Das Wissen der Poesie: Lyrik, Versepik und die Wissenschaften im 19. Jahrhundert 9783110348514, 9783110348392

The essays in this volume investigate references to scientific knowledge in 19th century lyrical and epic verse. The cas

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Das Wissen der Poesie: Lyrik, Versepik und die Wissenschaften im 19. Jahrhundert
 9783110348514, 9783110348392

Table of contents :
Inhalt
Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert
Transformationen des wissenschaftlichen Lehrgedichts um 1800
„There is no want of knowledge [...]. We want the creative faculty to imagine that which we know“
Das Ich in Bewegung
Wissenschaft als Quelle poetischer Inspiration
Positivisme esthétique
Sully Prudhomme ou le lyrisme de la perte des repères
André Chéniers epische Dichtung als gemeinsames Referenzmodell von Historiographie, Philologie und Poesie des 19. Jahrhunderts
(R)Evolutionslyrik?
Lyrik und Ökonomie im 19. Jahrhundert
Entbindung von der Disziplin
„Wurzel alles Denkens und Redens“
Zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister

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Das Wissen der Poesie

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum)

Volume 52

Das Wissen der Poesie Lyrik, Versepik und die Wissenschaften im 19. Jahrhundert Herausgegeben von Henning Hufnagel und Olav Krämer

ISBN 978-3-11-034839-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034851-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038399-7 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Henning Hufnagel/Olav Krämer Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert Zur Einleitung   1 Olav Krämer Transformationen des wissenschaftlichen Lehrgedichts um 1800 Erasmus Darwins The Temple of Nature und Johann Wolfgang Goethes Metamorphose der Tiere   37 Christoph Bode „There is no want of knowledge [...]. We want the creative faculty to imagine that which we know“. Die Wissenschaften im Konterdiskurs der englischen Romantik   69 Marc Föcking Das Ich in Bewegung Lyrik und Eisenbahn bei Alfred de Vigny, Paul Verlaine und Ardengo Soffici   91 Thomas Klinkert Wissenschaft als Quelle poetischer Inspiration Baudelaires Poetik des Rausches   107 Henning Hufnagel Positivisme esthétique Lyrik und Wissenschaft bei den Parnassiens: Vier Fallstudien  Hugues Marchal Sully Prudhomme ou le lyrisme de la perte des repères 

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Marco Thomas Bosshard André Chéniers epische Dichtung als gemeinsames Referenzmodell von Historiographie, Philologie und Poesie des 19. Jahrhunderts Die französische Epenforschung an der École des Chartes, José-Maria de Heredia und der Parnasse   175

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 Inhalt

Ulrike Zimmermann (R)Evolutionslyrik? Charles Darwin in Light Verse von britischen Dichterinnen des späten 19. Jahrhunderts   191 Fabian Lampart Lyrik und Ökonomie im 19. Jahrhundert Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis  Alexander Nebrig Entbindung von der Disziplin Arno Holz’ Begründung des Lebenswissens im Phantasus 

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Benjamin Specht „Wurzel alles Denkens und Redens“ Der wissenschaftliche Metapherndiskurs um 1900 und die Lyrik Hugo von Hofmannsthals   263 Zu den Autorinnen und Autoren  Personenregister 

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Henning Hufnagel/Olav Krämer (Freiburg)

Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert Zur Einleitung  ersdichtung und Wissenschaften im 19. Jahrhundert: I V Eine Nicht-Beziehung? Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt 1855, im Jahr der großen Pariser Weltausstellung und mitten im bereits ‚industriell‘ geführten Krimkrieg, bricht ein aufstrebender Autor in einen Ausruf des Protests aus: Tout marche, tout grandit, tout s’augmente autour de nous cependant. La science fait des prodiges, l’industrie accomplit des miracles […]. On découvre la vapeur, nous chantons Vénus, fille de l’onde amère; on découvre l’électricité, nous chantons Bacchus, ami de la grappe vermeille. C’est absurde!1

Auf diese Weise fordert Maxime Du Camp in seinem mittlerweile ungelesenen, aber einstmals ebenso berühmten wie berüchtigten Vorwort zu den Chants modernes die Dichter auf, die wissenschaftlichen und technischen Neuerungen zu thematisieren, denen sich die Literatur bisher verschlossen habe. Denn Literatur habe, durchaus romantisch, Orientierungsfunktion, und wenn die Leser nicht über ihre, die moderne Welt, orientiert würden, werde Literatur bedeutungslos, ja, werde verschwinden. Was überraschend wirken mag: Du Camp ist der Überzeugung, die Thematisierung der wissenschaftlichen und technischen Neuerungen werde eine Erneuerung nicht einfach der Literatur, sondern gerade der Lyrik bewirken. Denn Lyrik habe in dieser Hinsicht nicht nur ein Innovationspotential wie andere literarische Formen auch; Du Camp präsentiert Lyrik vielmehr als besonders dafür geeignet, Wissenschaft zu thematisieren, denn sie könne diese in besonderem Maße didaktisch und enkomiastisch aufbereiten und dadurch verbreiten und popularisieren.

1 Maxime Du Camp, „Préface [aux Chants modernes]“, in: Marta Caraion (Hrsg.), „Les Philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques“: Littérature, sciences et industrie en 1855, Genf 2008, S. 77–112, hier S. 81.

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Darüber hinaus ist es in seinem Szenario nicht allein die Literatur, sondern vielmehr die Wissenschaft, die von diesem Kontakt etwas zu gewinnen hat. Du Camp malt in einem Bild aus, wie die Dichtung sich die Wissenschaft geradezu zur Brust nimmt, „corps à corps“, um sie – die Wissenschaft wird als junge Frau imaginiert – vor aller und für alle Welt zu enthüllen, indem ihr eine allen verständliche Sprache beigebracht wird: Elle [la science] parle encore une langue étrange, barbare; elle est hérissée de termes singuliers comme une forteresse est hérissée de canons: il faut lui enseigner notre langage sonore, imagé, facile et à la portée de tous; il faut la désarmer et lui mettre les diaphanes vêtements de la paix.2

Du Camps Vorwort führt uns direkt zum Thema des vorliegenden Bandes, den Beziehungen zwischen lyrischen und epischen Versdichtungen einerseits und den Wissenschaften im 19. Jahrhundert andererseits. Du Camp ist mit seinen Gedichten über die Dampfmaschine oder die Lokomotive, die bei all ihrer modernen Thematik formal konservativ bleiben, nicht ‚schulbildend‘ geworden, trotz seiner einflussreichen Position im französischen Literaturbetrieb als Herausgeber der Revue de Paris und führender Autor der Revue des Deux Mondes.3 Vielmehr wurden die Chants modernes von der zeitgenössischen Kritik, etwa eines Sainte-Beuve, mit Verrissen bedacht.4 Doch liefert sein Fall ein Indiz dafür, dass die Problematik der Beziehungen zwischen Versdichtung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert nicht so fernliegend und randständig ist, wie es erscheint, wenn man sich an einflussreichen theoretischen Schulen und prominenten Dichtungstheorien seit den Jahrzehnten um 1800, etwa der Hegelschen Ästhetik, orientiert. Hegel hatte die Lyrik auf die Funktion des Gefühlsausdrucks und der Selbstaussprache des Subjekts festgelegt.5 Die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens oder die Auseinandersetzung mit demselben gehören in dieser Sicht entschieden nicht zu den genuinen Aufgaben und Möglichkeiten der Lyrik. Für das Epos stellt sich die Problemlage vielleicht noch verschärfter dar, insofern das Epos als 2 Ebd., S. 97. 3 Vgl. Gérard de Senneville, Maxime Du Camp. Un spectateur engagé du XIXe siècle, Paris 1996. 4 Zur Erstrezeption der Chants modernes vgl. Michael Einfalt, Zur Autonomie der Poesie. Literarische Debatten und Dichterstrategien in der ersten Hälfte des Second Empire, Tübingen 1992, S. 203–207. 5 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. III, in: ders., Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 15, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1996, S. 322: Hegel definiert als Gegenstand von Lyrik „das Subjektive, die innere Welt, das betrachtende, empfindende Gemüt, das, statt zu Handlungen fortzugehen, vielmehr bei sich als Innerlichkeit stehenbleibt und sich deshalb auch das Sichaussprechen des Subjekts zur einzigen Form und zum letzten Ziel nehmen kann“.



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Literaturform ohne Gegenwart gilt, als unmöglich gewordene Gattung der Vergangenheit, quasi als Fossil der Poetologie. Die sich daraus ableitende dichtungstheoretische Auffassung von der Arbeitsteilung zwischen Prosa- und Versdichtung spiegelt sich in gewissem Sinne in der literaturwissenschaftlichen Forschung wider, insofern nämlich Untersuchungen zur Interaktion zwischen Literatur und Wissenschaften im 19. Jahrhundert sich häufig auf literarische Prosagattungen konzentriert haben.6 Es ist allerdings in der Forschung verschiedentlich festgestellt worden, dass die Praxis der Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert der engen theoretischen Festlegung von Aufgaben und Leistungsmöglichkeiten der Lyrik nur sehr bedingt entspricht. Für Deutschland haben einzelne Forscher schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass etwa die didaktische Dichtung in den ersten Dekaden des Jahrhunderts noch eine vielfach gepflegte Gattung ist.7 Ähnliches gilt für Frankreich, wo das Genre der Lehrdichtung als „poésie scientifique“ firmiert. So hat eine Forschergruppe um Hugues Marchal ein Korpus zusammengetragen, das mehrere hundert Texte umfasst.8 In Großbritannien kommt es um 1800 sogar zu einer Wiederbelebung der didaktischen Poesie, die ihren prominentesten Ausdruck in den Gedichten von Erasmus Darwin findet.9 Untersuchungen, die nicht nur die Werke kanonischer Autoren, sondern die lyrische Massenproduktion des 19. Jahrhunderts berücksichtigen, haben eine Vielzahl von kommunikativen und gemeinschaftsbildenden Funktionen herausgearbeitet, die die Lyrik in verschiedenen sozialen Kontexten übernahm.10 Dabei ist auch darauf hingewiesen worden, dass die Lyrik auf die neuen Entwicklungen in den Wissenschaften reagiere. Gerade diese Dimension der Texte ist aber bislang nur in Ansätzen erforscht worden.11

6 Vgl. stellvertretend unter vielen etwa die Beiträge in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002. 7 Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 2: Die Formenwelt, Stuttgart 1972, S. 92–103. 8 Vgl. Hugues Marchal, „L’ambassadeur révoqué: poésie scientifique et diffusion des savoirs au 19e siècle“, in: Romantisme, 144/2009, 2, S. 25–37, hier S. 25. Es ist, in Konfrontation mit zahlreichen anderen lyrischen und epischen Verstexten, auszugsweise zugänglich gemacht in der von Hugues Marchal herausgegebenen Anthologie Muses et ptérodactyles. La poésie de la science de Chénier à Rimbaud, Paris 2013. 9 Vgl. David Duff, „Antididacticism as a Contested Principle in Romantic Aesthetics“, in: Eighteenth-Century Life, 25/2001, S. 252–270, hier S. 265. 10 Vgl. die Einleitung und die Beiträge in Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern [u.a.] 2005. 11 Zur Bedeutung der Naturwissenschaft für die Lyrik des deutschen Realismus vgl. etwa Rolf Selbmann, Die simulierte Wirklichkeit. Zur Lyrik des Realismus, Bielefeld 1999, S. 95–105; kritisch

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Wenn der vorliegenden Band nun diese Dimension in europäischer Perspektive in Frankreich, Deutschland und Großbritannien in den Blick nimmt, schließt er an die Forschungen zu Beziehungen zwischen Literatur und Wissenschaften an, die seit längerer Zeit eine hohe Konjunktur erfahren.12 Er will aber nicht einfach die Fragestellungen dieser Forschungsrichtung für ein weiteres Segment der Literaturgeschichte durchdeklinieren, sondern nimmt seinen Ausgang von spezifischen Hypothesen über die Rolle von Gattungen der Versdichtung im 19. Jahrhundert.

II Begriffliche und theoretische Voraussetzungen Bevor die Fragestellungen und Ausgangsvermutungen des Bandes genauer formuliert werden, gilt es jedoch, einige Begriffsverwendungen abzustecken und theoretische Voraussetzungen offenzulegen. Eine terminologische Vorbemerkung erfordert insbesondere der inzwischen geradezu inflationär verwendete Begriff des Wissens. Die Fragestellungen des Bandes beziehen sich auf das Verhältnis poetischer Texte zu einer besonderen Art von Wissen, nämlich wissenschaftlichem Wissen. Unter dem wissenschaftlichen Wissen eines Zeitraums sollen hier die Behauptungen verstanden werden, die in der wissenschaftlichen Kommunikation dieser Zeit – also innerhalb dessen, was in der Zeit als Wissenschaft gilt13 – formuliert und die von einem Großteil der zeitgenössischen Wissenschaftler für wahr gehalten und/oder nach den in dieser historischen Ausprägung von Wissenschaft

dazu Gert Sautermeister, „[Rezension zu:] Rolf Selbmann, Die simulierte Wirklichkeit“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 42/2001, S. 179–193, hier S. 186–188. 12 Für Überblicke zu diesem Forschungsfeld mit unterschiedlichen Gewichtungen und Bewertungen vgl. etwa: Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nicolas Pethes/Yvonne Wübben (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013; Olav Krämer, „Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin/New York 2011, S. 77–115; Thomas Klinkert, „Literatur und Wissen. Überlegungen zur theoretischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs“, in: ebd., S. 116–139; Nicolas Pethes, „Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 28/2003, 1, S. 181–231. 13 Damit legen wir einen „historisch-pragmatische[n]“ Begriff der Wissenschaft zugrunde, wie er auch formuliert wird bei: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann, „Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation“, in: dies. (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 9–36, hier S. 11.



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geltenden Regeln gerechtfertigt werden.14 Wie damit schon angedeutet wird, sollen hier zum Wissen sowohl bereits weitgehend akzeptierte als auch kontroverse Wissensansprüche15 gezählt werden, da anzunehmen ist, dass für die Literatur wissenschaftliche Behauptungen von ganz unterschiedlichen Akzeptanzgraden relevant werden können. Weitere Vorannahmen über die Beschaffenheit des wissenschaftlichen Wissens setzt die Rahmenkonzeption des Bandes bewusst nicht voraus; insbesondere enthält sie keine Prämissen über die Diskursregeln, denen die Formulierung und Diskussion wissenschaftlicher Behauptungen unterworfen ist,16 oder über die Bedeutung, die den Darstellungsformen, insbesondere den ‚literarischen‘ Darstellungsformen des wissenschaftlichen Wissens, zukommt. Die übergeordneten Fragestellungen des Bandes von derartigen Voraussetzungen freizuhalten erscheint vor allem deswegen als sinnvoll, weil es in der Forschung sowohl über Charakter und Funktionsweise der wissenschaftlichen Diskursregeln als auch über die Beziehung zwischen Darstellungsformen und epistemischen Ansprüchen wissenschaftlicher Texte keinen Konsens gibt.17

14 Wir orientieren uns hier wiederum, allerdings mit gewissen Modifikationen, an Richter, Schönert und Titzmann, die ‚Wissenschaft‘ als „eine komplexe soziale Praxis mit dem Ziel der Produktion kulturellen Wissens“ bestimmen und ‚kulturelles Wissen‘ wie folgt definieren: „‚Kulturelles Wissen‘ […] soll die Gesamtmenge der Aussagen/Propositionen heißen, die die Mitglieder eines räumlich und zeitlich begrenzten soziokulturellen Systems (‚Epoche‘, ‚Kultur‘) für wahr halten – unabhängig davon, ob eine solche Proposition im Rahmen unseres Wissens als wahr gilt oder nicht“ (ebd., S. 12). Im engeren Sinne wissenschaftliches Wissen ist dabei die Teilmenge jenes kulturellen Wissens, das ausschließlich auf den Modus des Wissens zielt und das besonders strengen Begründungs- und Rationalitätsanforderungen unterworfen ist (vgl. ebd., S. 22). Das wissenschaftliche Wissen bzw. das „von Wissenschaft behauptete Wissen“ wird von den Autoren weiter als ein „gruppenspezifisches Wissen“ (ebd., S. 14) bestimmt. – Diese Definitionen scheinen allerdings, auch weil die Autoren auf Foucaults Konzept der Diskursregeln rekurrieren, zu besagen, dass zum wissenschaftlichen Wissen nur diejenigen Aussagen gehören, die alle Wissenschaftler (oder alle Wissenschaftler einer Disziplin) für wahr halten. Dies erschiene uns zumindest für unsere Zwecke als zu restriktiv; daher die Modifikation in dem von uns zugrunde gelegten Begriff des wissenschaftlichen Wissens. 15 Der Begriff des Wissensanspruchs wird hier übernommen von: Lutz Danneberg, Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis, Berlin/ New York 2003. Vgl. zu diesem Begriff auch: Carlos Spoerhase/Dirk Werle/Markus Wild, „Unsicheres Wissen. Zur Einführung“, in: dies. (Hrsg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, Berlin 2009, S. 1–13, hier S. 5. Vgl. auch die Überlegungen zur jüngeren Diskussion um den Wissensbegriff ebd., S. 1–6. 16 Für Annahmen über solche Diskursregeln, denen die Äußerung wissenschaftlicher Wissensbehauptungen grundsätzlich unterworfen sei, vgl. Richter/Schönert/Titzmann, „Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation“, S. 19–20. 17 Von den mittlerweile zahlreichen Studien zu wissenschaftlichen Darstellungsformen seien stellvertretend genannt: Peter Dear (Hrsg.), The Literary Structure of Scientific Argument. Histori-

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Den Untersuchungsgegenstand des Bandes bilden lyrische und epische Versdichtungen des 19. Jahrhunderts, die sich mit wissenschaftlichem Wissen auseinandersetzen oder sich auf dieses Wissen beziehen. Dabei berücksichtigt der Band dezidiert den literarischen Umgang sowohl mit naturwissenschaftlichem als auch mit human-, d.h. geschichts- und gesellschaftswissenschaftlichem sowie insbesondere philologischem Wissen. Mit der Titelformulierung „Wissen der Poesie“ ist also ein von der Poesie angeeignetes wissenschaftliches Wissen gemeint, wobei ‚Aneignung‘ wiederum als Sammelbegriff für vielfältige Formen der Übernahme, Transformation oder kritischen Infragestellung von Wissensbeständen und Methoden fungiert.18 Ob daneben die Poesie bzw. die lyrische und epische Versdichtung über ein eigenes, genuines Wissen verfügt, das sie womöglich in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen zur Geltung bringt,

cal Studies, Philadelphia 1991; Timothy Lenoir (Hrsg.), Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication, Stanford 1998; Lutz Danneberg/Jürg Niederhauser (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998. – Weitreichende und kontroverse Annahmen über die epistemologische Relevanz von Darstellungsformen bzw. über die ‚poetische‘ Dimension des wissenschaftlichen Wissens sind grundlegend für den unter dem Begriff der ‚Poetologie des Wissens‘ firmierenden Forschungsansatz. Vgl. dazu etwa die programmatischen Texte: Joseph Vogl, „Für eine Poetologie des Wissens“, in: Richter/Schönert/Titzmann (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, S. 107–127, dort v.a. S. 118, 121–125; Joseph Vogl, „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–16, hier v.a. S. 13–15. – Was die Frage nach Diskursregeln angeht, so hat etwa Lorraine Daston, bei ausdrücklicher Anerkennung der Foucaultschen Anregungen für die Wissenschaftsgeschichte, erhebliche Zweifel an Grundannahmen seines Programms einer ‚Archäologie des Wissens‘ geäußert; vgl. Lorraine Daston, „Gedankensysteme. Kommentar zu Arnold Davidsons ‚Über Epistemologie und Archäologie: Von Canguilhem zu Foucault‘“, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hrsg.), Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M. 2003, S. 212–219. Eine anders akzentuierte Deutung und eine weit positivere Einschätzung dieses Programms bietet: Ulrich Johannes Schneider, „Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte“, in: ebd., S. 220–229. Für eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit Foucaults Version einer Wissensgeschichte vgl. Gideon Stiening, „‚Glücklicher Positivismus‘? Michel Foucaults Beitrag zur Begründung der Kulturwissenschaften“. URL: http://www.germanistik.ch/publikation.php? id=Gluecklicher_ Positivismus (publiziert Oktober 2009; letzter Zugriff 23.09.2014). Zur Kritik an Grundannahmen der ‚Poetologie des Wissens‘ vgl. ders., „Am ‚Ungrund‘ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘?“, in: KulturPoetik, 7/2007, 2, S. 134–148. 18 Für Vorschläge dazu, wie Arten der literarischen Bezugnahme auf Wissen oder speziell auf wissenschaftliches Wissen systematisch differenziert werden können, vgl. Richter/Schönert/ Titzmann, „Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation“, S.  30; Tilmann Köppe, „Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen“, in: ders. (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin/New York 2011, S. 1–28, hier v.a. S. 5–6.



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diese Frage wird auf der Ebene der Rahmenkonzeption des Bandes bewusst offen gelassen und von den Beiträgen auf unterschiedliche Weisen beantwortet. Leitend für die Gesamtkonzeption des Bandes ist aber die Vermutung, dass der Bezug auf wissenschaftliches Wissen sich in lyrischen und epischen Verstexten des 19. Jahrhunderts auf spezifische Weisen gestaltet, und zwar informiert durch die Gattungstraditionen der Vers-Genres, dass er also anders als in der erzählenden Prosaliteratur desselben Zeitraums funktioniert. Damit berührt sich unser Ansatz mit Versuchen in der jüngeren Forschung, die traditionelle Kategorie der literarischen Gattung für wissensgeschichtliche oder allgemeiner für kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen.19 Die gattungstheoretischen Annahmen, die in den einschlägigen Forschungsprojekten vorausgesetzt werden, sind freilich keineswegs deckungsgleich. Die geteilte Grundannahme, auf den allgemeinsten Nenner gebracht, dürfte sein, dass die Gattungsordnung der Literatur, zu der ebenso die Traditionen der verschiedenen Gattungen und die dichtungstheoretische Reflexion auf die Gattungen gehört, auch in der Auseinandersetzung der Literatur mit kulturellem oder wissenschaftlichem Wissen relevant ist.20 Diese Relevanz kann darin bestehen, dass die formalen Muster einer Gattung das von ihr ‚aufnehmbare‘ wissenschaftliche Wissen begrenzen,21

19 Wichtige Anregungen verdankt der vorliegende Band vor allem: Martus/Scherer/Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Vgl. dort insbesondere die Einleitung der Herausgeber: „Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung“, in: ebd., S. 9–31. Ferner: Thomas Borgstedt, „Der Ruf der Gondoliere. Genretheorie, Formpoetik und die Sonette August von Platens“, in: ebd., S. 295–325, hier v.a. S. 295–302. – Die Absicht, die Kategorie der Gattung für wissensgeschichtliche Fragestellungen fruchtbar zu machen, ist auch leitend für den Band: Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg (Hrsg.), Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013. Bies, Gamper und Kleeberg stützen sich allerdings im Unterschied zu uns prominent auf den von Michel Foucault geprägten Wissensbegriff und auf Grundannahmen des Forschungsansatzes der Wissenspoetologie; vgl. dies., „Einleitung“, in: ebd., S. 7–18, hier S. 7–9. 20 Vgl. für unterschiedliche Akzentuierungen dieser Annahme: Martus/Scherer/Stockinger, „Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert“, S. 21–22; Borgstedt, „Der Ruf der Gondoliere“, S. 295–302; Bies/Gamper/Kleeberg, „Einleitung“, S. 7–11. 21 Bisweilen wird auch behauptet, dass eine bestimmte Gattung mit wissenschaftlichem Wissen generell inkompatibel sei – u.a. über diese Argumentationsfigur schließt Émile Zola die Lyrik aus dem Kanon ‚ernsthafter‘ moderner Literatur aus (vgl. dazu Henning Hufnagel, „Parnasse und Polemik. Zolas Herausforderung der Lyrik“, in: Henning Hufnagel/Barbara Ventarola [Hrsg.], Literatur als Herausforderung. Zwischen ästhetischem Autonomiestreben, kontextueller Fremdbestimmung und dem Gestaltungsanspruch gesellschaftlicher Zukunft, Würzburg 2015, im Druck). Umgekehrt, kann man anführen, wird mit dieser Figur auch die besondere Dignität von Lyrik begründet, wie dies Gérard Dessons zu tun scheint (vgl. Gérard Dessons, „Le désavoir du poème: un mode spécifique de connaissance“, in: Thomas Klinkert/Monika Neuhofer [Hrsg.],

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aber auch darin, dass die Gattungsmuster und -traditionen neue Perspektivierungen dieses Wissens ermöglichen. Nicht zuletzt scheinen bestimmte Gattungen bestimmte Funktionalisierungen zu bedingen oder nahezulegen. Darüber hinaus können Gattungen Wissen hierarchisieren und nobilitieren, indem Texte einer bestimmten Gattung dieses Wissen aufnehmen und dadurch mit den Gegebenheiten der jeweils gängigen Gattungshierarchie korrelieren. Umgekehrt ist aufschlussreich, welche Gattungen versuchen, durch die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen ihrerseits eine generische Aufwertung zu erzielen. Eine Gattung kann so aufgrund der ihr zugeschriebenen Eigenschaften, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verbreitung und ihrer Traditionen zu einem privilegierten „Reflexionsmedium“ der Kultur werden, wie es Steffen Martus, Stefan Scherer und Claudia Stockinger überzeugend für die deutschsprachige Lyrik des 19. Jahrhunderts dargelegt haben.22 Damit sind allgemeine theoretische Annahmen über den Status literarischer Gattungen und über ihre Relevanz innerhalb des Verhältnisses von Literatur und wissenschaftlichem Wissen skizziert, die für den vorliegenden Band leitend sind. In der Forschung sind nun auch Überlegungen dazu angestellt worden, ob die Lyrik, also eine der hier im Zentrum stehenden Gattungen, ein spezifisches Verhältnis zu Wissen oder zu den Wissenschaften unterhalte. So hat Gérard Dessons in einem Aufsatz über „[l]e désavoir du poème“23 die These vertreten, das Gedicht sei durch einen kritischen, negativen Bezug zum Wissen definiert: In einem Gedicht werde vor allem die Sprachfunktion des Sagens (‚dire‘), nicht die des Benennens (‚nommer‘) verwirklicht, es sei eine „énonciation globale“24 Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800, Berlin/New York 2008, S. 53–64; dazu detaillierter weiter unten). 22 Vgl. Martus/Scherer/Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Wenn die Autoren die These vertreten, Lyrik übernehme im 19. Jahrhundert spezifische Orientierungsleistungen etwa hinsichtlich der „Reorganisation der Gesellschaftsstruktur“ oder der „Verschiebung der Wissensbestände […] in Folge naturwissenschaftlicher Innovationen“ (Martus/Scherer/Stockinger, „Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert“, S. 17), so ist eines ihrer Argumente dabei bereits die schiere Ubiquität von Lyrik im literarischen und gesellschaftlichen Diskurs: Die Rezeption – und Produktion – von Lyrik vollzieht sich in breiteren Bevölkerungsschichten und vielfältigeren Kommunikationssituationen als die Rezeption und Produktion anderer Gattungen (vgl. ebd., S. 15–16, 22–23). Interessant wäre es, nun die weiterführende Frage zu stellen, inwiefern (oder auf welche differente Weise) solche Orientierungsleistungen auch etwa von der Romanprosa erbracht wurden. Auch der vorliegende Band kann diese Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Lyrik und Erzählprosa im Hinblick auf ihre Wissenschaftsbezüge nur aufwerfen, aber – insbesondere im Rahmen dieser Einleitung – nicht abschließend beantworten. Einige skizzenhafte Überlegungen dazu am Ende von Abschnitt III. 23 Vgl. Dessons, „Le désavoir du poème“. 24 Vgl. ebd., vor allem S. 57–58.



Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert 

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und als solche nicht reduzierbar auf eine Aussage, ein „énoncé“.25 Damit hänge zusammen, dass Gedichte jegliches positive, auf dem Benennen basierende Wissen kritisch auflösen können. Dieses „désavoir“ sei aber selbst ein spezifischer Modus der Erkenntnis, insofern es indirekt auf die Existenz von etwas Unbenennbarem („l’innommable“) verweise.26 Diese kritische Erkenntnisleistung macht für Dessons die Eigenart der Literatur überhaupt aus, scheint aber ihm zufolge in der Lyrik besonders deutlich hervorzutreten.27 – Zu anderen Ergebnissen gelangt Rüdiger Zymner in seinem Beitrag über „[d]as ‚Wissen‘ der Lyrik“.28 Lyrik, so hält Zymner zunächst fest, kann „über alles sprechen“, also auch darüber, „was man allgemein in einem gegebenen sozialen und kulturellen Kontext übergreifend […] für Tatsachen hält“.29 So kann Lyrik „mythisches Wissen ebenso wie historisches, politisches Wissen ebenso wie philosophisches, theologisches und naturwissenschaftliches Wissen heranziehen und es nunmehr lyrisch formatieren“.30 Diese lyrische Formatierung zeichnet sich Zymner zufolge – grundsätzlich oder zumindest in manchen Epochen – dadurch aus, dass sie Wissen „nichtpropositional, nichtargumentativ und ohne Begründungszwang“31 präsentiere. Zymner wirft ferner die Frage auf, „ob die Lyrik insgesamt, also in allen denkbaren und historisch anzutreffenden Belegfällen […] ein generisch spezifisches ‚Wissen‘ transportiere“ oder „bereithalte“.32 Diese Frage könne man „insofern bejahen, als sich alle Lyrik auf Sprache im Allgemeinen richtet“:33 Alle Lyrik (unabhängig davon, welche Themen sie behandelt oder welche ‚Inhalte‘ sie vermittelt) zeigt oder stellt vor Augen – und zwar durch ihre Faktur –, dass Sprache, um mit Wilhelm von Humboldt zu sprechen, ein schöpferisches Organ des Gedankens sei […].34

Aus der „Perspektive einer biologisch informierten Literaturwissenschaft“, so Zymner, könnte man „vielleicht auch sagen, dass Lyrik die (vermutlich älteste,

25 Ebd., S. 60. 26 Vgl. ebd., vor allem S. 54–58; das Zitat „l’innommable“ auf S. 57. 27 Auch Romane und literarische Texte können nach Dessons ein Gedicht in seinem Sinne sein: Vgl. ebd., S. 55. Bei den von ihm herangezogenen Beispielen handelt es sich aber fast ausschließlich um lyrische Texte; vgl. ebd., S. 58–64. 28 Rüdiger Zymner, „Das ‚Wissen‘ der Lyrik“, in: Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg (Hrsg.), Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013, S. 109–120. 29 Ebd., S. 112. 30 Ebd., S. 112–113. 31 Ebd., S. 114. 32 Ebd., S. 118. 33 Vgl. ebd., S. 119. Zu dem hier vorausgesetzten Lyrikbegriff vgl. ebd., S. 111–112. 34 Ebd., S. 119.

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früheste bekannte) exosomatische Vergegenständlichung von Wissen über die Möglichkeiten von Sprache“ sei.35 So diskussionswürdig wie auch nicht unproblematisch Dessons’ und Zymners unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob die Lyrik als solche ein spezifisches Verhältnis zum Wissen unterhalte, in vielen Hinsichten sind und so nützlich es sein dürfte, ihre systematischen Überlegungen auch bei historischen Analysen im Hinterkopf zu behalten: Der vorliegende Band möchte nun nicht seinerseits eine Antwort auf diese systematische Frage entwickeln, sondern die konkretere, von einem dezidiert historischen Interesse bestimmte Frage stellen, wie und zu welchen Zwecken Gedichte und Versepen des 19. Jahrhunderts wissenschaftliches Wissen – mit Zymner gesprochen – lyrisch oder versepisch ‚formatieren‘.

III Funktionen und Modi eines lyrischen Wissenschaftsbezugs Die oben skizzierten gattungstheoretischen Annahmen erlauben die Vermutung, dass Gedichte und Versepen des 19. Jahrhunderts, wenn sie denn wissenschaftliches Wissen aufgreifen und sich damit auseinandersetzen, dies auf spezifische Weise tun: also auf eine durch Gattungstraditionen mitbedingte Weise und auf andere Art als etwa narrative Prosatexte derselben Zeit.36 Nun finden sich, wie bereits angedeutet wurde, in Lyrik und Versepik dieser Epoche tatsächlich nicht wenige Beispiele für eine produktive Rezeption der Wissenschaften. Der Band will die mutmaßlichen Spezifika dieses lyrischen und epischen Umgangs mit wissenschaftlichem Wissen einzukreisen helfen, indem er zwei eng miteinander verbundene Leitfragen verfolgt. Einmal fragen wir nach den Funktionen von Wissenschaftsbezügen in Verstexten, also danach, was die lyrische oder epische ‚Formatierung‘ wissenschaftlichen Wissens leistet oder leisten soll: ob sie beispielsweise auf eine affirmative oder kritische Bewertung der szientifischen Thesen und Theorien zielt oder aber primär ‚binnenliterarisch‘ der Entwicklung neuer poetischer Sprechweisen und Dichterrollen dient. Zum anderen fragen wir nach den Vertextungsmodi, die Dichtung ausbildet, um diese Funktionen zu erfüllen. Was die erste dieser Leitfragen angeht, so legen bereits eine kursorische Sichtung relevanter Quellen und eine Konsultation der bisher vorliegenden Forschung die Vermutung nahe, dass lyrische Gattungen und das Versepos viel-

35 Ebd., S. 120. 36 Auf die Frage, wie sich die Wissenschaftsbezüge in Lyrik und Versepik von jenen in der narrativen Prosa unterscheiden, kommen wir, wie angekündigt, am Ende dieses Abschnitts zurück.



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fältige, aber nicht beliebige Funktionen übernehmen. Nachfolgend seien einige stichwortartig genannt. Gedichte sind ein bevorzugtes Medium für die Gestaltung von naturphilosophischen Einheits- und Ganzheitskonzeptionen, die über weite Teile des 19. Jahrhunderts präsent und einflussreich bleiben, die aber – vereinfacht gesagt – nicht mehr wissenschaftlich, sondern nur noch poetisch beglaubigt werden können. Solche poetischen Einheitsvisionen gibt es einerseits in ‚optimistischen‘ Varianten;37 zu diesen zählen auch Naturgedichte in Zeitschriften, die sich der Popularisierung und der weltanschaulichen Ausweitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse widmen.38 Daneben findet sich aber auch eine ‚pessimistische‘ Variante, etwa in Form von französischen Gedichten, die durch Thermodynamik und Astronomie befeuerte apokalyptische Visionen darbieten.39 Eine weitere Spielart der Lyrik macht es sich zur Aufgabe, die Bedeutung neuer naturwissenschaftlicher Entwicklungen für das menschliche Subjekt zu erkunden und dabei insbesondere (theologisch-metaphysische) Verunsicherungen oder Verlusterfahrungen zu artikulieren, die diese Entwicklungen nach sich ziehen.40 Vor allem zahlreiche englische Gedichte der viktorianischen Ära gestal37 Vgl. zu deutschen Beispielen Walter Gebhard, ,Der Zusammenhang der Dinge‘. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984. 38 Vgl. dazu Andreas W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998, S. 200, 209, 349. 39 Vgl. für relevante Titel Yann Mortelette, Histoire du Parnasse, Paris 2005, S. 131–132. Neben solchen pessimistischen Visionen finden sich gelegentlich auch skeptische Reflexionen auf religiös oder metaphysisch fundierte Naturkonzepte, die auf ‚Verklärung‘ abzielen, so etwa bei Friedrich Theodor Vischer (vgl. Wilhelm Kühlmann, „Das Ende der ‚Verklärung‘. Bibel-Topik und prädarwinistische Naturreflexion in der Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 30/1986, S. 417–452, hier S. 448–452). 40 Vgl. etwa zur Auseinandersetzung mit der Geologie bei Droste-Hülshoff: Georg Braungart, „Apokalypse in der Urzeit. Die Entdeckung der Tiefenzeit in der Geologie um 1800 und ihre literarischen Nachbeben“, in: Ulrich G. Leinsle/Jochen Mecke (Hrsg.), Zeit – Zeitenwechsel – Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen, Regensburg 2000, S. 107–120; Ritchie Robertson, „Faith and Fossils. Annette von Droste-Hülshoff’s Poem Die Mergelgrube“, in: Jürgen Barkhoff [u.a.] (Hrsg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen 2000, S. 345–354; vgl. bei Leopardi: Marc Föcking, „,Avant nous le déluge‘. Geologie und ‚pathetic fallacy‘ bei Chateaubriand und Leopardi“, in: Marc Föcking/Volker Steinkamp (Hrsg.), Giacomo Leopardi: Dichtung und Wissenschaft im frühen 19. Jahrhundert, Münster 2004, S. 91–108; in anderer, positiverer Wendung bei Shelley: Nigel Leask, „Mont Blanc’s Mysterious Voice: Shelley and Huttonian Earth Science“, in: Elinor S. Shaffer (Hrsg.), The Third Culture: Literature and Science, Berlin 1998, S. 182–203. Für eine ausführliche Analyse der englischen Romantiker unter diesem Gesichtspunkt vgl. den Beitrag von Christoph Bode in diesem Band.

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ten den Konflikt zwischen religiösen Überzeugungen und Bedürfnissen und neuen wissenschaftlichen Weltbildern.41 Gelegentlich wird aber auch versucht, die metaphysischen Bedürfnisse des Subjekts mit dem neuen naturwissenschaftlichen Wissen regelrecht zu versöhnen, so bei Sully Prudhomme, der auch als Lukrez-Übersetzer in Erscheinung getreten ist.42 Ebenso thematisiert Lyrik die neuen technischen Errungenschaften in ihren Auswirkungen auf Lebenswelt und Subjekt, sei es, dass sie diese fortschrittsoptimistisch feiert – in Frankreich etwa, wie angedeutet, bei Maxime Du Camp –, sei es, dass sie umgekehrt Ängste und Bedrohungen benennt.43 Gedichte dienen außerdem als eine literarische Form, mittels derer die Dignität von Gegenständen und dem auf sie bezogenen Wissen erhöht oder unterstrichen werden kann. Hierfür können wiederum etwa die Technik- und Naturgedichte als Beispiele gelten, aber auch die Geschichtslyrik wäre unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.44 Neben einem emphatisch-verklärenden und einem skeptisch-desillusionierenden Umgang mit den Naturwissenschaften gibt es humoristische, parodistische und satirische Formen der Bezugnahme, die sehr unterschiedlichen Zwecken dienen dürften. Gewisse Texte Laforgues oder Rimbauds könnten sich als eine Verweigerung und Parodie der herrschenden Wissensdiskurse interpretieren lassen. In den einschlägigen, einstmals sehr populären Gedichten Joseph Victor von Scheffels45 scheint es darum zu gehen, die modernen Naturwissenschaften für eine bildungsbürgerliche Geselligkeitskultur kommensurabel zu machen, während die Satire auf den Darwinismus in Robert Hamerlings Versepos Homunculus im Kontext einer „Generalabrechnung mit den Tendenzen des 19. Jahrhun-

41 Vgl. zusammenfassend Alan Rauch, „Poetry and Science“, in: Richard Cronin [u.a.] (Hrsg.), A Companion to Victorian Poetry, Oxford [u.a.] 2002, S. 475–492, hier S. 481–487. 42 Vgl. den Beitrag von Hugues Marchal in diesem Band. 43 Vgl. den Beitrag von Marc Föcking in diesem Band sowie etwa: Dieter Janik, „Die technische Lebenswelt in der französischen Lyrik: Erfahrungen und Ausdrucksformen“, in: Romanische Forschungen, 87/1975, S. 593–616, hier S. 603–605, Nicolas Wanlin, „L’imaginaire technique dans la poésie industrielle du XIXe siècle“, in: Romantisme, 150/2010, 4, S. 51–61; für Deutschland: Johannes Mahr, Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, München 1982, S. 57–211; Hartmut Laufhütte, „Moderne Technik in Balladen des 19. Jahrhunderts“, in: Winfried Woesler (Hrsg.), Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2000, S. 135–155. 44 Zur historischen Lyrik und zu den im Verhältnis zur Historiographie „komplementäre[n] Funktionen“, die sie erfülle, vgl. Dirk Niefanger, „Lyrik und Geschichtsdiskurs im 19. Jahrhundert“, in: Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern [u.a.] 2005, S. 165–181, Zitat S. 180. 45 Vgl. dazu Selbmann, Die simulierte Wirklichkeit, S. 100–102.



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derts“ und einer „vehementen Fortschrittskritik“ steht.46 In Großbritannien hingegen funktionalisieren Lyrikerinnen die Darwinsche Evolutionstheorie, um die scheinbar gottgegeben-unverrückbare Geschlechterordnung satirisch in Frage zu stellen.47 Wissenschaftsbezüge eigener Art dürften Gedichte mit politischer Thematik oder sozialkritischer Ausrichtung enthalten. Hier kann die Erörterung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Verhältnisse auf sozialphilosophische oder ökonomische Konzepte und Theorien Bezug nehmen oder auch kritisch die impliziten Wertungen und politischen Tendenzen solcher Theorien hervorkehren.48 In Versepen über historische Stoffe stützen sich die Autoren häufig auf geschichtswissenschaftliche Werke oder heben die methodische, quellengestützte Erschließung der Faktenbasis hervor, um so die Geschichtsepik als ein Parallelunternehmen zur wissenschaftlichen Historiographie auszuweisen, das ein Streben nach sachlicher Richtigkeit und Akkuratesse einschließt, aber nicht darin aufgeht.49 Solche gleichsam epistemologischen Funktionalisierungen sind aber nicht auf die Geschichtsdichtung beschränkt: Wo Autoren die besonderen Erkenntnisleistungen der Lyrik oder Versepik zu benennen versuchen, tun sie dies häufig mithilfe einer Abgrenzung von wissenschaftlicher Erkenntnis – sei es, dass diese theoretische Profilierung der spezifischen epistemischen Möglichkeiten der Dichtung auch in den lyrischen und epischen Texten selbst vorgenommen wird, sei es, dass sie implizit deren poetische Faktur mitbestimmt.50 Nicht zu unterschätzen sind poetologische Funktionalisierungen des Wissenschaftsbezugs. Etwa pflegen die Parnassiens, allen voran Leconte de Lisle, eine poetische Wissenschaftsrhetorik: In poetologischen Vorworten wird ‚Wissenschaftlichkeit‘ für die eigenen Verstexte in Anspruch genommen. Damit verteidigen sie sich gegen die zeitgenössisch häufige Zuweisung des bloß subjektiven

46 Zu den Darwin-Bezugnahmen in Hamerlings Homunculus vgl. Peter Sprengel, Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998, S. 59–69, Zitate S. 62. 47 Vgl. den Beitrag von Ulrike Zimmermann in diesem Band. 48 Vgl. den Beitrag von Fabian Lampart in diesem Band. 49 Vgl. die Ausführungen zu José-Maria de Heredia in Marco Thomas Bosshards Beitrag in diesem Band. 50 Vgl. zu unterschiedlichen Charakterisierungen der epistemischen Möglichkeiten von Dichtung gegenüber Wissenschaft – komplementär-kompensatorisch, inkommensurabel oder kommentierend – die Beiträge von Christoph Bode, Alexander Nebrig und Benjamin Specht in diesem Band.

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Gefühlsausdrucks an die Lyrik und grenzen sich von der dominanten romantischen Lyrikkonzeption ab.51 Hinsichtlich der zweiten Leitfrage gibt es eine Reihe von Indizien dafür, dass die Versdichtung im Kontakt mit den Wissenschaften, um die genannten oder andere Funktionen zu erfüllen, spezifische Vertextungsmodi ausbildet. Zu nennen sind hier textuelle Strategien, mit denen eine Ausrichtung an Objektivitätsidealen der Wissenschaft ausgedrückt wird. Lyrische Texte der Parnassiens etwa suggerieren durch eine reduzierend-entsubjektivierende Ausgestaltung der Sprecherrolle eine wissenschaftliche Perspektive auf ihre Gegenstände.52 Lyrik greift außerdem in Vokabular und Metaphorik analogiebildend auf einzelne Wissenschaften, etwa die Chemie, zurück, um poetische und wissenschaftliche Imagination miteinander zu parallelisieren, womit sie zugleich eigene epistemologische Ansprüche erhebt.53 Die Formen des Lehrgedichts und des philosophischen Gedichts, wie sie sich von der Aufklärung bis zu Klassik und Romantik herausgebildet haben, werden auf vielfältige Weisen aufgegriffen und transformiert. Neben Versuchen einer relativ bruchlosen Fortsetzung dieser Tradition54 stehen ambitionierte Projekte einer Erneuerung (etwa in Rückerts Weisheit des Brahmanen)55 sowie Gedichte

51 Vgl. Henning Hufnagel, „Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien in der Lyrik der Parnassiens“, in: Niklas Bender/Steffen Schneider (Hrsg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen 2010, S. 53–71. 52 Vgl. ebd. sowie den Beitrag von Henning Hufnagel im vorliegenden Band. Wie in der die Parnassiens beerbenden ‚modernen Lyrik‘ eines Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé „wissenschaftlich inspirierte Objektivität“ zur Entwicklung von Vertextungsmodi dient, die u.a. „Erfahrungshorizonte jenseits der menschlichen Subjektivität“ reflektieren sollen, hat Niklas Bender untersucht (Niklas Bender, „Die Objektivität der modernen Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé)“, in: Niklas Bender/Steffen Schneider [Hrsg.], Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen 2010, S. 73–97, hier 73 und 83). 53 Vgl. zu einer solchen Praxis in Rimbauds Prosagedichten: Hermann H. Wetzel, „Die Metapher der Alchemie und die (Al)Chemie der Metapher“, in: Thorsten Greiner/Hermann H. Wetzel (Hrsg.), Die Erfindung des Unbekannten. Wissen und Imagination bei Rimbaud, Würzburg 2007, S. 81–95. Vgl. für Baudelaire den Beitrag von Thomas Klinkert im vorliegenden Band. 54 Vgl. für relevante Titel etwa: Georg Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, in: Jost Hermand/Manfred Windfuhr (Hrsg.), Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848, Stuttgart 1970, S. 371–404, hier S. 389; Sengle, Biedermeierzeit, S. 92–103. 55 Vgl. dazu zuletzt Christine Maillard, „Friedrich Rückerts westeuropäischer Brahmane. Über den indischen Intertext in Die Weisheit des Brahmanen (1836–1839)“, in: York-Gothart Mix (Hrsg.), ‚Das Völkereintrachtshaus‘. Friedrich Rückert und der literarische Europadiskurs im 19. Jahrhundert, Würzburg 2012, S. 221–245.



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bei Lenau, Droste-Hülshoff und Mörike, die einzelne Strukturen dieser Tradition aufgreifen und sie tiefgreifenden Veränderungen unterziehen.56 Bei lyrischer und epischer Geschichtsdichtung wäre etwa anhand von Vergleichen mit Texten der wissenschaftlichen Historiographie zu untersuchen, was das Spezifische der Art und Weise ausmacht, wie Gedichte und Versepen mit narrativen Mitteln Kohärenz und Sinn stiften, die Rollen von Individuen und Kollektiven entwerfen und Geschichts- und Gegenwartsdeutung verbinden. Was würde also die Wissenschaftlichkeit in der Schreibweise historiographischer Texte des 19. Jahrhunderts ausmachen – gegenüber der Geschichtsdarstellung in Verstexten? Diese Frage stellt sich mit besonderer Virulenz, insofern zahlreiche jener historiographischen Texte, etwa diejenigen Michelets, aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen worden sind und heute ‚nur noch‘ zur Literatur gezählt werden.57 Die Beantwortung dieser Frage muss im Rahmen unseres Bandes zwar ein Desiderat bleiben – indessen zeigt dies nur, wie vielfältig das Forschungsfeld ist, das wir uns hier erschließen möchten. Die Einarbeitung humanwissenschaftlichen Wissens in lyrische Texte schlägt sich schließlich auf einer basalen Ebene schon optisch sichtbar z.B. in der Orthographie von Eigennamen nieder, die historisch korrekt dokumentiert werden sollen.58 Im Hinblick auf alle diese Ausprägungen der literarischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen sind noch viele Fragen zu klären: Wie werden tradierte Formen lyrischen Sprechens und epischen Erzählens aufgegriffen und verändert? Wo gibt es innovative Weiterentwicklungen, wo lassen sich Tendenzen der Konventionalisierung oder des mehr oder weniger mechanischen Ausschreibens eines Musters erkennen? Inwiefern korrelieren die Ausformungen der literarischen Referenzen auf wissenschaftliches Wissen mit unterschiedlichen Medien und Publikationsorten? Außerdem ist anzunehmen, dass die verschiedenen Arten der lyrischen und epischen Auseinandersetzung mit den Wissenschaften nicht kontaktlos nebeneinander existieren, sondern durch Wechselwirkungen

56 Zu Ausprägungen des wissenschaftlichen Lehrgedichts um 1800 vgl. den Beitrag von Olav Krämer in diesem Band. 57 Zur Geschichtsdichtung in Deutschland vgl. Niefanger, „Lyrik und Geschichtsdiskurs im 19. Jahrhundert“. 58 Über diese ‚Marotte‘ in parnassischen Texten ist von der zeitgenössischen Kritik viel gespottet worden (vgl. z.B. Alcide Dusolier, „Les impassibles“, in: Yann Mortelette (Hrsg.), Le Parnasse. Mémoire de la critique, Paris 2006, S. 47–52, v.a. S. 50). Dass die Autoren damit häufig primär auf einen Effekt veredelnder Verfremdung und „Rarefizierung“ (Hempfer) des poetischen Redegegenstands zielen, ist nicht von der Hand zu weisen; nichtsdestoweniger ist festzuhalten, dass der Effekt durch einen Bezug auf Wissenschaft, auf die Philologien erzielt wird.

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miteinander verbunden sind: dass also etwa die gleichsam ‚propagandistische‘ Nutzung lyrischer Formen für die Popularisierung der Wissenschaft, das Lob der modernen Technik oder die Verbreitung von Weltanschauungen zu distanzierenden Gegenreaktionen bei Autoren führt, die einem eher autonomieästhetischen Dichtungsbegriff verpflichtet sind. Beispielsweise lehnt Leconte de Lisle die ‚von der Dampfmaschine und der Telegraphie inspirierten Oden‘ eines Maxime Du Camp scharf ab.59 Doch bedeutet dies keineswegs, Leconte de Lisle hielte Wissenschaft und Dichtung grundsätzlich für inkompatibel. Beispielsweise greift er für seine mythologischen Langgedichte auf religionsgeschichtliche und orientalistische Forschungsliteratur zurück.60 Eine grundsätzliche Frage ist, ob sich eine Spezifik der lyrischen und versepischen Bezugnahmen auf wissenschaftliches Wissen ausmachen lässt, und dabei insbesondere, inwiefern ein solcher Bezug differentiell durch eine Abgrenzung von Wissenschaftsbezügen in anderen Gattungen, also vor allem in der Erzählprosa, aber auch im Drama, genauer bestimmt werden kann. Der vorliegende Band und erst recht diese Einleitung können zur Beantwortung dieser Frage nur Ansätze oder Vorbereitungen liefern, nicht zuletzt weil die Wissenschaftsreferenzen in Narrativik und Dramatik ihrerseits sehr vielgestaltig und kaum auf einen einfachen Nenner zu bringen sein dürften. Dennoch seien hier einige vorläufige Überlegungen zumindest zur Beziehung zwischen erzählender Prosa und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts formuliert, an denen sich ein solcher Vergleich orientieren könnte. Bei allen erforderlichen Differenzierungen lässt sich als eine allgemeine Tendenz festhalten, dass die Aussageansprüche des Romans mit dem der Wissenschaften zumindest auf der programmatischen Ebene vielfach analogisiert werden, wenn auch auf durchaus unterschiedliche Weise: von der Flankierung der zoologischen Typologie mit einer ‚soziologischen‘ bei Balzac61 über die pro-

59 Vgl. Charles Leconte de Lisle, „[Préface des Poèmes et poésies]“, in: ders., Articles – Préfaces – Discours, Edgard Pich (Hrsg.), Paris 1971, S. 123–136, hier S. 127. 60 Vgl. zu einer Liste von Quellen hinweisend Stefan Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse: Antiromantischer Kunstbegriff und Wandel der Lyrikkonzeption bei Parnassiern und Modernen“, in: Heinz Thoma (Hrsg.), Französische Literatur – 19. Jahrhundert. Lyrik. Tübingen 2009, S. 175–226, hier S. 202–203. Um die Aufdeckung solcher Quellen – und des poetisch freien Umgangs mit ihnen – bemüht sich schon Joseph Vianey, Les sources de Leconte de Lisle, Montpellier 1907. 61 Vgl. etwa zur Begründung von Balzacs Romanprojekt Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin/New York 2010, S. 131–142, insbesondere 133 sowie Winfried Wehle, „Littérature des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hrsg.), Honoré de Balzac, München 1980, S. 57–81.



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minente Verwendung wissenschaftlicher Begriffe durch die auktoriale Erzählinstanz bei George Eliot62 bis hin zur behaupteten Applikation der experimentellen Methodik auf den Roman bei Zola.63 Eine entscheidende Analogie ergibt sich dabei aus dem Anspruch auf eine wahrheitsgetreue Erfassung der Wirklichkeit, wie er von Programmatikern des Romans seit dem 18. Jahrhundert vielfach formuliert worden ist. Viele Romanautoren des 19. Jahrhunderts scheinen nun ausdrücklich oder auch stillschweigend angenommen zu haben, dass der Roman diesem wissenschaftsähnlichen Anspruch auf Wirklichkeitserfassung nur gerecht werden könne, indem er Erkenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaft aufgreife und diese etwa zur Plausibilisierung von Plotstrukturen und Handlungsmotivationen der Figuren einsetze.64 Wenn die Aufgaben des Romans in Analogie zur unvor62 Der ausgiebige Gebrauch naturwissenschaftlicher Termini fiel schon Zeitgenossen als eine Eigenheit der Romane Eliots auf und wurde von einigen Kritikern gerügt. Vgl. Gillian Beer, Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction. Third edition, Cambridge 2009 (1. Aufl. 1983), S. 140; Diana Postlewaithe, „George Eliot and Science“, in: George Levine (Hrsg.), The Cambridge Companion to George Eliot, Cambridge 2001, S. 98–118, hier S. 98. Die produktive Rezeption zeitgenössischen wissenschaftlichen Wissens beschränkt sich in Eliots Romanen aber nicht auf die Ebene des Vokabulars, sondern erstreckt sich auch auf Plotstrukturen, Figurenkonzeptionen und -konstellationen. Vgl. etwa: Beer, Darwin’s Plots, S. 139–195; Sally Shuttleworth, George Eliot and Nineteenth-Century Science. The Make-Believe of a Beginning, Cambridge [u.a.] 1984. 63 Vgl. aus der breiten Forschungsliteratur z.B. die knappe Analyse von Zolas Programmschrift Le Roman expérimental bei Niklas Bender, Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin. Flaubert, Zola, Fontane, Heidelberg 2009, S. 207–215 sowie Walter Busch, „Claude Bernards Introduction à l’étude de la médicine expérimentale (1865) und Émile Zolas Le roman expérimental (1880) – Strategien und Grenzen naturalistischer Aneignung eines physiologischen Forschungsparadigmas“, in: Raul Calzoni/Massimo Salgaro (Hrsg.), „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“: Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert, Göttingen 2010, S. 47–62. Auf eigenwillige Weise hat Barbara Ventarola den Experimentcharakter von Zolas Roman in Theorie und Praxis stark zu machen versucht, vgl. Barbara Ventarola, „Der Experimentalroman zwischen Wissenschaft und Romanexperiment. Überlegungen zu einer Neubewertung des Naturalismus Zolas“, in: Poetica, 42/2010, S. 277–324 sowie dies., „Die experimentelle Ästhetik Zolas. Zur literarischen Umsetzung eines avancierten Naturalismuskonzepts in La curée (1871) und L’oeuvre (1886)“, in: Romanische Forschungen, 123/2011, S. 167–209. 64 Zu solchen Funktionalisierungen von Wissenschaftsbezügen vgl. etwa: Bender, Kampf der Paradigmen, S. 458–465. Nach Darwin kann der Anspruch auf Plausibilität von Plots insbesondere die Notwendigkeit mit sich bringen, teleologische Strukturen im Roman aufzugeben und narrative Entsprechungen für die erhöhte Kontingenz zu finden, die man nun in der Wirklichkeit wahrnahm (vgl. dazu Philip Ajouri, Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus. Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller, Berlin/New York 2007). Dagegen bestand Darwins Wirkung auf die Erzählweise im englischen Roman des 19. Jahrhunderts, wie sie Gillian Beer in ihrer einflussreichen Studie Darwin’s Plots beschrieben hat, weniger in der Erzeugung eines erzähltechnischen Problems als in der Bereitstellung von Konzepten, Metaphern

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eingenommenen Realitätserfassung der Wissenschaft bestimmt wurden, konnte dies aber auch die Funktion erfüllen, die Darstellung gewisser Sujets und Figuren überhaupt erst literaturfähig zu machen: so etwa prominent bei Zola, der sich damit gegen den Vorwurf wehrte, der Naturalismus sei eine „rhétorique de l’ordure“.65 Dass der Bezug auf Wissenschaft im Roman grundlegend dazu dient, ihm erst die Fähigkeit zuzuschreiben, Wirklichkeit zu erfassen, lässt sich argumentativ auch auf einer poetologischen Ebene festmachen, wie dies Andreas Kablitz getan hat. Dabei ist zu unterstreichen, dass Kablitz sein Argument über die für unseren Zusammenhang bedeutsame Kategorie der Gattung konstruiert: So voll-

und Thesen, aus denen sich Anregungen für neue Erzählmuster gewinnen ließen. Vgl. auch die prägnant formulierte These in einem Aufsatz Beers: „The methods of scientists become the meth­ ods of emplotment and scientific theories suggest new organizations for fiction“ (dies., „Plot and the analogy with science in later nineteenth-century novelists“, in: Comparative Criticism, 2/1980, S. 131–149, hier S. 136). – Bedeutsam ist schließlich auch die Frage, wem gegenüber Plots und Figuren plausibilisiert werden. Hier scheint sich ein Unterschied zwischen französischem und deutschem Realismus abzuzeichnen. Horst Thomé stellt etwa heraus, Fontane argumentiere vor allem wirkungsästhetisch und fordere von literarischen Figuren, dass sie dem Leser wie lebende Menschen erscheinen; dazu müssten sich Figurenentwürfe am alltäglichen Denken der Leser orientieren (vgl. Horst Thomé, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 21–29). Der Rekurs auf wissenschaftliche Theorien ist also für Fontane nur insofern notwendig, als sie bereits in das Alltagswissen eingegangen sind – mit Alexander Nebrig ‚disziplinär entbundenes Wissen‘ darstellen (vgl. zu dieser Begrifflichkeit seinen Beitrag in diesem Band). Im französischen Roman, insbesondere etwa bei Flaubert, scheint die Perspektive hingegen eine produktionsästhetische: Mit dem Rekurs auf den aktuellen Wissensstand einer bestimmten Disziplin rechtfertigt der Autor vor sich selbst die Entscheidung für bestimmte Plot- und FigurenElemente – er rechtfertigt so die spezifische Form, die er für den gattungspoetisch ‚formlosen‘ Roman wählt. 65 Émile Zola, „Lettre à la jeunesse“, in: Œuvres complètes, Bd.  10, Henri  Mitterand (Hrsg.), Paris 1968, S. 1205–1230, hier 1223. – Daneben gilt es aber auch zu berücksichtigen, dass sich in der Romanliteratur neben affirmativen durchaus auch kritische und skeptische Bezugnahmen auf die zeitgenössische Wissenschaft finden. Balzac ist ein Beispiel dafür, dass solche unterschiedlichen Wissenschaftsreferenzen sogar im Werk eines Autors nebeneinander stehen können: Formuliert der „Avant-propos“ der Comédie humaine explizit das Ziel, die Gesellschaft unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Modelle zu analysieren, so kann La Peau de Chagrin als Infragestellung von Wert und Reichweite des wissenschaftlichen Wissens gedeutet werden. Vgl. dazu Michael Scheffel, „Figurationen der Leidenschaft. Die erzählte Gesellschaft des Honoré de Balzac“, in: Lilith Jappe/Olav Krämer/Fabian Lampart (Hrsg.), Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, Berlin/New York 2012, S. 201–219. Zu der Deutung bestimmter Partien von La Peau de Chagrin als einer Infragestellung von Wert und Reichweite wissenschaftlichen Wissens vgl. ebd., S. 215–217 sowie Klinkert, Epistemologische Fiktionen, S. 149–156.



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ziehe sich seit der Aristotelischen Poetik Mimesis in „etablierten Genera, über deren Legitimität kein Zweifel zu bestehen scheint und die zugleich die Grenzen des Darstellbaren bezeichnen“.66 Der Roman gehört in der klassischen Gattungspoetik freilich nicht zu diesen Genera. Da der ‚mimetische Anspruch‘ des Romans nicht durch seine Gattungsform gedeckt ist, integriert er, will er sich auf Wirklichkeit beziehen, Diskursformen, deren Wirklichkeitsbezug außer Frage steht – also solche der Wissenschaft. Für Versdichtung, sowohl epische als auch lyrische, scheint sich diese Frage des Wirklichkeitsbezugs weniger zu stellen, einerseits aufgrund ihrer poetologischen Verankerung, andererseits, für die Lyrik, sicher auch, weil in der romantischen Poetik des individuellen Selbstausdrucks die Welthaltigkeit der Aussagen des lyrischen Ichs qua seiner Authentizität Kernstück dieser Poetik selbst ist. Umgekehrt sind Verstexte und insbesondere Lyrik – gerade seit jener romantischen Poetik – einem höheren Rechtfertigungsdruck als Prosa ausgesetzt, wenn sie Wissenschaft thematisieren oder Aspekte von Wissenschaftlichkeit aufnehmen. Daher möchte der Band dazu dienen, in der Zusammenschau seiner Beiträge folgende allgemeinere Hypothese zum Wissenschaftsbezug in Verstexten zu überprüfen: Es ist zu vermuten, dass Verstexte eine besonders hohe Selbstreflexivität im Umgang mit dem ‚Fremdkörper‘ Wissenschaft bzw. Wissen aufweisen – eine Selbstreflexivität, die sich in Gattungsexperimenten, in Ironisierungen lyrischen Sprechens oder umgekehrt einer ausgestellten Formstrenge oder Traditionalität äußert, die den Fremdkörper integriert bzw. minimiert. Sollte sich diese Hypothese bekräftigen lassen, so hieße das auch, dass in den betreffenden, vor allem lyrischen Texten das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft in besonders aufschlussreicher Weise reflektiert und neu definiert wird.

IV Europäische Perspektiven: Deutschland, Frankreich und Großbritannien Es erscheint aus mehreren Gründen vielversprechend, die Untersuchung des Verhältnisses von Versdichtung und wissenschaftlichem Wissen im 19. Jahrhundert in einer europäischen Perspektive vorzunehmen und dabei den Fokus auf die deutsche, englische und französische Literatur zu legen. Auch wenn die Beiträge des Bandes zumeist nicht explizit einen Vergleich zwischen den Nationalliteratu-

66 Andreas Kablitz, „Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit im Avant-propos von Balzacs Comédie Humaine“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 99/1989, S. 261–286, insbesondere 262–264, hier S. 262.

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ren ziehen, entwerfen sie gemeinsam doch ein Panorama, das Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Entwicklungen deutlich hervortreten lässt. Warum nun gerade die Konzentration auf den deutschen, französischen und englischen Kulturraum? Kaum zu leugnen ist, dass diese drei Räume in Europa überaus einflussreich und wirkmächtig sind und besonders dynamische Entwicklungen aufweisen, sowohl auf wissenschaftlichem als auch auf literarischem Gebiet. Die Austauschbeziehungen zwischen ihnen sind intensiv. Unter den wissenschaftlichen Theorien provoziert etwa der Darwinismus in allen drei Ländern heftige Reaktionen auch in der Literatur;67 zahlreiche wissenschaftliche Impulse aus Deutschland werden in Großbritannien und Frankreich aufmerksam rezipiert, bis die ‚deutsche Wissenschaft‘ (insbesondere in Frankreich) nahezu mythischen Status erhält;68 zugleich strahlt das alle Disziplinen übergreifende szientistische System des Positivismus von Frankreich nach Deutschland und Großbritannien aus. Was philosophische und insbesondere ästhetische Theorien betrifft, so entfalten die einschlägigen Werke des deutschen Idealismus, in denen die Beziehung zwischen Poesie, Wissen und Wissenschaft intensiv erörtert wurde, europaweit eine nachhaltige Wirkung.69 Daneben kann man generell konstatieren, dass in Frankreich, Deutschland und Großbritannien gleichermaßen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft und nach den Kompetenzen der beiden Diskurstypen intensiv und kontrovers diskutiert wird.70

67 Für englische Beispiele vgl. Rauch, „Poetry and Science“, S. 488–489; für deutschsprachige Hans-Edwin Friedrich, „‚Aufzählen wird uns bald nach Darwins Lehre | Ein Jeder seine ganze Vorfahr=Reihe‘. Darwinismus-Rezeption im Epos des 19. Jahrhunderts“, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Stefanie Metzger (Hrsg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 451–471 und Sprengel, Darwin in der Poesie, für französische z.B. Nicolas Wanlin, „La poétique évolutionniste, de Darwin et Haeckel à Sully Prudhomme et René Ghil“, in: Romantisme, 154/2011, 4, S. 91–104 und Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 140– 145. 68 Vgl. dazu auch Andreas Kleinert, „Considérations sur les relations scientifiques franco-alle­ mandes au XIXe siècle“, in: Revue de synthèse, 2/1988, S. 219–229. 69 Vgl. etwa zur französischen Rezeption der ästhetischen Theorien Kants und Hegels in der Zeit des Vormärz: Elisabeth Décultot, „Die französische Rezeption deutscher Ästhetik, 1830–1848“, in: Gerhard Höhn/Bernd Füllner (Hrsg.), Deutsch-französischer Ideentransfer im Vormärz, Bielefeld 2002, S. 229–248 sowie speziell zu Victor Cousin, Schlüsselfigur für die Rezeption der Kantschen Autonomieästhetik in Frankreich, Stefan Hartung, „Victor Cousins ästhetische Theorie. Eine nur relative Autonomie des Schönen und ihre Rezeption durch Baudelaire“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 107/1997, S. 173–195. 70 Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München [u.a.] 1985.



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Eine der vergleichenden Fragen, die sich vor diesem Hintergrund stellen lassen – und die wir mit diesem Band auch eher anstoßen als dass wir sie vollständig beantworten wollen –, ist, welche Rolle die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen und mit den Wissenschaften als Institution bei den bedeutenden Erneuerungen in der Versdichtung des 19. Jahrhunderts spielt.71 Eher unterschätzt und in jedem Falle nicht ausreichend untersucht scheint insbesondere der Stellenwert von Referenzen auf die Wissenschaften für jene Innovationen in der französischen Lyrik des mittleren und späten 19. Jahrhunderts, die diese Lyrik im Rückblick als ‚Paradigma der Moderne‘ erscheinen lassen.72 Häufig werden diese Innovationen schlagwortartig mit dem Namen ‚Baudelaire‘ umrissen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang unter anderem die Verwandtschaft, die Baudelaire – auf den Spuren Edgar Allan Poes – zwischen dem modernen Künstler bzw. Dichter und dem Wissenschaftler ausmacht. Sie lässt ersteren als eine Figur erscheinen, die Valéry später in bewusster Mehrdeutigkeit als „ingénieur“ bezeichnet.73 Für Baudelaires Konzeption des modernen Künstlers ist dessen Selbstreflexion zentral: die beständige methodische Überprüfung der eigenen (Kunst-)Mittel, die in einer unvoreingenommenen analytischen Haltung sich selbst und seinen Gegenständen gegenüber gründet. Darüber hinaus sind aber auch in seine Reflexionen über Rausch und Inspiration und über ihre Rolle für das dichterische Schaffen wissenschaftliche Anregungen eingegangen.74 In komparatistischer Perspektive stellt sich die Frage, ob und inwiefern es in der englischen und deutschen Lyrik desselben Zeitraums ähnliche Erscheinungen und Entwicklungen gibt oder wie andernfalls diese französische Besonderheit zu erklären wäre.75

71 Auch wenn er diese Frage nicht explizit aufwirft, ließe sie sich abgewandelt anhand des Bandes Thorsten Greiner/Hermann H. Wetzel (Hrsg.), Die Erfindung des Unbekannten. Wissen und Imagination bei Rimbaud, Würzburg 2007 stellen, der jedoch, wie angedeutet, auf die Prosagedichte Rimbauds fokussiert ist. 72 Als beachtenswerte Ausnahme ist indessen der schon erwähnte Aufsatz von Niklas Bender zu nennen, der dafür plädiert, „wissenschaftlich verstandene oder zumindest wissenschaftlich inspirierte Objektivität“ als ein „zentrales Konzept in dem Transformationsprozess, der die Gattung in die Moderne führt“, zu betrachten (Bender, „Die Objektivität der modernen Lyrik“, S.  73).  – Die Formel vom ‚Paradigma der Moderne‘ geht bekanntlich zurück auf einen Kolloquiumsband der Arbeitsgruppe „Poetik und Hermeneutik“: Wolfgang Iser (Hrsg.), Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966. 73 Vgl. Claude Pichois, „Introduction“, in: Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1972, S. 7–26, hier S. 23. 74 Vgl. v.a. zu diesem letzten Punkt den Beitrag von Thomas Klinkert im vorliegenden Band. 75 In der vorliegenden Forschung zu dieser Frage spielt der Künstler als wissenschaftsanaloger Analytiker, soweit wir sehen, indessen keine Rolle. Vgl. etwa Sautermeisters Thesen zu Paral-

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Doch es gilt auch zu fragen, ob Baudelaire gerade in komparatistischen Untersuchungen nicht häufig zu isoliert betrachtet und zu pointiert quasi als einsamer Wegbereiter der Moderne gedeutet worden ist, der als solcher mit der übrigen französischen Lyrik des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts wenig gemeinsam habe. Diese Lesart ist bekanntlich von Hugo Friedrich in seiner Struktur der modernen Lyrik eingeläutet worden.76 Um diese Sichtweise zu differenzieren, ist ein breiteres Spektrum von Autoren und Texten zu berücksichtigen. Von Interesse sind dabei insbesondere die Parnassiens, auf die der Band mit drei Beiträgen einen seiner Schwerpunkte legt. Ihre Dichtung bildet gerade hinsichtlich des Verhältnisses zu den Wissenschaften eigenständige und komplexe Positionen

lelen zwischen Baudelaire und Heine (Gert Sautermeister, „Heine und Baudelaire – eine vergleichende Lektüre“, in: Thomas Koebner/Sigrid Weigel [Hrsg.], Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation, Opladen 1996, S. 43–78). Weniger Parallelen als eher Diskrepanzen hat die anglistische Forschung ausgemacht, die, im Gefolge der klassischen Moderne, lange die Ausnahme- und Sonderstellung Baudelaires betont hat, gegen den die viktorianische Ästhetik abfalle (vgl. z.B. Fredric Jameson, „Baudelaire as Modernist and Post­modernist: The Dissolution of the Referent and the Artificial ‚Sublime‘“, in: Chaviva Hošek/ Patricia Parker [Hrsg.], Lyric Poetry: Beyond New Criti­cism, Ithaca 1985, S. 247–263 sowie kritisch dazu Rachel Teukolsky, „Modernist Ruskin, Victorian Baudelaire. Revisioning Nineteenth-­ Century Aesthetics“, in: Publications of the Modern Language Association of America, 122/2007, S. 711–727). Wenn Baudelaire zum poetologischen Fixstern des britischen ‚Aesthetic mouvement‘ gemacht wird (vgl. Leon Chai, Aestheticism. The Religion of Art in Post-Romantic Literature, New York 1990, S. 45–62), wird dort die ‚wissenschaftliche‘ Selbstreflexivität des Künstlers indessen auch nicht thematisiert. In der jüngeren Forschung zu Walter Pater als einem der Hauptvertreter des englischen Ästhetizismus ist allerdings verschiedentlich die Bedeutung der Naturwissenschaften hervorgehoben worden. So hat Gowan Dawson darauf hingewiesen, dass der Ästhetizismus im England der 1870er und 1880er Jahre von Kritikern als eine Parallelerscheinung der modernen Naturwissenschaft betrachtet wurde: „The alleged sensualism of aesthetic art and literature was seen by many to give warning of the repulsive direction in which modern society was being taken by the increasingly influential doctrines of scientific naturalism“ (Gowan Dawson, „Intrinsic Earthliness: Science, Materialism, and the Fleshly School of Poetry“, in: Victorian Poetry, 41/2003, 1, S. 113–130, Zitat S. 115). Pater, so Dawson, habe sich in seiner Verteidigung der Dichtung Dante Gabriel Rossettis die Annahme dieser Parallele zu eigen gemacht, den Makel allerdings zu einem Gütesiegel umgedeutet. Zur Bedeutung der Naturwissenschaften für Pater vgl. auch: Kanarakis Yannis, „The Aesthete as a Scientist: Walter Pater and Nineteenth-Century Science“, in: Victorian Network, 2/2010, 1, S. 88–105. URL: http://www.victoriannetwork.org/index.php/vn/article/view/15 (Stand: 23.09.2014). Es gilt als so gut wie sicher, dass Pater, obwohl er sich kaum einmal explizit auf Baudelaire bezieht, mit dessen Werk vertraut war und dass Baudelaires dichtungs- und kunsttheoretische Auffassungen für die Entwicklung seiner eigenen Ästhetik wichtig waren. Vgl. die ausführliche Diskussion in: Patricia Clements, Baudelaire and the English Tradition, Princeton 1985, S. 77–139. Baudelaires und Paters Haltungen den Wissenschaften gegenüber werden aber auch hier nur beiläufig angesprochen (vgl. ebd., S. 113–115). 76 Vgl. Hugo Friedrich, Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956.



