erinnerungsschreiben, in Bürgermeisterbriefen wurde zusätzlich um Teilnahme geworben.19 Trotz des von vielen als schwierig empfundenen und mit Abwehr belegten Themas (zukünftiger Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe in der Region) war der Widerhall auf das Angebot, sich eineinhalb Tage darüber auszutauschen, so groß, dass die drei geplanten Wochenenden Anfang 2013 mit zweimal zwölf und einmal dreizehn, insgesamt also mit 37 Personen durchgeführt werden konnten. Unter professioneller Moderation nach einer speziellen Methode, die im Anschluss erläutert wird, tauschten sich die Teilnehmer/-innen aus allen drei Gemeinden quer durch Altersgruppen, Bildungsniveaus und Geschlecht über die Ist-Situation in der Region aus. Ihre Wahrnehmungen, Ärgernisse, Erwartungen, Enttäuschungen und Hoffnungen in Bezug auf ihren Lebensbereich waren Ausgangspunkte für den Austausch. Zuhören, gehört werden und Ideen entwickeln – vor allem darum ging es an diesen jeweils eineinhalb Tagen. 17

Dieser Ablauf im Zeitraffer, die Ergebnisse, Fotos, ein Video und noch viel mehr sind unter der bereits genannten Adresse www.bewusstseinsregion.at abrufbar. 18 Mauthausen zählt annähernd 5.000, St. Georgen 3.600 und Langenstein 2.500 Einwohner/-innen (Zahlen aus 2011, gerundet). 19 In »Der BürgerInnen-Rat« wird empfohlen, zehnmal mehr Personen anzuschreiben als benötigt werden, da die Rücklaufquote bzw. der Anteil der darauffolgenden Teilnahmezusagen/Anmeldungen bei zehn Prozent liege, vgl. Büro für Zukunftsfragen (Hg.): Der BürgerInnen-Rat. Eine Informations- und Arbeitsmappe, Bregenz 2010, S. 14. Wir entschieden uns aufgrund der Thematik für eine noch etwas höhere Zahl an Einladungsschreiben.

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Die Teilnehmenden waren von zahlreichen Aspekten der gemeinsam verbrachten Stunden sehr angetan: vom »kunterbunten Haufen«, wie eine Teilnehmerin die Heterogenität der Gruppe auf den Punkt brachte, von der Auswahl der Personen per Zufallsstichprobe, vom Austausch zwischen den drei Gemeinden und den Generationen, von der Offenheit und der wertschätzenden Kommunikation, von der spezifischen Moderationsform und der Art der Gruppenführung, von der Vielzahl und zugleich Fokussierung der Themen und schließlich von den Ergebnissen der eigenen Leistung. Die Methode der Dynamic Facilitation,20 die an den drei Wochenenden mit den Ideenwerkstätten angewendet wurde, ist zentraler Bestandteil des Beteiligungsformats Bürger/-innen-Rat.21 Entwickelt vom US-Amerikaner Jim Rough führt sie weg vom linearen Moderationsmodell »Problemdefinition – Ursachenanalyse – Generierung von Lösungsalternativen«. Diese Ablauflogik verhindere Kreativität und gegenseitiges Lernen, so Roughs Überzeugung, und widerspreche dem menschlichen Geist, der vielmehr sprunghaft agiere und verschiedenen Impulsen und Emotionen folge. Bei der Dynamic Facilitation wird auf eine argumentativ logische Abfolge der einzelnen Beiträge und Argumente bewusst verzichtet. In erster Linie geht es darum, sich einzubringen, aufeinander Bezug zu nehmen und gemeinsam aus unterschiedlichen Perspektiven ein Themenfeld gedanklich weiterzuentwickeln. Die Anforderungen, beim Thema zu bleiben oder einem roten Faden zu folgen, stehen deutlich zurück. Vielmehr gilt: Alles, was die Teilnehmer/-innen sagen, wird auf vier Flipcharts mit den jeweiligen Überschriften »Probleme«, »Lösungen«, »Bedenken« und »Informationen/Daten« festgehalten. Die einzelnen Wortmeldungen werden kontinuierlich notiert, einerlei, ob es sich um neue Gedanken, Fragen, Unsicherheiten oder Empörung handelt. So finden auch Emotionen, Werte und Wünsche der Beteiligten Eingang in die Dokumentation. Sämtliche Äußerungen werden ernst genommen und anerkannt. Aufgabe der Moderation ist es, die Teilnehmenden bei der Konkretisierung ihrer Aussagen zu unterstützen. Die kontinuierliche Dokumentation und Reflexion der Inhalte auf den Flipcharts, die nach und nach an den Wänden angebracht werden und so ständig im Raum sichtbar bleiben, zeigen 20

Vgl. zur Bonsen, Matthias: »Ganz anders moderieren. Dynamic-Facilitation«, in: managerSeminare, Heft 84 (2005), S. 54–58. 21 Vgl. Büro für Zukunftsfragen (Hg.): Bürgerräte in Vorarlberg. Eine Zwischenbilanz, Bregenz 2014.

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den Teilnehmenden rasch ihre Produktivität und regen zur weiteren Mitarbeit an. Miteinander zu reden statt gegeneinander zu argumentieren ist ein zentrales Element dieser Dialogkultur. Zu Beginn der Ideenwerkstätten wurden zunächst Themen gesammelt, die den Teilnehmenden wichtig waren. Nach und nach wurden während der eineinhalb Tage die gesammelten Themen abgearbeitet, jeweils mit ausreichend Zeit für Wortmeldungen aller Beteiligten, für Gedankenschleifen, Nachfragen, Ergänzungen, Gegenansichten, Bedenken, Lösungsvorschläge usw. Abschließend wurden gemeinsam die (zwei bis vier) wichtigsten Themenblöcke bestimmt und in Kleingruppen noch weiter ausgearbeitet, anschließend die Ergebnisse der gesamten Runde präsentiert. Mit der Frage, was jede und jeder aus diesen eineinhalb Tagen gemeinsamer Arbeit mitnimmt, wurde die Ideenwerkstatt geschlossen.22 Teilnehmende an den Ideenwerkstätten begründeten ihr Engagement folgendermaßen: »Ich habe mich sehr gefreut, dass ausgerechnet ich ausgewählt wurde.« »Ich finde es sehr spannend, dass die Bevölkerung in die Überlegungen zur Zukunft der Region einbezogen wird.« »Ich sehe vom Wohnzimmer aus auf das KZ Mauthausen und beschäftige mich schon sehr lange mit diesem Thema.« »Ich wollte mir das auf keinen Fall entgehen lassen. Es geht um meine Heimatregion und es ist ein wichtiges Thema für diese Region.« »Zuerst dachte ich mir, ich hab’ keine Zeit und hab’ angerufen, um abzusagen, aber im Gespräch über das Vorhaben bin ich dann doch neugierig geworden.«23

Ideen in sechs Themenbereichen Die Vielzahl der Ideen, wie sie im Laufe des Projekts entwickelt wurden (in erster Linie aus den Ideenwerkstätten und Fokusgruppen, aber auch bei Teamsitzungen und zahlreichen informellen Gesprächen mit am Schicksal der Region und an der Zukunft des Gedenkens interessierten 22

Am »Marktplatz der Ideen« tauschten die Teilnehmenden der drei Ideenwerkstätten – gut die Hälfte von ihnen war einer abermaligen Einladung gefolgt – ihre Ergebnisse aus und präsentierten sie den Bürgermeistern der drei Ortschaften, die zum Austausch mit den engagierten Bürgerinnen und Bürgern ihrer Gemeinden geladen waren. 23 Vgl. dazu die Dokumentationen der Ideenwerkstätten vom 1. und 2. Februar 2013 in St. Georgen, vom 1. und 2. März 2013 in Langenstein und vom 15. und 16. März 2013 in Mauthausen. Weitere Eindrücke aus den Ideenwerkstätten sind in einem Kurzvideo auf www.bewusstseinsregion.at/presse.html nachzuhören.

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Personen), ließ sich zu Projektende in sechs große Themenbereiche ordnen: 1.  Erweitertes Gedenken, 2.  Gegenwartsbezogenes Lernen (aus der Geschichte der Region), 3.  Nachnutzung verbliebener Bauwerke und Räume, 4.  Begegnung, Dialog und Kommunikation, 5.  Selbstbewusste Region und 6. Vernetzung und neue Strukturen.

Ideenwerkstatt in Langenstein (März 2013). Quelle: ÖGUT

An die hundert konkrete Maßnahmen listet die Projektdokumentation auf. Die Vorschläge weisen unterschiedliche Komplexitätsgrade auf, was ihre Umsetzungsvoraussetzungen und ‑möglichkeiten betrifft. Sie reichen von kleinen Aktivitäten, die jede/r Anwohner/-in der Region individuell umsetzen kann – wie etwa im Gespräch mit anderen die spezifische Vergangenheit des eigenen Wohnumfeldes bewusst anzusprechen – über Vorhaben, die zumindest eine institutionelle Anbindung oder Zusammenarbeit mit einer Institution (z.B. Schule) bedingen bis hin zu Unternehmungen, die ein langfristiges Konzept und auch einen finanziellen Einsatz verlangen. Das Spektrum umfasst also kleine Zeichen des Gedenkens (etwa eine »Respekt-Rose« im Garten zu pflanzen, einen Korb mit Äpfeln für Besucher/-innen der jährlichen Gedenkfeiern bereitzustellen etc.) ebenso wie die Organisation von Symposien und

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Sommerakademien als auch den Ankauf und die Nutzung der in Langenstein noch vorhandenen SS-Baracken.24 Mehrheitlich jedoch setzen die Maßnahmen auf der individuellen Ebene an; es besteht also ein Bewusstsein für die eigene Handlungsmacht. Zur realen Umsetzung braucht es aber eine konzeptionelle Einbindung in ein regionsübergreifendes Vorhaben. Die Erfahrung des Austausches von Einwohner/-innen dreier Orte, in denen sich die Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit sehr unterschiedlich zeigen (darauf wird in Kürze noch näher eingegangen), empfanden viele als bereichernd und stärkend. Der Umgang mit dieser spezifischen und belastenden Geschichte ist vielschichtig, wenngleich im Gespräch eine gemeinsame Betroffenheit deutlich wird. Eine Form des regionsübergreifenden Gedenkens, die Stärkung der regionalen Identität und die Entwicklung zu einer selbstbewussten Region waren daher zen­ trale Anliegen der Teilnehmenden. Beispielhaft sollen im Folgenden einige Ideen präsentiert und diskutiert werden. Sie thematisieren auch das Verhältnis zwischen der ortsansässigen Bevölkerung und den Gedenkstätten Mauthausen und Gusen – dieses Verhältnis ist ein wesentlicher Faktor in der lokalen bzw. regionalen Erinnerungs- und Gedenkkultur.25

Erweitertes regionales Gedenken Über die Jahrzehnte entwickelte sich in den in der Bewusstseinsregion involvierten Gemeinden, die in der NS-Zeit durch KZ-Lager und Orte der Zwangsarbeit sehr eng verbunden waren und ähnliche Erfahrungen aufweisen, ein unterschiedlicher Umgang mit der Vergangenheit. Dennoch oder gerade deshalb zeigt sich im Themenbereich Gedenken die Sinnhaftigkeit eines regionalen Zugangs. Der unterschiedliche Umgang ergab sich einerseits aus der frühen Widmung des ehemaligen Lagergeländes von Mauthausen als nationale Gedenkstätte und andererseits aus der Schleifung der Baracken des Lagers Gusen noch in den 1940er‑Jahren und der Errichtung einer Wohnsiedlung in den 1950er‑Jahren auf eben 24

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Eine Auswahl an Ideen findet sich auf der Projekthomepage zum Download. Vgl. Halbmayr, Brigitte/Menasse, Peter/Zauner, Alfred: »Mit dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten.« Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen. Raum des Gedenkens und Lernens. Projektdokumentation, Wien 2013, S. 13–35.

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diesem Gelände. Die jahrzehntelange Tabuisierung der Geschichte bricht jetzt zunehmend auf, was eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglicht und eine gemeinsame Perspektive im Umgang mit ihr eröffnet. Vielfach zeigte sich in den Ideenwerkstätten, dass sich die einheimische Bevölkerung von den alljährlichen Gedenkveranstaltungen im Frühjahr, anlässlich derer mehrere Tausend Menschen aus Europa anreisen, nicht angesprochen und schon gar nicht eingeladen fühlt. Vielmehr werden die Gedenkenden als Störfaktor im Alltag wahrgenommen. Dabei gäbe es bei einigen Personen durchaus Interesse, das Gedenken mitzugestalten, mitzutragen und es aus der örtlichen Betroffenheit heraus mit Aktualität zu füllen. Bei den Diskussionen rund um ein »Erweitertes Gedenken« ging es immer wieder um die spezielle Situation im Ortsteil Gusen, wo viele Menschen auf ehemaligem KZ-Gelände wohnen. Außenstehende bringen dieser Tatsache vielfach Unverständnis entgegen, die Bewohner/-innen selbst fühlen sich missverstanden und stigmatisiert. Der »Audioweg Gusen«26, ein seit 2007 laufendes Angebot zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes, installiert von dem in St. Georgen an der Gusen geborenen und aufgewachsenen Künstler Christoph Mayer, hat das seine zur Polarisierung der Bevölkerung beigetragen, weil er Besucher/-innen wie auch Bewohner/-innen mit der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Die Unterschutzstellungsvorhaben des Bundesdenkmalamts und das mediale Interesse an den sich daraus ergebenden Konflikten verstärkten den Eindruck einer besonderen Situation in Gusen. Eine spezielle Situation liegt aber auch im Ort Mauthausen vor. »Mauthausen musste jahrzehntelang als Müllhalde für Österreich fungieren«, so eine mehrfach getätigte Äußerung von Einheimischen. Die fehlende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde dem Ort stellvertretend für Österreich »umgehängt«. Die 26

Dieses Kunstprojekt führt die Besucher/-innen, mit iPod und Kopfhörern ausgestattet, 90 Minuten lang durch das heutige Wohngebiet, im Ohr Stimmen von Überlebenden der Lager, Zeitzeug/-innen aus der regionalen Bevölkerung, ehemaligen Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörigen, die vom Geschehen vor Ort in der NS-Zeit, eigenen Erfahrungen und auch dem späteren problematischen Umgang mit der Geschichte berichten. Genauer zum Konzept des Audiowegs vgl. www. audioweg.gusen.org.

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Bevölkerung habe unter dieser Punzierung gelitten und habe große Sehnsucht, sich dieser einseitigen Zuschreibung zu entledigen, so der Tenor vieler Aussagen Einheimischer.27 Ziel der Ideen im Bereich »Erweitertes Gedenken« ist es daher, eine Verbindung zwischen Gedenken und Alltagsleben der Bevölkerung herzustellen und die Einheimischen als aktive Träger/-innen der Gedenkkultur miteinzubeziehen. Aktuell wird die Gedenkstätte Mauthausen in der Bevölkerung vielfach als »nicht zum Ort« und damit »nicht zu ihr« gehörig wahrgenommen. Dadurch wird die Aufgabe des Gedenkens an andere delegiert und als Angelegenheit anderer gesehen. In Zukunft, so eine Vorstellung aus den Ideenwerkstätten, sollten die Bewohner/-innen den Besuchenden mit Offenheit begegnen, in selber Weise dürften auch sie von den Gästen einen respektvollen Umgang erwarten.

Auseinandersetzen mit der Vergangenheit als Weg zu einer selbstbewussten Region Die Teilnehmenden an den Ideenwerkstätten brachten zahlreiche persönliche Erfahrungen in die Diskussionen ein. So berichteten etwa jene aus Mauthausen über oft erfahrene Ablehnung und Abwendung, wenn sie im Ausland den Ort ihrer Herkunft nannten. Sie gingen dazu über, ihren Wohnort nur unbestimmt mit »in der Nähe von Linz« zu beschreiben. Diese Erzählungen stammen aber vor allem von Angehörigen der älteren Generation, die Jüngeren haben mit dem Namen Mauthausen kaum mehr Probleme. Die Begriffe Schuld, Scham und Verantwortung markieren Themenfelder, die in allen Diskussions- und Beteiligungsforen debattiert wurden. Auch hier zeigte sich ein Unterschied nach Generationen: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen waren von Fragen nach Scham und Schuld weniger berührt als vielmehr irritiert. Für sie liegt die (familiäre) Verstrickung weit zurück. Stattdessen beschäftigt sie, wie jetzt noch Wissen über »damals« gesichert werden kann, wie den jahrzehntelang schweigenden Vorfahren doch noch Erzählungen entlockt werden können und wie sie ihren Wunsch, anders mit der Vergangenheit umzugehen, umsetzen 27

Die Situation in St. Georgen war zum Zeitpunkt der Ideenwerkstätten noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Der Umgang mit der Stollenanlage »Bergkristall«, das Denkmal-Projekt der Plattform Johann Gruber und schließlich der umstrittene Wohnbau unweit des Stolleneingangs kamen erst jüngst in Diskussion.

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können. Bei den Älteren hingegen zeigte sich eine mitunter ambivalente Haltung zur für sie noch recht nahen Vergangenheit 28 – und wie eng Abwehr und der Anspruch »Niemals vergessen« oft beieinanderliegen, indem sie einerseits um ein neues Verhältnis zur Geschichte ihres Lebensraums ringen, andererseits Unverständnis über die von außen vielfach wahrgenommene Besonderheit des Ortes äußern. Deutlich wurde jedoch die besondere Lebenssituation an Orten ehemaliger nationalsozialistischer Verbrechen, unabhängig von der Art des Umgangs, den die Menschen mit der Vergangenheit ihres Wohnortes bislang gefunden haben. Die Jahrzehnte währende Tabuisierung der Ortsgeschichte in Langenstein und auch in St. Georgen, die Verurteilung der Mauthausner/-innen als »Nazis«, ungeachtet ihres Alters und ihrer politischen Überzeugung, das »laute Schweigen« über die Vergangenheit bei den einen und der Ruf nach Aufklärung bei den anderen – diese Gegensätze sind spürbar und prallen hier immer wieder aufeinander. Diese Spannung aufgreifend, entwickelten die Menschen in den Ideenwerkstätten eine Vision, mit der es ihnen möglich sein soll, sich selbstbewusst zur engeren Heimat zu bekennen, ohne sich von den negativen geschichtlichen Fakten distanzieren zu müssen. Mauthausen und Umgebung sollen nicht mehr allein aufgrund der KZ-Gräuel bekannt sein, sondern verstärkt durch zukunftsweisende, neue Formen der Gedenkkultur und des verantwortungsvollen Umgangs mit dem Erbe. Wichtige Impulse für eine demokratische und solidarische Gesellschaft sollen von der Region ausgehen. Aus diesem Anspruch resultierten zahlreiche Ideen für eine selbstbewusste Region. Eine neue Identität, so die Mehrheit der Meinungen, sei in erster Linie durch verstärktes Wissen über die gesamte regionale Geschichte und durch einen reflexiven Umgang mit ihr möglich. Stark äußerte sich daneben das Bedürfnis, nicht nur auf Täter/-innenschaft reduziert zu werden, sondern auch positive Erinnerungen zu sammeln, zu vermitteln und dabei den Formen des Widerstands und der Verweigerung nachzugehen, von kleinen Gesten bis zu großen Taten. In der Vielfalt der Berührungspunkte mit dem KZ, den dort geschundenen Häftlingen und deren Bewacher/-innen habe es auch zahlreiche Gelegenheiten gegeben, sich den Anforderungen des NS-Regimes zu verweigern. Wer waren die Leute, die im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten 28

Wenngleich bei den Ideenwerkstätten niemand teilnahm, der die Zeit des Nationalsozialismus als Erwachsene/r oder Jugendliche/r miterlebt hatte; sieben Teilnehmende waren über 70 Jahre, die Älteste war 76 Jahre alt.