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aus. Überdies ist nicht zu vernachlässigen, dass die Zeitgenossen Baudelaire im Kontext des Parnasse wahrnahmen und in dessen antiromantischem Lyrikparadigma Aspekte vorgeprägt sind, die rückblickend als Kernelemente der Poetik moderner Lyrik erscheinen, insbesondere die Auffassung vom Gedicht nicht als eines Affektausdrucks, sondern als einer artistisch-sprachlichen Konstruktion.77 Berücksichtigt man also die Lyrikproduktion in ihrer Breite, wozu der Band auch jenseits Frankreichs einen Ansatz leisten will, so stellt sich auch die Beziehung zwischen Dichtung und Wissenschaft als vielfältiger und komplizierter dar, und es ergeben sich neue Fragen nach Parallelen oder Divergenzen zwischen französischer, englischer und deutscher Lyrik.

V Zu den Beiträgen Mit dem wissenschaftlichen Lehrgedicht, wie es unter anderem durch Lukrez’ De rerum natura repräsentiert wird, gibt es eine Gedichtgattung, für die eine ausdrückliche Bezugnahme auf wissenschaftliches Wissen konstitutiv ist. Olav Krämer analysiert zwei zwischen etwa 1800 und 1820 entstandene und veröffentlichte Gedichte, die auf unterschiedliche Weisen diese Gattungstradition fortsetzen: Erasmus Darwins The Temple of Nature und Johann Wolfgang Goethes Metamorphose der Tiere. In diesen Gedichten formulierten Darwin und Goethe naturwissenschaftliche Beobachtungen und Theorien, die sie daneben auch in Prosaabhandlungen der Öffentlichkeit vorstellten. Die leitenden Fragen der vergleichenden Untersuchung Krämers zielen auf die formale Gestaltung der Gedichte sowie darauf, welche Funktion Darwin beziehungsweise Goethe der Darbietung von naturwissenschaftlichen Wissensansprüchen in Gedichtform zuwiesen. Im Hinblick auf die Form weisen die Gedichte unübersehbare Differenzen auf: Darwins The Temple of Nature umfasst etwa zweitausend Verse, die durch zahlreiche Fußnoten und durch einen Anhang mit „Additional Notes“ ergänzt werden; das Gedicht Metamorphose der Tiere hingegen enthält nur etwa sechzig Verse und präsentiert zentrale Gedanken aus Goethes tieranatomischen Studien in stark verdichteter Form und unter weitgehendem Verzicht auf veran-

77 Vgl. Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse“, S. 176–177. Vgl. zum Parnasse orientierend z.B. die Beiträge in Klaus W. Hempfer (Hrsg.), Jenseits der Mimesis. Parnassische „transposition d’art“ und der Paradigmenwandel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2000. Zur Rezeption des Parnasse in der englischen Literatur vgl. James K. Robinson, „A Neglected Phase of the Aesthetic Movement. English Parnassianism“, in: Publications of the Modern Language Association of America, 68/1953, 4, S. 733–754. Interessanterweise bezieht Robinson auch Baudelaire in seine Untersuchung ein.

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schaulichende Beispiele und Beschreibungen. Aber trotz der erheblichen formalen Unterschiede, so Krämer, lassen sich Parallelen im Hinblick auf die Zwecke feststellen, zu denen Darwin und Goethe die poetische Verarbeitung ihrer wissenschaftlichen Befunde nutzten. So entwerfen beide Gedichte die Natur als eine umfassende Einheit und behaupten Beziehungen zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur, aus denen auch moralische Normen oder Werte abgeleitet werden. Krämer beschließt seinen Beitrag mit einigen Überlegungen dazu, ob und, falls ja, in welcher Form die Gattung des wissenschaftlichen Lehrgedichts auch im späteren 19. Jahrhundert noch weiterwirkte. Zunächst allerdings waren diese Gattung im Allgemeinen und Erasmus Darwins Gedichte im Besonderen im frühen 19. Jahrhundert der scharfen Kritik von Dichtern wie William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge ausgesetzt. Diesen und weiteren Autoren wendet sich der Beitrag von Christoph Bode zu. Er untersucht, wie sich einschlägige Dichter und Dichterinnen der britischen Romantik in ihren poetischen, dichtungstheoretischen und sonstigen Schriften zu den aufkommenden Diskursen der Wissenschaften (worunter hier sowohl die Naturwissenschaften als auch die Wirtschafts- und Politikwissenschaften der Zeit verstanden werden) verhalten haben. Es ergibt sich zunächst ein sehr differenziertes Bild bezüglich des Interesses an den neuen Wissenschaften, das sich von grundsätzlicher Ablehnung bei William Blake über distanziertes Interesse bei William Wordsworth (und dem philosophisch-spekulativem Zugriff auf natural history and philosophy von Samuel Taylor Coleridge) bis hin zu dem ausgeprägten und wachen Interesse von P.B. Shelley, John Keats und Charlotte Smith erstreckt. Gemeinsam ist ihnen allen aber, dass sie den neuen wissenschaftlichen Diskursen einen verkürzten Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff attestieren, der in seiner sozialen Anwendung schlimme Folgen nicht nur für das Menschenbild der Zeit, sondern auch für die tatsächliche Lage der Menschen habe. (Bei Charlotte Smith ist dies gleichwohl nicht explizit gemacht!) Demgegenüber wird die Rede der Poesie als Gegenrede positioniert, die in der Lage ist, das Menschliche zu verteidigen gegenüber einem ‚Wissen‘, das sich verselbständigt hat und dem Menschen nun als fremd, unheimlich, verdinglicht gegenübertritt. Die Begründungen dieser Sicht poetischer Rede als kompensatorisch, ja befreiend, fallen durchaus unterschiedlich aus – bei Blake wird eher visionär-mystisch argumentiert, bei Wordsworth und Coleridge sprachphilosophisch, bei Shelley sprach- und kulturphilosophisch mit deutlicher politischer Pointierung, bei Keats sensualistisch, bei Charlotte Smith, so legt es die Lektüre von Beachy Head nahe, über eine metaphorische Versöhnung der verschiedenen Diskurse und letztlich von Natur und Gesellschaft im Bild der Geschichte des Wissens als einer mit Fossilien durchsetzten Sedimentierung – als einer Geschichte der Vorstellungsfor-



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men. Der Beitrag endet mit einer Skizze der Vorstellung poetischer Rede als eines Konterdiskurses, der gerade wegen seines Alleinstellungsmerkmales – nämlich ein Diskurs ohne angebbaren, spezifischen Gegenstand zu sein – in der Lage ist, alle anderen Diskurse der Gesellschaft, auch und insbesondere die der Wissenschaften, ‚aufzumischen‘ und in einer Weise zu dynamisieren, die jenen Diskursen selbst, ob ihrer gesellschaftlich-institutionellen Verankerung, nicht möglich ist. Betrachtet man Diskurs als die Einheit von Form und Inhalt einer Rede über einen bestimmten (selbstverständlich erst durch den Diskurs konstituierten) Gegenstand, so ist der ungebundene und objektlose Konterdiskurs der Literatur (und insbesondere der Poesie) als anders regulierter Zufluss besonders geeignet, das Flussbett der anderen Diskurse zu affizieren – und sei es, dass er uns eine Vorstellung von dem vermittelt, was wir ohne ihn nur wüssten, dass er relationale Wert- und Beziehungsfragen aufwirft, wo sonst nur gemessen und festgestellt würde. Der Konterdiskurs der Poesie – so die romantische Vorstellung – wäre dabei den Diskursen der Wissenschaft ironischerweise gerade dann überlegen, wenn er sie unterläuft. Eine geradezu entgegengesetzte Stoßrichtung prägt die Texte, die Marc Föcking in den Blick nimmt. In ihnen ist Dichtung nicht ein möglicher Gegenspieler der Wissenschaftsdiskurse; vielmehr zeigen sie, wie die technischen Produkte der Wissenschaft lyrische Rede affizieren. Föcking verfolgt, wie die neue Technologie der Eisenbahn der zu Beginn des 19. Jahrhunderts neuen Konzeption der Lyrik eine Reihe von Problemen bereitet: Entwarfen Romantik und die Ästhetik des Idealismus Lyrik als Gefühlsaussprache eines sich von Raum und Zeit abstrahierenden, in sich ruhenden Subjekts, so sah sich diese Statik ab den 1840er Jahren mit der Dynamik des durch die Eisenbahn in Bewegung versetzten Subjekts und seines neuen Raum- und Zeitempfindens herausgefordert. Von daher gewinnt die Position des Subjekts in prominenten Eisenbahn-Gedichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts emblematischen Wert für die Rückwirkung der technischen Moderne auf das lyrische Subjekt und seine Auflösung: Alfred de Vignys La maison du berger bringt beide in Opposition und lässt ein epistemologisch starkes Subjekt aus der sicheren, idyllisierten und gleichzeitig irrealisierten Distanz der relativen Ruhe traditioneller Langsamkeit auf die dahindonnernde Eisenbahn blicken, während wenige Jahrzehnte später Verlaines Gedicht Le paysage dans le cadre des portières das Ich selbst in die Bewegung des Eisenbahnwaggons versetzt und dessen autonome Wahrnehmung bereits in Ansätzen in die Passivität einer bloßen Reflektorfigur umwandelt. In Ardengo Sofficis Treno-Aurora haben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Konturen des in Bewegung versetzten Subjekts schließlich auch grammatikalisch aufgelöst. Thomas Klinkerts Beitrag untersucht Baudelaires für die Entwicklung der Moderne zentrales Werk im Hinblick auf den Zusammenhang von Poetik

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und Wissenschaft. Ausgangspunkt ist die ambivalente Einstellung des Autors zum Gebrauch von Drogen und Rauschmitteln: Einerseits werden von ihm insbesondere die Drogen Haschisch und Opium abgelehnt, weil sie die künstlerische Kreativität lähmen, andererseits werden die bewusstseinserweiternden Wirkungen solcher Drogen, auch des Alkohols, mit Faszination beschrieben. Die damit verbundene doppelte Lesbarkeit seiner Drogenschriften verweist in das Zentrum seines poetischen Werks, in dem sich zahlreiche Korrespondenzen zu jenen Schriften, vor allem den Paradis artificiels, finden lassen. Diese Korrespondenzen werden anhand dreier Gedichte genauer untersucht: Les petites vieilles, Harmonie du soir und Le soleil. Diesen Texten ist gemeinsam, dass in ihnen jeweils das Verb „évaporer“ („verdunsten“) vorkommt, welches, wie der Beitrag zu zeigen versucht, als Schnittstelle zwischen poetologischem und wissenschaftlichem Diskurs fungiert. Dieses laut Frantext in Baudelaires Werk insgesamt nur sechs Mal nachweisbare Wort verwendet er in einer Passage der Paradis artificiels, die, wie Kopp und Pichois gezeigt haben, ein verstecktes Zitat aus Dorvaults L’officine ou répertoire général de pharmacie pratique enthält. Damit erfolgt ein Brückenschlag zwischen medizinisch-wissenschaftlichem Diskurs einerseits und Baudelaires Drogenreflexion und poetischer Praxis andererseits. Die genaue Untersuchung der drei Gedichte zeigt, dass in ihnen jeweils zentrale Elemente von Baudelaires Poetik im Zusammenhang mit der Rauschthematik verhandelt werden. Abschließend wird vor dem Hintergrund der Textanalysen allgemein über den Zusammenhang von Poesie und Wissen nachgedacht: Die Wissenschaft wird für Baudelaire zum Anlass und zur Quelle poetischer Inspiration. Markiert Baudelaire in der Literaturgeschichtsschreibung einen ‚Scheidepunkt‘ in der Literatur des 19. Jahrhunderts, nimmt Henning Hufnagel zu Beginn seines Beitrags eine andere Bruchlinie in den Blick, allerdings, um sie zu dekonstruieren. Beginnend bei einem in der Betrachtung der Literatur des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten Tableau, Lyrik und Prosa als gegensätzlich einander gegenüberzustellen, skizziert Hufnagel einen ‚dritten Weg‘ der Interpretation, der seinen Ausgangspunkt bei einem Gedanken Ferdinand Brunetières nimmt: Brunetière sieht naturalistische Prosa und parnassische Poesie einander nicht nur nicht entgegengesetzt, sondern parallel, ja, als zwei Varianten derselben Poetik, derjenigen eines „positivisme esthétique“. Dies bedeutet insbesondere, auch für die Lyrik, eben jene des Parnasse, poetologisch und textpraktisch den Bezug auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit als ein zentrales Definitionsmerkmal anzusehen. Darauf aufbauend entwickelt Hufnagel eine Neucharakterisierung der Parnasse-Lyrik. Er stellt die These auf, dass der Parnasse durch mehrere spezifische Spannungsverhältnisse gekennzeichnet ist. Anders als andere Rekonstruktionen will sie die Heterogenität des Parnasse also nicht aufheben oder eskamotieren, sondern ihr gerade Rechnung tragen. In einem weiteren Schritt greift



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Hufnagel das wichtigste Spannungsverhältnis heraus, jenes von Wissenschaftsanalogie und Dokumentarismus einerseits sowie poetischer Artistik andererseits, um in der Lektüre von vier Gedichten herauszuarbeiten, in welchen Formen und mit welchen Funktionen sich der Wissenschaftsbezug in Texten von José-Maria de Heredia, Leconte de Lisle und Sully Prudhomme je manifestiert. Hufnagel macht Analogiebildungen auf der Ebene der Vertextungsverfahren aus, durch die überraschende Aussageansprüche für Lyrik erhoben werden. Und er zeigt, dass inhaltlich-thematische Bezugnahmen diametral entgegengesetzt motiviert und funktionalisiert sein können, was mit der allgemeinen Heterogenität der Parnasse-Lyrik in Einklang steht. Gemeinsam ist allen betrachteten Texte aber die Tilgung eines fühlenden Subjekts als Perspektivträger zugunsten objektivierter, abstrahierter Sprechinstanzen. Hugues Marchal rückt Sully Prudhomme ins Zentrum seines Beitrags. Auch wenn diesem Autor 1901 der erste Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, wird er heute kaum noch gelesen. Sein Versuch, Dichtung und Epistemologie miteinander zu verbinden, scheint ihn ebenso unpopulär gemacht zu haben wie Jacques Delille, dessen Lehrdichtung zur Zeit des Ersten Kaiserreichs hoch gelobt, von den Romantikern dann aber disqualifiziert wurde – insbesondere mit der Begründung, dass ihr ein persönlicher Gefühlsgehalt abgehe. Marchal zeigt, dass Sully Prudhomme die Kontroversen um Delille geerbt hat. Er verortet Sully Prudhommes Werk im Kontext der ästhetischen und ideologischen Debatten der Zeit um eine Poesie der Wissenschaft und beantwortet so die Frage, warum er es für nötig ansah, Dichtung nicht von Wissenschaft zu isolieren. Schließlich arbeitet Marchal heraus, wie Sully Prudhomme Gefühlsausdruck und „aventures de l’intelligence“ miteinander zu verbinden versucht: Sully Prudhomme entwickele dazu das Konzept einer eigenen Art von Emotionalität der Wissenschaftsrezeption. Lag in den bisherigen Beiträgen der Akzent vor allem auf naturwissenschaftlichen Disziplinen, betrachtet der Beitrag Marco Thomas Bosshards Interferenzen von Dichtung und Philologie. Er beleuchtet die Rezeption André Chéniers und seiner (insbesondere epischen) Dichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl durch Vertreter des Parnasse – hier speziell durch José-María de Heredia – als auch durch León Gautier, den damals führenden Paläographen und Epenforscher an der Pariser École des Chartes. Gautier stilisiert Chénier in seinen sich zwischen Philologie und Historiographie ansiedelnden Schriften als Gewährsmann für seine Theorie der séance épique und verfolgt dabei eine Strategie der ‚fiktionalisierenden Rahmung von Faktualem‘, die der gemeinhin als ‚objektivierend‘ bzw. ‚entsubjektivierend‘ beschriebenen dichterischen Strategie der Parnassiens gegenübergestellt werden soll. Insofern Heredia sowie auch andere Parnassiens ebenfalls Absolventen der École des Chartes waren und

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dort eine nahezu identische wissenschaftliche Ausbildung wie Gautier genossen haben, werden abschließend Heredias kommentierte Textedition von Chéniers Bucoliques sowie sein Epenfragment Détresse d’Atahuallpa danach befragt, inwiefern sich in ihnen philologische und historiographische Methoden widerspiegeln, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts an der École des Chartes institutionalisiert wurden. Kein Band zu Literatur und Wissenschaft im 19. Jahrhundert kommt an Charles Darwin vorbei. Die Veröffentlichung seiner Evolutionstheorie im Jahr 1859 führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Paradigmenwechsel in der Sicht auf den Menschen und seine Verortung in der Welt, der unzählige literarische Echos von ganz unterschiedlicher Art und in ganz unterschiedlichen Genres geworfen hat. Der Beitrag Ulrike Zimmermanns fokussiert einen weniger bekannten Aspekt: Zimmermann analysiert humoristische und satirische Dichtung von Frauen des späten 19. Jahrhunderts, die sich Darwins Gedankengut zunutze machen, um zeitgenössische Verhaltensweisen und Geschlechterkonventionen kritisch zu hinterfragen. Frauen profitieren dabei besonders von den Verwerfungen im Selbstverständnis ihrer Zeitgenossen; die Entthronung des Menschen öffnet gedankliche Freiräume. Das späte 19. Jahrhundert ist darüber hinaus eine Zeit der zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung der neuen Naturwissenschaften; Dichterinnen und Wissenschaftlerinnen, deren Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe ohnehin problematisch waren, werden dadurch weiter an den Rand gedrängt. Die besprochenen Gedichte von May Kendall und Constance Naden zeigen, wie Autorinnen die Implikationen der Evolutionstheorie in verschiedener Weise humorvoll und mit subversivem Potential nutzen. In Fabian Lamparts Beitrag wird die Frage gestellt, ob der für die Beziehungen zwischen Literatur und Wissenschaften im 19. Jahrhundert besonders wichtige Bereich der Ökonomie auch für die Untersuchung lyrischer Texte relevant ist. Ästhetikgeschichtlich ist Lyrik seit dem späten 18. Jahrhundert stark mit Konzepten wie Subjektivität, Innerlichkeit und Emotionalität verbunden. Dass in lyrischen Texten ökonomische Themen in ähnlicher Weise behandelt werden wie in der Prosa oder im Drama, ist deshalb nicht unbedingt naheliegend, andererseits aber angesichts der Bedeutung der Lyrik im 19. Jahrhundert auch nicht ausgeschlossen. Es geht also um Vorüberlegungen zu den Beziehungen zwischen den Bereichen Lyrik und Ökonomie. Deshalb wird zunächst auf der Grundlage bekannter Fragestellungen aus Literatur-und-Ökonomie-Studien diskutiert, welche methodischen Ansätze für die Untersuchung dieses Verhältnisses in lyrischen Texten zugrunde gelegt werden können. Zweitens werden an Beispielen aus der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jahrhunderts mögliche Varianten solcher Referenzen auf ökonomische Themen und ökonomietheore-



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tische Problemlagen herausgearbeitet. Abschließend lässt sich festhalten, dass die für lyrische Texte relevanten Beziehungen zur Ökonomie nicht immer den Status eigenständiger Diskurse haben und oft nur im Rahmen anderer Diskussionszusammenhänge identifizierbar sind. Der Beitrag Alexander Nebrigs widmet sich dem Transferprozess des Wissens aus der wissenschaftlichen Disziplin der Zoologie in die lyrische Rede von Arno Holz’ Phantasus (zuerst 1898/99). Dieser Wissenstransfer in die Poesie wirft zwei Fragen auf: Warum ist ein Wissen überhaupt interessant? Und wie wird im Aufnahmekontext der Poesie der ursprüngliche wissenschaftliche Rahmen dieses Wissens behandelt? Am Phantasus zeigt sich, dass das Wissen der Naturwissenschaft, für welches sich die Naturalisten interessierten, bereits rhetorisch und ästhetisch vorgeformt war. Dadurch wurde die Übertragung erst ermöglicht. Die Beantwortung der zweiten Frage erweist sich als komplizierter, da Holz seine Position im Laufe der lebenslangen Überarbeitung seines Hauptwerks geändert hat. Blieb der wissenschaftliche Rahmen als impliziter Kreditgeber in der Erstpublikation bestehen, so wurde er in der letzten Fassung aus dem Nachlass gezielt aufgegeben, um die Glaubwürdigkeit des Lebenswissens aus sich selbst zu beziehen. Erhebt bei Holz also die dichterische Rede zuletzt wieder eigene, wissenschaftlicher Versicherungen unbedürftige Aussageansprüche, zeigt auch Benjamin Specht, wie Dichtung Wissenschaft kommentiert – zumal, wenn diese sich mit der Metapher als Untersuchungsgegenstand auf deren ureigenstes Gebiet begibt. Specht arbeitet heraus, wie sich um 1900 in den Wissenschaften eine anti-rhetorische Betrachtung der Metapher durchzusetzen beginnt, bei der das Muster des Tropus aus Sprachwissenschaft, Poetik und Ästhetik in den Kontext der Wahrnehmungsphysiologie, der Psychologie, Erkenntnistheorie sowie Ethnologie und Mythenforschung exportiert wird. Die Metapher bzw. ‚das Metaphorische‘ erscheint dabei stets als Grundfigur des menschlichen Weltverhältnisses, wobei diese Diagnose zu gegensätzlichen Bewertungen führt: Mal gilt die Metapher als Indikator psychophysischer Integration, mal aber auch als Inbegriff eines arbiträren und solipsistischen Wirklichkeitsbezugs. Hugo von Hofmannsthal nimmt diese Diskussion genau zur Kenntnis und zieht Konsequenzen für seine Dichtung, so dass Wissenschaft und Poesie einander in seinem Werk aufmerksam beobachten. In seinem poetologischen Œuvre sucht er nach Möglichkeiten der Vermittlung beider Aspekte, und auch in seinen Gedichten erprobt er lyrische Verfahren, durch die gleichermaßen Teilhabe und Abgrenzung von Mensch und ‚Leben‘ zur Darstellung gebracht werden kann. Dabei ist es gerade die explizite Markierung der Differenz von Bild und Bedeutung in der figurativen Rede, die die Bedingung der Möglichkeit schafft, dass am Ende doch auch unter den Konditionen der ‚Uneigentlichkeit‘ im Gedicht eine Erfahrung der Einheit evoziert werden

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kann. Das Wissen der Poesie besteht für Hofmannsthal somit darin, dass sie um ihr Nicht-Wissen weiß.

* Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf eine im Juli 2013 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) veranstaltete Tagung zurück. Wir bedanken uns daher zunächst bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung, dann aber insbesondere bei den Verantwortlichen des FRIAS, ohne die unsere Tagung nicht hätte stattfinden können und auch dieser Band nicht zustande gekommen wäre: zuerst und vor allem bei Werner Frick, dem Direktor der School of Language and Literature, ferner bei Gesa von Essen sowie bei Heike Meier und Simone Zipser. Bei der Redaktion und Drucklegung des Bandes haben uns Johannes Aderbauer und Elisabeth Tilmann, bei der Erstellung des Personenregisters Clara Kopfermann überaus wertvolle Hilfe geleistet; dafür sind wir ihnen sehr dankbar. Schließlich danken wir auch den beiden sachkundigen anonymen Gutachtern im Rahmen des Peer-Review-Verfahrens der Reihe linguae & litterae für ihre sorgfältige und hilfreiche Kommentierung des Manuskripts.

Bibliographie Ajouri, Philip, Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus. Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller, Berlin/New York 2007. Beer, Gillian, „Plot and the analogy with science in later nineteenth-century novelists“, in: Comparative Criticism, 2/1980, S. 131–149. Beer, Gillian, Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and NineteenthCentury Fiction. Third edition, Cambridge 2009 (1. Aufl. 1983). Bender, Niklas, Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin. Flaubert, Zola, Fontane, Heidelberg 2009. Bender, Niklas, „Die Objektivität der modernen Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé)“, in: Niklas Bender/Steffen Schneider (Hrsg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen 2010, S. 73–97. Bies, Michael/Gamper, Michael/Kleeberg, Ingrid (Hrsg.), Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013. Bies, Michael/Gamper, Michael/Kleeberg, Ingrid, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Gattungs Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013, S. 7–18. Borgards, Roland/Neumeyer, Harald/Pethes, Nicolas/Wübben, Yvonne (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013. Borgstedt, Thomas, „Der Ruf der Gondoliere. Genretheorie, Formpoetik und die Sonette August von Platens“, in: Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern [u.a.] 2005, S. 295–325.



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Olav Krämer (Freiburg)

Transformationen des wissenschaftlichen Lehrgedichts um 1800 Erasmus Darwins The Temple of Nature und Johann Wolfgang Goethes Metamorphose der Tiere I Einleitung In seinem 1697 veröffentlichten „Essay upon Virgil’s Georgics“ erklärte der junge Joseph Addison einleitend, das Gedicht des römischen Dichters gehöre zu „that class of poetry which consists in giving plain and direct instructions to the reader“.1 Nach dem Inhalt der Lehren lassen sich, so Addison, drei Untergattungen dieser Dichtungsart unterscheiden: Die eine handle von „moral duties“, die zweite biete „philosophical speculations“ und die dritte, zu der auch die Georgica gehören, „rules of practice“.2 Mit der Philosophie, aus der die zweite Spielart ihre Inhalte bezieht, ist, wie Addison kurz darauf präzisiert, „[n]atural philosophy“ gemeint; als Beispiele für diese Spezies führt er die Gedichte von Arat und Lukrez an.3 Ähnlich wie Addison und teilweise in explizitem Rekurs auf seinen Essay4 unterschieden auch andere Autoren des 18. Jahrhunderts innerhalb der didaktischen Dichtung eine spezifische Ausprägung, die durch die Herkunft ihrer Lehren aus dem Bereich der Naturphilosophie oder Naturgeschichte definiert war und deren berühmtestes antikes Muster das Gedicht De rerum natura des Lukrez war. Zur Wahrnehmung dieser Gedichtart als einer eigenen Gattung (oder Subgattung) dürften aber mindestens ebenso sehr wie diese dichtungstheoretischen

1 Joseph Addison, „An Essay on Virgil’s Georgics“ [1697], in: Scott Elledge (Hrsg.), EighteenthCentury Critical Essays. Vol. I, Ithaca (NY) 1961, S. 1–8, Zitat S. 1. – Dieser Beitrag steht im Zusammenhang mit dem von der ANR und der DFG geförderten deutsch-französischen Forschungsprojekt Biolographes. Création littéraire et savoirs biologiques au XIXe siècle. 2 Ebd., S. 1–2. 3 Ebd., S. 2. 4 Zur Publikations- und zur Wirkungsgeschichte von Addisons Essay vgl. den Kommentar des Herausgebers in: Elledge (Hrsg.), Eighteenth-Century Critical Essays. Vol. I, S. 488–489. Zum Einfluss des Essays auf die Behandlung der didaktischen Poesie in der englischen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts vgl. ferner: Bernhard Fabian, „Die didaktische Dichtung in der englischen Literaturtheorie des achtzehnten Jahrhunderts“, in: Festschrift für Walther Fischer, Heidelberg 1959, S. 65–92, hier S. 77–78.

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 Olav Krämer

Bestimmungen die praktischen Versuche zahlreicher Autoren beigetragen haben, die Erkenntnisse der neueren Naturforschung in Versen zu präsentieren. Besondere Beachtung erlangten einige Werke, die sich – wie der Anti-Lucretius des Kardinals Melchior de Polignac – in Umfang und Struktur eng am Modell des Lukrez orientierten, aber seine Lehren zu widerlegten suchten.5 Diese anti-lukrezischen Gedichte sowie andere wissenschaftliche Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts sind auch noch der jüngeren Literaturgeschichtsschreibung gut bekannt.6 Ob und, falls ja, in welchem Umfang und in welchen Formen diese Gedichttradition auch im 19. Jahrhundert weitergeführt wurde, kann hingegen noch nicht als geklärt gelten. Einigen Forschern zufolge stirbt diese Gedichtgattung um oder kurz nach 1800 aus.7 Aber es ist fraglich, ob die nicht kanonisch gewordene Literatur des 19. Jahrhunderts so umfassend erschlossen ist, dass solche Urteile als zuverlässig gelten können. Mit Blick auf die französische Literatur war es lange Zeit eine unstrittige Forschungsmeinung, dass das wissenschaftliche Lehrgedicht um 1800 zu einer der angesehensten und produktivsten Gattungen avanciere, dann aber einen raschen Niedergang erlebe und ab etwa 1820 keine wesentliche Rolle mehr spiele. Inzwischen ist jedoch nachgewiesen worden, dass diese Gedichttradition bis um 1900 intensiv gepflegt wurde: Im Laufe des Jahrhunderts wurden mehrere hundert wissenschaftliche Lehrgedichte veröffentlicht, die auch keineswegs unbeachtet blieben, sondern häufig Gegenstand lebhafter Diskussionen waren.8 Auch mit Blick auf die deutsch- und die

5 Vgl.: Melchior de Polignac, Anti-Lucretius, sive De Deo et Natura, Libri Novem, Paris 1747. Zu dieser Gruppe der anti-lukrezischen Gedichte können ferner gerechnet werden: Richard Blackmore, Creation. A Philosophical Poem. Demonstrating the Existence and Providence of a God, 3rd edition, London 1715; [Christoph Martin Wieland], Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers, Halle im Magdeburgischen 1752. 6 Vgl. zu den anti-lukrezischen Gedichten etwa: H. B. Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany. With a Commentary on Goethe’s ‚Metamorphose der Tiere‘“, in: The Modern Language Review, 81/1986, S. 97–115, hier S. 103. 7 Vgl. etwa: ebd., S. 112–115; Barbara Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos in der Nachfolge des Lukrez. Bruno – Kepler – Goethe“, in: Thomas Leinkauf (Hrsg., unter Mitarbeit von Karin Hartbecke), Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700, Tübingen 2005, S. 109–186, hier S. 185–186. 8 Erbracht wurde dieser Nachweis durch die Forschergruppe des Projekts „Euterpe: la poésie scientifique en France de 1792 à 1939“. Vgl.: Muriel Louâpre/Hugues Marchal, „Introduction“, in: Muriel Louâpre/Hugues Marchal/Michel Pierssens (Hrsg.), La Poésie scientifique, de la gloire au déclin. Online-Publikation, veröffentlicht im Januar 2014 auf der Seite Épistémocritique, www. epistemocritique.org, S. 5–18 (Stand: 06.03.2015), hier v.a. S. 5–9. Eine Auswahl von Werken der „poésie scientifique“ des 19. Jahrhunderts hat die Forschergruppe in einer Anthologie veröffentlicht: Vgl. Hugues Marchal (Hrsg.), Muses et ptérodactyles. La poésie de la science de Chénier à Rimbaud, Paris 2013. Zur Anzahl der wissenschaftlichen Gedichte aus dem 19. Jahrhundert vgl.



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englischsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts dürfte die Frage, in welchem Umfang und in welcher Weise die Tradition des wissenschaftlichen Lehrgedichts fortgesetzt wurde, noch weitere Untersuchungen verdienen. Um die Frage nach dem Weiterwirken des wissenschaftlichen Lehrgedichts im 19. Jahrhundert differenziert beantworten zu können, ist es wichtig, die Vielfalt der Formen und Funktionalisierungen zu berücksichtigen, die diese Gattung schon zu Beginn dieses Jahrhunderts herausgebildet hat. Die wissenschaftlichen Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts weisen im Umfang und in ihren Textstrukturen erhebliche Unterschiede auf, und auch die mit ihnen verbundenen Ziele und Wirkungsabsichten sind nicht einheitlich und in aller Regel komplexer, als es ein Attribut wie ‚didaktisch‘ oder auch Addisons Rede von „plain and direct instructions“ suggeriert. Zur Erhellung dieser Vielfalt und Komplexität soll auch die vorliegende Studie beitragen, die sich mit zwei Gedichten aus den Jahren um 1800 befasst. Erasmus Darwins The Temple of Nature; or, The Origin of Society (1803) und Johann Wolfgang Goethes Metamorphose der Tiere (veröffentlicht 1820, entstanden wohl um 1798/99) präsentieren beide naturgeschichtliche Theorien, und zwar teilweise oder ausschließlich Theorien, die Darwin beziehungsweise Goethe auch in wissenschaftlichen Abhandlungen vorgestellt haben. Auch wenn sie von ihren Autoren nicht ausdrücklich als Lehrgedichte bezeichnet wurden, stehen die Gedichte mit ihrem Inhalt deutlich in dieser Gattungstradition, die zudem in beiden durch Bezugnahmen auf Lukrez aufgerufen wird. Doch während Darwins Gedicht mit etwa 2000 Versen zumindest ansatzweise auch die epische Breite des lukrezischen Werks nachahmt, umfasst Goethes Metamorphose der Tiere nur 61 Verse, und auch hinsichtlich der formalen Gestaltung fallen schon auf den ersten Blick erhebliche Unterschiede zwischen den zwei Gedichten auf. Anhand ihrer lässt sich daher ein Ausschnitt aus dem Formenspektrum studieren, das sich bis etwa 1800 innerhalb des Traditionsstrangs des wissenschaftlichen Lehrgedichts entwickelt hat. In dem folgenden Vergleich geht es also nicht um die Aufdeckung einer Einfluss- oder Wirkungsbeziehung zwischen Darwin und Goethe. Gleichwohl ist es erwähnenswert, dass Goethe Darwins erfolgreiches Lehrgedicht The Botanic Garden (1. Teil: The Economy of Vegetation, 1791; 2. Teil: The Loves of the Plants, 1789) zumindest partiell kannte. Im Januar 1798 teilte er Schiller seine fast ausschließlich unvorteilhaften Eindrücke von dieser „englische[n] Modeschrift“ mit,9 und auch die Angabe in: ders., „L’ambassadeur révoqué: poésie scientifique et popularisation des savoirs au XIXe siècle“, in: Romantisme, 144/2009, 1, S. 25–37, hier S. 25 (Anm. 2) – Vgl. auch Hugues Marchals Beitrag im vorliegenden Band. 9 Vgl.: Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 26./27. Januar 1798, in: FA II, 4, S. 485–489; zu Darwins Gedicht ebd., S. 486–488, Zitat S. 486. – Zur Zitierweise: Goethes Schriften werden in

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 Olav Krämer

sein wenige Monate später verfasstes Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen mag auch als ein Gegenentwurf zu Darwins poetischer Verbindung von Botanik und Liebesthematik konzipiert worden sein.10 Goethes briefliche Äußerungen über Darwins Gedicht – dem The Temple of Nature in formaler Hinsicht eng verwandt ist – machen ferner deutlich, dass es in seinen Augen eine Art des naturwissenschaftlichen Lehrens in Gedichtform verkörperte, die er für prinzipiell verfehlt hielt. Das tritt etwa in der spöttisch klingenden Bemerkung zutage, die Goethe auf eine Wiedergabe der Inhaltsangabe eines Gedichtteils folgen lässt: „So muß ein Lehrgedicht aussehen, das nicht allein lehren sondern auch unterrichten soll.“11 Was Goethe befremdete und missfiel, waren unter anderem die zahlreichen – modern gesprochen – Paratexte, die das Darwinsche Gedicht umgeben („Einleitungen, Anzeigen des Inhalts, Noten unter dem Text, Noten hinter dem Text“), sowie die „Beschreibungen“, „Allegorien“ und „Gleichnisse[]“, die darin „herumspuken“. Das „Detail“ des Gedichts, so Goethe resümierend, „erinner[e] einen an so viel englische Dichter die im didaktischen und beschreibenden gearbeitet haben“.12 Der Kontext des Briefs lässt kaum einen Zweifel daran zu, dass dies als Kritik gemeint war, dass Goethe damit also das Darwinsche Werk einer überholten und inferioren Dichtungsform zuordnen wollte. Diese Urteile Goethes, in denen er deutlich seine prinzipielle, auf dichtungstheoretischen Grundannahmen beruhende Distanz zu Darwins Gedicht markiert, können der folgenden komparatistischen Analyse als eine Folie dienen. Die Leitfragen dieser Analyse sind zum einen die nach den charakteristischen Textstrukturen und nach der Form, in der die wissenschaftlichen Theorien dargeboten werden, zum anderen die nach den Gründen, aus denen Darwin und Goethe sich der Gattung des wissenschaftlichen Lehrgedichts bedienten, oder nach den Funktionen, die sie der gedichtförmigen Präsentation der wissenschaftlichen Inhalte zuwiesen. Mit Blick auf beide Leitfragen wird die Analyse große Unterschiede, aber auch einige weniger auffällige Parallelen zwischen den Gedichten herausarbeiten. Die Unterschiede lassen sich großenteils zurückführen auf Differenzen zwischen Darwins und Goethes Dichtungskonzepten, die wiederum mit unterschiedlichen Positionierungen gegenüber der literarischen Tradition verbunden sind: Darwins The Temple of Nature ist ebenso wie sein erfolgreiches Gedicht The

der Regel (wie auch hier) nach der Frankfurter Ausgabe zitiert: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde., Hendrik Birus [u.a] (Hrsg.), Frankfurt/M. 1987 ff. Zitate aus dieser Ausgabe werden nachgewiesen mit der Sigle „FA“, gefolgt von der Angabe der Abteilung in römischen und des Bandes in arabischen Ziffern. 10 Diese Vermutung etwa bei: Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 106. 11 Goethe an Schiller, 26./27. Januar 1798, in: FA II, 4, S. 485–489, hier S. 488. 12 Ebd.



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Botanic Garden stark den Mustern der didaktischen Dichtung des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts verpflichtet. Von eben dieser Tradition sucht Goethe sich in Metamorphose der Tiere zu distanzieren; das Gedicht lässt sich als ein Versuch deuten, eine Form der poetischen Darbietung wissenschaftlicher Lehren zu entwickeln, die mit dem wesentlich vom Gedanken der Autonomie bestimmten Kunst- und Dichtungsbegriff der Weimarer Klassik vereinbar ist. Somit schlägt sich in den Gedichten tatsächlich jene prinzipielle Distanz nieder, die Goethe in seinen zitierten Bemerkungen über The Botanic Garden hervorhebt. Aber neben diesen Unterschieden zwischen den Gedichten lassen sich eben auch Ähnlichkeiten in der Art der poetischen ‚Verarbeitung‘ wissenschaftlicher Theorien entdecken. Welche Signifikanz diesen Parallelen zukommt, ob sie also etwa allgemeinere Tendenzen im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Dichtung um 1800 indizieren – diese Frage kann im vorliegenden Beitrag nur gestellt, aber nicht beantwortet werden. Der Vergleich dient nicht zuletzt dem heuristischen Zweck, durch die Freilegung solcher Gemeinsamkeiten, die über etablierte Grenzziehungen der Literaturhistoriographie hinwegreichen, neue Fragen aufzuwerfen.

II Erasmus Darwin: The Temple of Nature II.1 Zu Inhalt und Form des Gedichts Erasmus Darwins Gedicht The Temple of Nature wurde von ihm kurz vor seinem Tod im Jahr 1802 beendet und erschien posthum 1803.13 Der vollständige Titel lautet: The Temple of Nature; or, The Origin of Society. Während der zweite Titel – The Origin of Society – das zentrale Thema des Gedichts benennt,14 verweist der erste, The Temple of Nature, auf die Rahmenhandlung, in die Darwin die Belehrung über den Ursprung der menschlichen Gesellschaft integriert hat. Der Tempel der Natur, so erläutern die Anfangsteile des Gedichts, befindet sich an

13 Vgl. Erasmus Darwin, The Temple of Nature; or, The Origin of Society. A Poem. With Philosophical Notes, London 1803. Zitate aus diesem Gedicht werden im Folgenden im Haupttext nachgewiesen; die römische Ziffer verweist auf den Canto (I bis IV), die arabische auf die Verse. 14 Darwin wollte das Gedicht offenbar zunächst The Progress of Society, dann The Origin of Society nennen. Vgl. Martin Priestman, „The Progress of Society? Darwin’s Early Drafts for The Temple of Nature“, in: C.U.M. Smith/Robert Arnott (Hrsg.), The Genius of Erasmus Darwin, Aldershot (Hampshire)/Burlington (VT) 2005, S. 307–319, hier S. 311. Entwürfe zu dem Gedicht The Progress of Society sind abgedruckt bei: ders., The Poetry of Erasmus Darwin. Enlightened Spaces, Romantic Times, Surrey (UK)/Burlington (VT) 2013, S. 259–282.

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dem Ort, wo einst der Garten Eden lag.15 In diesem riesigen, prachtvollen Tempel finden regelmäßig Zeremonien zu Ehren der Göttin Natur statt. Der Sprecher des Gedichts schildet eine solche Zeremonie, eine Prozession von Jungfrauen unter Leitung von Urania, um sich dann vor dem Altar der Natur an Urania zu wenden und sie anzuflehen, ihn – genauer: seine Muse – über die Gesetze des organischen Lebens und die Ursprünge der Gesellschaft zu belehren. Urania gewährt ihm diese Bitte, und der größte Teil des Gedichts besteht aus den Belehrungen, die sie der Muse des Dichters und den Jungfrauen erteilt. Das Hauptthema und einige Grundgedanken dieser Belehrungen werden in den Eingangsversen des ersten Gesangs eingeführt. Sie lauten: By firm immutable immortal laws, Impress’d on Nature by the Great First Cause, Say, Muse! how rose from elemental strife Organic forms, and kindled into life; How Love and Sympathy, with potent charm, Warm the cold heart, the lifted hand disarm; Allure with pleasures, and alarm with pains, And bind Society in golden chains. [I, 1–8]

Das Gedicht soll den Prozess darstellen, in dem aus Verbindungen anorganischer Stoffe Leben entsteht, dieses Leben sich zu höheren Formen entwickelt, die immer stärker durch Liebe und Sympathie bestimmt werden, und wie Liebe und Sympathie schließlich als goldene Ketten die Gesellschaft begründen und zusammenhalten. Dieser gesamte Prozess wird durch unsterbliche Gesetze geleitet und angetrieben, die eine deistisch verstandene Gottheit, die „Great First Cause“,16 der Natur mitgeteilt hat.

15 Dies ist zumindest eine mögliche Deutung der betreffenden Passage, die wie viele Abschnitte des Anfangsteils recht kompliziert ist. Es ist nicht leicht zu erfassen, wie genau dem Gedicht zufolge die Lage des Gartens Eden und die des Tempels sich zueinander verhalten: so auch Priestman, „The Progress of Society?“, S. 314. Zu weiteren Schwierigkeiten dieser Anfangspassagen und zu den Aspekten der Entstehungsgeschichte, die für einige verwirrende Züge verantwortlich sein könnten, vgl. ebd., passim. 16 Als Vertreter einer Form des Deismus wird Darwin etwa gesehen bei: Norton Garfinkle, „Science and Religion in England, 1790–1800: The Critical Response to the Work of Erasmus Darwin“, in: Journal of the History of Ideas, 16/1955, 3, S. 376–388, hier S. 377, 386–387. – Martin Priestman rechnet Darwin ebenfalls der Tradition des Deismus des 18. Jahrhunderts zu, deutet aber zugleich an, dass Darwins Auffassungen sich innerhalb des ‚deistischen Spektrums‘ in der Nähe zum Atheismus befinden; vgl.: Martin Priestman, Romantic Atheism. Poetry and freethought, 1780–1830, Cambridge 1999, S. 49.



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Das ambitionierte Pensum, das Darwin sich in diesen Eingangsversen auferlegt, sucht er in vier Gesängen zu bewältigen, die jeweils etwa 450 bis 500 Verse in heroic couplets umfassen. Sie sind mit zahlreichen Fußnoten von teilweise beträchtlichem Umfang versehen und werden durch über 100 Seiten mit „Additional Notes“ komplettiert. Die Ausführungen im Gedichttext wie in den Fußnoten orientieren sich vielfach eng an Darwins zuvor publizierten wissenschaftlichen Schriften, insbesondere an der medizinischen Abhandlung Zoonomia; or, The Laws of Organic Life (2 Teile; 1794/1796) und an dem ‚agrarwissenschaftlichen‘ Werk Phytologia; or the Philosophy of Agriculture and Gardening (1800).17 Die Überschriften der vier Gesänge von The Temple of Nature lauten: Canto I: Canto II: Canto III: Canto IV:

Production of Life Reproduction of Life Progress of the Mind Of Good and Evil

Im ersten Gesang präsentiert Darwin eine Theorie über die spontane Entstehung des Lebens aus anorganischen Stoffen und legt dar, wie aus den einfachsten Organismen durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt komplexere und mannigfaltige Lebensformen geworden seien. Im zweiten Gesang behandelt er die Modi der Fortpflanzung bei Pflanzen, Tieren und beim Menschen. Der dritte Gesang widmet sich den geistigen Fähigkeiten und Leistungen des Menschen. Darwin führt alle mentalen Vorgänge und geistigen Fähigkeiten auf vier elementare Vermögen der Sinne zurück und erläutert, wie Kunst, Sprache, Moral und gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage dieser Vermögen entstehen. Im vierten Gesang lässt Darwin zunächst die vielfältigen Formen von Grausamkeit und Gewalt Revue passieren, die sich bei den Menschen, im Tierreich und sogar schon bei Pflanzen finden. Diese Übel werden Darwin zufolge aber letztlich durch den Umfang und die stetige Zunahme des Guten in der Welt überwogen: Der Tod ist letztlich nur eine Veränderung der Form, nach dem Tod eines Lebewesens werde die organische Materie neu zum Leben erweckt, und so tragen Leben und Glück, „Immortal Happiness“ (IV, 405), den Sieg über Tod und Zerstörung davon. Die Struktur von Darwins Gedicht als Ganzem ist wesentlich bestimmt durch die Anordnung der behandelten Lebensphänomene in einer aufsteigenden Reihe 17 Für knappe Inhaltsangaben zu allen Hauptwerken Darwins vgl.: Martin Priestman, „Introduction“, in: The Collected Writings of Erasmus Darwin. [9 Bde.] Bd. 1: The Botanic Garden. A Poem in Two Parts. I: The Economy of Vegetation. With an Introduction by Martin Priestman, Bristol 2004, S. v–xxvii; eine Inhaltsangabe zu The Temple of Nature, die auch die wichtigsten inhaltlichen Überschneidungen mit Darwins wissenschaftlichen Abhandlungen benennt, dort auf S. xxii–xxvi.

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sowie durch die Verbindung allgemeiner Aussagen mit Aufzählungen von Beispielen. Im zweiten Canto etwa erläutert Darwin zuerst die ungeschlechtliche Fortpflanzung, dann die Entstehung des zweiten Geschlechts und die sexuelle Fortpflanzung. Die Fortpflanzungsmodi werden in den jeweiligen Abschnitten zuerst in allgemeiner Weise beschrieben; es folgen Aufzählungen von Lebewesen, die sich auf die betreffende Art fortpflanzen. Die Glieder der Aufzählungen werden häufig durch wiederholte Wörter wie „So“ oder „Hence“ eingeleitet.18 Ferner verwendet Darwin in The Temple of Nature wie auch schon in den zwei Teilen von The Botanic Garden ausgiebig Anthropomorphisierungen von Pflanzen und Tieren sowie Personifikationen abstrakter Begriffe, die häufig zu kleinen allegorischen Szenen ausgebaut werden. So ist der Abschnitt über geschlechtliche Fortpflanzung in Canto II großenteils durch eine allegorische Erzählung um die von Hymen vollzogene Hochzeit zwischen Cupido und Psyche strukturiert. Nach dieser Zeremonie, bei der Hymen eine Lobrede auf die Gottheiten der geschlechtlichen Liebe hält (vgl. II,  221–250), besteigen die Vermählten einen Wagen, vollführen einen Triumphzug durch verschiedene Reiche der Natur und nehmen die Huldigungen von Blumen und Tieren entgegen. Auch wilde oder von Eifersucht und Angriffslust erregte Tiere wie Tiger und Löwe lassen sich durch diesen Anblick besänftigen (vgl. II, 357–410). Diese kleine Erzählung soll offenbar die gesellschaftsstiftende Leistung der Liebe versinnbildlichen, die von Hymen in seiner Hochzeitsansprache beschworen wird. Personifikationen abstrakter Begriffe begegnen sehr häufig in der englischen Dichtung des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt in didaktischen Gedichten dieser Zeit.19 Ein weiteres formales Mittel dieser Gedichte, das Darwin übernimmt, besteht im Gebrauch von Fußnoten. Dieses Mittel nutzt er allerdings – wie auch das der Personifikation – in durchaus eigenständiger und dabei häufig exzessiv anmutender Weise. Die Fußnoten sind oft sehr umfangreich, und sie werden mit ihren jeweiligen Themen am Ende des Buchs in einer eigenen Inhaltsübersicht verzeichnet. Neben den Fußnoten enthält The Temple of Nature außerdem, wie schon erwähnt, einen umfangreichen Abschnitt mit „Additional Notes“. Die Fußnoten nutzt Darwin, um einige der im Gedichttext angesproche-

18 Ähnlich aufgebaut ist die Darstellung der Leistungen und Wohltaten der vier Grundkräfte „Irritation“, „Sensation“, „Volition“ und „Association“ im vierten Canto: vgl. IV, 145–336. In den Versen 145 bis 150 wird zunächst die Leistung der „powers of Life“ ganz allgemein charakterisiert; es folgen Abschnitte zu jeder der vier Kräfte, in denen ihre Manifestationen jeweils zunächst allgemein beschrieben und dann durch Beispielreihen illustriert werden. 19 Zu Personifikationen in der englischen Dichtung und Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts vgl.: Earl R. Wasserman, „The inherent values of eighteenth-century personification“, in: Publications of the Modern Languages Association, 65/1950, S. 435–463.



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nen Phänomene ausführlicher zu erläutern, um Behauptungen mit Belegen und mit Hinweisen auf einschlägige Veröffentlichungen zu versehen,20 um auf unterschiedliche Forschermeinungen zu verweisen oder um die im Gedichttext enthaltenen Darlegungen durch weiterführende Vermutungen zu ergänzen. In vielen Fußnoten verweist Darwin auf seine anderen Publikationen, vor allem auf Zoonomia,21 aber auch auf The Botanic Garden.22 Gelegentlich teilt er Beobachtungen mit, die er selbst gemacht habe, und verwendet dabei die erste Person Singular: „I observed great masses of the limestone in Shropshire, which is brought to Newport, to consist of the cells of these animals.“ (Fußnote zu II, 90, S. 51) Einige Fußnoten entwickeln aus der Diskussion aktueller Forschungsbefunde heraus spekulative Hypothesen zur bisherigen und künftigen Evolution des Menschen, die in emphatischem Tonfall vorgetragen werden.23 Die „Additional Notes“ haben den Charakter kurzer Abhandlungen und nähern sich noch stärker als die Fußnoten dem fachwissenschaftlichen Diskurs. Sie greifen Phänomene auf, die im Gedicht kurz vorgestellt werden, und präsentieren systematische Überblicke über Gegenstandsbereiche sowie Erklärungshypothesen und Theorien. Einige dieser zusätzlichen Anmerkungen ähneln vielen Fußnoten, insofern sie als kompakte Zusammenfassungen der vorliegenden Erkenntnisse zu einem bestimmten Bereich auftreten. Andere „Additional Notes“ hingegen präsentieren sich als eigenständige, auf dem Forschungsstand aufbauende, aber weiterführende Überlegungen zu Spezialfragen der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion. Das gilt etwa gleich für die erste dieser zusätzlichen Anmerkungen, die das

20 Hinweise auf wissenschaftliche Aufsätze enthalten etwa die Anmerkungen zu I, 335 (S. 30–31) und zu II, 89 (S. 50). Sehr häufig wird in den Anmerkungen der ersten zwei Gesänge auf Carl von Linnés Werk Systema Naturæ verwiesen; vgl. etwa die Anmerkungen zu I, 343 (S. 31–32), II, 83, II, 85 und II, 87 (S. 49–50) 21 Vgl. die Anmerkungen zu I, 245 (S. 21–22), I, 262 (S. 23), I, 314 (S. 28). 22 Verweise auf The Botanic Garden finden sich in den Anmerkungen zu I,  229 (S. 20), I,  327 (S. 29–30), I, 335 (S. 30–31). Die zwei zuletzt genannten Referenzen verweisen jeweils auf Anmerkungen in The Botanic Garden. 23 Vgl. die Fußnote zu II, 122 auf S. 53–54; sie endet mit den Sätzen: „Perhaps all the productions of nature are in their progress to greater perfection! an idea countenanced by modern discoveries and deductions concerning the progressive formation of the solid parts of the terraqueous globe, and consonant to the dignity of the Creator of all things.“ – Vgl. auch die Fußnote zu IV, 453 (ebd., S. 166–167); sie schließt mit einer emphatisch vorgetragenen Vermutung über „[...] the immutable laws impressed on matter by the Great Cause of Causes, Parent of Parents, Ens Entium!“ (S. 167)

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besonders kontroverse Thema „Spontaneous Vitality“ aufgreift, sowie für eine Anmerkung, in der Darwin eine chemische Theorie der Elektrizität skizziert.24 Für die Art und Weise, wie Darwin in The Temple of Nature die Tradition des wissenschaftlichen Lehrgedichts aufgreift, sind schließlich auch die LukrezReferenzen des Gedichts relevant. An Lukrez lässt The Temple of Nature fast unweigerlich schon durch seine Thematik und einzelne Thesen denken: Auch das fünfte Buch von De rerum natura sucht die Ursprünge des Lebens und der menschlichen Gesellschaft aufzuspüren, indem es darlegt, dass in der Frühzeit unserer Erde Pflanzen, Tiere und Menschen aus dem feuchten Erdboden hervorgegangen seien, und im Anschluss daran die Anfänge der Zivilisation und die Entstehung von Gesellschaften beschreibt.25 Darwins Gedicht über „The Origin of Society“ weist damit deutliche Parallelen zum Werk des Lukrez auf, die allerdings nicht als solche intendiert gewesen sein müssen, sondern sich schlicht aus Ähnlichkeiten zwischen den Zielen oder naturphilosophischen Annahmen ergeben. Aber Darwin macht selbst auf einige dieser Ähnlichkeiten aufmerksam, indem er seine Urania in einer Rekapitulation ihrer Lehren von „wandering atoms“ (IV, 147) sprechen lässt und in der Fußnote zu diesem Vers auf die Ansichten der antiken Atomisten eingeht: Hätten diese Philosophen das Verhalten der Atome nicht auf den blinden Zufall, sondern auf die unveränderlichen, vom Schöpfer verliehenen Eigenschaften der Atome zurückgeführt (wie es Darwin tut), so hätten ihre Lehren den Glauben an eine Gottheit gestützt, statt zum Atheismus zu führen.26 Damit verteidigt er die Theorie der spontanen Entstehung des Lebens gegen den Atheismusvorwurf und markiert zugleich Überschneidungen und Differenzen zwischen seiner Position und derjenigen der antiken Atomisten wie Epikur und Lukrez. Schließlich stellt Darwin gleich im Eingang des ersten Gesangs von The Temple of Nature demonstrativ einen Bezug zu Lukrez her, indem er auf den einleitenden Musenanruf eine Apostrophe an „Immortal Love“ (I, 15) folgen lässt, die deutlich auf die berühmt-berüchtigte Invokation der Venus im Prooemium des ersten Buchs von De rerum natura anspielt.27 Wie diese impliziten und expliziten, teils 24 Vgl. Darwin, The Temple of Nature, „Additional Notes“, S. 1–11 („I. Spontaneous Vitality of Microscopic Animals“), 47–79 („XII. Chemical Theory of Electricity and Magnetism“). Die „Additional Notes“ haben eine eigene, vom Gedicht getrennte Seitenzählung. 25 Vgl. Lucretius, De Rerum Natura. With an English Translation by W. H. D. Rouse. Revised by Martin Ferguson Smith. Reprinted with revisions, Cambridge (MA)/London 1992, S. 438–491 (Buch V, Verse 783–1457). 26 Vgl. Darwin, The Temple of Nature, S. 142, Fußnote zu Vers IV, 147. 27 Vgl. Priestman, Romantic Atheism, S. 66. Eine knappe Andeutung, dass die bei Darwin angerufene Macht der Gottheit bei Lukrez ähnle, auch bei: Robert Cockcroft, „The Didactic Poetry of Erasmus Darwin“, in: Catherine Atherton (Hrsg.), Form and Content in Didactic Poetry, Bari 1997, S. 145–160, hier S. 156.



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distanzierenden und teils affirmativen Lukrez-Referenzen zu interpretieren sind, lässt sich am besten im Zusammenhang der umfassenderen Frage diskutieren, welche Funktionen die gedichtförmige Verarbeitung wissenschaftlicher Theorien für Darwin besaß.

II.2 Naturwissenschaft und Poesie: Funktionen der Gedichtform Im Vorwort zu The Temple of Nature sagt Darwin ausdrücklich, welchem Zweck das Gedicht dienen solle: The Poem, which is here offered to the Public, does not pretend to instruct by deep researches of reasoning; its aim is simply to amuse by bringing distinctly to the imagination the beautiful and sublime images of the operations of Nature in the order, as the Author believes, in which the progressive course of time presented them.28

Hält man sich allein an die Unterscheidung von „to instruct“ und „to amuse“, so scheint Darwin hier jede auf Belehrung zielende Absicht abzustreiten und die Unterhaltung des Publikums als einzigen Zweck des Gedichts darzustellen. Berücksichtigt man aber die vollständigen Formulierungen, so kann man diese Erklärung auch so verstehen, dass das Gedicht zwar unterrichten solle, dies aber nicht auf argumentative, vertiefende und umfassende, sondern auf unterhaltsame, anschauliche, die Einbildungskraft und den Geschmack der Leser ansprechende Art und Weise. Inhalt und Form von Darwins Gedicht lassen sich in vielen Hinsichten als von den so verstandenen Absichten bestimmt verstehen. Die Gestaltung der Rahmenhandlung sowie zahlreicher Episoden und Beschreibungen innerhalb der Ausführungen Uranias scheint wesentlich darauf angelegt zu sein, schöne und erhabene Züge der Natur hervortreten zu lassen. Was die zahlreichen Personifikationen und Allegorien angeht, so hielt Darwin diese Verfahren für besonders geeignet, in der Einbildungskraft des Lesers deutliche Vorstellungen hervorzurufen; denn diese Mittel sprechen den Gesichtssinn an, der in höherem Maße als die anderen Sinne distinkte Vorstellungen im Geist hinterlasse.29 Die Fußnoten und die „Additional Notes“ greifen einzelne Aspekte der im poetischen Gewand präsentierten Theorien und Beobachtungen auf, ergänzen sie um weitere Erläute28 Darwin, The Temple of Nature, „Preface“ (unpag.). 29 Diese Grundannahmen seiner Dichtungstheorie formulierte Darwin in einem der „Inter­ lude[s]“, die er zwischen die Gesänge von The Loves of the Plants gesetzt hat. Vgl. [Erasmus Darwin], The Botanic Garden. Part II. Containing The Loves of the Plants. A Poem. With Philosophical Notes. The second edition, London 1790, S. 61–74 („Interlude“ zwischen Canto I und Canto II).

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rungen und Bemerkungen zum Forschungsstand und führen den Leser so an die Schwelle des eigentlichen wissenschaftlichen Diskurses. Dennoch legen viele Textmerkmale in Verbindung mit bestimmten Kontexten der Gedichtentstehung die Vermutung nahe, dass Darwin in der – ohnehin ja recht allgemein formulierten – Absichtserklärung des Vorworts seine Intentionen nicht vollständig offengelegt hat, dass das Gedicht für ihn also noch weitere Funktionen erfüllte. Erstens ist hervorzuheben, dass Darwin in The Temple of Nature nicht nur biologische Annahmen und Theorien, die von ihm selbst oder anderen Forschern bereits andernorts fixiert worden waren, in Gedichtform kleidete, sondern auch einige Annahmen erstmals formulierte oder zumindest erstmals ausführlich entfaltete. So präsentierte er die besonders kühne und provozierende These, dass die ersten primitiven Lebensformen spontan aus unbelebter Materie entstanden seien, ausschließlich in diesem Gedicht. Eine Theorie der Evolution hingegen hatte Darwin bereits in seiner Abhandlung Zoonomia; or, The Laws of Organic Life skizziert. Dort hatte er auch die Hypothese formuliert, dass alle existierenden Lebensformen aus einem einzigen lebenden Gewebe hervorgegangen seien.30 Aber der Evolutionsgedanke stand nicht im Zentrum der Abhandlung; diese ist vielmehr weitgehend nach einem ‚statischen‘, klassifikatorischen Prinzip aufgebaut, behandelt zunächst verschiedene Grundfunktionen des Organismus und gibt dann einen umfassenden Überblick über Krankheiten, die in vier Klassen unterteilt werden. Das Gedicht The Temple of Nature ist das einzige Werk Darwins, in dem er die Idee der progressiven Entwicklung von einfachsten zu höheren Lebensformen zum zentralen Thema und auch zum Strukturprinzip der Disposition macht.31 Zweitens nutzte Darwin das Gedicht, um seine Annahmen über die Entstehung und Reproduktion des Lebens und über biologische Evolution mit einer Interpretation der menschlichen Zivilisationsgeschichte zu verknüpfen, die auch

30 Vgl. Erasmus Darwin, Zoonomia; or, The Laws of Organic Life, 2 Bde., Bd. 1: London 1794, Bd. 2: London 1796. – Zu Darwins Auffassungen von der Evolution der Arten, wie er sie in verschiedenen Werken formuliert hat, und zu den Variationen zwischen diesen an verschiedenen Orten vertretenen Positionen vgl.: James Harrison, „Erasmus Darwin’s View of Evolution“, in: Journal of the History of Ideas, 32/1971, 2, S. 247–264. 31 Vgl. Priestman, „The Progress of Society?“, S. 307; McNeil, Under the banner of science, S. 115, 121. – In einer Darstellung der Geschichte der Evolutionstheorie wird Erasmus Darwin denn auch vorgestellt als „perhaps the only writer we shall encounter who put forward some of his ideas in the form of poetry“. Dieser Umstand zusammen mit der Tatsache, dass er der Großvater von Charles Darwin war, ist offenbar auch der Grund für die Feststellung desselben Autors: „[…] Erasmus Darwin occupies a unique place in the history of evolutionism.“ (Peter J. Bowler, Evolution. The History of an Idea. Third edition, completely revised and expanded, Berkeley [u.a.] 2003, S. 85)



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die Umrisse einer Gesellschaftstheorie und einer Ethik sowie politische Stellungnahmen umfasste. Als silberne oder goldene ‚Ketten der Gesellschaft‘ werden in dem Gedicht die Vater- oder Elternliebe, die geschlechtliche Liebe und schließlich die ‚sentimental love‘ bezeichnet: Formen der Liebe, die Darwin zufolge in rudimentären Ausprägungen teils schon bei sehr einfachen Organismen entstehen. Mit dieser Auffassung von der Liebe als dem Band der Gesellschaft ist schon angedeutet, dass Darwin der Liebe einen hervorragenden ethischen Rang zuweist. Dies findet sich bestätigt am Ende des dritten Gesangs („The Progress of Mind“), wo die Erörterung der sich nacheinander entwickelnden geistigen Anlagen und Vermögen des Menschen schließlich in die Schilderung und das emphatische Lob der „Sympathy“ mündet. Sie wird personifiziert als ein Seraph, der vom Himmel herabsteigt, das ‚kalte Herz‘ des Menschen mit himmlischer Glut beseelt, sie zu vielfältigen Wohltaten veranlasst und sie über die Grundlage der Moral belehrt; auf einer Schriftrolle über der Weihestätte der Natur, so der Seraph, leuchten die ‚göttlichen Worte‘: „‚In Life’s disastrous scenes to others do, / What you would wish by others done to you.‘“ (III, 487–488) Dieser Grundsatz, eine Variante der sogenannten Goldenen Regel,32 erscheint bei Darwin einerseits als Produkt eines Evolutionsvorgangs und wird andererseits in der Inhaltsübersicht zu dem Gesang als Zentrum der „Christian Morality“ bezeichnet; eine Fußnote Darwins an dieser Stelle verweist auf „the sacred maxims of the author of Christianity, ‚Do as you would be done by,‘, and ‚Love your neighbour as yourself,‘“.33 Wie auch immer diese Darstellung der Genese des Grundsatzes im Einzelnen zu verstehen ist: als bislang höchstes Ergebnis des ‚Fortschritts des Geistes‘ präsentiert Darwin jedenfalls eine auf Mitgefühl und auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basierende moralische Haltung. Wird die Ethik von The Temple of Nature als eine mit der christlichen Moral übereinstimmende und in diesem Sinne ‚orthodoxe‘ vorgestellt, so haben die politischen Positionen des Gedichts einen kaum verhüllten ‚heterodoxen‘ oder oppositionellen Charakter. Die expliziten Bezugnahmen auf aktuelle politische Debatten machen dabei nur wenige Stellen innerhalb des fast 2 000 Verse umfassenden Gedichts aus. Aber vor dem Hintergrund der heftigen Debatten, die durch die Französische Revolution in der britischen Öffentlichkeit ausgelöst worden waren

32 Genauer gesagt handelt es sich um die ‚positive Fassung‘ der Goldenen Regel. Zur Geschichte dieser Regel und der Unterscheidung der zwei Fassungen vgl.: Joachim Hruschka, „Die Goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik/Annual Review of Law and Ethics, 12/2004, S. 157–172. 33 Darwin, The Temple of Nature, S. 124 (Fußnote zu III, 485). – Für „Do as you would be done by“ vgl.: Mt 7,12 und Lk 6,31; für „Love your neighbour as yourself“ vgl.: 3. Mose 19,18 sowie Mt 22,39 und Lk 10,27.

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und die seit dem Beginn des Kriegs zwischen Großbritannien und Frankreich noch an Schärfe gewonnen hatten, mussten auch Darwins Erklärung der Entstehung des Lebens, seine Evolutionstheorie und seine Thesen über die Ursprünge der menschlichen Gesellschaft als Ideen mit eminent politischen Implikationen erscheinen. Auch den Lukrez-Referenzen seines Gedichts und sogar der Form des mit Fußnoten versehenen didaktischen Gedichts selbst konnte eine politische Bedeutung zugeschrieben werden; davon zeugen die satirischen Attacken, die die Zeitschrift The Anti-Jacobin, or, Weekly Examiner im Jahr 1798 gegen Darwin gerichtet hatte.34 Darwin hatte in sein Gedicht The Economy of Vegetation (1791) eine Passage integriert, in der er seine Begeisterung über die Französische Revolution zum Ausdruck brachte.35 Außerdem waren die Gedanken zur Evolution, die er in seiner Abhandlung Zoonomia vorgestellt hatte, mit den Lehren der anglikanischen Kirche unvereinbar. Insofern ist es nicht überraschend, dass er ins Visier der Anti-Jacobin Review geriet. 1798 veröffentlichte die Zeitschrift zunächst eine Parodie auf das Lehrgedicht The Progress of Civil Society von Richard Payne Knight, einem anderen erklärten Befürworter der Französischen Revolution. Knights Gedicht war, wie der Autor im Vorwort erklärte, nach dem Vorbild des fünften Buchs von De rerum natura entworfen, in dem Lukrez seine Theorie der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darlegte.36 Die Parodie in der Anti-Jacobin Review trug den Titel The Progress of Man. Eine Fußnote zu diesem Gedicht nannte Erasmus Darwin als Autor von Zoonomia in einer Reihe mit William Godwin, Thomas Paine und Joseph Priestley, den bekanntesten britischen Radikalen, und mit den französischen Enzyklopädisten. In demselben Jahr publizierte dieselbe Zeitschrift auch das Gedicht The Loves of the Triangles, das unmissverständlich als Parodie auf Darwins Gedichte The Loves of the Plants und

34 Dieses Periodikum wurde unter anderem von dem Tory-Politiker George Canning, damals Under Secretary of State for Foreign Affairs, herausgegeben und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, konservative Werte und Prinzipien zu verteidigen und die Lügen zu entlarven, die von den „Papers devoted to the cause of Sedition and Irreligion, to the pay or principles of France“ verbreitet wurden. Vgl. den „Prospectus“ der Zeitschrift in: The Anti-Jacobin, or Weekly Examiner. In Two Volumes. Vol. I. Fourth Edition, Revised and Corrected, London 1799, S. 1–9, Zitat S. 7. Die erste Ausgabe der Zeitschrift erschien am 20. November 1797. – Vgl. zu der Zeitschrift und den beteiligten Personen etwa: Patricia Fara, Erasmus Darwin. Sex, Science, and Serendipity, Oxford 2012, S. 30–42; John Strachan, „Poetry of the Anti-Jacobin“, in: Duncan Wu (Hrsg.), A Companion to Romanticism, Oxford/Malden (MA) 1998, S. 191–198. 35 Vgl. [Erasmus Darwin], The Botanic Garden, A Poem in Two Parts. Part I. Containing The Economy of Vegetation. […]. The fourth edition, London 1799, Canto II, Verse 377 bis 394. 36 Vgl. Richard Payne Knight, The Progress of Civil Society. A Didactic Poem, in Six Books, London 1796, S. v („Preface“).