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damals geholfen haben? Auch an diese sei zu erinnern, so der mehrfach geäußerte Wunsch. Damit lasse sich Angst beseitigen und eine positive Besetzung des Wohnortes werde möglich: »Bewusstseinsregion« statt »Orte des Gräuels«. Mit positiven Erinnerungen, die neben dem Wissen über die Untaten auch vorhanden sein sollen, lasse sich die Vergangenheit leichter in die Gegenwart mitnehmen, ohne Belastendes der Vergangenheit zu verdrängen, so die Hoffnung zahlreicher Teilnehmer/-innen an den Ideenwerkstätten. Regionale Identität setzt sich aus drei Elementen zusammen: den regionalen Merkmalen, der Bindung der Menschen an die Region und der Zuschreibung, die Menschen oder Medien der Region geben.29 Wesentliche regionale Merkmale sind – neben dem Naturraum, den Kompetenzen der Menschen und der (institutionellen) Zusammenarbeit innerhalb einer Region – Fragestellungen zu geschichtlichen Aspekten, gesellschaftlichen Traditionen und Riten. In Mauthausen und Umgebung nimmt die NS-Zeit einen wichtigen Bezugspunkt ein, allerdings in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Vielfach wird sie in der Identitätskonstruktion der Menschen vor Ort bislang ausgeschlossen, ihnen von außen jedoch massiv zugeschrieben. Dies erzeugt bei den einen das Bedürfnis, diesem Widerspruch mit Aktivität zu begegnen; sie engagieren sich in Gedenkinitiativen und in der geschichtlichen Aufarbeitung. Bei anderen ruft er Abwehr und Verweigerung hervor, was zwangsläufig zu einer gesellschaftlichen Spaltung führt. Gleichzeitig ist zu betonen und anzuerkennen, dass eine permanente Vergegenwärtigung der NS-Gräueltaten in der Region einfach nicht gelebt werden kann. Es muss Platz für Alltag und freudvolles Leben geben. Es bedarf im richtigen Maße symbolischer Handlungen und Zeichen (Rituale, Denkmale, Gedenkfeiern etc.), die der Vergangenheit einen identitätsstiftenden Platz zuweisen, ohne von ihr vollkommen bestimmt zu werden. Ein reflektierter Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kann zu einem Anker für eine positive regionale Identität entwickelt werden, und zwar dahin gehend, dass sie als Lernebene für Gegenwart und Zukunft genützt wird.

29

Vgl. Baumfeld, Leo: »Shaping Regional Identities«, in: Elisabeth Kapferer/Andreas Koch/Clemens Sedmark (Hg.), The Logics of Change. Poverty, Place, Identity and Social Transformation Mechanisms, Newcastle upon Tyne 2012, S. 128–142.

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»Für eine reflexive Erinnerungskultur sind Pathosformeln ebenso kontraproduktiv wie Ansprüche auf transtemporale Gültigkeit der Inhalte. Eine gültige Form des Erinnerns und Gedenkens gibt es nicht, auch wenn es den jeweiligen Zeitgenossen wünschenswert erscheint. Erinnerung schreibt sich immer nach Erfordernissen der Gegenwart um, und das Gedenken folgt diesen Umschriften in gemessenem Abstand.«30

Diese positive Fundamentierung ist immer wieder aufs Neue zu versuchen. Die Vorschläge reichen von tragfähigen Strukturen der Vernetzung und Zusammenarbeit bis hin zu symbolischen Akten, die Bewusstseins­ änderungen im Zugang zur Vergangenheit sichtbar zu machen.

Die »Bewusstseinsregion« – vom Projektnamen zum Identitätsfaktor Noch während der Ideenentwicklungsphase sollten die Weichen für eine baldige Umsetzung gestellt werden. Um den regionalen Fokus zu stärken und als Region Zugang zu öffentlichen Fördermitteln zu erhalten, wurde folgende Vorgehensweise überlegt: Die drei am Projekt beteiligten Gemeinden gründen einen Gemeindeverband (mit späterer Teilnahmemöglichkeit weiterer umliegender Gemeinden). Dieser bildet die Basis einer Trägerorganisation, die sich in der Folgezeit um die Umsetzung der im Projekt gesammelten Ideen kümmern wird, damit am Ende das Gedenken und das Lernen für die Zukunft in der »Bewusstseinsregion« eine Einheit bilden. Rund zwei Jahre nach Beendigung des Ideenfindungsprojekts wird der Gemeindeverband demnächst Realität. Das bedeutet, dass alle drei Gemeinderäte die Statuten akzeptiert haben werden und auch das Land Oberösterreich seine formelle Bewilligung erteilt haben wird. Es bleibt abzuwarten, ob die positive Dynamik der Ideenfindungsphase und die damit einhergehende hohe Akzeptanz und aktive Unterstützung durch die Bevölkerung für die Umsetzungsphase reaktiviert werden können. Dass dies gelingt, dafür sprechen die zahlreichen Initiativen, die in der Region bereits lange engagiert tätig sind und unbeirrt ihre Anliegen vertreten. Eine Verbindung zwischen Gedenken und Alltagsleben herzustellen und die einheimische Bevölkerung als aktive Eckpfeiler der Gedenkkultur 30

D. Giesecke/H. Welzer: Das Menschenmögliche, S. 97.

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wahrzunehmen, war und ist das Bestreben der Gedenkinitiativen vor Ort. In jüngster Zeit hat hier verstärkt St. Georgen von sich reden gemacht: Das Kunstprojekt »Passage gegen das Vergessen« zum Gedenken an den Priester und Pädagogen Dr. Johann Gruber, am 7. April 1944 im KZ Gusen ermordet, hat eine umfassende und intensive Diskussion unter den dort ansässigen Menschen initiiert und ist auf breite öffentliche Resonanz gestoßen. Auch eine Online-Petition gegen ein Wohnbauprojekt in der Nähe des Eingangs zum Stollen »Bergkristall« sorgte für lokales wie regionales und mediales Aufsehen. Die Petition verzeichnet bislang über tausend Unterzeichner/-innen, von denen viele in der Gemeinde bzw. im Umkreis wohnhaft sind. In beiden Initiativen haben engagierte Bürger/-innen auf die Bewusstseinsregion als Identitätsfaktor Bezug genommen.31 Die »Bewusstseinsregion« hat sich verbreitet und vertieft. Seit Abschluss des Projekts, das der Ideenfindung für die Zukunft der Region gewidmet war, wird der Name bei den Bewohner/-innen der Region zunehmend als Identitätsmerkmal ihres Lebensraumes angenommen. »Bewusstseinsregion« symbolisiert einen neuen Umgang mit der Vergangenheit und eine sich verändernde Erinnerungskultur – aber auch einen neuen Anspruch der Bevölkerung, gefragt und gehört zu werden, mitzuentscheiden und so auch Mitverantwortung für ihre Region und deren Zukunft übernehmen zu können.

Literatur Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 31

Vgl. Plattform Johann Gruber (Hg.): Denk-Statt Johann Gruber. Stimmen auf der Website der Petition gegen die Errichtung der Wohnhausanlage auf historischem Grund lauten z.B.: »Entweder ist man sich der Bewusstseinsregion bewusst oder nicht!« und »Das Bebauungsprojekt passt nicht zum großen Vorhaben der Bewusstseinsregion«, siehe unter www.change.org/p/gemeinderat-st-georgen-an-der-gusen-keine-wohnungen-an-den-pforten-zur-h%C3%B6lle-zulassen-do-not-allowdwellings-in-front-of-the-gates-of-hell vom 12.02.2015.

»Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen«

Bastel, Heribert/Halbmayr, Brigitte (Hg.): Mauthausen im Unterricht. Ein Gedenkstättenbesuch und seine vielfältigen Herausforderungen, Wien/Berlin 2014. Baumfeld, Leo: »Shaping Regional Identities«, in: Elisabeth Kapferer/Andreas Koch/Clemens Sedmark (Hg.), The Logics of Change. Poverty, Place, Identity and Social Transformation Mechanisms, Newcastle upon Tyne 2012, S. 128–142. Büro für Zukunftsfragen (Hg.): Bürgerräte in Vorarlberg. Eine Zwischenbilanz, Bregenz 2014. Büro für Zukunftsfragen (Hg.): Der BürgerInnen-Rat. Eine Informations- und Arbeitsmappe, Bregenz 2010. Giesecke, Dana/Welzer, Harald: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012. Halbmayr, Brigitte/Menasse, Peter/Zauner, Alfred: »Mit dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten.« Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen. Raum des Gedenkens und Lernens. Projektdokumentation, Wien 2013. Handler, Martina/Walter, Florian: »Demokratie in der ›Knirschzone‹. Beteiligungskultur in Österreich«, in: Stiftung Mitarbeit (Hg.), Teilhaben und Mitgestalten. Beteiligungskulturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bonn 2014, S. 32–59. Kropf, Rudolf/Baumgartner, Andreas: »Man hat halt mit dem leben müssen«. Nebenlager des KZ-Mauthausen in der Wahrnehmung der Lokalbevölkerung. Endbericht eines Forschungsprojektes des Mauthausen Komitee Österreich, Wien/Linz 2002. Lapid, Yariv/Angerer, Christian/Ecker, Maria: »Was hat es mit mir zu tun?« Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen. KZ-GedenkstätteMauthausen / Mauthausen Memorial 2011. Pelinka, Anton: »Die Wahrnehmung der Shoah in Österreich«, in: Maria Halmer/ Anton Pelinka/Karl Semlitsch (Hg.), Was bleibt von der Shoah? Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2012, S. 71–85. Plattform Johann Gruber (Hg.): Denk-Statt Johann Gruber. Neue Wege der Erinnerungskultur, Linz 2014. Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a.M./New York 1995. Uhl, Heidemarie: »Gedenken ›vor Ort‹. Das Denkmalprojekt in St. Georgen im Kontext der neuen Erinnerungskultur«, in: Plattform Johann Gruber (Hg.), Denk-Statt Johann Gruber. Neue Wege der Erinnerungskultur, Linz 2014, S. 58–63. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M.2002. zur Bonsen, Matthias: »Ganz anders moderieren. Dynamic-Facilitation«, in:managerSeminare, Heft 84 (2005), S. 54–58.

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Die Geschichte des Paper Soldier von Chto Delat von Dmitry Vilensky

Die Skulptur »Our Paper Soldier« (Unser/e Papiersoldat/-in) entstand im Rahmen des Festwochenprojekts Into the City, das von dem Künstlerkollektiv Chto Delat unter dem Titel »FACE TO FACE WITH THE MONUMENT« im Mai und Juni 2014 konzipiert und realisiert wurde. In der Mitte eines eigens aufgebauten öffentlichen Forums am Wiener Schwarzenbergplatz stand die Skulptur dem Heldendenkmal der Roten Armee gegenüber. Das Festwochenprojekt richtete den Fokus auf den Themenkomplex Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur im urbanen Raum: Wie können von der öffentlichen Sphäre ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen ermächtigt werden, materielle und performative Formen des Gedenkens zu entwickeln? Welche konkreten Strukturen und Rituale braucht es, um der aufoktroyierten Monumentalität als Manifestation herrschender Macht entgegenzuwirken? Bei der Skulptur handelte es sich um eine queere Nachbildung der Statue des unbekannten Soldaten, die den zen­­­t­ralen Teil des stalinistischen Ehrenmals für die im Mai 1945 bei der Befreiung Wiens gefallenen Rotarmist/-innen bildet. Unsere Figur basierte auf der Grundidee, den Kampf gegen den Faschismus in den Vordergrund zu rücken und uns damit auseinanderzusetzen, mit welcher Bedeutung dieser historische Kampf heute aufgeladen wird.

Den dringlichen Impuls für dieses Kunstprojekt lieferte uns der Krieg in der Ukraine, in dem zwei Formen des Missbrauchs von Geschichte kollidieren: das Paradigma der Nationenbildung des 19. Jahrhunderts mit dem Mythos der imperialen Vergangenheit der Sowjetunion, der im Sieg des Stalinismus über den Nationalsozialismus gipfelt. Manipuliert von der Oligarchie und einer Rhetorik des Kalten Krieges, führt das blutige Aufeinanderprallen dieser zwei Gespenster der Vergangenheit zu einer unlösbaren Situation. Der Konflikt brachte in Russland ein breites Spektrum an Kräften zum Vorschein, Kräfte, die nun deutlich sichtbar gemacht sind durch eine Gedächtnispolitik, die mit dem historischen antifaschistischen Kampf spekuliert und sich mit den heutigen Nationalismen vermischt. Dies ist ein extrem bizarrer ideologischer Cocktail, der vielen Leuten – und auch dem Staat – zu Kopf gestiegen ist und große Gefahren in sich birgt. Wir mussten in dieser Situation intervenieren, um neue Möglichkeiten eines Antifaschismus aufzuzeigen, der in der Tradition des Internationalismus und Klassenkampfes wurzelt.

Unsere Soldat/-in ungewissen Geschlechts hielt einen Schild mit der Aufschrift »Antifaschistische Aktion«, auf dem Helm stand: »To remember means to fight« (»Erinnern bedeutet kämpfen«). Er/Sie leistete Beiträge in verschiedensten Debatten, war Zeuge/-in vieler Positionen und überstand friedlich die Tage des Wiener Projekts (siehe Dokumentation auf www.chtodelat.org). Durch Zufall erfolgte eines Tages die Einladung, nach Berlin zu kommen. Dort wurde unser Paper Soldier vor dem Haus der Berliner Festspiele aufgestellt, wo Chto Delat ein neues Lehrstück über die Idee der Monumentalität erarbeitete. Er/Sie stand allerdings nur eine Nacht dort – am frühen Morgen des 25. Juni fiel er/sie einem Brandanschlag zum Opfer. Unser/e Papiersoldat/-in war zwar feuerfest, das heißt schwer entflammbar, aber einmal entzündet, brannte er/sie vor dem Eintreffen der Feuerwehr innerhalb weniger Minuten vollständig nieder. Die Ermittlungen der Polizei haben bis jetzt nichts ergeben. Und Chto Delat musste am 7. Juli 2014 ein weiteres Lehrstück produzieren. Der Titel lautete: »Wer hat eine/n Papiersoldaten/-in abgebrannt?«

Es war eine relativ verstörende Erfahrung, von diesem Zwischenfall unterrichtet zu werden, wenn dein Facebook Feed voll ist mit Fotografien verbrannter Leichen in der Ostukraine und die Bilder der Überreste in Berlin diesen ziemlich ähnlich sehen. Davon ausgehend hatten wir das Gefühl, uns auf irgendeine Art und Weise mit dem Themenkomplex Trauma beschäftigen zu müssen. Wir beschlossen daher, die Geschichte des Paper Soldier weitergehen zu lassen und eine neue Skulptur als Mittelpunkt unserer Rauminstallation in der Wiener Secession zu errichten – und zwar in Form eines/einer wiederauferstandenen (Zombie)Soldaten/-in, der/die irgendwie nach Wien zurückgekehrt ist und nun inmitten ikonischer Bilder von Katastrophen steht, die sich unterdessen auf der Welt ereignet haben. Mit dieser Geste möchten wir aufzeigen, dass jede verdrängte, jede zerstörte Erinnerung die Chance auf ein Weiterleben hat und dieses neue Leben ein erhebliches Potenzial birgt, sich einzumischen und den Verlauf der Zukunft zu verändern, wenn wir uns den traumatischen Erfahrungen stellen.

Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Kulcsar

Wolfgang Schmutz

Wo die Republik beginnt und endet Zum erinnerungspolitischen Rahmen für Vermittlung und Gestaltung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

(Um-)Landvermessung Am 27. April 1945 proklamierten die drei Gründungsparteien der Zweiten Republik (SPÖ, ÖVP und KPÖ) unter der Federführung von Karl Renner die Selbstständigkeit Österreichs. In der Unabhängigkeitserklärung1 wurden »Tatsachen« formuliert, die für die Konstitution eines Nachkriegs­ österreich maßgeblich in Betracht zu ziehen seien; mit ihr antwortete man auf die »Declaration regarding Austria«, wie sie die Alliierten nach ihrer Moskauer Konferenz Ende Oktober 1943 verabschiedeten.2 In der Unabhängigkeitserklärung wurde Österreich nicht nur als erstes staatliches Opfer des nationalsozialistischen Deutschland dargestellt, was auf den Wortlaut der Deklaration der Alliierten Bezug nahm, 3 sondern auch die (künftigen) Staatsbürger/-innen wurden von Schuld freigesprochen. Man könne, so der Tenor der Unabhängigkeitserklärung, die Bevölkerung nicht für die geschehenen Verbrechen verantwortlich machen, da Adolf Hitler »das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinnund aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorhergesehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat«.4 1

Vgl. StGBl. Nr. 1, 1. Mai 1945, unter: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/ BgblPdf/1945_1_0/1945_1_0.pdf vom 11.02.2015. 2 Die »Declaration regarding Austria« war Teil der »Declaration of the Four Nations on General Security«. Der Teil zu Österreich wird heute oft verkürzt und unscharf als »Moskauer Deklaration« bezeichnet. Vgl. Keyserlingk, Robert H.: Austria in World War II, Montreal 1988, S. 207 f. 3 Vgl. ebd. 4 StGBl. Nr. 1, S. 1.

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Auffallend ist das Dreigestirn aus einem von Adolf Hitler aufoktroyiertem Unrechtsregime (in dem die österreichische Treue zu »seinem« Führer indirekt nachhallt)5, dem Krieg als alleinigen Topos für nationalsozialistische Gewalt und schließlich das Fehlen einer genaueren Definition der realen Opfergruppen des »Volkes Österreich«. Die »Bekriegung« im Inneren wurde verschwiegen und damit auch die aus politischen und rassistischen Gründen Verfolgten nicht explizit als solche genannt. In der Deklaration von 1943 forderten die Alliierten auch explizit einen eigenen Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung ein.6 Die Antwort darauf lautete in der Unabhängigkeitserklärung, dass die »einzusetzende Staatsregierung ohne jeden Verzug«7 Maßnahmen ergreifen werde. Die Staatsregierung sehe sich jedoch »genötigt festzustellen«8, dass der eigene Beitrag zur Befreiung, angesichts der »Entkräftung unseres Volkes und Entgüterung unseres Landes zu ihrem Bedauern nur bescheiden sein kann«9. Das politische Kalkül, das diese Selbstdarstellung in der »Stunde Null« mitbedingt haben mag, die Verfestigung des österreichischen Opfermythos10 in den Anfängen des Kalten Krieges bis hin zum Staatsvertrag 1955, die blinden Flecken und der zynische Umgang mit den Opfern und ihrer Entschädigung, vor allem aber der lange Nachhall der bis zur Waldheim-Causa fortgeschriebenen »Geschichtslüge« (Robert Menasse), sie sind umfangreich besprochen und analysiert worden.11 Wozu also hier 5

Vgl. dazu Bukey, Evan Burr: Hitler’s Austria. Popular Sentiment in the Nazi Era, 1938–1945, Chapel Hill 2000. 6 Verknüpft mit den von den Alliierten bereits diskutierten Reparationsforderungen lautet der Passus: »Austria is reminded, however, that she has a responsibility which she cannot evade for participation in the war on the side of Hitlerite Germany, and that in the final settlement account will inevitably be taken of her own contribution to her liberation.« (R. H. Keyserlingk: Austria in World War II, S. 207.) 7 StGBl. Nr. 1, S. 2. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Als Opfermythos bezeichnet man die (Selbst-)Darstellung Österreichs als erstes Opfer des Nationalsozialismus, die damit argumentiert, dass Österreich im März 1938 vom Deutschen Reich militärisch annektiert worden sei. Ausgeblendet bleiben in dieser Sichtweise die massenhafte Begeisterung über den »Anschluss«, das Fehlen jedes bewaffneten Widerstands gegen die Annexion und nicht zuletzt die Beteiligung von Österreicher/-innen an den Verbrechen des NS-Regimes; die Verantwortung für ebendiese versuchte man nach 1945, auf Basis des Opfermythos, in Richtung Deutschland zu externalisieren. 11 Anstelle einer langen Reihe von Einzeltiteln, hier einige Autor/-innen ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Brigitte Bailer, Günter Bischof, Gerhard Botz, Ernst

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noch einmal im Detail zu den Anfängen zurückkehren, die man über zwei Dekaden nach der öffentlichen Richtigstellung ab 1986 historisch und moralisch korrigiert wähnen könnte? Überblenden wir die Anfänge kurz mit der Gegenwart, in diesem Fall Februar 2015. Im Gedenkjahr 2015 startet das Wochenmagazin »profil« eine Serie zum Kriegsende, als Kalendarium von Ereignissen im Frühjahr 1945, als Countdown bis zum 8. Mai. Der einleitende Absatz dazu lautet: »Vor 70 Jahren brach Adolf Hitlers Reich zusammen. profil stellt in einer Serie anhand von Zeitdokumenten die dramatischen Wochen des Jahres 1945 dar, in denen Österreich zum Schlachtfeld wurde und das NS-Regime bis zuletzt mordete.«12 Wir haben hier alle Ingredienzen der Selbstdarstellung vom 27. April 1945, und in der Verkürzung hallen auch die alten Bedeutungen wider: Das nationalsozialistische Reich war Hitlers Reich, die Spur der Vernichtung zog sich in »dramatischen« Wochen auch durch ein »Schlachtfeld Österreich« (Kriegs-Topos und Opferschaft), und gemordet hat ein entpersonalisiertes »NS-Regime«. Nicht, dass man dem »profil« unterstellen könnte, es wäre systematisch an Geschichtsklitterung interessiert, ausgerechnet jenem Magazin, das einst, in der Ägide von Hubertus Czernin, das Aufklärungsmedium in der Waldheim-Ära war. Aber man kann »profil« attestieren, dass es ein österreichisches Medium mit österreichischen Redakteur/-innen ist, die als Teil einer postnazistischen Gesellschaft nicht vor der Wiedergabe problematischer Verkürzungen gefeit sind, in denen dann die Konturen alter Deutungsmuster kenntlich werden. Weniger eklektisch und umso symbolträchtiger fällt die Beobachtung einer »Geisterbahnfahrt in die Prä-Waldheim-Geschichtsschreibung aus«13: Bei der im November 2012 in der Gedenkstätte Mauthausen abgehaltenen Feier zum 110. Geburtstag von Leopold Figl wurde eine Gedenkskulptur für den ehemaligen Dachau- und Mauthausen-Häftling, Hanisch, Robert Knight, Anton Pelinka, Oliver Rathkolb, Heidemarie Uhl, Peter Utgaard et al. Empfehlenswert sind nach wie vor zwei Bände, die einige dieser Autor/-innen versammeln: Kos, Wolfgang/Rigele, Georg (Hg.): Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996. Bischof, Günter/ Pelinka, Anton (Hg.): Austrian Historical Memory and National Identity (= Contemporary Austrian Studies 5), New Brunswick 1997. 12 Lackner, Herbert: »Das Ende des Zweiten Weltkrieges: Brandsalben und Leuchtgas«, in: profil vom 19.01.2015, S. 32, unter http://www.profil.at/history/das-endezweiten-weltkriegs-brandsalben-leuchtgas-378908 vom 07.02.2015. 13 Autorinnen, Die: »Auf der langen Bank – Die Gedenkstätte Mauthausen und die Republik«, in: Malmoe 64 (2013), S. 5.

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Bundeskanzler und Außenminister, eingeweiht. Begangen wurde die Feier von Verbänden und Abordnungen der ÖVP, Seite an Seite mit zahlreichen Vertretern des niederösterreichischen Kameradschaftsbundes, dessen Insignien und Fahnen den vormaligen Appellplatz säumten. Der damalige Außenminister Spindelegger (ÖVP) würdigte bei der Veranstaltung Leopold Figls »Mut bei den Staatsvertragsverhandlungen, der zur Streichung der Präambel über Österreichs Mitschuld geführt habe. ›Er hat über alle ideologischen Grenzen hinweg stets das Gemeinsame gesucht‹, sagte Spindelegger.«14 Eine öffentliche Reaktion dazu, nicht zuletzt vonseiten der in den 1980er- und 1990er-Jahren sowie zu Zeiten der SchwarzBlauen Koalition noch streitbaren österreichischen Historiker/-innen, blieb aus. Die zugrunde liegende Erzählung der Proklamation vom 27. April 1945 schreibt sich also bis in die jüngere Vergangenheit auch im innenpolitischen Kontext fort,15 ungeachtet der neuen Sprachregelung von der »Mitverantwortung«, die sich in der Nachfolge der Waldheim-Affäre nach und nach etablierte. Als »Wendepunkt« wird hier oft die Rede Franz Vranitzkys angeführt, die dieser als Bundeskanzler am 8. Juli 1991 vor dem österreichischen Nationalrat hielt.16 Bei genauerer Betrachtung bedienten Vranitzkys Ausführungen aber auch noch ein »traditionelles« Narrativ: Gleich nach den Hunderttausenden zivilen Opfern werden die gefallenen österreichischen Soldaten genannt; so wird wieder eine gemeinsame Opferschaft Österreichs erzeugt, eine Aufrechenbarkeit angedeutet.17 Ein knappes Jahrzehnt später verschaffte der spätere Bundeskanzler Wolfgang Schüssel dem Opfermythos ein unrühmliches Revival, als er in seinem berühmt-berüchtigten Interview mit der »Jerusalem Post«18 alte Tendenzen 14

N.N.: »Gedenkskulptur für Leopold Figl«, in: Öffentliche Sicherheit 11–12 (2012), S. 45. Als Einzelbeitrag einsehbar unter: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Oeffent licheSicherheit/2012/11_12/files/Mauthausen_Figl.pdf vom 07.02.2015. 15 Vgl. dazu neben anderen Beispielen Alexander Pollaks Anmerkungen zu einer gemeinsamen Gedenkbroschüre von Innenministerium und Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands aus dem Gedenkjahr 1998: https://www. univie.ac.at/linguistics/forschung/wittgenstein/critics/Schl.htm vom 08.02.2015. 16 Vgl. http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XVIII/NRSITZ/NRSITZ_00035/ imfname_142026.pdf vom 08.02.2015, S. 15 f. 17 Vgl. ebd. 18 Das österreichische Echo ist u.a. nachzulesen bei Segenreich, Ben/Redaktion: »Kanzler: Österreich erstes NS-Opfer«, in: Der Standard vom 10.11.2000 und Kainberger, Hedwig: »Ferrero-Waldner verteidigt Opfer-Theorie«, in: Salzburger Nachrichten vom 11.11.2000. Eigenwillig fällt (nicht nur) die Bewertung dieses

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aufwärmte und nicht nur den Staat Österreich, sondern auch die österreichische Bevölkerung zu »ersten Opfern« machte. Diese Darstellung schwächte er in einem Interview mit der »NZZ« 2005 zwar wieder ab, um sie jedoch gleich wieder zu verklausulieren: »Ich werde nie zulassen, dass man Österreich nicht als Opfer sieht. Das Land war in seiner Identität das erste militärische Opfer der Nazis. Aber ich will nicht den Eindruck erwecken, dass wir die individuelle Schuld von vielen Tätern in irgendeiner Weise minimieren oder wegreden wollen.«19

Mit dem Blick auf die ältere wie jüngere Erinnerungspolitik der Zweiten Republik entsteht zunehmend das Bild eines Staates, der, sobald er den Erzählungen der tatsächlichen Opfer Raum gab und gibt, sich zugleich dieser Narrative bedient(e): zuerst jener der Widerstandskämpfer/-innen20, dann der jüdischen Bürger/-innen, der Roma und Sinti, der Opfer der NS-Euthanasie und zuletzt der Deserteure.21 Während es ab den 1970er-Jahren zur späten und zäh errungenen Anerkennung von Opfergruppen kam, konnte sich das offizielle Österreich gleichzeitig zu österreichischen Opfern gesellen. Bis heute bleiben sie in beinahe jeder Rede, jedem Statement erstgenannt, bevor die Sprache auf die Täter/-innenschaft und die Mitverantwortung kommt. Was moralisch angebracht erscheint, hat den Beigeschmack einer kalkulierten Hierarchie. Im Kontrast dazu steht die Beobachtung der Historikerin Heidemarie Uhl, dass »die ›Entlarvung‹ des Opfermythos seit 1986 zu einem der »Meilensteins« auf der offiziellen Website des »Versöhnungsfonds« aus, verfasst von Hubert Feichtlbauer: http://www.versoehnungsfonds.at/db/admin/de/index_main. php?cbereich=3&cthema=341&carticle=602&fromlist=1 vom 08.02.2015. 19 Ritterband, Charles E.: »Meister der Beharrlichkeit am Ballhausplatz. Fünf Jahre Schüssel und schwarz-blaue Koalition«, in: NZZ vom 05.02.2005, unter http://www. nzz.ch/aktuell/startseite/articleCKQPL-1.89991 vom 09.02.2015. Vgl. die Reaktion von Gerhard Botz darauf unter http://derstandard.at/1980268/Der-Kanzler-alsSchulmeister-der-Zeitgeschichteforschung vom 09.02.2015. 20 Zur zwiespältigen Rolle des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands (DÖW), das ursprünglich eine Gegenerzählung zum Veteranennarrativ etablieren wollte, dann aber zur Beförderung der gesamtstaatlichen Opfererzählung erheblich beitrug, siehe Utgaard, Peter: Remembering and Forgetting Nazism. Education, Identity and the Victim Myth in Postwar Austria, New York/Oxford 2003, S. 109 f. 21 Siehe dazu teilweise auch die Anmerkungen in Rathkolb, Oliver: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2010, Innsbruck/Wien 2011, S. 39.

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zentralen Themenfelder eines vor allem von Intellektuellen und KünstlerInnen, aber auch von WissenschaftlerInnen geführten Diskurses der Kritik an der ›unbewältigten Vergangenheit‹ Österreichs«22 wurde. Bevor hier dargelegt wird, dass dieser Diskurs nur in Bruchteilen in einer breiteren österreichischen Gesellschaft angekommen ist, soll das Phänomen des Opfermythos noch in der Geschichte der Gedenkstätte Mauthausen gespiegelt werden.

Bühne und Projektionsfläche: Die Gedenkstätte Die Eröffnung der Gedenkstätte Mauthausen im Jahr 1949 stellt an sich schon eine »erkämpfte« bzw. »errungene Erinnerung«23 dar, vergegenwärtigt man sich die von dem Zeithistoriker Bertrand Perz detailliert beschriebenen Auseinandersetzungen in den späten 1940er-Jahren und darüber hinaus.24 Dass es heute überhaupt bauliche Überreste gibt, ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass die einst angedachte, komplette Schleifung als zu teuer verworfen wurde.25 Um die Erhaltungskosten niedrig zu halten, wurde aber ein Großteil der Baracken abgetragen. Etliche ehemalige Lagergebäude wurden von öffentlichen Trägern und Institutionen gekauft,26 die Erlöse wurden zum Erhalt der verbliebenen Bauten herangezogen. Mit den SS-Baracken, die vor allem im Bereich des heutigen Denkmalparks standen, verschwand sehr früh der materielle Anknüpfungspunkt an den Ort der Täter/-innen. Damit eröffnete sich in der Folge die räumliche Möglichkeit, im Mauthausen-Gedenken anderer Staaten 27 auf 22

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Uhl, Heidemarie: »Das ›erste Opfer‹. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik«, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1 (2001), S. 19. Vgl. zu diesem Begriff die Ausführungen von Nora Sternfeld in diesem Band. Vgl. Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006. Vgl. ebd., S. 97, 103 f. Wie z.B. von den ÖBB, der Bundesgebäudeverwaltung, den Linzer Stickstoffwerken, den Wiener Städtischen Granitwerken oder den Gemeinden Mauthausen und Gutau. Außerdem wurden Baracken von der Baufirma Ferro-Betonit und dem oberösterreichischen Landesverband des Bundes der Politisch Verfolgten erworben, vgl. ebd., S. 104 f. Dieses manifestiert sich in knapp zwei Dutzend, größtenteils nationalen Denkmälern im heutigen Denkmalpark. Darunter kaum eine Nation, die neben seinen Opfern nicht auch von Kollaboration zu erzählen hätte.

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der »guten Seite«, also jener der Opfer, zu stehen. Schon bei der feierlichen Übergabe des ehemaligen Lagers im Juni 1947 war der durch Plünderungen bereits eingeleitete Auflösungsprozess aktiv fortgesetzt worden: Die Tribüne für die Ehrengäste der Übergabezeremonie war aus den Überresten des SS-Kinos gezimmert worden.28

Die feierliche Übergabe der Gedenkstätte, 20.06.1947. Quelle: Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Sammlung BHÖ

Doch nicht nur ein zu Investitionen kaum gewillter Staat, der sein moralisches Erbe verweigerte, sondern auch die Vorstellungen der politischen Überlebendenverbände haben den Ort maßgeblich geprägt, man kann hier durchaus von einer Koproduktion sprechen. Damit soll auch auf die zahlreichen Widersprüche im »Kampf um die Erinnerung« hingewiesen sein. Mit der Zustimmung von Opferverbänden verschwanden in den 1960er-Jahren etwa zwei signifikante Erinnerungsorte: die Baracke 5, eine Zeit lang der »Judenblock«, und die schon einmal verfallene und wieder errichtete Baracke 20, die der Ausgangspunkt der Massenflucht jener sowjetischer Kriegsgefangener war, die bis auf einige wenige der sogenannten 28

Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 71.

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»Hasenjagd«29 zum Opfer fielen. Der Schleifung beider Gebäude wurde sowohl vom Internationalen Mauthausen Komitee als auch von der Österreichischen Lagergemeinschaft zugestimmt, 30 in der Aussicht auf ein neues Museum, dass man schon seit geraumer Zeit einforderte. Dieses wurde am 3. Mai 1970 von Bundeskanzler Bruno Kreisky eröffnet.31 Aber es waren nicht nur Gegengeschäfte, die der Gedenkstätte ihre heutige Ausformung bescherten. Die Opferverbände, die vor allem die ehemals politisch Verfolgten repräsentierten, bestimmten auch im Alleingang, welche Gebäude relevant seien – in ein Vakuum hinein, in dem der Staat kein spezifisches Interesse hatte, außer jenem, am gesamtgesellschaftlichen Opfermythos festzuhalten, der aber auch durch die Beschlüsse der Verbände verstärkt wurde: Mit deren Fokus auf die Widerstandserzählungen der politischen Häftlinge kam es zu einer nachhaltigen Überlappung der Interessen. Die Logik eines Gedenkorts, an dem der Widerstand gefeiert und der Toten als Opfer einer bestenfalls anonymisierten, schlimmstenfalls von Deutschland allein zu verantwortenden Gewalt gedacht wurde, war geboren. Zugleich wusste man auch nach innen die Hegemonie des Opfernarrativs herzustellen: Den Widerstandskämpfer/-innen gestand man 29

Als »Mühlviertler Hasenjagd« wurde von der Lager-SS Mauthausen die Verfolgung jener sowjetischen Kriegsgefangenen bezeichnet, die in der Nacht zum 2. Februar 1945 einen Massenausbruch aus dem sogenannten »Todesblock« unternahmen. Unter Beteiligung von Gendarmerie, Wehrmachtssoldaten, Angehörigen der SA und der Hitlerjugend sowie von Zivilist/-innen aus der umliegenden Bevölkerung fand eine drei Wochen dauernde Menschenjagd statt, der beinahe alle der Entflohenen zum Opfer fielen. Siehe dazu Kaltenbrunner, Matthias: Flucht aus dem Todesblock. Der Massenausbruch sowjetischer Offiziere aus dem Block 20 des KZ Mauthausen und die »Mühlviertler Hasenjagd« – Hintergründe, Folgen, Aufarbeitung, Wien 2012. 30 Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 82 und 230 f. Das Internationale Mauthausen Komitee (Comité International de Mauthausen) hat seinen Ursprung in der Schlussphase des Konzentrationslagers und versuchte, Widerstand und Solidarität unter den (politischen) Häftlingen zu organisieren. Die Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen (ÖLM) wurde 1964 als eigenständiger Verein gegründet und ging aus der zuvor im KZ-Verband organisierten Gruppe der überlebenden österreichischen Häftlinge hervor. Über einige Jahrzehnte hinweg, bis ins Jahr 1986, waren die Führung der KZ-Gedenkstätte und die ÖLM personell eng verbunden. Hans Maršálek, Chronist des Lagers und Leiter der Gedenkstätte von 1964 bis 1976, war etwa zugleich Funktionär der ÖLM als auch Beamter des Innenministeriums. Seit dem Jahr 2000 fungiert das Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) in weiten Teilen als Nachfolgeorganisation der ÖLM. Vgl. dazu http://www.mkoe.at/ueber-uns vom 09.02.2015. 31 Vgl. ebd., S. 231.