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The Economy of Vegetation präsentiert wurde.37 In der Einleitung lassen die Autoren der Anti-Jacobin Review den angeblichen Autor des Gedichts zu Wort kommen, einen „Mr Higgins“, der von der unbegrenzten Perfektibilität des Menschen sowie von der Unzulänglichkeit aller bestehenden Institutionen überzeugt ist und der das didaktische Gedicht als ein effektives Instrument zur Verbreitung seiner Ansichten betrachtet. Das fast 300 Verse umfassende Gedicht selbst imitiert Darwins poetische Verfahren, etwa seinen Gebrauch von Personifikationen, und präsentiert in einer der zahlreichen Fußnoten eine offenkundig absurde mathematische Entsprechung zu der Evolutionshypothese, die Darwin in Zoonomia skizziert hatte.38 Das Gedicht enthält ferner eine Apostrophe an „happy France“ als das Land, wo „Reform greets Terror with fraternal kiss“,39 und es endet mit der hoffnungsfrohen Vorhersage einer französischen Invasion Großbritanniens, der die Guillotinierung des Premierministers William Pitt folgt.40 So konstruieren die Knight- und Darwin-Parodien der Anti-Jacobin Review einen Zusammenhang zwischen politischem Radikalismus, rationalistischem Fortschrittsdenken, Evolutionstheorie, Lukrez und der Form des didaktischen Gedichts. Wenn Darwin nach diesen – sehr wirkungsvollen – Angriffen ein weiteres didaktisches Gedicht verfasste, ihm den Untertitel The Origin of Society gab und darin die Ideen der Evolution und des Fortschritts ins Zentrum stellte, so bedeutete dies ein deutliches Bekenntnis zu jenen Ideen und Idealen, die die konservativen Publizisten teils ridikülisiert, teils dämonisiert hatten. Einige Passagen des Gedichts bekräftigen und konkretisieren diese durch Titel und Thema markierte politische Tendenz. Wo Darwin im dritten Gesang das Wirken der „Sympathy“ beschreibt, da nennt er unter ihren Manifestationen auch die Öffnung von Gefängnissen und die Befreiung von Sklaven (vgl. III, 475); damit greift er Ziele auf, die hauptsächlich von liberalen Politikern verfochten wurden.41 Noch deutlichere politische Stellungnahmen finden sich im vierten Gesang. Der Abschnitt, in dem Urania die segensreichen Wirkungen der menschlichen Grundfähigkeit „Sensation“ (IV, 183) schildert, enthält die Verse:

37 Die Parodie erschien in drei Teilen in den Ausgaben vom 16. April, 23. April und 7. Mai 1798. Sie wird hier zitiert nach dem Abdruck in einer Sammlung von Gedichten der Zeitschrift. Vgl.: Poetry of the Anti-Jacobin. Fourth edition, London 1801; das Gedicht The Loves of the Triangles auf S. 118–131, 132–139, 144–151. 38 Vgl. ebd., S. 127–128 (Fußnote zu Canto I, V. 39). 39 Vgl. ebd., S. 137 (Canto I, V. 130–133). 40 Vgl. ebd., S. 148–151 (Canto I, V. 247–295). 41 Zur abolitionistischen Bewegung im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts und zu Darwins Engagement für die Abschaffung des Sklavenhandels vgl.: Fara, Erasmus Darwin. Sex, Science, and Serendipity, S. 164–184.

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So Howard, Moira, Burdett, sought the cells, Where want, or woe, or guilt in darkness dwells; With Pity’s torch illumed the dread domains, Wiped the wet eye, and eased the galling chains; With Hope’s bright blushes warm’d the midnight air, And drove from earth the Demon of Despair.

[IV, 205–210]

Die drei Namen in Vers 205 verweisen auf den Gefängnisreformer John Howard, der auch in anderen Gedichten Darwins gepriesen wird, sowie auf zwei Oppositionspolitiker (Francis Rawdon Hastings, Lord Moira, und Sir Francis Burdett), die sich der zeitweiligen Aufhebung des Habeas Corpus Act durch William Pitt im Jahr 1793 widersetzt und sich gegen widerrechtliche Inhaftierungen und inhumane Zustände in Gefängnissen engagiert hatten.42 Etwas später im vierten Gesang lässt Darwin seine Urania-Figur die „patriot heroes“ (IV, 273) Großbritanniens emphatisch dazu auffordern, die Pressefreiheit zu schützen;43 dieser Aufruf besaß angesichts repressiver Gesetzesmaßnahmen der Regierung Pitts ebenfalls unmittelbare Aktualität und Brisanz.44 Schließlich stellte Darwin seinem Gedicht ein Frontispiz voran, das als Anspielung auf eine berüchtigte Episode der Französischen Revolution verstanden werden konnte: Der Stich nach einer Zeichnung von Johann Heinrich Füßli (Henry Fuseli) zeigt eine Frau, die den Schleier von der Statue einer Göttin mit drei Brüsten entfernt und die Menschen zu ihren Füßen zur Verehrung aufzufordern scheint. Das Bild ist offenbar als Illustration zur Schlusspassage des Gedichts gemeint,45 konnte um 1800 aber auch an Feierlichkeiten zu Ehren der Vernunft oder der Göttin der Natur im revolutionären Paris erinnern.46 42 Vgl. Priestman, The Poetry of Erasmus Darwin, S. 197; vgl. auch ebd., S. 160. 43 „[…]; / Oh save, oh save, in this eventful hour / The tree of knowledge from the axe of power; / With fostering peace the suffering nations bless, / And guard the freedom of the immortal Press!“ (IV, 283–286) 44 Vgl. McNeil, Under the banner of science, S. 72–73. 45 In dieser Schlusspassage besteigt Urania den Altar der Göttin Natur, entfernt ihren „mystic veil“ und kniet vor ihr nieder (vgl. IV, 515–524). Wo diese Statue der Göttin Natur im ersten Gesang beschrieben wird, wird sie mit „hundred breasts“ (I,  132) ausgestattet. Zu der Tradition allegorischer Darstellungen der Natur als einer vielbrüstigen Göttin (Diana Ephesia) vgl.: Wolfgang Kemp, Natura. Ikonographische Studien zur Geschichte und Verbreitung einer Allegorie, Diss. Tübingen 1973, vor allem S. 25–29. 46 Vgl. Irwin Primer, „Erasmus Darwin’s Temple of Nature: Progress, Evolution, and the Eleusinian Mysteries“, in: Journal of the History of Ideas, 25/1964, 1, S. 58–76, hier S. 70–72. Primer zitiert hier (auf S. 70–71) aus dem 1797/1798 erschienenen Werk Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe [...] von John Robison, in dem eine derartige Zeremonie in der Kathedrale von Notre Dame beschrieben wird.



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Die Frage nach den Funktionen, die die poetische Verarbeitung wissenschaftlicher Theorien für Darwin übernahm, lässt sich also wie folgt beantworten: Das Gedicht sollte in unterhaltsamer und ästhetisch ansprechender Form Grundgedanken von Darwins naturgeschichtlichen und psychologischen Theorien vermitteln und dabei auch an die wissenschaftliche Fachdiskussion heranführen. Darüber hinaus aber nutzte Darwin das Gedicht auch dazu, einige besonders kühne Ideen über die Entwicklung des Lebens erstmals konsequent zu entfalten und auf der Basis der naturgeschichtlichen Theorien eine Gesellschaftstheorie und Ethik zu umreißen, deren normativer Gehalt als wissenschaftlich fundiert erscheinen sollte. Ein Punkt ist für Darwins dichterische Praxis besonders bezeichnend: Für die zuletzt beschriebene Zielsetzung kam es vor allem darauf an, die Bereiche der anorganischen Prozesse, des tierischen Lebens, der menschlichen Psychologie und der Gesellschaft durch große Linien miteinander zu verbinden. Diese großen Linien sind im Gedicht auch deutlich erkennbar; aber darüber hinaus behandelte Darwin die einzelnen Gebiete innerhalb des Gesamtentwurfs mit einem beträchtlichen Maß an Gründlichkeit und Systematizität, indem er einzelne Beobachtungen stets durch lange Beispielreihen exemplifizierte, Gegenstandsbereiche säuberlich in Unterbereiche zerlegte und seine Erörterungen in den Fußnoten um viele Exkurse zu Spezialthemen anreicherte. Der Einwand mag naheliegend erscheinen, dass diese üppige Ausgestaltung der Einzelpartien von den großen Linien abzulenken drohte und somit dysfunktional war. Aber in Darwins Sicht gab es offenbar keinen Widerspruch zwischen der poetischen Darbietung einer Gesamtvision von Natur und Gesellschaft und der Integration zahlreicher Details und Spezialdiskussionen. Hier liegt der augenfälligste Unterschied zwischen seinem Gedicht und Goethes Metamorphose der Tiere.

III Johann Wolfgang Goethe: Metamorphose der Tiere In den späten 1790er Jahren entwickelte Goethe den Plan, ein großes Naturgedicht nach dem Vorbild des Lukrez zu verfassen. Angeregt wurde dieses Vorhaben unter anderem durch die Arbeit seines Freundes Karl Ludwig Knebel an einer deutschen Hexameter-Übersetzung des lukrezischen Gedichts. Doch Goethe gab den Plan wohl schon um 1800 wieder auf.47 Sein Hexameter-Gedicht Metamor-

47 Vgl. dazu: Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 106; Margarethe Plath, „Der Goethe-Schellingsche Plan eines philosophischen Naturgedichts. Eine Studie zu Goethe’s ‚Gott und Welt‘“, in: Preußische Jahrbücher, 106/1901, S. 44–74, vor allem S. 44, 47.

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phose der Tiere48 entstand wahrscheinlich Ende der 1790er und dürfte zunächst als ein Teil des umfassenden Naturgedichts konzipiert worden sein.49 Veröffentlicht wurde es aber erst 1820, und zwar in einem Heft der Reihe Zur Morphologie, in der Goethe seine großenteils schon vor längerer Zeit entstandenen Studien zur Morphologie der Pflanzen und Tiere der Öffentlichkeit vorstellte.50 Das Gedicht trug hier noch den Titel „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ“. Mit diesem griechischen Ausdruck, der soviel wie ‚Versammlung, Anhäufung‘ bedeutet, wollte Goethe das Gedicht vielleicht als eine komprimierte Zusammenfassung jener Überlegungen ausweisen, die der direkt vor dem Gedicht abgedruckte „Erste[] Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie“ entwickelte.51 Als er einige Jahre die Vollständige Ausgabe letzter Hand seiner Werke zusammenstellte, nahm Goethe das Gedicht in die im dritten Band enthaltene Rubrik „Gott und Welt“52 auf und änderte seinen Titel. Die Absicht dabei war offensichtlich, die inhaltliche Nähe zu dem Gedicht Die Metamorphose der Pflan-

48 Das Gedicht wird hier zitiert nach: FA I, 2, S. 498–500. (Der Kommentar des Herausgebers zu dem Gedicht ebd., S. 1089–1091.) Zitate werden mit Angabe der Verszahl im Haupttext nachgewiesen. 49 So etwa: Mihaela Zaharia, „Gedichte zur Morphologie“, in: Manfred Wenzel (Hrsg.), GoetheHandbuch. Supplemente, Bd. 2: Naturwissenschaften, Stuttgart/Weimar 2012, S. 418–420, hier S. 419; John Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen, München [u.a.] 1996, S. 181–188, hier S. 181; auch Nisbet scheint zu dieser Vermutung zu neigen: Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 106–107. Die Argumente für eine Entstehung um 1798/99 sowie für eine Herkunft aus der Arbeit an dem „nie vollendeten größeren Lehrepos“ resümiert auch: Maike Arz, „Metamorphose der Tiere“, in: Bernd Witte (Hrsg.), Goethe-Handbuch. In vier Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hrsg. von Regine Otto und Bernd Witte, Stuttgart/Weimar 1996, S. 458–463, hier S. 459 (dort auch das Zitat). 50 Das Gedicht wird in dieser ursprünglichen Form und in seinem ursprünglichen Kontext abgedruckt in: FA I, 24, S. 472–474. 51 Vgl. Goethe, „Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie“, in: FA I, 24, S. 227–281. Auf das Gedicht folgte in diesem Heft ein weiterer Aufsatz zur Tieranatomie: Goethe, „Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben“; vgl. ebd., S. 16–24 und 475. – Zum ursprünglichen Gedichttitel „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ“: Dorothea Kuhn, die Herausgeberin des einschlägigen Bandes der Frankfurter Ausgabe, nimmt an, dass das Wort hier „im Sinn einer Vergewisserung oder Summa“ zu verstehen sei (FA I, 24, S. 1084). 52 Die Gedichtgruppe ist abgedruckt in: FA I, 2, S. 489–512. Vgl. zu „Gott und Welt“: Regine Otto, „Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789–1827“, in: Bernd Witte (Hrsg.), Goethe-Handbuch. In vier Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hrsg. von Regine Otto und Bernd Witte, Stuttgart/Weimar 1996, S. 18–31, hier S. 28–29.



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zen hervorzuheben, das ebenfalls in die Rubrik eingegliedert und in der Nachbarschaft von Metamorphose der Tiere platziert wurde.53 Das Gedicht Metamorphose der Tiere umfasst 61 Verse in Hexametern und kann in inhaltlicher Hinsicht in drei Abschnitte untergliedert werden. Der erste Abschnitt beginnt unvermittelt mit der Anrede einer Sprecherinstanz an nicht genauer bezeichnete Adressaten: „Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen / Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien / Blick ins weite Feld der Natur.“ (1–3) In den folgenden Versen charakterisiert der Sprecher in allgemeiner Weise das Verhältnis zwischen der „Göttin“ (4) Natur und ihren „Kinder[n]“ (10). Der zweite und längste Gedichtabschnitt (12–49) greift unter den Lebewesen im „weite[n] Feld der Natur“ die Tiere heraus; hier lässt Goethe den Sprecher in stark verknappter Form einige Grundgedanken seiner Studien zur vergleichenden Tieranatomie formulieren. In einer seiner einschlägigen Abhandlungen wies Goethe die im 18. Jahrhundert verbreitete teleologische Sichtweise zurück, nach der die verschiedenen Lebewesen bestimmte Funktionen innerhalb der Gesamtheit der Schöpfung zu erfüllen hätten; entsprechend heißt es im Gedicht: „Zweck sein Selbst ist jegliches Tier [...].“ (12)54 Die folgenden Verse erklären, dass den verschiedenen Gestalten der Tiere eine gemeinsame Urform, ein Typus, zugrunde liege, eine Annahme, die Goethe in seinen wissenschaftlichen Studien für die Wirbeltiere zu konkretisieren versuchte:55 „Alle Glieder bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen / Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.“ (14–15) Zwar suche im Innern der Lebewesen ein „Geist“ (33) mit seiner „Willkür“ den „Kreis“ (34) dieses Typus zu durchbrechen: „doch was er beginnt, beginnt er vergebens.“ (35) Diese Versicherung leitet zu Versen über, die

53 So die Vermutung von: Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, S. 183. In der Rubrik „Gott und Welt“ sind die zwei Metamorphose-Gedichte nur durch das kurze Gedicht Epirrhema getrennt. 54 Zu Goethes Zurückweisung dieser teleologischen Denkweise vgl.: H. B. Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, London 1972, S. 58–61. Nisbet weist hier auch darauf hin, dass sich ähnliche kritische Abgrenzungen von der teleologischen Naturbetrachtung, die etwa von Christian Wolff vertreten worden sei, auch bei Charles Bonnet und bei Herder finden und dass sie zumindest bei Bonnet auf den Einfluss Leibniz’ zurückzugehen scheinen (vgl. ebd., S. 58–59; zu Wolff kurz auf S. 60). In diesem Sinne wäre die Behauptung Neubauers zu relativieren, der zufolge Goethes Sprecher im Gedicht, wenn er „den Lebewesen Selbstzweck zu[schreibt]“, „damit ästhetische Ideen von Kant und Karl Philipp Moritz auf die Natur [überträgt]“ (Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, S. 186). 55 Vgl. Goethe, „Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“, in: FA I, 24, S. 227–281. Zu Goethes Aufstellung eines osteologischen Typus für die Wirbeltiere vgl.: Margrit Wyder, Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln [u.a.] 1998, S. 229–233.

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das sogenannte Etatprinzip oder Kompensationsprinzip der anatomischen Studien Goethes formulieren.56 Diesem Prinzip zufolge besitzt der „Bildungstrieb“ für die Ausgestaltung jedes Organismus nur einen begrenzten „Etat[]“;57 wenn er also einen Teil, etwa die Extremitäten, besonders aufwändig gestaltet, muss er bei einem anderen Teil sparen und kann ihn nur in rudimentärer Form ausbilden.58 Der dritte Gedichtabschnitt schließlich fasst zunächst die im mittleren Abschnitt dargelegten Gesetzmäßigkeiten zusammen in der Wendung: „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür / Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, / Vorzug und Mangel [...]“. Dieser „schöne Begriff“, so heißt es im Folgenden, habe auch Gültigkeit für verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens und sei sogar der ‚höchste Begriff‘, den Künstler, sittliche Denker, tätige Menschen und Herrscher erwerben könnten. Hugh Barr Nisbet hat die These vertreten, das Gedicht Metamorphose der Tiere weise über das Metrum des Hexameters und die naturwissenschaftliche Thematik hinaus zahlreiche enge Bezüge zum Gedicht des Lukrez auf:59 Die einleitenden Verse über die Natur als Mutter und Göttin, so Nisbet, bilden ein Äquivalent zu der Apostrophe an Venus im Eingang von De rerum natura, und in den zweiten Gedichtteil habe Goethe aus seinen tieranatomischen Arbeiten solche Gedanken aufgenommen, zu denen sich verwandte Positionen bei Lukrez finden,60 während eine seiner wichtigsten zoologischen Theorien, die ‚Wirbeltheorie des Schädels‘, die bei Lukrez kein Pendant habe, unerwähnt bleibe. Außerdem verwende Goethe, wo er in dem Gedicht das Kompensationsprinzip formuliert, keine der ökonomischen Metaphern, die er in diesem Zusammenhang sonst vorzugsweise gebraucht. Kurz: Sprache und gedankliche Substanz des Gedichts seien zumindest bis Vers 49 „eminently Lucretian.“61 Aber trotz dieser Affinitäten, so Nisbet, gibt es weitreichende Differenzen zwischen den Gedichten: „Where Lucretius is expansive and discursive, Goethe is selective and concentrated.“62 Die selektive und konzentrierte Darbietung der wissenschaftlichen Theorien, so wäre zu ergänzen, verbindet sich in dem Gedicht 56 Vgl. Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 108; Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, S. 184. 57 Goethe, „Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“, in: FA I, 24, S. 233. 58 Vgl. ebd., S. 233–235. 59 Vgl. zum Folgenden: Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 107–108. 60 Nisbet verweist etwa für Goethes Kritik an einer teleologischen Naturauffassung und für den Gedanken, dass die Glieder eines Lebewesens sich stets in Harmonie miteinander befinden, auf ähnliche Aussagen bei Lukrez (vgl. ebd.). 61 Ebd., S. 108. 62 Ebd., S. 109.



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mit einer formalen Gestaltung, die wesentlich darauf angelegt zu sein scheint, seine Kohärenz und die Unterordnung seiner Teile unter eine Gesamtordnung hervorzuheben. So enthält der Text auffällig viele Konnektoren wie „so“, „also“, „denn“ und „doch“, die immer wieder die Verbindungen zwischen aufeinander folgenden Sätzen betonen; allein die Konjunktion „denn“ taucht in den 61 Versen des Gedichts an sechs Stellen auf (6, 23, 32, 36, 44, 48). Einem Streben nach Geschlossenheit kann man es auch zuschreiben, dass das Gedicht, obwohl seine Thematik dies nahelegen würde, keine Beschreibungen von Tiergestalten enthält. Erasmus Darwin etwa belegt in seinen Gedichten Gesetze oder Regelmäßigkeiten meist durch eine ganze Reihe von Naturerscheinungen, von denen zumindest einige ausführlich beschrieben werden; in Metamorphose der Tiere hingegen wird das Etatprinzip nur knapp durch ein einziges Tier, den Löwen, exemplifiziert: Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: wo leidet es etwa Mangel anderswo? und suche mit forschendem Geiste; Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel. Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

[40–49]

In einem Entwurf des Gedichts werden auch noch Schlange, Frosch und Kröte als Beispiele für das Etatprinzip angeführt, und Gestalt und Bewegungsart der Schlange werden über mehr als zehn Verse beschrieben.63 Das veröffentlichte Gedicht beschränkt sich auf das Exempel des Löwen, lässt sich aber nicht auf eine eigentliche Beschreibung ein, sondern kehrt sogleich – in fast redundanter Weise – zu der allgemeinen Aussage über „Zähne“ und „Hörner“ zurück, die das Beispiel stützen soll (V. 44–45 und 48–49). Dass Goethe die Beispiele von Schlange, Frosch und Kröte strich und schließlich nur noch den Löwen erwähnte, mag auch durch das Bestreben motiviert gewesen sein, den gehobenen, ernsten

63 Der Entwurf ist abgedruckt in: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 143 Bde., Weimar 1887–1919 (= Weimarer Ausgabe), I. Abteilung, 53. Bd., Weimar 1914, S. 549–552; die Passage über Schlange, Frosch und Kröte ebd., S. 551–552.

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und feierlichen Ton nicht zu stören, der das Gedicht durchgehend prägt und der ebenfalls zum Eindruck von Einheit und Geschlossenheit beiträgt.64 Die eben skizzierten Mittel zur Erzeugung von Kohärenz und Geschlossenheit kann man als Versuche deuten, das für die Weimarer Klassik zentrale Ideal einer Autonomie der Kunst65 in sinnfälliger Weise umzusetzen und das Gedicht als unabhängig und selbständig erscheinen zu lassen – als ein Werk, das „Zweck sein Selbst“ ist. Doch trotz der großen formalen Geschlossenheit kann man dem Gedicht in einer Hinsicht nur bedingt Autonomie bescheinigen: Einige seiner zentralen Aussagen bestehen aus wissenschaftlichen Thesen Goethes oder stützen sich auf sie, aber diese Thesen werden nur so knapp umrissen, dass der Leser anhand des Gedichts allein kaum ihren Gehalt ganz erfassen, vor allem aber nicht ihre empirische Begründung nachvollziehen konnte, die Goethe zufolge ja durchaus vorlag. Insofern ist das Gedicht auf jene wissenschaftlichen Studien angewiesen, in deren direkter Nachbarschaft es zuerst publiziert wurde, von denen es sich in späteren Ausgaben aber löste. Die starke Reduktion der expositorischen Teile des Gedichts führt somit einerseits dazu, dass es in gewisser Hinsicht von den wissenschaftlichen Abhandlungen abhängig bleibt, kann aber andererseits auch als Indiz dafür gedeutet werden, dass Goethe dem Gedicht eine Funktion zuzuweisen suchte, die sich möglichst klar von derjenigen der Abhandlungen unterschied. Was das Gedicht anstelle der breiten und anschaulichen Wiedergabe wissenschaftlicher Theorien übernimmt, ist zweierlei. Erstens präsentiert es die Grundgedanken von Goethes anatomischen Studien in einer feierlichen und antike Vorbilder wie Lukrez evozierenden Sprache und verleiht diesen Gedanken so eine gesteigerte Dignität. Zweitens zeigt das Gedicht die Beziehungen auf, die zwischen den beschriebenen Phänomenen der außermenschlichen Natur und dem Bereich des menschlichen Lebens bestehen; diese Beziehungen begründen wesentlich jene Wichtigkeit und Würde der Gedanken zur Tieranatomie, die die Sprache des Gedichts unterstreicht. Um diese Aspekte des Gedichts deutlicher werden zu lassen, sei der dritte Abschnitt vollständig zitiert:

64 Diese Charakterisierung des Tons müsste durch eine genauere Analyse von (u.a.) Vokabular und Syntax des Gedichts gestützt werden, was hier nicht geleistet werden kann. Stellvertretend sei hingewiesen auf den ersten Vers mit dem leicht archaisierenden Partizip „also bereitet“ (im Sinne von ‚auf diese Weise vorbereitet‘) und der Rede vom ‚Wagnis‘ und einer „letzte[n] Stufe“, die den folgenden „Blick ins weite Feld der Natur“ (3) unter das Zeichen des Ernstes und der Gefahr stellt (ohne dass ganz klar wäre, worin die Gefahr besteht). 65 Vgl. dazu etwa: Gerhard Sauder, „Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik“, in: Friedrich Hiller (Hrsg.), Normen und Werte, Heidelberg 1982, S. 130–150.



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Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel, erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf, der Natur, du fühlest dich fähig Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit. [50–61]

Diese Verse behaupten emphatisch einen Zusammenhang zwischen den Bereichen des künstlerischen Schaffens, der menschlichen Tätigkeit im Allgemeinen, des politischen Herrschens und des Nachdenkens über Fragen der Sittlichkeit, einen Zusammenhang, der sich in der übergreifenden Relevanz des in den ersten drei Versen benannten „schöne[n] Begriff[s]“ (50) offenbart. Ebenso emphatisch werden der „schöne“ Charakter dieses Begriffs und sein Rang als ‚höchster‘ Begriff hervorgehoben; mit diesen Auszeichnungen stimmt zusammen, dass der Begriff auf „harmonisch[e]“ Weise und „mit sanftem Zwange“ durch eine „heilige Muse“ vermittelt wird. Die angemessene Haltung gegenüber diesem Begriff oder gegenüber den mit ihm erfassten Naturerscheinungen ist ‚Freude‘ (vgl. 52, 57). So nachdrücklich allerdings einerseits die Schönheit und Verehrungswürdigkeit dieser übergreifenden „Ordnung“ beschworen werden, so undeutlich bleibt andererseits, worauf der behauptete Zusammenhang zwischen den Wirklichkeitsbereichen beruht und wie sich „Willkür“ und „Freiheit“, „Gesetz“ und „Maß“ etwa im Bereich der politischen Machtausübung, des sittlichen Handelns oder des künstlerischen Schaffens konkret manifestieren. Zieht man andere Werke Goethes hinzu, so kann man zu beiden Fragen präzise Antworten plausibel machen.66 Das Gedicht aber soll für Goethe offenbar nicht oder kaum solche Begründungen und Konkretisierungen bieten, sondern vor allem die Existenz der übergreifenden Ordnung behaupten und die angemessene Haltung ihr gegenüber demonstrieren.

66 Für die Frage, worauf Goethe zufolge der Zusammenhang zwischen den Wirklichkeitsbereichen beruhte, ist vor allem seine Rezeption neoplatonischer und spinozistischer Gedanken relevant. Zu seiner Verarbeitung neoplatonischer Konzepte vgl. etwa: Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, S. 6–22.

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IV Ähnlichkeiten zwischen den zwei Gedichten Die bisher in die Analyse eingestreuten vergleichenden Bemerkungen haben formale Unterschiede zwischen den Gedichten registriert und sie in Beziehung gesetzt zu dichtungstheoretischen Positionen der Autoren. Neben den unverkennbaren Differenzen gibt es aber auch Ähnlichkeiten zwischen den Gedichten, die hervorgehoben zu werden verdienen. Darwins wie Goethes Gedicht sind von der Absicht bestimmt, an den geschilderten Naturphänomenen ästhetische Qualitäten hervortreten zu lassen. Darwin erklärte in der oben zitierten Vorrede zu The Temple of Nature ausdrücklich, das Gedicht solle dem Leser „the beautiful and sublime images of the operations of Nature“ darbieten. In Goethes Metamorphose der Tiere wird der vorgestellte Begriff von „Begriff von Macht und Schranken, von Willkür / Und Gesetz, von Freiheit und Maß“ explizit als ein „schöne[r]“ bezeichnet, und die Erläuterung der Tiergestalt hebt zusammen mit dem zweckmäßigen stets den „harmonisch[en]“ Charakter und das „Schöne“ der Form hervor. In beiden Gedichten, so ist zweitens zu konstatieren, werden Verbindungen zwischen den Gesetzmäßigkeiten der außermenschlichen Natur und Phänomenen des menschlichen Lebens aufgezeigt; beide Gedichte skizzieren dabei eine ethische Norm, die so als eine in der Natur gründende erscheint. Die Einheit zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Natur wird freilich bei Darwin und bei Goethe auf ganz unterschiedliche Weisen konzipiert, und die ethischen Vorstellungen bleiben in Goethes Gedicht weit abstrakter als bei Darwin. Aber wenn man diese Gedichte mit den thematisch verwandten wissenschaftlichen Abhandlungen Darwins und Goethes vergleicht, so besteht in beiden Fällen eine markante Akzentverschiebung darin, dass die Gedichte die Theorien der Abhandlungen um Aussagen ergänzen, die eine Einheit zwischen der außermenschlichen Natur und der menschlichen Kultur mitsamt den für sie gültigen moralischen Normen behaupten und dabei auch diese Normen mehr oder minder präzise benennen. Die Merkmale der Gedichte Darwins und Goethes, aus denen sich diese Ähnlichkeiten ergeben, stiften zugleich eine Verwandtschaft zwischen ihnen und Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts. Auch diese älteren Lehrgedichte schildern – wenn auch im Einzelnen auf je verschiedene Weise – Naturerscheinungen vielfach mit dem ausdrücklichen Ziel, die Schönheit dieser Erscheinungen hervortreten zu lassen und umfassende, den Menschen einschließende Ordnungen mit ihren moralischen Implikationen aufzuzeigen. Eine dritte Ähnlichkeit zwischen Darwins The Temple of Nature und Goethes Metamorphose der Tiere hingegen trennt sie von den meisten dieser älteren Lehrgedichte. Sowohl bei Darwin als auch bei Goethe werden die Lehren von einer Instanz mitgeteilt, die einen höheren Rang als den einer normalen Sterblichen besitzt – oder, in Goethes Gedicht:



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zu besitzen scheint – und die mit einer nicht hinterfragbaren Autorität spricht. Dagegen werden in didaktischen Gedichten des 18. Jahrhunderts die Lehren meist von einer menschlichen, oft der Autorinstanz angenäherten persona präsentiert, die in vielen Fällen ihre Positionen ausführlich und mit erheblichem argumentativen Aufwand gegen konkurrierende Auffassungen, die ihrerseits mehr oder weniger breit referiert werden, zu verteidigen sucht. Besonders deutlich ist dieser argumentative und agonale Charakter in den eingangs erwähnten anti-lukrezischen Gedichten ausgeprägt.67 Darwins The Temple of Nature enthält im vierten Gesang noch eine Reminiszenz an diese Gedichtstrukturen: Dort listet die Muse des Dichters die zahlreichen Formen des Übels in der Welt auf und stimmt eine Klage an, die in Zweifel an der Existenz einer wohlwollenden Gottheit mündet; daraufhin wird sie von Urania milde wegen der Einseitigkeit ihrer Bestandsaufnahme getadelt und darüber belehrt, dass das Gute in der Welt die Übel überwiege. Aber auch hier sprechen die Dichtermuse und Urania nicht ‚auf Augenhöhe‘ miteinander; die Muse tritt als fragend und zweifelnd auf und erwartet Antworten von Urania, deren Autorität sie nicht in Frage stellt. In den anderen drei Gesängen des Gedichts lässt Darwin seine Urania-Figur ihre Belehrungen über die Natur verkünden, ohne dass abweichende Positionen zu Wort kämen und die Richtigkeit der Lehren erst begründet werden müsste. In Goethes Gedicht wird die Sprecherinstanz, wie erwähnt, nicht als solche vorgestellt und mit einer konkreten Identität versehen; sie spricht aber als eine Wissende, die die Herkunft und Begründetheit ihrer Wissensansprüche nicht darlegen und ihre Aussagen über die Naturgesetze nicht gegenüber anderen Positionen verteidigen muss. Ob diese Ähnlichkeiten bloß eine zufällige partielle Koinzidenz darstellen oder als Indizien für umfassendere Tendenzen, an denen Darwins wie auch Goethes Gedicht partizipierten, gelten können, diese Frage kann hier nicht mehr eingehend diskutiert werden. Mit Blick auf die ersten zwei Ähnlichkeiten liegt es aber nahe, sie als Hinweis darauf zu deuten, dass Darwin und Goethe beide auf je eigene Weise eine Funktionalisierung des wissenschaftlichen Lehrgedichts aufgriffen und weiterführten, die in der Literatur des 18. Jahrhunderts vielfach praktiziert worden war. Eine Auswertung der dritten herausgestellten Ähnlichkeit ist schwieriger. Unter anderem gilt es zu berücksichtigen, dass im Falle Darwins das Fehlen einer expliziten Auseinandersetzung mit konkurrierenden Positionen der politischen Situation in Großbritannien um 1800 geschuldet sein 67 In Blackmores Creation, das aus sechs Büchern besteht, präsentieren die Bücher I, II und VI positive Argumente für die Existenz Gottes, während die Bücher III, IV und V ausschließlich der Kritik verschiedener Richtungen des Atheismus gewidmet sind. Im dritten Buch zitiert Blackmore eine längere Passage aus De rerum natura und sucht dann die darin enthaltenen Argumente Punkt für Punkt zu entkräften; vgl. Blackmore, Creation, S. 78–80 (für das Lukrez-Zitat).

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könnte. Gleichwohl ist es denkbar, dass dieses Unterlassen einer argumentativen Konfrontation mit anderen Theorien sowie die Tendenz zu einer sakralisierenden Überhöhung der vermittelten Lehren in beiden Gedichten durch dieselben umfassenderen Entwicklungen bedingt sind, etwa durch Veränderungen im vorherrschenden Dichtungsbegriff, die das argumentative Austragen theoretischer Konflikte als unpoetisch unter einen Bann stellen. Das hieße, dass es neben allen Unterschieden zwischen Goethes und Darwins Dichtungsauffassungen auch eine Überschneidung gäbe.

V Ausblick Im Eingangsteil dieses Beitrags wurde die Frage aufgeworfen, ob und, falls ja, in welcher Weise die Tradition des wissenschaftlichen Lehrgedichts im 19. Jahrhundert weiterwirkt. Die Untersuchung der Gedichte Darwins und Goethes sollte zur Präzisierung dieser Frage beitragen, indem sie aufzeigt, in was für Textstrukturen und was für Funktionalisierungen von Gedichten sich dieses Weiterwirken manifestieren könnte. Abschließend seien einige vorläufige und punktuelle Hinweise auf Texte oder Textgruppen des 19. Jahrhunderts formuliert, die für die genannte Frage relevant sein könnten. Zu den explizit formulierten Zielen von Darwins The Temple of Nature und seinen anderen didaktischen Gedichten gehörte es, Naturerscheinungen in einer anschaulichen, phantasievollen und unterhaltsamen Form zu präsentieren und zugleich an die wissenschaftliche Erforschung dieser Naturphänomene heranzuführen. Diesem Zweck diente die Kombination des eigentlichen Gedichts mit Fußnoten und ergänzenden Anmerkungen, die knapp aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu den im Gedicht vorgeführten Erscheinungen referierten und auf andere Publikationen verwiesen. Dass es in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts Verstexte gab, die diesen Teil des Darwinschen Modells didaktischer Dichtung verwirklichen, wird ausgerechnet durch Goethe bezeugt. In seinem 1827 erschienenen Aufsatz „Ueber das Lehrgedicht“ äußerte er sich anerkennend über didaktische Gedichte eines in England gepflegten Typs; diese Gedichte „schmeicheln sich in Scherz und Ernst erst ein bey der Menge und bringen sodann in aufklärenden Noten dasjenige zur Sprache, was man wissen muß, um das Gedicht verstehen zu können.“68 Als Beispiel nennt Goethe ein didaktisches Gedicht über die „Geognosie“, das von einem „Mitgliede der geologischen Gesellschaft zu Lon-

68 Johann Wolfgang Goethe, „Ueber das Lehrgedicht“ [1827], in: FA I, 22, S. 317–318, Zitat S. 317– 318.



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don“ verfasst worden war.69 Gemeint war offenbar das komische Epos King Coal’s Levee or Geological Etiquette (1819) von John Scafe, zu dem Goethe auch eine Rezension verfasst hatte.70 Eine weitere und vielleicht die zentrale Absicht von Darwins The Temple of Nature aber zielte darauf, die naturwissenschaftlichen Einzelbefunde in eine umfassende Deutung der Natur und der menschlichen Zivilisationsgeschichte zu integrieren, die auch ethische und politische Dimensionen besaß. Goethe unternimmt in seinem weit kürzeren Gedicht Metamorphose der Tiere etwas prinzipiell Ähnliches, indem er die Ausführungen zu den Gesetzen der Tieranatomie in einen Schlussteil münden lässt, der die Geltung derselben oder analoger Gesetze in Hauptbereichen des menschlichen Lebens und Wirkens behauptet. Darwins und Goethes Gedichte weisen damit Parallelen zu Texten des späteren 19. Jahrhunderts auf, in denen etwas entworfen wurde, was zeitgenössisch meist als Weltanschauung bezeichnet wurde: Darstellungen des ‚Weltganzen‘, die aus aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien und metaphysischen Spekulationen zusammengesetzt sind und mit ethischen Normen und zeitpolitischen Stellungnahmen verbunden werden.71 Zu den erfolgreichsten Exemplaren solcher Weltanschauungstexte gehörten Werke Wilhelm Bölsches und Ernst Haeckels;72 auch ein beträchtlicher Teil der Bücher und Zeitschriften, die sich der Popularisierung

69 Ebd., S. 318. 70 Vgl. den Kommentar der Herausgeberin in: FA I, 22, S. 1143. Die Rezension unter dem Titel King Coal in: FA I, 25, S. 617–620. 71 Vgl. Horst Thomé, „[Art.] Weltanschauung“, in: Joachim Ritter [u.a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12: W–Z, Darmstadt 2004, Spp. 453–460, v.a. 456–457; ders., „Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp“, in: Lutz Danneberg/ Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380; ders., „Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ‚Weltanschauung‘ und der Weltanschauungsliteratur“, in: Werner Frick [u.a.] (Hrsg.), Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne, Tübingen 2003, S. 387–401. – Legt man Thomés Ausführungen zugrunde, dürfte es allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen Darwins Theorien und den Weltanschauungen des späteren 19. Jahrhunderts geben: Die Genese der Weltanschauung wird nach Thomé in den einschlägigen Texten meist „mehr oder weniger offen auf ein Subjekt zurückgeführt und mit dessen individueller Beschaffenheit erklärt“ (ders., „Weltanschauungsliteratur“, S. 342); das heißt konkret, dass die Texte meist relativ ausführliche autobiographische Mitteilungen enthalten. In den Weltanschauungstexten manifestiere sich also eine „Subjektivierung des Sinnstiftungsdiskurses“, die unter anderem durch einen „Verfall globaler Sinnkonzepte“, also durch eine zunehmende Skepsis gegenüber der Religion und großen philosophischen Systemen, bedingt sein dürfte (ebd., S. 345). In Darwins didaktischen Gedichten finden sich so gut wie keine autobiographischen Mitteilungen und auch keine anderen Elemente, die die vorgestellten Theorien als subjektive Produkte auswiesen. 72 Vgl. Thomé, „Weltanschauungsliteratur“, S. 339 und passim.

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der Naturwissenschaften widmeten, erweiterte die empirischen Ergebnisse zu umfassenden Natur- und Weltdeutungen mit ethischen, politischen und religiösen Dimensionen.73 Die Weltanschauungsliteratur bestand mithin größtenteils aus Prosatexten. Aber in den einschlägigen Zeitschriften und Monographien finden sich immer wieder auch Naturgedichte,74 und im späten 19. Jahrhundert bildet sich, wie Horst Thomé in seiner einschlägigen Studie am Rande vermerkt, „eine Affinität zwischen Weltanschauung und Epos aus[]“,75 also zwischen Weltanschauungsliteratur und einer mit dem großangelegten Lehrgedicht verwandten Gattung der Versdichtung. Ob und wie diese Gedichte und Epen Strukturen älterer wissenschaftlicher Lehrgedichte aufgreifen, wäre noch zu untersuchen. Mindestens ein zeitgenössischer Leser Haeckels und Bölsches sah eine Verwandtschaft zwischen ihren Grundannahmen und Ambitionen auf der einen und den Ideen und Zielen Erasmus Darwins auf der anderen Seite. Im Jahr 1902 veröffentlichte der österreichische Anglist Leopold Brandl eine monographische Studie über Darwins The Temple of Nature, in der er immer wieder auf Parallelen zwischen diesem „vollendetsten Werke“ Darwins, in dem er „seine nunmehr durchaus gereifte Weltanschauung niedergelegt“ habe, und den Theorien Haeckels und Bölsches hinwies.76 Darwin wird von Brandl als „Vorläufer einer gewaltigen Ära entwickelungsgeschichtlicher Forschung“77 und das Gedicht The Temple of Nature als Vorwegnahme von Grundgedanken des „Monismus“78 gewürdigt. Darwin habe sich der Aufgabe angenommen, die „zuletzt die wesentlichste Aufgabe aller Naturerkenntnis, aller Weltanschauung“ sei: der Aufgabe, 73 Vgl. Andreas W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. 2., ergänzte Aufl., München 2002, vor allem S. 193–235. 74 Zu Gedichten in popularisierenden Zeitschriften vgl. ebd., S. 200, 209, 349. Als Beispiel für ein monographisches Prosawerk mit eingefügten Gedichten vgl.: [Heribert Rau], Das Evangelium der Natur. Ein Buch für jedes Haus. Zweite verbesserte [...] Gesammtausgabe aller bisher erschienenen Bände in einem Bande. Frankfurt/M. 1857; Gedichte dort etwa auf S. 78–79, 224, 516–518, 679, 690. Zu diesem Werk und zu Rau vgl.: Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 206–207. 75 Thomé, „Weltanschauungsliteratur“, S. 367, Anm. 81. 76 Vgl. Leopold Brandl, Erasmus Darwin’s Temple of Nature, Wien/Leipzig 1902, das Zitat auf S 3. Parallelen zwischen Darwin und Haeckel ergeben sich für Brandl vor allem aus Darwins Ahnung jenes Zusammenhangs zwischen Phylogenese und Ontogenese, den Haeckel später als biogenetisches Grundgesetz formulierte (vgl. ebd., S. 55–56, 61, 185), sowie aus der Annahme einer Einheit der Natur, die auf dem „ununterbrochene[n] Band eines einheitlichen Entwickelungsganges“ (ebd., S. 149–150) beruhe. Zu einzelnen Parallelen zwischen Darwin und Bölsche vgl. ebd., S. 43, 155, 197. 77 Ebd., S. 201. 78 Ebd., S. VIII.



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das „Nichts“, aus dem die Menschheit kommt und dem sie entgegengeht, „zu erklären mit dem ewigen Entwickelungsgedanken, in ihm das Ganze zu ahnen, von dem wir nur die zufälligen paar Querschnitte sehen, durch die gerade unsere Existenzphase eben durchschneidet“.79 In ästhetischer Hinsicht allerdings stellt Darwins Gedicht für Brandl eine zwar eindrucksvolle, aber nicht restlos überzeugende Leistung dar.80 Einen Hinweis darauf, wie in seinen Augen ein poetisch vollendetes Wissenschafts- oder Weltanschauungsgedicht aussah, liefert vielleicht das Motto, das er dem Hauptteil seiner Studie vorangestellt hat: es besteht aus den letzten zwölf Versen von Goethes Metamorphose der Tiere.81

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79 Ebd., S. 197. 80 Vgl. ebd., S. 12–13, 27, 201. 81 Vgl. ebd., S. 23.

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Christoph Bode (München)

„There is no want of knowledge [...]. We want the creative faculty to imagine that which we know“. Die Wissenschaften im Konterdiskurs der englischen Romantik I Einstieg Das Titelzitat stammt aus A Defence of Poetry (1821), dem dichtungstheoretischen Manifest des englischen Romantikers P.B. Shelley (1792–1822). A Defence of Poetry ist eine Antwort auf Thomas Love Peacocks „The Four Ages of Poetry“ – ein Essay aus dem Jahre 1820, in dem behauptet worden war, Dichtung habe zweimal einen Zyklus von vier Zeitaltern durchlaufen und sich in der Gegenwart, in der modernen Gesellschaft, erledigt, da sie keine Funktion mehr habe. Die Poeten mögen sich doch bitte, so Peacock, nützlicheren Dingen zuwenden, etwa den neuen Wissenschaften (wozu er auch Ökonomie und Politikwissenschaften zählte) und so die Welt tatsächlich verbessern, statt sich mit müßigem Verseschmieden aufzuhalten. Shelley hält nun in seiner Defence, sowohl systematisch als auch kultur-, ja menschheitsgeschichtlich argumentierend, dagegen: Nein, Dichtung ist heute nötiger denn je: Es mangelt uns nicht an Wissen. Woran es uns mangelt, ist die schöpferische Fähigkeit, uns das auch vorzustellen, was wir (bereits) wissen. Der nähere Zusammenhang des Zitats ist folgender: Shelley greift die Forderung auf, die Dichter sollten zugunsten der „reasoners and mechanists“ abdanken, weil die Imagination nicht so nützlich sei wie „reason“, die Vernunft. Was heißt hier ‚nützlich‘?, fragt Shelley. Was ist das eigentlich für ein enger Begriff von Nützlichkeit – utility –, der alles dem ungezügelten quantifizierenden Kalkül unterwerfen will? Wenn man die Gesellschaft denjenigen überlässt, die so denken, sind die Folgen klar: „The rich have become richer, the poor poorer; and the vessel of the state is driven between the Scylla and Charybdis of anarchy and despotism. Such are the effects which must ever flow from the unmitigated exercise of the calculating faculty.“1 Geht es nicht auch und insbesondere um den moralischen und intellektuellen Fortschritt der Menschheit? Und was wäre der

1 Percy Bysshe Shelley, Shelley’s Poetry and Prose, Donald H. Reiman/Neil Fraistat (Hrsg.), Second edition, New York/London 2002, S. 529.

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ohne Dante, Petrarca, Boccaccio, Chaucer, Calderón, Shakespeare, Bacon und Milton? Und dann kommt die Passage, der das Titelzitat entnommen ist: We have more moral, political, and historical wisdom than we know how to reduce into practice; we have more scientific and economical knowledge than can be accommodated to the just distribution of the produce which it multiplies. The poetry in these systems of thought is concealed by the accumulation of facts and calculating processes. There is no want of knowledge respecting what is wisest and best in morals, government, and political economy, or at least, what is wiser and better than what men now practise and endure. […] We want the creative faculty to imagine that which we know; we want the generous impulse to act that which we imagine; we want the poetry of life; our calculations have outrun conception; we have eaten more than we can digest.2

Es herrscht also kein Mangel an Wissen – es mangelt an der Umsetzung dieses Wissens in eine Praxis, die das, was dieses Wissen an Mehrwert produziert, gerecht verteilen würde. Man wüsste schon, wie das ginge, aber es fehlt uns die Vorstellungskraft, uns das auszumalen – generell die Fähigkeit, das, was wir durchaus bereits wissen, uns auch wirklich vorzustellen – und dann noch die Großzügigkeit, dieser Vorstellung auch Taten folgen zu lassen. Nach Shelley hat sich also das Wissen der Gesellschaft verselbständigt (wie Frankensteins Monster im Roman seiner Ehefrau Mary) und wendet sich – monströs verfremdet und verdinglicht – gegen seinen Schöpfer selbst, den Menschen. Das Wissen der Gesellschaft wendet sich aber deshalb als Fremdes, ihn nun zu dominieren Trachtendes gegen ihn, weil wir es in dieser Gesellschaft nicht gemäß unserer Imagination, sondern nur gemäß unserer „calculating faculty“ einsetzen. An den Schalthebeln sitzen, nach Oscar Wildes Definition eines Zynikers, diejenigen, die den Preis von allem, aber den Wert von nichts kennen.3 Wir haben uns an Fakten und Wissen überfressen und können das gar nicht alles verdauen. Wir haben keine Vorstellung (conception) von unseren Berechnungen, die sich verselbständigt haben und uns enteilt sind. Wir machen uns kein Bild, wir haben ja keine Vorstellung. Was Not tut, ist nicht weniger Poesie, sondern mehr – weil es uns an der Poesie des Lebens fehlt. Was uns fehlt, sind nicht noch mehr „reasoners and mechanists“, sondern, ganz im Gegenteil, Menschen mit Imagination: Dichter eben. Das ist, im Kontext der Defence, nicht bloß wohlfeile Kulturkritik. Shelleys Behauptung, dass letztlich die Dichtung angeben kann und auch angeben sollte, in welche Richtung die Entwicklung der Menschheit gehen sollte, wenn

2 Ebd., S. 530. 3 Oscar Wilde, Lady Windermere’s Fan, 3. Akt: „A man who knows the price of everything, and the value of nothing.“ (Oscar Wilde, Five Major Plays, New York 1970, S. 52)



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man denn überhaupt von einer Entwicklung der Menschheit und nicht nur ihrer materiellen Hervorbringungen reden wollte, ist philosophisch (ideengeschichtlich und sprachtheoretisch) gut begründet – doch dazu später mehr. Ich möchte zunächst, in der ‚richtigen‘ chronologischen Reihenfolge, auf William Blake, William Wordsworth (sowie beiläufig auf Samuel Taylor Coleridge) und John Keats eingehen – immer unter dem Aspekt, in welcher Relation sie das Wissen der Poesie zum Wissen der Wissenschaften jeweils sehen – , damit klar wird, in welchem diskursiven Umfeld sich Shelley äußert, und dann abschließend gerne Charlotte Smith vorstellen, die, denke ich, diesem Diskurs der Selbstpositionierung der Dichtung gegenüber den sciences einen weiteren twist hinzufügt.

II William Blake (1757–1827) Unter den englischen Romantikern wendet sich keiner vehementer gegen die verarmende Wirklichkeitssicht der empirischen Wissenschaft und ihren verkümmerten Wahrheitsbegriff als der Dichter, Maler, Graphiker und Mystiker William Blake. Aus der Tradition des radikalen dissent kommend, formt er sich eine Weltanschauung, teilweise an Jakob Böhme, teilweise auch (ambivalent) an Emanuel Swedenborg orientiert, doch letztlich ganz singulär und eigentümlich, wie er in Jerusalem selbst proklamiert: „I must Create a System, or be enslav’d by another Mans / I will not Reason & Compare: my business is to create [.]“4 Wie Blake schon in seinem frühen Text „There Is No Natural Religion“ darlegt, ist die sinnlich wahrnehmbare Welt für ihn nicht die Welt; die sinnliche Wahrnehmung – die Tautologie ist greifbar – ist begrenzt durch unsere beschränkten Sinne und kann uns deshalb auch nur ein ganz unzureichendes Bild der vollen Wirklichkeit geben. „Reason“ kann sich immer nur auf das beziehen, was wir bereits wissen, auf das Endliche: „[it is] the ratio of all we have already known“.5 Gäbe es kein Anderes außer Sinneswahrnehmung und Vernunft, man wäre auf die ewige, langweilige Wiederholung des längst Bekannten verwiesen. Es ist aber der „Poetic or Prophetic character“, der in visionärer Schau Neues in die Welt bringt, indem er das Unendliche im Endlichen ent-deckt: „He who sees the In­ finite in all things sees God. He who sees the Ratio only sees himself only.“6 Blakes Œuvre ist voller Denksprüche, die sich gegen einen konventionellen Bildungs- und Unterweisungsbegriff richten – in der Marriage of Heaven and Hell

4 William Blake, The Complete Poems, Alicia Ostriker (Hrsg.), London 1977, S. 651. 5 Ebd., S. 75. 6 Ebd., S. 76.

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findet man etwa Folgendes: „The road of excess leads to the palace of wisdom.“ Oder: „The tygers of wrath are wiser than the horses of instruction.“7 Das ist klar: Alle Erziehung, die sich nur am sinnlich Wahrnehmbaren orientiert, verstärkt ja nur die Mauern dieses Wahrnehmungs-Gefängnisses. Zum Ausbruch aus diesem Gefängnis bedarf es aber einer Kunst, die keine Wahrnehmungsmuster bestätigt und weiter verfestigt, sondern die das empirisch Gegebene und unhinterfragt Akzeptierte visionär transzendiert – einer Kunst wie seiner: „The Nature of my Work is Visionary, or Imaginative“ (aus A Vision of the Last Judgement).8 Solche Kunst ist ein Werkzeug, die verdinglichten Wahrnehmungsmuster aufzubrechen und solche Augenblicke der Schau zu ermöglichen: „If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite. For man has closed himself up, till he sees all things thro’ narrow chinks of his cavern.“9 Es ist unmittelbar einsichtig, dass jede Wissenschaft, die auf Empirie basiert, mit einem lächerlich verkürzten Wirklichkeits-Begriff operiert – daher aber auch einen lächerlich verkürzten Wahrheits-Begriff hat: Solche Art von Wissenschaft konzentriert sich im Wortsinne auf das Unwesentliche, weil ihr das Wesentliche, das hinter den Dingen liegt, aus selbstverschuldeter Bornierung entgeht – Wahrheit dagegen wird, es verträgt Wiederholung, in visionärer Schau erfahren: To see a World in a Grain of Sand And a Heaven in a Wild Flower Hold Infinity in the palm of your hand And Eternity in an hour („Auguries of Innocence“)10

Das Problem ist, dass solche Art von Wahrheit natürlich nicht direkt kommunizierbar ist, weil das ja auf eine Vermittlung des Unmittelbaren hinausliefe. In ihrer unabstellbaren Medialität können die Schrift und das design also immer nur darauf hindeuten, dass sie nicht etwa das Eigentliche transportieren oder gar selbst schon sind, sondern nur auf es verweisen – sie sind nur Zeichen. Diese Sprach-Kunst muss systematisch auf ihre eigene unvermeidliche Unzulänglichkeit hinweisen (ein Phänomen, das sich am besten mit dem Begriff der ‚romantischen Ironie‘ erfassen lässt), sie ist notwendigerweise katachretisch. (Da es sich

7 Ebd., S. 183 f. 8 William Blake, The Complete Poetry and Prose, David V. Erdman (Hrsg.), Commentary by Harold Bloom, New York/London [u.a.] 1988, S. 555. 9 Blake, Poems, S. 188. Aldous Huxley sollte später diesen Ausdruck „the doors of perception“ zum Titel eines Essays über seine Drogenerfahrungen machen, und der junge Jim Morrison wiederum gab nach der Lektüre von Huxleys Text seiner gerade formierten Band den Namen „The Doors“. 10 Ebd., S. 506.



„There is no want of knowledge […]“ 

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bei den wichtigsten von Blakes Werken um Text-design-Einheiten handelt, die also Intermedialität ins Spiel bringen, sind die Voraussetzungen für einen hochdynamischen, eigentlich unabschließbaren Rezeptionsprozess außerordentlich günstig – solange man nicht von visionärer, alle Gegensätze aufhebender Schau ergriffen wird, scheint die vorläufige ‚Aussage‘ des einen ein ums andere Mal von derjenigen des anderen unterlaufen zu werden.)11 Blakes Graphik von Newton bringt seine Einschätzung der modernen Wissenschaft auf den Punkt: Gebeugt, um nicht zu sagen gekrümmt, auf das Papier und den Zirkel vor sich stierend, sieht Newton die wunderbaren Mineralien in seinem Rücken gar nicht. Sie sind bunt, ungeordnet, flächig-schwammartig-verwischt, chaotisch, kontingent – man fragt sich unwillkürlich, was das, was Newton da zirkelt, eigentlich mit der Wirklichkeit zu tun hat, der er im Wortsinne den Rücken zudreht. Nicht viel, ist zu befürchten. (Es scheint mir eine kaum zu überbietende Ironie, dass eine deutlich an Blakes Druck gemahnende und auch noch Newton benannte Skulptur von Eduardo Paolozzi ausgerechnet vor der neuen British Library in St. Pancras steht. Hier hat einer entweder Blake gar nicht verstanden – oder aber nur zu gut verstanden, dann ist die Skulptur im Eingangsbereich der BL aber eher als ein monumentales „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ zu verstehen. Das hätte Blake möglicherweise sogar gefallen.) In seinem Gedicht „Mock on, Mock on, Voltaire, Rousseau“ unterstellt Blake der Philosophie der Aufklärung und der Wissenschaft Newtonscher Art gleichermaßen, mit ihren armen Begriffen von Wahrheit und Wirklichkeit nur einer Selbst-Blendung zu unterliegen: Mock on, Mock on, Voltaire, Rousseau; Mock on, Mock on; ’tis all in vain. You throw the sand against the wind, And the wind blows it back again; And every sand becomes a Gem Reflected in the beams divine; Blown back, they blind the mocking Eye, But still in Israel’s paths they shine. The Atoms of Democritus And Newton’s Particles of light Are sands upon the Red sea shore, Where Israel’s tents do shine so bright.12

11 Vgl. Christoph Bode, „Schreiendes Baby! Grausamer Mann! William Blake, entwickelt (Anglistische Perspektiven)“, in: Anglistik, 15/2004, 1, S. 119–135. 12 Blake, Poems, S. 494.

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 Christoph Bode

Die Über-Blendung der Bilder macht es deutlich: Die Naturwissenschaften streuen sich und den Menschen Sand in die Augen – die Welt ist beileibe nicht nur das, was sich messen und sinnlich wahrnehmen lässt. Und all das, was solchermaßen als Untersuchungsobjekt zugerichtet worden ist, lässt sich zugleich auch als Teil einer Realität begreifen, die überzeitlich ist und an einer Wahrheit teilhat, die sich genau dieser Art von Zugriff entzieht.

III William Wordsworth (1770–1850) William Wordsworth lehnt Wissenschaft und Technik längst nicht so prinzipiell und vehement ab wie William Blake. Zunächst einmal muss in der gegenwärtigen Epoche grundsätzlich alles Stoff der Dichtung sein können. Das war bei Wordsworth nicht nur Theorie, sondern poetische Praxis, und deshalb wurde ihm ja auch vorgeworfen, er habe Esel, Idioten und verrückte Mütter zum Gegenstand der Poesie erhoben. Im 42. Sonett seines Zyklus „Composed or Suggested During a Tour in the Summer of 1833“ – einem Sonett, das gerne in Zusammenhang mit William Turners Gemälde „Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway“ gebracht wird – heißt es unter der Überschrift „Steamboats, Viaducts, and Railways“: MOTIONS and Means, on land and sea at war With old poetic feeling, not for this, Shall ye, by Poets even, be judged amiss! Nor shall your presence, howsoe’er it mar The loveliness of Nature, prove a bar To the Mind’s gaining that prophetic sense Of future change, that point of vision, whence May be discovered what in soul ye are. In spite of all that beauty may disown In your harsh features, Nature doth embrace Her lawful offspring in Man’s art; and Time, Pleased with your triumphs o’er his brother Space, Accepts from your bold hands the proffered crown Of hope, and smiles on you with cheer sublime. 13

Mag die Technik – an Land, auf dem Wasser oder die Landschaft überbrückend  –  sich auch mit traditionellem poetischen Sentiment nicht recht vertragen oder gar die Schönheit der Natur beeinträchtigen, so möge doch auch der

13 William Wordsworth, Poetical Works, Thomas Hutchinson (Hrsg.), new edition, revised by Ernest de Selincourt, London/Oxford [u.a.] 1969, S. 374.



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menschliche Geist sich dadurch nicht hindern lassen zu erkennen, was sich hier an Zukünftigem abzeichnet. Wenn sie uns auch noch nicht schön vorkommt, so ist diese Verkehrs-Technik doch „Nature’s lawful offspring“, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die den Raum besiegenden Verkehrsmittel die Anerkennung finden, die sie verdienen, als Ausdruck einer zukunftsschaffenden Hoffnung. Nein, Wordsworth kennt hier keine Berührungsängste. Das mag damit zusammenhängen, dass er schon auf der Grammar School in Hawkshead eine vergleichsweise fortschrittliche Erziehung erfahren hatte, mit guter Grundlegung in Mathematik und Naturkunde. Diese Offenheit der Mathematik und den Naturwissenschaften gegenüber änderte sich auch nicht, als Wordsworth Student an St. John’s in Cambridge wurde. Im dritten Buch seines großen autobiographischen Epos The Prelude beschreibt er eindrücklich, wie er von seinem College-Zimmer aus Trinity College sieht, ja sogar von seinem Bett aus die Statue Sir Isaac Newtons davor: Near me hung Trinity’s loquacious clock, Who never let the quarters, night or day, Slip by him unproclaimed, and told the hours Twice over with a male and female voice. Her pealing organ was my neighbour too; And from my pillow, looking forth by light Of moon or favouring stars, I could behold The antechapel where the statue stood Of Newton with his prism and silent face, The marble index of a mind for ever Voyaging through strange seas of Thought, alone.14

Unvorstellbar, dass Blake so etwas Bewunderndes über Newton geschrieben hätte! Nicht per se also lehnt Wordsworth Wissenschaft und Technik ab; allein, seine Dichtungstheorie lässt es extrem unwahrscheinlich scheinen, dass Poesie und das Wissenschaftlich-Technische sich schon bald versöhnen könnten: In seinem dichtungstheoretischen Manifest, dem immer wieder erweiterten und ergänzten Preface zur Zweitauflage der Lyrical Ballads, legt er bekanntlich fest, „[that] poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings: it takes its origin from emotion recollected in tranquillity“.15 Das Echo dieser Gefühle – nicht im Augenblick

14 William Wordsworth, The Prelude: The Four Texts (1798, 1799, 1805, 1850), Jonathan Wordsworth (Hrsg.), Harmondsworth 1995, S. 105. Es handelt sich hier um die Zeilen 53–63 der Fassung von 1850. 15 William Wordsworth, Selected Prose, John O. Hayden (Hrsg.), Harmondsworth 1988, S. 297.

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des Erlebens selbst verfertigt, sondern erst im Nacherleben komponiert – muss beim Leser ankommen, d.h. es geht zweimal um einen prekären Transfer von Empfindungen. Nun ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass starke Empfindungen auch von der Technik oder den Erkenntnissen der Wissenschaft ausgelöst werden können, doch wahrscheinlicher ist es, dass es die grundlegenden, existentiellen, aber auch alltäglichen Erfahrungen des Menschen („incidents and situations from common life“,16 wie auch Krankheit, Tod, Verlust) sind, die, ausgedrückt in einer ungekünstelten Sprache – „a selection of the real language of men in a state of vivid sensation“, „a selection of language really used by men“17 – den Leser ergreifen und bewegen können. Bei Wordsworth ist Sprache immer Spiegel eines gesellschaftlichen Zustandes – und der ist schlecht, denn aus einer ganzen Reihe von Gründen ist der Geist und die Empfindungsfähigkeit der Menschen wie erstarrt und betäubt und ihre Sprache daher auch klischee- und formelhaft.18 Dem kann nun natürlich nicht durch eine Dichtung abgeholfen werden, die selbst erstarrt und klischee- und formelhaft ist, wie etwa die poetic diction der neoclassicists. Vielmehr braucht man dafür eine neue poetische Sprache, die, wie gesagt, eine Auswahl aus der tatsächlich gesprochenen Sprache der einfachen, doch grundlegend gebildeten Menschen darstellt, und die dann über ganz alltägliche Zwischenfälle und Situationen des Lebens („humble and rustic life“)19 eine bestimmte Tönung werfen kann: „to throw over them a certain colouring of imagination, whereby ordinary things should be presented to the mind in an unusual aspect“.20 Wo aber soll in dem Szenario Platz für die Naturwissenschaften sein? Wordsworth spielt den Platzanweiser, ähnlich wie Jahrzehnte später in dem „Steam­ boats“-Sonett: The remotest discoveries of the Chemist, the Botanist, or Mineralogist, will be as proper objects of the Poet’s art as any upon which it can be employed, if the time should ever come when these things shall be familiar with us, and the relations under which they are contemplated by the followers of these respective sciences shall be manifestly and palpably material to us as enjoying and suffering beings. If the time should ever come when what is now called science, thus familiarized to men, shall be ready to put on, as it were, a form of flesh and blood, the Poet will lend his divine spirit to aid the transfiguration, and will welcome the Being thus produced, as a dear and genuine inmate of the household of man.21

16 Ebd., S. 281. 17 Ebd., S. 279, 281. 18 Vgl. ebd., S. 284. 19 Ebd., S. 282. 20 Ebd., S. 281. 21 Ebd., S. 292 f.



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Bis zu diesem zwar nicht undenkbaren, doch sehr, sehr fernen Tage aber ist der Dichter nicht bloß ein Mensch, der zu anderen Menschen spricht,22 er ist auch „the rock of defence for human nature; an upholder and preserver, carrying everywhere with him relationship and love.“23 Hatte nicht schon Aristoteles geschrieben, „[that] Poetry is the most philosophical of all writing: it is so“, fährt Wordsworth fort, „its object is truth, not individual and local, but general, and operative; not standing upon external testimony, but carried alive into the heart by passion“?24 Daraus folgt die (momentane, aber doch wohl noch lange andauernde) Überlegenheit des Wissens der Poesie über das der Wissenschaft (obwohl Aristoteles bekanntlich nur die Geschichtsschreibung als Gegensatz im Sinne hatte, als er bemerkte, sie halte sich bei dem Zufälligen auf, die Dichtung aber beim Notwendigen und Universellen): „Poetry is the breath and finer spirit of all knowledge; it is the impassioned expression which is in the countenance of all Science. [...] Poetry is the first and last of all knowledge – it is as immortal as the heart of man“.25 Das ist nun allerdings nicht nur so dahingesagt, sondern begründet sich aus Wordsworths Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Denken, das er im Preface nicht ausführlich darlegen konnte.26 In seinen Essays upon Epitaphs (1809/10) holt er das wenigstens ansatzweise nach. Dort hält er dem neoklassizistischen „True wit is nature to advantage dress’d, / What oft was thought but ne’er so well express’d.“ (Pope, Essay on Criticism)27 entgegen, dass Sprache eben nicht den Gedanken umhüllt wie ein Kleidungsstück, sondern ihr Verhältnis zueinander wie das von Körper und Seele sei – Worte sind eine Verkörperung des Gedankens, und deshalb kann man eben nicht ein und denselben Gedanken so oder so ausdrücken, ohne dass es zugleich ein anderer Gedanke würde: In a bulky volume of Poetry entitled ELEGANT EXTRACTS IN VERSE, which must be known to most of my Readers, as it is circulated everywhere and in fact constitutes at this day the

22 „What is a Poet? [...] He is a man speaking to men.“ Ebd., S. 288. 23 Ebd., S. 292. 24 Ebd., S. 290. 25 Ebd., S. 292. 26 „For, to treat the subject with the clearness and coherence of which it is susceptible, it would be necessary to give a full account of the present state of the public taste in this country, and to determine how far this taste is healthy or depraved; which, again, could not be determined, without pointing out in what manner language and the human kind act and re-act on each other, and without retracing the revolution, not of literature alone, but likewise of society itself“ (ebd., S. 280). 27 Alexander Pope, Selected Poetry and Prose, Robin Sowerby (Hrsg.), London/New York 1988, S. 44.

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poetical library of our Schools, I find a number of epitaphs in verse, of the last century; and there is scarcely one which is not thoroughly tainted by the artifices which have over-run our writings in metre since the days of Dryden and Pope. Energy, stillness, grandeur, tenderness, those feelings which are the pure emanations of Nature, those thoughts which have the infinitude of truth, and those expressions which are not what the garb is to the body but what the body is to the soul, themselves a constituent part and power or function in the thought—all these are abandoned for their opposites [...]. Words are too awful an instrument for good and evil, to be trifled with; they hold above all other external powers a dominion over thoughts. If words be not (recurring to a metaphor before used) an incarnation of the thought, but only a clothing for it, then surely will they prove an ill gift; such a one as those possessed vestments, read of in the stories of superstitious times, which had power to consume and to alienate from his right mind the victim who put them on. Language, if it do not uphold, and feed, and leave in quiet, like the power of gravitation or the air we breathe, is a counter-spirit, unremittingly and noiselessly at work, to subvert, to lay waste, to vitiate, and to dissolve.28

Weil wir in Sprache denken, ist Sprache zugleich das wichtigste Instrument unserer Welterfahrung und -erkenntnis. Die Überlegenheit der Sprache der Poesie ist sprachphilosophisch begründet: Das, was sich in Poesie sagen lässt, lässt sich eben nicht auch ‚irgendwie anders‘ sagen, sondern nur so. Das bedeutet aber auch, dass so etwas wie didaktische Dichtung nicht erst bei Shelley, sondern schon bei Wordsworth ein poetisches Ding der Unmöglichkeit ist: Denn was sich auch anders sagen lässt – nämlich in Prosa –, das hat in Dichtung nichts verloren! Wenn es trotzdem versucht wird, ist es keine Dichtung im emphatischen Sinne des Wortes mehr. Das Wissen der Dichtung aber ist nur in der Dichtung zu haben. Wordsworths Dichterfreund Samuel Taylor Coleridge (1772–1834), sonst beileibe nicht immer derselben Auffassung, teilte übrigens diese Ansicht. In seiner Biographia Literaria (1817) schildert Coleridge, wie er schon auf der Schule eine Sicht des Zusammenhanges von Denken und Sprache in der Dichtung gelernt habe, die man im 20. Jahrhundert wohl formalistisch-strukturalistisch genannt hätte: I learnt from him [his teacher], that Poetry, even that of the loftiest, and, seemingly, that of the wildest odes, had a logic of its own, as severe as that of science; and more difficult, because more subtle, more complex, and dependent upon more, and more fugitive causes. In the truly great poets, he would say, there is a reason assignable, not only for every word, but for the position of every word; and I well remember, that availing himself of the synonimes to Homer of Didymus, he made us attempt to show, with regard to each, why it would

28 Wordsworth, Prose, S. 360 f.



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not have answered the same purpose; and wherein consisted the peculiar fitness of the word in the original text.29

Daraus folgt die apodiktische Feststellung: I was wont boldly to affirm, that it would be scarcely more difficult to push a stone out from the pyramids with the bare hand, than to alter a word, or the position of a word, in Milton or Shakspeare [sic] […] without making the author say something else, or something worse, than he does say.30

Das bedeutet aber wiederum, was sich überhaupt verlustlos in eine andere Sprache übersetzen lässt, ist poetisch minderwertig, ‚von Übel‘: „whatever lines can be translated into other words of the same language, without diminution of their significance, either in sense, or association, or in any other feeling, are so far vicious in their diction.“31 Genau das ist es aber nun, was an der neoklassizistischen Dichtung eines Alexander Pope oder der didaktischen Dichtung eines Erasmus Darwin, dessen Botanic Garden Coleridge in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt, so falsch ist – sie besteht diesen Test einfach nicht: „[T]he matter and diction seemed to me characterized not so much by poetic thoughts, as by thoughts translated into the language of poetry.“32 Was aber eben auch bedeutet: Das kann ohne Verlust in Prosa zurückübersetzt werden – und ist deshalb gar keine Dichtung im emphatischen Sinne des Wortes.33 Doch zurück zu Wordsworth: Bei allem prinzipiellen Interesse an Wissenschaft und Technik bleibt bei ihm doch immer ein Zweifel, ob der analytische Zugriff auf die Wirklichkeit nicht letztlich das töte, was das Leben eigentlich ausmacht – vorbildlich auf den Punkt gebracht in seinem frühen Gedicht „The Tables Turned“:

29 Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria, James Engell/Walter Jackson Bate (Hrsg.), Princeton (NJ) 1983, S. 9. 30 Ebd., S. 23. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 19. 33 An dieser Stelle sei eine kritische Bemerkung zu dem Artikel „Antididacticism as a Contested Principle in Romantic Aesthetics“, Eighteenth-Century Life, 25/2001, S. 252–270, von David Duff (den ich persönlich ungemein schätze) erlaubt: Duff weitet in diesem Aufsatz den Begriff didaktischer Dichtung so sehr, dass letztlich alles darunter fällt, was nicht reines l’art pour l’art ist. Selbstverständlich verfolgen Gedichte von Blake, Wordsworth, Keats und Shelley irgendeinen purpose, das macht sie aber noch lange nicht zu Lehrgedichten im üblichen Sinne des Wortes.

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Sweet is the lore which Nature brings; Our meddling intellect Mis-shapes the beauteous forms of things: – We murder to dissect. Enough of Science and of Art; Close up those barren leaves; Come forth, and bring with you a heart That watches and receives.34

IV John Keats (1795–1821) Als Absolvent der Enfield Academy und Student der Pharmazie und Medizin an Guy’s Hospital London hatte John Keats ungewöhnlich gute Kenntnisse der einschlägigen Wissenschaften seiner Zeit. Nach seinem Studienabschluss 1816 hätte er ohne weiteres als Arzt praktizieren oder sich als Apotheker niederlassen dürfen. Er kannte keine Berührungsängste und zeigte waches Interesse am Fortschritt der Wissenschaften. Wie andere Romantiker hielt er allerdings dafür, dass das neue wissenschaftliche Weltbild eine tragische und folgenschwere Verkürzung darstelle, sah er doch auch die katastrophalen sozialen Auswirkungen der Quantifizierung der Welt im Anschluss an die polit-ökonomischen Theorien eines Adam Smith, die demographisch-ökonomischen Theorien eines Thomas Robert Malthus und die zynischen Folgen eines um sich greifenden Primitiv-Utilitarismus (der freilich mit den Schriften Jeremy Benthams nur noch entfernt zu tun hatte). Wie andere Romantiker glaubte auch Keats, dass gerade die Dichtung dem etwas entgegenzusetzen hätte. John Keats ist der Dichter der sinnlichen Erfahrung der Welt und der radikale Fürsprecher der Wahrheit des Augenblicks. Schon in der programmatischen „Pleasure thermometer“- (oder auch „Fellowship with essence“-) Passage aus Endymion (Zeile 777  ff.) hatte er dargelegt, dass jegliche Glückserfahrung des Menschen Verschmelzungserfahrung ist, ein Einswerden, in dem Subjekt und Objekt nicht voneinander geschieden werden können. Das sei schon bei den einfachen Sinneserfahrungen so, beim Hören einer Melodie, beim Fühlen und Riechen eines Rosenblattes, das man zwischen den Fingern reibt, erst recht aber in der Liebe. Die Wahrheit solcher Erfahrung ist unmittelbar und unwiderlegbar. Das teilt sie aber mit der Wahrheit der Imagination, die Keats in seinem Brief an Benjamin Bailey vom 22. November 1817 in Anspielung auf John Miltons Para-

34 Wordsworth, Poetical Works, S. 377.



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dise Lost mit Adams Traum vergleicht – Adam träumt davon, eine Frau zu haben, wacht auf und findet Eva neben sich: I am certain of nothing but of the holiness of the Heart’s affections and the Truth of the Imagination—What the Imagination seizes as Beauty must be truth—whether it existed before or not—[…] The Imagination may be compared to Adam’s dream—he awoke and found it truth.35

Er habe nie verstehen können, wie man durch logische Schlussfolgerungen zu einer Wahrheit gelangen könne: I am the more zealous in this affair, because I have never yet been able to perceive how any thing can be known for truth by consequitive [sic] reasoning—and yet it must be— Can it be that even the greatest Philosopher ever arrived at this goal without putting aside numerous objections—However it may be, O for a Life of Sensations rather than of Thoughts!36

Aus diesem Sensualismus folgt, dass es – wie die Wahrheit des Augenblicks – immer nur das Glück des gegenwärtigen Augenblicks geben kann: [Y]ou perhaps at one time thought there was such a thing as Worldly happiness to be arrived at, at certain periods of time marked out—you have of necessity from your disposition been thus led away—I scarcely remember counting upon Happiness—I look not for it if it be not in the present hour—nothing startles me beyond the Moment. The setting sun will always set me to rights—or if a Sparrow come before my Window I take part in its existence and pick about the Gravel.37

An diesem Maßstab aber – dass etwas erfahrene Wahrheit ist – hat sich die Wahrheit der Philosophie und Wissenschaft messen zu lassen, wie Keats in seinem Brief an J.H. Reynolds vom 3. Mai 1818 unter Bezug auf Wordsworth ausführt: „[W]e find what he says true as far as we have experienced and we can judge no further but by larger experience—for axioms in philosophy are not axioms until they are proven upon our pulses“.38 Man sieht, dass Keats in dieser Hinsicht einen extremen Gegenpol zu William Blake darstellt: Skeptisch-ablehnend sehen beide die moderne Wissenschaft, doch Keats kritisiert die Wissenschaften, weil sie zu wenig sensuell-sensualistisch sind, Blake dagegen, weil sie zu sehr auf die sinnlich zugängliche Empirie setzen.

35 John Keats, Keats’s Poetry and Prose, Jeffrey N. Cox (Hrsg.), New York/London 2009, S. 102. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 103. 38 Ebd., S. 244. Hervorhebung hinzugefügt.

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Keats handelt sich mit dieser Sichtweise mindestens zwei Probleme ein. Das erste ist, wie sich überhaupt aus einer Serie diskreter Momente irgendeine Kontinuität ergeben soll. Keats löst das über die Vorstellung eines Dichters, der selbst keinerlei Identität hat,39 und der sich deshalb, ausgestattet mit einer besonderen Fähigkeit, Unsicherheiten, Ungewissheiten, Zweifel und Ambivalenzen aushalten zu können („negative capability“),40 quasi zum Sensor machen kann oder, da er selbst keinerlei Substanz hat, zu einem leeren Gefäß, das beliebige Inhalte fasst, deren Wechsel dann registriert wird: So ist seine Dichtung zu verstehen. Technisch geschieht diese Verknüpfung diskreter Momente zu einer Kontinuität durch Narration.41 Das zweite Problem ist, wie sich die subjektive, sinnlich erfahrbare Wahrheit des Augenblicks gegen die analytische Wahrheit der Wissenschaft (in England zu dieser Zeit häufig noch ‚Philosophy‘, im Sinne von ‚Natural Philosophy‘) behaupten kann. Diese Frage wird in dem erzählenden Langgedicht Lamia (1820) erzählerisch-dramatisch beantwortet. Lamia ist ein weiblicher Dämon in Schlangengestalt, der sich unsterblich in den Studenten Lycius verliebt hat. Hermes verleiht ihr nach einem deal einen wunderschönen Frauenkörper. Lamia lauert Lycius quasi auf, auch er verliebt sich rückhaltlos in sie, und die beiden leben ein intensives, perfektes Glück in ihrem Stadtpalast in Korinth – einem Palast, der allerdings für Normalsterbliche unsichtbar ist. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten aber – Lamia hatte sich zuvor aus gutem Grunde dagegen gesträubt, ihr gemeinsames Glück öffentlich zu machen und damit neben dem Blick des Lycius auf sie auch andere, konkurrierende Blicke zuzulassen – verwelkt Lamia unter den kalten Augen des ungeladenen Gastes Apollonius, der philosophischer Lehrer und Mentor des Lycius gewesen war: Do not all charms fly At the mere touch of cold philosophy? There was an awful rainbow once in heaven: We know her woof, her texture; she is given In the dull catalogue of common things. Philosophy will clip an Angel’s wings, Conquer all mysteries by rule and line, Empty the haunted air, and gnomed mine – Unweave a rainbow, as it erewhile made The tender-person’d Lamia melt into a shade.42

39 Vgl. ebd., S. 294–295. 40 Ebd., S. 109. 41 Vgl. dazu ausführlicher Christoph Bode, Selbst-Begründungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik, I: Subjektive Identität, Trier 2008, S. 205–223. 42 Keats, Keats’s Poetry and Prose, S. 427.



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Apollonius ‚durchschaut‘ Lamia als Dämon, sie löst sich unter Schreien vor den Augen der Gesellschaft auf – sterben kann sie glücklicherweise nicht, während Lycius aber tot daniedersinkt: sein Hochzeitkleid sein Totenhemd. Die Wahrheit hat gesiegt – die Wahrheit der Wissenschaft, dass nämlich Lamia ‚eigentlich‘ ein schlangenhafter Dämon war! Das Gedicht lässt aber andererseits auch keinen Zweifel daran, dass das Glück dieses Paares auch eine Wahrheit war, keine Illusion, sondern so wahr wie Adams Traum. Lamia hat Lycius nichts Böses, nur Gutes getan. Der ‚objektive‘ Blick der Wissenschaft hat dieses Glück zerstört, um ihrer Wahrheit willen. Operation geglückt – Patient tot. Das ist John Keats’ Verdikt: Die Wahrheit dieser rücksichtslos andere gegen ihren Willen beglücken wollenden Wissenschaft geht über Leichen – sic pereat mundi! Der Kardinalfehler solcher Menschheitsbeglücker ist eben ein Mangel an „negative capability“: Jemand wie Apollonius kann sich nicht vorstellen, dass Lamia sowohl ein Dämon als auch jemand ist, der bloß lieben und geliebt werden möchte. Er kann sich nicht vorstellen, dass beides wahr ist. Den Preis für diesen Mangel an Vorstellungsvermögen des Wissenschaftlers zahlt der, den er retten wollte – mit seinem Leben. Dass John Keats selbst bereit war, allzeit zu differenzieren, erhellt aus einer kleinen Anekdote im Zusammenhang mit dem sogenannten Immortal Dinner vom 28. Dezember 1817 im Hause des Malers Benjamin Robert Haydon – zu Gast waren außer Keats und Wordsworth auch Charles Lamb und Thomas Monkhouse. Keats, verzeichnet Haydon in seinem Tagebuch, stimmte Lamb zu „[that Newton] destroyed all the Poetry of the rainbow by reducing it to a prism.“ Aber dann erhoben alle ihre Gläser und tranken auf „Newton’s health, and confusion to mathematics“.43 Man muss eben differenzieren und Widersprüche aushalten können. Das aber zeichnet vorzüglich den Dichter aus.

V P.B. Shelley (1792–1822) Zu Beginn seiner Defence of Poetry unterscheidet Shelley zwei entgegengesetzte „classes of mental action“, nämlich reason und imagination. Der reason unterliegt das Prinzip der analysis, der imagination aber das der synthesis. Entsprechend stellt die Vernunft auf bekannte Quantitäten ab, die Imagination aber auf die Qualität dieser Quantitäten. Analog stellt die Vernunft auf Unterschiede ab,

43 Robert Gittings, John Keats, Harmondsworth 1979 (1. Aufl. 1968), S. 265.

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die Imagination aber auf Ähnlichkeiten.44 Man erkennt bereits: Für Shelley ist das Wirken der Imagination im Wesentlichen eine metaphorische Operation. Von allen Medien der Künste, so Shelley weiter, ist aber die Sprache dem Geist des Menschen am nächsten, weil Sprache sich nur auf Gedankeninhalte bezieht, nicht auf externe Objekte (oder Referenten). Wenn also die Sprache verfeinert wird, d.h. Dinge sagbar werden, die zuvor nicht sagbar waren, wird auch der Bereich des Denk- und Vorstellbaren erweitert. Somit haben Dichter nicht nur die Aufgabe, gegen die Automatisierung der Sprache (im Sinne des Formalisten Viktor Šklovskij) anzugehen, indem sie die Form schwierig machen und den Wahrnehmungsprozess um seiner selbst willen verlangsamen, sie haben auch die Aufgabe projektiv den Bereich des Sag- und Vorstellbaren zu erweitern. Für Shelley ist nun jeder Denker, jeder Philosoph, jeder Religionsgründer, einfach jeder, der sprachlich etwas Neues in die Welt gebracht hat – nämlich eine neue Art, die Dinge zu betrachten – ein Dichter. „Sieh’ die Dinge [einmal] so an“ – dies zu sagen, ist nach Ludwig Wittgenstein die höchste Aufgabe des Philosophen,45 nach Shelley aber auch das definierende Merkmal aller Dichter (in diesem weitesten Sinne). Es geht darum, vorher nicht gesehene (oder vorher nicht existente – Shelley ist hier epistemologisch widersprüchlich) Verknüpfungen zwischen den Dingen, genauer: zwischen den Vorstellungen von den Dingen herzustellen und dadurch an dem großen Menschheitsgedicht, an dem wir alle weben, seit es Kultur gibt, mitzuwirken und es fortzusetzen.46 Neues kommt in die Welt, indem es dichterisch behauptet wird, und es kommt in die Welt als Vorschlag, dies einmal als das zu betrachten, also zweierlei in Beziehung zu setzen, was bislang nicht in einer solchen Beziehung gesehen wurde. Der Motor der kulturgeschichtlichen Entwicklung, die darin besteht, das Netz der Beziehungen immer dichter zu knüpfen, damit aber auch den Bereich des Sagund Vorstellbaren immer weiter auszudehnen, ist somit die Fähigkeit, metaphorisch zu denken, d.h. die Fähigkeit, diejenige Ähnlichkeit zu erkennen, die es mir erlaubt, das eine durch das andere zu ersetzen, ohne doch die Identität der beiden an dieser Austauschoperation beteiligten Elemente behaupten zu wollen. (Shelleys epistemologische Widersprüchlichkeit ließe sich eventuell dadurch auflösen, dass man sagte, eine solche Ähnlichkeit sei ja auch wirklich in gewisser Weise noch nicht ‚da‘, ehe sie nicht behauptet wurde.) Beiläufig sei bemerkt, dass für Shelley das

44 Vgl. Shelley, Poetry and Prose, S. 510. 45 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farben/Über Gewissheit/Zettel/Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1997 (1. Aufl. 1984), S. 537. 46 Vgl. Shelley, Poetry and Prose, S. 522.



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Synthetisch-Metaphorische nicht nur die Basis der Dichtung, sondern auch die Grundlage aller Ethik und Moral ist. Imagination ist die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen; Moral die Fähigkeit, sich zu identifizieren mit allem, was gut ist an einer Handlung, einem anderen, einem Gedanken. Die Voraussetzung aller Empathie ist die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, was dieses oder jenes für den anderen bedeutet. Vulgo: Das Böse ist immer Ausdruck eines Mangels an Vorstellungsvermögen. Die moralische Wirkung von Dichtung besteht also nicht etwa darin, dass sie uns didaktisierend sagt, was jeweils gut und richtig zu tun wäre. Nein, sie wirkt indirekt, aber auch viel stärker, indem sie unser Vorstellungsvermögen entwickelt und stärkt und uns dadurch in den Stand versetzt, selbst moralisch zu handeln, nicht auf Anweisung.47 Die Vorherrschaft von reason in einer Gesellschaft bedeutet also, dass das Analytische, nicht das Synthetische in den Vordergrund gerät; dass wir zwar die Relationen bestimmen können, nicht aber den Wert dieser Relationen; dass wir auf Differenzen abstellen, wo wir Ähnlichkeiten erkennen sollten; dass wir separieren, wo wir zusammenführen sollten; dass wir kalkulieren, wo wir werten sollten. Die an den Anfang dieses Beitrags gestellte Passage, die das Titelzitat enthält, gipfelt dann in der Behauptung, dass sich in der beziehungsstiftenden Dichtung einerseits und dem egoistischen, auf Differenzen, Quantitäten und Zwietracht abstellenden „principle of Self“ der Gott und der Götze des gegenwärtigen Zeitalters gegenüberstünden: The cultivation of those sciences which have enlarged the limits of the empire of man over the external world, has, for want of the poetical faculty, proportionally circumscribed those of the internal world; and man, having enslaved the elements, remains himself a slave. To what but a cultivation of the mechanical arts in a degree disproportioned to the presence of the creative faculty, which is the basis of all knowledge, is to be attributed the abuse of all invention for abridging and combining labor, to the exasperation of the inequality of mankind? From what other cause has it arisen that the discoveries which should have lightened, have added a weight to the curse imposed on Adam? Poetry, and the principle of Self, of which money is the visible incarnation, are the God and Mammon of the world.48

Dichtung zerreißt den ‚Film der Vertrautheit‘, [...] it purges from our inward sight the film of familiarity which obscures from us the wonder of our being. It compels us to feel that which we perceive, and to imagine that which

47 Ebd., S. 517. 48 Ebd., S. 530–531.

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we know. It creates anew the universe after it has been annihilated in our minds by the recurrence of impressions blunted by reiteration.49

Das führt zu einer Intensivierung des Lebens, der ganzen Existenz, während die Produkte von reason ja immer nur die Welt in ihrer trügerischen Vertrautheit bestätigen und damit unser Empfindungsvermögen abstumpfen. Analyse hantiert immer nur mit dem Bekannten, Synthese schießt aber über sich hinaus, weil sie immer darauf aus ist, eine Beziehung zu ent-decken, die es, ehe ich sie benannte und anderen zeigte, gar nicht gab. Dichtung ist in diesem Sinne Ausdruck jener Geisteskraft, die auf Veränderung drängt, sie verzeichnet sich abzeichnende Zukunft: [O]ur own will be a memorable age. [...] It is impossible to read the compositions of the most celebrated writers of the present day without being startled with the electric life which burns within their words. [...] Poets are the hierophants of an unapprehended inspiration, the mirrors of the gigantic shadows which futurity casts upon the present, the words which express what they understand not, the trumpets which sing to battle and feel not what they inspire: the influence which is moved not, but moves. Poets are the unacknowledged legislators of the World.50

Dichter sind die unerkannten oder nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt, weil sie – als Innovatoren und Sensoren – die Richtung angeben, in der unser In-derWelt-sein evolviert. Das ist aber keine inhaltliche Gesetzgebung, sondern ein Entwerfen der Bahnen, in denen unser Vorstellungsvermögen emergiert. Deshalb kann es auch gar nicht überraschen, dass Shelley im Vorwort zu seinem Drama Prometheus Unbound unzweideutig erklärt: „Didactic poetry is my abhorrence; nothing can be equally well expressed in prose that is not tedious and supererogatory in verse.“51 Wie Wordsworth und Coleridge meint also auch Shelley: Was sich ebenso gut in Prosa sagen lässt, hat in Dichtung nichts zu suchen. Gute Dichtung ist immer grenzwertig und Grenzen erweiternd, weil die Art, wie sie es sagt, – einstmals ‚Form‘ genannt – selbst bedeutungstragend ist.52 Und was ist mit dem Wissen der Poesie?

49 Ebd., S. 533. 50 Ebd., S. 535. 51 Ebd., S. 209. 52 Das hatte er im Übrigen schon früh so praktiziert: In seinem radikalen Epos Queen Mab (1813) ist alles Lehrhafte in den Fußnotenapparat gesteckt. Dort gibt es dann ganze Essays über Vegetarismus, kosmische Theorien, die klimatischen Folgen einer Aufrichtung der Erdachse, über die Aussichten, den Mond zu besiedeln – und über die Notwendigkeit des Atheismus, ein Essay, dessentwegen er die Universität Oxford verlassen musste.



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Poetry is indeed something divine. It is at once the centre and circumference of knowledge; it is that which comprehends all science, and that to which all science must be referred. It is at the same time the root and blossom of all other systems of thought; it is that from which all spring, and that which adorns all; and that which, if blighted, denies the fruit and the seed, and withholds from the barren world the nourishment and the succession of the scions of the tree of life.53

Der zweite Satz unterstreicht die Behauptung des ersten, Dichtung sei etwas Göttliches, wendet er doch die Gottesdefinition von Hermes Trismegistus auf sie an: Alles Wissen ist in ihr aufgehoben, sie umfasst alles Wissen. Und alle Wissenschaft muss letztlich auf Poesie bezogen sein, weil Poesie den Bezug zum Menschen herstellt – ohne diesen Bezug bleibt Wissen nämlich unrelationiert und verselbständigt sich, verdinglicht, vom Menschen, d.h. es tritt ihm fremd gegenüber: unheimlich und monströs. Einen Fluchtpunkt solcher Überlegungen finden wir zu Mitte und am Ende des Viktorianismus im dichtungstheoretischen Werk Matthew Arnolds (1822– 1888), in dessen Essays „The Study of Poetry“ (1880) und „Literature and Science“ (1882, 1885) den Zeitgenossen Poesie als Religionsersatz angeboten wird. Wenn anderer Halt und andere Tröstung fehle, sei sie immer noch da: „Poetry [...] as a criticism of life.“54 Shelley („We want the poetry of life.“) hätte es wohl gefallen.

VI Anstelle eines Ausblicks: Charlotte Smith (1749–1806) 1807 – übrigens im Gründungsjahr der London Geological Society – erscheint posthum Charlotte Smiths fragmentarisch gebliebenes Langgedicht „Beachy Head“.55 Das ist, oberflächlich betrachtet, ein Gedicht über eine bekannte Kalksteinformation, ein Kliff an der Südküste Englands. Wie Shelley in Queen Mab packt Smith ihre geologischen und botanischen Kenntnisse in, nein, nicht Fußnoten, sondern in endnotes, aber immerhin, es scheint auch hier eine signifikante Bifurkation von dichterischer und eher szientifischer Rede zu geben. Weshalb ich sie hier, aus der Chronologie fallend, überhaupt erwähne? „Beachy Head“ hat, so scheint mir, zwei master tropes, nämlich ‚Sedimentation‘ und ‚Fossil‘. Schon bei Beginn des Gedichts liegt die Sprecherin oben auf dem Kalkfelsen, quasi als 53 Ebd., S. 531. 54 Matthew Arnold, „English Literature and Irish Politics“, in: The Complete Prose Works of Matthew Arnold, Bd. 9, Robert H. Super (Hrsg.), Ann Arbor (MI) 1973, S. 163. 55 Vgl. Charlotte Smith, The Works of Charlotte Smith. Hrsg. von Stuart Curran, Bd. 14: Elegiac Sonnets, Volumes I and II. The Emigrants. Beachy Head: With Other Poems. Uncollected Poems, Jacqueline M. Labbe (Hrsg.), London 2007, S. 155–176.

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rezenteste Schicht dieser Formation. Wiederholt kommt der Text darauf zurück, dass jede Gegenwart sich ablagert, der ganze Fels materialisierte Vergangenheit ist und deshalb auch jedes Graben im Raum einer Zeitreise gleichkommt: archäologisch zu den Römern und Kelten, paläontologisch zu Mammuts und Ammoniten. Am Ende wird noch jeder in diesen Felsen eingehen. Die Lebensformen aber, die bereits in geologischer Zeit in ihn eingegangen, aber noch in ihrer Form erkennbar sind, stecken in ihm wie die anderen Texte, mit denen Smith ihren Text gespickt hat („the stranger’s song[]“56 und die „rhapsod[y]“57): wie Fossilien. Perfekt erhalten in der Form, aber von anderer Substanz. Der Text suggeriert:58 Er selbst ist perfekter Abdruck einer diskursiven Bewegung, Spur von und Verweisung auf etwas, was sich per definitionem bereits entzogen hat. Das würde bedeuten: Diskurs ist immer etwas, was zurückgelassen wurde von etwas, was jetzt nicht mehr da ist, über das man aber auch nur reden kann, weil da diese Spur ist. Über das, was in keinem Medium einen Abdruck hinterlassen hat, ist nicht zu reden. Ungleich wichtiger für unser Thema ist aber die in „Beachy Head“ suggerierte Konversion von Kultur in Natur (und vice versa) und damit die Verknüpfung von Natur- und Kulturgeschichte: Letztere liegt nur als rezenteste Schicht auf der geologischen Natur-Formation. Die geologischen Hinterlassenschaften der Natur und ihr Gegenwärtiges müssen aber genauso gelesen werden wie die der Kultur. Das geht nicht ohne die Identifizierung von Ähnlichkeiten. Die Naturwissenschaften sind zu großen Teilen Natural History, also gerade nicht geprägt von zeitlosen Naturgesetzen. Die Dichotomie von Natur und Kultur lässt sich also gleich doppelt nicht halten, weil nicht nur auch die Natur eine Zeit hat, sondern auch unsere Entzifferungsversuche der Natur ihre eigene Geschichte haben, d.h. Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sind Teil jenes, nach Shelley, einen großen Menschheitsgedichtes, in dem sich die Menschheit ein Bild von ihrem Ort in der Welt macht – und fortfährt, dieses Bild zu revidieren. Die Geschichte dieses Wissens ist eine, so suggeriert es „Beachy Head“, Geschichte der Vorstellungsformen, also eine auf Qualitäten abstellende Morphologie – ein synthetisierendes Arbeiten mit Ähnlichkeiten, Gleichnissen. Warum nenne ich in meinem Titel die Poesie einen Konterdiskurs? Die Anregung kommt von Rainer Warning, der in Die Phantasie der Realisten im Anschluss an Foucault von „poetischer Konterdiskursivität“ spricht59 – Foucault, der in Les 56 Ebd., S. 171. 57 Ebd., S. 172. 58 Vgl. ausführlicher Bode, Selbst-Begründungen, S. 251–260. 59 Rainer Warning, „Poetische Konterdiskursivität: Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 313–345.



„There is no want of knowledge […]“ 

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mots et les choses der Literatur genau diese Gegenläufigkeit zugesprochen hatte.60 Mein Ansatz ist jedoch ein tendenziell anderer: Diskurs ist eine historisch spezifische Weise, über einen bestimmten Gegenstand zu sprechen (also eine Ermöglichungs- und Restriktionsstruktur). Genauer: Diskurs ist die Einheit davon – die Weise und der Gegenstand, der als solcher erst durch die Rede darüber konstituiert wird. Nun aber hat Literatur keinen solchen bestimmten Gegenstand, weil spätestens seit dem 18. Jahrhundert alles ihr Gegenstand sein kann. Nicht nur dem Roman als der literarischen Leitgattung der Neuzeit eignet ja, dass er sich als progressive Universalpoesie (F. Schlegel) alles aneignen und einverleiben kann,61 der Literatur generell kommt in einer funktional-differenzierten Gesellschaft kein spezifischer, inhaltlich definierter Verarbeitungsbereich mehr zu. In diesem Sinne ist Literatur also kein Diskurs. Und doch einer, weil sie sich zu allem äußern und verhalten kann, was bereits als diskursiver Gegenstand konstituiert wurde, aber eben zu ihren eigenen Bedingungen, d.h. befreit von den Regeln, die den jeweils zu XYZ etablierten Diskurs steuern. Dadurch wirkt Literatur wie ein Konter-Diskurs – sie nimmt teil, aber außerhalb der Regeln.62 Die historische Dynamik eines Diskurses lässt sich, einer Anregung Wittgensteins folgend, mit dem Verhältnis von Fluss und Flussbett vergleichen. Fließen kann der Fluss nur im Flussbett, doch das Flussbett hat er sich durch sein Fließen selbst geschaffen und modifiziert es ständig weiter. Diese Kontinuität durch Diskontinuität ereignet sich sowieso schon in jedem Diskurs, obwohl man selbstverständlich sowohl die befreienden Brüche als auch, wie es Foucault getan hat,63 die Einengungen des institutionalisierten Diskurses akzentuieren kann. Doch Literatur ist gar nicht an das Flussbett des, sagen wir, Diskurses über künstliches Leben oder über den Orient oder über Genetik gehalten – und kann gerade deshalb (within limits) als quertreibender Zufluss die gesellschaftliche Vorstellung von XYZ affizieren. Ein gutes Beispiel dafür ist möglicherweise Mary Shelleys Roman Frankenstein, der sich weniger mit der Frage beschäftigt, ob man künstlich menschliches Leben herstellen kann, als mit der Frage, ob das vertretbar wäre, also die Wertfrage aufwirft, wie sich das für ein solches Geschöpf anfühlen mag, wegen seines Äußeren keine Gesellschaft zu haben – der Roman vermutet: Man wird zum Monster, weil man bloß das Aus-

60 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1988 (1. Aufl. 1974), S. 76. 61 Vgl. Christoph Bode, Der Roman. Eine Einführung. 2., erweiterte Aufl., Tübingen/Basel 2011, S. 35–80. 62 Vgl. dazu ausführlicher Christoph Bode, Fremd-Erfahrungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik, II: Identität auf Reisen, Trier 2009, S. 8–14. 63 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991.

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gangsmaterial des Menschlichen verkörpert, dem aber das Wesentliche, nämlich das Soziale abgeht. In diesem Sinne mag es stimmen, dass Dichtung nicht nur ein Diskurs ist, der mit den anderen nicht nur auf Augenhöhe ist, sondern ihnen sogar ironischerweise gerade dann übergeordnet ist, wenn er sich ihnen subversiv nähert.

Bibliographie Arnold, Matthew, „English Literature and Irish Politics“, in: The Complete Prose Works of Matthew Arnold, Bd. 9, Robert H. Super (Hrsg.), Ann Arbor (MI) 1973. Blake, William, The Complete Poems, Alicia Ostriker (Hrsg.), London 1977. Blake, William, The Complete Poetry and Prose, David V. Erdman (Hrsg.), Commentary by Harold Bloom, New York/London [u.a.] 1988. Bode, Christoph, „Schreiendes Baby! Grausamer Mann! William Blake, entwickelt (Anglistische Perspektiven)“, in: Anglistik, 15/2004, 1, S. 119–135. Bode, Christoph, Selbst-Begründungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik, I: Subjektive Identität, Trier 2008. Bode, Christoph, Fremd-Erfahrungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik, II: Identität auf Reisen, Trier 2009. Bode, Christoph, Der Roman. Eine Einführung. 2., erweiterte Aufl., Tübingen/Basel 2011. Coleridge, Samuel Taylor, Biographia Literaria, James Engell/Walter Jackson Bate (Hrsg.), Princeton (NJ) 1983. Duff, David. „Antididacticism as a Contested Principle in Romantic Aesthetics“, EighteenthCentury Life, 25/2001, S. 252–270. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1988 (1. Aufl. der dt. Übersetzung 1974). Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991. Gittings, Robert, John Keats, Harmondsworth, 1979 (1. Aufl. 1968). Keats, John, Keats’s Poetry and Prose, Jeffrey N. Cox (Hrsg.), New York/London 2009. Pope, Alexander, Selected Poetry and Prose, Robin Sowerby (Hrsg.), London/New York 1988. Shelley, Percy Bysshe, Shelley’s Poetry and Prose, Donald H. Reiman/Neil Fraistat (Hrsg.), Second Edition, New York/London 2002. Smith, Charlotte, The Works of Charlotte Smith. Hrsg. von Stuart Curran, Bd. 14: Elegiac Sonnets, Volumes I and II. The Emigrants. Beachy Head: With Other Poems. Uncollected Poems, Jacqueline M. Labbe (Hrsg.), London 2007. Warning, Rainer, „Poetische Konterdiskursivität: Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 313–345. Wilde, Oscar, Five Major Plays, New York 1970. Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über die Farben/Über Gewissheit/Zettel/Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1997 (1. Aufl. 1984). Wordsworth, William, Poetical Works, Thomas Hutchinson (Hrsg.), new edition, revised by Ernest de Selincourt, London/Oxford [u.a.] 1969. Wordsworth, William, Selected Prose, John O. Hayden (Hrsg.), Harmondsworth 1988. Wordsworth, William, The Prelude: The Four Texts (1798, 1799, 1805, 1850), Jonathan Wordsworth (Hrsg.), Harmondsworth 1995.

Marc Föcking (Hamburg)

Das Ich in Bewegung Lyrik und Eisenbahn bei Alfred de Vigny, Paul Verlaine und Ardengo Soffici I Romantische ‚innerliche Bewegung‘ Als die Schriftsteller der Romantik und die Philosophen des Idealismus im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Lyrik als eigenständige Gattung erfanden, dachten sie sich das lyrische Subjekt als enthusiastisch aufgeregt, von Raum und Zeit entbunden, als bewegungslos. Erst durch die Kombination dieser drei Bedingungen konnten die Romantiker ‚Lyrik‘ sinnvoll aus der seit der Antike gängigen klassischen Gattungsdyade von Mimesis und Diegesis herauslösen, die, so Jean Paul 1812, „an der Person des Dichters selber einen Markstein […] einer leichten Abgrenzung aller Dichtarten“ gewonnen hatte: Spricht der Dichter selbst, dann wirds […] Epos et compagnie, z.B. Elegie; läßt er aber andere sprechen, so ist das Drama da. Man könnte so den Dichter in Rücksicht seiner geschaffenen Welt […] bald extramundan, bald intramundan betrachten.1

Die um 1800 neue Idee, die bislang in der einen wie anderen klassischen Gattung aufgegangenen kürzeren Verstexte – Oden, Elegien, Eklogen, Dithyramben etc. – zur ‚Lyrik‘ zusammenzuziehen, basierte auf den Präsupposition, dass alle diese Texte durch ein Sprecher-Ich im Text dominiert waren, das vor allem der (eigenen) Emotionalität eine Stimme gab. Diese für das romantische Lyrikkonzept kennzeichnende Aussprache der „Empfindung“ (Jean Paul), des „[e]nthusiastisch Aufgeregte[n]“ (Goethe) oder des „empfindende[n] Gemüt[s]“ (Hegel)2

1 Jean Paul, „Vorschule der Ästhetik“, in: ders., Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5, Norbert Miller (Hrsg.), München 1963, S. 272. 2 Jean Paul, Vorschule, S. 271; Johann Wolfgang von Goethe, „Divan: Noten und Abhandlungen“, in: ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Ernst Beutler (Hrsg.), Bd. 3, Epen. West-Östlicher Divan. Theatergedichte, Zürich 1948, S. 480; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Friedrich Bassenge (Hrsg.), Bd. 2, Berlin/Weimar 1984, S. 400. Zur Theorie der Lyrik im frühen 19. Jahrhundert siehe Anna Cullhed, The Language of Passion. The Order of Poetics and the Construction of a Lyric Genre 1746–1806, Frankfurt a.M. 2002, und Sandra Richter, A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter, Berlin/New York 2010.

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benötigte aber die gattungsunterscheidende Stabilisierung durch die Setzung deutlicher Differenzen zu Dramatik und Narrativik (insbesondere zum dramatischen Dialog, zum Brief, zum Ich-Roman). Diese Differenzen sehen Jean Paul und Hegel in der Zeit- und Raumindifferenz des lyrischen Sprechers, bei dem die „Begebenheit nur als Gegenwart, die Zukunft nur als Empfindung“3 eine Rolle spielt, er folglich aus allen chronologisch und topographisch bestimmten Handlungskontexten, wie sie Narrativik und Dramatik bestimmen, herausgefallen ist: „Die Empfindung wird sich allein und unabhängig darstellen, ohne etwa wie im Epos alle ihre Eltern, oder wie im Drama ihre Kinder zu malen.“4 Das lyrische Subjekt der Romantiker lebt und spricht so in reiner Gegenwart, seine Rede setzt sich von jeder Form von (dramatisch wie narrativ vermittelter) Handlung ab. Es ist wie ein schwarzes Loch, das alles „äußere Geschehen“, „das Substantiellste und Sachlichste“ in sich aufsaugt und in „Leidenschaft, Stimmung oder Reflexion“5 – so Hegel – transformiert. Genau das meint Friedrich Theodor Vischers berühmte Bestimmung, Lyrik sei das „punktuelle Zünden der Welt im Subjekt“.6 Dieses Subjekt kennt nur innere Explosionen, „innerliche Bewegung“;7 äußerlich bleibt es durch seine Entbindung aus Handlungs- und Zeitkontexten unbewegt. Dass Bewegungslosigkeit seit der Aristotelischen Vorstellung von Gott als Unbewegtem Beweger immer schon als Zeichen metaphysischer Superiorität galt, entspricht dem prophetischen Anspruch des lyrischen Subjekts als porte-parole des romantischen Dichters und macht gleichzeitig deutlich, dass eine rein biographische Identifizierbarkeit von empirischem Autor und romantischem lyrischem Subjekt nicht intendiert war. Diese Exaltierung der Bewegungslosigkeit des reflektierten romantischen Subjekts aber stößt um 1830 auf ihr Kontrastprogramm in der ‚äußeren Wirklichkeit‘: Mit der Erfindung, vor allem mit dem schnellen Ausbau der Eisenbahn beginnt sich nicht nur die Landschaft auf eine bis dahin kaum gekannte Weise zu verändern – durch das technische Ensemble aus Schienennetz und Eisenbahn, durch Strecken- und Tunnelbau, waghalsige Talbrücken, LandschaftsdurchstiFür Frankreich siehe besonders Franz Penzenstadler, Romantische Lyrik und klassizistische Tradition, Stuttgart 2000, S. 33–165. Siehe auch den grundlegenden Aufsatz von Klaus W. Hempfer, „Überlegungen zur historischen Begründung einer systematischen Lyriktheorie“, in: Klaus W. Hempfer (Hrsg.), Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags, Stuttgart 2008, S. 33–60. 3 Jean Paul, Vorschule, S. 272. 4 Ebd., S. 272–273. 5 Hegel, Ästhetik, S. 400. 6 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Dritter Theil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Dritter Theil: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1331. 7 Hegel, Ästhetik, S. 400.



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che, durch die die Bahnstrecken begleitenden Telegraphendrähte und Signalanlagen. Sie verändert auch das Verhältnis des Menschen zu Raum, Zeit und Geschwindigkeit. War das Bewegungsideal bis ins 18. Jahrhundert eher an Ruhe, Gleichmaß und die Langsamkeit des festina lente gebunden, wird im 19. Jahrhundert das Tempo dank neuer technischer Möglichkeiten in einem bislang ungekannten Maß positiviert. Nun waren Geschwindigkeit und Radius nicht mehr an die begrenzten Möglichkeiten von Fußmärschen und Kutschfahrten gebunden, wie sie noch Annette von Droste-Hülshoff in Die Judenbuche (1837–1841) beschreibt: Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdenwinkel ohne Fabriken und ohne Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte und eine Reise von dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte.8

Vielmehr schienen sie sich für die Zeitgenossen auf unheimliche, gleichzeitig aber auch faszinierende Weise zu erweitern, wodurch die Menschen nie gekannten Reizen ausgesetzt wurden. Heinrich Heine schrieb in seinem Essay zur Eröffnung der Bahnlinie Paris-Rouen-Orléans 1843: Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen […] verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem sozialen Isolierschemel steht. […] Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind […]. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. […] In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebenso viel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt sind und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.9

Heines Frage „Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen!“ kann auch auf die nach der Position des lyrischen Subjekts übertragen werden: Welche Konsequenzen hat es, wenn

8 Annette von Droste-Hülshoff, Sämtliche Werke, Clemens Heselhaus (Hrsg.), München 1955, S. 882. 9 Heinrich Heine, Lutetia II, lvii, in: ders., Sämtliche Schriften, Klaus Briegleb (Hrsg.), 6 Bde., München 2005, Bd. 5, S. 448–449.

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das metaphysisch-unbewegte Subjekt romantischer Dichtung mit der modernen Emphase der Geschwindigkeit konfrontiert wird? Was geschieht, wenn dieses Subjekt gar selbst in Bewegung versetzt wird? Und was heißt das für die Destabilisierung dieses Subjekts selbst? Antworten auf diese Fragen werden drei Eisenbahngedichte geben, die jeweils im Abstand von etwa dreißig/vierzig Jahren entstanden sind: Alfred de Vignys La maison du berger (1844), Paul Verlaines Le paysage dans le cadre des portières (1869/1870) und Ardengo Sofficis Treno-Aurora (1915).

II M  elancholische Resistenz des Stillstands: Alfred de Vigny, La maison du berger Alfred de Vignys philosophisches Langgedicht vereint Überlegungen zur romantischen Liebe, zur christlichen Ethik und zur romantischen Poetik mit modernekritischer Polemik gegen die Politik und die Technik der Ära Louis Philippes. Verbunden werden diese Themen durch das Motiv des Schäferkarrens, mobiler Ort der Naturverbundenheit und der Einsamkeit, mit der das lyrische Ich samt Geliebter durch bukolische, in jedem Falle aber stadtferne Landschaften ziehen möchte. Die uns interessierenden Strophen hat Vigny unter direktem Eindruck eines verheerenden Eisenbahnunfalls bei Versailles am 8. Mai 1842 geschrieben, der just in dem Monat Frankreich erschütterte, in dem die Chambre des Députés die Konzessionen für neue Eisenbahnlinien diskutierte.10 Das Gedicht erschien 1844 in der Revue des Deux-Mondes, der wichtigsten und international wirkmächtigsten französischen Wochenzeitschrift für Kultur, Literatur und Politik des 19. Jahrhunderts und Sachwalterin der Romantik.11 Während bereits viele hundert Schienenkilometer Frankreich durchziehen, ist Vignys Text ein letztes Aufbäumen lyrischer Immobilität gegen die beschleunigte Moderne, aus der das lyrische Ich zu fliehen unternimmt. In den ersten zehn Strophen wird eine Frauenfigur – durch den Namen Eve als Stellvertreterin für die Frau überhaupt – angesprochen und als unter dem Leben der Gegenwart leidende

10 Zu diesen Hintergründen siehe Marc Baroli, Le train dans la littérature française, Paris 1964, S. 70–85, und Joseph Acquisto, „Reigniting Vigny: Fire, Transformation and Modernity in his Lyric Poetry“, in: Symposium: A Quarterly Journal in Modern Literatures, 61/2007, 2, S. 99–114. 11 Hier zitiert nach Alfred de Vigny, Œuvres poétiques, Jacques-Philippe Saint-Gérand (Hrsg.), Paris 1978, S. 196–204. Zur Revue des Deux-Mondes siehe Nelly Furman, La ‚Revue des Deux-Mondes‘ et le romantisme, Genf 1975, und Donald Sasson, La cultura degli europei. Dal 1800 a oggi, Rom 2011, S. 67, 71, 130, 380–382.



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Kreatur modelliert. Jeder Versuch, aus dieser unabänderlich das Leben diktierenden Gegenwart auszusteigen, jeder Versuch, eine „route inconnue“ (V. 12) zu finden, wird bestraft durch Ächtung und Isolation. Die typische Lebensform dieser sozialdisziplinierten Menschen der Moderne sind die staubigen Städte, die „cités serviles comme les rocs fatals de l’esclavage humain“ (V. 24–25). Das Gegengift ist das eskapistische Modell des Ausstiegs und Konsumverzichts, es materialisiert sich im Schäferkarren, der „maison du berger“, die sich auf ihren „quatre roues“ (V. 50) mal hierhin, mal dorthin rollen kann – sie ist in ihrer „course vagabonde“ (V. 61) überall dort zu Hause, wohin die Liebe das lyrische Ich und seine aus der Gesellschaft geflüchtete Geliebte führt: ob im „pays de la neige“ oder in „ceux que heurtent les vents, ceux que la mer assiège“ (V. 57–59). Vigny zeichnet hier eine Art Hippy-Ideal des Ausstiegs, das sich die maximale Distanz zur störenden, materiellen Gegenwart erträumt – einen Platz auf hohen Berghängen, weit über den Niederungen der Städte, auf denen sich die Protagonisten in freier Liebe lieben könnten. Gegengift gegen die materielle Moderne sind also die romantischen Ideale von Ungebundenheit, Gesellschaftsflucht, einem dem Zufall überlassenen sich Treiben-Lassen, Erhöhung des Standpunkts auf einem Berg – aber nicht (im Unterschied zur deutschen Romantik wie auch der französischen Romantik der ersten Generation), um Gott nah, sondern um der ungeliebten Moderne fern zu sein und ihr ein anderes (gleichwohl nicht metaphysisches) Lebensmodell entgegenzusetzen: die von gesellschaftlichen Zwängen ungestörte, freie Liebe. Es ist daher bedeutsam, dass sich Vigny eine Schäferhütte als idealen Ort für diesen erotischen Eskapismus ausgesucht hat. In der antiken, dann auch der Dichtung der Renaissance und der Klassik diente die Hirtenstaffage traditionell der Markierung eines der Gesellschaft nur im Modus des Spiels kompatiblen Lebens und Liebens in einer bukolisch stilisierten – also artifiziellen – Natur.12 Vignys romantisierte Bukolik aber durchschneidet das Band zwischen Gesellschaft und Hirtendasein völlig, behält jedoch die traditionelle Irrealität dieses Zustandes bei. Denn natürlich klammert er die ‚realistischen‘ Fragen aus: Wie soll das lyrische Ich denn den Wagen auf den Berg wuchten? Was essen die beiden? Frieren die Liebenden nicht, wenn sie ihren Wagen zum „pôle obscur sous sa glace“ (V. 60) ziehen. Und wie kommen sie dahin?

12 Siehe dazu etwa Winfried Wehle, „Menschwerdung in Arkadien. Die ‚Wiedergeburt‘ der Anthropologie aus dem Geist der Kunst“, in: ders. (Hrsg.), Über die Schwierigkeiten,(s)ich zu sagen, Frankfurt a.M. 2001, S. 83–105. Ferner Paul Alpers, „What is pastoral?“, in: Critical Inquiry, 8/1982, 3, S. 437–460.

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Aus dieser Position der Unrealisierbarkeit, von dieser gleichermaßen erhöhten wie isolierten, modernekritischen Position des Berges nun wird der Blick auf die Eisenbahn als Signum der Moderne geworfen. Die Modernekritik erscheint also nicht vor dem Hintergrund eines funktionierenden positiven Gegenentwurfes: Die Position, aus der heraus kritisiert wird, ist bereits unterlegen, behält aber die Gefahren der Moderne umso stärker im Blick. Vignys Gedicht bildet so die perfekte Entsprechung zum auf diese Weise nicht mehr rätselhaften Bild Gnom, Eisenbahn betrachtend, das Carl Spitzweg 1848, vier Jahre nach Vignys La Maison du Berger, gemalt hat. Der Spitzwegsche Zwerg ist hier ebenso inaktuell und irreal wie das Vignysche bukolische Idyll, das distanziert und hilflos aus der erhöhten Ferne auf die in der Tiefe dahindonnernde Eisenbahn hinabschaut und deren Gefahren kommentiert. Inaktualität wie Pessimismus schlagen sich in der besonderen mythischen Einkleidung nieder, die die vom Menschen entwickelte Technik wie ein Fabelwesen erscheinen und gleichzeitig dämonisierend über dessen Verfügungsgewalt siegen lässt. Wir erkennen hier dieselben Techniken, mit denen dreißig Jahre später noch Giosuè Carducci in seiner Oda barbara „Alla stazione in una mattina d’autunno“13 arbeiten wird. Diese mythische Schicht lässt sich bereits daran erkennen, dass die Maschine durchgehend animalisiert wird: Die Lokomotive hat „dents de feu“ (V. 68), ist schneller als ein Hirsch, ist ein „taureau de fer qui fume, souffle et beugle“ (V. 78), ein „dragon mugissant qu’un savant a fait naître“ (V. 90). Durch diese Animalisierung und Dämonisierung wird eben die Unbeherrschbarkeit und die Unmöglichkeit einer Folgekostenabschätzung unterstrichen, die Vigny ja auch wörtlich ausspricht: „L’homme a monté trop tôt. Nul ne connaît encor / Quels orages en lui porte ce rude aveugle“ (V. 79–80). Dezidiert eingepasst wird diese zum Stier metaphorisierte Eisenbahn in den Mythos des „taureau de Carthage“ (V. 83), jenem bronzenen Stier, in dem der Tyrann Phalaris von Akragis seine Feinde einschließen und auf einem Feuer rösten ließ, was Vigny als antike Parallele zum Feuertod der in den Eisenbahnwaggons eingeschlossenen Reisenden ansetzt. Die Tyrannei, die diese moderne Technik ausübt, ist die des seelenlosen, antichristlichen und menschenfeindlichen Kapitalismus, der „Dieu de l’or“, vor dessen Füßen die Asche seiner verkohlten Opfer ausgestreut wird (V. 84).

13 Zu Carduccis Ode siehe Hans Hinterhäuser, Moderne italienische Lyrik, Göttingen 1964, S. 7–13, zu Carducci im Panoroma der italienischen Lyrik des späten 19. Jahrhunderts Niva Lorenzini, „Carducci e la poesia moderna“, in: Italian Poetry Review, 2/2007, S. 315–326.



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Und da Vigny den sich der Rationalität entziehenden negativen Mythos zur Charakterisierung der Eisenbahn einsetzt, kann dieser auch nur durch den positiven Mythos des Christentums im Zaum gehalten werden: durch Gott, durch den Schutzengel, der „veille sur sa route“ (V. 64–75). Unter dieser mythischen Schicht aber erkennen wir eine Reihe von auch in der zeitgenössischen Publizistik geäußerten Beobachtungen zu Bedingungen und Konsequenzen des industriellen Ensembles in technisch-infrastruktureller wie wahrnehmungsphysiologischer Hinsicht: Die Herrschaft der unnatürlichen, geraden Linie der Schiene (V. 108: „la flêche elancée à travers les espaces“, „sa ligne immoblie“, V. 124–125) oder die Störungsanfälligkeit der Eisenbahn und die Steigerung der Unfallgefahren und Unfallkonsequenzen: Bereits der Steinwurf eines Kindes könnte eine Katastrophe auslösen (V. 77); die Eingriffe in die Natur („traverser les monts“ V. 65; „elle va sous la terre ou fait trembler les ponts“, V. 67); der zwangsläufige, gewaltsame Umbau der Städte („Transperce les cités“, V. 69). Aber auch die Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit wird reflektiert: „La distance et le temps sont vaincus“ (V. 129), Räume und Distanzen schrumpfen (V. 122: „Le monde est rétréci“); die sinnliche Wahrnehmung der durchreisten Landschaft wird ausgeschaltet („adieu, voyages lents, bruits lointains qu’on écoute“, V. 115) und das Reisen entpoetisiert („leur voyage est sans graces“, V. 106). Besonders der letzte Punkt lässt wieder die Frage nach der Relation von Dichtung, vor allem der lyrischen Immobilität, und technischer Entwicklung stellen. Hatte die Dichtung der Aufklärung – etwa Vincenzo Montis Oda al Signor de Montgolfier – noch an der Komplementarität von dichterischem und technischem Fortschritt festgehalten,14 sind in der Romantik beide definitiv auseinander getreten: Sie gehen bei Vigny unterschiedliche Wege, mit dem Preis, dass Dichtung sich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verabschiedet und diese selbst nur noch aus der Distanz und im Bewusstsein der Irrealität der eigenen Lebensentwürfe betrachten kann. Diese Distanz schlägt sich nicht nur in der räumlichen Opposition zwischen lyrischem Ich auf dem Berg und der Bahn in der Niederung nieder, sondern auch in der zwischen der Position des lyrischen Ich in der Ruheposition außerhalb des Zuges und der Bewegungsposition des Zuges selbst. Wir werden sehen, wie dreißig Jahre später Paul Verlaine diese Position des lyrischen Ichs markant verändern wird. 14 Dazu siehe demnächst Marc Föcking, „Dichter an Bord? Technik, Dichtung und Ornament in Vincenzo Montis ‚Al Signor di Montgolfier‘ (1784) mit einer Coda zu Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzos Seebuch (1801)“, in: Angela Oster (Hrsg.), Kunst und/oder Technik? Zur Tradition eines Dialogs und seiner Neupositionierung in den Wissensdiskursen der Frühen Neuzeit, 2015 (im Druck).

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III Verlaine und das Ich in Bewegung Paul Verlaines Lyriksammlung La bonne chanson von 1870 war lange Zeit dem Verdikt der spätromantischen Re-Idyllisierung glücklicher Liebe zu seiner Verlobten Mathilde Mauté und deren quasi stilnovistischer Sakralisierung verfallen. Doch eben diese Sammlung wird durch ihr siebtes Stück, durch Le paysage dans le cadre des portières (entstanden 1869) zum literarischen Präzedenzfall einer neuen, durch das Reisen in der Eisenbahn erzeugten panoramischen Wahrnehmung,15 in der sich nicht nur die Modi der Perzeption im Zeitalter der Industrialisierung radikal verändern, sondern die auch die Immobilität des lyrischen Ichs auflöst. Verlaines Text ist modern durch die Störung traditioneller Modi der Repräsentation, die von der Thematisierung einer neuen, technisierten Realität selbst ausgeht. Verlaine ist nicht der erste, der die Lyrik für das Thema des neuen Transportmittels geöffnet hat, vielmehr gibt es um 1870 bereits zwei konträre Topoi seiner Darstellung, nämlich den dysphorischen Vignys und den euphorischen einer progressiven Eloge der neuen Technik wie in Maxime Du Camps Chants modernes und besonders in La Locomotive.16 Doch was hier an Modernitätszuwachs bereits im Sammlungstitel, dann durch die hymnische Aufzählung menschheitsbeglückender Auswirkungen der Eisenbahn reklamiert wird, geht in der unfreiwilligen Komik der hochpathetischen Prosopopoeia, im Rollengedicht der ihre Ankläger zurückweisenden, ‚sprechenden‘ Eisenbahn und ihrer Stilisierung zum ‚besseren‘, weil mechanischen Pferd (die Du Camp als perfekte Palinodie zum Lob der Kutschfahrt bei Vigny anlegt)17 vollständig verloren.18 Was der ‚konservative‘ Vigny aber immerhin ex negativo als Folge der neuen Technik für die Revolutionierung der Wahrnehmung erkannt hat, bleibt in La Locomotive des ‚modernen‘ Du Camp völlig verborgen, weil die inszenierte Selbstansprache der Maschine die spezifisch menschliche Perzeptionsproblematik ausblenden muss. 15 Hier zitiert nach Paul Verlaine, Œuvres poétiques complètes, Yves-Gérard Le Dantec/Jacques Borel (Hrsg.), Paris 1962, S. 146. Zu diesem Gedicht siehe die romantisierenden Ausführungen von Baroli (Anm. 10), S. 146–149. Zu thematisch verwandten Gedichten in La bonne chanson Carol Coates, „‚Cris des métaux‘ et d’autres bruits: Structuration poétique dans Walcourt et Charleroi“, in: Revue Verlaine, 1/1993, S. 103–124. 16 Maxime Du Camp, Les chants modernes, Paris 1860, S. 197–203. 17 Vigny, Œuvres poétiques, S. 122: „On n’entendra jamais piaffer sur une route / Le pied vif du cheval sur les pavés en feu; / Adieu, voyages lents, bruits lointains qu’on écoute, / Le rire du passant, les retards de l’essieu (…)“. 18 „Voyez ces chevaux aux cœurs fades, / Qui s’arrêtent froids et malades / Pour de minces estafilades / […] / Moi, moi! J’ai pour vétérinaires / des forgerons aux bras noircis“, Du Camp, Les chants modernes, S. 200.



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Verlaines Le paysage dans le cadre des portières hat nicht nur auf den ersten Blick sehr viel mehr mit Vigny als mit Du Camp zu tun. Wie bei Vigny geht es um ein Zusammentreffen von Eisenbahn- und Liebesthematik, und wie dort konstruiert auch Verlaine ihren Kontrast durch semantische („furieusement“, „tourbillon cruel“, „charbon“, „bruit“ etc. vs. „blanche vision“, „douce voix“, „sonore“) und akustische Oppositionen („charbon qui brûle et l’eau qui bout“ vs. „voix pour moi murmure encore“), die durch die inhaltlichen Schwerpunkte der Strophen (1 und 2: Eisenbahn vs. 3: Evokation der „blanche vision“) unterstrichen wird. Auch die Dämonisierung der Maschine („mille géants qu’on fouette“) gehört zu den romantischen Ingredienzien buchstäblicher Verteufelung einer Technik,19 die nur als Opponent zur romantischen „rêverie amoureuse“ thematisiert werden kann. Doch anders als bei Vigny (oder nach ihm Carducci) wird bei Verlaine das lyrische Ich nun selbst zum Bahnfahrer, und dieser Positionswechsel gewinnt einen geradezu epochalen Charakter: In Le paysage dans les cadres des portières verlässt der Sprecher den sicheren Grund der Tradition und besteigt den Zug – mit beträchtlichen Folgen für die Modernisierung der in Bewegung versetzten Perzeption und ihrer literarischen Repräsentation. Was in der ersten Strophe zunächst und erstmals vollständig in der Lyrik des 19. Jahrhunderts beschrieben wird, ist das maschinelle Ensemble von Bahn, Schiene und Telegraphenleitung, durch das sich die Eisenbahn radikal von allen Verkehrsmitteln zuvor unterscheidet.20 Die „poteaux minces du télégraphe“ und die Telegraphendrähte, die vor dem Abteilfenster im Gedicht vorbeiziehen, halten die physische Bewegung des beschleunigten Reisens ebenso präsent wie die Technifizierung einer Landschaft, die in frühen Formen des Reisens nichts als Natur gewesen ist.21 So wird auch bei Verlaine der „paysage dans le cadre des portières“ als dem technischen Ensemble der Eisenbahn integriert und untergeordnet beschrieben – allerdings ohne den larmoyanten Ton der Sehnsucht nach der intakten Natur, der viele der romantisierenden Texte seiner Zeit durchzieht,22 19 „Mais aucun n’est maître / Du Dragon mugissant qu’un savant a fait naître“, Vigny, Œuvres poétiques, S. 121. 20 Zum „maschinellen Ensemble“ siehe Wolfgang Schievelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit, Frankfurt a.M. 1989, S. 21–34. 21 Ebd., S. 32–34. 22 So beschreibt T. Pavie in der Erzählung „La fauvette bleu. Récit des bords de la Loire“, in: Revue des deux mondes, 31/1861, S. 698–719, einen Eisenbahndurchstich folgendermaßen: „Un peu au dessous du confluent de la Maine et de la Loire […] il y a […] un rocher à pic […] on le nommait la Pierre-Bécherelle. Les chemins de fer sont venus; la Pierre-Bécherelle se trouvait devant eux, ils ont jétés bas le rocher […]. Les voies ferrées ont fait bien d’autres! Combien des collines éventrées, d’horizons masqués, des paysages balafrés, […] sans compter les parcs mystérieux coupés

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denn die Thematisierung der Gewaltsamkeit („furieusement“, „engouffrant“, „tourbillon cruel“) impliziert kein Verdikt über die Veränderung der Landschaft, sondern beschreibt die Reizwirkung einer in Bewegung versetzten Wahrnehmung, die sich bis hin in semantische und grammatikalische Details in Verlaines Text ablesen lässt. Konnte die an die stabile Wahrnehmungsperspektive eines „songeur“ gebundene Landschaftsbeschreibung im ersten Stück von La bonne chanson („Le soleil du matin doucement chauffe et dore“) detailliert und nacheinander verschiedene Pflanzenarten („les seigles et des blés“, „herbes jaunes“, „gazon“), ja sogar „quelque fruit de la haie ou quelque paille au bec“ eines vorüberfliegenden Vogels identifizieren,23 so täuscht der Versbeginn „le paysage dans le cadre“ die ‚Rahmung‘ der Landschaft zum (traditionellen) stillgestellten Landschaftsbild nur noch vor, um sie dann blitzartig durch den Zusatz „des portières“ aufzulösen und die durch das Fenster der Abteiltür wahrgenommene „paysage“ in Bewegung vorzuführen. Diese reduziert sich nun auf die Elemente Erde, Luft und Wasser, die mit einer grobkörnigen, generalisierenden Begrifflichkeit („eau“, „blés“, „arbres“, „ciel“) benannt werden. Überdies wählt Verlaine nicht wie beispielsweise in „Le soleil chauffe et dore“ den direkten Artikel („les seigles et les blés“),24 sondern den Partitiv de zur Markierung indistinkter Menge („de l’eau“). Und schließlich: diese Landschaftsbeschreibung ist in einen einzigen Vers gepresst. Das langsame, sukzessive Schweifen-Lassen des Blicks über die detailreiche Natur, das Verlaine in „Le soleil du matin doucement chauffe et dore“ über zehn Verse ausarbeitet, verknappt sich hier zur quasi simultanen „panoramischen Wahrnehmung“25 einer blitzartig am Betrachter vorbeigezogenen Landschaft, deren Konturen sich auflösen zugunsten ineinander verlaufender Flächen „de l’eau, des blés, des arbres et du ciel“. Konnte sich die traditionelle Beobachterposition in Ruhe als Teil der ruhenden Landschaft und mithin auch als dieser ‚natürlich‘ begreifen, so isoliert sich das in Bewegung gesetzte Wahrnehmungssubjekt von seinen ruhenden Objekten, die für ihn nur noch unter den veränderten Bedingungen der eigenen Perzeption wahrnehmbar und darstellbar sind – Bedingungen, die das Bewegte über das Statische, die Farbe über die Kontur, die standpunktabhängige Wahrnehmung über die Objektivität des Dings ‚an sich‘ siegen lassen. Und, lässt sich hinzufügen, die passiv der Geschwindigkeit

en deux morceaux. Mais tout est au mieux dans le meilleur des mondes! La locomotive siffle et se rit de vos regrets, le train vole sur les rails, la vapeur triomphe“ (S. 698). 23 Verlaine, Œuvres poétiques, S. 117. 24 Ebd. 25 Zum „panoramischen Blick“ im 19. Jahrhundert siehe neben Schievelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, 4. Aufl., Hamburg 1955.



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unterworfene Wahrnehmung über ein sich seiner selbst bewusstes Subjekt: Die ersten zehn Verse kennen nur Wahrgenommenes, keinen Wahrnehmenden, kein lyrisches Ich. Dieses taucht erst in Vers 11 auf, abgesetzt und hervorgehoben durch einen Gedankenstrich, und erst hier beginnen Erinnerungen und Reflexion über die „blanche vision“ der Geliebten. Die Präsenz eines lyrischen Ich findet sich also – ganz romantisch – gebunden an Innerlichkeit, so dass sich der das Gedicht auf der inhaltlichen Ebene durchziehende Kontrast zwischen dem Reizklima der durch die Beschleunigung in Aufruhr versetzten Sinne der ersten zehn Verse und der „blanche vision“ Verse 11 bis 16 korreliert mit dem zwischen einer durch Sinneseindrücke bestimmten Reflektorfigur und einem traditionellen lyrischen Ich. Anders als die das Auge verletzenden Sinneseindrücke der vorbeirasenden Landschaft – „un buisson giffle / L’œil du passant“ heißt es später im Bahngedicht „Charleroi“26 – schmerzt die „blanche vision“ nicht, denn es ist ein Bild in der Ruhe der Imagination des Subjekts. Dennoch handelt es sich nicht um eine Rückkehr zu Vignys Diktum „Jamais la rêverie amoureuse et paisible / N’y verra sans horreur son pied blanc attaché“,27 denn das lyrische Ich träumt seine „blanche vision“ im Zugabteil, seine „rêverie amoureuse“ hat kein „horreur“ vor der Eisenbahn. Das Subjekt ist ganz offensichtlich in der Lage, sich von der ausschließlichen Okkupation durch die neuen Sinnesreize der rasenden Landschaft freizumachen. Historisch gesehen ist diese Abwendung aufschlussreich insofern, als dass diese Fähigkeit der Abstraktion vom Spektakel bewegter Natur vor dem Abteilfenster als Phänomen der Habitualisierung, der Gewöhnung an die um 1869 immer mehr zum Alltag gehörenden Technik gewertet werden kann: „Der Reisende, der in der Eisenbahn einen Roman oder eine Zeitung liest, anstatt sich über die permanente Möglichkeit einer Entgleisung oder einer Kollision zu erregen, fühlt sich ohne Zweifel sicher.“28 So sicher wie das an seine Geliebte denkende lyrische Ich der letzten Strophe. Und wenn das Kennzeichen dieser Habitualisierung das Absinken sinnlicher Erregung unter die Reizschwelle ist, dann geschieht genau das in den Versen 11–16: Das Wirbeln der Landschaft, das Vorbeiziehen der Telegraphenmasten bleibt hier nämlich präsent, hat aber die ästhetische Schockwirkung verloren: Wenn „le nom si beau, si noble et si sonore“ – „Mathilde“, der „nom Carlovingien“ aus „Une sainte en son auréole“29 – sich in den „rhythme du wagon bru-

26 Verlaine, Œuvres poétiques, S. 155 (Romances sans paroles). 27 Vigny, Œuvres poétiques, S. 122. 28 Schievelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 144. 29 Verlaine, Œuvres poétiques, S. 122.

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tal, suavement“ mischt, dann überblenden sich die rhythmischen Geräusche der Dampflokomotive mit dem Dreierrhythmus des Namens. Wenn die Telegraphendrähte der ersten Strophe „ont l’allure étrange d’un paraphe“ – einer nicht endenden Unterschrift – , dann wird das durch die Thematisierung des sich mit den Fahrtgeräuschen ins Unendliche multiplizierenden Namen der Geliebten wieder aufgenommen. Die für Vigny und Carducci bestimmende Opposition zwischen Zugfahrt und Geliebter wird so aufgehoben zugunsten einer zunehmenden Überblendung, die schließlich so weit geht, dass der „Nom si beau“ zum „pur pivot de tout ce tournoiement“ werden kann, zum Angelpunkt, um den sich alles – auch der „tourbillon“ der ersten Strophe – dreht.

IV A  rdengo Sofficis Treno-Aurora – Geschwindigkeit und Auflösung des Subjekts Vor dem Hintergrund von Verlaines Eisenbahngedicht, und mehr noch Vignys La maison du berger, scheint Sofficis Treno-Aurora aus der Sammlung Simultaneità von 191530 ein Text aggressiver Modernität zu sein:

30 Ardengo Soffici, BïF§ZF+18. Simultaneità. Chimismi Lirici, Florenz 2002, S. 89–90. Zu Sofficis futuristischer Poetik siehe Roberto Credi, „Ardengo Soffici: Il veder plastico dell’estetica futurista“, in: Marina Camboni/Antonella Gargano (Hrsg.), Città, avanguardie, modernità e modernismo, Macerata 2008, S. 29–81.



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In programmatisch futuristischer Umsetzung des Prinzips der „parole in libertà“ haben sich traditionelle Syntax und poetische Strophen- und Versformen aufgelöst, verschwinden finite Verbformen und Interpunktion. Die Dominanz des symbolischen Zeichensystems der Schrift wird gebrochen durch Einschaltung ikonischer Zeichen – Werbeschilder oder Zeitungsannoncen von Markenprodukten (die Schuhwichse „Ecla“, das Mineralwasser „Fiuggi“, der Digestif „TOT“ oder der Stärkungswein „Byrrh“) und Abbildungen von Telegraphendrähten, wie sie auch Apollinaire in „Voyage“ aus seinen Calligrammes verwendet.31 Der Text wird zur Collage aus Schrift und Bild. Trotz dieser Modernität erinnert vieles in Sofficis Treno-Aurora an Verlaine: Sofficis Text evoziert auf der inhaltlichen Ebene ebenfalls eine Bahnfahrt – hier entweder zweier Liebender auf der Flucht, die gegen den Willen der Eltern durchbrennen („bisognerà pure telegrafare a papà Si da Bologna“) oder um Ehebrecher („dans quelques heures il se reveilera cocu“) im Frühzug, der vorbei an Werbeplakaten durch die morgendliche Vorstadt rattert.32 Wieder finden sich Eisenbahnfahrt und Liebesthematik verknüpft, wieder taucht das maschinelle Ensemble aus Schiene, Strecke („tunnelli“) und Telegraphenleitung – hier ikonisch – auf, und wie bei Verlaine werden die akustische und optische Gewalt betont, die die rasende Zugfahrt auf die Sinne der Passagiere ausübt: Verlaines „un buisson giffle / l’œil au passant“ aus „Charleroi“ (Romances sans paroles) etwa findet sich wortgleich im synästhetischen „bucoliche schiaffeggiate d’affiches“ wieder. Und dennoch scheint eines verloren gegangen zu sein: Das lyrische Ich hat sich aufgelöst, ein Personalpronomen der ersten Person gibt es nicht mehr, auch keines der zweiten, das auf einen Sprecher schließen lässt. Stattdessen nimmt der Text zum einen eine Dramatisierung vor, denn neben einer die sinnlich erfahrene Morgenröte registrierenden Instanz („rossi rossi arancio“) lässt er die Liebenden, markiert durch Anführungszeichen, selbst sprechen („Cara /  Caro …ma i braccialetti li hai presi tutti?“; „(…) tu m’aimes chérie? – Oui tant. Non pas ici on voit de l’autre compartiment“). Darüber hinaus aber kommen auf der 31 Guillaume Apollinaire, Œuvres poétiques, Marcel Adéma/Michel Décaudin (Hrsg.), Paris 1965, S. 198–199. Zur Verwendung der Typographie im Futurismus siehe Christoph Schamm, „Die Poesie der Lettern: Zur Typografie der italienischen Futuristen und der deutschen Konkretisten (Marinetti, Soffici, Gomringer)”, in: PhiN – Philologie im Netz, 40/2007, S. 67–85, und Giovanni Fanelli/Ezio Godoli, Il Futurismo e la grafica, Mailand 1988. Zur Beziehung Soffici–Apollinaire siehe Willard Bohm, „Free-word poetry and painting in 1914: Ardengo Soffici and Guillaume Apollinaire“, in: Geno Pampaloni (Hrsg.), Ardengo Soffici: L’artista e lo scrittore nella cultura del 1900, Florenz 1976, S. 209–226. Daneben die klassische Studie von Helmut Meter, Apollinaire und der Futurismus, Rheinfelden 1977. 32 Siehe dazu Simonetta Bartolini, „,Parigi o cara‘: Il viaggio di formazione in Ardengo Soffici“, in: Revue des études italiennes, 43/1997, 3–4, S. 203–214.

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Histoire-Ebene aber noch weitere Mittelungsinstanzen direkt zu Wort, nämlich die Werbeplakate. Doch bleibt es nicht bei dieser ‚realistischen‘, Histoire-internen Vielstimmigkeit, denn diese findet sich eingelassen in die Vielstimmigkeit des Zitats: Bereits das „Cara/Caro (…) bisognerà pure telegrafare“ greift ein Textmerkmal des Librettos auf, das in einem Duett Sängerin und Sänger denselben Text zuweist. Diese Opernhaftigkeit schlägt sich dann in dem fast wie ein Kommentar aus dem Off wirkenden Zitat aus Verdis La Traviata nieder: „Parigi o cara noi lasceremo, la tua salute rifiorirà“ – Alfredos Gesundungsversprechen an die tuberkulosekranke Violetta33 – , das bezeichnenderweise der Abbildung der Telegraphendrähte eingeschrieben ist. Es scheint ganz so, als ob hier die elektrischen Wellen als Medium der Tonübermittlung gedacht würden. Dass schließlich die Werbebotschaften nicht lediglich zur realistischen Möblierung einer melodramatischen Liebesflucht gehören, sondern diese namensrealistisch kommentieren (ECLA wird zu „éclat“, FIUGGI unterstreicht „fuggiaschi“) steigert den Eindruck der Derealisierung. Doch nicht auf diese kommt es mir hier an, sondern auf die Auflösung eines Beobachtungssubjekts wie eines lyrischen Ichs, und zwar als Folge der Bemühungen um die Darstellung von Geschwindigkeit. Der erste Teil von Treno-Aurora ist eine optisch (durch das syntagmatische Vorbeiziehen der Werbeplakate), semantisch („schiaffeggiate d’affiches“) und akustisch-onomatopoetisch („rossi rossi arancio gialli freschi rossi freschi“; „stantufftufftufftuffi“) inszenierte Bahnfahrt, und damit ganz ähnlich wie bei Verlaine ganz auf Sinneseindrücke konzentriert. Verlaines Rücknahme eines lyrischen Ichs zugunsten eines Registrators sinnlicher Eindrücke der ersten Gedichthälfte lässt sich – gesteigert – auch bei Soffici vorfinden, der bis zur zweiten Einspielung der Telegraphenleitung (S. 90) diese Registrator-Instanz in intramediale wie intermediale Vielstimmigkeit auflöst. Und wie bei Verlaine in der zweiten, reflexiv angelegten Gedichthälfte das lyrische Ich wieder zu Wort und zu seinem Recht kommt, ist auch die zweite Gedichthälfte in Sofficis Treno-Aurora von „crivellando gli orizonti di vetriolo“ bis „éclat“ weniger durch die Repräsentation externer Sinneseindrücke geprägt: Über die Eintönigkeit des „ritmo delle locomotive“ legt sich der Tagtraum („incoscenza elementare“) voller dunkel-raunender Andeutungen menschlicher Vergeblichkeit (vielleicht auch des muffigen Endes dieses melodramatischen Abenteuers), der die metaphysische Reflexion zumindest lexikalisch umspielt („domestico fetore fisico metafisico“). Dieser zweite Gedichtteil ist intermedial unauffällig, und auch sprachlich weniger radikal traditionssprengend als der erste: Das einzige finite Verb des ganzen Textes (jenseits der Zitate und Dialogpassagen) fin-

33 Francesco Maria Piave/Giuseppe Verdi, La Traviata, Mailand 1983, S. 53–54.



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det sich hier: „mentre la carne bruta marcisce pe’ letti avelli co’ vermi de’ peli nel sudore“. Das Zurückfallen in eine Reflexionsposition, also in die Hegelsche „innerliche Bewegung“, lässt das Subjekt wieder Kontur gewinnen, während es sich in der reinen Registrierung von in Bewegung versetzten Sinneseindrücken der ersten Texthälfte aufgelöst hat. So bestätigt Soffici in gesteigerter Form die Vermutung, dass das Ende der von der Romantik bis zum Futurismus reichenden Entwicklung eines in Bewegung versetzten Ich das Ende dieses Ichs selbst ist.