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ihre Opfererzählung auch deswegen zu, weil sie relativ mühelos in die »Opferschaft« des Landes inkorporiert werden konnte. Wie Heidemarie Uhl dargelegt hat, 32 konnte auch die »Heldenerzählung« der Kriegsteilnehmer, die eigentlich der »Opferthese« widersprach, letztlich in einen Minimalkonsens der Opferschaft integriert werden. Einen zweifelhaften symbolischen Höhepunkt fand dieser Konsens bei der schon erwähnten Einweihung des Figl-Denkmals im November 2012, als die Veteranen und ihre Nachfahren die eigene Opferschaft auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Mauthausen zelebrieren konnten. Die Gedenkstätte Mauthausen hat eine lange Tradition als Bühne für das Inkorporieren von Opfererzählungen, als Projektionsfläche für partikulare wie hegemoniale Geschichtsnarrative. Im Fall der Selbstdarstellung der Republik wurden diese meist von der Innenpolitik diktiert und nach außenpolitischen Maßgaben redigiert. Die Jahre 2000 bis 2003 muten dabei wie die Transformationen des aufgeklärten Absolutismus von Maria Theresia hin zu Joseph II an: Zuerst kam der Prunk der Inszenierung, die Philharmoniker konzertierten im Steinbruch, das pompöse Erinnerungstheater fand Einzug in die Gedenkstätte. Dann folgte der vermeintlich schlanke Fuß der »Reorganisation« unter Innenminister Ernst Strasser, dessen sichtbares Zeichen der minimalistische Betonbunker werden sollte, der, ohne jegliches Nutzungskonzept errichtet, heute das Besucher/-innenzentrum darstellt. Bis zum Zeitpunkt der Eröffnung des Gebäudes (2003) hätte auch die organisatorische Ausgliederung der Gedenkstätte aus dem Innenministerium, das seit Ende der 1940er-Jahre für Mauthausen verantwortlich zeichnet, als Überführung in eine Bundesanstalt öffentlichen Rechts abgeschlossen sein sollen.33 Nachdem sich das Innenministerium ostentativ mit ehemaligen Gegner/-innen im »Kampf um die Erinnerung«, den Überlebenden und deren (Nachfolge-) Verbänden sowie den wissenschaftlichen Kritiker/-innen als nunmehrige Berater/-innen umgab, ließ man den Ausgliederungsprozess aber wieder einschlafen. Bertrand Perz geht vermutlich recht in der Annahme, dass Innenminister Strasser zunehmend Gefallen daran fand, die Agenden 32

Vgl. Uhl, Heidemarie: »Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Geschichtspolitik und Denkmalkultur in der Zweiten Republik«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 29. Jg. (2000), S. 317–341. Online unter: http:// www.oeaw.ac.at/ikt/mitarbeiterinnen/publikationen-der-mitarbeiter/heidemarie-uhl-werkverzeichnis-seit-1999/heidemarie-uhl-werkverzeichnis-vor-1999/ transformationen-des-oesterreichischen-gedaechtnisses/ vom 09.02.2015. 33 Vgl. B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 260.

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»im Haus« zu behalten, da die öffentlichkeitswirksamen Fortschritte in Mauthausen als positives Gegengewicht zur Asylpolitik des Ministeriums eingesetzt werden konnten. Damit fand auch eine gängige Praxis der sozialdemokratischen Amtsvorgänger ihre Fortsetzung.34 Aus dem Reformprozess der Gedenkstätte Mauthausen wurde schließlich der Neugestaltungsprozess, der erst 2007/2008 wieder anlief und dessen erstes Projekt der Aufbau einer professionellen Pädagogik und die Entwicklung eines neuen Vermittlungsangebots sein sollte.

Navigation im Erinnerungschaos: Vermittlung Als 2007, nach langjähriger Forderung aus Fachkreisen, eine an professionellen Maßstäben ausgerichtete Pädagogik vor Ort ihre Arbeit aufnahm, trat sie ein komplexes Erbe an. Bis zum Ende der 1970er-Jahre führten vor allem ehemalige Häftlinge über das Gelände, danach ergänzt um dafür in keiner Weise qualifizierte oder ausgebildete Mitarbeiter/-innen des Innenministeriums.35 Ein kurzes Intermezzo von engagierten Junglehrern, die ihre pädagogischen Überlegungen an den Erfahrungen anderer Gedenkstätten zu orientieren begannen und schließlich eine kritische Bestandsaufnahme vorlegten, fand nach Konfrontationen mit dem Ministerium Ende der 1980er-Jahre ein rasches Ende.36 Was darauf folgte, mutet zynisch und verantwortungslos an: Seit den 1990er-Jahren wurden, nach keiner oder wenn, dann nur kurzer historischer Ausbildung, Zivildiener als Rundgangspersonal eingesetzt. Weder gab man ihnen adäquates pädagogisches Rüstzeug mit auf den Weg, noch schuf man einen tragfähigen Betreuungsrahmen für die jungen Männer, die oft dreimal am Tag mit Gruppen unterwegs waren und fahrlässig der Routine von Schreckenserzählungen ausgesetzt wurden: Die den Häftlingen widerfahrene Gewalt eindrücklich zu schildern, galt als pädagogisch erwünscht. So wurde etwa in der ehemaligen Gaskammer minutiös geschildert, wie der Tötungsprozess aus Sicht der Ermordeten abgelaufen war, so als ob es dafür Zeugnisse aus dieser Perspektive gäbe.37 Die Imagination des Realen gaukelte dabei, durch die vermeintlich erzeugte Nähe 34

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 247 f. 36 Vgl. ebd., S. 251. 37 Eindrücklich zu sehen in dem Film »KZ – Willkommen in Mauthausen!« (GB 2006, R: Rex Bloomstein). Bloomstein selbst war beeindruckt von den jungen Männern, die an der Gedenkstätte vermittelten, wie er bei einer Konferenz zu verstehen gab 35

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zu den Opfern, die Möglichkeit eines Nachempfindens vor bzw. zwang sie die Besucher/-innen, meist 13- bis 14-jährige Schüler/-innen, in diese Position, die jedoch die menschenmögliche Vorstellungskraft übersteigt. Zugleich war dies wohl der einzige Zugang, der den Zivildienern in ihrer eigenen Verunsicherung und Überforderung nachvollziehbar und authentisch erschien. Denn als gedenkpolitische Agenten, als die sie instrumentalisiert wurden (junge Menschen erziehen andere junge Menschen zu besseren Menschen), fanden sich die Zivildiener zugleich im Widerstreit mit einer Erwachsenengesellschaft, die den Wahrheitsgehalt dessen, was die »Jungen« zu erzählen hatten, darunter immer wieder auch die Existenz der Gaskammern, infrage stellte, die Ereignisse verharmloste, mit eigenen Opfererzählungen kontrastierte oder schlicht den Dialog darüber verweigerte.38 In diesem Umfeld wurde politische Überzeugung nicht nur zum Motiv ihrer Vermittlungstätigkeit, sondern auch die Überzeugungskraft zum Paradigma der Vermittlung. Die Schreckens­ erzählungen ließen die Empfänger/-innen in der Regel eher verstummen, als mit dem Erzählten auf einer kognitiven Ebene interagieren; der »pädagogische Hammer« war gefallen und hatte getroffen bzw. »betroffen gemacht«, wie es euphemistisch hieß. Die Auswirkungen auf die Psyche der jungen Menschen, die solcherart zu hochfrequenten Sendern bzw. Empfängern des artikulierten Grauens wurden, blieben unbeachtet. Weder die psychologischen, philosophischen und historischen Grenzen der Darstellbarkeit, wie sie die Holocaust-Überlebenden Primo Levi, Jean Améry und Saul Friedländer in Diskussion gebracht haben, 39 noch die antipädagogische Wirkung von Schreckenserzählungen, die zumeist eine emotionale wie kognitive Überwältigung statt einer Auseinandersetzung hervorrufen, waren als Problematiken bis in die Gedenkstätte vorgedrungen. Es ging »lediglich« um die »Schutzimpfung« gegen rechtsradikales Gedankengut, die als Ziel der pädagogischen Arbeit angesehen wurde. (Gesprächsrunde mit dem Regisseur beim 10. Zentralen Seminar von _erinnern.at_, Linz am 12.11.2011). 38 Zur familiären Tradierung siehe etwa Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002 und Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. 39 Vgl. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 2010; Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990; Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 2008; Friedländer, Saul (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge/London 1992.

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Ein bisschen Gift aus der Vergangenheit zur Immunisierung der Gegenwart also, folgt man der Analogie der Impfung, die ihrerseits wie ein Echo der seuchenhygienischen Euphemismen aus der NS-Zeit anmutet.

Das Lager im Nirgendwo. Quelle: Privat

Diese Reduktion des Konzentrationslagers und der damit verbundenen historischen Ereignisse zu einer oberflächlichen politischen Lektion schlug sich auch in der Topografie der »Führungen« an der Gedenkstätte nieder: Die Rundgänge fanden beinahe ausschließlich im Bereich des ehemaligen »Schutzhaftlagers« statt, in dem sich die Häftlingsbaracken und die baulich manifesten Tötungsorte, wie Gaskammer und Genickschuss­ ecke, befanden, und zentrierten sich um das »unvorstellbare«, wiewohl ausgiebig beschriebene Leid der Opfer. Wurde der Steinbruch des ehemaligen Konzentrationslagers, in dem die Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten, mit einbezogen, so wurde nicht die wirtschaftliche Verflechtung des Ortes mit der nationalsozialistischen Gesellschaft, der Profit aus der Zwangsarbeit, sondern zuvorderst Tötung und Folter fokussiert, mit der ikonischen »Todesstiege«, auf der viele Häftlinge beim Tragen von Steinen zu Tode kamen bzw. ermordet wurden. Im Verborgenen blieb so auch der Steinbruch als Kontaktzone, in der Zivilarbeiter Tag für Tag mit den Häftlingen arbeiteten. Weder die Perspektive der Täter/-innen noch die

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zahlreichen Verknüpfungen zum zivilen Umfeld des Lagers schlugen sich in der begangenen und besprochenen Topografie nieder. Mit dieser Ausblendung der gesellschaftlichen Bezüge des Lagers überdauerte der Opfermythos ausgerechnet im Brennpunkt des nationalen Erinnerns die Wende in der österreichischen Geschichtsschreibung. Die Instrumentalisierung junger Männer als Vermittler einer verbrecherischen Vergangenheit traf auf die Vermeidung der Perspektiven der Täter/-innen und des gesellschaftlichen Umfeldes. Die Synthese daraus war eine ebenso eingängige wie widersprüchliche Botschaft: Die Ereignisse seien so unvorstellbar schrecklich gewesen, dass man sie in Zukunft unbedingt verhindern müsse. Diesem postulierten »Nie wieder« wurde allerdings keine Erklärung dazugegeben, wie die schrecklichen Ereignisse durch menschliches Handeln herbeigeführt worden waren. Die Verbrechen, deren Voraussetzungen und Bedingungen waren ins Reich des Mythischen verbannt und damit banalisiert worden. Auch in den Deutungsmustern, die vor allem österreichische Besucher/-innen aller Generationen an die Gedenkstätte Mauthausen mitbringen, ist bis heute eine komplexe Spielart des Opfermythos erkennbar. Nach wie vor ist das Bild einer zur Passivität gezwungenen Bevölkerung, die nichts für die Opfer (von Jugendlichen oft unter dem Begriff »Juden« subsumiert)tun konnte, dominant.40 Zugleich werden die Täter/-innen entweder als monströse Charaktere imaginiert, denen nichts Menschliches anhaftete oder als Befehlsempfänger/-innen, die keine Wahl hatten (als ihre Pflicht zu tun, könnte man mit Waldheim ergänzen) und die im Falle des Ungehorsams getötet worden wären. Damit wird allen sozialen Akteur/-innen dasselbe Unvermögen, eigenständig zu entscheiden und zu handeln, unterstellt und somit, bei aller Differenzierung, letztlich die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust zu einer insgesamt entmenschlichten, weil schicksalshaften.41 Demgegenüber verständigt sich die Gedenkstättenpädagogik in ihrer Praxis oft auf das – zu modellierende – »Gute« im Menschen und nimmt relativ unreflektiert an, man könne die antifaschistische Überzeugung eines »Nie wieder« zu 40

Vgl. dazu ein Schüler/-innen-Zitat und den zugehörigen Kommentar in Brachmann, Ines/Lapid, Yariv/Schmutz, Wolfgang (Hg.): The Challenges of Interaction. Developing Education at Memorial Sites, Bregenz 2014, S. 18. Download unter: http://www.edums.eu/images/publication/publication_edums_mauthausen.PDF vom 12.02.2015. 41 Vgl. ebd. die Ausführungen von Paul Salmons, S. 33 f.

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einem nachhaltigen moralischen Grundsatz formen, der dann Verhaltens­ änderungen herbeiführen kann.42 Das pädagogische Team der Gedenkstätte43 steht seit seinen Anfängen vor großen Herausforderungen, die zunächst detailliert zu lesen und zu kartografieren waren. Die ersten Schritte hin zu einer Professionalisierung der Vermittlungsarbeit, mit dem Verfassen eines pädagogischen Konzepts,44 der Entwicklung einer pädagogisch fundierten Ausbildung und dem Aufbau eines Vermittler/-innenpools bargen in sich auch die Notwendigkeit, dominante, monokausale Narrative nachhaltig aufzubrechen und aus den Monologen der Guides langsam Dialoge mit den Besucher/-innen zu formen. Die Einleitung dieser Transformation gelang mit einer stark selbstreflexiv orientierten Ausbildung, einer nach und nach entwickelten interaktiven Methodologie45 und einem neuen Ablauf des Rundgangs, der ab dem Sommer 2011 Stationen zu zivilem Umfeld und Wachmannschaften einschloss.46

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Eine deskriptive Analyse der Erzählungen über Vergangenheit und heutige Gesellschaft, wie sie in Rundgängen an deutschen Gedenkstätten geprägt werden, bietet Gudehus, Christian: Dem Gedächtnis zuhören. Erzählungen über NS-Verbrechen und ihre Repräsentation in deutschen Gedenkstätten, Essen 2006. Zur sozialpsychologischen Kritik an der angestrebten »Wirkung« von Gedenkstättenbesuchen siehe Giesecke, Dana/Welzer, Harald: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der Deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012. 43 Nach seiner Bestellung als pädagogischer Leiter baute Yariv Lapid ab 2007 nach und nach ein pädagogisches Team auf, zu dem der Autor von 2011 bis 2014 gehörte. Yariv Lapid ist nunmehr Leiter des Center for Humanistic Education am Ghetto Fighters House, Israel. Zum unfreiwilligen Ende seines Engagements in Mauthausen siehe Dreier, Werner: »Yariv Lapid verlässt Gedenkstätte Mauthausen«, unter http://www. erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/personalien/yariv-lapid-verlaesst-gedenkstaette-mauthausen vom 12.02.2015. 44 Vgl. Lapid, Yariv/Angerer, Christian/Ecker, Maria: »Was hat es mit mir zu tun?« Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2011. Nachzulesen unter http://www.mauthausen-memorial.at/db/admin/de/show_document. php?cbereich=11&cthema=483&cdocument=217&fromart=1 vom 12.02.2015. 45 Siehe dazu Lapid, Yariv: »Die Verknüpfung von Gedenkstättenpädagogik und politischer Bildung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen«, in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen / Mauthausen Memorial 2013 (= Jahrbuch der KZ-Gedenkstätte Mauthausen), Wien 2014, S. 23 f. 46 Eine ausführliche Rundgangsbeschreibung findet sich in I. Brachmann/Y. Lapid/W. Schmutz: The Challenges of Interaction, S. 72 f.

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Erschließung von unsicherem Terrain: Gestaltung Der 2008 gestartete Neugestaltungsprozess der Gedenkstätte zeitigt erste Ergebnisse. Neben der Neukonzeption der Pädagogik wurden auch neue Dauerausstellungen eingerichtet. Diese nach langen Jahren der Kritik relativ spät eingeleiteten Umsetzungen wurden besonders öffentlichkeitswirksam kommuniziert. Die pompös inszenierte Eröffnung der beiden Ausstellungen »Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945« und »Der Tatort Mauthausen. Eine Spurensuche« machten dabei im Mai 2013 jedoch gerade das medial zum Prunkstück, was laut wissenschaftlichem Beirat zwar zentral, aber gegenüber den baulichen Überresten und der kaum kenntlichen ehemaligen Lagerbereiche nur nachgeordnet sein sollte: »Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen wird Jahr für Jahr von knapp zweihunderttausend Menschen besichtigt. Die BesucherInnen kommen vor allem nach Mauhausen [sic], um diesen historischen Ort mit seinen Anlagen und Bauten kennen zu lernen. Wichtigstes Ziel einer musealen Neukonzeption ist es daher, das 28 Hektar umfassende Gelände so zu erschließen, dass im Zuge einer Besichtigung sowohl ein Überblick über die Topographie als auch über die Geschichte des Lagers vermittelt wird. Kern des dezentralen Ausstellungskonzeptes ist zunächst die Erkundung des historischen Orts. Die erhalten gebliebenen Gebäude und Einrichtungen des Lagers werden dabei als Exponate verstanden, anhand derer Geschichte und Funktionsweise des Konzentrationslagers Mauthausen erklärt werden.«47

Wenn Cornelia Siebeck den »energischen Ton« des hier zitierten Rahmenkonzeptes moniert und auf die Gefahren einer »apodiktischen Musealisierungsrhetorik« hinweist,48 so muss dem gegenübergestellt werden, dass von der zeitgeschichtlichen Wissenschaft, auch und gerade an der Gedenkstätte Mauthausen, die Ausdifferenzierung der NS-Geschichte erst errungen werden musste. Es galt nach langen Jahrzehnten der Zuschreibungen und Inbesitznahmen, wie sie im ersten Teil dieses 47

Bundesministerium für Inneres, Abteilung IV/7 (Hg.): mauthausen memorial neu gestalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2009, S. 24. Online verfügbar unter: http://www.mauthausen-memorial. at/db/admin/de/show_document9d2d.html?cbereich=12&cthema=50101&cdocu ment=123&fromart=1 vom 13.02.2015. 48 Vgl. den Beitrag von Cornelia Siebeck in diesem Band.

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Textes schlaglichtartig aufgezeigt wurden, eine wissenschaftlich fundierte Erzählung zu etablieren. Die im Rahmenkonzept als Priorität festgelegte Gestaltung der Außenbereiche des Lagers samt Besucher/-innen-Leitsystem ist bis heute nicht realisiert, stattdessen nahm man die im Mai 2013 eröffneten Ausstellungen in den Fokus. Wie und ob die nach wie vor offenen Punkte der Neugestaltung weiterbearbeitet werden sollen, ist derzeit unklar bzw. wird dies nicht öffentlich kommuniziert.49 Da in zentralen Punkten entgegen den Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirats gehandelt wurde, sind es derzeit vor allem die pädagogischen Rundgänge, die sowohl Orientierung als auch Kontext zu den Überresten des Lagers anbieten und, noch wichtiger, die Deutungen der Überreste und der mit ihnen verknüpften historischen Ereignisse in einem kommunikativen Prozess mit den Besucher/-innen ermöglichen. Gerade die Pionierarbeit des pädagogischen Teams der Gedenkstätte Mauthausen hat aufgezeigt, wie essenziell die Selbstreflexion der eigenen Vermittlungstätigkeit im Kontext einer Nachfolgegesellschaft ist, und zugleich freigelegt, wie schwer dies fällt. In seinem Beitrag für den Abschlussbericht des EU-Projekts »Developing Education at Memorial Sites« hat der langjährige Geschäftsführer der »Aktion Sühnezeichen«, Christian Staffa, dazu angemerkt: »Mauthausen is a focal point for Austrian memorial politics. Because in Austria there is no consensus and also no general discussion in society about what Mauthausen meant, means and will mean for this country, the guides carry the whole national burden on their shoulders, just as the educational team does in other ways. As representatives, the educational team takes over all aspects of the debate neglected by society.« 50

Christian Staffa analysiert in diesen Zeilen eigentlich die anfänglichen Kommunikationsprobleme zwischen Projektteilnehmenden, Vermittler/-innen, pädagogischem Team und externen Expert/-innen. Doch die skizzierte Problematik gilt wohl genauso für die Gesamtheit der 49

Siehe dazu das Interview »Mauthausen: Experte fordert Beirat« mit dem wissenschaftlichen Leiter der Neugestaltung, Bertrand Perz, im Ö1-Morgenjournal II vom 30.05.2014 unter: http://oe1.orf.at/artikel/376636 vom 13.02.2015. 50 Staffa, Christian: »On Articulation and Competency in One’s Own Culture as well as between Cultures in Memory Politics and Educational Works«, in: I. Brachmann/Y. Lapid/W. Schmutz, The Challenges of Interaction, S. 47 f.

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wissenschaftlichen Akteur/-innen in der Erinnerungsarbeit als auch für die Studierenden, die sich im Rahmen des Projekts »Erinnerungsorte in Bewegung« mit Gestaltungsoptionen für den Außenbereich auseinandergesetzt haben. Eine der studentischen Projektgruppen, »Das Kollektiv«, begegnete unter dem Titel »Vierzig Morgen« den Komplikationen an der Gedenkstätte Mauthausen mit einer luziden (De-)Montage.51 Deren Elemente sind: ein sich finanziell nicht mehr länger für die Gedenkstätte verantwortlich fühlender Staat; die großzügige Spende eines anonymen Privatiers, des »reichsten Mannes Europas«, die die Um- und Neugestaltungen ermöglicht; ein mit großem technischen Aufwand vor dem Verfall geretteter Gedenkort Mauthausen, dessen Bauten für alle Zeiten hinter Glas konserviert werden sowie die urbar gemachten Zwischenräume, auf denen Getreide angebaut und geerntet wird.52 Mit der Neuformatierung des Gedenkortes geht in »Vierzig Morgen« eine Auslagerung des Lernorts in ein Haus der »Gesellschaft für ein gesellschaftskritisches Bewusstsein« in Linz einher. Dort finden sich die Besucher/-innen durch eine selbsterklärende Wegführung mühelos zurecht. All dies lässt keine Zweifel aufkommen: Die Fiktion steckt voller möglicher Realitäten, voller Anspielungen auf reale Herausforderungen und Hürden bei der Gestaltung der Gedenkstätte Mauthausen. Die Fiktion wird zudem mit subtilen Andeutungen auf Mentalitäten und Milieus in der österreichischen Erinnerungslandschaft angereichert. »Das Kollektiv« hält in seiner Projektbeschreibung fest: »The inability to permit unexpected approaches to those sites leads to simplification and a drastic reduction of their spatial and social possibilities.«53 Daraus könnte man ableiten, dass, so man an der Funktion von Gedenkstätten als gesellschaftliche Lernorte festhalten will, es einer zivilgesellschaftlichen Öffnung und einer offenen Verhandlung der Zugänge zum Ort bedarf. Aus 51

Siehe die Projektmaterialien unter http://cargocollective.com/vierzigmorgen vom 16.02.2015. 52 Der landschaftsgestalterische Eingriff ähnelt (gewollt?) dem 1956 tatsächlich gemachten Vorschlag einer rechtsgerichteten Umweltschutzorganisation, die Gedenkstätte mit einem 20 Hektar umfassenden Waldgürtel zu umgeben. Siehe dazu B. Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, S. 134. Mit dem Getreideanbau greift man aber auch lokale Erinnerungserzählungen auf. In diesen wird bis heute als »Verlust« angeführt, dass das Lager im Sommer 1938 auf kurz vor der Ernte stehenden Getreidefeldern errichtet wurde. 53 Das Kollektiv: http://cargocollective.com/vierzigmorgen/About vom 16.02.2015.

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pädagogischem Blickwinkel und anhand der in der Gedenkstätte Mauthausen gemachten Erfahrungen mit gesellschaftlichen Narrativen ist zu addieren, dass eine solche Öffnung und Verhandlung nach wie vor gängige Tabus, wie Täter/-innenschaft und gesellschaftliche Verantwortung für die Verbrechen, miteinbeziehen muss. Eine selbstkritische Wahrnehmung jener Implikationen, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen, 54 harrt noch immer einer breiten Auseinandersetzung. Die von oben verordneten Haltungen und Geschichtsdeutungen sind jedenfalls nachweislich gescheitert, zum einen aufgrund des damit einhergehenden, heuchlerischen politischen Gestus, zum anderen hinsichtlich des Wunsches, dass sich aus verordneter Moral konkrete ethische Handlungsmodelle für die »Lernenden« ableiten ließen. Für die pädagogische Arbeit an der Gedenkstätte hat dies der Sozialpsychologe Christian Gudehus so formuliert: »The solution is obvious and has often been formulated: Free memorial sites from the also self-imposed burden of bettering the world through narratives about wrong-doing. […] From this perspective, an educational assignment should be established to ascertain under which circumstances the concentration camp system, including the society which produced it, functioned and what caused people to take part in it. The focus should be on actions, dynamics, and relationships. […] Not every visitor is able to deal adequately with the complexity. My conclusion is that this can be met with an even greater radicalness and readiness to experiment.«55

Dass die Radikalität solcher Experimente im Rahmen der Verwaltung und Gestaltungshoheit einer staatlichen Repräsentanz, sei es ein Ministerium oder eine ausgelagerte Bundesgesellschaft, extrem limitiert ist, liegt auf der Hand. Umso mehr, als die Liste der Verfehlungen lang ist und nach über 65 Jahren ministeriellen und beamteten Zugriffs auf die Gedenkstätte Mauthausen eine mehr als nur zwiespältige Bilanz zu ziehen ist. Bevor aber über eine adäquate Organisationsform nachgedacht 54

Zum Trauma-Aspekt in Nachfolgegesellschaften von Täter/-innen siehe z.B. Müller-Hohagen, Jürgen: Geschichte in uns. Psychogramme aus dem Alltag, München 2014 sowie vergleichend zum Täter- und Opfertrauma Kellermann, Nathan: Holocaust Trauma. Psychological Effects and Treatment, New York 2009. 55 Gudehus, Christian: »O.T.«, in: I. Brachmann/Y. Lapid/W. Schmutz, The Challenges of Interaction, S. 68 f.

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werden kann und darüber, wie man diese einer direkten und indirekten Einflussnahme des (tages-)politischen Geschäfts nachhaltig entziehen kann, sollten – endlich auch außerhalb der pädagogischen Arbeitsbereiche – Aufgaben, Inhalte, Herangehensweisen und zuvorderst der Ballast der eigenen Rucksäcke ausführlich verhandelt werden. Damit würde die Gedenkstätte Mauthausen als Konfliktzone unterschiedlicher Narrative transparent werden und die auf problematische Weise und problematischerweise angestrebte Hegemonie von erzählter Geschichte aufgebrochen. Diese Herausforderung bedeutet für die Gedenkstätte zweifelsohne, sich auf ein konfliktreiches und kaum vertrautes Terrain zu bewegen. Als Kompass im unwegsamen Gelände könnte jedenfalls dienen, dass diese Anstrengung bis dato aus unredlichen, moralisch fragwürdigen, oft zynischen Gründen vermieden wurde. Es bleibt also allemal kompliziert bzw. für Österreich formuliert: Es könnte erst richtig kompliziert werden.

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Film Bloomstein, Rex (Regie): KZ – Willkommen in Mauthausen!, GB 2006.

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Autor/-innen

Daniela Allmeier studierte Architektur an der TU Wien, der TU Graz und der University of Shenzhen in China. Seit 2013 ist sie als Universitätsassistentin im Fachbereich Örtliche Raumplanung der TU Wien tätig. Neben der Mitarbeit in unterschiedlichen Forschungsprojekten bezieht sich ihr Lehrschwerpunkt auf die Erarbeitung stadträumlicher Entwicklungskonzepte sowie das städtebauliche Entwerfen. Seit 2014 führt sie gemeinsam mit Rudolf Scheuvens und René Ziegler das Wiener Büro »Raumposition«, das unterschiedliche Projekte aus der strategischen Stadt- und Raumentwicklung bearbeitet. Neben der Erstellung von räumlichen Entwicklungskonzepten und -strategien unterschiedlicher Maßstäbe zählen dazu ebenso die Gestaltung von Planungsverfahren sowie die Empfehlung von Steuerungsinstrumentarien. Brigitta Busch forscht und lehrt am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. 2009 wurde ihr eine Berta-Karlik-Professur zur Förderung von exzellenten Wissenschaftlerinnen verliehen. Seit vielen Jahren arbeitet sie auch als Expertin für den Europarat, zuerst im Bereich vertrauensbildender Maßnahmen in Ost- und Südosteuropa, derzeit im Bereich Minderheiten- und Sprachenrechte. Sie ist Autorin und Mithe­ rausgeberin zahlreicher Bücher, zuletzt »Mehrsprachigkeit« (Wien 2013) sowie gemeinsam mit Lucijan Busch und Karen Press: »Interviews with Neville Alexander. The Power of Languages against the Language of Power« (Scottesville 2014). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Angewandte Sprachwissenschaft, Mehrsprachigkeitsforschung, Entwicklung eines multimodalen biografischen Zugangs in der Sprachwissenschaft. www.heteroglossia.net Chto Delat? (dt.: Was tun?) ist ein russisches Künstler/-innenkollektiv, das sich als Plattform unterschiedlichster Disziplinen, wie bildender Kunst, Literatur, Soziologie, Musik, Philosophie, Choreografie und Kunstkritik, versteht. Es wurde 2003 von einer Arbeitsgruppe aus Künstler/-innen, Kritiker/-innen, Philosoph/-innen und Autor/-innen aus St. Petersburg, Moskau und Nizhny Novgorod mit dem Ziel gegründet, Politische Theorie,

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Erinnerungsorte in Bewegung

Kunst und Aktivismus zusammenzuführen. Die künstlerischen Aktivitäten werden von Tsaplya Olga Egorova (Künstlerin, Petersburg), Nikolay Oleynikov (Künstler, Moskau), Gluklya Natalia Pershina (Künstlerin, Petersburg) und Dmitry Vilensky (Künstler, Petersburg) orchestriert. Christian Dürr, Dr. phil, studierte Philosophie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Seit 2006 ist er Leiter des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und Mitherausgeber der Schriftenreihe »Mauthausen-Studien«. Als Mitglied der Arbeitsgruppe war er maßgeblich an der Erarbeitung eines Rahmenkonzepts für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte beteiligt. Er ist Kurator der historischen Dauerausstellungen in den Gedenkstätten Mauthausen und Gusen. A.W. Faust studierte Landschaftsarchitektur in Berlin und gründete 2006 das Büro sinai. Er und seine Gründungspartner Klaus Schroll und Bernhard Schwarz widmen sich sehr unterschiedlichen Schwerpunkten in der Landschaftsarchitektur. Diese sich ergänzenden Ausrichtungen, vom Entwurf über Ausführungsplanung bis zur Steuerung von Projektprozessen, werden in den Qualitätsstandards des Büros zusammengeführt. sinai wurde bekannt mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen, erzielte internationale Aufmerksamkeit mit der Gedenkstätte Berliner Mauer und dem Hafenpark in Frankfurt am Main. Neben den Landesgartenschauen in Aschersleben (2010), Schmalkalden (2015) und Bad Lippspringe (2017) plant sinai ebenfalls die Bundesgartenschau Heilbronn 2019. Eiko Grimberg ist Künstler und lebt in Berlin. Zuletzt erschienen die Publikationen »Future History« (Baden/CH 2013) und »Rückschaufehler« (Braunschweig 2013). Darin beschäftigt er sich mit der Architektur des italienischen Faschismus und dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. In der Zeitschrift Camera Austria veröffentlichte Eiko Grimberg 2015 gemeinsam mit Clemens von Wedemeyer und Marco Poloni den Essay »The Shell« zu Michelangelo Antonionis archaisch-futuristischem Wohnhaus auf Sardinien. Brigitte Halbmayr, promovierte Politologin und Soziologin, ist seit 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Konfliktforschung in Wien mit den Forschungsschwerpunkten Rassismus, Integration, Genderstudies,

Autor/-innen

Nationalsozialismus und Holocaust. Von 2005 – 2013 war sie Obfrau der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen, seit 2014 ist sie Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats zur Neugestaltung der österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Halbmayr ist Käthe-Leichter-Preisträgerin 2011 und hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, darunter »Zeitlebens konsequent. Hermann Langbein 1912 – 1996« (Wien 2012), zuletzt gemeinsam mit Heribert Bastel (Hg.): »Mauthausen im Unterricht. Ein Gedenkstättenbesuch und seine vielfältigen Herausforderungen« (Wien 2014). Das Kollektiv ist eine Gruppe von Architektur- und Raumplanungs­ studierenden an der TU Wien, die sich im Herbst 2013 gebildet hat. www.cargocollective.com/vierzigmorgen. Inge Manka ist Architektin und Kulturwissenschaftlerin. Sie forscht zu Architekturen und Räumen kollektiven Erinnerns, insbesondere zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Sie hat dazu international im Kunstbereich wie auch im akademischen Feld publiziert. Siehe zuletzt: »Unsere Tribüne« – Plädoyer für eine Repolitisierung des kollektiven Erinnerns am und zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände« (http://www.baulust.de/projekte/reichsparteitagsgelaende/unsere-tribu ene/). Sie lehrt am Institut für Kunst und Gestaltung 1 an der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien. Weitere Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Kunst und öffentlicher Raum, Urbanismus sowie Architektur und Politik. Suzana Milevska ist Kuratorin und Theoretikerin im Bereich von Kunst und visueller Kultur. Von 2013 bis 2015 war sie die erste Stiftungsprofessorin für Zentral- und Südosteuropäische Kunstgeschichte an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Forschungs- und kuratorischen Interessen umfassen u.a. postkoloniale Kritik hegemonischer Macht in der Kunst, die komplexen Beziehungen zwischen Gendertheorie und Feminismus in Kunstpraktiken sowie sozial engagierte und partizipatorische Projekte. Seit 1992 kuratierte sie über 70 internationale Ausstellungen, mit Fokus auf neue kuratorische Formate und Modelle zur Präsentation kritischer kuratorischer Diskurse sowie auf sozial und politisch engagierte Kunstpraktiken. 2012 erhielt sie den Igor Zabel Award for Culture and Theory der ERSTE Stiftung.

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Erinnerungsorte in Bewegung

Peter Mörtenböck lehrt als Professor für Visuelle Kultur an der TU Wien und am Goldsmiths College der University of London. Seine aktuelle Forschung beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Gegenwartskultur und globaler Ökonomie sowie mit Formen der Beteiligung in geopolitischen und urbanen Prozessen. Er ist Mitinitiator und Kurator einer Reihe internationaler Ausstellungsprojekte wie »World of Matter« (New York, Montreal u.a. 2014 – 2016), »Informal Market Worlds« (Shanghai, San Diego u.a. 2012 – 2015) und »Networked Cultures« (London, Moskau u.a. 2008 – 2009). Mörtenböck hat gemeinsam mit Helge Mooshammer zahlreiche Bücher zu Architektur, Raumpolitik und zeitgenössischer Kunst verfasst, zuletzt u.a. »Visual Cultures as Opportunity« (Berlin 2016), »Informal Market Worlds: The Architecture of Economic Pressure« (Rotterdam 2015) und »Occupy: Räume des Protests« (Bielefeld 2012). www.thinkarchitecture.net Bertrand Perz, Dr. phil, ist Assoziierter Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte. Er ist u.a. Vorstandsmitglied des Vereins »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands«, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Vereins Schloss Hartheim sowie Vorstandsmitglied des Vereins Wiener Wiesenthal Institut. Er war von 1998 bis 2003 Mitglied der Historikerkommission der Republik Österreich. 2006 erschien seine umfassende Studie zur Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen von 1945 bis zur Gegenwart. Perz war wissenschaftlicher Leiter der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen im Auftrag des Bundesministeriums für Inneres. Irit Rogoff ist Kunsthistorikerin, Autorin, Kuratorin und Professorin der Visuellen Kultur am Department of Visual Cultures des Gold­ smiths College in London. Dort leitet sie auch das Masterprogramm Global Arts, das Ph.D-Programm Curatorial/Knowledge sowie das neue Geo-Cultures Research Center. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den Verbindungen von kritischer Theorie und zeitgenössischer Kunst, insbesondere in Hinblick auf Geografie, Lokalisierung, Performativität und kulturelle Differenzen. Sie ist Autorin von »Terra Infirma – Geography’s Visual Culture« (2000) und, gemeinsam mit Gavin Butt, von »Visual Cultures as Seriousness« (2013) sowie Mitbegründerin von freethought, einer losen internationalen Plattform für Zusammenarbeit