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Thomas Klinkert (Freiburg)

Wissenschaft als Quelle poetischer Inspiration Baudelaires Poetik des Rausches „Les Paradis artificiels de Baudelaire sont un livre de prose, de description et d’analyse psycho-physiologique qu’il a faits sur souvenir, absolument comme un naturaliste étudie à la loupe les fibrilles d’une feuille de mûrier.“1 Mit diesen Worten charakterisiert Jules Barbey d’Aurevilly Baudelaires Les Paradis artificiels, jenes Werk, das Claude Pichois zufolge das einzige Buch war, welches der Autor als abgeschlossen und definitiv betrachtete: „Les Paradis artificiels sont, au fond, le seul livre que Baudelaire ait considéré comme achevé, définitif.“2 Man darf vermuten, dass in einem von dem Dichter und Ästhetiktheoretiker Charles Baudelaire als abgeschlossen betrachteten Buch – neben manch anderem – auch grundlegende Auskünfte zu seiner eigenen Poetik enthalten sind. Folgt man der Deutung von Barbey d’Aurevilly, der Baudelaire mit einem „naturaliste“ vergleicht, so darf man zudem annehmen, dass diese Poetik in einem Zusammenhang mit naturwissenschaftlichen Diskursen, Auffassungen oder Verfahren steht. Ich möchte vor diesem Hintergrund im Folgenden Les Paradis artificiels und die damit zusammenhängende Schrift Du vin et du hachisch, comparés comme moyens de multiplication de l’individualité unter der doppelten Perspektive von Poetik und Wissenschaft betrachten (I). Sodann werde ich, anhand von exemplarischen Gedichtanalysen, die Ergebnisse dieser Betrachtung auf ihre Relevanz für Baudelaires poetische Produktion hin untersuchen (II). Dies soll schließlich in die allgemeine Frage nach dem Zusammenhang von Poesie und Wissen münden, die abschließend kurz behandelt wird (III).

1 Jules Barbey d’Aurevilly, „Charles Baudelaire“, in: ders., Poésie et poètes, Genf 1968 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1906), S. 97–123, hier S. 112. – Dieser Beitrag steht im Zusammenhang mit dem von der ANR und der DFG geförderten deutsch-französischen Forschungsprojekt Biolographes. Création littéraire et savoirs biologiques au XIXe siècle. 2 Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1975, S. 1367.

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I Poetik und Wissenschaft in Baudelaires Rausch-Schriften Die Paradis artificiels haben unterschiedliche Deutungen hervorgerufen. So schreibt Teruo Inoue in seinem Buch Une poétique de l’ivresse chez Charles Baudelaire: „L’objectif du poète est clair: il vise à examiner un monde poétique, excessif, provoqué par l’ivresse des excitants. [...] Ce qui intéresse le poète, ce sont la poésie et la morale dans l’ivresse des excitants.“3 Karin Westerwelle zufolge vertritt Baudelaire dagegen die These, „daß die künstlichen, d.h. chemisch hervorgerufenen Halluzinationen und Träume [...] den ästhetischen Phänomenen, die man kontrastiv als die ‚paradis naturels‘ bezeichnen könnte, nicht korrespondieren, da zwischen den beiden Zuständlichkeiten und Erfahrungen kategoriale Unterschiede bestehen.“4 Inoue zufolge hat der Dichter Baudelaire demnach das Ziel, eine durch Rauschmittel erzeugte poetische Wirklichkeit zu erkunden; Rausch und poetischer Zustand konvergieren somit. Westerwelle dagegen diagnostiziert einen Gegensatz zwischen diesen beiden Bereichen bzw. Zuständen. Die divergierenden Positionen von Inoue und Westerwelle sind, so möchte ich es deuten, Ausdruck der doppelten Lesbarkeit von Baudelaires Text. Westerwelle verweist in einer Fußnote im Übrigen darauf, dass ihre Auslegung eine andere, ebenfalls mögliche Deutungsperspektive vernachlässige, nämlich die, „die Haschisch-Erfahrung als Allegorese der poetischen Erfahrung zu lesen“,5 und bestätigt damit die hier diagnostizierte doppelte Lesbarkeit des Textes. Diese Mehrdeutigkeit korreliert mit der grundlegenden Ambivalenz von Baudelaires Haltung gegenüber Rauschmitteln, die wiederum als eine Manifestationsform seines in der christlich-katholischen Tradition fußenden Dualismus gedeutet werden kann.6 Betrachtet man Du vin et du hachisch, so stellt man eine

3 Teruo Inoue, Une poétique de l’ivresse chez Charles Baudelaire. Essai d’analyse d’après „Les Paradis Artificiels“ et „Les Fleurs du Mal“, Tokio 1977, S. 5. 4 Karin Westerwelle, Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit. Balzac, Baudelaire, Flaubert, Stuttgart/Weimar 1993, S. 263. 5 Ebd., S. 264, Fußnote 43. 6 David Carrier, „High Art: Les Paradis artificiels and the Origins of Modernism“, in: NineteenthCentury Contexts, 20/1997, S. 215–238, postuliert eine Analogie zwischen der durch Drogenkonsum bewirkten Unterscheidung zwischen „ecstatic highs, in which Baudelaire is hyperreceptive to art works (and to seeing the world aesthetically)“ und „everyday lows, in which everything looks as boring as a photograph“ (ebd., S. 220) und der religiös fundierten Unterscheidung zwischen heilig und profan: „The good highs, Baudelaire’s perverse equivalents to the sacred, are transitory and unreal“ (ebd.). So sehr man dieses Argument nachvollziehen kann, ist der Beitrag insgesamt in Bezug auf Baudelaire doch wenig ergiebig, da er einerseits in etwas sprunghafter Art und Weise die historische Differenz zwischen Baudelaires Einstellung zu Drogen und der von Autoren des 20. Jahrhunderts wie Aldous Huxley zu verdeutlichen versucht und andererseits



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deutliche Unterscheidung zwischen den Wein und Haschisch zugeschriebenen Wirkungen fest. Diese unterschiedlichen Wirkungen führen auch zu unterschiedlichen Bewertungen ihrer poetogenen Qualitäten. So verweist Baudelaire gleich zu Beginn von Du vin et du hachisch auf E.T.A. Hoffmanns Empfehlung, Wein oder Champagner als kreativitätssteigernde Mittel zu verwenden.7 Sodann lässt er den Wein selbst zu Wort kommen, indem er ihn in einer Prosopopöie Folgendes zum Menschen sagen lässt: „Je tomberai au fond de ta poitrine comme une ambroisie végétale. Je serai le grain qui fertilise le sillon douloureusement creusé. Notre intime réunion créera la poésie.“8 Auch die Anekdoten, welche Baudelaire referiert, weisen auf die Affinität von Wein und Poesie bzw. künstlerischer Kreativität hin.9 Die Wirkung von Haschisch dagegen wird von Baudelaire deutlich anders bewertet. Zwar löse die Einnahme dieser Droge ein vollkommenes Glücksgefühl aus; Baudelaire spricht von „le bonheur absolu avec toutes ses ivresses, toutes ses folies de jeunesse, et aussi ses béatitudes infinies.“10 Anders als der Wein habe Haschisch aber keine tröstende Wirkung, sondern es führe zur Übersteigerung des gerade aktuellen emotionalen Zustandes und habe vor allem die Lähmung der Handlungsfähigkeit zur Folge: „le hachisch est impropre à l’action“.11 Der Autor zitiert schließlich am Ende von Du vin et du hachisch zustimmend eine Äußerung des Musiktheoretikers und Philosophen Auguste Barbereau, dem zufolge es verachtenswert sei, wenn sich der Mensch künstlicher Mittel wie Haschisch bediene, um zur poetischen Glückseligkeit zu gelangen, da ja Enthusiasmus und Wille ebenfalls in der Lage seien, ihn auf die Höhe einer „existence supranaturelle“12 zu heben.

ohne wirklich gute Argumente behauptet, dass „Les Paradis artificiels, unlike his creative writing and art criticism, does not sustain close analysis“ (ebd., S. 221). 7 Charles Baudelaire, „Du vin et du hachisch, comparés comme moyens de multiplication de l’individualité“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1975, S. 377–398, hier S. 378. 8 Ebd., S. 380–381. 9 Baudelaire berichtet etwa von einem spanischen Gitarristen, der zusammen mit Paganini aufzutreten pflegt und eines Tages mit einem Steinmetz, mit dem zusammen er sich betrunken hat, ein Konzert gibt (ebd., S. 384–386). Beflügelt durch den Wein, wird der Steinmetz, der die Violine nur amateurhaft beherrscht, zum kreativen Musiker und berauscht mit seiner Darbietung die Menge. Das Gegenbild hierzu ist jener Künstler, dessen Gemälde Baudelaire als „antithèse absolue de l’art“ (ebd., S. 383) erscheint und von dem sich herausstellt, dass er ausschließlich Milch zu trinken pflegt (ebd., S. 382–383). 10 Ebd., S. 389. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 398.

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Dieser eindeutigen und grundlegenden Distanzierung von der Droge stehen nun aber andere Textstellen entgegen, in denen Baudelaire auf die Gemeinsamkeit von Wein und Haschisch hinweist, welche darin bestehe, „le développement poétique excessif de l’homme“13 zu bewirken. Bei der Beschreibung der Wirkungen von Haschisch verweist Baudelaire auf Phänomene wie Halluzinationen, synästhetische Wahrnehmungen, Veränderungen des Zeitgefühls und Auflösung der Persönlichkeit. All diese Veränderungen werden so beschrieben, dass man die Faszination des Autors deutlich spüren kann. Außerdem korrelieren die beschriebenen Phänomene teilweise mit der Darstellung in Baudelaires poetischen Texten.14 Insofern kann man festhalten, dass sich in Du vin et du hachisch zwei verschiedene Einstellungen des Dichters zur Verwendung bewusstseinsverändernder Mittel gegenüberstehen: zum Einen die kategorische Ablehnung solcher Mittel, zum Anderen die unverhohlene Faszination für Bewusstseinszustände, welche durch die Einnahme dieser Mittel hervorgerufen werden.15

13 Ebd., S. 397. 14 Vgl. hierzu die oben erwähnte Untersuchung von Inoue, Une poétique de l’ivresse chez Charles Baudelaire, sowie Anny Kaehler, Untersuchungen über Baudelaires Drogenerfahrung. Beitrag zu einer Deutung seines dichterischen Werks, Diss. Berlin 1976. In beiden Arbeiten werden zahlreiche Stellen aus Baudelaires poetischen Texten aufgelistet und untersucht, in denen sich (möglicherweise) Reflexe auf die Rauscherfahrung finden. Nicht alle diese Beispiele sind indes überzeugend. 15 Alexander Kupfer, „Moderne Blasphemien eines Moralisten: Charles Baudelaire und die künstlichen Paradiese“, in: ders., Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik, Stuttgart/Weimar 1996, S. 563–592, zeigt auf, dass Baudelaires ambivalente Faszination für Drogen in einem systematischen Bezug zu seiner Auffassung von der Dichtung als blasphemischer Gegenschöpfung steht: „Die Poesie als Äußerung der imagination ist wie diese selbst der Anfang und das Ende, der Ursprung und das letzte Ziel des Universums. Die Gesetze, auf denen die Operationen der imagination basieren, sind im tiefsten Grund der Seele niedergelegt, dies ist aber der traditionelle Ort des göttlichen Mysteriums. Innerhalb des künstlichen Universums, das der menschliche Geist erzeugt, ist die imagination also genau das, was Gott in der sichtbaren Welt der Natur ist. Für Baudelaire [...] erhält das Ideal des Künstlichen damit aber auch eine blasphemische Bedeutung [...]“ (ebd., S. 577–578). Das Blasphemische der Kunst komme, so Kupfer, u.a. im Titel von Baudelaires Rausch-Buch, Les Paradis artificiels, zum Ausdruck: „Anscheinend markiert Baudelaires Plural also einen Paradiesbegriff, der sich vom traditionellen christlichen Verständnis entfernt, ja er impliziert den blasphemischen Gedanken, daß der Mensch auf das Paradies Gottes möglicherweise nicht angewiesen sei, da ihm andere Alternativen zur Auswahl stehen. Und was wären diese Alternativen? ‚Künstliche‘ Paradiese, antwortet Baudelaire, also Gärten der Seligkeit, die der Mensch selbst entworfen hat“ (ebd., S. 572). – Bernd Blaschke, „Innenwelt-Psychonauten und Ekstase: Die paradoxen Räume des Rausches bei Baudelaire, Benjamin, Benn und Jünger“, in: Claudia Olk/Anne-Julia Zwierlein (Hrsg.), Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne. Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte, Trier 2002, S. 211–231, situiert Baudelaires Drogenreflexion geistesgeschichtlich in der (Post-)Romantik. Von der „ro-



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Die Beschäftigung mit Drogen hat ein wissenschaftliches Fundament. Robert Kopp und Claude Pichois haben nachgewiesen, dass Baudelaire sich im Kapitel „Qu’est-ce que le hachisch?“ der Paradis artificiels insbesondere auf L’Officine ou répertoire général de pharmacie pratique (erste Auflage 1844) von François Dorvault bezieht.16 In den ab 1850 erschienenen Auflagen dieses Handbuchs findet sich ein umfangreicher, dreieinhalb (später sogar viereinhalb) Spalten umfassender Eintrag zum Stichwort „Chanvre“ (Hanf), den Baudelaire zu drei Vierteln übernommen hat, ohne indes seine Quelle zu nennen. Die genauen Textkorrespondenzen sind in dem Beitrag von Kopp und Pichois aufgelistet.17 Besonders aufschlussreich ist ein Passus, in dem es um eine neue, einfachere Methode der Herstellung von Haschisch geht. Bei Dorvault wird diese Methode folgendermaßen beschrieben: On traite la plante sèche par l’alcool à plusieurs reprises; on distille pour retirer les trois quarts de l’alcool; on évapore le résidu en extrait (extrait alcoolique de cannabis); on traite cet extrait par l’eau, qui dissout les matières gommo-extractiques, et laisse la résine, qu’on n’a plus qu’à faire sécher à l’étuve.18

mantischen Makrokosmos-Mikrokosmos Vorstellung (die eine Erkennbarkeit der Seele und der essentiellen Welten auf dem Wege der Naturstudien und der daraus abgeleiteten Analogieschlüsse auf den inneren Mikrokosmos erlaubte)“ (ebd., S. 214) wechsle Baudelaire zum „Kult der Künstlichkeit“ (ebd.). Da die Außenwelt nicht mehr als das Innenleben des Ichs spiegelndes Korrelat zur Verfügung stehe, suche Baudelaire den „Weg nach innen als Weg zum Mysterium [...] mittels bewusstseinsverändernder Substanzen“ (ebd.). Ernüchtert durch die „Katererfahrung nach den Rauschekstasen“ (ebd.) gelange Baudelaire aber schließlich zu einer „Kritik an der Droge“ (ebd.), weil diese den menschlichen Willen schwäche und den Menschen dadurch dem Tier annähere. Die von Blaschke suggerierte Stringenz der Argumentation findet sich allerdings so nicht in Baudelaires Schriften. Hier ist nach meiner Auffassung vielmehr eine grundsätzliche Ambivalenz gegenüber Drogen zu konstatieren, ein Hin- und Herschwanken zwischen Faszination und Verurteilung, welches durch die Querverbindungen zwischen den Paradis artificiels und den poetischen Texten noch an Plausibilität gewinnt. Für den vorliegenden Zusammenhang sehr interessant sind Blaschkes Hinweise auf den Zusammenhang zwischen den paradoxen Innenwelten, welche Baudelaire in seinen Rausch-Studien beschreibt, und der Psychoanalyse, also dem Bereich der Wissenschaft: „Rauschräume als Innenweltreisen und zugleich als Außersich-Sein. Eine paradoxe, multiple Ich-Topographie, die ein cartesianisches Ego allemal sprengt, im freudschen Tri-Topologischen Ego-Modell allerdings wissenschaftlich anschreibbar wird als Ekstase des ICH, als Reise ins ES, oder zumindest als Veränderung der dynamischen Kräfteverhältnisse zwischen den Ich-Instanzen“ (ebd., S. 215). 16 Robert Kopp/Claude Pichois, „Baudelaire et le haschisch. Expérience et documentation“, in: Revue des Sciences humaines, 32/1967, S. 467–476. 17 Ebd., S. 471–473. 18 Ebd., S. 473.

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Baudelaire reformuliert diesen Passus folgendermaßen: Pour obtenir cette résine, on réduit la plante sèche en poudre grossière, et on la lave plusieurs fois avec de l’alcool que l’on distille ensuite pour le retirer en partie; on fait évaporer jusqu’à consistance d’extrait; on traite cet extrait par l’eau, qui dissout les matières gommeuses étrangères, et la résine reste alors à l’état de pureté.19

Beschrieben wird hier ein Transformationsvorgang, in dessen Verlauf ein Ausgangsprodukt so verändert wird, dass ein Endprodukt entsteht, welches durch Reinheit („pureté“) ausgezeichnet ist. Es handelt sich um einen Vorgang der Transformation und Veredelung, welcher metaphorisch auch auf die künstlerische Aktivität bezogen werden kann.20 Baudelaire bedient sich einer etwas komplexeren und weniger repetitiven Syntax als Dorvault, veredelt also gewissermaßen stilistisch den von ihm als Vorlage verwendeten Text. Das Verb „évaporer“ (verdunsten, verströmen), welches er bei Dorvault vorfindet, behält er bei („on fait évaporer jusqu’à consistance d’extrait“). Dieses Verb hat eine nicht auf den ersten Blick erkennbare Schlüsselfunktion. Es kommt in seinem Werk insgesamt nicht sehr häufig vor; eine Suche in der Datenbank Frantext ergibt lediglich sechs Belegstellen: eine im Salon de 1846, zwei in den Paradis artificiels und drei in den Fleurs du Mal, und zwar in den Gedichten Harmonie du soir, Le soleil und Les petites vieilles. Die zweite Stelle in den Paradis artificiels, an der das Verb „évaporer“ verwendet wird, findet sich im Abschnitt Le théâtre de Séraphin. Dort geht es um eine der möglichen Wirkungen von Haschisch, nämlich die Auflösung der Grenze zwischen Innen und Außen und das dadurch bewirkte Verschmelzen von Ich und Umwelt, welches 19 Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 406–407. 20 Vgl. hierzu Friedrich Kittler, „Der chemisch reine Konsum. Drogen bei Hegel, Hoffmann und Baudelaire“, in: Christoph Hoffmann/Caroline Welsh (Hrsg.), Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde, Berlin 2006, S. 111–125, hier S. 120: „Künstliche Paradiese als Titel, unter dem Baudelaire seine diversen Drogenstudien nachmals versammelte, besagen zu allererst, daß sich eine autonome, von aller Produktion und allem Herstellungswissen abgetrennte Konsumsphäre geschlossen hat.“ Diese autonome Sphäre des Konsums korreliert zum Einen mit dem modernetypischen Umgang mit Kunst, bei dem Produktion und Rezeption getrennt werden, zum Anderen aber interferiert in der sozialen Praxis des Drogenkonsums die ästhetische mit der medizinisch-wissenschaftlichen Praxis, wie Kittler im Verweis auf Jacques-Joseph Moreau (de Tours), den Verfasser der Schrift Du hachisch et de l’aliénation mentale (Paris 1845), verdeutlicht: „Die objektive Folge war schlicht und einfach, daß die mentale Alienation, vordem ein pures psychiatrisches Konstrukt Pinels, erstmals experimentelle Wirklichkeit erlangte. Moreau de Tours behauptete nichts geringeres, als am Haschisch über eine Antimedizin zu verfügen, die Geisteskrankheit künstlich herbeiführen und das hieß auch und gerade Psychiatern hermeneutisch erschließen könne“ (Kittler, „Der chemisch reine Konsum“, S. 121–122).



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dazu führt, dass Ursache-Wirkungs-Beziehungen in der Wahrnehmung des sich auflösenden Ichs umgedreht werden: Je vous suppose assis et fumant. Votre attention se reposera un peu trop longtemps sur les nuages bleuâtres qui s’exhalent de votre pipe. L’idée d’une évaporation, lente, successive, éternelle, s’emparera de votre esprit, et vous appliquerez bientôt cette idée à vos propres pensées, à votre matière pensante. Par une équivoque singulière, par une espèce de transposition ou de quiproquo intellectuel, vous vous sentirez vous évaporant, et vous attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et ramassé comme le tabac) l’étrange faculté de vous fumer.21

Nicht mehr das Subjekt der Wahrnehmung raucht seine Pfeife, sondern es hat umgekehrt den Eindruck, von seiner Pfeife ,geraucht zu werden‘ und ,sich zu evaporieren‘. Diese Auflösung des Ichs ist zwar einerseits eine beunruhigende Erfahrung. So heißt es im unmittelbaren Anschluss an die zuletzt zitierte Stelle, dass diese scheinbar unendlich andauernde Vorstellung in Wirklichkeit zum Glück nur eine Minute gedauert habe. Das Ich schwankt zwischen Momenten der Hellsichtigkeit („lucidité“) und Momenten, in denen es vom Wirbel seiner eigenen Phantasievorstellungen mitgerissen wird und sich sein Zeit- und Ichgefühl völlig auflösen. Das Ergebnis ist eine Multiplikation des Ichs: „On dirait qu’on vit plu­ sieurs vies d’homme en l’espace d’une heure. N’êtes-vous pas alors semblable à un roman fantastique qui serait vivant au lieu d’être écrit?“22 Der letzte Satz ist insofern besonders wichtig, als hier im Modus der metaphorischen Gleichsetzung eine Verbindung von drogeninduzierter Bewusstseinsveränderung und Literatur hergestellt wird. Zwar bleibt die Ambivalenz in der Bewertung dieses Zustandes durchaus bestehen, insofern im selben Absatz des Textes die Rauscherfahrung als „ce dangereux exercice où la liberté disparaît“ bezeichnet wird. Dennoch wird deutlich, dass diese experimentelle Veränderung von Bewusstseinszuständen eine starke Attraktivität besitzt, und zwar nicht als ein in der Wirklichkeit anzustrebender Zustand, sondern als ein gedankliches Konstrukt und als Sprachspiel. Baudelaire nutzt die ihm durch wissenschaftliche Publikationen, durch eigene Beobachtungen und teilweise auch durch den Konsum von Drogen verfügbar gemachten Erfahrungen, um diese sprachlich zu bearbeiten und daraus Bausteine einer Poetik des Rausches zu gewinnen.

21 Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 420. 22 Ebd.

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II Die Poetik des Rausches in den Fleurs du Mal Die Relevanz dieser Poetik des Rausches für Baudelaires poetische Produktion möchte ich nun an Beispielen aus den Fleurs du Mal aufzeigen. Ich wähle bewusst nicht jene Texte, in denen die Rauscherfahrung deutlich thematisiert wird (wie etwa Le poison oder L’âme du vin), sondern jene, die das eine Schnittstelle von Wissenschaft und Poetik bildende Lexem „évaporer“ enthalten. Zunächst geht es um das Gedicht Les petites vieilles (1859) aus den Tableaux parisiens.23 In diesem Text, der aus vier Teilen besteht, betrachtet das Ich alte Frauen, die in der Großstadt umherwandern und dem Sprecher als „êtres singuliers, décrépits et charmants“ (V. 4), als „monstres disloqués“ (V. 5) bzw. auch als „marionnettes“ (V. 13) erscheinen. Diese alten, hinfälligen Frauen besitzen allerdings noch Merkmale ihrer Jugend; in ihnen scheint sich teilweise noch die Vergangenheit zu manifestieren: „Ils [sc. les monstres disloqués] ont les yeux divins de la petite fille“ (V. 19). Die Frauen zeichnen sich somit durch zeitliche Uneindeutigkeit aus, was auch durch weitere Textbefunde belegbar ist: Bei ihrer Betrachtung denkt der Sprecher einerseits an den ihnen bald bevorstehenden Tod, indem er die Särge evoziert, in denen die alten Frauen beerdigt werden und die häufig nicht größer sind als Kindersärge. Andererseits projiziert der Sprecher im zweiten Teil des Gedichts mögliche Vergangenheiten auf die „petites vieilles“: De Frascati défunt Vestale enamourée; Prêtresse de Thalie, hélas! dont le souffleur Enterré sait le nom; célèbre évaporée Que Tivoli jadis ombragea dans sa fleur, Toutes m’enivrent! mais parmi ces êtres frêles Il en est qui, faisant de la douleur un miel, Ont dit au Dévouement qui leur prêtait ses ailes: Hippogriffe puissant, mène-moi jusqu’au ciel! L’une, par sa patrie au malheur exercée, L’autre, que son époux surchargea de douleurs, L’autre, par son enfant Madone transpercée, Toutes auraient pu faire un fleuve avec leurs pleurs! (V. 37–48)

Der Sprecher stellt sich vor, dass die alten Frauen in ihrer Jugend möglicherweise Schauspielerinnen oder Tänzerinnen waren, die einst berühmt waren, heute

23 Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 89–91.



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aber völlig vergessen sind. In diesem Zusammenhang wird die Partizipialform des Verbums „évaporer“ verwendet, welche in übertragener Bedeutung auch heißen kann: ‚leichtfertig, flatterhaft, kopflos‘. Dieses Lexem wird nun syntaktisch verbunden mit dem Verbum „enivrer“. Die alten, einst flatterhaften Frauen, denen der Sprecher imaginäre Vergangenheiten zuschreibt, berauschen ihn im Hier und Jetzt. Sie selbst haben es in ihrer Vergangenheit vermocht, die Wirklichkeit zu transformieren, den Schmerz in Honig zu verwandeln. Es geht in diesem Gedicht, wie in vielen anderen der Fleurs du Mal und insbesondere der Tableaux parisiens, um die poetische Verwandlung der prosaischen Wirklichkeit. Dieser Vorgang setzt ein wahrnehmendes Subjekt voraus, das in der Lage ist, das poetische Potential in seiner Umwelt zu erkennen und sich in die Gegenstände oder Personen dieser Umwelt hineinzuversetzen. Diese empathische Haltung zur Umwelt wird am Ende des Gedichts Les petites vieilles noch einmal expliziert. Dort heißt es: Mais moi, moi qui de loin tendrement vous surveille, L’œil inquiet, fixé sur vos pas incertains, Tout comme si j’étais votre père, ô merveille! Je goûte à votre insu des plaisirs clandestins: Je vois s’épanouir vos passions novices; Sombres ou lumineux, je vis vos jours perdus; Mon cœur multiplié jouit de tous vos vices! Mon âme resplendit de toutes vos vertus! Ruines! ma famille! ô cerveaux congénères! Je vous fais chaque soir un solennel adieu! Où serez-vous demain, Èves octogénaires, Sur qui pèse la griffe effroyable de Dieu? (V. 73–84)

In diesen Schlussversen erfolgt eine Auflösung der Grenzen des Ichs, verbunden mit seiner Multiplikation. Das Ich identifiziert sich so sehr mit den „petites vieilles“, dass es deren verlorene Tage (nach-)erlebt und in seinem Herzen und seiner Seele alle Laster und Tugenden der alten Frauen verspürt. Die „Monstres brisés, bossus“ (V. 6), die „ombres ratatinées“ (V. 69), die sich dafür schämen, dass sie existieren, verwandelt der sich in sie hineinversetzende Sprecher in seinesgleichen („ma famille! ô cerveaux congénères!“, V. 81). Dies ist einerseits ein Grundprinzip der Baudelaireschen Poetik, welche danach strebt, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszudestillieren;24 andererseits korrespondiert dieser

24 Vgl. Charles Baudelaire, „Le peintre de la vie moderne“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 2,

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Vorgang dem, was wir bei der Analyse der Paradis artificiels erkennen konnten, d.h. der Entgrenzung und Multiplikation des Ichs, welches sich im Zustand des Rausches nicht mehr als distinkt von seiner Umwelt erfahren kann. Es ist daher kein Zufall, dass Baudelaire in Les petites vieilles, wo die Verwandlungsfähigkeit des Dichters besondere zeitliche und konzeptuelle Distanzen überwinden muss, die Verben „enivrer“ und „évaporer“ in einen engen Zusammenhang bringt. Um die Wirklichkeit verwandeln zu können, muss der Sprecher sich selbst in einen Zustand des Rausches versetzen; dieser Zustand vermag es dann, die evaporierte Vergangenheit imaginär durch supplementäre Bilder und Wirklichkeitskonstruktionen zu substituieren. Das Verb „évaporer“ wird ebenfalls in dem Gedicht Harmonie du soir (1857) verwendet, und zwar in seiner reflexiven Form. Zweimal kommt in diesem vierstrophigen Gedicht folgender Vers vor: „Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir“ (V. 2 und 5). In der Abendstunde verströmen die Blumen ihren Duft und tragen somit zu der „Harmonie du soir“ bei, welche sich aus einer Mischung von Klängen, Düften und visuellen Eindrücken ergibt. Voici venir les temps où vibrant sur sa tige Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir; Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir; Valse mélancolique et langoureux vertige! Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir; Le violon frémit comme un cœur qu’on afflige Valse mélancolique et langoureux vertige! Le ciel est triste et beau comme un grand reposoir. Le violon frémit comme un cœur qu’on afflige, Un cœur tendre, qui hait le néant vaste et noir! Le ciel est triste et beau comme un grand reposoir. Le soleil s’est noyé dans son sang qui se fige. Un cœur tendre, qui hait le néant vaste et noir! Du passé lumineux recueille tout vestige! Le soleil s’est noyé dans son sang qui se fige…. Ton souvenir en moi luit comme un ostensoir!25

Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1976, S. 683–724, S. 694: „Il s’agit, pour [l’artiste], de dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de poétique dans l’historique, de tirer l’éternel du transitoire.“ 25 Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 47.



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Die vom Titel angekündigte Harmonie wird in den Versen der ersten Strophe eingelöst, insbesondere durch die Wahrnehmung der in der Abendluft schwebenden Klänge und Düfte (V. 3) und durch den Korrespondenzbezug zwischen den Sphären von Natur und Religion. Durch die Reimwörter „encensoir“ (Weihrauchfass), „reposoir“ (Stationsaltar) und „ostensoir“ (Monstranz), von denen sich „encensoir“ und „reposoir“ auch jeweils einmal wiederholen, ist die Isotopie des Religiösen deutlich markiert. Naturschönheit und die Erhabenheit der religiösen Sphäre kommen scheinbar zum harmonischen Einklang. Allerdings gibt es schon in der ersten Strophe – und stärker noch in den folgenden – semantische Diskrepanzen und Dissonanzen. Die religiös-feierliche Erhabenheit des Abends, der durch das harmonische Schwingen von Tönen und Düften charakterisiert ist, wird gebrochen durch den verblosen vierten Vers, der die kreisenden Töne und Düfte in einen melancholischen Walzer und ein schmachtendes Schwindelgefühl umdeutet. Der semantische Gegenpol zum Harmonischen wird sodann verstärkt, wenn die Violine, wie es in V. 6 heißt, „frémit comme un cœur qu’on afflige“. Auffällig ist in dieser zweiten Strophe eine Häufung von Lexemen mit negativer Bedeutung: „afflige“, „mélancolique“, „triste“. Vollends wird die Harmonie der Abendstimmung in Vers 12 und dann erneut in Vers 15 zerstört, wenn das gewaltgeprägte Bild der Sonne, die in ihrem eigenen gerinnenden Blut ertrunken ist, evoziert wird. Der zentrale semantische Gegensatz des Gedichts ist also der zwischen Harmonie, Friede, Ruhe auf der einen Seite und einer expressiven Metaphorik der Gewalt und des Todes auf der anderen. Wenn „sons“ und „parfums“ zunächst eine „valse mélancolique“ ergeben, so kann man dies noch der Sphäre der Harmonie zuschreiben; wenn dagegen die Geige wie ein gequältes Herz erzittert, so kann man hier nicht mehr von Abendharmonie sprechen. Vielmehr verweist dieser Vergleich auf die Sphäre des „néant vaste et noir“ (V. 13), welche von dem zarten gequälten Herzen verabscheut wird. Die Gegensätze brechen somit in sich zusammen; das Traurige und das Schöne koinzidieren; die lebensspendende Sonne verfällt dem Bereich des Todes. Das zarte Herz, welches zuvor schon als leidendes markiert wurde, wird nun in der letzten Strophe zum Träger von Erinnerungen, sammelt („recueille“) es doch alle Spuren des „passé lumineux“. Dieses Herz wird in der letzten Strophe auch in die Nähe des Ichs gerückt, und zwar durch die Gemeinsamkeit der Erinnerung an die Vergangenheit. So wie das Herz aktiv alle Spuren der Vergangenheit bewahrt, leuchtet im Ich die Erinnerung an ein Du, welches hier erstmals apostrophiert wird, und diese Erinnerung wird verglichen mit einer Monstranz. Wenn zuvor mehrmals die Sphäre der Natur durch Vergleiche in einen engen Zusammenhang mit der religiösen Sphäre gebracht wurde, so wird nun das Ich selbst ebenfalls mit der religiösen Sphäre verknüpft, so dass hier ein weiteres Beispiel jener Ununterscheidbarkeit von Ich und Außenwelt vorliegt, von der oben

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im Zusammenhang mit den Paradis artificiels, aber auch bei der Analyse von Les petites vieilles die Rede war. Interessanterweise wird diese semantische Struktur der Grenzauflösung und der permanenten Transformation auf der Ebene der formalen Gestaltung des Gedichts abgebildet, insofern dieses durch identisch wiederkehrende Verse gekennzeichnet ist, die aber jeweils in neue Bedeutungszusammenhänge einrücken. Die Abendharmonie ist ein Dispositiv des Schwingens, der Bewegung, der Verschiebung und des Zusammenbrechens von Gegensätzen. Harmonie und Disharmonie, Friede und Gewalt lösen einander ab und stellen sich gegenseitig in Frage. Durch das Schlüssellexem „s’évaporer“ wird ein impliziter Zusammenhang mit der Poetik des Rausches hergestellt: Das Ich sieht sich Wahrnehmungen und Bildern ausgesetzt, die es nicht kontrollieren kann. Auf metaphorischer Ebene erfolgt eine Gleichsetzung des von außen kommenden, vom Textsubjekt wahrgenommenen Klanges einer Violine mit einem Herzen, welches gequält wird. Daraus resultiert etwas, das auf den Begriff des syntaktisch nicht eingebundenen melancholischen Walzers gebracht wird, eines Walzers, dessen Status eher der eines subjektiven Eindrucks zu sein scheint als der einer objektiv vernehmbaren Musik. Innen (das Herz) und Außen (die Violine, der Walzer) gehen somit ineinander über, die Grenzen zwischen beiden Bereichen werden unscharf. Insofern erscheint das Textsubjekt wie ein unter dem Einfluss von Rauschmitteln stehendes Subjekt, welches bestimmten Wirkungen hilflos ausgesetzt ist und diese nicht kontrollieren kann. Da aber die Grenzen zwischen Innen und Außen aufgelöst werden, ist das Ich doch zugleich auch Produzent dieser Bilder und Sinneseindrücke. An einem dritten Beispiel, wiederum aus den Tableaux parisiens, seien noch kurz einige weitere Aspekte der Poetik des Rausches dargestellt. Es handelt sich um das Gedicht Le Soleil (1857), in welchem explizit vom Dichter und seiner Aktivität die Rede ist. Le long du vieux faubourg, où pendent aux masures Les persiennes, abri des secrètes luxures, Quand le soleil cruel frappe à traits redoublés Sur la ville et les champs, sur les toits et les blés, Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime, Flairant dans tous les coins les hasards de la rime, Trébuchant sur les mots comme sur les pavés, Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. Ce père nourricier, ennemi des chloroses, Éveille dans les champs les vers comme les roses; Il fait s’évaporer les soucis vers le ciel, Et remplit les cerveaux et les ruches de miel.



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C’est lui qui rajeunit les porteurs de béquilles Et les rend gais et doux comme des jeunes filles, Et commande aux moissons de croître et de mûrir Dans le cœur immortel qui toujours veut fleurir! Quand, ainsi qu’un poète, il descend dans les villes, Il ennoblit le sort des choses les plus viles, Et s’introduit en roi, sans bruit et sans valets, Dans tous les hôpitaux et dans tous les palais.26

In der ersten Strophe steht syntaktisch das Ich als Dichter im Mittelpunkt; es ist Subjekt des Hauptsatzes „Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime“. Die Sonne als zweite zentrale Instanz des Textes ist syntaktisch im Nebensatz untergebracht („Quand le soleil cruel frappe à traits redoublés“) und bildet den Hintergrund für die Aktivität des Dichters. Diese Aktivität wird als Kampfhandlung („escrime“) ausgewiesen und korreliert insofern mit der Grausamkeit der Sonne und ihren Schlägen. Der Umgang des Dichters mit dem Sprachmaterial („rime“, „mots“, „vers“) ist durch die Verben „flairer“, „trébucher“ und „heurter“ gekennzeichnet. Das Verhältnis zwischen Dichter und Sprache ist insgesamt ein agonales, die Sprache bringt dem, der sie in dichterische Form gießen will, einen Widerstand entgegen. Ist es eine Überinterpretation, wenn man sich den in der Einsamkeit des „faubourg“ mit dem Wortmaterial fechtenden und über die Wörter wie über Pflastersteine stolpernden Dichter als Betrunkenen vorstellt? In der zweiten Strophe wird die Sonne, die ja gemäß dem Titel im Zentrum des Textes steht, in syntaktische Subjektposition gebracht. Der Himmelskörper unterliegt einer Verwandlung: Nachdem er zuvor als „soleil cruel“ bezeichnet worden war, erscheint er jetzt als „père nourricier“, von dem positive Wirkungen ausgehen. Eine dieser Wirkungen ist es, dass die Sorgen zum Himmel verdunsten („s’évaporer“), d.h. die sich verwandelnde Sonne vermag es ihrerseits, Transformationsprozesse in Gang zu setzen. Dazu gehört auch die Verjüngung der Krückenträger, die „comme des jeunes filles“ werden. Sowohl die Sonne als auch die von ihr ausgehenden Wirkungen sind also durch das Prinzip der Transformation gekennzeichnet. In der dritten Strophe schließlich kommt es zur syntaktischen Gleichsetzung von Sonne und Dichter, denn wie ein Dichter („ainsi qu’un poète“) verwandelt und veredelt die Sonne „le sort des choses les plus viles“. Das Verhältnis zwischen dem Dichter und der Sonne ist also insgesamt eines der Verwandlung, der Transformation, der Verschiebung. Zunächst führt der Dichter im glühenden Sonnenlicht seine „fantasque escrime“ aus, sodann übernimmt die

26 Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 83.

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Sonne als Subjekt des Textes die Position des Dichters. Während die „petites vieilles“ den Schmerz in Honig verwandeln, füllt die Sonne die Gehirne und Bienenkörbe mit Honig. In beiden Fällen geht es um die Überschreitung der irdischen Bedingtheit und der Endlichkeit des Lebens („le cœur immortel qui toujours veut fleurir“).

III Baudelaire und das Wissen der Poesie Nun stellt sich abschließend die Frage nach dem Wissen der Poesie. Wenn wir das bisher Gesagte rekapitulieren, dann können wir erkennen, dass Baudelaire in seiner Poetik des Rausches von bestimmten Wissensbeständen, beruhend auf Erfahrungen und Beobachtungen, auf Erzählungen und Anekdoten, aber auch auf wissenschaftlichen Texten, ausgeht und diese sprachlich bearbeitet und miteinander verknüpft. Dabei ist zu bedenken, dass, wie gezeigt wurde, unterschiedliche, ja gegensätzliche Bewertungen der Drogenerfahrung vorgenommen werden. Einerseits distanziert Baudelaire sich deutlich von den künstlichen Paradiesen des Rausches; andererseits lässt sich erkennen, dass die Darstellung von Rauschzuständen und ihren Konsequenzen von großer Faszination geprägt ist. Beide Bewertungen beziehen sich auf den möglichen Nutzen oder Nachteil des Drogenkonsums für die dichterische Kreativität. Man sollte diese Widersprüche nicht vereindeutigend auflösen, sondern sie nutzen, um an das verborgene Sinnpotential von Baudelaires Texten heranzukommen. Für ihn ist die Dichtung ein höherer Erkenntnismodus. Dieser Modus bedient sich zwar der sprachlichen Ordnung, überschreitet diese aber zugleich. Er schreibt sich, wie wir sehen konnten, in die Modi der wissenschaftlichen Darstellung ein, indem er Diskurselemente aus Fachpublikationen paraphrasierend und reformulierend herausgreift. Es geht Baudelaire dabei allerdings nicht in erster Linie darum, Wissen an den Leser zu vermitteln, welches dieser sich auch im direkten Rekurs auf die wissenschaftlichen Texte aneignen könnte; vielmehr ist ihm daran gelegen, unter Ausblendung des Urhebers und mittels einer in die Textform eingreifenden künstlerischen Bearbeitung des zitierten Diskursmaterials Bedeutungsnetze herzustellen, semantische und lexikalische Rekurrenzen zu erzeugen, die u.a. dafür verantwortlich sind, dass keine klaren Grenzen zwischen den Gattungen (Poesie und Prosa, Essay und Dichtung) gezogen werden können. Die in den Paradis artificiels entworfene Poetik des Rausches ist nicht bloße Theorie, sondern sie wird je schon praktisch umgesetzt durch die suggestiven Evokationen des Sprechers. Besonders interessant wäre es in diesem Zusammenhang, Baudelaires réécriture von Thomas De Quinceys Confessions of an English



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Opium Eater zu betrachten – es handelt sich keineswegs um eine bloße Übersetzung, sondern um eine in den Text eingreifende, diesen kommentierende Reformulierung, die auf der Position eines Beobachters zweiter Ordnung beruht.27 Eine solche Betrachtung würde deutlich werden lassen, dass Baudelaire in den Paradis artificiels nicht nur eine abstrakte Theorie entwirft, sondern dass diese Theorie mit seiner poetischen Schreibpraxis in einem grundlegenden Zusammenhang steht. Der poetische Text – und zu dieser Gattung gehört auch die Schrift Paradis artificiels – zitiert Wissensbestände, die er aber sogleich transformiert und poetologisch funktionalisiert. Die Beschreibung von Rauschzuständen kann zwar durchaus auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhen, doch ist das nicht ihre eigentliche semantische Funktion. Vielmehr geht es Baudelaire darum, dieses Wissen einzubinden in einen Argumentationszusammenhang, in dem der Dichter seine eigene dichterische Praxis beschreibt, reflektiert und theoretisch-poetologisch fundiert.28 Das Wissen des poetischen Textes ist somit zwar gespeist aus einem Wissen über den Menschen und die Welt, und es kann auch, wie wir sehen konnten, wissenschaftlich validiertes Wissen in diesen Text eingehen, doch wird dieses Wissen dann im poetischen Text bearbeitet, akzentuiert, reduziert, umgeformt, in Korrelation gestellt – und verändert durch diese Prozesse seine Bedeutung. Es geht bei Baudelaire darum, das Wissen über den Menschen und seine extremen Bewusstseinszustände, wie sie unter Einsatz von Rauschmitteln künstlich herbeigeführt werden können, in einen poetologischen Zusammenhang einzubinden, in dem dann selbstverständlich dieses lebensweltliche Wissen nicht einfach außer Kraft gesetzt wird und auch moralische Bewertungen eine wichtige Rolle spielen können. Doch das Entscheidende ist die Transformation des Wissens in poetologische Prinzipien, die Baudelaires Texte miteinander verknüpfen. Die Wissenschaft wird somit zum Anlass und zur Quelle poetischer Inspiration.

Bibliographie Barbey d’Aurevilly, Jules, „Charles Baudelaire“, in: ders., Poésie et poètes, Genf 1968 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1906), S. 97–123. Baudelaire, Charles, Œuvres complètes, Bd. 1, Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1975.

27 Vgl. Charles Baudelaire, „Un mangeur d’opium“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 442– 517. 28 Insofern fügt sich das hier Dargelegte in einen breiteren Zusammenhang innerhalb des Baudelaireschen Werkes ein. Vgl. Thomas Klinkert, „Le spleen baudelairien comme catalyseur poétique“, in: Gérard Peylet (Hrsg.), L’Ennui, Bordeaux 2013, S. 75–89, wo die poetologische Selbstreflexivität der vier Spleen-Gedichte untersucht wird.

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Henning Hufnagel (Freiburg)

Positivisme esthétique Lyrik und Wissenschaft bei den Parnassiens: Vier Fallstudien In der Literatur des 19. Jahrhunderts werden Lyrik und Prosa einander oft als gegensätzlich gegenübergestellt, sowohl von den literarischen Protagonisten wie auch den literaturwissenschaftlichen Interpreten. Besonders gilt dies für Frankreich nach 1850, für die realistische und naturalistische Erzählliteratur auf der einen und die Lyrik in ihren verschiedenen Realisationen – Romantik, Parnasse, Symbolismus, Moderne – auf der anderen Seite: Hier stehen sich, so ein weitverbreitetes literaturwissenschaftliches Tableau, auf der einen Seite Romanpoetiken, die in ihrem Wirklichkeitsbezug durch den Rekurs auf Wissenschaftsdiskurse fundiert werden, auf der anderen Seite eine lyrische Autonomiepoetik der Sprachimmanenz – oder zumindest der über Subjektivität, Imagination und Mediatisierung führende Weg zu einer solchen – gegenüber.1 Ein literarischer Zeitgenosse, der eine durchaus daran anschließbare Frontstellung pflegt, und dies mit besonderer Verve, ist Émile Zola: Einerseits nimmt er für seinen „roman expérimental“ programmatisch Wissenschaftlichkeit in Anspruch. Andererseits legt er „poésie“ romantisch-konventionell auf den Gefühlsausdruck fest. Zugleich jedoch erklärt er die romantische Poetik der subjektiv-affektiven Selbstaussprache für überholt, insbesondere angesichts der Fortschritte der Wissenschaft, die er als eine der großen Tendenzen der Zeit ausmacht. Wenn sich Dichtung indessen nicht mehr über den Gefühlsausdruck definieren lässt, verliert sie ihre Existenzberechtigung. ‚Moderne‘ Dichtung wird also letztlich zur Unmöglichkeit. Das bekommen die Parnassiens in Zolas Publizistik mit allen Mitteln der Polemik zu spüren.2

1 Die Beziehungen zwischen Wissenschaft(en) und Romanpoetik im 19. Jahrhundert sind in den vergangenen Jahren intensiv erforscht worden, vgl. beispielhaft Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002; Allen Thiher, Fiction Rivals Science. The French Novel from Balzac to Proust, Columbia/London 2001; Niklas Bender, Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin, Heidelberg 2009. – Der vorliegende Beitrag, insbesondere sein Abschnitt II, situiert sich im weiteren Zusammenhang des von der ANR und der DFG geförderten deutsch-französischen Forschungsprojekts Biolographes. Création littéraire et savoirs biologiques au XIXe siècle. 2 Vgl. Émile Zola, „Du progrès dans les sciences et dans la poésie“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 10, Henri Mitterand (Hrsg.), Paris 1968, S. 310–314, sowie ders., „Le Roman expérimental“,

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 Henning Hufnagel

Quer zu solchen Konzeptionen steht eine Interpretationslinie, die Ferdinand Brunetière entwickelt hat, der französische ‚Literaturpapst‘3 des späten 19. Jahrhunderts. Diese Linie scheint in der späteren Forschung indessen verloren gegangen zu sein. Brunetière sieht gerade naturalistische Prosa und parnassische Poesie nicht nur einander nicht entgegengesetzt, sondern in Parallele, ja, als zwei Varianten derselben Poetik, trotz der zur Schau getragenen Feindschaft zwischen den Literaten: Sous la diversité des effets, il faut nous habituer à reconnaître l’identité des principes. Laissons dire M. Catulle Mendès et laissons dire M. Zola: l’un et l’autre procèdent bien de la même origine, parnassiens et naturalistes travaillent bien à la même œuvre: ce sont des frères ennemis, mais ce sont bien des frères […].4

Die Bezeichnung, die Brunetière für diese Poetik wählt, steht in meinem Titel: „positivisme esthétique“.5 Was meint Brunetière mit dieser Formel? Zunächst ist zu sagen, dass er „naturalisme“ weiter und breiter verwendet als Zola; für dessen „roman expérimental“ hat er bereits auf einer konzeptionellen Ebene nur Spott übrig.6 Brunetière fasst die gesamte Erzählliteratur seit Balzac unter diesen Begriff. Zudem führt er ihn auf Hippolyte Taine zurück, der ‚Ordnung‘, so Brunetière, in die Gedanken Balzacs gebracht habe:

in: ebd., S. 1175–1203. Zu Zolas ‚Verabschiedung der Lyrik‘ und seiner poetologischen Auseinandersetzung mit den Parnassiens vgl. Henning Hufnagel, „Parnasse und Polemik. Zolas Herausforderung der Lyrik“, in: Henning Hufnagel/Barbara Ventarola (Hrsg.), Literatur als Herausforderung. Zwischen ästhetischem Autonomiestreben, kontextueller Fremdbestimmung und dem Gestaltungsanspruch gesellschaftlicher Zukunft, Würzburg 2015 (im Druck). 3 Als einen solchen charakterisiert ihn griffig etwa Sebastian Neumeister, wenn er schreibt, dass Brunetières Urteile in Frankreich lange „ebensolchen kanonischen Rang beanspruchen konnten wie später die eines Benedetto Croce in Italien“, vgl. Sebastian Neumeister, „Zwischen Hugo und Mallarmé. Die lyrischen Gattungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Dieter Janik (Hrsg.), Die französische Lyrik, Darmstadt 1987, S. 381–407, hier S. 381. Zu Brunetière vgl. Antoine Compagnon, Connaissez-vous Brunetière? Enquête sur un antidreyfusard et ses amis, Paris 1997 sowie Dirk Hoeges, Literatur und Evolution. Studien zur französischen Literaturkritik im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1980, S. 67–93. 4 Ferdinand Brunetière, „Le Parnasse contemporain“, in: ders., Histoire et littérature, Bd. 2, Paris 1896 (1. Aufl. 1885), S. 207–233, hier S. 230. 5 Ferdinand Brunetière, L’évolution de la poésie lyrique en France au dix-neuvième siècle, Bd. 2, Paris 1922 (1. Aufl. 1894), S. 135. 6 Vgl. Ferdinand Brunetière, „Revue littéraire – Le roman expérimental“, in: Revue des deux mondes, 37/1880, S. 935–947.



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C’est bien lui [Taine] qui a conçu le naturalisme comme une perpétuelle application de la critique ou de la science à la littérature, […] et c’est lui qui a renouvelé la doctrine de l’impersonnalité dans l’art.7

Damit sind die beiden wesentlichen Elemente benannt: Erstens ein inhaltlicher Gesichtspunkt, etwas, das man als die ‚Pflicht zur Dokumentation‘ bezeichnen könnte. Jede Aussage in einem literarischen Werk, so Brunetière, müsse zuvor durch eine Theorie reflektiert worden sein; jede Aussage müsse ihren Aussagewert beweisen, insbesondere, indem sie sie durch Wissenschaft beglaubigen lasse. Brunetière spricht vom „devoir rigoureux qui incombe à l’artiste de s’approprier tout ce qu’une science certaine met au service de son sujet“.8 Zweites Element ist ein formaler Gesichtspunkt, die „impersonnalité“ der Darstellung, die ihre Objektivierung bewirkt. Wie ich an anderer Stelle bereits herausgearbeitet habe,9 unterscheidet Brunetière zwischen einem anthropozentrisch-kommentierenden „point de vue“, den er in Texten der Romantik ausmacht,10 und einem ‚wissenschaftlichen‘, vom menschlichen Beobachter abstrahierenden Blickwinkel. Letzteren sieht er gerade in parnassischen Texten, insbesondere denen Leconte de Lisles, verwirklicht. Hier wird auch explizit, dass Brunetières Naturalismus-Begriff kein literarischer oder literaturhistorischer ist, sondern sich vom „naturaliste“ als Naturforscher ableitet:

7 Brunetière, L’évolution de la poésie lyrique, S. 138. 8 Brunetière „Le Parnasse contemporain“, S. 223. 9 Vgl. Henning Hufnagel, „Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien in der Lyrik der Parnassiens“, in: Niklas Bender/Steffen Schneider (Hrsg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen 2010, S. 53–71. Der vorliegende Text setzt diesen Aufsatz unter verändertem Blickwinkel fort, vertieft und erweitert ihn. Ging es mir dort vor allem darum, herauszuarbeiten, wie sich der Parnasse von der Romantik absetzt, indem er Subjektivität als Rechtfertigungsinstanz für lyrisches Sprechen durch objektiviertes, vor allem wissenschaftlich beglaubigtes Wissen ersetzt, ziele ich hier auf die Formen, Funktionen und Effekte von Wissenschaftsbezügen in konkreten Texten. Ich greife auf meinen Aufsatz an mehreren Stellen, auch in einzelnen Formulierungen, zurück. 10 Dass die französische Romantik poetologisch wie epistemologisch ein (mit)fühlendes menschliches Individuum zentral stellt, das von diesem Standort aus auf eine Schöpfung blickt, die auf es ausgerichtet ist, kann auch die moderne Literaturwissenschaft bestätigen; für Flaubert macht der „parti pris moral“ dieses Blicks dann den schlechten Stil, vgl. Marc Föcking, „Contre la pôhésie. Destruktion und Rekonstruktion des Poetischen in Flauberts ungeschriebener Lyrik“, in: Klaus W. Hempfer (Hrsg.), Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie, Stuttgart 2008, S. 399–428, hier 401 und 416.

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Messieurs, si nous savons lire, elles [ces poésies] ne traduisent rien de moins en poésie que la grande révolution scientifique du siècle; – et j’entends par ce mot la substitution en tout du point de vue naturaliste au point de vue proprement et uniquement humain.11

Indessen ist der Parnasse für Brunetière nicht einfach ein in sich widersprüchlicher „Realismus in der Lyrik“, wie geschrieben worden ist.12 Parnassische und realistisch-naturalistische Literatur scheinen vielmehr auf derselben epistemischen Formation aufzuruhen, eben der eines Positivismus, doch mit unterschiedlichen Formen und Effekten. Der Fall des Parnasse stellt sich dabei in mehrfacher Weise komplex dar: Der Parnasse ist meines Erachtens durch mindestens vier Spannungsverhältnisse gekennzeichnet. Im Folgenden zeige ich diese Spannungsverhältnisse kurz auf und entwickele damit eine Neucharakterisierung der Parnasse-Lyrik als Ganzer. Anders als andere Rekonstruktionen möchte ich nicht die Heterogenität und Widersprüchlichkeit dieser Lyrik in monolithisch-übergreifenden Konzeptionen auflösen, die die grundsätzliche Heterogenität des Parnasse eskamotieren. Vielmehr scheint es mir angemessener und produktiver, den Parnasse gerade anhand seiner inneren Spannungen zu beschreiben, denn es handelt sich dabei um spezifische Spannungsverhältnisse – auf thematischer, poetologischer sowie textstruktureller Ebene. In einem zweiten Schritt greife ich dasjenige Spannungsverhältnis heraus, das mir – nicht nur im Zusammenhang des vorliegenden Bandes – als das bezeichnendste erscheint, jenes von Wissenschaftsanalogie und Dokumentarismus einerseits sowie poetischer Artistik andererseits. In der Lektüre von vier Gedichten zeige ich auf, in welchen Formen und mit welchen Effekten sich der Wissenschaftsbezug in Texten von Leconte de Lisle, José-Maria de Heredia und Sully Prudhomme je manifestiert. Ich werde Analogiebildungen auf der Ebene der Vertextungsverfahren ausmachen, durch die überraschende Aussageansprüche für Lyrik erhoben werden. Und es wird sich zeigen, dass thematische Bezugnahmen diametral entgegengesetzt motiviert und funktionalisiert sein können, was mit der allgemeinen Heterogenität der Parnasse-Lyrik in Einklang steht. Gemeinsam ist allen betrachteten Texten aber die Tilgung eines fühlenden Subjekts als Perspektivträger zugunsten objektivierter, abstrahierter Sprechinstanzen.

11 Brunetière, L’évolution de la poésie lyrique, S. 169. Vgl. Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 67. 12 So Anne Hofmann, Parnassische Theoriebildung und romantische Tradition, Stuttgart 2001, S. 89–93.



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I D  er Parnasse und seine inneren Spannungen: Versuch einer Neucharakterisierung Das erste Spannungsverhältnis innerhalb des Parnasse betrifft die Spannung zwischen dem starken Bewusstsein einer „école parnassienne“ sowohl in der Selbstwie in der Fremdwahrnehmung und der – schon von den Erstlesern bemerkten – Heterogenität ihrer Texte.13 In der zeitgenössischen Kritik werden die Parnassiens immer wieder als verschworene Gruppe beschrieben, die einem gemeinsamen Kult huldige, einem Kult der – sowohl zeitlich, geographisch als auch intellektuell – exotisch-elitären Schönheit.14 Doch liegt weit weniger auf der Hand, welche gemeinsamen Themen und vor allem welche gemeinsamen Vertextungsverfahren so unterschiedliche Autoren verbinden wie Théophile Gautier, Charles Marie René Leconte de Lisle, Théodore de Banville, José-Maria de Heredia, François Coppée, Sully Prudhomme oder Catulle Mendès, um nur einige zu nennen. Und schon der Name birgt Probleme. Er geht bekanntlich zurück auf eine Anthologie zeitgenössischer Lyrik mit dem Titel Le parnasse contemporain, die dreimal erschienen ist: 1866, 1869–1871 und 1876, zunächst in mehreren Heften, dann auch gebunden, wobei die dritte Anthologie nur noch als Buch publiziert 13 Diese Heteorogenität ist ein Topos – und ein ungelöstes Problem – der Parnasse-Forschung. Sie betont zum Beispiel auch Claude Millet, „Autour du Parnasse (1852–1893)“, in: Michel Jarrety (Hrsg.), La poésie française du Moyen Âge au XXe siècle, Paris 1997, S. 347–358, hier S. 348–349: Millet sieht eine „cohérence bien floue“, die durch den „culte du beau vers“ gestiftet werde. Stefan Hartung versucht die Heterogenität durch ein Phasenmodell zu entschärfen, innerhalb dessen er zusätzlich „Unterdiskurse“ des parnassischen Paradigmas unterscheidet (Stefan Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse: Antiromantischer Kunstbegriff und Wandel der Lyrikkonzeption bei Parnassiern und Modernen“, in: Heinz Thoma [Hrsg.], Französische Literatur – 19. Jahrhundert. Lyrik, Tübingen 2009, S. 175–226, hier S. 181–182). Diese Unterscheidung geht im Kern bereits zurück auf Eva Riedel, Strukturwandel in der Lyrik Rimbauds, München 1982, S. 41–43. Zum Versuch einer rezeptionshistorischen Rekonstruktion des Parnasse-Begriffs vgl. Anne Hofmann, Parnassische Theoriebildung und romantische Tradition, Stuttgart 2001. Über eine strenge historische Phasenbildung meint Yann Mortelette sogar, eine Einheitlichkeit des Parnasse postulieren zu können: „Le Parnasse a été une école poétique possédant une unité esthétique et socio-culturelle“ (Yann Mortelette, Histoire du Parnasse, Paris 2005, S. 481). 14 Vgl. z.B. Alcide Dusolier, „Les impassibles“, in: Yann Mortelette (Hrsg.), Le Parnasse. Mémoire de la critique, Paris 2006, S. 47–52. Émile Zola nutzt die Vorstellung von der verschworenen Gruppe für seine Polemik gegen den Parnasse, indem er Gruppenbildung und individuelle Schwäche korreliert, mitunter bis ins Groteske gesteigert: „Ils [les Parnassiens] forment un cénacle, ils sont une bande. […] Ils se savent faibles, et s’unissent afin de se soutenir au besoin. Se copiant les uns les autres, ils vivent en famille. […] nous avons des jeunes gens qui se mettent à six pour faire un sonnet. Encore le sonnet est-il médiocre“ (Émile Zola, „Mes jours de pluie. Nos poètes“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 10, Henri Mitterand [Hrsg.], Paris 1968, S. 741–744, hier S. 741, vgl. Hufnagel, „Parnasse und Polemik“).

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wird.15 Nur, als der ‚Name‘ gefunden ist, sind einige der bedeutendsten Lyriksammlungen, die für den Parnasse stehen, bereits seit Jahren veröffentlicht: 1852 kann man als das entscheidende Jahr ansetzen, denn es erscheinen zum ersten Mal Gautiers Émaux et Camées und Leconte de Lisles Poèmes antiques.16 Doch auch wenn man den Parnasse nicht extensional, über eine historische Selbstzuschreibung durch Veröffentlichung in besagter Anthologie, sondern intensional, als ein System von Vertextungsnormen, bestimmt, wie dies Klaus W. Hempfer getan hat, Vertextungsnormen, die sich nicht in allen Texten eines und desselben Autors realisieren müssen – in diesen anderen Texten würde er anderen Systemen bzw. Paradigmen, z.B. dem romantischen, folgen –,17 stößt auch dieses Modell an Grenzen, zumal bei der Rekonstruktion der Konstituenten des Parnasse-Paradigmas doch grundlegend über Musterautoren argumentiert wird. Sie sind zwar durch die zeitgenössische Rezeption abgesichert, wenn etwa Leconte de Lisle immer wieder und in ganz unterschiedlichen Quellen als „chef de file“ apostrophiert wird. Aber gerade bei ihm findet man jene Problematisierung von Mimesis nur in geringem Maße, die Hempfer indessen als zentrales Konstituens des Parnasse stark macht, wie wir noch sehen werden. Hempfer entwickelt seine „Konstituenten Parnassischer Lyrik“ denn auch paradigmatisch an den Texten eines anderen ‚Musterautors‘, Théophile Gautier.18 Meines Erachtens ist es nicht unmöglich, ein Gemeinsames des Parnasse herauszupreparieren, das über ein Streben nach formaler Perfektion hinausgeht. Man wird es gewiss auf einer sehr abstrakten Ebene ansiedeln müssen und etwa, wie es bereits versucht worden ist, bei der Entsubjektivierung der Lyrik im Sinne einer Rücknahme des Sprecher-Ichs als individuellen Gefühlsträgers ansetzen.19 Wichtig ist mir jedoch, zu unterstreichen, dass die durch dieses Gemeinsame

15 Vgl. Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 177–178, 265, 335. Die Publikation des zweiten Parnasse contemporain wird durch den deutsch-französischen Krieg verzögert. 16 Vgl. zur Orientierung noch einmal die übersichtliche Synopse bei Stefan Hartung, die Daten und Titel aufführt (Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse“, S. 181–183). 17 Vgl. Klaus W. Hempfer, „Konstituenten Parnassischer Lyrik“, in: Titus Heydenreich/Eberhard Leube/Ludwig Schrader (Hrsg.), Romanische Lyrik: Dichtung und Poetik, Tübingen 1993, S. 69–91. 18 Vgl. ebd., S. 75–91; ders., „Transposition d’art und die Problematisierung der Mimesis in der Parnasse-Lyrik“, in: Winfried Engler (Hrsg.), Frankreich an der Freien Universität. Geschichte und Aktualität, Stuttgart 1997, S. 171–196. 19 Vgl. Hempfer, „Konstituenten Parnassischer Lyrik“, S. 78–80, Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse“, S. 177. Auch Claude Millet spricht zunächst vom „effacement du moi“ in den parnassischen Texte, schließt dann aber paradoxerweise, dass „la majorité des productions du Parnasse relèvent d’un lyrisme sentimental“, vgl. Millet, „Autour du Parnasse“, S. 354.



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gebildete Einheit einer Spannung ausgesetzt ist, ja, dass es gerade die Spannungsgeladenheit ist, die den Parnasse charakterisiert. Das zweite Spannungsverhältnis betrifft Objekthaftigkeit bzw. die Suggestion von Referentialität einerseits und die Problematisierung von Mimesis andererseits. Gegenstand von parnassischen Gedichten sind häufig ganz wörtlich Gegenstände: Objekte, vorgängig-gegebene Dinge, die sich nicht selten eindeutig referentialisieren lassen oder zumindest eine solche Referentialisierbarkeit suggerieren, insbesondere Kunstwerke; parnassischen Gedichten eignet eine „Rhetorik der Materialität und ‚Greifbarkeit‘“.20 Manchmal inszenieren Parnassiens sogar Texte in ihrer Materialität, als Objekte, die realiter in der Bibliothek auffindbar seien. Zum Beispiel formt Heredia ein Martial-Epigramm in ein Sonett um und setzt als Epigraph seine Quelle mit exakter Stellenangabe darüber.21 Umgekehrt beginnt gerade bei der Wahl von Kunstwerken als Textgegenstand der ‚schrittweise Ausstieg aus der Mimesis‘, wie Andreas Mahler geschrieben hat,22 als ‚mediatisierte Mimesis‘,23 als Nachahmung von bereits Wirklichkeit nachahmenden Artefakten: „Der Text konstituiert nicht mehr nur Vorstellungen von potentiellen Gegenständen, sondern Vorstellungen von Vorstellungen“.24 Dadurch tritt der „Konstruktcharakter der poetischen Darstellung“25 hervor. Nicht zuletzt problematisieren die Parnassiens Mimesis, indem sie fiktive Kunstwerke zum Gegenstand ihrer Beschreibung machen26 und damit die evokative, ja performative Kraft von Sprache beschwören. Drittes Spannungsverhältnis: Lässt man die Gegenstände Revue passieren, die von den Parnassiens thematisiert werden – neben Statuen und Gemälden wären Gefäße, Medaillen, Kirchenfenster, Prunkschwerter, Rüstungen, Emaillen zu nennen, alles Beispiele aus Heredias Band Les Trophées –, so fällt auf: Die

20 Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 61. 21 Vgl. ebd., S. 63. Vgl. José-Maria de Heredia, „Lupercus“, in: ders., Les Trophées, Anny Detalle (Hrsg.), Paris 1981, S. 95. 22 Andreas Mahler, „Sprache – Mimesis – Diskurs. Die Vexiertexte des Parnasse als Paradigma anti-mimetischer Sprachrevolution“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 116/2006, S. 34–47, hier S. 36. 23 Vgl. Klaus W. Hempfer, „Vorwort“, in: ders. (Hrsg.), Jenseits der Mimesis. Parnassische „transposition d’art“ und der Paradigmenwechsel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2001, S. 7–8, hier S. 7. 24 Andreas Mahler, „Sprache – Mimesis – Diskurs“, S. 36. 25 Hempfer, „Vorwort“, S. 7. 26 Vgl. Stefan Hartung, „Kunstautonome Ästhetik – parnassische Mediatisierung. Der Spielraum der transposition d’art am Beispiel fünf komplexer Texte“, in: Klaus W. Hempfer (Hrsg.), Jenseits der Mimesis. Parnassische „transposition d’art“ und der Paradigmenwechsel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2000, S. 9–41, hier S. 15.

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 Henning Hufnagel

thematisierten Objekte, insbesondere die poetologisch aufgeladenen, wie die Emaillen und Kameen aus Gautiers Titel, sind kunsthandwerkliche Gegenstände, d.h. in künstlerischen Hierarchien unten angesiedelt, und dies nicht erst seit den Zeiten der Genieästhetik. Es sind Gegenstände für einen Gebrauchszusammenhang. Sie stehen damit in einer Spannung zur parnassisch gepflegten Rhetorik der Kunstautonomie und Zweckungebundenheit von Dichtung, selbst wenn die intendierte Semantisierung der Gegenstände den Akzent auf die Kunstfertigkeit und Virtuosität der ästhetischen Faktur legt und sich damit in bewusste Opposition zur romantischen Gefühlsunmittelbarkeit setzt.27 Viertes und wohl charakteristischstes und wichtigstes Spannungsverhältnis: Das von beanspruchter Wissenschaftlichkeit bzw. Wissenschaftsanalogie, von Gelehrsamkeit und Dokumentarismus einerseits und Kunstautonomie, l’art pour l’art und dichterischer Virtuosität andererseits.28 Der ‚Kontakt‘ der parnassischen Lyrik mit der Wissenschaft vollzieht sich dabei auf zwei Ebenen: auf einer thematischen und auf derjenigen der Vertextungsverfahren. Auf einer thematischen Ebene integrieren die Parnassiens verschiedenste Wissensbestände, die sich als wissenschaftlich beglaubigt ausweisen, in ihre Texte.29 Mitunter reflektieren sie auch über die Rolle von Wissenschaft. Auf der Ebene der Verfahren suggerieren 27 Dieses Spannungsverhältnis haben die Interpreten des Parnasse, soweit ich sehe, bislang überhaupt nicht problematisiert. Millet etwa hebt die kunsthandwerklichen Referenzen hervor, sieht in ihnen aber nur Symbole des poetologischen Anspruchs von artistisch-formaler Perfektion (vgl. Millet, „Autour du Parnasse“, S. 353). Hartung argumentiert gerade, dass durch den Bezug auf die kunstautonome Ästhetik eines Victor Cousin in den Gedichten der Parnassiens „erstmals auch Handwerkskünste wie Emailkunst, Münzprägung und Glasmalerei vorlagenfähig“ werden, weil deren Gegenstände als bereits ästhetisch gestaltete Artefakte, im Gegensatz zu Naturgegenständen, dem „beau absolu“ näher seien (Hartung, „Kunstautonome Ästhetik“, S. 36) – die Spannung zwischen der ästhetischen Ebene und dem pragmatischen Funktionszusammenhang dieser Gegenstände sieht er nicht. 28 Während für Hempfer der Aspekt des Wissenschaftsbezugs keine Rolle spielt, benennt Claude Millet den „rapport de la poésie au savoir“ durchaus als ein spezifisches Charakteristikum der Parnasse-Lyrik. Er versucht, diese Beziehung auch noch etwas genauer zu fassen als „rapport positif et même actif à la science“, der sich in einem thematischen Rückgriff auf Erkenntnisse der Philologie, Archäologie und Mythographie äußere (Millet, „Autour du Parnasse“, S. 349–350). Doch abgesehen davon, dass Millet die Beziehungen zwischen Dichtung und Wissenschaft einzig auf der thematischen Ebene anzusiedeln scheint, setzt er den Wissenschaftsbezug auch nicht in Beziehung zu den anderen Elementen seiner Rekonstruktion des Parnasse. Dementsprechend macht er auch keine Aussagen zu den poetischen und poetologischen Konsequenzen dieser Bezugnahme. Im wesentlichen in Paraphrase von Leconte de Lisles Vorwort zu seinen Poèmes antiques insistiert Hartung auf der „Aufnahme humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Haltungen ins Dichten“ bei Leconte de Lisle (Hervorhebung im Original; Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse“, S. 202). Daran ist anzuschließen. 29 Vgl. Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 55.