Autor/-innen

in Forschung, Pädagogik und Produktion. Ihre zahlreichen Texte sind in Zeitschriften, wie dem Art Journal, e-flux journal und Third Text, erschienen. Rudolf Scheuvens ist Professor für Örtliche Raumplanung und Stadtentwicklung und Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien. Gemeinsam mit Kunibert Wachten leitet er seit 1994 das Büro »scheuvens + wachten«, ein Planungsbüro, welches sich überwiegend mit Fragen des Städtebaus, der Stadt- und Regionalentwicklung und der Steuerung und Moderation komplexer Planungs- und Entwicklungsprozesse befasst. Von 2001 bis 2007 war er als Professor für Städtebau und Baugeschichte an der FH Hannover tätig, anschließend als Professor für Städtebau an der FH Oldenburg. 2007 erfolgte die Berufung in die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL). Gemeinsam mit Daniela Allmeier und René Ziegler leitet er seit 2014 das Büro »Raumposition« für Stadt- und Raumentwicklung in Wien. Wolfgang Schmutz studierte Deutsche Philologie und Angewandte Kulturwissenschaften in Graz und Bologna. Seit 2009 ist er lokaler Rechercheur und Produktionsassistent für Filmprojekte zum Holocaust (»Six Million and One«, »Ha'Bricha 3G«). Von 2011 bis 2014 war er Mitglied des pädagogischen Teams an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, zuletzt in der Position des Co-Leiters der Pädagogik. Derzeit ist er an der Salzburger Zweigstelle der University of Redlands (USA) als Vortragender zum Thema »Austria in Europe – History, Identity and Remembrance« tätig. Sein Interesse gilt historischen, erinnerten und gegenwärtigen gesellschaftlichen Erzählmustern, die er auch in pädagogischen Angeboten aufgreift, zuvorderst an historischen Schauplätzen, die außerhalb formatierter Gedenkstätten liegen. Ulrich Schwarz ist Partner des interdisziplinären Büros BERTRON SCHWARZ FREY für Visuelle Kommunikation, Museografie und Ausstellungsgestaltung. Seit 2000 ist er Professor für Grundlagen des Entwerfens im Studiengang Visuelle Kommunikation an der Universität der Künste Berlin. Schwarz ist als Autor durch diverse Publikationen, u.a. »designing exhibitions« (Basel 2012), »Projektfeld Ausstellung« (Basel 2012) sowie mit Beiträgen in »Information Graphics« (Köln 2012) und dem »Information Design Source Book« (Basel 2005) vertreten. 2010

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gestaltete er einen Teil der Dauerausstellung »was bleibt« in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Cornelia Siebeck, Historikerin, forscht, schreibt und lehrt an der Ruhr-Universität Bochum und der HU Berlin zu gedächtniskulturellen und -politischen Themen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Repräsentation von Vergangenheit im öffentlichen Raum. Aktuelle Veröffentlichungen: »50 Jahre ‚arbeitende‘ NS-Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption – und wie weiter?«, in: Elke Gryglewski u.a. (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen (Berlin 2015) sowie »‚… und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung‘. Postnationalsozialistische Identitäts- und Gedenkstättendiskurse in der Bundesrepublik vor und nach 1990«, in: Gedenkstätten und Geschichtspolitik. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 16 (Bremen 2015). Jörg Skriebeleit ist Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Er schrieb zur Geschichte des Lagers und leitete eine grundlegende Neukonzeption der Gedenkstätte ein. Gemeinsam mit Bernhard Purin (Jüdisches Museum München) ist er hauptverantwortlich für die Entwicklung eines Rahmenkonzeptes für den »Gedenk- und Erinnerungsort Olympia-Attentat«. Er ist Kurator mehrerer zeithistorischer Ausstellungen (die Ausstellung »was bleibt – Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg« ist gegenwärtig für den Europäischen Museumspreis 2014/EMYA nominiert) und Berater verschiedener Memorial- und Museumsprojekte (u.a. Denkmal für die ermordeten Juden Europas, KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Richard-Wagner-Museum Bayreuth). Nora Sternfeld ist Professorin für Curating and Mediating Art an der Aalto University in Helsinki. Sie ist Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des Wiener Büros trafo.K, das an Forschungs- und Vermittlungsprojekten an der Schnittstelle von Bildung, Kunst und kritischer Wissensproduktion arbeitet. Weiters ist sie im Leitungsteam des /ecm – educating/ curating/managing-Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien sowie im Kernteam des Netzwerks »schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis«. Sie ist Autorin und (Mit-)Herausgeberin zahlreicher Bücher, darunter: »Kontaktzonen

Autor/-innen

der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft« (Wien 2013) und »educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung« (Wien 2012) gemeinsam mit schnittpunkt und Beatrice Jaschke. Struber_Gruber sind der Architekt Klaus Gruber und die bildende Künstlerin Katharina Struber. Seit 2012 entstehen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit raumprägenden gesellschaftlichen, historischen und politischen Aspekten permanente architekturbezogene Arbeiten. Oft beziehen sie Protagonist/-innen dieser Räume durch eine partizipative Herangehensweise in die Entstehung der Projekte ein. Gruber studierte Architektur in Wien und Barcelona und war im Rahmen seiner selbstständigen Tätigkeit in Barcelona 13 Jahre hauptsächlich im Wohnbau aktiv, seit 2012 liegt sein Arbeitsschwerpunkt in Wien. Struber studierte an der Kunstuniversität Linz und der Akademie für bildende Künste Düsseldorf. Sie lebt und arbeitet in Wien. Seit 2003 widmet sie sich in großformatigen fotografischen Tableaux der Abbildung von Menschengruppen. Neben zahlreichen permanenten Realisierungen im öffentlichen Raum wurden ihre Arbeiten unter anderem im Rupertinum – Museum der Moderne in Salzburg, Artspace Sydney Australien, Sofia Artgalerie Bulgarien und im Kaohsiung Museum of Fine Art Taiwan gezeigt. Claudia Theune ist seit 2007 Professorin an der Universität Wien mit einem Schwerpunkt in der Mittelalter- und Neuzeitarchäologie (einschließlich zeitgeschichtlicher Archäologie). Innerhalb dieser Epochen erforscht sie Fragen zur Alltagsgeschichte, zur Erinnerungskultur, zu Identitäten, zu Kontinuitäten und Strukturveränderungen, zu Zentralorten und ländlicher Peripherie bzw. zu Produktion und Austausch von Objekten des Alltags. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit der letzten Jahre liegt in der archäologischen Untersuchung ehemaliger Konzentrationslager in Österreich und Deutschland. Clemens von Wedemeyer, Künstler und Filmemacher, studierte Fotografie und Medien in Bielefeld und Bildende Kunst in Leipzig. Seit 2013 ist er Professor für Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Er produziert u.a. mehrkanalige Videoinstallationen zu verschiedenen, insbesondere ortsspezifischen Themen. Mit dieser Praxis bewegt sich von Wedemeyer zwischen den Feldern Kunst und Kino, mit

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Filmen, die stark konzeptuelle Formen aufweisen. Wiederkehrende Themen sind Gruppendynamiken, Machtverhältnisse und historische Ebenen, die den Alltag prägen. Ausstellungen und Vorführungen u.a. 2015 im Filmmuseum Wien, 2014 im Braunschweiger Kunstverein, 2013 im Forum Expanded der Berlinale, im MAXXI (Museo nazionale delle arti del XXI secolo) in Rom, 2012 auf der dOCUMENTA(13) in Kassel und 2008 bei Revolutions – forms that turn auf der Sydney Biennale.

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Index

Abriss 39, 41, 46, 66, 320 Total- 41, 43

Abrissbewilligung 160 Abstraktion 241, 243, 283–284 Adorno, Theodor W. 84, 242–243, 245–246, 286 Agamben, Giorgio 10, 21, 237, 252 Agonismus 93 Algerien 91 Alltag 11, 71, 136, 317, 327, 330 Alltagsgegenstände 8 Alltagsgeschehen 137 Alltagsleben 328, 331 Alltagsnutzungen 55 Alltagsraum 71 Améry, Jean 186, 245–246 Andenken 194, 253 würdiges A. 175 Aneignung 92 aktive A. 59, 318 kollektiv-diskursive A. 300 kollektive A. 24 partizipative A. 293 Wieder- 300 Wissens- 140–141 Antifaschismus 337 »Antifaschistische Aktion« 26, 338 Antiromaismus 239 Antisemitismus 94, 148, 239, 250–251 Archäologie 20, 88, 92, 204 Architektur 8, 11, 22, 85, 135 Fn. 9, 162, 259 Gedächtnis- 58 Landschafts- 55 Fn. 1, 56, 59–60, 63 Symbol- 58, 75 Überwältigungs- 60

Arendt, Hannah 84, 184, 247, 251 Assmann, Aleida 154 Ästhetik 8, 240, 245 formalistische Ä. 238 Gedenkstätten- 60 Gesamt- 114 Gestaltungs- 290 Landschafts- und Grab- 112 Asylpolitik 352 Asylsuchende 34 Atmosphäre 48, 272 Fn. 7 Audioguide 182, 193 Audioguide-Text 192–193 »Audioweg Gusen« 327 Aufarbeitung 18, 20, 75, 150, 291, 317, 330 Aufklärung 244, 275, 303, 329 Aufklärungsarbeit 162 Aufschrift 26, 182, 188–189, 195–196, 209, 338 Aura 58, 157 Auschwitz 84 Fn. 16, 242, 245–246 Ausgrabung 204, 206–207, 209–210, 214 Aushandlung 87, 89, 92, 94 Aushandlungsprozess 39, 50, 90, 93, 274, 279, 292, 300 Außenbereich 8, 16, 20, 202, 358–359 Außengelände 122 Ausstellung 17, 33, 49, 64–65, 68, 71, 118, 127–131, 133, 136, 139–141, 154, 205, 211–212, 214, 220, 250–251, 287, 357–358 Dauer- 17, 118, 136 Fn. 10, 137 Fn. 12, 154, 161, 357 historische A. 17, 49

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Ausstellungsgebäude 119 Ausstellungsgegenstand 67, 71 Ausstellungsgelände 24 Ausstellungsgestaltung 127–128, 135, 137 Ausstellungskonzept 357 Ausstellungsnarrativ 154 Authentizität 112, 152, 189, 228

Bachtin, Michail M.

182 Baltische Staaten 91 Bausubstanz 108 Bedeutung 41, 44, 50, 52, 75, 81, 118, 127, 132, 152, 170, 188–191, 240, 247, 250, 262–263, 270–271, 278, 297, 336, 345 soziopolitische B. 279 symbolische B. 41, 202 Bedeutungskraft 146 Bedeutungszusammenhang 12 Bedeutungszuschreibungen 296 Befreiung 47, 50, 60, 77, 92, 103, 118, 137, 147, 158, 189–190, 194–196, 202, 209, 211–214, 219, 226, 239, 336, 344 Befreiungsfeiern 156, 161 Fn. 42 Belehrung 48 Belehrungsinstitutionen 288 Bennett, Tony 287 Bergen-Belsen 60, 63, 71, 73, 245 Berlin 57, 59, 65–66, 74, 338, 340. Siehe auch Gedenkstätte Berliner Mauer (Bernauer Straße) Beschilderung 8, 281 Schichten der 33 Beschriftung 111, 182, 188–189, 193–194, 196, 281, 284, 285 Fn. 50 Beschriftungssystem 20, 182, 192, 196 Beschriftungstafel 50 Besucherführung 288 Besucher/-innen-Leitsystem 358

Besucherordnung 115, 288 Beteiligung 23, 56, 168, 316, 318, 322, 344 Fn. 10, 350 Fn. 29 Bürger/-innen- 318 lokale B. 238 politische B. 318 Beteiligungsprojekt 25, 322 Beweis 211, 229, 253 Fn. 39, 297 Beweismittel 58 Bewuchs 116 Gras- 211 Grün- 121 Bewuchsmerkmale 202 Bewusstsein 58, 159 Fn. 40, 172, 272, 294, 303, 319, 326, 359 Bewusstseinsproduktion 271–272, 304 Bezug 78, 82, 87, 114, 138, 140, 155, 161, 171, 196, 216, 287, 303, 315, 332, 343, 355 emotionaler B. 133 familiärer B. 316 Geschichts- 15, 90, 93 Kontext- 130 postkolonialer B. 78 Raum- 110 Raum-Zeit-B. 135 sozialer B. 170 thematische B. 139 Vergangenheits- 281 Bezugnahme 89, 272 Fn. 7, 278 Bezugsangebot 78 »Bezuglosigkeit« 155 Bezugspunkt 317, 330 Bezugsrahmen 80 Fn. 6, 86 Bildung 280 historische B. 84, 289 politische B. 215 Bildungsarbeit 280 historisch-politische B. 293 Bildungsprozesse 280, 292 Bildungs- und Vermittlungsarbeit 32 Böse, das 115, 240–247

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»Banalität des Bösen« 247 Breitenau 21, 23, 219, 222, 231, 249 Buchenwald. Siehe KZ Buchenwald; KZ-Gedenkstätte Buchenwald Bundesdenkmalamt (BDA) 159, 161, 320, 327 Bundesministerium für Inneres 7–8, 31, 35, 49, 154, 351 Bundesrepublik (Deutschland) 24, 135, 194, 273, 275, 277, 286–287, 289, 292–293 Bürger/-innenbeteiligung 318 Bürger/-inneninitiativen 276 Bürger/-innenräte 322 Bürger/-innen- und Betroffenenversammlungen 68 Burke, Edmund 244 Butler, Judith 185

Chronologie 130 Chronotopos 192 Clifford, James 82 Clisson, Maurice 101 Copleston, Frederick 248 Darstellung 13, 17, 23, 32, 39, 133, 138–141, 344 Fn. 10,

347 figurative D. 241 Geschichts- 148 Selbst- 147, 344–345, 351 Darstellungsform 140 DDR 66, 69, 72, 156, 273–275, 282 Fn. 43, 297 DDR-Diktatur 75 DDR-Vergangenheit 275 Definitionsmachtverhältnisse 280 Denkmal 14, 18, 22, 26, 33, 38, 42, 46, 52, 58, 67, 75, 84, 103, 146, 150, 152–154, 156, 158, 160, 163, 195,

237, 239–242, 249, 262, 270, 273, 328, 330, 348 Anti- 249 antifaschistisches D. 239 Authentizität des D. 112 Bau- 69 figuratives D. 242 Gegen- 22, 26, 242, 249 Helden- 26, 336 Krieger- 153 Kultur- 44 nachträgliches D. 39, 45–46 nationales D. 52, 66 ungegenständliches D. 242 »Denkmal der ermordeten Juden Europas«, Berlin 58 Denkmalensemble 120 »Denkmal für die Opfer des Mauerbaus und der deutschen Teilung«, Berlin 66 Denkmalkomitee (Flossenbürg) 104, 106–107, 110–111 Denkmalpark (Mauthausen) 156, 195, 200, 348 Fn. 27 Denkmalsanlage 104, 107 Denkmalscharakter 102 Denkmalschutz 39 Denkmalskonzeption 115 Denkmalstatus 70 Denkmalswert 102 Depolitisierung der Holocausterinnerung 81 Derrida, Jacques 189–190, 241, 246, 296 Design 123 Gedenkstätten-D. 138 Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DESt) 40 Deutschland (Bundesrepublik) 24, 57, 75, 86, 91, 135, 194, 231, 238, 252, 273, 286, 289, 344, 350 Deutschland (vor 1945) 215, 250, 274, 343 Fn. 10



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Hitler- 147 Deutung 15, 82, 86, 88, 102, 286, 296, 298, 358 gegenwartsrelevante D. 87 Geschichts- 360 hegemoniale D. 94 offizielle D. 77, 88 universell-religiöse D. 111 Deutungsästhetik 110 Deutungshoheit 87, 279 institutionalisierte D. 279 Deutungsmacht 78, 87, 272, 281, 293 monoperspektivische D. 87 nationale D. 78 Deutungsmuster 345, 355 Deutungs- und Definitionsmacht 269–270, 281, 297 Diner, Dan 79, 84, 88, 90–93, 270 »The Disobedient« (Iveković) 23, 249–250 Dissens 303 Distel, Barbara 286 documenta 13 (Kassel) 23, 219, 249–250 Dokumentation 71, 85, 132, 183, 206 rationale D. 132 Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) 346 Fn. 15, 347 Dokumentationszentrum 63–64, 66, 135, 136 Fn. 10, 137 Fn. 12

Eisenman, Peter 242 Emotion 105, 139, 323 Empathie 132–133, 139 Enteignung 149, 238, 251 Entnazifizierung 153 Fn. 26 Entnazifizierungsmaßnahmen 149 Entpolitisierung 81 Erbe 14, 170, 322, 329, 352 moralisches E. 349 Erfahrung 20, 26, 37, 63, 80, 82, 90,

102, 104, 127–128, 133, 215, 231, 241, 246, 259, 300, 317, 320, 326–328, 340, 352, 360 ästhetische E. 245 Fn. 19 historische E. 58 traumatische E. 26, 241 Verlust- 22 Erfahrungsgedächtnis 316 Erfahrungsgeneration 316 Erhabene, das 238, 240–241, 243–244, 246–248 Erhabenheitsgeste 85 Erhalt 25, 42, 44, 46, 50, 63, 274 Fn. 15, 282, 320, 348 Erhaltung 39, 41, 47, 70, 153, 161 Fn. 42, 297 Erhaltungskosten 39, 41, 151, 348 Erhaltungswürdigkeit 159 Erhaltungszustand 201 Erinnern 8, 10–12, 15–16, 18–20, 56, 67, 141, 167–168, 170, 172, 174, 181, 196, 199, 204, 216, 315, 317–318, 331, 338 gemeinsames E. 172–173, 175 Gestaltung des E. 15 kollektives E. 11, 18, 78 nationales E. 355 Orte des E. 10, 14, 27 selektives E. 140 würdiges E. 63 Erinnerung 8–9, 15, 17–18, 25–27, 39, 41, 43, 55–58, 66–67, 69, 71, 73, 75, 77–81, 83, 87–89, 92–93, 111, 133, 137, 139, 150, 152, 155, 157 Fn. 37, 161, 170, 172, 174, 182, 194, 220, 238, 253, 262–263, 275, 277 Fn. 29, 278, 283, 289, 292, 316–317, 331, 340 aktive E. 171 errungene E. 15, 92–93, 348 falsche E. 21, 237

Index

gebaute E. 55, 76 Kampf um (die) E. 78, 88, 349, 351 kollektive E. 80 Fn. 6, 86, 154 negative E. 84 öffentliche E. 80, 253 Orte der E. 7–8, 12, 15, 19, 25, 86, 199, 321 persönliche E. 80–81, 189, 194–195 positive E. 329–330 Sprache der E. 187 Stadt- 67 tabuisierte E. 318 Transnationalisierung der E. 87 verfälschte E. 237, 253 widersprüchliche E. 79, 82 Erinnerungsarbeit 8, 82, 89, 359 Erinnerungsbegriff 80 Erinnerungsdiskurs 82, 86–87, 89–90, 196 nationaler E. 91 Erinnerungsform 78 offizielle E. 77 Erinnerungsgemeinschaft 78 homogene E. 86 nationale E. 86 Erinnerungskollektiv 92, 94 nationales E. 82 Erinnerungskonkurrenz 88–89 Erinnerungskontext 78 Erinnerungskultur 7, 9, 17, 26, 40, 55, 83, 141, 318, 332 demokratische E. 24, 273, 275, 278, 281, 295, 298–299 gebaute E. 60 im urbanen Raum 336 reflexive E. 331 zivilgesellschaftliche E. 24, 292 Erinnerungslandschaft 59, 69, 76, 359 traumatische E. 162 Erinnerungsmotiv 66