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ihre Texte, wie von Brunetière bereits hervorgehoben, durch eine reduzierendentsubjektivierende Ausgestaltung der Sprecherrolle eine wissenschaftliche Perspektive auf ihre Gegenstände. Diese Gedichte durchzieht dann freilich die Paradoxie, zugleich unpersönlich im Aussagemodus und höchst artistisch-individuell in der Vertextungsweise sein zu sollen. Für dieses Spannungsverhältnis scheint mir die Formel Brunetières vom „positivisme esthétique“, abstrahiert man von seinem poetologischen Epochentableau, noch einmal ein durchaus prägnanter Ausdruck.30 Paradigmatisch für diese Paradoxie mögen Zitate stehen, die zwei der einflussreichsten poetologischen Texte des Parnasse entnommen sind. So bezeichnet Leconte de Lisle in seinem Vorwort zu den Poèmes antiques seine Gedichte nicht als Gedichte, sondern als (literatur)historiographische ‚Studien‘ mit entsprechend ‚objektiver‘ Optik: „Ce livre est un recueil d’études, un retour réfléchie à des formes négligés ou peu connues. Les émotions personnelles n’y ont laissé que peu de traces“.31  Wie Leconte de Lisle mit der ‚Rückkehr zu den vernachlässigten Formen‘ andeutet, zielt er auf eine Erneuerung der Dichtung über die Wiedergewinnung ihrer Tradition. Sie aber wird von der Wissenschaft geleistet. Dementsprechend beschwört Leconte de Lisle die Einheit von Dichtung und Wissenschaft: „L’art et la science, longtemps séparés […], doivent donc tendre à s’unir étroitement, si ce n’est à se confondre“.32 Die Wissenschaft ist das Medium, das Kunst erst wieder ermöglicht. Gautier hingegen schlägt diesen ‚Umweg‘ erst gar nicht ein. Er stellt seiner Gedichtsammlung ein Sonett voran, in dem er das ‚freie Atmen der Kunst‘ proklamiert, wie es gleich in seiner ersten Strophe heißt. Das ist nur hinter geschlossenen Fenstern möglich – geschlossen vor den Zeitläuften und ihren Einflüssen, all’ jenem, was man literaturwissenschaftlich den ‚Kontext‘ nennt, zugunsten einer ‚isolierten‘, autonomen Kunst:

30 Auch für Flaubert, jenen „‚parnassischsten‘ unter den Romanciers“, wie Stefan Hartung ihn genannt hat (Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse“, S. 199), ist diese Paradoxie des vom Individuellen befreiten Kunstwerks ein Problem. Er versucht es zu lösen, indem er den Stil zum Medium der Objektivierung macht – Stil verstanden als Wille zur Präzision in der Beschreibung bei gleichzeitig „fanatische[r] Observanz der Sprachnorm“, wie Marc Föcking schreibt: „In dieser stilistischen ‚Objektivität‘ gleichen sich für Flaubert Poesie und Wissenschaft oberhalb der Differenzen auf der Ebene der Referenz wieder an“ (vgl. Föcking, „Contre la pôhésie“, S. 408; vgl. zu Flauberts Stilbegriff auch Norbert Christian Wolf, „Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils“, Poetica, 34/2002, S. 125–169). 31 Charles Leconte de Lisle, „[Préface des Poèmes antiques]“, in: ders., Articles – Préfaces – Discours, Edgard Pich (Hrsg.), Paris 1971, S. 107–121, hier S. 108–109. 32 Ebd., S. 118–119. Vgl. Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 53 u. 63.

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Pendant les guerres de l’empire, Goethe, au bruit du canon brutal, Fit le Divan occidental, Fraîche oasis où l’art respire. […] Comme Goethe sur son divan A Weimar s’isolait des choses Et d’Hafiz effeuillait les roses, Sans prendre garde à l’ouragan Qui fouettait mes vitres fermées, Moi, j’ai fait Émaux et Camées.33

II H  eredia, Le Récif de Corail: Vom Kamerablick zu den Lichteffekten der Sprache Da mein nun folgender Parcours die Gestalt einer Bestandsaufnahme der Realisationsspielräume des Wissenschaftsbezugs auf seinen beiden Ebenen hat, werde ich die Gedichte eher nach Ähnlichkeiten auf motivlicher Ebene aneinanderreihen als chronologisch oder nach Autoren geordnet, so dass die Verschiedenartigkeit der Formen und Effekte des Wissenschaftsbezugs besonders hervortreten. Beginnen möchte ich gleich mit einer der stärkeren Formen der Bezugnahme auf Wissenschaft: mit einer poetischen Wissenschaftsanalogie auf der Ebene der Verfahren, nämlich mit der Entsubjektivierung, die eine wissenschaftliche Perspektive suggeriert. Durch eine solcherart zurückgenommene Ausgestaltung der Sprechinstanz ist zum Beispiel Heredias Le Récif de Corail charakterisiert. Diese Sprechinstanz ist deiktisch unbestimmt, ebenso wie der Standort unklar bleibt, von dem aus das Korallenriff des Titels beschrieben wird. Nur einen ungefähren Hinweis auf den Ort des Riffs selbst erhält man. Insofern es sich um ‚abessinische Korallen‘ handelt, lässt sich schließen, dass sie sich wohl im Roten Meer befinden. Das Motiv der Unterwasserwelt ist durchaus gängig in der Zeit, ist doch, wie Thomas Brandstetter und Christina Wessely schreiben, seit den 1860ern „ganz Europa von einer leidenschaftlichen Meereslust“ erfasst: Die um die Jahrhundertmitte noch weithin unbekannte Welt der Ozeane übt auf Laien wie Forscher

33 Théophile Gautier, Émaux et Camées, Claudine Gothot-Mersch (Hrsg.), Paris 1981, S. 25.

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gleichermaßen eine Faszination aus, die in allen großen Städten des Kontinents öffentliche Aquarien entstehen lässt. Wenig später setzt sie sich auch in den privaten Räumen bürgerlicher Interieurs fort in der Gestalt von ‚Ozeanen im Glase‘, wie es zeitgenössisch heißt.34 Im Aquarium ist dabei ein „Spiel aus Begrenzung und Überschreitung“,35 zwischen kleinem Ausschnitt und der Illusion der Unbegrenztheit am Werk. Diese Funktion des Aquariums nimmt in Heredias Récif de Corail, das 1882 zum ersten Mal publiziert wurde, die Sonettform selbst ein. Es zeigt in knapper, da im Umfang auf vierzehn Verse begrenzter Sprache einen klaren ‚Landschaftsausschnitt‘, suggeriert aber in dessen Verortung „sous la mer“, und noch dazu einem fremden, weit entfernten, exotischen Meer, seine Grenzenlosigkeit, ebenso wie die Sprache natürlich die Möglichkeit hat, stets neue, im ersten Ausschnitt noch nicht enthaltende Gegenstände zu evozieren, wie es bei Heredia besonders auffällig mit dem Fisch geschieht, der in der dritten Strophe eingeführt wird und den Wendepunkt des Gedichts markiert. Die suggerierte Grenzenlosigkeit befördert nun zugleich den Eindruck der Ortlosigkeit des Beobachters: Le Récif de Corail Le soleil sous la mer, mystérieuse aurore, Éclaire la forêt des coraux abyssins Qui mêle, aux profondeurs de ses tièdes bassins, La bête épanouie et la vivante flore. Et tout ce que le sel ou l’iode colore, Mousse, algue chevelue, anémones, oursins, Couvre de pourpre sombre, en somptueux dessins, Le fond vermiculé du pâle madrépore.   De sa splendide écaille éteignant les émaux, Un grand poisson navigue à travers les rameaux; Dans l’ombre transparente indolemment il rôde;

34 Thomas Brandstetter/Christina Wessely, „Einleitung: Mobilis in mobili“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 36/2013, S. 119–127, hier S. 119–120. Mit Ursula Harter sprechen sie gar von einem „aquarium craze“ im Viktorianischen England (vgl. Ursula Harter, „Künstliche Ozeane oder die Erfindung des Aquariums“, in: Elisabeth Schleebrügge [Hrsg.], Das Meer im Zimmer. Von Tintenschnecken und Muscheltieren, Graz 2005, S. 73–96; vgl. zur Kulturgeschichte des Aquariums auch Bernd Brunner, Wie das Meer nach Hause kam. Die Erfindung des Aquariums, Berlin 2011). 35 Brandstetter/Wessely, „Einleitung“, S. 119.

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Et brusquement, d’un coup de sa nageoire en feu Il fait, par le cristal morne, immobile et bleu, Courir un frisson d’or, de nacre et d’émeraude.36

Greifbar wird ein Beobachter wohl vor allem in zwei Adjektiven: „mystérieux“ und „somptueux“, die eine epistemische bzw. ästhetische Bewertung implizieren. Daneben sind im Kontext der Unterwasserszene noch die Ausdrücke „vermiculé“ (‚mit gewellt-geriffeltem Rand‘) und „émaux“ auffällig, daneben in geringerem Maße auch „cristal“, „or“ und „émeraude“. Insbesondere die ersten beiden sind künstlerisch-kunsthandwerkliches Fachvokabular, die übrigen evozieren Kostbarkeit. Aber die Termini werden nicht so konsequent gesetzt, als dass man davon sprechen könnte, hier würde die Naturszenerie in ein Kunstwerk transformiert.37 Ebenso wenig ließe sich umgekehrt sagen (und für den Parnasse käme es geradezu einer contradictio in adjecto gleich), dass Natur zum Formenspender von Kunst stilisiert würde, wie es gut zwanzig Jahre später in den Kunstformen der Natur Ernst Haeckels geschieht, die besonders prominent Meereslebewesen in Symmetrien und Mustern ausbreiten.38 Eher wird durch die offene Inkonsequenz einer Beschreibung, die sowohl konkrete Ausdrücke als auch eine Kunstmetaphorik mischt, eine Atmosphäre von Sonderbarkeit, Kostbarkeit, auch von Zerbrechlichkeit geschaffen. Indessen ist es eine „mystérieuse aurore“, ein geheimnisvolles Licht, das die Koralle erhellt, „éclaire“, – durchaus im doppelten Sinne von ‚erleuchten‘ und ‚erläutern‘. Die solcherart paradoxale Fügung – trotz Erleuchtung bleibt das Geheimnis erhalten – kündigt bereits im ersten Vers an, dass sich das Gedicht eines Kommentars, einer Erklärung, gar einer allegorischen Deutung der Naturszene enthalten wird. Mobilisiert wird dagegen zoologisches Wissen: Die ‚Zwischenstellung‘ der Koralle zwischen Tier und Pflanze – sie zählt zu den Tieren, ähnelt äußerlich aber eher einer Pflanze – wird benannt, wenn sie als „La bête épanouie et la

36 Heredia, Les Trophées, S. 154. 37 Das unterscheidet dieses Gedicht Heredias zum Beispiel von den parnassischen Gedichten Médaille von Frédéric Plessis und Paysage von Charles Coran, die Stefan Hartung analysiert. Dort wird Natur in und durch Kunst geschaffen bzw. eine Naturszene, eine Landschaft durch das Hinzutreten eines menschlichen Betrachters in ein Landschaftsbild überführt (vgl. Hartung, „Kunstautonome Ästhetik“, S. 28–30). Le Récif de Corail ist hingegen nicht an einer vexierbildhaften Übergänglichkeit zwischen Kunst und Natur interessiert. Hier liegt die ‚Kunst‘ in einer sprachlichen Analogisierung der Lichteffekte, wie gleich gezeigt werden soll. 38 Die erste vollständige Ausgabe der Kunstformen der Natur erschien 1904: Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur. Hundert Illustrationstafeln mit beschreibendem Text, allgemeine Erläuterung und systematische Übersicht, Leipzig/Wien 1904.



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vivante flore“ beschrieben wird: Die Adjektive erscheinen vertauscht in diesem syntaktischen Chiasmus, der zugleich ein semantischer Parallelismus ist, und vergegenwärtigen so die changierende Erscheinung der Koralle. Weiter ist die Feststellung biologisch korrekt, dass symbiotisch lebende Algen für die Färbung der Korallen verantwortlich sind. Heredia mag sich für das Sujet an Darwins Buch The Structure and Distribution of Coral Reefs von 1842 inspiriert haben; ein Exemplar der französischen Übersetzung stand in seiner Bibliothek.39 Indessen muss das anzitierte Wissen aus anderen Quellen stammen, denn Darwin zielt auf die Formulierung einer Theorie, wie sich Korallenriffe bilden; er interessiert sich nicht für die zoologische Klassifikation oder das Erscheinungsbild der einzelnen Korallen. Daneben finden sich nahezu ausschließlich visuelle Eindrücke.40 Heredia inszeniert ein Wechselspiel von Licht und Schatten, von Farbigkeit und Farblosigkeit, von Stasis und Bewegung. In den ersten beiden Strophen werden die Korallen in ihrer prächtigen purpurroten Färbung und Musterung beschrieben. Neben den ‚statischen‘ Korallen werden mit Seeanemone und Seeigel zwei weitere Lebewesen genannt, die eher den Aspekt von Pflanzen als von Tieren haben. Mit dem ersten Terzett kommt im wahrsten Sinne Bewegung ins Gedicht: Ein Fisch schwimmt durch den Korallenwald, wobei er zunächst farblich unauffällig erscheint. Der Glanz seiner Schuppen ist suspendiert, weil ihn das Licht nicht trifft. Im ersten Terzett bewegt sich der Fisch langsam, im zweiten dann plötzlich schnell, womit er ein Farbenspiel entfesselt, das in seinem hellen Nuancenreichtum im Gegensatz zum monochromen, wenngleich intensiven Rot der Korallen steht, wie ihre Bewegungslosigkeit – in der Tat findet sich in den ersten beiden Strophen kein Verb der Bewegung – in Gegensatz zur Bewegung des Fisches steht. Und so ist dessen Farbenspiel selbst eine feinteilige Bewegung: ein „frisson“, ein Schauder, der durch das Wasser ‚läuft‘. Dieses dynamische Kontinuum wird nun auf keine Weise anders deutbar als das, was es ist: als Licht, Farbe, Bewegung und ihre Gegensätze. Während in den Tiergedichten Leconte de Lisles eine allegorische Ausdeutbarkeit noch vage suggeriert wird, etwa durch die Zuschreibung bestimmter innerer Zustände an die Tiere,41 scheint sie hier gar keine Anknüpfungspunkte zu finden. Heredia beschreibt

39 Vgl. Heredia, Les Trophées, S. 328–329. Vgl. Charles Darwin, The works of Charles Darwin, The geology of the voyage of H.M.S. Beagle. Part 1, Structure and Distribution of coral reefs, Bd. 7, Paul H. Barrett (Hrsg.), New York 1987. 40 Einzige Ausnahme ist „tiède“ in Vers 3, das, in Anschluss an die ‚abessinischen Korallen‘ platziert, über die Wärme die geographische Verortung der Szene in afrikanischen Gewässern verstärkt. 41 Vgl. Claudine Gothot-Mersch, „Préface“, in: Charles Leconte de Lisle, Poèmes barbares,

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eine bloße Außensicht, gewissermaßen reine Visualität, verweigert jede weitere Interpretation der visuellen Beschreibung,42 aus welcher der menschliche Beobachter getilgt ist. Damit analogisiert Heredia in seiner Beschreibungstechnik ein Objektivitätsideal, das sich in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts Bahn gebrochen hatte, wie Lorraine Daston und Peter Galison gezeigt haben, nämlich das einer „mechanische[n] Objektivität auf visueller Basis“:43 Es ist die Objektivität eines Kamerablicks, der den „menschlichen Hang zum Beurteilen“ ausschaltet.44 Gleichwohl praktiziert Heredia seine ‚objektive‘ Beschreibung auf eine höchst artistische Weise, wie man am letzten Vers ablesen kann: Das schnelle Changieren der Farben in der Fischflosse, von Gold zu Perlmutt (das ohnehin schon schillert), zu Smaragdgrün, bildet sich ab in einem schnellen, auf- und absteigenden, quasi changierenden Durchgang durch die Vokale: „Courir un frisson d’or, de nacre et d’émeraude“: Von U zu I, zu O, zu A, zu E und wieder zurück zu O. Das O scheint hervorgehoben; es steht an den Enden der jeweiligen Halbverse. Klanglich dominiert es ohnehin das gesamte Gedicht, auch drei der fünf Reime sind Reime auf O. Das O gewinnt im Schlussvers einen immer reineren Klang: Es entwickelt sich vom nasalisierten „frisson“ zum offen „or“, zum geschlossenen „émeraude“, so wie sich die Farbe der Fischflosse von den metallischen Mischfarben zum hellen Grün entwickelt, einem Grün, das als Komplementärfarbe zum Rot den Fisch noch einmal in einen visuellen Kontrast zu den Korallen rückt. – Diese Dominanz des O dürfte im übrigen nicht zufällig sein. „O“ ist schließlich das klangliche Äquivalent zu „eau“, dem Wasser, mithin dem Medium, in dem sich die ganze Naturszene abspielt. Am Ende des Gedichts, also in dem Moment, in dem die Szene ihre Vollständigkeit bzw. ‚Klarheit‘ erreicht hat, wird auch das O des letzten Verses ‚geklärt‘ und in Reinheit überführt. Dieser Effekt wird noch einmal dadurch verstärkt,

Claudine Gothot-Mersch (Hrsg.), Paris 1985, S. 5–25, hier S. 16–18 sowie Stefan Hartung, „L’art pour l’art und Parnasse“, S. 207–208. 42 Vgl. Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 69. 43 Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a.M. 2007, v.a. S. 121–200, hier S. 127. 44 Lorraine Daston, „Objektivität und die Flucht aus der Perspektive“, in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a.M. 2001, S. 127–155, hier S. 129. Besonders prägnant bringen Daston und Galison das Konzept der mechanischen Objektivität in ihrer Charakterisierung des französischen Physiologen Étienne-Jules Marey auf den Punkt. Marey ist durch seine chronophotographischen Bewegungsstudien noch immer im kollektiven Gedächtnis verankert: „[Marey] dreamed of a wordless science that spoke instead in high-speed photographs and mechanically generated curves; in images that were, as he put it, in the ‚language of the phenomena themselves.‘“ (Lorraine Daston/Peter Galison, „The Image of Objectivity“, Representations, 40/1992, S. 81–128, hier S. 81).

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dass Anfang und Schluss des Gedichts über das O miteinander verklammert sind. Der erste Vers endet auf dem Syntagma „mystérieuse aurore“, also auf einem doppelten und zugleich doppelt dunklen offenen „O“ – doppelt dunkel, da klanglich dunkel durch die Offenheit des O sowie semantisch Dunkelheit suggerierend durch das Adjektiv ‚geheimnisvoll‘. Diese Dunkelheit hellt das letzte Wort des Gedichts buchstäblich auf: im hellen E und dem ‚gereinigten‘, geschlossenen O von „émeraude“ – ein sprachlicher Lichteffekt, der Lichteffekt bleibt und bleiben soll, ohne Deutung.

III S  ully Prudhomme, Dans l’abîme: Ornamentale Verblendung der Technik Wie groß die Bandbreite und Verschiedenartigkeit der Wissenschaftsbezüge in parnassischen Gedichten ist, zeigt ein Text Sully Prudhommes, der thematisch und sogar lexikalisch zahlreiche Übereinstimmungen mit Heredias Récif de Corail aufweist. Hier ist der Bezug ein thematischer; sein Kontext ein traditionell-enkomiastischer. Wissenschaftlich-technische Errungenschaften werden benannt und gefeiert, menschlicher Entdeckergeist gepriesen: Sully Prudhomme singt in Dans l’abîme das Lob des Telegraphenkabels, das seit 1866 Europa und Amerika verbindet – womit er großes Aktualitätsbewusstsein an den Tag legt, denn sein Gedicht stammt aus demselben Jahr. Es steht innerhalb des Gedichtbands Les Épreuves in der Abteilung „Action“, die denn auch weniger die neuen Errungenschaften selbst als vielmehr den menschlichen Entdeckergeist in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen rühmt, von der Chemie über die Astronomie bis hin zur Geographie und Philologie. Dans l’abîme Le fond de l’océan ravit l’œil des sondeurs: Mystérieux printemps, Éden multicolore Qui tressaille en silence et ne cesse d’éclore Aux frais courants, zéphyrs des glauques profondeurs. Lourds oiseaux d’un ciel vert, d’innombrables rôdeurs, Dans les enlacements d’une vivante flore, Et sous un jour voilé comme une pâle aurore, Glissent en aspirant les marines odeurs. C’est là qu’immense et lourd, loin de l’assaut des ondes, Un câble, un pont jeté pour l’âme entre deux mondes, Repose en un lit d’algue et de sable nacré;

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Car la foudre qu’hier l’homme aux cieux alla prendre, Il la fait maintenant au fond des mers descendre, Messagère asservie à son verbe sacré.45

Anders als bei Heredia wird der Ausgangspunkt des Blicks, werden die Beobachter gleich im ersten Vers benannt. Es ist das anonyme Kollektiv der „sondeurs“, also ‚Forschern‘, auch wenn ihr Blick dominant ästhetisch vermittelt ist, wie im Verb „ravit“, in der Freude, die der Blick in ihnen auslöst, zum Ausdruck kommt. Indessen treten sie im weiteren Verlauf des Gedichts sprachlich auch nicht weiter in Erscheinung. Durchgängig ist die Unterwasserwelt beschrieben als eine andere Erde, als ein anderer Himmel, in dem die Fische die ‚Vögel eines grünen Himmels‘ sind. Wesentlicher Bestandteil dieser metaphorischen Beschreibung sind traditionelle mythologische Elemente wie der Paradiesgarten Eden und die Zephyre, Verkörperungen der sanften Westwinde. Mit den Terzetten steigt das Gedicht sozusagen noch tiefer in den ‚Abgrund‘ des Titels hinab, auf den Meeresboden. Nach der fremden Welt der Unterwasserflora und -fauna findet sich gerade dort, also am weitesten von der menschlichen Sphäre entfernt, ein Produkt menschlicher Fähigkeiten – das Kabel, das die alte und die neue Welt verbindet. Diese Eroberung des Meeresbodens ist aber nur eine Errungenschaft; der Telegraph bedeutet darüber hinaus die Bändigung einer Naturgewalt, der Elektrizität, wodurch der Mensch zu einem Prometheus wird, auf den mit dem Blitz, der den Himmeln ‚genommen‘ worden ist, in Vers 12 angespielt wird: Der Mensch gestaltet die natürliche Ordnung nach seinem Willen um. Er macht die Naturgewalt zur Dienerin seines, wie es im Schlussvers heißt, „verbe sacré“. Selbst ohne das Adjektiv ist „verbe“ sakral ausgezeichnet; gemeint sind damit nur vorderhand die sprachlichen Botschaften, die über den Telegraphen versandt werden. Das ‚Wort‘ ist, ganz im Sinne des Johannesevangeliums, der Logos. Damit rücken Geist und Natur in einen Gegensatz, und der menschliche Geist erhält die Oberhand, so der enkomiastische Schluss. In dessen Licht lesen sich auch die beiden Quartette, welche die fremde, paradiesische Unterwasserwelt beschreiben, noch einmal neu: Auch sie ist bereits vom „verbe“ erobert – schließlich sind die unbekannten Elemente der Meereswelt ja durch ihre Benennung in Bekanntes überführt und durch ihre metaphorische Beschreibung der Festlandswelt des Menschen einverleibt worden. Unter dem traditionellen mythologischen Dekor – von Eden bis zu Prometheus – scheint die ja eigentlich gefeierte neue Errungenschaft indessen fast zu verschwinden. Sie wird zu einem Moment im Kontinuum menschlicher Erkennt45 Sully Prudhomme, Poésies 1866–1872. Les Épreuves. – Les Écuries d’Augias. – Croquis italiens – Les Solitudes. – Impressions de la Guerre, Paris 1872, S. 59.



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nisleistung, die im anthropologisch-zeitlosen „verbe“ gründet. Naturwissenschaft und Technik sind sozusagen mythologisch gepolstert.46 Mit einer anderen, hier noch weiterführenden Metapher lässt sich auch von einer ‚Verblendung‘ moderner Technik durch traditionelle Mythologie sprechen, im Sinne der historistischen Architektur des späten 19. Jahrhunderts, gegen die die Moderne polemisiert hat: Stahlträger, die unter antiken Ornamenten unsichtbar gemacht sind. Dichtung hat bei Sully Prudhomme die Aufgabe, Neues in Traditionszusammenhänge zu integrieren und in ihnen aufzulösen. Der ornamentale Charakter seiner Dichtung wird dabei am Synkretismus ihrer Elemente deutlich. Die christlichen Obertöne, die mit dem „verbe sacré“ und dem adamitischen Gestus des Benennens der fremden Welt des „Éden multicolore“ aufgerufen werden, sind eben nur Obertöne und fügen sich nicht in eine christliche Vision dieser Welt ein, denn jener Adam bedient sich ja griechisch-heidnischer Elemente, und das „verbe“ ist nicht mehr der Geist Gottes, sondern possessivisch dem Menschen zugeordnet. Ebenso ist die prometheische Geste von Vers 12 denn auch keine tragisch-rebellische mehr, sondern nur noch die einer Ermächtigung, der ihr eigener Erfolg Recht gibt – nach den Attributen des Himmels hat sich der Mensch nun auch die Tiefe des Meeres zugänglich gemacht.

IV Leconte de Lisle, In excelsis: Erkenntnispessimismus im Ballon Sully Prudhommes epistemologischer Optimismus steht in scharfem Kontrast zu dem Erkenntnispessimismus, den Leconte de Lisle in seinem Gedicht In excelsis entfaltet. Hier ist jede menschliche Erkenntnis zuletzt Illusion; dieses – alles andere als neue, zeitgenössisch aber eher untypische – philosophische Thema entwickelt Leconte de Lisle anhand eines im 19. Jahrhundert populären Sujets, nämlich Flugexperimenten.47

46 Den Begriff der ‚Polsterung‘ führt Marc Föcking in seiner Beschreibung von technischen Geräten der Gründerzeit ein – etwa von Telefonen, die „wie historistische Wanduhren“ aus­ sehen, und überträgt ihn auf ein „Reden, durch das die ‚Modernität‘ und das Unvertraute des Telefons [bzw. von Technik überhaupt] zurückgeführt wird in die Bahnen eines traditionellen Diskurses“, vgl. Marc Föcking, „Drei Verbindungen. Lyrik, Telefon, Telegrafie 1900–1913“, in: Knut Hickethier/Katja Schumann (Hrsg.), Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung, München 2007, S. 167–180, hier S. 171–172. 47 Vgl. zu Flugexperimenten im 19. Jahrhundert, mitunter auch zu ihren literarischen Echos, Richard Holmes, Falling Upwards. How We Took to the Air, London 2013.

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Das Gedicht schildert einen Aufstieg in den Himmel. Wenn die Situation auch nur minimal ausgestaltet ist, gibt es dennoch Hinweise auf eine konkrete Fahrt in einem Ballon oder Luftschiff bis an die Grenze der Atmosphäre, etwa wenn sich der Aufstieg „par bonds“, ‚ruckartig‘, vollzieht oder später vom Abfall der Temperatur und dem Schwächerwerden einer Flamme während des Aufstiegs die Rede ist.48 Dies ist auf den ersten Blick ungewöhnlich für Leconte de Lisle, der sonst Verachtung für die Thematisierung zeitgenössischer technischer Errungenschaften pflegt.49 Doch indem er das Scheitern von Erkenntnisansprüchen gerade anhand des Scheiterns eines ‚modernen‘, technisch gestützten Zugriffs inszeniert, spricht er ein besonders direktes Urteil über seine wissenschaftsgläubige Epoche. Indessen bleibt trotz dieser Negativität der Wissenschaftsbezug kapital, denn der Wissenschaft wird keine Gegengröße entgegengesetzt, etwa eine religiöse Demut vor der Schöpfung oder die subjektive Intuition, die sich eins weiß mit der Natur, wie man es sich in romantischen Gedichten vorstellen könnte.50 Leconte de Lisle scheint in seinem Gedicht die moderne Naturwissenschaft und Technik zum Objekt seiner Erkenntnisskepsis zu machen, gerade weil sie sich zeitgenössisch so erkenntnisoptimistisch präsentieren. Positiver bewertet Leconte de Lisle historisches Wissen – bescheidener dokumentiert es die bisherigen (je scheiternden) Erkenntnisbemühungen des Menschen um Welterklärung, wie sie sich beispielsweise in den Mythen niederschlagen, die Leconte de Lisle wiederum zum Gegenstand seiner Langgedichte macht: Historisches Wissen dokumentiert also so etwas wie die Tragik der condition humaine. Wie angedeutet, waren Erkundungsfahrten im Ballon durchaus ein Thema auch in der Lyrik; Sully Prudhomme etwa widmet ein Gedicht der heroisch gescheiterten Mission des Zénith, eines bemannten Ballons, der die höheren Schichten der Atmosphäre erkunden sollte.51 Gleichwohl ist der Aufstieg in Leconte de Lisles Gedicht symbolisch überformt, etwa wenn der Forscher gene-

48 Vgl. Caroline de Mulder, „Leconte de Lisle aéronaute: ‚In excelsis‘!“, in: Orbis litterarum, 59/2004, S. 390–395, hier S. 391–392. 49 So schreibt Leconte de Lisle mit Blick auf Maxime Du Camps Les Chants modernes: „Les hymnes et les odes inspirées par la vapeur et la télégraphie m’émeuvent médiocrement“, in: Charles Leconte de Lisle, „[Préface des Poèmes et poésies], in: ders., Articles – Préfaces – Discours, Edgard Pich (Hrsg.), Paris 1971, S. 123–136, hier 127. 50 Auf eine solche Weise ist beispielsweise Alfred de Vignys Gedicht La poésie des nombres konstruiert, in dem ein solches ‚intuitives‘ Verständnis von Mathematik mit einem ‚akademischem‘ konfrontiert wird; ersteres wird mit dem Verständnis des Dichters gleichgesetzt: „le Poète voit sans règle / Le mot secret de tous les sphynx“ (Alfred de Vigny, „La poésie des nombres“, zitiert nach Hugues Marchal [Hrsg.], Muses et ptérodactyles. La poésie de la science de Chénier à Rimbaud, Paris 2013, S. 366). 51 Vgl. Sully Prudhomme, Poésies 1872–1878. Les Vaines Tendresses – La France – La Révolte des

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ralisiert, mit Majuskel, als „Homme“ angesprochen wird. Dass der Aufstieg ein gleichsam unaufhaltsamer und endloser ist, wird nicht nur durch den in den sieben Strophen gleich sechsmal wiederholten Imperativ „monte“ verdeutlicht. Dazu trägt wesentlich auch die Strophenform bei: die in der französischen Lyrik durchaus ungewöhnliche Terza rima; das Gedicht steht in Terzinen, die sich potentiell unendlich verketten lassen. In excelsis Mieux que l’aigle chasseur, familier de la nue, Homme ! monte par bonds dans l’air resplendissant. La vieille terre, en bas, se tait et diminue. Monte. Le clair abîme ouvre à ton vol puissant Les houles de l’azur que le soleil flagelle. Dans la brume, le globe, en bas, va s’enfonçant. Monte. La flamme tremble et pâlit, le ciel gèle, Un crépuscule morne étreint l’immensité, Monte, monte et perds-toi dans la nuit éternelle.52 

Der Aufstieg im Ballon endet nach drei Strophen in der „nuit éternelle“ des Weltraums, in dem der Forscher sich verliert. Die Mission scheitert also, sie scheitert gewissermaßen an ihrem eigenen, scheinbaren Erfolg – der Forscher steigt zu hoch. Die Auflösung im leeren Weltraum ist in der vierten Strophe auch eine syntaktische; verblos werden Abgrund, Sprachlosigkeit, Blindheit aneinandergereiht: Un gouffre calme, noir, informe, illimité, L’évanouissement total de la matière Avec l’inénarrable et pleine cécité. 

Dieser materielle Aufstieg wird in den abschließenden drei Strophen mit einem Aufstieg des Geistes parallelisiert, ja, eher noch setzt der Geist den Aufstieg des Körpers sogar fort: So wie der „Homme“ apostrophiert wurde, wird nun der „Esprit“ angesprochen, der zum ‚Licht‘ streben soll.

Fleurs – Poésies diverses – Les Destins – Le Zénith, Paris o.J., S. 247–261. Caroline de Mulder nennt auch weitere Beispielgedichte (vgl. de Mulder, „Leconte de Lisle aéronaute S. 390). 52 Charles Leconte de Lisle, „In excelsis“, in: ders., Poèmes barbares, Claudine Gothot-Mersch (Hrsg.), Paris 1985, S. 206. Von derselben Seite stammen auch die weiteren Zitate aus dem Gedicht.

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Esprit! Monte à ton tour vers l’unique lumière, Laisse mourir en bas tous les anciens flambeaux, Monte où la Source en feu brûle et jaillit entière.

Diese Lichtmetaphorik der Erkenntnis setzt Leconte de Lisle in den folgenden Strophen teils fort, teils flankiert er sie durch den Gedanken einer „Échelle infinie“, die der Geist emporsteigt, wobei er frühere, scheinbare Gewissheiten hinter sich lassen soll – sie werden in Gestalt von Göttern in Gräber verbannt. De rêve en rêve, va! des meilleurs aux plus beaux. Pour gravir les degrés de l’Échelle infinie, Foule les dieux couchés dans leurs sacrés tombeaux.

Einerseits evoziert diese ‚unendliche Leiter‘ also den epistemischen Fortschrittsoptimismus, andererseits die traditionelle Vorstellung der scala naturae, des hierarchisch und sinnvoll geordneten Kosmos, der auf Gott hinführt. Indessen ist Gott aus Leconte de Lisles Universum gestrichen, wie bereits am Titel des Gedichts abzulesen ist: In excelsis verkürzt den Hymnentitel „Gloria in excelsis Deo“ insbesondere um „Deo“. Der Aufstieg führt in einen leeren Himmel. Und er führt nicht durch einen sinnvollen Kosmos, denn auch „gloria“ ist aus dem Titel entfernt, die ‚Ehre‘, die Gott erwiesen wird, den man als Stifter und Garanten einer kosmischen Ordnung erkannt hat, womit auf die Fruchtlosigkeit des menschlichen Erkenntnisstrebens hingewiesen wird.53 Der Aufstieg ist eine leerlaufende Bewegung, die ihre einzige Ordnung in der Verkettung der Terzinenstrophen findet. So folgt denn auch übergangslos auf die verbannten Götter von Vers 18 der Zusammenbruch des Erkenntnisstrebens. In einem sinnlosen Universum kann dies nicht die Strafe für eine prometheische Selbstüberhebung sein. Vielmehr stellt es eine Grundbedingung des Menschen dar. Schon zuvor war der Geist ja nur „De rêve en rêve“ geeilt, also von einer ungesicherten Vorstellung zur nächsten, – Vorstellungen, die zudem ironisch als ‚die besten und die schönsten‘, charakterisiert worden waren: menschliche Erkenntnisse sind grundsätzlich nur scheinbare Erkenntnisse. Dies wird auch bekräftigt durch die Imperative, die das

53 De Mulder hat bereits auf Leconte de Lisles Streichungen im Hymnentitel hingewiesen. Sie wertet die Tilgung von „Deo“ jedoch als eine blasphemische Herausforderung der religiös-göttlichen Ordnung durch die Wissenschaft, die Leconte de Lisle als solche positiviere. Insofern sieht sie im Protagonisten des Gedichts auch einen „martyr de la science“ gefeiert (vgl. de Mulder, „Leconte de Lisle aéronaute“, S. 393). Indessen erscheint In excelsis grundsätzlich erkenntnispessimistisch, denn die beiden Streichungen laufen, wie angedeutet, auf eine Streichung der Idee eines sinnvollen, intelligiblen Kosmos hinaus, womit Leconte de Lisle eine nach Erkenntnis strebende „science“ generell als sinnlos ausweist.

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Gedicht durchziehen. Der nicht weiter in Erscheinung tretende Sprecher spornt Mensch und Geist unentwegt an, weiter emporzusteigen – in vollem Bewusstsein, dass dieses Streben scheitern muss, denn auch das Sich-Verlieren im Weltraum ist als Imperativ formuliert: „Monte, monte, et perds-toi dans la nuit éternelle“. Dies wird dem Geist indessen erst auf einer der höheren ‚Stufen‘ der Leiter klar. Indem sich die Erkenntnishoffnungen als leer erweisen, beginnt auch hier die Syntax zusammenzubrechen; über ein bloß zeigendes „voici“ werden Substantive aneinandergereiht, die in ihrer Ungeordnetheit wohl einem geistigen Zustand nach der Erkenntnis der Unmöglichkeit von Erkenntnis korrespondieren sollen: Leconte de Lisle zeigt einen Kampf der Affekte, aus dem die unversöhnte Absage an das Streben nach Erkenntnis erwächst. L’intelligible cesse, et voici l’agonie, Le mépris de soi-même, et l’ombre, et le remord, Et le renoncement furieux du génie. Lumière, où donc es-tu? Peut-être dans la mort.

Wenn im Schlussvers des Gedichts das Licht noch einmal aufgenommen wird, dann ist es um seine primäre Erkenntnismetaphorik gebracht. Die Erkenntnis, die das Licht noch versprechen könnte, ist nichtig, denn sie geht mit der Auflösung des Geistes im Tod einher. Der thematische Bezug auf zeitgenössische wissenschaftlich-technische Unternehmungen dient Leconte de Lisle also dazu, menschliche Erkenntnisfähigkeit grundsätzlich zu hinterfragen.

V Heredia, Le Bain: Analyse der Mythologie im Zeichen der Gegenwart Zuletzt möchte ich zu einer poetischen Wissenschaftsanalogie auf der Ebene der Verfahren zurückkehren, eine Analogie der stärksten Art, denn sie zielt auf das zentrale Charakteristikum von Wissenschaft: Hier erhebt ein Gedicht selbst analytische bzw. kognitive Ansprüche – und setzt sich damit in Opposition zu dem voll Pathos formulierten lyrischen Erkenntnispessimismus von In excelsis. Solch ein Fall eines analytischen Anspruchs liegt in Heredias Gedicht Le Bain vor, in dem in der Wahrnehmung eines Beobachters Ross und Reiter, die sich in die Brandung stürzen, zu einem einzigen Wesen zu verschmelzen scheinen – womit das Gedicht eine Ätiologie des Zentauren liefert.54

54 Vgl. Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 66. Dort hatte ich diesen analytischen Anspruch aus

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Le Bain L’homme et la bête, tels que le beau monstre antique, Sont entrés dans la mer, et nus, libres, sans frein, Parmi la brume d’or de l’âcre pulvérin, Sur le ciel embrasé font un groupe athlétique. Et l’étalon sauvage et le dompteur rustique, Humant à pleins poumons l’odeur du sel marin, Se plaisent à laisser sur la chair et le crin Frémir le flot glacé de la rude Atlantique. La houle s’enfle, court, se dresse comme un mur Et déferle. Lui crie. Il hennit, et sa queue En jets éblouissants fait rejaillir l’eau bleue; Et, les cheveux épars, s’effarant dans l’azur, Ils opposent, cabrés, leur poitrail noir qui fume, Au fouet échevelé de la fumante écume.55

Das Gedicht ist Teil eines Subzyklus innerhalb von Les Trophées; es steht in der Sonettreihe La Mer de Bretagne. Anders als die meisten anderen Teile des Bandes bezieht sie sich nicht auf Gegenstände der Vergangenheit, sondern verortet sich in der Gegenwart. Zunächst eine unbestimmte bzw. zeitlose Gegenwart der Natur, ist diese Gegenwart aber an Heredias Gegenwart rückgebunden, und zwar durch das erste Sonett der Reihe. Es ist Le peintre betitelt und einem Landschaftsmaler gewidmet, der mit Heredia befreundet war. Zu den bevorzugten Sujets jenes Emmanuel Lansyer gehörten in der Tat bretonische Seestücke.56 Insofern tritt in ihr auch kein Zentaur auf: Im szientistischen Zeitalter ist das Mythologicum des Zentaur nur noch Redegegenstand, insofern es erklärt wird. Über die Inszenierung eines entmythologisierenden Erkenntnisgestus lässt Mythologie sich hier als Gegenstand in Lyrik der Gegenwart retten. Gleichwohl schwingt ein gewisses Bedauern über die Entzauberung dieses doppelt verlorenen Zentauren mit – doppelt verloren, da in der falschen Zeit, der Moderne, und am falschen Ort, in der ‚barbarischen‘ Bretagne, nicht im Mittelmeerraum. Diese Verlorenheit drückt sich auch in der Titulierung der mythologischen Figur als negativ konnotiertes ‚Monstrum‘ aus, während zugleich das Bedauern im

Platzgründen nur behaupten können; jetzt möchte ich diese Behauptung durch meine Interpretation belegen. 55 Vgl. Heredia, Les Trophées, S. 168. 56 Vgl. ebd., S. 163 u. 334.



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spannungsreich gekoppelten Adjektiv „beau“ aufklingt, ein Bedauern, das sich fortsetzt in der Szenerie, insofern sich der scheinbare Zentaur in ein erhabenes Naturschauspiel – eine Entfaltung elementarer Kraft mit mächtig anschlagenden Wellen und einem spektakulären Sonnenuntergang – gewissermaßen als dessen Abbreviatur einfügt. Der Zentaur wird nun allein in der Wahrnehmung des Rosses und seines Reiters evoziert. Bezeichnenderweise wird er denn auch in einem Vergleich, also keiner Existenzaussage, im ersten Vers eingeführt: „tels que le beau monstre antique“. Dass diese wenn sich auch täuschende Wahrnehmung gleichwohl ‚nicht ungerechtfertigt‘ ist, wird durch die Unpersönlichkeit des Sprechers bzw. Beobachters suggeriert, der wiederum deiktisch gar nicht in Erscheinung tritt: Ein jeder könnte einen solchen Blick auf das Phänomen werfen. Vor allem aber unternimmt das Gedicht vom zweiten Vers an die Rechtfertigung dieser Wahrnehmung von Pferd und Reiter als miteinander verschmolzen. Dazu konstruiert es syntaktisch und semantisch ihre Einheit. Darin liegt meines Erachtens auch der analytische, letztlich entmythologisierende Gestus des Gedichts: Zuerst wird der Zentaur über den Vergleich ins Spiel gebracht, und dann werden Beobachtungen bzw. Beschreibungen angeführt, die diesen Vergleich stützen – bevor die Verschmelzung wieder aufgelöst und als nur scheinbare ausgewiesen wird. Wie geht Heredia dabei vor? Mensch und Tier werden, wie angedeutet, zum einen semantisch miteinander verbunden, und zwar in der ‚monströsen‘ Spannung, die den antiken Zentaur auszeichnete, über Gegensätze: so im ersten Vers des zweiten Quartetts, wo der syntaktische Parallelismus von „étalon sauvage“ und „dompteur rustique“ mit einem semantischen Chiasmus einhergeht. Außerdem wird ihre hierarchische Austauschbarkeit suggeriert; in Vers 1 steht der Mensch an erster Stelle des Syntagmas, in Vers 5 das Pferd. Zum anderen – und dies ist Heredias Hauptstilmittel in diesem Gedicht – werden sie syntaktisch miteinander verschmolzen. In der ersten und zweiten Strophe haben die Sätze stets ein zweigliedriges Subjekt – Mensch und Tier –, das jeweils nur ein Verb regiert: Mensch und Tier ‚tun‘ also jeweils dasselbe. Auch in den beigegebenen Adjektiven oder adverbialen Ausdrücken wird syntaktisch nicht spezifiziert, auf wen sie sich beziehen: „nus, libres, sans frein“. In der vierten Strophe ist der Effekt sogar gesteigert, denn hier besteht das Subjekt nicht mehr aus zwei Gliedern, sondern Mensch und Tier werden in „ils“ und in der Fügung „leur poitrine“ possessivisch sogar in „leur“ zusammengefasst. Sie haben quasi nur noch eine (einzige, gemeinsame) Brust. In der dritten Strophe befindet sich, wie es sich für ein regelrechtes Sonett gehört, der Umschlagpunkt des Gedichts, der in der vierten Strophe zur grammatischen Verschmelzung im gemeinsamen Personalpronomen führt. Bezeichnen-

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derweise wird er markiert über den einzigen Satz des Gedichts, der ein anderes Subjekt hat als Mensch und/oder Pferd. Es ist „la houle“, der Seegang, die Welle.57 Das Tempo zieht an: Wölbten sich in den Quartetten die Satzkonstruktionen jeweils über die gesamte Strophe und fand man maximal zwei finite Verben in vier Versen, folgen die Verben nun nahezu asyndetisch und zumeist ohne complément, ohne nähere Bestimmung, aufeinander. Die Welle schlägt über der Gruppe zusammen, „Et déferle“, – was effektvoll-abbildend im rejet steht, ‚abgebrochen‘ und in den zweiten Vers der Strophe verschoben ist. Dieses Zusammenschlagen über Ross und Reiter bewirkt die Verschmelzung. Das Motiv der Verschmelzung scheint dadurch noch gesteigert, dass die Reaktion von Mensch und Pferd auf das Brechen der Welle sexuell konnotiert ist. Der Kraftentladung der Welle korrespondiert eine orgastische Energieentladung der beiden ‚Landwesen‘, wenn sie in unartikulierte Laute ausbrechen und der um sich schlagende Schweif das Wasser „en jets éblouissants“ aufspritzen lässt. Doch erscheint diese ‚Vereinigung‘ zugleich ironisiert. Das Zusammenschlagen der Welle lässt Mensch und Pferd nämlich syntaktisch – im Gegensatz zu der sonstigen Tendenz des Gedichts – auseinandertreten: „Lui crie. Il hennit“. Diese beiden Sätze sind ebenso kurz und einfach wie die vorangegangen Verbalkonstruktionen, die sich die Welle als Subjekt teilten. Auch wenn sie syntaktisch und semantisch parallel gebaut sind, tritt im Vergleich mit den ersten beiden Strophen doch nur umso stärker die Trennung von Mensch und Tier in zwei Subjekte und ihre Verteilung auf zwei verschiedene Sätze hervor, trotz der Ambivalenz, die zunächst durch die gleichermaßen gegebene Beziehbarkeit von „lui“ und „il“ geschaffen wird, denn sie wird in der Fortsetzung des zweiten Satzes gleich wieder beseitigt – einen Schweif hat nur das Pferd. Medium der Verschmelzung ist also letztlich nicht eine Natur, Mensch und Pferd inhärente und gemeinsame Lebenskraft, sondern die Welle, die beide umfängt und dem Blick teilweise entzieht.58 Der Effekt ist also ein rein optischer: In der Gischt lösen sich die Konturen auf, wie an den zerzausten Haaren zum Ausdruck kommt. Dass die Verschmelzung durch die Welle bewirkt wird, ist auch daran erkennbar, dass nicht nur Mensch und Pferd verschmelzen, sondern sich auch andere Grenzen auflösen: Das Wasser ist ebenso blau wie der Himmel; auch

57 Als wolle er einen ‚fließenden‘ Übergang gestalten, bereitet Heredia diesen Wechsel des Agens schon im letzten Satz des zweiten Quartetts vor: „[L’étalon et le dompteur] Se plaisent à laisser sur la chair et le crin / Frémir le flot glacé de la rude Atlantique“. 58 Den Hinweis Yann Mortelettes, eine über Evolutionstheorien vermittelte Verwandtschaft von Mensch und Tier könne Heredia in Le Bain eine Erklärung des Zentaurenmythos suggeriert haben, halte ich daher auch für verfehlt (vgl. Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 143).



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die Welle zeigt eine zerrissene Struktur, so wie die Haare von Ross und Reiter durcheinandergeraten sind, und ihre Brust dampft ebenso wie die Gischt. In dieser Präsentation des Zentaurs als optischer Täuschung bzw. als optischem Effekt liegt der entmythologisierende Charakter des Gedichts. Remythologisierend wäre es zu nennen, wenn es in der Verschmelzung zum Zentaur gipfeln würde, wenn also etwa der Term ‚Zentaur‘ erst am Ende fiele – und so das mythologische Wesen in der Moderne leibhaftig gegenwärtig würde, ähnlich wie beispielsweise in Walter Paters Imaginary Portraits antike Götter im christlichen Mittelalter gegenwärtig sind,59 oder, motivisch näher an Heredia, ein Zentaur in Gabriele d’Annunzios Gedicht La morte del cervo aus dem toskanischen Fluss Serchio steigt. Dort hält ein Beobachter ihn zunächst für einen Menschen, da der Pferdeleib ganz im Wasser verborgen ist, um sodann über vierzig Strophen lang Zeuge eines Kampfes zwischen dem Zentauren und einem kapitalen Hirsch zu werden: einer wenn auch zerstörerischen, doch dithyrambisch gefeierten Entfaltung vitaler Kraft.60 Bei Heredia scheint sich die Gestalt in ironischer Weise gerade im Moment der optischen Verschmelzung phonetisch-lexikalisch gleich wieder aufzulösen. Denn das Pferd, das „cheval“, ein Wort, das im übrigen Gedicht aufgrund seiner unheroischen Stillage sorgsam vermieden ist, ist in der Schlussstrophe versteckt gegenwärtig, und zwar klanglich in den Wörtern „cheveux“ und „échevelés“ – es schimmert klanglich genauso durch die letzte Strophe hindurch wie das Pferd durch die aufspritzende Gischt.

VI Fazit Mein Durchgang durch die Gedichte hat, so denke ich, die Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit des Zugriffs auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit bei den Parnassiens gezeigt; daran wird in gewissem Grade auch die Heterogenität ihrer

59 Vgl. Paters „Denys L’Auxerrois“ und „Apollo in Picardy“ – jeweils „a quaint legend“, eine ‚bizarre Legende‘, so die Charakterisierung, die der Erzähler des ersten Textes für diese Art von Epochen kreuzenden Geschichten selbst wählt (Walter Pater, Three Major Texts. The Renaissance, Appreciations, and Imaginary Portraits, William E. Buckler [Hrsg.], New York 1986, S. 263). 60 Vgl. Gabriele d’Annunzio, „La morte del cervo“, in: ders., Versi d’amore e di gloria, Bd. 2, Annamaria Andreoli/Niva Lorenzini (Hrsg.), Mailand 1984, S. 552–557. Dieser knappe Hinweis erschöpft das Gedicht natürlich nicht, das eine eingehende Interpretation verdiente. Seine letzten beiden Verse deuten auch eine höhere Komplexität hinsichtlich Verortung und Status des zuvor geschilderten Geschehens an: „Sparve Ombra labile / verso il Mito nell’ombre del crepuscolo“ (ebd., S. 557).

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Lyrik deutlich, die ich eingangs benannt habe. Es hat sich gezeigt, dass inhaltlichthematische Bezugnahmen diametral entgegengesetzte Motivationen und Funktionen haben können. Keineswegs ist die Aufnahme antiker Elemente mit einer Klage über die ‚Entzauberung der Welt‘ zu verrechnen. Ebenso wenig stimmen die Parnassiens unisono in den Chor der Fortschrittsskeptiker ein. Bei Sully Prudhomme sind die Bezugnahmen auf Wissenschaft und Technik Gegenstand traditioneller Enkomiastik – sie dienen einem Lob des menschlichen Entdeckergeists, der ein übergreifendes anthropologisches Phänomen ist, wie die kontinuitätsstiftende poetische Diktion unterstreicht. Dieser Entdeckergeist manifestiert sich im technischen Fortschritt gewissermaßen nur auf besonders deutliche Weise. Bei Leconte de Lisle war hingegen zu sehen, wie der Bezug auf zeitgenössische Flugexperimente kritisch-entlarvend dazu verwendet wird, die Grenzen und die letztliche Vergeblichkeit menschlichen Erkenntnisstrebens zu reflektieren. Daneben standen bei Heredia Analogiebildungen auf der Ebene der Verfahren, um methodische Ideale und analytische Strukturen zu übertragen. Auch die Spannung oder, wie meines Erachtens bei Heredia, das Ineinandergreifen von Wissenschaftsbezug und literarisch autonomer Artistik ist deutlich geworden. Ebenso, wie die literarische Faktur in traditionellen Elementen den thematisch propagierten Neuheitsanspruch unterlaufen können, wie bei Sully Prudhomme. Eine thematische Moderne kann mit traditioneller Bildlichkeit – nahezu bis zu ihrer Aufhebung – ornamental verblendet oder soweit abstrahierend ausgedünnt sein, dass ihre symbolische Überformung die technische Motivik ganz in den Hintergrund rückt. Andererseits bewirkt die Anverwandlung einer unpersönlichen Optik, wie in Heredias Bain gesehen, gerade die entmythologisierende Ironisierung traditioneller Bilder und Motive, ohne indessen die Formen und stilistischen Parameter lyrischen Sprechens notwendigerweise zu sprengen. Allen betrachteten Texten gemeinsam war der Verzicht auf ein einzelnes, fühlendes Subjekt als Perspektivträger oder Protagonist. Auch wo solche Perspektivträger nicht ganz getilgt sind, denke man nur an den entsubjektivierenden Plural der „sondeurs“ bei Sully Prudhomme oder dem durch die Majuskel zum allgemeinen Menschheitsvertreter aufgerückten „Homme“ bei Leconte de Lisle. An weiteren Texten bliebe jetzt zu fragen, auf welche Weise spezifisch humanwissenschaftliches Wissen – archäologisches, historisches, auch mythographisches – in die Gedichte Eingang findet, beispielsweise in die mythologischen Langgedichte Leconte de Lisles, und welche Funktionen es dort erfüllt. Zu fragen ist freilich auch, welche poetologischen Gründe es dafür gibt, dass die Parnassiens auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit zurückgreifen. Diese Gründe sind gewiss mit der Frage nach der poetologischen Nachfolge der Romantik verknüpft. Dies ist ein Streit, den die Parnassiens nach beiden Seiten führen, gegen die etablierten Romantiker auf der einen und gegen die sich etablierenden Realis-



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ten und Naturalisten auf der anderen Seite, die auch noch schwerpunktmäßig mit anderen, narrativen Gattungen operieren. Das aber wäre Gegenstand eines weiteren Aufsatzes. Nur so viel sei abschließend genannt: Die Parnassiens sehen sich dem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, lyrisches Schreiben zu begründen, sobald der unmittelbare Selbstausdruck dafür ausfällt, weil er als erschöpft, epigonal etc. angesehen wird: Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit sollen die Wahrheit eines Gedichts garantieren, da die ‚Wahrheit des Subjekts‘ und seines Gefühls schal geworden ist. Und zugleich bleiben die Lyriker gegenüber naturalistischen Romanciers, die ein Verschwinden der Lyrik als unzeitgemäßen, da vorwissenschaftlichen literarischen Ausdrucks prophezeien, im Kampf um die Definition von Literatur diskursiv satisfaktionsfähig.61

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61 Vgl. Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 65 sowie v.a. S. 53–59 zu einer ersten Skizzierung der poetologischen Frontstellung gegen die Romantik. Zu diesem Kampf um die Diskurshoheit vgl. insbesondere Hufnagel, „Parnasse und Polemik“.

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Hugues Marchal (Bâle)

Sully Prudhomme ou le lyrisme de la perte des repères Abstract: Der Artikel widmet sich dem ersten Nobelpreisträger für Literatur, Sully Prudhomme (1839–1907), der heute kaum noch gelesen wird. Insbesondere der Versuch Sully Prudhommes, Poesie und zeitgenössische Epistemologie miteinander zu verbinden, scheint seine Dichtung unpopulär gemacht zu haben, setzt sie sich damit ja dem romantischen Vorwurf aus, dass ihr ein persönlicher Gefühlsgehalt abgehe. Der Beitrag will die Frage beantworten, warum Sully Prudhomme es für geboten hielt, dass Dichtung sich nicht von Wissenschaft isoliere. Dazu verortet er Sully Prudhommes Werk im Kontext der ästhetischen und ideologischen Debatten, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts um eine Poesie der Wissenschaft geführt wurden, und zeigt, wie Sully Prudhomme Gefühlsausdruck und ‚Abenteuer des Geistes‘ miteinander zu verbinden versucht: über das Konzept einer eigenen Art von Emotionalität der Wissenschaftsrezeption. En affirmant en 1917 que la poésie scientifique avait constitué depuis les années 1750 « toute une littérature, parfaitement vivante »,1 Casimir Fusil pouvait s’appuyer sur une réalité éditoriale. Soit qu’on définisse avec lui cette poésie comme « celle qui fait directement sortir l’émotion des découvertes de la science et de ses chiffres, ou qui se meut dans la zone où la philosophie voisine avec la science »,2 soit qu’on préfère avec René Ghil caractériser le genre par un souci, plus vague, de « pren[dre] thème en les connaissances d’alors »,3 une telle ambition a marqué au XIXe siècle des centaines de volumes, les parutions se succédant à un rythme soutenu, avec un véritable pic de 1820 à 1870 environ.4 L’affirmation de Fusil va 1 Casimir Fusil, La Poésie scientifique de 1750 à nos jours: son élaboration, sa constitution, Paris 1917, p. 24. – Le présent article, qui s’inscrit dans le cadre du programme ANR/DFG « Biolographes » et du programme FNS « Reconstruire Delille », a bénéficié d’échanges menés de longue date avec Nicolas Wanlin. 2 Ib., p. 9. 3 René Ghil, Les Dates et les œuvres, Paris 1923, p. xi. 4 Je me permets de renvoyer aux travaux de l’équipe ANR Euterpe, en particulier à l’anthologie Muses et ptérodactyles (Hugues Marchal [dir.], Muses et ptérodactyles : la poésie de la science de Chénier à Rimbaud, Paris 2013), et, pour une analyse statistique des parutions, à Muriel Louâpre, « La poésie scientifique: autopsie d’un genre », in: Muriel Louâpre/Hugues Marchal/Michel Pierssens (éd.), La Poésie scientifique, de la gloire au déclin, 2014, URL : http://www.epistemocritique.org/spip.php?rubrique74, pp. 21–42 (consulté le 30/01/2014).

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pourtant à l’encontre d’une vision traditionnelle, selon laquelle l’avènement du romantisme a sonné, en France au moins, le glas de l’alliance entre poésie et savoir positif. Car l’histoire littéraire dominante a, certes, voulu retenir que le public de la Révolution et du Premier Empire s’est passionné pour les longs poèmes de Jacques Delille – comme L’Homme des champs (1800), qui exposait la théorie géologique de Buffon, ou Les Trois Règnes de la nature (1808), parcours en vers de l’état contemporain des sciences naturelles, complété par des notes en prose assurées par des savants aussi prestigieux que Cuvier. Cette même histoire littéraire sait aussi que Delille fit école, au point que cette poésie (qu’on la nommât didactique, démonstrative, descriptive, expositive ou scientifique) parut un temps avoir détrôné l’épopée au sommet de la hiérarchie esthétique.5 Mais cet apogée est présenté comme un chant du cygne : dans la mesure où, après la mort de Delille, en 1813, son œuvre comme les nouvelles tentatives pour unir science et poésie furent violemment attaquées, on a estimé que ces productions rémanentes avaient occupé une position mineure, voire anachronique, au regard de la constitution de l’esthétique moderne. Or la valorisation du lyrisme et le postulat de son absence au sein de la poésie scientifique ont joué un rôle prépondérant dans cette disqualification, et si Sully Prudhomme mérite d’être lu attentivement dans ce cadre, c’est que ses textes comme sa poétique affrontent directement cette tension, non pour revenir au modèle de Delille, mais en intégrant des controverses qui ont modifié le champ esthétique durant son propre siècle.

I Situation de Sully Prudhomme René Prudhomme, dit Sully Prudhomme, est né en 1839 et mort en 1907. Se destinant à l’École Polytechnique, il entame des études scientifiques qu’une grave maladie le force à interrompre, mais sa fortune personnelle lui permet de mener une carrière littéraire qui débute avec la publication en 1865 des Stances et poèmes, un recueil de poésies sentimentales, souvent élégiaques. Une seule pièce des Stances, Le vase brisé, qui compare le cœur d’un amant blessé à un vase fêlé par « un coup d’éventail »6 et que le moindre contact brisera, vaut à Sully Prudhomme une célébrité immédiate. Il se rapproche alors du 5 Sur cette promotion, voir l’anecdote attribuée à Lemercier dans Ernest Legouvé, Soixante ans de souvenirs, Paris, t. I, 1886, p. 73; et, pour une analyse théorique de cette substitution du poème savant à l’épopée, Jean-Louis Haquette, « Les projets d’épopée de la nature au XVIIIe siècle », in : Frank Greiner/Jean-Claude Ternaux (éd.), L’Epopée et ses modèles de la Renaissance aux Lumières, Paris 2002, pp. 55–70. 6 Sully Prudhomme, Œuvres, t. I, Paris, s.d. , p. 13.



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Parnasse, pour affiner sa maîtrise technique du vers et de formes brèves comme le sonnet, mais reprend assez vite ses distances. En effet, la décennie suivante le voit porter au premier plan de ses œuvres des thèmes philosophiques et scientifiques dont la présence était jusque là restée discrète,7 et privilégier des compositions de grande ampleur, qui lui permettent de mener une réflexion suivie. Ce tournant devient manifeste en 1876, avec la publication du Zénith, longue pièce en vers inspirée par une catastrophe aéronautique, au cours de laquelle deux jeunes savants périrent à bord du ballon du même nom. Ce texte est suivi dès 1878 par une traduction du premier livre du De natura rerum de Lucrèce et par La Justice, vaste poème méditant sur le darwinisme. Signe de la place désormais dévolue aux sciences, un recueil rassemblant en 1879 des textes brefs, issus de la première période ou produits plus récemment, prend pour titre Le Prisme. Or, un an avant que Zola, dans son Roman expérimental, ne propose un rapprochement comparable entre écriture fictionnelle et protocole scientifique, un poème liminaire éclaire la portée du titre choisi par Sully Prudhomme, en renvoyant à la célèbre expérience de diffraction de la lumière par Newton, afin de présenter le volume – et sa part de lyrisme personnel – comme le résultat d’une analyse analogue à celle des savants. Le locuteur nous livre sa composition au double sens du terme, les différents textes s’assimilant à autant de réactions induites : Comme un rayon solaire, au sortir de sa source Droit et blanc, s’il rencontre un prisme dans sa course, Au choc s’y décompose et d’un spectre irisé Va colorer l’écran qui le reçoit brisé, L’âme perd sa candeur en traversant la vie. Le dur milieu terrestre où son essor dévie Par le heurt la divise et lui fait découvrir Tous ses pouvoirs latents d’aimer et de souffrir. Or ce livre, où des ans la diverse influence Varie une chanson que le soupir nuance, Est l’écran diapré par le reflet vivant D’une âme qu’analyse un monde en l’éprouvant.8

En 1888, un dernier poème d’envergure, Le Bonheur, accorde derechef une place massive aux sciences, mais après cette date, l’écrivain, qui ne publiera plus que 7 Quelques textes des Stances et poèmes incluent déjà des références timides à la science contemporaine – évocation d’un conflit où « La raison blasphème, et l’amour / Rêve d’un dieu juste et le proclame » (ib., p. 40), ou appel à la venue d’ « Un Newton pour l’âme de l’homme » (ib., p. 44) – tandis que Les Vaines tendresses (1872) abordent ponctuellement des thèmes comme l’ « Évolution ». 8 Sully Prudhomme, Œuvres, t. V, Paris, s.d., p. 5.

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des pièces en vers brèves et isolées, privilégie des essais en prose. En matière d’esthétique, L’Expression dans les beaux-arts (1884) est complétée par un Testament poétique (1901) rassemblant la matière de différents articles sur l’évolution de la poésie. D’autres traités relèvent de la philosophie, voire de la philosophie des sciences, puisque c’est aussi durant ces années 1890 que le physiologiste Charles Richet, qui dirige la prestigieuse Revue scientifique, demande à Sully Prudhomme une série d’articles sur le problème des causes finales en biologie, auxquels Richet lui-même répond, au fil d’un dialogue réuni en 1901 chez l’éditeur philosophique et scientifique Alcan. Aussi Sully Prudhomme remplit-il pour la poésie scientifique de la Troisième République un rôle de figure de proue analogue à celui de Delille sous le Premier Empire. Élu dès 1881 à l’Académie française, premier prix Nobel de littérature en 1901, l’auteur de La Justice fut couvert d’honneurs en France et à l’étranger, comme son prédécesseur ; comme lui, il bénéficia de la collaboration et du respect de savants majeurs, et comme lui, il écrivit à un moment où la poésie de la science privilégiait les sciences naturelles, par opposition aux années 1840–1870, où ce sont les sciences de l’ingénieur qui ont dominé le genre, autour de motifs comme la vapeur, les machines, le télégraphe, etc. Contrairement à Delille, en revanche, Sully Prudhomme ne fit pas école ; il n’eut pas ses succès de librairie, car La Justice fut un échec commercial, et il considéra in fine sa tentative comme un échec. En 1897, un important article déplore : « demander l’émotion aux aventures de l’intelligence […], ce n’est plus faire œuvre de poète, c’est, du moins, risquer fort d’en perdre le brevet »9 – manière de prendre acte de la virulence des arguments qui condamnaient ce type de démarches.

II Un interdit poétologique et idéologique Considérer que la mise en poésie des sciences allait de soi à l’époque de Delille serait toutefois une erreur. Philippe Chométy a réuni des arguments convaincants pour montrer que les textes les plus anciens, tel le De natura rerum, sont apparus « dans un contexte polémique déjà séculaire », de sorte que « la question de la caducité de la poésie ‘scientifique’ est un lieu commun des relations entre la poésie et la science ».10 Dès 1814, Joseph Lingay affirme que le genre ne rentre 9 Sully Prudhomme, « Vues générales sur le mouvement poétique en France au XIXe siècle », article paru en 1897 dans la Revue des Deux Frances et cité dans Sully Prudhomme, Testament poétique, Paris 1901, p. 8. 10 Philippe Chométy/Hugues Marchal, « Poésie scientifique », in: Alain Montandon/Saulo Neiva (dir.), Dictionnaire raisonné de la caducité des genres littéraires, Genève 2014, pp. 661–682, p. 663.



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dans aucune catégorie  : son hybridité «  le place, dans les bibliothèques, entre les limites de la physique et de la poésie, sans lui donner un rang dans l’une ni dans l’autre ».11 Infertile, il constituerait une case vide, comme si la tentative d’entre-dire ces champs débouchait nécessairement sur sa propre interdiction. Or les deux systèmes esthétiques qui négocient à cette époque leur succession fournissent des éléments à charge dans ce procès. L’esthétique classique admettait déjà difficilement la validité d’une poésie vouée à exposer des faits positifs. Marqués par Aristote, ses théoriciens se souviennent que pour le philosophe les œuvres versifiées d’Empédocle n’étaient pas des poèmes, faute de présenter un caractère fictionnel. Au sein de tels traités, seules les portions narratives inventées (les épisodes), qui se rapprochent de l’épopée, peuvent donc être pleinement considérées comme poétiques, reproche auquel Delille a constamment dû faire face. Toutefois, la poésie scientifique se trouvant validée par une tradition antique incluant Lucrèce et le Virgile des Géorgiques, le genre ne peut être entièrement rejeté : il est problématique, mais son existence n’est pas remise en cause ; elle peut au contraire servir à rejeter la nécessité de la fiction.12 Si le romantisme vient compliquer les données du problème, c’est qu’il promeut pour la poésie un critère définitoire alternatif, tout en autorisant la théorie littéraire à lier la vie des genres à celle des civilisations. Des auteurs comme Staël ou Sainte-Beuve reprochent au poème scientifique, non l’absence d’une fable, mais un défaut de lyrisme – concept redéfini comme le discours d’un sujet sensible, la présence massive d’un moi ému, ou, pour reprendre l’expression de Sully Prudhomme, une « poésie personnelle ».13 Dès 1810, dans De l’Allemagne, Staël explique que l’expression des « affections vives et profondes » de l’auteur doit caractériser la poésie, de sorte que « traduire en vers » un savoir « fait pour rester en prose » comme la chimie et nommer le résultat poème forme «  un tour de passe-passe en fait de paroles ».14 En 1835, Sainte-Beuve, qui parle d’une « ruine complète »15 de l’école de Delille, réduit également cette production à la mise en vers d’un discours déjà disponible, et il estime que « la poésie [y] était morte en esprit ».16

11 [Joseph Lingay], Éloge de Delille et critique de son école, Paris 1814, p. 28–29. 12 Voir notamment l’article « Didactique » in: Jean-François Marmontel, Éléments de littérature [1787], S. Le Méhanèze (éd.), Paris 2005, pp. 406–411. 13 Sully Prudhomme, Testament poétique, p. 10. Pour un présentation plus nuancée du lyrisme romantique, voir Yves Vadé, « L’émergence du sujet lyrique à l’époque romantique », in: Dominique Rabaté (dir.), Figures du sujet lyrique, Paris 1996, pp. 11–37. 14 Germaine de Staël, De l’Allemagne [1810], S. Balayé (éd.), Paris 1990, t. I, p. 208. 15 Charles-Augustin Sainte-Beuve, « Poètes et romanciers de France : Jacques Delille », in : Revue des deux mondes, 11/1837, 1er août, pp. 273–302, p. 274. 16 Ib., p. 302.

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Davantage, il explique que l’évolution même des sciences, devenues trop spécialisées et trop complexes, rompt pour la modernité les possibilités d’un dialogue qui n’aura fait sens qu’aux époques où les savoirs positifs naissaient.17 À la fin du siècle, ces arguments forment une doxa sensible, par exemple, dans un manuel scolaire de 1897 qui condense l’interdit jusqu’à la caricature et qui éclaire le jugement désabusé que Sully Prudhomme a pu porter sur sa création : la science, en tant que telle, demeure en dehors de la poésie ; et ce mot de science enveloppe tout ce qui est connaissance pure, tout ce qui est proprement et uniquement intellectuel : mathématiques, physique, chimie, psychologie expérimentale, puisqu’on veut réduire à la science les phénomènes psychologiques. […] Ce qui est précisément du domaine de la poésie […] c’est ce qui relève surtout de la sensibilité et de l’imagination, ce qui est le plus littéraire, ce qui excite en nous cette activité harmonieuse, facile, charmante, où l’âme jouit d’elle-même sans s’appliquer à la réalité des choses, tout entière au mirage des formes et aux sentiments qu’elles éveillent.18

Mais ces critères internes n’épuisent pas la question du lyrisme. En 1886, l’historien des lettres Jeanroy-Félix défend une vision de l’école de Delille dont luimême souligne qu’elle heurte ce lieu commun, et qui, pour être exceptionnelle, montre que le débat n’était pas clos : Contrairement à l’opinion vulgaire, la poésie didactique rentre dans la poésie subjective et non dans la poésie objective. Ce caractère, qui la  distingue des autres genres, la rapproche de la poésie lyrique. Oui, au lieu de faire parler des personnages étrangers, le poète didactique trouve aussi l’occasion de parler en son propre nom, d’exprimer ses sentiments, ses aspirations, ses pensées ; il est véritablement un poète personnel, privilège refusé aux poètes tragiques, comiques, épiques, qui ne sont que les porte-voix des passions d’autrui.19

Il existe de fait un lyrisme particulier à la poésie de la science, et que SainteBeuve lui-même reconnaît implicitement à Delille, quand il accepte de sauver dans son œuvre quelques passages épars, où s’exprime un enthousiasme pour les découvertes, la complexité de la nature ou la grandeur héroïque des savants.

17 Commentant une formule de Chênedollé, qui justifiait l’échec de son Génie de l’homme (1807) par le caractère encore trop « vert » des savoirs qu’il avait évoqués, Sainte-Beuve répond : « Non, la poésie de la science est bien à l’origine ; les Parménide, les Empédocle et les Lucrèce en ont recueilli les premières et vastes moissons. Arrivée à un certain âge, à un certain degré de complication, la science échappe au poète ; le rythme devient impuissant à enserrer la formule et à appliquer les lois » (Charles-Augustin Sainte-Beuve, Chateaubriand et son groupe littéraire sous l’Empire, t. II, Paris 1861, p. 297–298). 18 François Montagnon, Littérature et genres littéraires. Poésie et prose, Lyon 1897, p. 57–58. 19 Victor Jeanroy-Félix, Nouvelle histoire de la littérature française pendant la Révolution et le Premier Empire, Paris 1886, p. 261.