Erinnerungsnarrativ 88, 161 Fn. 43 Erinnerungsort 9, 11–13, 17, 56–57, 65, 77, 80, 82, 118–119, 122, 134–135, 141, 157, 216, 349, 359 Gestaltung von Erinnerungsorten 8, 10, 20, 27, 122, 181 geteilter E. 94 kollektiver E. 14 mehrschichtiger E. 102 überformter E. 117 Erinnerungspolitik 347 Erinnerungsraum 71, 79, 105–106, 169, 171–172 Erinnerungsstätte 127, 130 Erinnerungsstein 113, 174, 196 Erkenntnis 16, 27, 67, 75, 102, 130, 132, 136, 139–141, 204, 213–215 Erkenntnisinstrument 137 Erkenntnisinteresse 60 Erkenntnis-Mehrwert 136 Erkenntnisproduktion 22 Erklärung 20, 128, 135, 147, 165, 243, 355 rationale E. 133 schriftliche E. 20 wissenschaftliche Welt- 287 Erläuterung 48, 51, 140, 182, 204 historische E. 50 Erscheinungsbild 37, 47–48, 122, 211, 299 Erwartungshaltung 17, 122 Erzählung 9, 18, 23, 42, 146, 156, 161–162, 187, 282–283, 328, 346–347, 356 Fn. 42, 358 chronologische E. 134 (Gegen-) 23 Geschichts- 156, 158 Helden- 351 historische E. 58–59, 146, 161, 272

377

378

Erinnerungsorte in Bewegung

normative E. 273 Opfer- 347, 351, 353 Schreckens- 352–353 Widerstands- 350 »EXIT. Das Dachau-Projekt« (Gerz) 284–285 Expert/-innen-Hegemonie 273, 278 Expert/-innentum 24 Exponat 15, 52, 281, 287–288, 357 Groß- 288

Familie 25, 315

Familiengedächtnis 353 Familiengeschichte 318 Farbe 211, 260, 266 Farbgebung 138, 213 Farbschichten 212 Faschismus 194, 241, 245, 336 Figl, Leopold 38, 49, 345–346 Figl-Denkmal 351 Fiktion 21, 220, 359 Flossenbürg. Siehe KZ-Gedenkstätte F. Flüchtlingslager 34 Formenkanon 17, 138 Foucault, Michel 273, 287, 289 Franco, Francisco 33 Frankl, Viktor 184–185, 193 Freiraumgestaltung 120 Friedhof 109, 111–112, 114–116, 132, 196, 290 Ehren- 107, 109–110, 114, 117, 122 Soldaten- 112 Wald- 109 Friedhofsanlage 114, 141 Friedhofsgelände 70 Friedhofskonzept 112 Friedhofsruhe 113–114 Friedländer, Saul 353 Funktion 14, 23, 27, 47, 50, 52, 71, 77, 79, 86, 118, 146, 162–163, 196, 202, 211, 271, 285, 359

repräsentative F. 170 soziale F. 170 Funktionalisierung 278, 290 Fn. 67, 291 Fn. 71 Funktionserweiterung 52 Funktions- und Aufgabenbeschreibung 290 Funktionsweise 287, 357 Funktionszeit 201

Gaskammer

151, 157, 201, 206, 211, 213–214, 293, 352–354 Gebäude 32, 34, 42–43, 65, 114–115, 117–118, 135, 151, 158–159, 199–202, 205–206, 210–211, 214, 281, 287–288, 350, 357 Funktions- 42, 52, 200, 202 Lager- 159, 348 Gebäudeensemble 43 Gedächtnis 19, 65, 80–81, 90–91, 104, 168, 269, 275, 281, 316, 356 Erfahrungs- 316 »Gegenläufiges G.« 79, 88, 90 Holocaust-G. 88 kollektives G. 78, 80, 82, 146 kulturelles G. 25, 27, 316 öffentliches G. 238, 274–275 Orte des G. 79 subjektives 81 Verlust des historischen G. 249, 252 Gedächtnisarchitektur 58 Gedächtniskultur 278, 300 Gedächtnisort 152, 270–271, 279, 301 Gedächtnispolitik 24, 275, 336–337 Gedächtnisverlust 252 Gedenkdienstkomitee Gusen 161 Fn. 42 Gedenken 8–9, 15, 17, 20–21, 26, 31, 55–56, 59, 63, 66, 69–70, 102, 132–133, 155, 167, 170, 172, 181–182, 194–196, 201–202, 216, 240, 277, 281, 289,

Index

300–301, 317–319, 324–328, 331–332, 336, 348 emotionales G. 132 »Erweitertes G.« 325, 327–328 kollektives G. 181 materielles G. 170 offenes G. 301 öffentliches G. 238 Opfer- 25, 153, 289, 318 Orte des G. 16, 27, 132, 194, 301 Repräsentation des G. 241 ritualisiertes G. 317 Toten- 44, 169 würdiges G. 57, 281 Gedenkinitiative 317–318, 320, 330, 332 Gedenkkultur 9, 14, 59, 75, 269, 326, 328–329, 331 Gedenkort 8, 14, 18, 25, 55, 58, 140, 146, 151 Fn. 22, 154, 156, 160–161, 163, 167, 300, 350, 359 nationaler G. Mauthausen 153 Gedenkstätte 7–12, 14–18, 20, 22, 24–27, 38–39, 44–46, 48–49, 52, 56–57, 75, 77–79, 81–82, 84, 107, 138, 142, 171, 196, 199, 211, 215–216, 219, 229, 237, 239, 241–242, 249, 271, 273–276, 280, 283, 286, 290, 292–293, 299, 348, 352–353, 356, 359–361. Siehe auch KZ-Gedenkstätte »arbeitende« G. 141 Nationale Mahn- und G. (DDR) 274–275 (Neu)Gestaltung von 15, 17, 22, 57, 142 NS-G. 291 Gedenkstätte Berliner Mauer (Bernauer Straße) 57, 65, 69, 71, 137

Gedenkstättenarbeit 24, 84, 276, 291–292, 295, 298, 303 Gedenkstättenareal 39, 41 Gedenkstättenästhetik 60 Gedenkstättendiskurs 80, 84, 87, 293 Gedenkstättenensemble 122 Gedenkstättengelände 49, 60, 109, 295 Gedenkstättenkonzept 40 »Gedenkstättenkonzeption des Bundes« 276 Gedenkstättenlandschaft 83, 289, 292, 300 Gedenkstättenpädagogik 85, 280, 291 Fn. 74, 303, 355 Gedenkstättenpflege 114 Gedenkveranstaltung 327 Generation 75, 101, 182, 192, 291, 315–316, 328 Erfahrungs- 316 Folge- 56 generation of memory 318 Kriegs- 315 Generationenfrage 315 Generationenwechsel 317 Gerz, Jochen 242, 284–287 Geschichte 8–9, 16–18, 23, 25–27, 33, 38, 58–59, 72, 77, 79–90, 94, 104, 112, 118, 127, 129–131, 134–135, 137, 139–140, 145–146, 151, 153–155, 157, 159–161, 163, 182, 196–197, 199, 204, 214, 219, 228–231, 247, 253, 259, 266, 279, 287, 296, 300–301, 315–318, 320–321, 325–327, 326–327, 329, 337, 340, 348, 355, 357, 361 »Ende der Geschichte« 162 Kolonial- 90–91 Geschichtsarbeit 79, 82, 89, 91–94 transnationale G. 92 Geschichtsbild 80, 117

379

380

Erinnerungsorte in Bewegung

Geschichtsdeutung 360 Geschichtserzählung 156, 158 Geschichtsfälschung 46 Geschichtsschreibung 15, 78, 82, 228, 300, 345, 355 Geschichtsvermittlung 17, 59, 78, 80, 82–83, 86, 87 Fn. 23, 94, 168, 171–172 Gesellschaft 22, 27, 38, 46, 51, 71, 80–81, 148–150, 163, 200, 240, 251, 269, 273, 287, 300, 316, 318, 321, 329, 345, 348, 354, 356, 359 Gegenwarts- 155, 316 Nachfolge- 358 Nachkriegs- 148, 150 nationalsozialistische G. 354 neoliberale G. 251 postnazistische G. 269, 345 Täter/-innen- 155 Zivil- 277, 292–293 Gestaltung 8–11, 14–15, 19–20, 22–24, 27, 37, 49, 55, 57–58, 60, 62–63, 72–73, 75, 102, 110–111, 122, 142, 153, 168, 181, 193, 215, 271, 278, 282, 303, 357–359 Ausstellungs- 127–128, 135, 137 Freiraum- 120 Gelände- 62 Platz- 73 Gestaltungsform 117 offene G. 301 Gestaltungsgeschichte 290 Gestaltungsgrundsätze 110 Gestaltungshoheit 360 Gestaltungskonzept 131, 137 Gestaltungsmacht 269, 272 Gestaltungsoptionen 359 Gestaltungsprozess 9 Gestaltungswettbewerb 56 Gilroy, Paul 239

Globalisierung 88 Grab 106, 108, 111, 167, 169 Einzel- 109 Massen- 62, 92, 169, 174 Grabästhetik 112 Grabmal 18, 170 Grabstätte 109, 195, 241 KZ-G. 109 Grabstein 111, 167, 170, 195 Gramsci, Antonio 287 Gruber, Johann 332 Gudehus, Christian 356, 360 Gusen 14, 18, 25, 34, 146, 158–163, 194, 201, 290, 315, 318–320, 326–327, 332. Siehe auch »Audioweg Gusen«; Gedenkdienstkomitee G.; KZ-Gedenkstätte G. (Memorial Gusen), KZ Gusen

Häftlingsbaracken 42, 184, 200–202, 211, 354

Häftlingsbordell (Gusen) 159 Häftlingskomitee 122 Handlungsmacht 87, 189, 319, 326 Handlungsmodell 360 Handlungsraum 272 Hansen, Oskar 242 Hart, Frederick 242 Heidegger, Martin 34–35, 245–246 Himmler, Heinrich 50 Historisierung 162, 279, 317 Hitler, Adolf 147, 343–345 Hoffmann, Detlef 102, 117 Holocaust 15, 22, 77, 79, 86, 88–89, 146, 237–239, 241–242, 247, 250, 253, 315, 353, 355 Holocaust-Erinnern 15, 78 Holocaust-Gedächtnis 88 Hrdlicka, Alfred 241

Index

Identität

89–90, 112, 145, 185, 215, 239–240, 286 Fn. 54, 303, 329, 347 Kollektiv- 89 kollektive I. 81 kulturelle I. 155 nationale I. 81, 86–87 rassisierte I. 239 regionale I. 320, 326, 330 Identitätsfaktor 331–332 Identitätskonstruktion 330 Idylle 47, 55 Imagination 89 des Realen 352 Imaginationsleistung 58 Imaginationsraum 69 Imperialismus 251 Information 16, 20, 67, 71, 127–129, 132–133, 135, 140, 170, 189, 193, 202, 204, 206, 252–253, 323 Kern- 135 Informationsort 75 Informationstafeln 193 Informations- und Medienstelen 71 Informationsvermittlung 137 Infrastruktur 13, 34–36, 303 Logik der I. 33 zivile I. 32 Innenministerium. Siehe Bundesministerium für Inneres Inschrift 104, 181–182, 192, 195–197, 202, 208, 210 Inschriftenwand 62 Institution 7–8, 19, 49, 63, 81, 152, 154, 219, 237, 250, 254, 271, 280, 285–287, 290, 303, 325, 348 Belehrungs- 288 Kunst- 252 Kunst- und Kultur- 253 Institutionalisierung 277, 289, 292, 298

Institutionalisierungsprozesse 290 Inszenierung 8, 47, 184, 281, 351 der Erinnerung 152 der Schrecken 141 Interessen 24, 39, 151, 240, 251, 276–277, 350 Nutzungs- 20 Partikular- 24 Profit- 7 Interessensgruppen 320 Israel 156, 356 Itzenplitz, Eberhard 231 Iveković, Sanja 23, 249–250

Jaar, Alfredo 242 Jesus von Nazaret 263, 266 Jugend-KZ Uckermark. Siehe KZ Uckermark Jugendliche 78, 87, 328–329, 355 Jugoslawien 156 Kant, Immanuel

244, 246 Kastner, Wolfram 123 Kertész, Imre 185, 282–283 Klemperer, Victor 184 Knigge, Volkhard 41, 84, 111, 151, 277 Fn. 27, 278, 292, 294 Knight, Robert 149 Knoch, Habbo 292–293 Kohlhoff & Kohlhoff 66 Kohl, Josef 49 Kollektiv, das 23, 359 Kolonialgeschichte 90–91 Kommentierung 48–49, 55, 189–190 Kommunikation 128, 181, 320, 323, 325 Konkretion 83, 85–88, 92 Konservierung 14, 114 Kontaktzone 15, 79, 82, 88, 92–94, 354 Kontextualisierung 85 Kontinuität 149, 251–252, 286

381

382

Erinnerungsorte in Bewegung

Kontrolldiskurs 288 Kontrolle 253, 293 Wunsch nach 282 Kontrollverlust 304 Konzentrationslager 9–10, 14, 17–18, 20–21, 25, 37, 40, 44, 47–48, 51, 56, 58–60, 77, 84, 102, 105, 107, 112–113, 122, 147, 163, 184, 186 Fn. 16, 187, 189, 196, 199, 201, 204, 206, 214–216, 219, 223, 231, 249, 253, 269–271, 273–274, 276–278, 281–282, 284–287, 289, 292–297, 300, 302–303, 318, 326 Konzentrationslager Flossenbürg. Siehe KZ Flossenbürg Konzentrationslager Mauthausen. Siehe KZ Mauthausen Kreisky, Bruno 350 Kreuz 41, 45, 115, 262–263, 266 Kultur 16, 41, 45, 82, 145, 246, 280, 285 Fn. 50 materielle K. 8 visuelle K. 22, 237–238 KZ. Siehe Konzentrationslager KZ-Betrieb 201 KZ Buchenwald 41, 111 KZ Dachau 284, 285 Fn. 50 KZ Flossenbürg 102, 118 KZ-Gedenkstätte 20, 23, 37, 52, 155, 157, 163, 275, 277–278, 281, 282 Fn. 43, 287–292, 295, 298–299, 303 KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen 14, 55 Fn. 1, 56–58, 60, 63, 71, 73, 290 Dokumentationszentrum 63–64 Lagerstraße 62 KZ-Gedenkstätte Dachau 108, 132, 284, 290 KZ-Gedenkstätte Flossenbürg 16–17,

55, 57–58, 101, 107–108, 114, 118, 120, 141, 290 Fn. 70 Appellplatz 108, 114, 116–117 Ehrenfriedhof 107, 109–110, 114, 117, 122 Gedenkkapelle 104, 115 Häftlingsbad 118 Häftlingsküche 108, 117–119 Krematorium 55, 101, 104–106, 110–111 »KZ-Grab- und Gedenkstätte« 114–117 Lagerwäscherei 103, 117–119 »Tal des Friedens« 113–114 »Tal des Todes« 55, 104, 106–107, 114, 117, 122 KZ-Gedenkstätte Gusen 13–14, 160–161, 163 KZ-Gedenkstätte Mauthausen 8, 10, 23, 26, 27, 31–35, 38, 40–43, 45–46, 48–51, 77, 150–151, 157, 182–183, 188–190, 192, 195–196, 201–203, 206, 211– 212, 260, 262, 317, 326, 328, 345, 348–356, 357, 358–361 Appellplatz 42, 200–202, 204, 210–211, 346, 351 Aschenhalde 40 Besucher/-innenzentrum 161, 200, 351 Denkmalpark 156, 195, 200 Exekutionsstätte 40 »Fallschirmspringerwand« 183 Häftlingslager (Lager 3) 215 »Klagemauer« 181–183, 185, 188, 190–194, 196 Lagerbereich der SS 40 Russenlager 40, 202 säkularer Weiheraum 42 Sanitätslager 151, 200, 202–203, 206–210 Sarkophag 156, 202

Index

Schutzhaftlager 262, 354 Stammlager 315 Steinbruch (»Wiener Graben«) 32–33, 40, 50, 108, 183, 200, 206, 210, 315, 351–354 »Todesstiege« 40, 46, 50–51, 354 KZ-Gelände 108, 112, 114, 116, 320, 327 KZ Gusen 7, 25, 34, 40, 146, 150, 157, 157–158, 159 Fn. 40, 194, 315, 320, 332 KZ-Lager. Siehe Konzentrationslager KZ Mauthausen 20, 31, 38, 44–45, 47, 49, 77, 150, 158, 160 Fn. 41, 183–186, 194–195, 288, 324, 351, 357 KZ-System 185 KZ Uckermark 300–301

Lacan, Jacques

145 Laclau, Ernesto 270, 295–299, 302 Lager 12–14, 21, 25, 27, 31–35, 37, 39–50, 52, 55, 60, 62–63, 65, 101–105, 118, 137, 150–152, 154, 156, 158–161, 181–182, 186–187, 192–193, 195, 199– 200, 202–206, 210, 212–213, 215–216, 219, 224, 252–253, 281–285, 287–288, 315, 326, 349, 354–355, 357–359 Außen- 7, 101, 109, 118 Flüchtlings- 34 Neben- 7, 14 Lagergelände 39, 55, 58, 107, 111, 158, 160, 326 Lagerrelikte 16, 159, 160 Lagersprache (lagerszpracha) 181, 183, 186–190, 192, 197 Lagerstruktur 19, 62, 121 Lagersystem 14, 185–186 Konzentrations- 204 Landschaftsarchitektur 55–56, 59–60, 63

Langenstein 315, 320–322, 325–326, 329 Lapid, Yariv 356 Fn. 43 Leitsystem 288, 358 Lenzing AG 148 Lernen 55, 57, 300, 319, 323, 325, 331 Lernort 271, 279, 289–291, 359 Lesbarkeit 140, 194 des Raumes 59 Levi, Primo 184–185, 187, 250, 353 Lin, Maya 241 Linz 49, 148, 259, 328, 359

Mahnen 27, 216 Mahnmal 14, 19, 45, 77, 150, 170, 172 »Mahnmal für die 65.000 ermordeten österreichischen Juden und Jüdinnen der Schoah«, Wien 241 »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus«, Wien 241 Mahnung 38, 317 Maly Trostinec 18, 167–173 Markierung 22, 69, 212, 215, 284, 300 Markierungsklotz 262–263 Maršálek, Hans 49, 154, 183, 186, 191, 350 Martyrologie 77 politische M. 42 Masterplan 63 gestalterischer M. 122 Material 82–83, 85, 92, 140, 173, 193, 214, 231, 284 artifizielles M. 121 organisches M. 121 Materialauswahl 120 Materialität 193, 200 Matz, Reinhold 281 Mauthausen 317–319, 321–322, 324 Fn. 23, 329–332. Siehe auch KZ Mauthausen; KZ-Gedenkstätte Mauthausen