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Mais ce lyrisme n’est guère personnel et la validité de cette posture encomiastique a elle-même été minée au fil du XIXe siècle, à mesure que, pour des raisons sociologiques, idéologiques et religieuses complexes, le sentiment s’est imposé que la science moderne cherchait à tuer « toute la lyre ».20 À l’origine de la charge que le Génie du christianisme mène dès 1802 contre une science accusée de désenchanter le monde, cette hantise est alimentée après 1850 par des discours scientistes et positivistes qui réclament pour la science le primat exclusif de l’autorité symbolique, de l’utilité sociale, du progrès et par lui, de l’avenir même.21 Attisant chez les écrivains des réactions défensives, ces prises de positions poussent de nombreux acteurs du champ littéraire à condamner non seulement toute expression poétique d’un enthousiasme pour les sciences, mais jusqu’à leur simple évocation, qu’ils assimilent à un acte d’obéissance aux volontés hégémoniques des savants, et plus largement, à une forme de traîtrise servile. Dans ce contexte, loin d’être tenus pour des chantres de «  l’intelligence  » comme l’aurait voulu Sully Prudhomme, qui déplore qu’on ne puisse plus «  admirer le puissant génie des arts mécaniques, leurs prodiges qui arrachent de plus en plus l’âme à la servitude matérielle, [et] les célébrer de pair avec les merveilles des beaux-arts  »,22 les poètes dérogeant à l’interdit sont régulièrement taxés de bêtise et de naïveté. Flaubert explique à Du Camp  : «  dans la préface des Chants modernes tu as débité un tas de sornettes passablement déshonorantes, tu as célébré l’industrie et chanté la vapeur, ce qui est idiot et par trop saint-simonien » ; 23 Baudelaire réserve la croyance dans le progrès aux « malheureux cerveau[x] » qui ont « perdu la notion des différences qui caractérisent les phénomènes du monde physique et du monde moral » ; 24 et Jules Romains mobilisera encore en 1909 l’image de la réclame pour attaquer Sully Prudhomme et René Ghil, en posant que « le poète ne doit demander à la science ni un sujet ni une excitation », prêter « aux théorèmes

20 Paul Verlaine, Amour, Paris 1888, p. 61 (« À Louis II de Bavière »). 21 Pour ne citer que deux auteurs, Étienne Vacherot réduit la poésie à « célébrer » la doctrine d’un «  progrès incessant [dont] la science entière aujourd’hui concourt à la démonstration  » (Étienne Vacherot, Essais de philosophie critique, Paris 1864, p. 417–418), tandis que Marcellin Berthelot affirme que « la science domine tout », et que « l’art et la poésie n’atteignent leur perfection que par un étroit accord de leurs conceptions avec [l]es réalités constatées par la science » (Marcellin Berthelot, Science et morale, Paris 1896, p. xii et 42). 22 Sully Prudhomme, Testament poétique, p. 8. 23 Cité par Maxime Du Camp dans ses Souvenirs littéraires, Paris, t. II, 1892, p. 300. 24 Charles Baudelaire, « Exposition universelle. 1855 » [1855], in : id., Curiosités esthétiques. L’Art romantique, H. Lemaire (éd.), Paris 1986, p. 218.

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le souffle et le rythme » revenant toujours à se faire l’ « annoncier, sans gages, des grands laboratoires ».25 Mais le reproche est-il fondé ?

III Interdépendance et autonomie La poésie scientifique du Premier Empire entretient avec le didactisme une relation complexe. Elle n’entend pas délivrer un enseignement simplifié (l’époque dispose déjà pour cela de manuels et d’éléments). Avec l’aval des savants, elle remplit une fonction de légitimation symbolique de la recherche scientifique, au sein d’une culture où la parole poétique offre encore en elle-même un certificat de valeur aux objets qu’elle élit, et elle ambitionne d’intéresser le public aux découvertes nouvelles. Ce statut interdit en théorie aux auteurs de défendre des thèses personnelles ; en revanche il autorise leurs vers à ne présenter que quelques faits « saillants »26, à éviter les termes techniques et les démonstrations suivies, voire à véhiculer des erreurs – des notes en prose, dues au poète ou à des tiers, se chargeant d’affiner le propos, en renvoyant à leur tour vers les sources proprement savantes, à charge pour les lecteurs de pousser plus avant l’apprentissage, s’ils le souhaitent. En ce sens, cette poésie scientifique est à la fois autonome et incitative. Elle n’appartient pas au champ savant, mais celui-ci n’est pas encore séparé du champ littéraire, et parce que le plaisir associé à la parole poétique fait des vers un moyen privilégié pour assurer la communication entre cette sphère scientifique et le reste de la culture, l’activité d’auteurs comme Delille constitue un moyen de maintenir cette unité de la République des Lettres. Comme le résume La Harpe, la poétisation ne permet pas de «  pénétrer dans le sanctuaire de la science », mais « du moins on ne voit plus sur le seuil des monstres qui s’y présentaient en épouvantails ; l’on peut causer sous les portiques avec des hommes de bonne compagnie ».27 Or Sully Prudhomme n’emploie pas de note, dispositif également délaissé par des auteurs comme Hugo, Richepin, Laforgue et bientôt Jarry. Moyen de se désolidariser avec netteté de l’ancienne école, cette stratégie désamorce le reproche assimilant le paratexte à une glose rendue nécessaire par l’obscurité de la composition poétique, ainsi que les critiques jugeant que le renvoi à des publications savantes prouve que l’œuvre n’aura fait que mettre en vers un discours 25 Jules Romains, « La poésie immédiate », in : Vers et prose, octobre-décembre 1909, pp. 90–95, p. 93. 26 M. Le Roux, L’Art entomologique, Versailles 1814, p. 35. 27 Jean-François de La Harpe, Lycée ou Cours de littérature ancienne et moderne [1798–1804], t. XIV, Paris 1825, p. 318–319.



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déjà énoncé en prose. Mais surtout, l’absence de notes explicatives manifeste que le texte n’entend pas aborder un savoir encore ignoré des lecteurs. En éliminant ces annexes, le poème scientifique affiche une indépendance radicale face aux pratiques de vulgarisation, et ce geste a pour corollaire une critique implicite des auteurs appelant la poésie à exclure toute allusion aux sciences. Il revient à poser que la diffusion des savoirs a lieu de facto, que la littérature y participe ou non. Dans un texte posthume de 1892, Albert Aurier enjoint aux symbolistes de « renfermer, si c’est encore possible, les savants envahissants dans leur laboratoire », pour « s’isoler loin de ces milieux d’idées dissolvantes »;28 mais pour Sully Prudhomme, le poète n’a plus la latitude d’ignorer ces idées, qui lui parviennent comme au reste de la société, à moins de vivre lui-même en reclus. Il s’en explique dès le prologue de La Justice, la science modifie nos conceptions et « chanter » en prétendant n’en pas tenir compte équivaut à une dénégation : Comment chanter, pendant qu’un obstiné chimiste Souffle le feu, penché sur son œuvre incertain, Et suit d’un œil fiévreux un atome à la piste, De la cornue au four, du four au serpentin ? Dans les combats légers de l’air avec la feuille Il nous fait voir un gaz attaquant du charbon ; La fleur même pour nous, depuis qu’il en recueille L’âme sous l’alambic, ne sent plus aussi bon. […] Plus de hardis coups d’aile à travers le mystère, Plus d’augustes loisirs ! Le poète a vécu. Des maîtres d’aujourd’hui la discipline austère Sous un joug dur et lent courbe son front vaincu. Il les croit forcément, qu’il sache ou qu’il ignore Où leur propre croyance a trouvé son appui ; La nature est la même et lui sourit encore, Mais il ne la voit plus que par eux, malgré lui.29

Gourmont le redira en 1899, « le temps des belles ignorances est passé »,30 et les derniers vers de la citation qui précède insistent sur le caractère inexorable de cette mutation, comme sur la nécessité d’une double refondation, et de la parole

28 Albert Aurier, « Préface pour un livre de critique d’art », in : Mercure de France, décembre 1892, pp. 309–332, p. 310. 29 Sully Prudhomme, Œuvres, t. IV, Paris, s.d., p. 66–67. 30 Remy de Gourmont, Esthétique de la langue française, Paris 1899, p. 8.

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poétique (« Comment chanter » ?), et du poète lui-même, puisqu’il « a vécu ». Or la réponse de Sully Prudhomme transforme à bien des égards cette difficulté en solution  : incapable de ne pas recevoir les idées scientifiques, le poète parlera précisément en tant que récepteur non savant des savoirs, et si la science lui rend impossible l’habitat de l’univers, il fera de cette éviction le socle d’une communauté.

IV Un lyrisme inquiet Sully Prudhomme ne dédaigne pas de célébrer la geste des sciences, mais il noue avec elles un rapport anxieux et mélancolique, qui tranche avec le ton dominant la poésie d’un Delille. Chez ce dernier, qui appartient encore à la culture des Lumières, l’appréhension globale des savoirs est d’autant plus heureuse que la poésie, on l’a vu, souhaite rendre la science aimable. Comme l’explique L’Homme des champs, savoir est une manière de redoubler son plaisir, une source de jouissance accrue face à la nature. La reprise du terme, par dérivation, y insiste : Cherchez autour de vous de riches connaissances Qui, charmant vos loisirs, doublent vos jouissances. Trois règnes à vos yeux étalent leurs secrets. Un maître doit toujours connaître ses sujets : Observez les trésors que la nature assemble. Venez ; marchons, voyons, et jouissons ensemble.31

En 1808, le chant que Delille consacre à la botanique dans Les Trois Règnes de la nature oppose à Chateaubriand une réponse reprise par nombre de poètes scientifiques à travers tout le siècle  : la science ne désenchante le monde que pour substituer à des mythes éculés un merveilleux vrai, neuf et autrement puissant. Delille débute par une concession élégiaque, en forme de tombeau d’Ovide : Ils sont passés ces temps des rêves poétiques, Où l’homme interrogeait des forêts prophétiques ; Où la fable, créant des faits prodigieux, Peuplait d’êtres vivants des bois religieux. Dodone inconsultée a perdu ses oracles ; Nos vergers sont sans dieux, nos forêts sans miracles. Au sang du beau chasseur adoré de Cypris, La rose ne doit plus son brillant coloris ; L’eau ne répète plus le beau front de Narcisse,

31 Jacques Delille, L’Homme des champs ou les Géorgiques françoises, Strasbourg 1800, p. 98.



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Ce long cyprès n’est plus le jeune Cyparisse, Ces pâles peupliers les sœurs de Phaéton, Ce vieux tilleul Baucis, ce chêne Philémon :

Mais l’élégie cède alors la place à la célébration des connaissances qui viennent compenser ce déclin : Tout est désenchanté ; mais, sans tous ces prestiges, Les arbres ont leur vie, et les bois leurs prodiges. Je veux les célébrer ; je dirai quels ressorts Des peuples végétaux organisent les corps. […] Admirable chimie, où l’air, la terre et l’onde, Forment mille unions de leur guerre féconde ! 32

Exemple d’héroïsation des grands chercheurs, Delille indique, un peu plus bas : « Et Linné sur la terre, et Newton dans les cieux, / D’une pareille audace étonnèrent les Dieux ».33 Or cette célébration emphatique, fondée sur l’exagération de la portée des résultats, domine encore au milieu du siècle, chez les partisans du progrès. Du Camp fait ainsi dire à la vapeur : Je renouvellerai le monde, Facilement et sans effort, Je porte en ma force féconde De quoi ressusciter la mort !34

Dans Le Zénith, Sully Prudhomme à son tour prend acte d’un désenchantement et lui oppose l’élargissement du monde qu’opèrent les sciences. Mais l’argument n’a plus la force qu’il pouvait avoir chez l’abbé Delille, pour qui chaque découverte nouvelle démontrait la puissance et la bonté du Créateur. Ici, une discrète profession d’athéisme souligne que l’homme reste sans dieux : Saturne, Jupiter, Vénus, n’ont plus de prêtres. L’homme a donné les noms de tous ses anciens maîtres À des astres qu’il pèse et qu’il a découverts, Et des dieux le dernier dont le culte demeure, À son tour menacé, tremble que tout à l’heure Son nom ne serve plus qu’à nommer l’univers.

32 Jacques Delille, Les Trois Règnes de la nature, t. II, Paris 1808, p. 55–56. 33 Ib., p. 69. 34 Maxime Du Camp, «  La Vapeur  », Les Chants modernes [1855], in: Marta Caraion, « Les Philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques ». Littérature, sciences et industrie en 1855, Genève 2008, p. 126–135, ici p 126.

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Les paradis s’en vont ; dans l’immuable espace Le vrai monde élargi les pousse ou les dépasse. Nous avons arraché sa barre à l’horizon, Résolu d’une regard l’empyrée en poussières, Et chassé le troupeau des idoles grossières Sous le grand fouet d’éclairs que brandit la Raison.35

D’autres textes semblent adopter l’évangile positiviste. Dans les Épaves, recueil posthume paru en 1908, un sonnet dédié à Richet et intitulé La science reprend les codes de la poésie religieuse pour invoquer une science source de progrès et de lumières, appelée à délivrer l’âme tout en la faisant adhérer à des valeurs de travail et d’ordre : L’ignorance n’est pas la nuit, c’est pis encore ! L’aveugle, qui dans l’ombre a pour guide sa main, S’oriente et se fraye à tâtons son chemin, Mais l’âme est plus qu’aveugle, hélas ! quand elle ignore ; C’est une hallucinée ! Esclave, elle décore Du nom de liberté le caprice sans frein ; Le saint pacte des lois lui semble un joug d’airain Et le travail auguste un tyran qu’elle abhorre. Mère de la justice et tutrice du Beau, Divine vérité ! perce avec ton flambeau Du réel univers l’apparence illusoire. Oppose ton empire à l’appétit grossier, Aux triomphes sanglants ta paisible victoire, Ta splendeur éternelle aux éclairs de l’acier !36

Mais l’enthousiasme s’énonce plus souvent mezza voce, car Sully Prudhomme procède fréquemment à une sorte de dégonflement de l’emphase, pour présenter une science lente, collective et tâtonnante. Quoique « sublimes Argonautes »,37 les savants embarqués sur le Zénith ont un projet modeste : Nous allons conquérir un chiffre seulement ; Ils sont loin les songeurs de Milet et d’Élée Qui, pour vaincre en un jour tout l’inconnu d’emblée, Tentaient sur l’univers un fol embrassement ! […] Il nous suffit, à nous, devant le sphinx énorme,

35 Sully Prudhomme, Œuvres, t. III, Paris, s.d., p. 247–248. 36 Sully Prudhomme, Œuvres, t. VI , Paris, s.d., p. 98–99. 37 Sully Prudhomme, Œuvres, t. III, p. 20.



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D’éclairer prudemment de point en point sa forme, Et d’en lier les traits par de justes raccords.38

Dans Le Bonheur, un nouveau Faust reçoit cette leçon : Le solide savoir n’est pas un monument Qu’un hasard de génie élèverait d’emblée ; Non, l’assise à l’assise avec ordre assemblée Sans l’atteindre jamais monte au couronnement.39

Si cette présentation réaliste des chercheurs ne renouvelle pas les textes encomiastiques de Sully Prudhomme (Pasteur est « un nouvel Hercule » triomphant de la maladie),40 elle le conduit à privilégier dans ses poèmes longs une tonalité dysphorique. Car la science ainsi conçue détruit autant qu’elle édifie, et sa lenteur impose à ses contemporains l’équivalent épistémologique de la fêlure évoquée dans « Le vase brisé », comme du malaise existentiel décrit par Musset en 1836 dans La Confession d’un enfant du siècle. Les condamnant à contempler «  derrière eux un passé à jamais détruit, s’agitant encore sur ses ruines  », et « devant eux l’aurore d’un immense horizon » réservé à l’avenir, elle ne leur offre que l’entre-deux spleenétique d’un présent « moitié momie et moitié fœtus ».41 Or c’est l’inquiétude issue de ce demi-savoir, en tant que malaise produit par la science même, que la poésie de Sully Prudhomme entend exprimer, prolongeant à sa manière l’interminable bilan des Lumières et de la Révolution.42 Témoin de l’ébranlement intellectuel et moral suscité par des recherches et des hypothèses qui minent valeurs et croyances sans élaborer de système alternatif, le poète tente de rendre compte de cette anxiété. La Justice décrit « les vicissitudes d’une intelligence et les angoisses d’un cœur, touchant l’essence et les fondements de la justice »,43 parce que Sully Prudhomme y aborde la théorie darwinienne, qui

38 Ib., p. 252. 39 Sully Prudhomme, Œuvres, t. V, p. 255–256. 40 Ib., p. 37 (« Sonnet à Pasteur », in Le Prisme). 41 Alfred de Musset, La Confession d’un enfant du siècle [1836], G. Barrier (éd.), Paris 1973, p. 24– 25. Reprenant le thème des « débris », La Justice évoquera « Ces blêmes vérités [qui] sortent des beaux décombres / Où gît tout ce qu’hier j’aimais et vénérais » (Sully Prudhomme, Œuvres, t. IV, p. 82). 42 Ici comme chez Hugo, il faut penser les ruptures politiques, scientifique et techniques comme une seule « révolution globale, qui partage l’histoire entre un ancien et un nouveau régime », instaurant une rupture sur laquelle la littérature « se reconnaît le devoir de statuer » tout en interrogeant sa propre légitimité (David Charles, La Pensée technique dans l’œuvre de Victor Hugo : le bricolage de l’infini, Paris 1997, p. 1). 43 Sully Prudhomme, Œuvres, t. IV, p. 61–62.

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démonte l’idée d’une création divine bienveillante au profit d’une nature régie par la lutte pour la survie, et il se confronte aux thèses de Spencer qui, étendant le mécanisme de sélection des plus aptes aux rapports sociaux, jugeait contre nature la charité. Les premières strophes insistent sur le caractère douloureux de son anxiété : Une indiscrète fente au rideau s’est ouverte : Ma fièvre de tout voir ne se peut plus guérir ; Je ne supporte pas la demi-découverte, Il me faut maintenant deviner ou mourir. Car le poète, lui ! cherche dans la science Moins l’orgueil de savoir qu’un baume à sa douleur. Il n’a pas des savants l’heureuse patience, Il combat une soif plus âpre que la leur. En vain de ce qui souffre il connaît la structure, Il croit ne rien savoir tant qu’un doute odieux Plane sur le secret des maux que l’être endure, Tant que rien de meilleur n’a remplacé les dieux. Ô ma muse, debout ! Suivons de compagnie La Science implacable, et, degré par degré, Voyons si de partout la Justice est bannie, Ou quel en est le siège et l’oracle sacré ! 44

Dès qu’il se lance dans cette quête, le poète change de statut et se divise en plusieurs locuteurs  : devenu chercheur, il entame un long dialogue avec des voix représentant la part de lui-même qui souhaite se protéger de l’angoisse. Dans la section intitulée «  Les espèces  », l’une de ces voix, qui associe anthropomorphisme et regard poétique, peine à contrer l’image d’une nature cannibale, vouant les êtres à leur destruction mutuelle : Une voix. Le poète anime la fleur Des rêves dont son âme est pleine, Le parfum lui semble une haleine, La goutte de rosée un pleur. Qu’en croirai-je ? Oh ! La fleur vit-elle ? Passe-t-il un frisson nerveux

44 Ib., p. 70–71.



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Dans la feuille, verte dentelle Aux fils plus fins que des cheveux ? […] Le chercheur. La sève que j’y vois courir Est du sang déjà, pâle encore… Nul germe en l’univers ne tire du néant De quoi fournir son type et tarir sa puissance ; Chaque vie à toute heure est une renaissance Où les forces ne font qu’un échange en créant. Aussi tout animal, de l’insecte au géant, En quête de la proie utile à sa croissance, Est un gouffre qui rôde, affamé par essence, Assouvi par hasard, et, par instinct, béant. Aveugle exécuteur d’un mal obligatoire, Chaque vivant promène écrit sur sa mâchoire L’arrêt de mort d’un autre, exigé par sa faim. Car l’ordre nécessaire, ou le plaisir divin, Fait d’un même sépulcre un même réfectoire À d’innombrables corps, sans relâche et sans fin.45

Le choix du chant alterné emprunte le modèle antique d’une idylle désormais impossible, pour l’intellectualiser, comme dans les proses de Bourget ou Renan qui traitent au même moment la question des relations entre science et poésie sous forme de dialogues tout aussi âpres, où l’auteur se divise en locuteurs concurrents sans cesser de s’identifier à chacun. Par contraste avec Le Prisme, la diffraction de l’instance subjective utilisée dans La Justice participe donc d’un lyrisme qui n’a pas pour objet de communiquer une émotion individuelle à des destinataires doués de sympathie, mais étrangers aux circonstances que cette parole place à son origine. Sully Prudhomme exprime au nom d’une collectivité déjà informée par les sciences l’émotion née de cette information commune. Sa poésie oppose ainsi au lyrisme « personnel » une subjectivité moins impersonnelle que plurielle, où le je est toujours une forme du nous, puisqu’elle entend thématiser des émotions à valeur générationnelle et sociétale, et ce choix doit se comprendre comme une réponse aux débats évoqués précédemment.

45 Ib., p. 83–84.

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V Une tentative de conciliation L’article de 1897, déjà cité, propose une réflexion taxinomique et historique sur les genres. Pour Sully Prudhomme, « le poème didactique, où [l’auteur] se borne à exposer des idées qui ne sont pas nécessairement les siennes, est le genre où perce le moins sa personnalité », par opposition aux « vers où il nous entretient de ses joies et de ses douleurs, et des événements qui les ont fait naître ». Les deux discours forment en matière d’écriture subjective « deux termes extrêmes ». Le primat donné à « la poésie personnelle » a conduit le XIXe siècle à valoriser le second mode, au point de rejeter le système générique qui intégrait le premier. Mais Sully Prudhomme pose qu’un auteur peut « rendre personnel » tout sujet étranger à lui-même, en le « jugeant » – ce qui paraît impliquer une modalité épidictique – ou en « réfléchissant [le sentiment d’autrui] dans son propre cœur ». Or cette fonction empathique caractérise le poète. Il est celui des écrivains qui « possède éminemment la faculté d’épouser toutes les émotions pour s’en faire l’écho », et qui peut prendre à son compte un affect collectif et pluriel, dès lors qu’il «  fait vibrer son cœur à l’unisson des grandes secousses de son milieu social ». Face à ces « sujets vivants », devant lesquels « les sujets artificiels […] abdiquent », et que l’Histoire met en branle, Sa personnalité consiste alors dans son aptitude même à s’approprier, pour les rendre avec le timbre et l’accent individuels, les soupirs, les appels, les cris de la conscience nationale, et même de la conscience humaine dont elle participe […], qu’il s’agisse de politique, de religion, ou de tout autre intérêt moral, d’ordre positif ou transcendant. Ces conditions accidentelles ne se présentent guère qu’une ou deux fois par siècle […]. Il y a conjonction, fusion de la poésie personnelle et de la poésie la plus élevée.46

On mesure ainsi combien la démarche illustrée par des textes comme La Justice vaut tentative de synthèse. Si cette synthèse est d’abord polyphonique, puisqu’elle est liée à la possibilité d’incarner seul les membres de la collectivité, elle est tout autant générique. Dès lors que Sully Prudhomme identifie comme un événement historique majeur la révolution opérée par les sciences, et particulièrement les sciences de la vie, se faire chantre de l’émotion suscitée par cette situation d’exception lui permet d’explorer une poésie hors règles, qui réunit des traits associés au didactisme comme au lyrisme, mais aussi au drame, en tant qu’espace du fatum et du conflit, et à l’épopée, en tant que réponse à l’Histoire et parole de fondation de l’identité collective.

46 Sully Prudhomme, Testament poétique, p. 10–11, pour toutes ces citations.



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Mais la synthèse intervient simultanément au regard des débats liés aux relations entre science et poésie, puisque le je du texte emprunte toutes les postures affectives et parce que l’avenir de sa propre pratique, non moins que l’impact des savoirs, forme le « sujet vivant » de sa quête. En faisant de ce je l’écho singulier de l’écho collectif suscité par les sciences, Sully Prudhomme donne au poète une position à la fois extérieure et inclusive. Ce site, et la fonction dévolue à la poésie, prennent acte de l’hégémonie des sciences et valident leur prétention à la totalité, puisque l’auteur concède qu’elles transforment le monde naturel et moral. Mais il conteste cette hégémonie dès lors que sa voix rend manifeste l’existence d’un espace où la science résonne et où s’énoncent des questions qui débordent, et par là révèlent, les limites qu’elle assigne à sa propre totalité. C’est ici le poème, et non la science, qui s’impose comme métadiscours social. En outre, ce dispositif est indissociable de la théorisation d’une émotion épistémologique qui renvoie dos à dos savants contempteurs de la poésie et poètes contempteurs des sciences. Face à ces derniers, Sully Prudhomme défend le droit des poètes à traiter de la science contemporaine en mobilisant un argument ancien, fréquemment formulé par les contemporains de Delille. André Chénier posait déjà que « Tous les arts sont unis : les sciences humaines / N’ont pu de leur empire étendre les domaines, / Sans agrandir aussi la carrière des vers ».47 Sully Prudhomme affirme à son tour que « par le progrès des connaissances humaines, une infinité d’objets qui n’auraient pas encore ébranlé le sens esthétique de l’homme, et qui, par suite, n’étaient pas matière à poésie le sont devenus  ».48 Mais l’allusion à un ébranlement constitue une précision majeure, car la liaison établie entre impact émotionnel et dignité poétique permet d’opposer aux poètes isolationnistes une stratégie rhétorique de rétorsion. Preuve de leur aptitude à nous remuer, le désenchantement reproché aux sciences devient un argument démontrant précisément leur poéticité : Les découvertes capitales de la science, en tant qu’elles modifient tous les points de vue de l’Âme sur la nature, nous remuent profondément et sont essentiellement poétiques par cette propriété... La science [...] est poétique par les horizons qu’elle ouvre au rêve en transformant la signification du monde sensible.49

47 André Chénier, « L’Invention » [1ère éd. 1819], in : id., Œuvres complètes, G. Walter (éd.), Paris 1958, p. 125. 48 Sully Prudhomme, « Lettre à Mounet-Sully » [1879], reprise dans : id., Testament poétique, p. 28. 49 Lettre du 1er mai 1901 à Camille Hémon, citée dans C. Hémon, La Philosophie de M. Sully Prudhomme, Paris 1907, p. 33–34, n. 1.

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Cependant, l’émotion est aussi un résultat du texte, un effet que Sully Prudhomme cherche à susciter chez son lecteur parce qu’ « il n’y a, dans le domaine entier de la pensée, rien de si haut ni de si profond, à quoi le poète n’ait mission d’intéresser le cœur ».50 Or cette association du cœur à l’intellect est la condition d’une pensée complète dont Sully Prudhomme oppose cette fois la définition aux tenants d’un positivisme qui donnerait congé à la poésie. Il l’explique au seuil de son poème de 1878, « la justice ne peut sortir ni de la science seule qui suspecte les intuitions du cœur, ni de l’ignorance généreuse qui s’y fie exclusivement ».51 En d’autres termes, la détermination d’un sens humain impose de combiner les deux facultés, et seule une poésie ouverte à la philosophie et à la science peut réaliser cette fusion. Si Sully Prudhomme affirme que les sciences ne peuvent détenir une réponse autonome aux questionnements éthiques, il se refuse donc à chercher une réponse sans elles, et c’est cet égard pour la science qui lui permet, réciproquement, de la sommer de dialoguer avec une société et des affects dont le poète devient l’ambassadeur. Enfin il y a synthèse parce que le choix de ne pas exposer les sciences, mais leur réception, cherche sans doute à résoudre l’une des apories du poème scientifique impérial. En tant qu’exposés limitant leur lyrisme à des traits encomiastiques, ces textes avaient pris argument de l’évolution des sciences pour motiver leur propre nécessité : les découvertes apportaient une matière inédite, qu’il convenait de prendre pour thème afin de rivaliser avec des poètes comme Virgile ou Lucrèce. Mais la même évolution des savoirs, se poursuivant, a transformé ces traités versifiés en reliquaires d’opinions dépassées, et exclues par la science. Les contemporains de Delille l’avaient déjà noté, L’Homme des champs, fidèle aux systèmes de Buffon, fut dès sa parution périmé d’un point de vue scientifique. Or, en traitant prioritairement, non des savoirs, mais de leur impact sociétal, Sully Prudhomme déjoue le risque de voir son texte rendu intempestif par l’usure de ces thèses. Il invente un moyen de parler poétiquement des sciences sans partager leur vocation à l’inactualité : parce que l’émotion qu’il enregistre constitue un fait d’ordre historique, et non épistémologique, sa vérité est indépendante de la remise en cause potentielle des savoirs qui l’ont suscitée.52

50 Sully Prudhomme, Œuvres, t. IV, p. 60 (« Dédicace », La Justice [1878]). 51 Ib., p. 60–61. 52 Je résume ici une analyse développée dans mon article, Hugues Marchal « Des monuments d’impermanence  : postérité scientifique et vers reliques  », TLE (Textes, Littérature, Enseignement), 26/2009, p. 27–43.



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VI Un projet rejeté La complexité et l’intérêt d’une telle démarche expliquent que Jules Lemaître ait voulu voir en Sully Prudhomme l’héritier de son siècle et le « Delille inspiré »53 qui lui aurait manqué. Pour comprendre Sully Prudhomme, il faudrait Imagine[r] une âme qui aurait traversé le romantisme, connu ce qu’il y a de passion ardente et de belle rêverie, qu’auraient ensuite affinée les curiosités de la poésie parnassienne, qui aurait étendu par la science et par la réflexion le champ de sa sensibilité et qui, recueillie, attentive à ses ébranlements et habile à les multiplier, les dirait dans une langue dont la complexité et la recherche toutes modernes s’enferment dans la rigueur et la brièveté d’un contour classique…54

Mais nombre de critiques en jugèrent autrement. Le classicisme qui coupa des avant-gardes contemporaines un Sully Prudhomme fort conservateur en matière de versification et de langue explique sans doute en partie son échec. Mais il semble surtout, à lire ses commentateurs les plus virulents, que la poésie scientifique faisait décidément trop mauvais genre pour être rénovée. En 1895, Lazare persiste à présenter Sully Prudhomme en pédagogue : « C’est le titre de Lucrèce Gaulois qu’il ambitionne […]. Son erreur fut de croire que ce didactisme effrayant et redoutable avait quelque rapport avec la poésie, et s’il a été bon physicien et parfait chimiste, il s’est montré détestable poète ».55 En 1897, Édouard Cavailhon le renvoie en mauvaise part à Delille et prive son système de la relation aux affects qui devait le fonder : « [La poésie] doit être un chant du cœur, et non de l’esprit. / Monsieur Sully Prudhomme ne chante jamais sous l’impression d’un moment. Il n’a pas d’émotion, et ne sait émouvoir ».56 Le lyrisme de l’intelligence qu’il tenta de développer resta donc, sinon incompris, du moins refusé, et cet échec devait durablement grever les tentatives ultérieures pour renouer un fil entre science et émotion poétique. En 1937 encore, au seuil de « L’homme et la coquille », Valéry n’osera pas évoquer un tel affect autrement que sur le mode de l’irréel : « S’il y eût une poésie des merveilles et des émotions de l’intellect (à quoi j’ai songé toute ma vie) »… 57

53 Jules Lemaître, Les Contemporains : études et portraits littéraires, 1re série, Paris 1886, p. 44. 54 Ib., p. 53. 55 Bernard Lazare, Figures contemporaines  : ceux d’aujourd’hui, ceux de demain, Paris, 1895, p. 149–150. 56 Édouard Cavailhon, Les Chants d’un Gaulois, Paris, 1887, p. 309–310. 57 Paul Valéry, « L’Homme et la coquille » [1937], Œuvres, t. I, Jean Hytier (éd.), Paris, 1957, p. 886.

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 Hugues Marchal

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Marco Thomas Bosshard (Flensburg)

André Chéniers epische Dichtung als gemeinsames Referenzmodell von Historiographie, Philologie und Poesie des 19. Jahrhunderts Die französische Epenforschung an der École des Chartes, José-Maria de Heredia und der Parnasse

I André Chénier und die epische Dichtung Die Wiederentdeckung von André Chéniers Dichtung fast dreißig Jahre nach seinem Tod durch die ab 1819 einsetzenden, zahlreichen Editionen seines Werkes hatte bekanntlich zur Folge, dass Chénier im 19. Jahrhundert zum dichterischen Vorbild mehrerer Generationen avancierte, deren ästhetische Ausrichtung unterschiedlicher nicht sein könnte. Sowohl Romantiker als auch Parnassiens erhoben Chénier zu einer Art Ikone; Lamartine und Hugo schwärmten von ihm ebenso wie Leconte de Lisle, Sully Prudhomme oder Heredia.1 Chénier war somit ein zentraler, gemeinsamer Bezugspunkt der verschiedenen literarischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, die sich die Lyrik – und auch wieder das Epos – auf die Fahnen geschrieben haben. Als erster namhafter Literat, der an der Schwelle zum 19. Jahrhundert der politischen Moderne zum Opfer fiel, weist Chéniers Werk nicht nur zurück in die Antike seines Geburtslandes Griechenland und in sein eigenes, aufklärerisches 18. Jahrhundert, sondern scheint auch bereits die ästhetische Moderne des 19. Jahrhunderts zu präfigurieren. Entsprechend schwierig

1 Während Sully Prudhomme im Epilog zu La Justice schreibt: „Je t’invoque, ô Chénier, pour juge et pour modèle!“ (zitiert nach Yann Mortelette, Histoire du Parnasse, Paris 2005, S. 113), behauptete Leconte de Lisle, Chénier habe die poésie lyrique nach Ronsard zu neuem Leben erweckt: „De longues, de stériles années s’écoulent, et l’enfant du ciel grec, le pur, l’harmonieux, le splendide Chénier la réveille“ (ebd., S. 115). Heredia schließlich übernehme, so Mortelette (vgl. ebd., S. 114), Chéniers innovative Versifikation, deren polymorphe Alexandriner den vers libre überflüssig machten. Hugo seinerseits schrieb in einem Aufsatz über Chénier u.a.: „André sera regardé parmi nous comme le père et le modèle de la véritable élégie“ (Victor Hugo, „Œuvres Complètes d’André Chénier“, in: Le Conservateur Littéraire 1819–1821, Jules Marsan [Hrsg.], Paris 1922, S. 23).

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gestaltet sich eine eindeutige Klassifizierung seiner Dichtung, die als überaus heterogen charakterisiert werden muss: „Les Bucoliques relèvent de l’art parnassien; les Élegies et les Amours ont des accents préromantiques; les fragments d’Hermès et de L’Amérique sont des longs poèmes didactiques représentatifs du néo-classicisme; les Iambes font part d’un engagement politique.“2 Insbesondere das oben als didaktische Dichtung klassifizierte fragmentarische Versepos Hermès scheint im hier zu beleuchtenden Kontext von Wissenschaft und Poesie auf den ersten Blick am relevantesten zu sein, da in ihm nicht nur in klassisch epischer Manier der Anspruch erhoben wurde, das Wissen der Menschheit enzyklopädisch zu vereinen, sondern auch die moderne Wissenschaft thematisiert werden sollte, wenn etwa (übrigens direkt nach der Invokation Homers) gesagt wird: Souvent mon vol, armé des ailes de Buffon, Franchit avec Lucrèce, au flambeau de Newton La ceinture d’azur sur le globe étendue.3

Doch blieb es bekanntlich nur bei dem Anspruch – oder wie Chris Andrews formuliert hat: „[…] this poem has every merit except that of existing. […] Chénier drafted less than 500 [lines], and these are not concerned with science.“4 Auch die folgenden Ausführungen haben mit science im Sinne von Naturwissenschaft nichts zu tun. Vielmehr geht es hier einerseits um die partielle Rekonstruktion der sich im 19. Jahrhundert an der Pariser École des Chartes institutionalisierenden sowohl philologisch als auch historiographisch ausgerichteten Epenforschung, die sich – wie zu zeigen sein wird – ebenso wie viele zeitgenössische Dichter von Chénier hat inspirieren lassen, und andererseits um die (nicht zuletzt auch personellen) Verbindungen, die zwischen der École des Chartes und dem Dichterkreis der Parnassiens bestanden (José-Maria de Heredia, Fernand Calmettes, Gaston Paris). Dreh- und Angelpunkt der folgenden Engführung von poetischen und (proto-) philologischen bzw. historiographischen Diskursen rund um die epische Dichtung sind jedoch weniger die fragmentarischen epischen Großentwürfe Chéniers in Hermès, L’Amérique und Susanne, sondern seine vermeintlich gattungsfremden Gedichte, die postum unter dem sprechen-

2 Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 112. 3 André Chénier, Œuvres Complètes, Gérard Walter (Hrsg.), Paris 1958, S. 39. 4 Chris Andrews, Poetry and Cosmogony: Science in the Writing of Queneau and Ponge, Amsterdam 1999, S. 9. Allerdings teile ich die anschließende Einschätzung des Autors nicht: „Thus Chénier’s failure to finish even a substantial part of his projected scientific epic can be seen to confirm the exhaustion or the unviability of the genre“ (ebd.).



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den Titel Bucoliques ediert wurden. Trotz ihres – auch – lyrischen Charakters sind es diese Texte, so Béatrice Didier, „[où] [o]n verra volontiers en Chénier un précurseur de cette forme qui devait avoir un tel éclat avec Vigny et surtout Hugo: la petite épopée.“5 Und wenn in der Sekundärliteratur gar behauptet wird, in Hugos Légende des siècles „on y sent le souffle épique de L’Aveugle“,6 so scheint insbesondere jenem einen Langgedicht aus den Bucoliques eine herausragende Bedeutung zuzukommen, in dem ein Blinder in bukolischem Ambiente arkadischen Hirten Kostproben seiner Sangeskunst zum Besten gibt. Da sich der Blinde aus dem Gedichttitel L’Aveugle am Ende als Homer höchstpersönlich entpuppt, überschreitet Chéniers Text implizit die Grenze von der bukolischen Dichtung zum Epos: […] Ainsi le grand vieillard, en images hardies, Déployait le tissu des saintes mélodies. Les trois enfants émus, à son auguste aspect, Admiraient, d’un regard de joie et de respect, De sa bouche abonder les paroles divines, Comme en hiver la neige aux sommets des collines. Et, partout accourus, dansant sur son chemin, Hommes, femmes, enfants, les rameaux à la main, Et vierges et guerriers, jeunes fleurs de la ville, Chantaient: ,Viens dans nos murs, viens habiter notre île; Viens, prophète éloquent, aveugle harmonieux, Convive du nectar, disciple aimé des dieux; Des jeux, tous les cinq ans, rendront saint et prospère Le jour où nous avons reçu le grand HOMÈRE.‘7

II L éon Gautier und die Epenforschung an der École des Chartes Chéniers Bucoliques haben aber nicht nur romantische und parnassische Dichter beeinflusst; das Gedicht L’Aveugle fungiert ebenso als modellhaftes Zentrum in Léon Gautiers Versuch der Rekonstruktion epischer Vortragspraktiken. Léon Gautier, geboren 1832 in Le Havre, darf – insbesondere durch sein Verdienst, das Chanson de Roland kanonisiert und in den Lehrplänen französischer Schulen

5 Béatrice Didier, Le siècle des Lumières, Paris 1987, S. 80. 6 Jean Ehrard/Robert Mauzi/Béatrice Didier (Hrsg.), Le XVIIIe siècle, Paris 1976, S. 200. 7 Chénier, Œuvres Complètes, S. 48.

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festgeschrieben zu haben8 – als einer der wichtigsten französischen Philologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden; dies obwohl seine Berufung als Professor für Paläographie an der hochangesehenen École des Chartes 1871 das Problem aufwirft, dass die genannte Disziplin gemeinhin der Historiographie zugeschlagen wird. Allerdings hat Gautier, der zuvor selbst an der École des Chartes studiert hatte, nach seinem Abschluss 1855 drei Jahre lang für seinen ehemaligen, für die Philologies romanes zuständigen Professor Guessard als Sekretär gearbeitet und diesen auf Forschungsreisen begleitet.9 Ab 1866, ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes seiner großangelegten Studie Les Épopées françaises, begann Gautier selber an der École zu unterrichten, bis ihm 1871 ebendort besagte Professur angetragen wurde, die er bis zu seinem Tod im Jahre 1897 innehatte.10 In seiner katholisch fundierten Begeisterung für das altfranzösische Epos und das Mittelalter sicherlich den Romantikern weitaus näher als den Parnassiens, funktionalisiert Gautier die antikisierende Dichtung Chéniers in seinen Schriften paradoxerweise als ein episches Referenzmodell selbst für die mittelalterliche Dichtung. Erstmals begegnen wir dem Topos in den Portraits littéraires, wo Gautier dem missglückten epischen Versuch über Homer eines Zeitgenossen, François Ponsard, als Positivbeispiel Chénier gegenüberstellt – und en passant auch die Homer-Übersetzungen Leconte de Lisles erwähnt: […] l’auteur admirable de la Jeune captive et des Iambes avait, suivant nous, traduit Homère avec une scrupuleuse exactitude, avec une vraie couleur locale, tout en se permettant de ne pas calquer son original servilement, mot par mot, syllabe par syllabe, tout en évitant d’introduire dans nos oreilles certain mot qui, du temps d’Homère, n’exprimait qu’une idée juste, et qui de nos jours n’exprime qu’une image désagréable et laide. Tout récemment encore, un écrivain de grande valeur, M. Leconte Delisle, a tenté de traduire l’Iliade et l’Odyssée avec une exactitude bien plus servile: Pour tout au monde il ne dirait pas Mars, Vénus, Vulcain; mais Arès, Aphroditè, Héphestios … et cela en français. Cependant sa tra-

8 Vgl. Jacques Levron, „Préface“, in: Léon Gautier (Hrsg.), La Chevalerie, Paris 1959, S. 5–23, hier: S. 16: „Si Roland est aujourd’hui le plus connu de tous nos poèmes du Moyen Age, c’est à Léon Gautier qu’on le doit. […] Gautier a fait en quelque sorte entrer la Chanson de Roland dans le domaine public. Pour elle, il força les portes de l’Université. Il parvient à la faire inscrire au programme des écoles, et notre chef-d’œuvre épique cessa d’être seulement connu des érudits et de quelques curieux.“ Die Kombination von mittelalterlicher Epenforschung bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit Chénier ist auch nach Gautier nachweisbar; so hat etwa Joseph Bédier längere Zeit ernsthaft das Projekt verfolgt, neben seinen Studien zum französischen Epos die Schriften Chéniers kritisch zu edieren, die Edition dann aber Paul Dimoff überlassen (vgl. Alain Corbellari, Joseph Bédier: écrivain et philologue, Genf 1997, S. 133–134). 9 Vgl. Levron, „Préface“, S. 7. 10 Vgl. ebd., S. 13–14.



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duction, bien que très-remarquable à d’autres égards, est d’une lecture quelque peu difficile, et si je veux donner l’idée d’Homère à des enfants, je leur lirai plutôt l’Aveugle de Chénier, que la traduction de Leconte Delisle ou l’Ulysse de Ponsard.11

Dieses lange Zitat lässt in mehrfacher Hinsicht aufhorchen. Die harsche Kritik an den Prosaübersetzungen der homerischen Epen durch Leconte de Lisle, die hier als zu wortgetreu bzw. zu nah am Original kritisiert werden – eine durchaus erstaunliche Aussage für einen Handschriftenforscher12 – kontrastiert mit der überaus positiven Darstellung Chéniers. Denn obwohl Gautier ihm in anderen Texten seinen thematischen Paganismus und letztlich auch seinen Hellozentrismus vorwirft, seine Haltung, die ihm nicht ‚christlich‘ genug ist, ist seine romantisch überhöhte, von Lamartine und Hugo geteilte Begeisterung für Chénier und dessen griechische „couleur locale“ offenkundig. Die freie recréation homerischer Stoffe, die Chénier in L’Aveugle seinem blinden Dichter in hochkondensierter, ja nachgerade elliptischer Form in den Mund gelegt hat, ist weit davon entfernt, Homer „mot par mot, syllabe par syllabe“ zu übersetzen – und gerade deswegen mustergültig. Ob Gautier selbst bei seiner Übersetzung des Chanson de Roland aus dem Altfranzösischen dieselbe Maxime verfolgt hat, kann hier nicht beantwortet werden.13 Was hingegen in Gautiers wissenschaftlichen Texten ins Auge sticht – in den drei Bänden der Épopées françaises ebenso wie in seiner achthundert Seiten starken Studie La Chevalerie, auf die noch zu sprechen zu kommen ist –, ist ein Prinzip, das als ‚fiktionalisierende Rahmung von Faktualem‘ bezeichnet werden kann und das bereits in Chéniers L’Aveugle präfiguriert ist: Ganz ähnlich wie Chénier mit fiktionalen Mitteln die (wahrscheinlich) real existente und demnach faktuale Person Homer rekreiert und einige sowohl mythische als auch historische Ereignisse anreißt, fügt auch Gautier in seinen monographischen 11 Léon Gautier, Portraits littéraires, Paris 1868, S. 342–343. Gautier bezieht sich in seiner Kritik nicht nur auf Ponsards hier genanntes Versdrama Ulysse, sondern ebenso auf sein Versepos Homère (vgl. François Ponsard, Œuvres complètes de F. Ponsard: Études antiques. Homère. Ulysse. L’honneur et l’argent, comédie. La bourse, comédie. Ce qui plait aux femmes, pièce, Paris 1865). 12 Die französisierende Übersetzung von Eigennamen scheint an der École des Chartes ein regelrechtes Dogma gewesen zu sein. So stritt sich der chartiste und Parnassien Fernand Calmettes über genau dieses Problem mit seinen Lehrern: „L’élève tenait pour une méthode fixe; il voulait, comme M. Leconte de Lisle, que tous les noms fussent transcrits lettre par lettre, en respectant la désinence étrangère, Roma, Tacitus, Tiberis, le maître défendait la transmission orale, fondée sur les lois de l’accentuation, Rome, Tacite, Tibre. L’élève demande alors à M. Quicherat si, pour observer ces mêmes lois, il dirait Quinte Fabre Favre au lieu de Quintus Fabius Faber. M. Quicherat allégua l’usage et se fâche tout rouge“ (Jacques Guignard, „José-Maria de Heredia et l’Ecole des chartes“, in: Bibliothèque de l’École des Chartes, 105/1944, 1, S. 221; Guignard zitiert hier für die Wiedergabe dieser Anekdote seinerseits Anatole France). 13 Vgl. Léon Gautier (Hrsg.), La Chanson de Roland, Tours 1872.

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Darstellungen zum französischen Mittelalter, seinen Epen, Rittern und Sängern wissenschaftlich (tatsächlich oder vermeintlich) belegte Fakten in einen fiktionalen Rahmen ein, der ähnlich eines die Wahrhaftigkeit des Dargestellten beglaubigenden effet réel mit Deskriptionen operiert und dabei gleichzeitig das Interesse des Lesers wecken soll.

III Gautiers séance épique und Chéniers L’Aveugle Fast alle Kapitel von Gautiers Studie über das französische Epos weisen in dieser Hinsicht eine vergleichbare rhetorische Struktur auf. Der Anfang des Kapitels XXII des zweiten Bands mit dem Titel „De l’exécution des chansons de geste. Une séance épique dans un château“, hier zitiert nach der für die zweite Auflage von 1894 überarbeiteten Version der Épopées françaises, ist daher durchaus charakteristisch für das gesamte Werk: Nous sommes, si vous voulez bien, sous le règne de Philippe-Auguste, à la porte d’un château qui vient d’être achevé et qui est encore dans sa première nouveauté et fraîcheur. La pierre (nous sommes en Anjou et c’est du tuffeau) fait éclater aux yeux sa blancheur native, qu’elle gardera d’ailleurs très longtemps.14

Das Prinzip der ‚fiktionalisierenden Rahmung von Faktualem‘, das – wie in obigem Zitat sehr schön zu beobachten ist – eine rahmende, deskriptive Erzählerstimme schafft, die das wissenschaftlich recherchierte Material präsentiert, ist jedoch schon in der Erstausgabe der 1860er Jahre realisiert – und ebendort findet sich auch bereits der uns im Folgenden interessierende Begriff der séance épique.15 Ausführlicher dargelegt hat Gautier sein Konzept jedoch erst 1884 in La Chevalerie, einer Monographie, die ihrerseits auf dasselbe Verfahren der fiktionalisierenden Präsentation wissenschaftlicher Erkenntnisse zurückgreift. Gautier will darin das Alltagsleben mittelalterlicher Ritter rekonstruieren und schildert dabei auch eine Hochzeitsfeier, bei der ein jongleur in Erscheinung tritt: ,Que voulez-vous que je vous chante ce soir?‘ dit-il en donnant son premier coup d’archet, vigoureux et sonore. L’hôte, réfléchit un instant, et répond: ,Je viens d’avoir une idée, que je vous soumets. Au lieu de nous réciter ce soir une seule chanson (ce qui semble parfois

14 Léon Gautier, Les Épopées françaises: étude sur les origines et l’histoire de la littérature nationale, Bd. 2, 2. Aufl., Paris 1894, S. 226. 15 Vgl. Léon Gautier, Les Épopées françaises: étude sur les origines et l’histoire de la littérature nationale, Bd. 1, Paris 1865, S. 407–411; die letzte Seite 411 des Kapitels XIV ist der „Fin de la séance épique“ gewidmet.



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un peu long), je vous prierai de nous chanter les plus beaux passages de nos plus beaux poèmes! […]‘16

Es folgt eine fiktionalisierende – oder vielleicht treffender: eine qua Fiktionalisierung exemplifizierende – Darstellung des Banketts und des Sängers. Dann jedoch unterbricht Gautier die Beschreibung auf einmal und beginnt zu kommentieren: Vous avez dans l’oreille et dans l’esprit cet incomparable poème d’André Chénier, l’Aveugle, où l’on entend le vieil Homère, comme un aède divin, chanter successivement tous les grands épisodes de l’épopée hellène. Je ne pense pas que la langue française, en son riche trésor, possède de plus admirables vers et, pour ceux qui les voudraient imiter, ils sont vraiment désespérants. Ce serait pourtant l’heure de s’en souvenir, pour répéter ici les chants de notre jongleur en un langage digne des héros qu’ils célèbrent. Ah! si nous avions un Chénier qui, au lieu d’être païen dans ses moelles, fût vraiment chrétien et Français! un Chénier s’inspirant de Roland!17

Diese überraschende Engführung fiktionalisierender bzw. exemplifizierender Beschreibung mittelalterlicher epischer Performanz im Rahmen einer Ritterhochzeit mit Chéniers antik-homerischen, ihrerseits fiktionalisierten Performanz in L’Aveugle (aus dem Gautier sogar noch mehrere Verse zitiert) wird sodann noch einmal bekräftigt: „Là-dessus, notre jongleur s’arrête un instant, et il faut bien avouer que son début pourrait être, sans trop de sacrilège, comparé à celui d’André Chénier.“18 Und ganz am Schluss der Episode, als der jongleur zu Ende gesungen hat, fällt schließlich das Konzept der séance épique: „Le jongleur, très applaudi et très fêté, reçoit du seigneur un mulet d’Aragon et un bliaut en paile rouge. La séance épique est achevée; la nuit tombe.“19 Sosehr die Inkommensurabilität von Chéniers mit der mittelalterlichen epischen Dichtung auf die Fragwürdigkeit des Gautierschen Konstrukts der séance épique hinweist, die mehr Projektion und Idealvorstellung denn belegbare Tatsache zu sein scheint, hat der Begriff dennoch eine gewisse Fortune erfahren: Taylor weist darauf hin, dass ihn Ian Short noch in der Einleitung zu aktuellen Taschenbuchausgaben des Chanson de Roland verwendet.20 Obwohl viele – sehr viele – von Gautiers Positionen heute nicht mehr haltbar sind, kam es 1959 zu einer stark gekürzten Neuauflage von La Chevalerie; die eben zitierten Passagen

16 Léon Gautier, La Chevalerie, 3. Aufl., Paris 1893, S. 657. 17 Gautier, La Chevalerie, S. 658. 18 Ebd., S. 660. 19 Ebd., S. 668–669. 20 Vgl. Andrew Taylor, „Editing Sung Objects: The Challenge of Digby 23“, in: Siãan Echard/ Stephen Partridge (Hrsg.), The Book Unbound: Editing and Reading Medieval Manuscripts and Texts, Toronto 2004, S. 88.

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sind dort jedoch bezeichnenderweise nicht mehr enthalten. Der Herausgeber Jacques Levron rechtfertigt die Neuausgabe, indem er unterstreicht: „Sous cette affabulation court en réalité l’érudition la plus profonde. Léon Gautier n’avance rien qu’il ne soit capable de justifier par un passage d’une de ses chères Chansons de geste.“21 Diese charakteristische Kombination von „affabulation“ – ein Begriff, den man im Zusammenhang mit historiographischer oder philologischer Prosa zumindest heute nicht unbedingt erwarten würde – und „érudition“ wird nun aber weniger dadurch problematisch, dass die durch Gelehrsamkeit und Textstudium gewonnenen Erkenntnisse in Form einer rekonstruierenden, exemplifizierenden „affabulation“ präsentiert werden – die Mikrogeschichte in der Tradition eines Carlo Ginzburg oder einer Natalie Zemon Davis beispielsweise bedient sich bis heute solcher Strategien –, sondern vielmehr dadurch, dass Gautiers oftmals ausufernder Anmerkungsapparat, der seine Darlegungen beglaubigen soll, fast ausschließlich auf fiktionalen Primärtextquellen fußt: nämlich dem immensen Fundus der von ihm jahrzehntelang bearbeiteten chansons de geste. Das Problem von Gautiers wissenschaftlicher Vorgehensweise c’est d’abord d’avoir limité ses recherches aux seuls documents poétiques. Léon Gautier a systématiquement négligé toute autre information. Il n’a utilisé ni les chroniqueurs ni mêmes certains documents d’archives qui auraient pu lui fournir bon nombre de détails pour la vie sociale et quotidienne du chevalier. Léon Gautier n’a pas voulu les mettre à profit. Il s’est exclusivement contenté des Chansons de geste.22

Zeitgenössische Philologen, die (wie z.B. Paul Meyer oder Gaston Paris, seinerseits Absolvent der École des Chartes und regelmäßig Gast in Leconte de Lisles Salon23) nicht oder nur teilweise mit Gautiers Schlussfolgerungen übereinstimmten, haben dem chartiste Gautier zuweilen seine subjektive – sprich zu wenig wissenschaftliche, zu wenig objektive – Sichtweise auf die Materie vorgehalten.24

21 Levron, „Préface“, S. 20. 22 Ebd., S. 21. Bemerkenswert dabei der Widerspruch, wenn Gautier über Guizot schreibt, dass genau ein solches wissenschaftliches Vorgehen durch ihn – und dann auch durch die École des Chartes – etabliert worden sei: „Avant notre École des Chartes, il avait habitué les historiens à ne faire usage que des vraies sources, et à remonter sans cesse aux chartes ou aux chroniques“ (Léon Gautier, Portraits du XIXe siècle, Bd. 2, Historiens et critiques, Paris o.J., S. 14). 23 Vgl. Guignard, „José-Maria de Heredia et l’Ecole des chartes“, S. 221. 24 Vgl. J. Doizé, „Léon Gautier“, in: Pères de la Compagnie de Jésus (Hrsg.), Études, Bd. 73, Paris 1897, S. 248: „On lui a reproché le caractère subjectif de son œuvre, l’excessif enthousiasme dont elle déborde.“ Insbesondere im Zusammenhang mit der vielfach kommentierten Strategie der Parnassiens, ihre Poesie zu entsubjektivieren (vgl. Klaus W. Hempfer, „Konstituenten parnassischer Lyrik“, in: Titus Heydenreich/Eberhard Leube/Ludwig Schrader (Hrsg.), Romanische Lyrik: Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren, Tübingen 1993, S. 69–91) bzw. zu objektivie-



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IV Die École des Chartes und der Parnasse: José-Maria de Heredias Edition von Chéniers Bucoliques Die Anschlussfähigkeit des Parnasse an Chéniers oftmals homerisch-antik und insofern vermeintlich neoklassizistisch anmutende Dichtung ist zuletzt von Mortelette neuerlich bekräftigt worden. Dabei seien nicht nur der „lyrisme objectif de Chénier, son ‚impersonnalité‘“25 von Belang, sondern auch gewisse Techniken innovativer Versbildung.26 Diese Nähe von Chénier zu den Parnassiens ist seinerzeit indirekt auch schon von Léon Gautier in seinen literaturkritischen Schriften registriert worden. Obwohl er ideologisch weder Chénier noch den Parnassiens etwas abzugewinnen vermag, scheint ihn deren écriture in ästhetischer Hinsicht – gleichsam als Teufelswerk, wie wir gleich sehen werden – dennoch verführt und zutiefst beeindruckt zu haben; jedenfalls ist sein Duktus gegenüber der glaubensfernen „indifférence“ der Parnassiens fast genau derselbe wie gegenüber dem heidnischen, aber unübertroffenen Chénier. So schreibt Gautier über den Parnasse contemporain: Je dis que cette publication est presque un évènement. [...] A leur tête, brille Théophile Gauthier; puis, derrière lui, [...] Émile Deschamps, André Lefèvre, Sully-Prudhomme, Leconte-Delisle, Louis Mesnard, José de Heredia, et vingt autres. [...] le propre de tous ces poëtes, c’est de n’avoir pas d’ennemis; c’est d’aimer toutes choses au même degré; [...] c’est de ne se passionner que pour la couleur. J’en connais, hélas! qui aiment les scènes de martyre, les chevalets, des bûchers, les flammes non à cause ces augustes visages de nos saints où tout le ciel s’épanouit, mais parce que les flammes sont d’un beau rouge et ,font bien dans le paysage‘! [...] J’ajoute que cette indifférence des poëtes me paraît un danger réel, une des formes du satanisme.27

ren (vgl. Henning Hufnagel, „Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien in der Lyrik der Parnassiens“, in: Niklas Bender/Steffen Schneider (Hrsg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen 2010, S. 53–71), scheint sich hier eine bemerkenswerte paradoxe Spannung aufzutun: Die Dichter objektivieren – während der Philologe subjektiv argumentiert? 25 Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 116. Dieselbe – bis heute gültige – Charakterisierung des Parnasse findet sich schon bei Ibrovac in den 1920er Jahren: „Le Parnasse attend encore un historien, qui analysera les traits principaux de sa poétique: l’objectivité, qualifiée à tort d’impersonnalité et d’impassibilité; la condensation, ou, comme disait Gustave Flaubert, la densité; le souci d’épurer, d’élever et, partant, d’isoler la poésie“ (Miodrag Ibrovac, José-Maria de Heredia. Sa vie – son œuvre, Paris 1923, S. 72). 26 Vgl. Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 115: „Les Parnassiens ont été sensibles à l’harmonie des vers de Chénier. Ils lui ont emprunté des procédés, comme les multiliaisons la répétition d’un même vers ou d’un même hémistiche, les vers remplis de noms propres aux belles sonorités.“ 27 Gautier, Portraits littéraires, S. 420–421. Umso wichtiger sei es, dem Parnasse aus gläubiger, christlicher Perspektive etwas ästhetisch Gleichwertiges entgegenzuhalten: „Le Parnasse con-

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Sosehr Léon Gautier und der Parnasse ideologisch differieren, das ästhetischkritische Verständnis, das ihren Texten zugrunde liegt, ist über weite Strecken dennoch dasselbe. Es sei erlaubt, als Beleg hierfür biographische Fakten anzuführen, denn nicht nur Gautier, sondern auch Calmettes und Heredia waren chartistes, Schüler der École des Chartes. Im Falle Heredias kann man sogar noch einen Schritt weitergehen und konstatieren: Die wissenschaftliche Ausbildung Gautiers und Heredias ist bis ins Detail nahezu identisch, denn beide studierten, wenn auch etwas zeitversetzt, bei denselben Professoren: bei Lacabane in Paläographie, bei Guessard in Romanischer Philologie und bei Quicherat in Archäologie, den drei damaligen Kernfächern der École.28 Heredia war somit artiste und chartiste gleichzeitig; die wissenschaftliche Ausbildung hat in seinem poetischen Werk, auch wenn er der Wissenschaft früh den Rücken zugewandt hatte, bleibende Spuren hinterlassen. Zu Recht hat Ibrovac in seiner zweibändigen, bis heute gültigen Monographie zu Heredia aus den 1920er Jahren festgehalten: „Les sources des Trophées nous révèlent à quel point leur auteur avait fait œuvre d’historien.“29 Heredias historiographisch ebenso wie philologisch geschulter Blick manifestiert sich jedoch nicht nur in seiner eigenen Dichtung, sondern auch in seiner noch im hohen Alter angefangenen Edition von Chéniers Bucoliques.30 Im Vorwort zu seiner Ausgabe schildert Heredia, wie er in der Nationalbibliothek das Originalmanuskript der Bucoliques erstmals in den Händen hält und laut zu rezitieren beginnt – eine Situation, die in gewisser Weise an die in L’Aveugle präfigurierte séance épique gemahnt: Lorsque, dans la salle des Manuscrits de la Bibliothèque Nationale, j’ouvris au hasard le volume des Bucoliques d’André Chénier, et que je lus en haut d’un feuillet de papier

temporain me paraît une leçon pour les catholiques eux-mêmes. Il faut que nos poëtes prennent le contre-pied de cette poésie. [...] Nous avons besoin de poëtes“ (ebd., S. 422). 28 Ebenso wie Gautier, der 1855 von der École abging, gehörte Heredia von 1862–1865 stets zu den besten Studenten seines Jahrgangs, verließ die École aber dennoch 1866 (just in dem Jahr also, als Gautier als Dozent an sie zurückkehrte) ohne Abschluss und ohne seine thèse zu Ende geschrieben zu haben – wohl aus privaten Gründen, bedingt durch seine Heirat einerseits, andererseits aber auch durch die Tatsache, dass er als Ausländer in Frankreich trotz eines Abschlusses an der École des Chartes nie in den für ihre Absolventen vorgezeichneten Staatsdienst hätte eintreten können (vgl. Ibrovac, José-Maria de Heredia. Sa vie – son œuvre, S. 53–54). Vgl. auch Guignard, „José-Maria de Heredia et l’Ecole des chartes“. 29 Ibrovac, José-Maria de Heredia. Sa vie – son œuvre, S. 54. 30 Vgl. Guignard, „José-Maria de Heredia et l’Ecole des chartes“, S. 224: „[…] pour l’édition des Bucoliques d’André Chénier, il examina les brouillons du poète avec la minutie d’un chartiste et put ainsi restituer dans sa teneur première un poème que les éditeurs avaient rendu inintelligible.“



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bleuâtre, écrits d’une encre pâlie par le temps, les premiers vers, [...] un frisson religieux (je ne saurais trouver un mot plus juste) me fit tressaillir […]31

Die Entdeckung von Chéniers handschriftlichem Manuskript scheint Heredia, der seit 1901 als Direktor der Bibliothèque de l’Arsenal amtierte, die paläographischen Methoden seiner Studentenjahre wieder in Erinnerung gebracht zu haben. Trotzdem bleibt eine gewisse Spannung zwischen philologischer Textpräsentation und poetischem Gestaltungswillen des Herausgebers Heredia spürbar, denn seine 1907 postum erschienene Edition der Bucoliques geißelt zwar einerseits die Verfälschungen früherer Herausgeber im Zeichen der Texttreue,32 verbannt aber gleichzeitig – und hier ist der chartiste Heredia dann doch wieder zu sehr artiste – den objektivierenden wissenschaftlichen Anmerkungsapparat in den Anhang: „Les notules scientifiques et littéraires qui, par leur caractère spécial, auraient pu nuire à l’harmonie de l’ensemble, ont été, pour la plupart, reportées aux Notes.“33 Am bemerkenswertesten jedoch ist Heredias freier, intuitiver Ordnungswille: „Un ordre arbitraire, pour un livre, est préférable au désordre“,34 schreibt er und rechtfertigt so seine von den bisherigen Editionen abweichende, allein von subjektivem ästhetischem Empfinden geleitete Reihung der Gedichte. Die Tatsache, dass Heredia dabei die Bucoliques – in Walters Pléiade-Ausgabe sowie in der von Dimoff besorgten Ausgabe der Œuvres complètes ist dies nämlich ebenso wie in früheren Editionen des 19. Jahrhunderts gerade nicht der Fall – ausgerechnet mit L’Aveugle und Chéniers singendem Homer beginnen lässt, sperrt sich einer eindeutigen, rationalen Erklärung. Eingedenk der Salons jedoch, in denen Heredia seine Dichtung als moderner jongleur, der sein Epenfragment Détresse d’Atahuallpa rezitiert,35 empathisch-subjektiv in Szene setzte – wobei das Pathos des Vortrags die (nur) auf dem Papier entsubjektivierte parnassische Dichtung 31 José-Maria de Heredia, „Le manuscrit des Bucoliques“, in: André Chénier, Les Bucoliques. Publiées d’après le manuscrit original dans un ordre nouveau, José-Maria de Heredia (Hrsg.), Paris 1907, S. III. 32 Vgl. ebd., S. V: „Mais quelle ne fut pas ma surprise d’avoir à constater, à chaque page, les innombrables changements de ponctuation, les fautes de lecture, les graves altérations du texte, dont les anciens éditeurs, sans en excepter M. Gabriel de Chénier, le moins pardonnable de tous puisqu’il détenait les manuscrits, ont, en plus d’un endroit, défiguré les vers des Bucoliques.“ 33 Ebd., S. VIII. 34 Ebd. 35 Vgl. die Lesungen in Leconte de Lisles Salon auf dem Boulevard des Invalides Nr. 8, oben im fünften Stockwerk: „C’est là que Sully Prudhomme dit le Vase brisé, la Grande Ourse, Coppée ses Aïeuls, Heredia son prologue de la Détresse d’Atahuallpa. Les soirées de gala étaient celles où le maître lisait quelque poème qu’il venait de terminer: le Lévrier de Magnus, la Vérandah, Qaïn. Le récitatif de Leconte de Lisle, ‚lent et mysterieux‘, donnait un frisson d’infini à cette poésie apocalyptique“ (Ibrovac, José-Maria de Heredia. Sa vie – son œuvre, S. 95).

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reauralisiert36 –, ließe sich zumindest die These vertreten, dass der über Chénier neu vermittelte Topos des singenden Dichters als Ausdruck der Selbstinszenierung des Künstlers auch im Parnasse aktualisiert und performativ realisiert wird: Indem Heredia L’Aveugle an den Anfang seiner Chénier-Edition setzt, erhebt er Homer zum überzeitlichen Emblem oder Ideal des Dichters, der nicht nur schreiben, sondern auch singen soll.

V José-Maria de Heredias Epenfragment Détresse d’Atahuallpa und der Einfluss Chéniers Das Epos Détresse d’Atahuallpa über die Eroberung Perus unter Francisco Pizarro, aus dem Heredia u.a. in Leconte de Lisles Salon gelesen hat, ist ebenso wie Chéniers Amerika-Epos Fragment – und somit nur ein Projekt – geblieben. Allen Ratschlägen und Ermunterungen Leconte de Lisles zum Trotz37 hat Heredia nur den ersten Gesang fertiggestellt, der sodann unter dem Titel Les Conquérants de l’Or am Ende der Trophées – d.h. nach den Sonetten sowie den romanzenhaften epischen Gedichten über den Cid – platziert und veröffentlicht worden ist. Wenn Mortelette der Meinung ist, „[...] Les Trophées sont souvent proches de la manière des Bucoliques; [...] et ‚Les Conquérants de l’or‘ de Heredia se souviennent des fragments de L’Amérique“,38 so stellt sich die Frage, inwiefern sich der doppelte Einfluss Chéniers in den Trophées bzw. im zu diesen gehörenden epischen Gesang Les Conquérants de l’Or tatsächlich nachweisen lässt. Zwar ist es richtig, dass sich Heredia nicht zuletzt durch Louÿs’ expliziten Vergleich mit der Edition der Chénierschen Fragmente 1893 endlich dazu überreden ließ, die Trophées zusammen

36 Lyrische bzw. epische Dichtung scheint unter Umständen eben doch mehr zu sein als bloße ‚Performativitätsfiktion‘ (vgl. Klaus W. Hempfer, Lyrik. Skizze einer systematischen Theorie, Stuttgart 2014) – spätestens dann, wenn sie tatsächlich vorgetragen wird, löst sich der fiktionale Charakter ihrer Performativität auf. Der von Joyce Coleman vorgeschlagene Terminus ‚Auralität‘, der das Ohr (auris) des Rezipienten und die Aura des Vortrags mit dem geschriebenen Text des Produzenten koppelt, scheint uns in der hier beschriebenen Situation zielführender (zum Auralitätsbegriff vgl. Marco Thomas Bosshard, „Die Aufklärung als Nullpunkt epischer Auralität der Moderne? Voltaires Henriade und die Rezitations- und Deklamationspraktiken im Frankreich des 18. Jahrhunderts“, in: Romanistisches Jahrbuch, 63/2013, S. 172–195). 37 Vgl. Leconte de Lisles Brief an Heredia vom 12.7.1869: „Reste la composition projetée. Ce que vous m’en dites me semble excellent. Je crois en effet qu’il faut, pour l’unité de l’œuvre, concentrer la scène dans la Chambre d’or. […] Le poème, ainsi composé, se tiendra de pied en cap. Revenez surtout de Vichy avec le monstre complet. Croyez-moi, le reste ira de soi“ (zitiert nach Ibrovac, José-Maria de Heredia. Sa vie – son œuvre, S. 274). 38 Mortelette, Histoire du Parnasse, S. 118.