383

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Erinnerungsorte in Bewegung

Mayer, Christoph 245, 327 Medien 65, 127–128, 193, 271, 303, 330 akustische M. 139 dynamische M. 141 Medienformat 17, 139 Meinhof, Ulrike 231 Memorialisierung 146, 157 Metapher 131, 134, 237, 249, 253 ikonologische M. 105 Meyer, Erik 278 Migrationsgesellschaft 15, 78, 87–88, 90 Mitchell, Don 272 Mitläufer/-innenschaft 154 Mittäter/-innenschaft 317–318 Modell 23, 55, 63, 65, 281 Gelände- 205 Monument 44–45, 156, 241 Monumentalität 336, 338 Moral 23 verordnete M. 360 Moralerziehung 85 Mouffe, Chantal 93, 270, 295–299, 302 Multiperspektivität 79, 86–87 Musealisierung 8, 23, 270, 281–282, 287 Musealisierungsdiskurs 287 Musealisierungskritik 281 Fn. 40 Musealisierungsparadigma 295 Musealisierungspraxis 287 Musealisierungsrhetorik 288, 357 Museografie 137, 141 Museum 16, 49, 52, 119, 127, 129, 150, 154, 158–159, 163, 194, 196, 212–213, 282–288, 303, 306, 350 Freilicht- 288 zeitgeschichtliches M. 277 zeithistorisches M. 84 Museumsarbeit 300 Museumstheorie 303

Nachzeichnung 60, 68–69, 121 Nationalismus 240 Nationalsozialismus 7, 15, 17, 26–27, 42–44, 50, 55, 62, 135, 148, 150, 153–154, 156, 158, 194–196, 238, 241, 245–246, 249, 251, 286, 302, 315–316, 318, 329, 337, 344, 355 Nationalstaat 251, 274 Neugestaltung 14, 16–17, 55, 62–63, 119, 122, 132, 275, 287, 290, 321, 358–359 Neugestaltungsprozess 352, 357 Neukonzeption 101–102, 119–120, 122, 212, 274 Fn. 15, 357 der Pädagogik 357 Newman, Barnett 243 Niethammer, Lutz 279 NS-Dokumentationszentrum München 135–136 Nutzung 8, 13–14, 34, 57, 86, 132, 205, 326 Alltags- 55 kommerzielle N. 40 Nach- 103, 117, 325 Um- 104 Nutzungsinteressen 20 Nutzungskonzept 351 Nutzungspotenzial 271 Oberösterreich 32, 44, 49–50, 331 Objekt 21, 40, 49, 127–129, 137, 139, 189, 200, 206, 208–210, 214–216, 229, 242, 244, 272, 297 Fund- 216 Lager- 41 Schlüssel- 133 »Störobjekt« 161 Vermittlungs- 14 Wahrnehmungs- 272 Fn. 7 Objektarrangement 281

Index

Objektbezeichnungen 189 Objektivierung 270, 289, 295, 299 Objektivierungsmacht 303 Objektivität 271, 295–296 Objektpräsentationen 139 »Öffentliches Denkmal Mauthausen« 18, 152 Ökonomie 9–10, 33 Kriegs- 14 ökologische Ö. 252 Opfer 17–18, 26, 38–39, 42, 44–45, 50, 55, 55–57, 66, 69–71, 78, 86, 92, 108, 112–113, 130, 132, 135, 141, 147, 148–150, 153–156, 163, 167, 170, 174–175, 194–196, 201, 208, 210, 214, 241–242, 250, 274, 276, 281, 285–287, 302, 315, 317, 338, 343–344, 346–350, 353–355 Kriegs- 109 Opfererzählung 350 Opfergedenken 25, 153, 289, 318 Opfergruppen 62, 150, 195, 344, 347 Opfermythos 25, 77, 315, 344, 346–348, 350, 355 Opfernarrativ. Siehe Opfererzählung Opferstaaten 42, 156 Opferthese 150, 351 Opferverbände 39, 46, 49, 56, 201, 215, 274, 276, 320, 349–350 Ordnung 23, 48, 132, 145–146, 148, 184, 270, 273, 282–285, 296 Un- 304 Ordnungs- und Identitätsdenken 287 Ordnungsvorstellungen 286, 296 Orientierung 59, 63, 65, 134, 140, 288, 317, 358 im Raum 60 Orientierungspunkt 26, 316 Orientierungsraum 62 Original 139, 199

Originalsubstanz 67 Ort 7–10, 12, 14–19, 21, 24–27, 36, 40, 44, 49, 55, 56–60, 63, 65–67, 70–75, 77–78, 80, 84–86, 90, 102–104, 107, 118, 132–133, 135, 137, 139, 146, 150–151, 154, 155–163, 167, 169–170, 172–173, 175, 182–183, 185, 189, 193–194, 199–201, 206, 219–220, 229, 237, 243, 249, 269–275, 277–279, 282–286, 288, 290–293, 295–303, 317–318, 327–331, 348–349, 354, 357, 359. Siehe auch Erinnerungsort; Gedenkort; Tatort der Häftlinge 40 der Täter/-innen 14, 41, 348 der Toten 38, 44 historischer O. 14, 16, 47, 57, 58–60, 75, 101, 118, 154, 161, 220, 271, 282, 293, 357 traumatischer O. 18, 154, 157, 163 Orte ehemaliger Konzentrationslager 18, 269–270, 273–274, 276– 279, 284, 291–293, 295–297, 300, 302–303 Österreich 17–18, 25, 27, 31, 38–39, 42–45, 49, 51, 77, 147, 149– 151, 153–154, 158, 167, 170, 194, 196, 201, 215, 238, 241, 290, 315, 319, 327, 343–348, 350, 361 ÖVP (Österreichische Volkspartei) 43, 45, 343, 346

Pädagogik

352, 357. Siehe auch Vermittlung Palimpsest 196–197 Partizipation 280, 303, 318 »Pearls before Swine« (Ullrich) 252

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Erinnerungsorte in Bewegung

Perz, Bertrand 77, 189, 348, 351 Platz des 9. November 1989, Berlin 57, 72 Polen 91, 103, 161, 186, 192, 210 Präsentation 123, 128, 139, 229, 249, 319, 321–322 Objekt- 139 Pratt, Mary-Louise 82 Professionalisierung 8, 20, 23, 270, 277, 289, 291–293, 356 Professionalisierungsdiskurs 298 Professionalisierungsparadigma 292, 295 Profit 170, 354 Profitinteressen 7 Pseudo-Dionysos 248 »R ahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen« 287 Rassisierung 238–240 Rassismus 22, 239–240, 249, 251–252, 254 Raum 9, 13, 15, 17, 24, 35, 43, 55, 59–60, 62, 71, 73–74, 80–82, 93–94, 104, 112, 118, 129– 130, 132, 134–141, 154, 161, 168, 170, 173, 181–183, 189, 194, 196–197, 212–213, 229, 242, 250, 253, 280, 283–284, 289–290, 323, 325 Alltags- 71 chronotopisch geschichteter R. 182 des Gedenkens und Lernens 319 Erinnerungs- 18, 71, 79, 105–106, 169, 171–172 geteilter R. 92 Handlungs- 272 Imaginations- 69 öffentlicher R. 173, 249–250 postnationalsozialistischer R. 251

rassisierter R. 237 Referenz- 9 sozialer R. 273 Stadt- 71, 170 urbaner R. 336 Raumablauf 129 Raumdeutungen 75 Raumdominante 62 Raumensemble 118 Raumfolgen 8 Rauminstallation 340 Raumkonzepte 76 Raumzeit 196–197 Raum-Zeit-Bezug 135 Raum-Zeit-Gefüge 182 Realität 10–12, 35, 51, 136, 138, 196, 220, 237, 253, 271, 297, 359 des Lagers 46, 48 polyvalente R. 294 vergangene R. 270, 282 Referenz 9, 86 figurative R. 242 Referenzcharakter 105, 271 Referenzzustand des Lagers 212 Reflexion 18, 27, 141, 163, 193, 205, 278, 286, 295 Selbst- 86, 358 Reflexivität 122 Rekonstruktion 60, 103, 118, 120–121, 283 Rekonstruktionsverbot 122 Rekonstruktionsversuch 102 Relikt 19, 52, 59–60, 63, 102, 111, 114, 152, 160, 200–201, 203, 206, 216, 289 bauliches R. 14, 63, 65, 103, 114, 213 Lager- 16, 159, 161 Fn. 42 lagerzeitliches R. 105 Minimierung der Relikte 41, 112, 117, 151 Repräsentation 15, 17, 22, 26, 50,

Index

240–243, 247, 252–254, 273, 279–280, 282, 284 des Bösen 245, 247 des Erhabenen 247 des Gedenkens 241 offizielle R. 77 rassisierte R. 238 rassistische R. 238 symbolische R. 146 Unmöglichkeit der R. 241 Vergangenheits- 272 Repräsentationsregime 237–238 Repräsentationsstrategie 111, 254 Repräsentationswünsche 277 Re-Translokation (Rückversetzung) 120, 122 Roma und Sinti 78, 148, 347 Rom/-nija 252–253 Ronell, Avital 34–35 Rothberg, Michael 79, 88–89, 93 Ruine 156, 201 Gebäude- 114 Rumpf, Horst 288 Rundgang 32, 129–130, 141, 288, 356

SA (Sturmabteilung) 34, 350 Sachsenhausen 274, 290

Sakralisierung 85 Scham 9, 238, 328 Schleifung 326, 348, 350 Schmerz 240–241 Schuld 9, 160, 240, 328, 343, 347 Mit- 346 Schulklasse 204, 219 Schweigen 170, 240, 247, 329 Shalev-Gerz, Esther 242 Shelby, Tommie 239 Shoa (Schoah) 167, 238, 241 Sichtachse 111 Siebeck, Cornelia 23–24, 357 Singularität (des Holocausts) 15, 79, 88, 92, 112

-sanspruch 89 Sinnbild 62, 262–263 Sinnbildung 146, 151, 157, 163, 294 Sinnstiftung 41, 85, 102–103, 113, 122, 282, 299 memoriale S. 16 Sinnstiftungsversuche 278 Solidarität 89–90, 92, 94, 239, 317, 350 Sowjetunion 91, 156, 192, 196, 210, 337 Spanien 33, 91 SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs) 43, 343 Sprache 11, 20, 128, 170, 181–188, 190–191, 195–197, 246 der Erinnerung 187 der Gewalt 181 gesprochene S. 139 Herkunfts- 183 im Raum 196 Lager- 183, 187, 189–190, 192 Terror- 184 Sprachlandschaft 181 Sprachterror 184 Spuren 44, 59–60, 62, 66, 84–86, 102, 141, 162, 181, 189, 196–197, 199, 201, 203–204, 206, 212–214, 216, 237, 326 Dauer- 197 Nutzungs- 118 sichtbare S. 18, 20, 163 Sprach- 181 vegetative S. 120 Spurensicherung 300 Spurensuche 300, 357 SS (Sturmstaffel) 14, 20, 32–34, 39–40, 42–43, 47–48, 50–52, 103, 105, 108, 119–120, 132, 151, 153–154, 156, 159, 183–184, 189, 192, 199–200, 210, 213, 216, 230, 239, 262, 318, 327, 348–350

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Erinnerungsorte in Bewegung

SS-Baracken 25, 41, 43, 46, 320, 326, 348 Staatsmythos (der Zweiten Republik) 17, 147, 150 Staffa, Christian 358 Stein der Erinnerung. Siehe Erinnerungsstein Sternfeld, Nora 15, 280, 299 Steyr 148 St. Georgen a. d. Gusen 25, 318–319, 322, 327–329, 332 Stimme 20, 43, 182, 197, 327 Fn. 26, 332 Fn. 31 Störfaktor 45, 160, 327 »Störobjekt« 161 Strasser, Ernst 351 Straub, Jürgen 272 Symbol 14, 50, 52, 81, 115, 151, 153, 196 christliches S. 115 visuelles S. 237 Symbolarchitektur 58, 75 Symbolgehalt 39 Symbolgestaltung 63, 73 Symbolik 111 Symbolkraft der Orte 8

Tabu 157, 360 Tabuisierung 327, 329 Ent- 274 Täter/-innen 7, 14, 41, 55–56, 86, 113, 149–150, 154–155, 208, 214, 315, 348, 354–355 Täter/-innenforschung 317 Täter/-innenschaft 25, 317, 329, 347, 360 Tatort 20, 79, 290, 357 Topografie 27, 62, 69, 354–355, 357 Totengedenken 44, 169 Tötung 354 Tötungsanlagen 199 Tötungsbereich 213–214

Tötungseinrichtungen 201, 213, 216 Tötungsorte 354 Tourist/-innenattraktion 282 Translokation 101, 120–122 Transnationalisierung 78, 87–88 Transparenz 192, 280, 299 Transparenzhypothese 193 Trauer 27, 55, 194, 196 Trauma 162–163, 238, 240, 340 Traverso, Enzo 79, 81 Tschechische Republik 253 Tschechoslowakei 91, 156

Überästhetisierung 17, 122 Überformung 16–17, 116, 122 Überreste 14, 18, 26, 37, 41, 43–48, 50–52, 114, 151–152, 155, 157–158, 201, 203, 288, 340, 349, 358 bauliche Ü. 39, 41, 156, 158, 199, 317, 320, 348, 357

Überwältigung 353 Überwältigungsarchitektur 60 Uhl, Heidemarie 130, 147, 153, 347, 351 Ukraine 78, 156, 337 Ullrich, Alfred 252–253 Umdeutung 114 Umgestaltung 77, 101, 111, 119 Ungarn 210 Ungläubiger Thomas 263, 266 Universalisierung (des Holocausts) 15, 79 Unterschutzstellung 107, 159, 161, 320

Verantwortung 8, 63, 147, 160, 293, 301, 315, 318–319, 328, 344,

360 Mit- 148, 154, 332, 346–347 Verbote 196, 284 Verdrängung 18, 145, 148, 150, 158, 160, 162, 238

Index

Verfall 63, 359 Verfremdung 139 Verfremdungseffekt 140 Vergangenheit 13, 17, 23, 27, 38, 55, 114, 133, 136, 138, 145 Fn. 2, 146, 155–156, 159–161, 163, 183, 197, 215–216, 227, 237, 239–240, 250–254, 274–275, 279, 281–282, 284, 287, 294, 317, 319–320, 325–332, 337, 346, 348, 354–356, 360 nationalsozialistische V. 158, 274, 317, 320, 326–327, 330 NS-V. 274 Vergangenheitsbezüge 281 Vergangenheitsrepräsentation 272 Verhalten 11, 282 Verhaltens(maß)regeln 281, 284 Verhandlung 38, 49, 82, 170, 300, 302, 359–360 Verlust 9, 22, 170, 238, 241, 359 Fn. 2 des historischen Gedächtnisses 249, 252 erhabener V. 240 Vermittlung 7–9, 12, 16, 50, 52, 58, 75, 85, 181–183, 188, 194, 215, 250, 289 Vermittlungsangebot 352 Vermittlungsarbeit 27, 32, 291, 356 Vermittlungsdiskurs 192 Vermittlungskonzept 193, 197, 317 Vermittlungstätigkeit 353, 358 Vermögen 252 akkumuliertes V. 252 jüdisches V. 149 Verortung 18, 80, 132–133, 315 im Raum 140 Selbst- 317 Verräumlichung 35, 69, 131 Verstaatlichung 24, 81, 275, 292 Visualisierung 131, 152, 189 VÖEST 148

Volkswagen AG 250–251 Vranitzky, Franz 346

Wahrnehmung 48, 67, 73, 91, 136,

271 Fn. 4 bewusste W. 59, 197 des »Absoluten« 243 selbstkritische W. 360 Wahrnehmungsmuster 17, 139 Wahrnehmungsprozesse 272 Wahrnehmungsrahmen 137 Wahrnehmungsreihenfolge 67 Waldheim, Kurt 344–345, 355 -Affäre 149, 346 Weg(e)führung 9, 111, 359 Weißrussland 18, 167 Wels 148 Whiteread, Rachel 241–242 Widerstand 57, 90, 147–148, 150–151, 154, 159, 184, 250, 285, 329, 344, 346–347, 350 Widerstandsdiskurs 148 Widerstandserzählungen 350 Wien 8, 18–19, 23, 26, 168–170, 172–173, 175, 238, 241–242, 252, 287, 340, 363 Wissen 17, 19–21, 58, 62–63, 127, 215, 229, 279, 289, 320, 328–330 historisches W. 14, 277 Fn. 27 Resultate- 288 Wissensaneignung 140–141 Wissensorganisation 127 Wissensorientierung 293 Wissensvermittlung 303 Wunde 66, 260, 266

Zeichen 67, 146, 153, 174, 183, 186, 194, 325, 330, 351 Gedenk- 18, 62 Zeichensystem 59–60, 69 Zeitdokument 345

389

390

Erinnerungsorte in Bewegung

Zeitgeschichte 140 Zeitlichkeit 162 Zeitphasen 139 Zeiträume 181, 194 Zeitschicht 21, 103, 122, 162 Zeitschnitt 140 Zeitstrahl 131, 134–135 Zeitzeug/-innenära 8 Zerstörung 26, 69, 71, 111, 135, 160, 239 Zeugnis 14, 33, 58–59, 69, 71, 160, 163, 181, 184, 195, 252, 352 architektonisches Z. 320 materielles Z. 17, 27, 320 Sach- 105 Zeit- 67, 76 Zeugnischarakter 60 Zivilgesellschaft 277, 292–293 »Zivilisationsbruch Auschwitz« 84 Žižek, Slavoj 145, 162 Zugang 11, 15–18, 20–21, 57, 59, 63, 93, 127, 241, 279–280, 302, 331, 353, 359 emotionaler Z. 133 Entwurfs- 23 Lager- 120 partizipatorischer Z. 319 professioneller Z. 292 regionaler Z. 326 transnationaler Z. 78 Zugänglichkeit 16 Zugangsrechte 14 Zugangssituation 120 Zwangsarbeit 14, 40, 200, 315, 318, 326, 354

Architekturen Eduard Heinrich Führ DIE MAUER Mythen, Propaganda und Alltag in der DDR und in der Bundesrepublik August 2017, ca. 352 Seiten, Hardcover, durchgehend vierfarbig bebildert, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-1909-6

Gianenrico Bernasconi, Thomas Hengartner, Andreas Kellerhals, Stefan Nellen (Hg.) Das Büro Zur Rationalisierung des Interieurs, 1880-1960 August 2016, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2906-4

Ekkehard Drach (Hg.) Das Verschwinden des Architekten Zur architektonischen Praxis im digitalen Zeitalter Mai 2016, ca. 210 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3252-1

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Architekturen Susanne Hauser, Julia Weber (Hg.) Architektur in transdisziplinärer Perspektive Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen 2015, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2675-9

Alexander Gutzmer Architektur und Kommunikation Zur Medialität gebauter Wirklichkeit 2015, 138 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3269-9

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes 2013, 448 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5

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