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mit den Conquérants de l’Or zu veröffentlichen;39 auf der inhaltlichen Ebene gibt es zwischen den amerikanischen Epenfragmenten Chéniers und Heredias jedoch keinen wirklichen gemeinsamen Nenner. Es fällt auf, dass sich Heredia mit der Eroberung Perus und der Gefangennahme des Inkakönigs Atahuallpa durch die Spanier einen Stoff ausgesucht hat, der bei Chénier weder vorkommt noch skizziert wird. In den gerade einmal 18 erhaltenen Versen des zweiten Fragments aus L’Amérique spricht zwar ein Inka – allerdings berichtet dieser nicht etwa von der Eroberung Perus, sondern derjenigen Mexikos.40 Angesichts der Tatsache, dass sich Heredia seinerseits jahrelang intensiv historiographisch mit der Eroberung Mexikos auseinandersetzte, als er zwischen 1877 und 1887 Bernal Díaz de Castillos Chronik über die Eroberung Mexikos vollständig ins Französische übersetzt hat41 – eine verdienstvolle Tat, die ohne die Ausbildung an der École des Chartes so bestimmt nicht möglich gewesen wäre –, mag die Entscheidung gegen die Eroberung Mexikos und für die Eroberung Perus als historischer Stoff für sein Epenprojekt Détresse d’Atahuallpa durchaus erstaunen und sich dadurch erklären, dass er die von Chénier hinterlassene Leerstelle bewusst auszufüllen versucht. Doch auch im Zuge seiner poetischen Darstellung der Eroberung des Inkareichs greift er fundamental auf historiographische Quellen zurück – wie Ibrovac gezeigt hat, vor allem (aber nicht ausschließlich) auf Prescott.42

39 Vgl. Jean-Paul Goujon, „José-Maria de Heredia et Pierre Louÿs d’après leur correspondance inédite“, in: Keith Cameron/James Kearns (Hrsg.), Le champ littéraire 1860–1900. Etudes offertes à Michael Pakenham, Amsterdam/Atlanta 1996, S. 239–248, hier: S. 241. 40 Vgl. Chénier, Œuvres Complètes, S. 428: „Un Inca, racontant la conquête du Mexique par les Espagnols, que le peuple prenait pour des dieux, s’exprime ainsi: [...].“ Wohl weil Pizarro (und damit indirekt auch Peru) an einer Stelle erwähnt wird (vgl. ebd., S. 426), wurden Chéniers Amerika-Fragmente in der ersten Phase seiner Rezeption als Skizzen zu einem Poëme sur la Conquête du Pérou aufgefasst (vgl. François-Jospeh-Marie Fayolle, Mélanges littéraires, composès de morceaux inédits de Diderot, de Caylus, de Thomas, de Rivarol, d’André Chénier, etc., Paris 1816, S. VIII); Becq de Fouquières kolportiert diese Information dann in seiner Chénier-Edition weiter (vgl. André Chénier, Poésies. Éd. critique, étude sur la vie et les œuvres par L. Becq de Fouquières, Paris 1862, S. 371). Den besten Überblick über mögliche Lektüren und Realisierungen amerikanischer Stoffe bei Chénier gibt Marc Regaldo, „Philosophie et épopée: l’Amérique espagnole d’André Chénier“, in: Centre national de la recherche scientifique (Hrsg.), L’Amérique espagnole à l’époque des Lumières: tradition-innovation-représentation, Paris 1987, S. 339–352. 41 Vgl. Ibrovac, José-Maria de Heredia. Sa vie – son œuvre, S. 153. 42 Vgl. Miodrag Ibrovac, José-Maria de Heredia. Les sources des Trophées, Paris 1923, S. 170: „Sans doute, l’ouvrage de W.-H. Prescott sur la conquête du Pérou n’a pas été la source unique où Heredia a puisé pour écrire ce poème. […] Mais parmi les éditions françaises sur la découverte du Pérou que nous avons pu voir et que le poète possédait dans sa bibliothèque, le livre de Prescott présente le plus d’analogie avec le fragment epique [sic].“ Ibrovac nennt als Quellen außerdem

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Anders als bei Léon Gautiers Strategie der fiktionalen Rahmung von Faktualem haben wir es bei Heredias epischem Langgedicht am Ende der Trophées – und hierin wird die Kontinuität ebenso wie der Bruch mit der École de Chartes deutlich – mit einer faktualen, quellengesättigten und -gestützten Rahmung fiktional ausgestalteter Inhalte zu tun. Die wissenschaftliche Prosa der École des Chartes und ihre insbesondere bei Gautier paradoxerweise subjektivierenden Tendenzen erscheinen so als eine Art intrinsisches Negativ der poetisch objektivierenden Parnassedichtung und umgekehrt; in beiden Fällen greifen Fakten und Fiktion ineinander und deuten so in ihrer Gegenläufigkeit auf eine noch nicht hinreichend ausdifferenzierte Trennung von Historiographie, Philologie und Poesie hin. Heredias Selbstverständnis scheint sich hierbei durchaus mit demjenigen seines Lehrers Leconte de Lisle zu decken, für den seine Poèmes antiques „keine Gedichte, sondern historiographische Studien“43 darstellten. Daraus darf nun zwar nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, es handele sich bei Heredias Trophées um eine veritable historiographische écriture; allerdings wird man sie durchaus als Historiographie mit anderen – nämlich poetischen – Mitteln beschreiben dürfen, die bedingt durch diese Kombination notwendigerweise auf das (Erbe des) Epos zurückgeworfen wird, selbst wenn dieses als Folge seiner im Laufe des 19. Jahrhunderts kontinuierlichen „miniaturisation“44 gerade bei Heredia auch in kondensierter Sonettform wiederkehrt. Die Behauptung, der Parnasse versuche, mit einem zwischen Historiographie und Philologie angesiedelten wissenschaftlichen Rüstzeug, wie es an der École des Chartes zeitgleich institutionalisiert wurde, das epische Projekt Chéniers fortzuschreiben, indem er das Wissen der Epoche – bzw. das Wissen über andere, vergangene Epochen – mit poetischen Mitteln darzustellen trachtet, darf daher als durch das hier eingebrachte Material belegte Schlussfolgerung stehenbleiben.

Bibliographie Andrews, Chris, Poetry and Cosmogony: Science in the Writing of Queneau and Ponge, Amsterdam 1999. Bosshard, Marco Thomas, „Die Aufklärung als Nullpunkt epischer Auralität der Moderne? Voltaires Henriade und die Rezitations- und Deklamationspraktiken im Frankreich des 18. Jahrhunderts“, in: Romanistisches Jahrbuch, 63/2013, S. 172–195. Chénier, André, Œuvres Complètes, Gérard Walter (Hrsg.), Paris 1958.

Monographien von W. Irving, N. la Coste, Fr. Xérès, A. Zarate und merkt an, dass sich in Heredias Bibliothek neben Bernal Diaz 185 Bände über Amerika befanden (vgl. ebd., S. 273). 43 Hufnagel, „Entsubjektivierung“, S. 53. 44 Daniel Madelénat, L’épopée, Paris 1986, S. 237.



André Chéniers epische Dichtung 

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Ulrike Zimmermann (Freiburg)

(R)Evolutionslyrik?

Charles Darwin in Light Verse von britischen Dichterinnen des späten 19. Jahrhunderts Lyrik und Naturwissenschaften, Poesie und Wissen – oder gar poetische Wissensvermittlung? – haben viele unterschiedliche Schnittstellen. Jede Betrachtung wird daher nur einen kleinen Ausschnitt eines Phänomens beinhalten, das bis heute eine Vielzahl von Diskursen beherrscht. Während es verschiedene Stellen gibt, an denen historisch eine Kluft zwischen Lyrik und Naturwissenschaft wahrgenommen werden kann, ist das 19. Jahrhundert insgesamt eine Schlüsselphase in der Wahrnehmung potenziell getrennter, gegenläufiger Diskurse.1 „History always offers a plethora of beginnings, multiple foundational moments, and the history of the literature and science divide is no exception to this rule“, so John Christie und Sally Shuttleworth in ihrer Einleitung zu der Aufsatzsammlung Nature Transfigured.2 Aus anglistischer Perspektive bietet sich als Ausgangspunkt für Überlegungen zum Thema der Brite an, der die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts und in der Folge Literatur über alle Genregrenzen nachhaltig geprägt hat: Charles Darwin, und von ihm im Besonderen der Text On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, der 1859 zum ersten Mal veröffentlicht wurde.3 Gillian Beer bemerkt zu Darwin: „[H]is appreciation of the means through which change, development, and extinction of species took place was to revolutionise our understanding of natural order [...].“4 Die Veröffentlichung des Origin war ein

1 Zur Diskussion der „zwei Kulturen“ in Großbritannien – Literatur und (Natur-)Wissenschaft – im späten 19. Jahrhundert sei an die Debatte zwischen Thomas Henry Huxley und Matthew Arnold erinnert. Die Texte sind in Auszügen abgedruckt in Laura Otis, „Prologue: Literature and Science“, in: dies. (Hrsg.), Literature and Science in the Nineteenth Century. Second edition, Oxford 2009, S. 4–8. 2 John Christie/Sally Shuttleworth, „Introduction: Between literature and science“, in: dies. (Hrsg.), Nature Transfigured. Science and Literature, 1700–1900, Manchester/New York 1989, S. 1. 3 Charles Darwin, The Works of Charles Darwin. On the Origin of Species, Bd. 15, Paul H. Barrett/R. B. Freeman (Hrsg.), New York 1988. 4 Gillian Beer, Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and NineteenthCentury Fiction. Second edition, Cambridge 2000, S. 3. In diesem Schlüsseltext befasst sich Beer leider ausschließlich mit Prosa. Ihr Essay „Lineal Descendants: The Origin’s Literary Progeny“ schließt Dichtung mit ein und erwähnt kurz May Kendall und Constance Naden; er ist publiziert

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„foundational moment“, der die Beziehung zwischen Lyrik (wie den „schönen Künsten“ im Allgemeinen) und den Naturwissenschaften, die sich im 19. Jahrhundert in einem Prozess der Differenzierung befand, unumkehrbar verändert hat. Christie und Shuttleworth betonen, wie wichtig es ist, die Grenzen zwischen den Bereichen nicht als natürlich – oder wissenschaftstheoretisch – gegeben zu akzeptieren. Sie verweisen auf the potential complexity of the terrain of literature and science once the strict and definitive boundary between them is not taken for a feature of the natural landscape, but recognised as a cultural artefact. As a cultural artefact, the bounded opposition of literature and science has been and is real enough.5

Im Folgenden wird sich dieser Beitrag auf den Grenzlinien bewegen, immer unter der Annahme, dass diese diskursiv bedingt sind. Dies gilt nicht nur für die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten von Poesie und Naturwissenschaft, sondern auch für die der verschiedenen Personen, die in dem Feld agieren: Männer und Frauen im Literaturbetrieb und in den Naturwissenschaften. Bei der Analyse spätviktorianischer Dichtung von Frauen soll im Blick behalten werden, dass aufgrund von weiblicher Sozialisation und den eingeschränkten Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen im späten 19. Jahrhundert Verwerfungen und Grenzziehungen zwischen Lyrik und den Naturwissenschaften auch als Genderdiskurs sichtbar gemacht werden können. Es soll untersucht werden, wie sich die darwinistische Evolutionstheorie in und zu diesen Gedichten verhält und wie sich die Autorinnen als Produzentinnen von Gedichten zu naturwissenschaftlichen Themen positionieren. Dabei ist besonders die Tatsache von Interesse, dass das spätere 19. Jahrhundert die Zeit der Aufspaltung der (empirischen) Naturwissenschaften in verschiedene, oftmals neue, Disziplinen ist, die zugleich immer weniger als Hobby denn als Beruf gelten. Bernard Lightman beschreibt die Situation wie folgt: Excluded from universities until the end of the century, prevented from joining many scientific societies, faced with an intellectual redefinition of science hostile to women as a result of the growing force of professionalization, and portrayed by Darwin as intellectually

in: Michael Ruse/Robert J. Richards (Hrsg.), The Cambridge Companion to the „Origin of Species“, Cambridge 2009, URL: http://dx.doi.org/10.1017/CCOL9780521870795, S. 275–294 (Stand: 05.01.2014), hier 290. Helen Groth analysiert in ihrem Essay „Victorian Women Poets and Scientific Narratives“, wie sich Elizabeth Barrett Browning, Christina Rossetti und Mathilde Blind in ihrer Dichtung mit den Naturwissenschaften auseinandersetzen; der Essay ist publiziert in Isobel Armstrong/Virginia Blain (Hrsg.), Women’s Poetry, Late Romantic to Late Victorian, Gender and Genre, 1830–1900, London/New York 1999, S. 325–351. 5 Christie/Shuttleworth, „Introduction“, S. 3.

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inferior due to the evolutionary process, women in Britain were confronted by a multitude of obstacles when they attempted to be part of the scientific world.6

Dies hat zur Folge, dass sich zum einen zunehmend spezialisierte Sprachen herausbilden, die die Naturwissenschaften und den Literaturbetrieb trennen, und zum anderen Frauen in diesem Professionalisierungsprozess an den Rand gedrängt werden. Es wird daher wichtig sein, die Beispiele vor diesem Hintergrund zu lesen.

I C  harles Darwin und der Paradigmenwechsel: Der entthronte Mensch Charles Darwins Erkenntnisse lösten scharfe Debatten und intellektuelle wie moralisch-religiöse Kämpfe aus, die das Welt- und Selbstverständnis seiner Zeitgenossen und -genossinnen nachhaltig verändern sollten. Dazu gehörte etwa die Oxford Evolution Debate von 1860, in der sich Samuel Wilberforce, der Bischof von Oxford, gegen Darwins Erklärung der Entstehung der Arten wandte und in einen heftigen Wortwechsel mit Thomas Henry Huxley geriet (Darwin selbst war abwesend), aus dem Huxley als rhetorischer Sieger hervorging. Diese Debatte ist, wie Jonathan Smith in seiner luziden Rezension von Ian Heskeths Monographie Of Apes and Ancestors. Evolution, Christianity, and the Oxford Debate anmerkt, als kulturgeschichtlicher Moment wichtiger denn als wissenschaftlicher Beitrag zur Evolutionstheorie. Die Oxford Debate wird als ikonischer Moment eines Zusammenpralls verschiedener Sichtweisen auf den Menschen erinnert und damit zum Ausdruck sich ausdifferenzierender Wissenskulturen.7 Die im Folgenden verwendeten Textbeispiele, Gedichte von Constance Naden und May Kendall, sind knapp drei Jahrzehnte nach diesen ersten, hochkontroversen und zum Teil erbittert geführten Konflikten angesiedelt. Zu dieser Zeit hatten in der öffentlichen Wahrnehmung und in den wissenschaftlichen Diskussionen bereits tiefgreifende Veränderungen stattgefunden. John Holmes stellt in seiner Monographie Darwin’s Bards, die 2009 zum 150. Jubiläum der Erstveröffentlichung von On the Origin of Species erschien, fest, dass die Evolution um die Wende zum 20. Jahrhundert als Tatsache breit akzeptiert wurde und die 6 Bernard Lightman, Victorian Popularizers of Science, Designing Nature for New Audiences, Chicago/London 2007, S. 100. 7 Siehe Ian Hesketh, Of Apes and Ancestors. Evolution, Christianity, and the Oxford Debate, Toronto/Buffalo/London 2009, sowie die Rezension von Jonathan Smith in Victorian Studies, 54/2003, 4, S. 715–719.

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Grundsatzdiskussionen abgeebbt waren. Die großen Debatten um die Position des Menschen in einer Welt nach Origin galten inzwischen zunehmend als Angelegenheiten der Eltern- und Großelterngenerationen.8 Dafür war es möglich, sich weitergehenden Fragen und Problematisierungen der Konsequenzen von Darwins Arbeiten zuzuwenden. Vor diesem zeitlichen und kulturellen Hintergrund sind die Autorinnen, mit denen sich dieser Beitrag wesentlich beschäftigt, zu sehen: May Kendall (1861–1943) und Constance Naden (1858–1889). Beide sind nicht besonders bekannt, sondern im Laufe der Zeit aus dem Fokus gerückt.9 Dies gilt sowohl für eine kontinentaleuropäische Perspektive als auch für die Heimat der Autorinnen, das Vereinigte Königreich. Ihre Texte enthalten in ihrer zeitlichen Verortung verschiedene Annahmen, die ich hier darwinistische Grundannahmen nennen möchte und die als Hintergrund kurz ausgeführt seien. Charles Darwin war spätestens seit dem Sommer 1837, als er gerade ein Jahr von seiner Forschungsreise auf der Beagle zurückgekehrt war, von der Veränderlichkeit der Arten überzeugt. Es sollte jedoch noch weitere zwei Jahrzehnte dauern, bis er seine Erkenntnisse veröffentlichte. Seine erste und grundlegende Annahme war die Evolution als solche, also die Veränderlichkeit der Arten: nicht alles Leben auf der Erde war von Anfang an vollendet und so beschaffen, wie es die Menschen als ihre Umgebung kannten. Dies ist keine ureigentliche Entdeckung von Darwin, sondern war in den Jahrzehnten davor immer wieder diskutiert worden, etwa von Jean-Baptiste de Lamarck.10 Impliziert wurde damit,

8 Siehe hierzu John Holmes, Darwin’s Bards, Edinburgh 2013 [zuerst 2009], S. 23. Holmes weist darauf hin, dass die Evolutionstheorie im späten 19. Jahrhundert bereits ein kultureller Mythos geworden war, auf den man frei zugreifen konnte. Peter Bowlers Einwand, diese Art der Behandlung zeige, dass die Spätviktorianer im Rekurs auf Darwin-Versatzstücke gar nicht mehr wirklich darwinistisch dachten, weist Holmes als Übertreibung zurück, siehe Holmes, Darwin’s Bards, S. 6–10 und S. 37–38. 9 Insbesondere Naden ist kaum anthologisiert, wie auch Andrea Kaston Tange in ihrem Artikel feststellt: „Constance Naden and the Erotics of Evolution: Mating the Woman of Letters with the Man of Science“, in: Nineteenth-Century Literature, 61/2006, 2, S. 200–240, hier S. 202–203. Ihr Artikel widmet sich Naden ausführlich (und differenzierter, als es der etwas unglückliche Titel vermuten lässt) und sieht sie an der Schnittstelle von „poetry, science, and gender“ (S. 204). Kaston Tange tritt dafür ein, Nadens Dichtung weder nur durch ihr wissenschaftliches Werk noch als rein humoristische Fingerübungen zu lesen, und setzt sich dabei auch mit den folgenden Arbeiten auseinander: Marion Thain, „Love’s Mirror; Constance Naden and Reflections on a Feminist Poetics“, in: English Literature in Transition, 1880–1920, 41/1998, S. 25–41; dies., „,Scientific Wooing‘: Constance Naden’s Marriage of Science and Poetry“, in: Victorian Poetry, 41/2003, 1, S. 151–169; Patricia Murphy, „Fated Marginalization: Women and Science in the Poetry of Constance Naden“, in: Victorian Poetry, 40/2002, 2, S. 107–130. 10 In deutscher Übersetzung etwa: Jean-Baptiste de Lamarck, Zoologische Philosophie, Ilse Jahn (Hrsg.), 3 Teile, Leipzig 1990–1991.

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dass die Erde mit allen Lebewesen nicht innerhalb von sieben Tagen (oder besser gesagt, von sechs, denn schließlich ruhte am siebten der Schöpfer) erschaffen worden war, sondern sich über Jahrmillionen zu dem Lebensraum entwickelte, wie er sich der wissenschaftlichen Gemeinschaft erschloss und zu erforschen war. Darwin hatte auch recht früh angenommen, dass alle Lebewesen gemeinsame Ursprünge haben. Des Weiteren war er vertraut mit dem Prinzip des Gradualismus, und zwar aus den Arbeiten des Geologen Charles Lyell, der 1830 seine Principles of Geology11 veröffentlicht hatte; Darwin konnte dieses Prinzip auf die sich verändernden und entwickelnden Arten übertragen. „Charles Lyell’s Principles of Geology shaped Darwin’s vision of nature as he circumnavigated the globe on the Beagle and as he later created his theory of evolution.“12 Lyell war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erde und vor allem die Erdoberfläche, die er studieren konnte, prozesshaften Veränderungen unterworfen ist. Damit hatte Lyell im Grunde bereits die Sensation vorweggenommen, die Charles Darwin zugeschrieben wird. Allerdings ging es Lyell nicht um Lebewesen, sondern um geologische Phänomene, und damit rührte er nicht wie Darwin direkt an das Selbstverständnis seiner Mitmenschen.13 Die natürliche Selektion ist ein weiteres Grundprinzip von Darwins Evolutionstheorie. Darwin erkannte, dass der Konkurrenzkampf um begrenzte Ressourcen sowohl zwischen verschiedenen Spezies als auch zwischen Individuen stattfindet. Dieser Kampf führt dazu, dass genetische Varianten, die von Vorteil waren, erhalten bleiben, während sich weniger vorteilhafte in einer Population nicht durchsetzen können. Zum späten 19. Jahrhundert hin entwickelte sich ein grundlegendes Verständnis von Darwinismus, das in den gebildeten Schichten nicht mehr im Grundsatz in Frage gestellt wurde und das von Holmes als „consensus, the core of Darwinism“ beschrieben wird.14 Dies gilt auch für die Autorinnen meiner Textbeispiele; sie zweifeln nicht am Prinzip der Evolution; sie wissen, wie Arten entstehen, und sie kennen das Prinzip der natürlichen Selektion

11 Eine gut zugängliche Ausgabe ist die von James A. Secord herausgegebene: Charles Lyell, Principles of Geology, James A. Secord (Hrsg.), London 1997. 12 James A. Secord, „Introduction“, in: Lyell, Principles of Geology, S. ix–xliii, hier S. ix. 13 Lyell war von der Idee der Evolution der Lebewesen geradezu abgestoßen und fand – wie viele Zeitgenossen – die Vorstellung unerträglich, dass der Mensch nichts Besonderes sei. Siehe dazu Secord, „Introduction“, S. xxviii–xxxv. 14 Holmes, Darwin’s Bards, S. 15. Holmes formuliert auch die Annahmen, die man im späten 19. Jahrhundert für richtig hielt, sofern man Darwin grundsätzlich akzeptierte, siehe S. 15–19.

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und des Überlebens der am besten angepassten Individuen, also das so oft falsch übersetzte und missverstandene „survival of the fittest“.15 Im späten 19. Jahrhundert tritt ein weiterer Text von Charles Darwin hinzu, der für die Rahmung der folgenden Textbeispiele wichtig ist: 1871 veröffentlichte Darwin The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex,16 das Buch, in dem er seine Theorien explizit auf die menschliche Evolution anwendet. Er gebraucht sie jedoch unter anderem auch dazu, den untergeordneten Status der Frau als Ergebnis einer natürlichen, evolutionären Entwicklung darzustellen.17 Nach Darwin haben Männer die Wahl von Werkzeugen und Waffen perfektioniert und sich dadurch ihre Überlegenheit gesichert. Dass Frauen, wie überhaupt die weiblichen Individuen einer Art, durch ihre Möglichkeit der Partnerwahl eventuell stärker die Entwicklung einer Spezies beeinflussen könnten, war ihm unwichtig. Es gab daran durchaus zeitgenössische Kritik, besonders von Frauen formuliert, die jedoch zumeist erst im 20. Jahrhundert wahrgenommen und rezipiert wurde. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang etwa die Amerikanerin Antoinette Brown Blackwell, die 1875 in The Sexes Throughout Nature erläuterte, dass Gleichberechtigung zwangsläufiges Resultat von erfolgreicher Evolution sei.18 Dieses Problemfeld scheint in allen zu besprechenden Gedichten auf unterschiedliche Weise durch. Es wird deshalb zu klären sein, wie die Autorinnen mit den Implikationen von Darwins Theorien im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Rollen und ihre Handlungsoptionen als intellektuelle Frauen im 19. Jahrhundert umgehen.

II Light verse: Ein fluides Genre Die Gedichte, die in diesem Beitrag besprochen werden, fallen in die Kategorie des light verse. Wie viele andere ist auch dieses poetische Genre nicht eindeutig

15 Herbert Spencer (1820–1903), Philosoph, Biologe und überzeugt von der Evolution, prägte die Formulierung „survival of the fittest“. Siehe zum Beispiel den kurzen Eintrag zu seinem Leben und Werk von Harry Burrows Acton, „Herbert Spencer“, in: Encyclopædia Britannica Online, URL: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/559249/Herbert-Spencer (Stand: 05.01.2014). 16 Charles Darwin, The Works of Charles Darwin. The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, Bde. 21 und 22, Paul H. Barrett/R. B. Freeman (Hrsg.), New York 1989. 17 Hierzu, und zu Zeitgenossen, die streng wissenschaftlich das Gleiche propagierten, etwa Murphy, „Fated Marginalization“, S. 107–108. 18 Zu Leben und Werk von Antoinette Brown Blackwell siehe etwa Carol Lasser, „Blackwell, Antoinette Louisa Brown“, in: American National Biography Online, 2000, URL: http://www.anb. org/articles/15/15-00064.html (Stand: 05.01.2014).

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zu definieren. Als ein Beispiel sei der Versuch der Encyclopædia Britannica zitiert: Light verse wird hier umrissen als poetry on trivial or playful themes that is written primarily to amuse and entertain and that often involves the use of nonsense and wordplay. Frequently distinguished by considerable technical competence, wit, sophistication, and elegance, light poetry constitutes a considerable body of verse in all Western languages.19

Obwohl in vielen Fällen hilfreich, liegt diese Definition zum Teil quer zur hier angestrebten Argumentation, denn Evolutionstheorie kann wohl kaum unter „playful themes“ subsumiert werden, und dennoch handelt es sich bei den zu besprechenden Texten eindeutig um light verse. Das Oxford Dictionary of Literary Terms, deutlich knapper, verzichtet weitgehend auf thematische Einschränkungen: „The general term for various kinds of verse that have no serious purpose and no solemnity of tone. They may deal with trivial subjects, or bring a lighthearted attitude to more serious ones.“20 Light verse zeichnet sich häufig durch Sprecherfiguren aus, die ihre Themen spielerisch-humorvoll und mit einer gewissen Leichtigkeit behandeln. Das behandelte Material kann dabei, muss aber nicht trivial sein. Es ist durchaus möglich und wird immer wieder unternommen, ernste Sujets in leichtem Ton zu behandeln. Generell ist die verbreitete Annahme, dass light verse grundsätzlich keinem ernsten Zweck diene und keine schweren Themen behandle, zu hinterfragen. Selbst die häufig genannte Motivation von Dichtern und Dichterinnen, durch Betätigung in dem Genre ihre Versiertheit zu beweisen, ist schließlich durchaus ernstgemeint und ernst zu nehmen. Eine Arbeitsdefinition im gegenwärtigen Rahmen könnte also „no solemnity of tone“ sein, ein leichter, dezidiert unfeierlicher, man könnte sogar sagen, unpoetischer Ton sowie die „lighthearted attitude“, die im light verse verbreitet wird. Kennzeichnend sind of die beachtlichen technischen Fähigkeiten, die in die Gedichte eingebracht werden. Es gibt natürlich auch poetic diction in light verse, diese wird jedoch zumeist in ironischer oder satirischer Absicht eingesetzt. Die Traditionslinien von light verse sind lang, wie auch die Namen der Produzenten durchaus respekteinflößend; so haben in Großbritannien etwa die cavalier poets des 17.  Jahrhunderts viel light verse geschrieben, ebenso wie später John Dryden und Alexander Pope. Eine

19 [Anon.], „Light verse“ (2013), in: Encyclopædia Britannica Online, URL: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/340694/light-verse (Stand: 05.01.2014). 20 [Anon.], „Light verse“, in: Chris Baldick (Hrsg.), The Oxford Dictionary of Literary Terms, Oxford 2008, URL: http://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780199208272.001.0001/ acref-9780199208272-e-654?rskey=dr=Ptw&result=1 (Stand: 05.01.2014).

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weitere Blütezeit erlebte light verse im späten 19. Jahrhundert, als in den populären Zeitschriften diese Textsorte besonders gefragt war.21 In diese Phase gehören Constance Naden und May Kendall, wobei gerade die Letztere Gedichte für Zeitschriften produzierte.

III Constance Naden: Evolutional Erotics Constance Naden wurde 1858 in der Nähe von Birmingham geboren und war offenbar vielseitig interessiert und talentiert. Sie studierte Philosophie und Naturwissenschaften, unter anderem am Mason Science College in Birmingham, einer Institution, die sich explizit auf die Fahnen geschrieben hatte, ihre Studentinnen und Studenten nicht nur in den schönen Künsten, sondern auch in den immer wichtiger werdenden Naturwissenschaften auszubilden. Das Mason Science College war eine Vorläuferinstitution der University of Birmingham.22 Constance Naden schrieb und publizierte Gedichte und naturwissenschaftliche Essays. Eine Erbschaft nutzte sie dazu, größere Reisen zu unternehmen; so bereiste sie Palästina, Indien und Ägypten. Nach ihrer Rückkehr wurde sie Teil der lebhaften wissenschaftlichen Szene in London – leider nur für ein Jahr, denn sie starb bereits 1889 im Alter von 31 Jahren.23 Marion Thain stellt in ihrem ausführlichen und sehr lesenswerten Aufsatz wichtige Elemente im Schreiben von Constance Naden überzeugend heraus. Naden veröffentlichte einen Teil ihrer Texte unter geschlechtsneutralen Pseudonymen wie „C. Arden“ oder einfach „C.A.“, doch spiegelt diese Zweiteilung offenbar keine binäre Spaltung in die zwei Identitäten der Dichterin und der Naturwissenschaftlerin wieder. Vielmehr veröffentlichte Constance Naden wichtige akademische Essays für ihr College sowie ihre Gedichte unter ihrem wirklichen Namen. Ihre philosophischen Texte zum Konzept des Hylo-Idealismus hingegen, für die sie mit Robert Lewins zusammenarbeitete, brachte sie zumeist unter Pseudonym heraus.24 Ihre verschiedenen Personen sind also kein Ausdruck eines Bruchs ihrer naturwissenschaftlichen mit der poetischen Identität, sondern die Situation stellt sich komplexer dar. Die

21 [Anon.], „Light verse“, in: Encyclopædia Britannica Online. 22 Siehe Thain, „‚Scientific Wooing‘“, S. 152–155. In ihrem früheren Artikel stellt Thain Nadens dichterisches Schaffen in den Mittelpunkt: Thain, „Love’s Mirror“, S. 25–41. 23 Für einen kurzen biographischen Abriss siehe Virginia Blain (Hrsg.), Victorian Women Poets, A New Annotated Anthology, Harlow 2001, S. 235–237. Dies ist eine der wenigen Anthologien, in denen die Evolutional Erotics abgedruckt sind. Zur Biographie auch Kaston Tange, „Constance Naden and the Erotics of Evolution”, S. 204–205. 24 Thain, „‚Scientific Wooing‘“, S. 152–153.

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Poetin und erfolgreiche College-Studentin firmiert unter einem anderen Namen als die spekulative Philosophin. Wenn man einen Schluss aus dieser Vorgehensweise ziehen möchte, dann diesen, dass es für Naden zumindest keine intellektuelle Verwerfungslinie zwischen ihren poetischen und ihren naturwissenschaftlichen Interessen gab, wohl aber eine zwischen ihren Aktivitäten am College und ihren sonstigen Arbeiten. Im Jahr 1887 veröffentlichte Constance Naden eine kleine Sammlung von Gedichten, die den Titel Evolutional Erotics tragen. In diesen Gedichten werden bewusst naturwissenschaftliche Denkmuster mit den Themen von Liebeslyrik zusammengebracht. Vereinfacht, aber treffend bemerkt Nicholas Tam, dass es in ihnen um „the collision of love and the scientific mind“ gehe.25 In dem Gedicht „Solomon Redivivus“, das 1886 entstand, wird die legendäre Liebesgeschichte zwischen König Salomon und der Königin von Saba als Evolutionsmythos erzählt. In der Bibel wird nur von einem Treffen, nicht aber von Liebe der beiden Herrscherfiguren berichtet:26 die Königin von Saba hat von der Weisheit König Salomons gehört und besucht ihn, um ihn mit Rätseln auf die Probe zu stellen. „Salomon gab ihr Antwort auf alle Fragen. Es gab nichts, was dem König verborgen war und was er ihr nicht hätte sagen können.“27 Die Königin von Saba bewundert seine unermesslichen Reichtümer, und die beiden beschenken sich gegenseitig reichlich, bevor die Königin mit ihrem Gefolge nach Saba zurückzieht. Eine Liebesbeziehung wird nicht explizit erwähnt, doch „König Salomon gewährte der Königin von Saba alles, was sie wünschte und begehrte.“28 Constance Nadens Gedicht besteht aus 16 vierzeiligen Strophen in jambischen Trimetern, folgt also einer recht einfachen, balladenhaften Struktur. Der Sprecher ist durchgängig König Salomon, der zur Königin von Saba spricht. In seiner Darstellung ihrer Liebesgeschichte fallen Ontogenese (die Entwicklung eines individuellen Lebewesens) und Phylogenese (die stammesgeschichtliche Entwicklung) zusammen, was den Eindruck der Überzeitlichkeit dieser Liebe entstehen lässt und auf streng naturwissenschaftlicher Basis beweist, dass das Liebespaar von Anbeginn des Lebens auf der Erde füreinander bestimmt gewesen

25 Nicholas Tam, „Constance Naden’s Deep Darwinian Lays“, in: Nick’s Café Canadien, 2011, URL: http://www.nicholastam.ca/2011/01/07/constance-nadens-deep-darwinian-lays/ (Stand: 05.01.2014). 26 Das Treffen der Monarchen findet sich im 1. Buch der Könige 10, 1–13 und fast identisch im 2. Buch der Chronik 9, 1–12. Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Stuttgart 1986. 27 Ebd., 1. Buch der Könige 10,3. 28 Ebd., 1. Buch der Könige 10,13.

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sein muss.29 Dieses nicht besonders originelle Motiv wird hier humoristisch mit einer tour de force durch die Evolution verbunden. König Salomon stellt sich in der ersten Strophe vor. „WHAT am I? Ah, you know it, / I am the modern Sage, / Seer, savant, merchant, poet – / I am, in brief, the Age.“30 Er vermittelt der Adressatin, die zunächst nicht namentlich genannt wird, dass er eine Geschichte zu erzählen gedenkt, und es ist eine potenziell zeitgenössische Geschichte. Salomon kann viele Rollen annehmen, und er ist ganz offensichtlich mit der Zeit gegangen: er ist nicht nur Seher, Weiser und Poet, sondern auch Handeltreibender. In der zweiten Strophe wird die Geschichte, die er zu erzählen gedenkt, als viel interessanter als seine Reichtümer angekündigt und seine sprichwörtliche Weisheit gar nicht erst erwähnt. „Look not upon my glory / Of gold and sandal-wood, / But sit and hear a story / From Darwin and from Buddh.“ Darwin und Buddha werden gleichrangig und ohne inhaltliche Unterscheidung genannt und syntaktisch parallel positioniert. Ein humoristischer Effekt entsteht zusätzlich durch die Verkürzung des Namens Buddhas um des Reimes mit „wood“ willen. Hier deutet sich bereits an, dass religiös-philosophische und naturwissenschaftliche Deutungen menschlichen Lebens und menschlicher Geschichte gleichermaßen wichtig für das Gedicht sein werden; dies kennzeichnet das gesamte dichterische Werk Constance Nadens. In den Strophen drei bis fünf bittet Salomon die Königin (die noch immer ungenannte, implizierte Adressatin ist), nicht auf seine Schätze zu schauen, sondern auf seine angekündigte Geschichte. Diese sei mit ihrer eigenen eng verwoben und deshalb wichtiger als jegliche Rätsel, die sie ihm aufgeben könnte. Überraschenderweise ist es „our wondrous tale“ (Strophe 5, Hervorhebung: UZ), obwohl bis hierher nicht konstatiert wurde, dass sich die beiden früher bereits begegnet sein könnten.31 Dies ist jedoch tatsächlich der Fall: König Salomon und die

29 Siehe dazu auch Kaston Tange, „Constance Naden and the Erotics of Evolution“, S. 219. Kaston Tanges Essay bietet weitere Nuancen der Interpretation auf S. 238: Zusammenfassend ließe sich zitieren: „The title, ‚Solomon Redivivus‘, indicates that Naden is offering a reconstruction of Solomon, but with clear connotations of renovation and recycling: as the story is recycled – reenacted again and again in successive evolutionary moments – it is simultaneously renovated through translation of a biblical story into a modern scientific context.“ 30 Alle Zitate aus Nadens Gedichten sind der digitalisierten Ausgabe entnommen. Vgl. Con­ stance Naden, „Solomon Redivivus“, in: The Complete Poetical Works of Constance Naden, London 1894, Victorian Women Writers Project, Indiana University Digital Library Program, 2010. URL: http://purl.dlib.indiana.edu/iudl/vwwp/VAB7115 (Stand: 05.01.14). – Beide Gedichte finden sich im Nachdruck im Anhang dieses Beitrags. 31 Murphy, „Fated Marginalization“, interpretiert den Text deutlich pessimistischer und sieht allein Salomon als die treibende Kraft der Evolution, auch wenn sie seine humoristische Dar-

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Königin von Saba waren in grauer Vorzeit sogar eins, wie die sechste und die siebte Strophe ausführen. In Strophe sechs wird die Adressatin zum ersten Mal namentlich genannt. „We were a soft Amœba / In ages past and gone, / Ere you were Queen Of Sheba, / And I King Solomon. // Unorganed, undivided, / We lived in happy sloth, / And all that you did I did, / One dinner nourished both“. Die einfache Amöbenexistenz, die ohne Organe, also auch ohne Gehirn, gefristet wird, wird hier als Ideal vorgestellt, weil sie in Einheit zugebracht wird. Fast scheint dieses Bild eine Reminiszenz an Platons Kugelmenschen aus dem Symposion zu sein, wobei der Absturz der Imagination vom Menschen auf die Ebene der Einzeller tatsächlich ein tiefer ist, wenn auf diese Weise die Einheit von Liebenden beschworen werden soll. Jedoch kann der friedliche Zustand natürlich nicht ewig so bleiben, und daran ist die Frau in der Beziehung schuld – oder besser, der weibliche Anteil, den diese Amöbe offensichtlich hat: „Till you incurred the odium / Of fission and divorce – / A severed pseudopodium / You strayed your lonely course.“ Es findet eine Schizotomie statt; das einzellige Lebewesen teilt sich, und mit abgetrennten Scheinfüßchen, den Pseudopodien, kann sich die Amöben-Vorläuferin der Königin nun in eine separate Existenz aufmachen. Hier vermischt Constance Naden die Fortbewegungsmethode von Amöben durch Pseudopodien mit der Zellteilung, also der ungeschlechtlichen Vermehrung. Der Effekt ist jedenfalls durchschlagend, denn es irren nun zwei getrennte Lebewesen in der Welt umher, die sich jedoch wie ein wahrhaft füreinander bestimmtes Liebespaar immer wieder treffen. Langfristig genügt es den beiden natürlich nicht, in Gestalt zweier Amöben weiter zu leben. In der neunten und zehnten Strophe werden sie zu Manteltieren, die überraschend genau als Seescheiden (Ascidiaceae) bestimmt, doch etwas respektlos als „a bag of leather, / With stomach and with gill“ (Strophe 9) beschrieben werden. Strophe 11 beinhaltet die Weiterentwicklung und Wandlung der beiden Kreaturen zu Fischen, und in Strophe 13 gehen sie schließlich an Land und werden Reptilien „with fangs to sting and slay; / No wiser ever crept, I’ll / assert, deny who may.“ Hier trägt der extrem konstruierte Reim mit der Zäsur in der Mitte des letzten Fußes zur Komisierung bei. Doch erwartungsgemäß wird das Bedürfnis nach Verbesserung und Fortschritt bald wieder übermächtig. Beiden Lebewesen geht es offenbar auf die Nerven, Schuppen, aber dafür keine Gliedmaßen zu haben, und sie werden ganz allmählich zu Säugetieren, was Strophe 12 als langsamen, graduellen und mühevollen Prozess konzeptuell vergegenwärtigt: „But now, disdaining trammels / Of scale and limbless coil, / Through every grade of

stellung erkennt (vgl. ebd., S. 116–118).

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mammals / We passed with upward toil.“ Die beiden werden am Ende zu Primaten und schließlich zu homo sapiens sapiens – „anthropoid and wary / Appeared the parent ape / And soon we grew less hairy, / And soon began to drape.“ Bewusst spielt die Strophe auf die gemeinsame Vorfahrenlinie des Menschen mit den großen Primaten an, ja treibt die Anspielung durch die Attribuierung des „ape“ mit „parent“ noch satirisch auf die Spitze und streut Salz in die Wunden derer, die aus Darwins Theorien gelesen haben, der Mensch stamme nun eben vom Affen ab. In der letzten Strophe, jetzt majestätisch-triumphal, fasst König Salomon den unendlich langen und langsamen Evolutionsprozess in vier kurzen Zeilen zusammen und demonstriert damit die biologischen und historischen Entwicklungsspannen, die das Gedicht so nonchalant durchmessen hat. „So, from that soft Amœba, / In ages past and gone, / You’ve grown the Queen of Sheba, / And I King Solomon.“ Die beiden letzten Verszeilen krönen das Gedicht mit ironischem Unterton, so wie der Mensch als Endprodukt und Krone der Schöpfung eigentlich nur noch mit Ironie betrachtet werden kann. Der Lesefluss verweilt auf den individuellen Namen „Sheba“ (nicht der Name der Königin, sondern der Name ihres Reiches) und „Solomon“. Auf dem Sprechernamen endet das Gedicht, das bezeichnenderweise nicht mit der Frage „Who am I?“ sondern „What am I?“ begann. Constance Nadens Text verbindet auf mehreren Ebenen in humorvoller Weise die Evolutionstheorie mit einer Liebesgeschichte. Die Liebenden werden nicht nur als füreinander bestimmt konzipiert, vielmehr imaginiert das Gedicht, dass sie am Beginn ihrer Existenz eine zellbiologische Einheit waren. Sie entwickeln sich getrennt, aber gemeinsam, und durchlaufen über Äonen die komplette bislang bekannte Evolution vom Einzeller zum Menschen. Die Wortwahl und das Register des Gedichtes ist stellenweise durchaus poetisch, aber Naden macht zugleich häufigen Gebrauch von naturwissenschaftlichen Fachbegriffen, die sich ohne Hintergrundkenntnisse nicht ohne Weiteres erschließen. Man könnte argumentieren, dass Nadens Gedicht eher von Lamarckistischer denn Darwinistischer Evolutionstheorie geprägt ist. Jean-Baptiste de Lamarck hatte in seiner Philosophie Zoologique von 1809 eine der ersten Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts entwickelt und darin postuliert, dass Lebewesen sich an Veränderungen in ihrer Umgebung durch Änderungen ihrer Gewohnheiten anpassen und diese vererben können. Dabei streben die Lebewesen bewusst nach Veränderung und bewegen sich damit auf dem Weg linearer Perfektion; Evolution nach Lamarck ist also teleologisch – was Naden hier am Beispiel des König Salomon und der Königin von Saba nachvollzieht. Diese terminologische Mischung war im 19. Jahrhundert durchaus üblich. Die eigentliche Debatte zwischen Darwinisten und Lamarckisten begann erst in den frühen 1880ern. Darwin selbst hatte sich nicht besonders an Lamarck gestoßen, sondern hatte im Origin lamarckisti-

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sches Vokabular benutzt und die Vererbung erworbener Eigenschaften nicht ausgeschlossen.32 Es ist typisch für Nadens Zeit, die beiden Ansätze nicht so sauber zu trennen, wie dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich wurde. Die Anklänge an Lamarck tragen hier zum komischen Effekt bei, wenn sich König Salomon und die Königin von Saba mühevoll durch die Evolution arbeiten und dabei natürlich nicht so wirken, als seien sie dem Zufall unterworfen. Eine ähnliche und ebenso fröhliche Mixtur von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Liebesdiskurs rührt Constance Naden in dem Gedicht „Natural Selection“ an, das ebenfalls den Evolutional Erotics von 1887 entstammt.33 Wieder ist es ein erzählendes Gedicht, doch die Geschichte ist eine völlig andere. Sie beschreibt nur eine kleine Episode aus dem Leben eines Individuums. Der Sprecher ist abermals ein Mann, der seine Angebetete durch seine naturwissenschaftlichen Aktivitäten zu beeindrucken und zu gewinnen sucht. Die Strophen kommen recht getragen in Anapästen daher. „I HAD found out a gift for my fair, / I had found where the cave-men were laid; / Skull, femur, and pelvis were there, / And spears, that of silex they made.“ Nun sind diese Geschenke, die in der ersten Strophe aufgezählt werden, vielleicht nicht gerade besonders attraktiv, vor allem dann nicht, wenn die angesprochene verehrte Frau die Leidenschaft für Hominidenforschung nicht teilt. Der Sprecher macht durch die Auswahl und besonders die Reihenfolge der Knochen klar, dass er neben der Wissenschaft ein sexuelles Interesse hat: vom Schädelknochen bewegt sich der Blick zum Oberschenkelknochen und schließlich zum Becken, wobei es hier für den Kontext unerheblich ist, ob es sich um männliche oder weibliche Knochen handelt. Auch die erwähnten Speerspitzen könnten phallisch gelesen werden. Die Angebetete versteht diese Sprache jedoch nicht und hat ganz andere Sorgen – sie findet, der Sprecher habe einen zweifelhaften Charakter, weil er mit seinen Grabungen die Ruhe der Ahnen störe. Damit stellt sie sich zwar moralisch über ihn, landet aber selbst in der Ahnenreihe der Höhlenmenschen, was nicht unbedingt von ihr gewollt sein dürfte. „But he ne’er could be true, she averred, / Who would dig up an ancestor’s grave – “ (Strophe 2). Der Sprecher ist davon eher gerührt und interpretiert den Vorwurf als positiv, da seine Angebetete offenbar von der Höhle genauso beeindruckt sein müsse wie er – ein klassisches Missverständnis. „And I loved her the more when I heard / Such filial regard for the Cave.“ (Strophe 2). Auch die naturwissenschaftlichen Sammlungen aus Steinen, Fossilien und Knochen im Arbeitszimmer

32 Siehe Laura Otis, „Evolution“, in: dies. (Hrsg.), Literature and Science in the Nineteenth Century. An Anthology. Second edition, Oxford 2009, S. 235–240, besonders S. 236–238. 33 Vgl. Constance Naden, „Natural Selection“, in: The Complete Poetical Works, URL: http:// purl.dlib.indiana.edu/iudl/vwwp/VAB7115 (Stand: 05.01.2014).

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beeindrucken sie nicht weiter. Fossilien sind für die Frau nur dann interessant, wenn sie mit einer dramatischen Erwerbungsgeschichte verbunden sind (Strophe 4). Ein Erfolg ist diese Beziehung bereits in ihren Anfängen nicht. Vielmehr entwickelt das Gedicht das Klischee eines Wissenschaftlers, der sich in eine Frau verliebt, die seine Leidenschaft, sei sie Hobby oder Beruf, nicht teilt, und mit Plattitüden oder übersteigerter Emotionalisierung auf seine Versuche reagiert, sie für sein bevorzugtes Metier zu begeistern. Erwartungsgemäß beschreibt die zweite Hälfte des Gedichtes, die letzten vier Gedichtstrophen, das Scheitern, allerdings wird dieses in eher ungewöhnliche Bilder gekleidet. Denn in der fünften Strophe tritt ein besonderer Konkurrent um die Gunst der Dame auf. „But there comes an idealess lad, / With a strut, and a stare, and a smirk; / And I watch, scientific though sad, / The Law of Selection at work.“ Der Konkurrent unterscheidet sich in vielen wesentlichen Eigenschaften vom Sprecher. Nicht nur interessiert er sich nicht für Naturwissenschaften, sondern er scheint auch generell kein besonders heller oder wissbegieriger Geist zu sein. Er hat dafür andere Qualitäten: „But he sings with an amateur’s grace, / And he dances much better than I.“ (Strophe 6). Bewandert in den gesellschaftlich noch immer wichtigeren Künsten des Singens und Tanzens kann der Konkurrent den Naturwissenschaftler einfach ausstechen. Es ist interessant, dass rhetorisch durch die s-Alliteration die beiden so unterschiedlich konnotierten Rivalen um die Gunst der Dame gleichgesetzt werden: „strut, smirk, stare“, die typischen Verhaltensweisen eines Gecken, begegnen in Strophe fünf der Selbstbeschreibung des Wissenschaftler-Sprechers, der das Geschehen „scientific though sad“ mit ansieht. Die beiden Männer sind völlig unterschiedlich und evozieren diametral entgegengesetzte Bilder männlichen Verhaltens, aber ihre evolutionäre Funktion – das Kämpfen um die Frau – ist die gleiche. Damit unterscheidet sich der Mensch nicht mehr wesentlich von anderen Spezies, wie der Sprecher feststellt. „And we know the more dandified males / By dance and by song win their wives – / ’Tis a law that with Aves prevails, / And even in Homo survives.“ (Strophe 7). Die Reaktion des Sprechers auf das Auftreten dieses seichten Schöngeistes und auf die ausgespannte Frau ist resigniert. Er versucht gar nicht erst, seine Angebetete zurückzugewinnen, sondern zieht aus der Situation eine wissenschaftliche Erkenntnis, die ihn tröstet und ihm vermutlich am Ende in der achten Strophe doch zumindest ein intellektuelles Überlegenheitsgefühl verschafft. „Shall I rage as they whirl in the valse? / Shall I sneer as they carol and coo? / Ah no! for since Chloe is false, / I’m certain that Darwin is true!“ Gerade Chloes Verhalten und der für den Sprecher negative Ausgang der Begebenheit führt ihm nämlich spektakulär die Korrektheit der wissenschaftlichen Theorien Darwins vor Augen. Das Gedicht bringt auch metrisch evolutionstheoretische Annahmen zum Ausdruck. So sind die Personalpronomen häufig unbetont, da durch das anapästische Metrum unterdrückt: „I had found out a

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gift for my fair, / I had found where the cave-men were laid“, oder etwa in den Zeilen über den Widersacher: „But he sings [...],/ But he dances [...]“: „Shall I rage [...]/ Shall I sneer […].“ Hier werden Verhaltensweisen betont, nicht aber das handelnde Individuum. Die Evolution schreitet voran und überrollt dabei das „Ich“ und das „Er“.34 Der Sprecher entsagt am Ende der Liebesbeziehung – vermutlich, um sich ganz seiner Wissenschaft zu widmen. Schlüsse über seinen Erfolg auf diesem Gebiet lässt der Text nicht zu, doch können wir aufgrund des Tons, der Verliebtheit des Sprechers in seine Fundstücke wie in seine Chloe und seiner losgelösten Betrachtung des Konkurrenten vermuten, dass er ein eher weltfremd-hilfloser Zeitgenosse ist, der auch in der Wissenschaft nie glänzen wird.35 Sein Scheitern verkauft er als Erfolgserlebnis: indem Chloe sich für den sozial versierteren Gecken entscheidet, der besser flirten kann, bestätigt sie Darwins Theorie der Selektion, von der der Sprecher überzeugt ist. Er kann aus seinem sozialen Misserfolg wenigstens (zweifelhafte) wissenschaftliche Bestätigung holen. John Holmes weist darauf hin, dass diese Bestätigung mit Vorsicht zu genießen ist: „[...] Naden’s point is that even the most eminent Darwinians move all to readily from anecdotal evidence to familiar stereotypes when describing sexual behaviour.“36 Chloes pastoraler Name ist ein Echo einer ganzen Reihe von Texten. Er verweist auf eine bukolische Tradition, die hier nicht nur Stadtmenschen, sondern auch Kennerinnen und Kenner der modernen Naturwissenschaften anspricht, und darüber hinaus auf die Tradition der mock-pastoral poetry.37 Sehr deutlich 34 Besonders für diesen Hinweis, aber auch für weitere erhellende Diskussionen zum Thema bin ich Stefanie Lethbridge zu Dank verpflichtet. 35 Kaston Tange, „Constance Naden“, S. 224, weist ebenfalls darauf hin, dass man Chloe nicht als dümmlich und unfähig, den Wert des Wissenschaftlers zu erkennen, abqualifizieren sollte: der Sprecher wird durchgehend satirisch dargestellt und kommt nicht eben gut weg. Murphy, „Fated Marginalization“, S. 114–116, liest den Text wiederum pessimistisch als Ausdruck der Marginalisierung der Frau, wobei sie zu verkennen scheint, dass es hier wohl eher um die Demontage des Sprechers geht. 36 Holmes, Darwin’s Bards, S. 193. Holmes führt hier zudem einen wissenschaftlichen Text Nadens an, in dem sie Darwins Sprache parodiert, wenn er balzende Vögel mit dem gleichen Vokabular wie flirtende Menschen beschreibt. Holmes schließt daraus völlig zu Recht: „The problem is not that Darwin’s account is inaccurate, or even that there is a better language he could have used for describing the birds’ behaviour. It is rather that all language carries with it connotations to which we need to be alert“ (ebd.). 37 Für ein britisches Publikum spielt der Name Chloe auch auf das Briefgedicht „A Letter from Artemiza in the Towne to Chloe in the Countrey“ – bekannt als „Artemiza to Chloe“ – des Earl of Rochester (1647–1680) an, in dem sich zwei Frauen satirisch über die Liebe und zeitgenössisches Benehmen austauschen. Als einer der bekanntesten Restoration rakes wurde Rochester

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aufgrund der rhetorischen Ausgestaltung der beiden letzten Gedichtverse ist die Anspielung auf Daphnis und Chloe, den antiken Roman von Longus, der Paradigma und Vorlage einer Vielzahl von europäischen Schäferdichtungen wurde. Aus „Daphnis und Chloe“ wird in einem direkten Echo ‚Darwin und Chloe‘. Dies ist besonders auffallend, weil die Dame genau einmal und nur an dieser Stelle in Constance Nadens Text überhaupt einen Namen bekommt. Dazu tritt noch die syntaktische Parallele „[...] Chloe is false./ [...] Darwin is true!“ Constance Naden vermischt in ihrer Dichtung nicht nur spielerisch wie selbstverständlich naturwissenschaftliche Termini mit poetischen Mitteln; sie zieht dabei zeitgenössische Umgangsformen ins Komische und holt potenziell große, überzeitliche Romanzen auf den Boden der (evolutionsbiologischen) Tatsachen. Es ist interessant, dass Naden sehr häufig männliche Sprecher nutzt. In beiden Beispielen kommen die fraglichen Frauen – die reiche und mächtige Königin von Saba und die einfache Chloe – nicht zu Wort. Das häufige Sprechen in Rollen, das Constance Naden sowohl innerhalb ihrer Gedichte als auch in ihren verschiedenen beruflichen Identitäten pflegte, kann als Versuch verstanden werden, die verschiedenen Perspektiven auszuloten, die ihr zur Verfügung standen, als Intellektuelle und Kritikerin wie auch als Dichterin. Ihre männlichen Sprecher in den Gedichten haben das naturwissenschaftliche Sprach- und Wissensrepertoire zur Verfügung, nutzen dies aber nicht unbedingt zur Ausübung von Autorität. Ganz im Gegenteil: Salomon ist nicht ausschließlich der reiche König oder großartige Liebhaber, sondern geht eben auch nur auf einen Einzeller zurück, und der Sprecher von „Natural Selection“ ist der schwächere, farblosere Vogel im Balztanz.

IV May Kendalls Evolutionssatiren May Kendall (1861–1943), die Autorin der folgenden zwei Beispielgedichte, ist etwas bekannter als Constance Naden und wird immer wieder anthologisiert. Sie verbrachte den größten Teil ihres Lebens in York, und ihr Leben ist uns nur bruchstückhaft bekannt, wenn auch ihr Werk breitgefächert und sehr divergent ist. Sie schrieb Gedichte und Romane, vor allem new woman fiction, sowie nicht-

und seine satirische wie erotische Dichtung im 19. Jahrhundert jedoch praktisch nicht rezipiert. Siehe John Wilmot, Earl of Rochester, „A Letter from Artemiza in the Towne to Chloe in the Countrey“, The Works of John Wilmot, Earl of Rochester, Harold Love (Hrsg.), Oxford 1999, S. 63–70. Zur Versatilität von pastoraler Dichtung siehe beispielsweise Karina Williamson, „‚From Arcadia to Bunyah.‘ Mutation and Diversity in the Pastoral Mode“, in: Erik Martiny (Hrsg.), A Companion to Poetic Genre, Malden (MA) 2012, S. 568–583, die auch kurz auf das satirische Potenzial des Genres verweist (S. 569–570).

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fiktionale Texte über die Situation der Armen und der Arbeiter (How the Labourer Lives, 1913, mit Benjamin Seebohm Rowntree). In ihren Gedichtsammlungen Dreams to Sell (1887) und Songs from Dreamland (1894) setzt sie sich mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatten auseinander. Der Großteil ihres dichterischen Werkes ist satirisch.38 „Woman’s Future“ von 1887 ist ein Gedicht, das die Evolution explizit erwähnt und in der Anwendung problematisiert.39 Im Gegensatz zu den betont spielerischen Gedichten von Constance Naden macht „Woman’s Future“ aus seiner politischen Agenda keinen Hehl. Das Gedicht besteht aus vier Strophen zu jeweils acht Zeilen; es handelt sich dabei pro Strophe um zwei Quartette mit alternierenden Reimen in daktylischen Tetrametern; es folgt am Ende ein vierzeiliger, gleich gereimter Envoy. Die erste Strophe mag einen Eindruck vermitteln. Complacent they tell us, hard hearts and derisive, In vain is our ardour; in vain are our sighs: Our intellects, bound by a limit decisive, To the level of Homer’s may never arise. We heed not the falsehood, the base innuendo, The laws of the universe, these are our friends, Our talents shall rise in a mighty crescendo, We trust Evolution to make us amends.40

Hier spricht eine Frau zu Frauen, die die Selbstzufriedenheit und Arroganz der Männer kritisiert und sich nicht damit abfinden will, dass Frauen angeblich intellektuell unterlegen sein sollen. Nachdem nun aber die Gesetze, nach denen das Universum funktioniert, gefunden sind, ist es für Frauen möglich, auf diese Gesetze zu vertrauen. Die Zeile „We trust Evolution to make us amends“ kann auf verschiedenen Aussageebenen gelesen werden. Da Charles Darwin von der untergeordneten Rolle der Frau ausging, konnte man, sofern man seine Theorie zu Ende dachte, zu dem Schluss kommen, dass die Arten immer komplexer und damit immer besser werden. Dieser evolutionäre Prozess ist nicht aufzuhalten, die Frauen können also darauf vertrauen, eines Tages die Männer einzuholen. Eine sinnfällige biologische oder soziale Begründung, warum Frauen weniger

38 Für einen kurzen Überblick über Kendalls Leben und Werk vgl. die Informationen der Herausgeber in der folgenden Anthologie: Isobel Armstrong/Joseph Bristow/Cath Sharrock (Hrsg.), Nineteenth-Century Women Poets. An Oxford Anthology, Oxford 1998, S. 760, sowie Blain, Victorian Women Poets, S. 308–310. 39 Vgl. May Kendall, „Woman’s Future“, in: Armstrong/Bristow/Sharrock (Hrsg.), NineteenthCentury Women Poets, S. 763–764. 40 Ebd., S. 763.

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intellektuell befähigt seien, lieferte Darwins Theorie für die, die sich kritisch damit auseinandersetzten, ohnehin nicht. Im Folgenden fordert die Sprecherin Frauen explizit auf, von ihren Talenten Gebrauch zu machen, anstatt nutzlose Näharbeiten zu fertigen. Wieder ist das Denkmuster eher Lamarckistisch, denn die Frauen sollen nach Verbesserung und Aufstieg streben und ihre Fähigkeiten nicht brach liegen lassen. Es fällt auf, dass die Frauen selbst ihre Unterdrückung zum Teil mittragen, indem sie gesellschaftliche Regeln und Erwartungen internalisieren, so etwa in Strophe 2, wenn sich die Sprecherin beklagt, „But ah, when I ask you for food that is mental, / My sisters, you offer me ices and tea.“41 Sie wirft ihren Geschlechtsgenossinnen emotionale Leere vor, doch immer vor dem Hintergrund, dass es die gesellschaftlichen Umstände sind, die Frauen zu seichten Charakteren machen: „Your feelings, compressed in Society’s mangle, / Are vapid and frivolous, pallid and mean.“42 Doch die traditionell weiblichen Aufgaben und Beschäftigungen haben sich überlebt, denn gefragt sind geistige Fähigkeiten, wobei das Gedicht wiederholt auf jüngste wissenschaftliche Errungenschaften anspielt. Der rhetorischen Frage „Can patchwork atone for the mind’s inanition?“43 in der dritten Strophe folgt ein geradezu apokalyptisches Bild, in dem die Welt von den Handarbeitsprodukten der stumpfsinnigen Frauen überschwemmt wird: „In antimacassars the world you may smother; / But intellect marches o’er them and o’er you.“44 Hier ist der (intellektuelle) Fortschritt nicht mehr aufzuhalten und marschiert martialisch über die Stumpfsinnigen genauso wie über ihre Handarbeiten hinweg. In der vierten Strophe werden die Frauen direkt dazu aufgefordert, etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anzufangen. „Oh, rouse to a lifework – do something worth doing! / Invent a new planet, a flying machine.“45 So energisch diese Aufforderung ist, so undifferenziert ist sie auch: neue Planeten kann man nicht erfinden, sondern allenfalls entdecken. Zusammen mit dem komischen Effekt wird hier aber auch der Eindruck von Dringlichkeit erzielt – es ist nicht so wichtig, was die Frauen tun, sondern dass sie überhaupt tätig werden. Wahre Schönheit, so die nächsten Zeilen geradezu trotzig-trivial, kommt vom Wissen: „But the knowledge of Newton will beam from your faces: / The soul of a Spencer will shine in your eyes.“46 Der Envoy schließlich liest sich wie eine Drohung und spielt auf die Entthronung des Menschen, beziehungsweise hier wohl des Mannes, als Krone der 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 764. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd.

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Schöpfung an. Die Sprecherin prophezeit, dass sich die Frauen nicht entthronen lassen werden. Ironischerweise setzen sie sich damit potenziell über die Reichweite der biologischen Gesetze der Evolution. „Oh, wait for the time when our brains shall expand.  / When once we’re enthroned, you shall never dethrone us – / The poets, the sages, the seers of the land.“47 Es ist überraschend, in welchen Funktionen die Frauen am Ende inthronisiert sind: als Poetinnen, Weise und Seherinnen, nicht etwa als Wissenschaftlerinnen.48 Dies kann einerseits schlicht als Topos für Intellektualität gelesen werden, andererseits wird hier womöglich bewusst auf traditionelle Bilder von geistig tätigen Menschen im weitesten Sinne zurückgegriffen, die alle männlich konnotiert sind. Das wohl bekannteste satirische Gedicht zur Evolution überhaupt ist Kendalls „The Lay of the Trilobite“.49 Die erste Veröffentlichung findet sich in der populären satirischen Zeitschrift Punch von 1885. Punch hatte nichts gegen die neuen Naturwissenschaften, ging aber nicht besonders differenziert mit ihnen um. Später erschien der Text in Kendalls Anthologie Dreams to Sell von 1887. Dreams to Sell, und hier mag der Titel durchaus täuschen, hat eine Sektion, die mit „Science“ betitelt ist. Der französische Begrif lai war schon im 14. Jahrhundert als lay anglisiert und auf den Britischen Inseln verwendet worden. Später, und besonders im 19. Jahrhundert nach Sir Walter Scotts „Lay of the Last Minstrel“, wurde der Begriff als Synonym für song verwendet, bezeichnete aber auch kürzere narrative Dichtung.50 Punch tendierte zur Zeit von Kendalls Trilobitengedicht dazu, praktisch jedes Gedicht als Lay zu bezeichnen, so dass in diesem spezifischen Kontext der Titel zunächst viele divergente Erwartungen wecken konnte. Kendall verwendet hier achtzeilige Strophen, die gedoppelte Balladenstrophen sind, spielt also mit der Pseudo-Folklore ihrer Zeit. Der Sprecher ist einmal mehr männlich. Ein einsamer Wanderer besteigt einen Berg und findet dort eingebettet ein Fossil. In der zweiten Strophe stellt er selbstzufrieden fest, dass die Vorsehung sie beide an den richtigen Ort geführt

47 Ebd. 48 Der Begriff scientist wurde von William Whewell in den 1830er Jahren geprägt und setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam durch, wobei natural philosopher noch lange Zeit parallel verwendet wurde. Dazu Laura Otis, „Introduction“, in: dies. (Hrsg.), Literature and Science in the Nineteenth Century. An Anthology. Second edition, Oxford 2009, S. xvii–xviii. Zugegebenermaßen würde sich beides vielleicht nicht eben ideal für Reime im vorliegenden Kontext eignen. 49 Vgl. May Kendall, „The Lay of the Trilobite“, in: Armstrong/Bristow/Sharrock (Hrsg.), Nineteenth-Century Women Poets, S. 761–762. 50 Siehe für eine Kurzdefinition zum Beispiel M. H. Abrams, A Glossary of Literary Terms. Seventh edition, Boston 1999.

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habe. „How wonderful it seemed and right, / The providential plan, / That he should be a Trilobite, / And I should be a Man!“51 Diese religiöse Interpretation menschlicher Entwicklung lässt sich jedoch nicht lange durchhalten, sondern wird satirisch unterlaufen. Das Fossil beginnt unvermittelt, zu dem Wanderer zu sprechen. „And then, quite natural and free / Out of his rocky bed, / That Trilobite he spoke to me / And this is what he said: […]“ (Strophe 3). Er erzählt dem Wanderer von der Evolution und den niederen Ursprüngen des Menschen. „But Huxley – he if anyone / Can tell you all about it; // How all your faiths are ghosts and dreams“52 (Strophen 3 und 4). Der Trilobit ergeht sich in einer ausführlichen Zivilisationskritik, die den Wanderer, der vielleicht sogar Hobby-Paläontologe ist, geradezu eifersüchtig auf sein einfaches Leben werden lässt. Nicht nur muss sich homo sapiens sapiens komplizierten Philosophen widmen (Strophe 5 erwähnt Kant und Hegel), er betätigt sich auch als Kolonisator und Unterdrücker, wobei sein Christentum vorgeschobene Heuchelei ist und seine Missionarstätigkeit in Gewalttaten und Erpressung besteht. „The native of an alien land / You call a man and brother, / And greet with hymn-book in one hand / And pistol in the other!“ (Strophe 5)53 Der Mensch nutzt seine Intelligenz zur Herstellung von Waffen, die außer Zerstörung nichts bewirken, wie der Trilobit in Strophe 6 ironisch andeutet: „You’ve cannons and you’ve dynamite / To give the nations rest.“54 Die Rede des Trilobiten muss zwangsläufig zur Schlussfolgerung führen, dass es nicht erstrebenswert ist, sich zu homo sapiens sapiens zu rechnen, der alles falsch macht, seine evolutionären Erfolge nicht nutzt und sich in seiner Umgebung benimmt wie die Axt im Walde. Ein Trilobitenleben ist dagegen idyllisch, wie in Strophe 7 ausgeführt wird: „But gentle, stupid, free from woe / I lived among my nation, / I didn’t care – I didn’t know / That I was a Crustacean.*“55 Dies erinnert an den wunderbaren Urzustand des Amöbendaseins von König Salomon und der Königin von Saba. Pastorale Idyllen mögen zwar nicht mehr gültig sein, doch die Vorstellung einer unbelasteten, weil nicht komplexen Präexistenz dringen immer wieder durch. Selbst die Dichter bekommen vom Trilobiten einen Seitenhieb ab: „I never took to rhyme“, stellt er fest (Strophe 7).56 Besonders bemerkenswert ist die Fußnote, die zu der Strophe gehört und durch den Asterisk markiert ist: „*He was not a Crustacean. He has since discovered that he was an Arachnid, or something similar. But he says it does not matter. He says they told him wrong 51 Kendall, „The Lay of the Trilobite“, S. 761. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 762. 56 Ebd.

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once, and they may again.“57 Der Trilobit muss sich, obwohl er doch nur friedlich vor sich hin leben will, mit den Klassifizierungsversuchen der neuen Forscher herumschlagen und sich damit abfinden, dass die Forschung noch nicht genau weiß, wie sie ihn klassifizieren soll. Auch die neue Naturwissenschaft relativiert sich hier, weil sie sich immer wieder überlebt. Der Wanderer muss dem Trilobiten letztendlich zustimmen, wenn er in Strophe 8 auch zu stolz ist, dies auszusprechen. „I did not answer him, for that / Would have annoyed my pride“.58 Er muss zugeben, dass der Mensch mit all seinen intellektuellen Fähigkeiten schlecht dasteht, weil er sie weder zu seinem eigenen Besten noch zum Besten der restlichen Welt einsetzt. Der Sprecher ist nicht nur eine komische Figur, weil er sich rhetorisch einem Fossil geschlagen geben muss, er ist auch eine satirische Version des einsamen Wanderers der Romantik. Man könnte sich Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ vorstellen, der nicht etwa einsam in seiner Naturbetrachtung versunken ist, sondern über respektlose Fossilien stolpert, die ihm ein Gespräch aufzwingen – wobei dieser spezielle Trilobit eher zum Monologisieren neigt. Zerknirscht gesteht der Sprecher ein, dass ihn die Worte des Trilobiten getroffen haben: „,I wish our brains were not so good, / I wish our skulls were thicker, / I wish that Evolution could / Have stopped a little quicker‘“ (Strophe 9). Die moderne Welt und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse tragen zu seiner Zivilisationsmüdigkeit noch bei. Ähnlich wie bei Naden imaginiert er sich in einen frühen evolutionären Zustand zurück, in dem – ohne komplexes Gehirn – das Leben einfacher war. Pastorale Sehnsucht wird hier durch die Sehnsucht nach einem Dasein auf einer frühen Evolutionsstufe ersetzt und in darwinistische Bilder gekleidet.

V Subversives Potential? Die vorliegenden Gedichte mögen als Beispiele dafür dienen, wie evolutionstheoretische Elemente in satirischer Dichtung Einlass finden. Das Hauptaugenmerk der Texte liegt dabei schon alleine aufgrund ihrer humoristischen Stoßrichtung nicht auf wissenschaftlicher Korrektheit, wobei Constance Naden ihre Ausbildung nicht verleugnen kann und präziser mit Darwin umgeht als Kendall. Gillian Beer hat in ihrer Diskussion unter anderem des spätviktorianischen light verse angemerkt, dass er das Potential hat, Verwerfungen und Subtexte geradezu auszuleuchten, „illuminating ‚the dark corners of a culture‘“. Sie führt weiter aus:

57 Ebd. 58 Ebd.

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Rhyme, it is sometimes argued, trivializes. That may indeed be an important cultural function for rhyme [...]: trivializing can defuse anxieties while at the same time the agitation of rhyme can give expression to anxiety. Anxiety and release are held together, neither negated. Rhyme contaminates. It can cross speech registers and cultural zones kept wide apart.59

Man kann durchaus über Beers Vorschlag hinausgehen: Es ist sicher nicht allein der Reim, es sind auch das Metrum und insgesamt die Leichtigkeit dieser Texte sowie ihre humorvolle Überdeterminiertheit, die die Aufmerksamkeit des Publikums lenken und die kulturell getrennten Bereiche, von denen Beer spricht, zusammenbringen. Was nun wird in diesen Gedichten im Besonderen ausgeleuchtet? Sie bewegen sich in dem kritischen Feld um Darwin und die Folgen seiner Erkenntnisse. Diese werden in den Gedichten nicht mehr im Detail diskutiert oder gar bestritten, sondern der von Darwin angestoßene Paradigmenwechsel wird produktiv genutzt für Fragen nach der Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Verhaltensweisen, Denkschemata und Traditionen im Licht der Evolutionstheorie. Das desillusionierende Wissen um eine gemeinsame Abstammung von Menschen und Tieren und die Entthronung des Menschen als Krone der Schöpfung löste mehr aus als religiöse Besorgnis und philosophische Krisen. Die Akzeptanz der Evolutionstheorie bedeutete in letzter Konsequenz nicht nur die Entthronung des Menschen, sondern im Besonderen des Mannes. Diese wird in den vorliegenden Beispieltexten ungleich stärker aufgenommen als Darwins Insistieren auf der Unterlegenheit der Frau. Die wahrgenommenen Brüche im Selbstverständnis von Darwins Zeitgenossen hatten positive Seiten, etwa subversives Potential, das sich besonders Autorinnen zu Nutze machen konnten. Von den Verwerfungen im menschlichen Selbstbild und in den als gottgegeben angenommenen Hierarchien konnten gerade Frauen profitieren, die in vielerlei Hinsicht marginalisiert und in der sozialen Hierarchie den Männern unterlegen waren. „Women, in particular, found the application of natural law as opposed to social law potentially liberating, as it would allow individuals to be judged on the basis of social performance and not social conventions.“60 Für Kritik an oder Spott über eine solche Gesellschaft dürften sich so bewusst, ja fast demonstrativ triviale Produkte wie die besprochenen Gedichte zur Verwendung angeboten haben, weil diese nicht exklusiv von Männern besetzt waren. Das Publizieren satirischer Gedichte ermöglichte es zudem, über Themen zu sprechen, die traditionell nur schwer für Frauen

59 Gillian Beer, „Rhyming as Resurrection“, in: Matthew Campbell/Jacqueline M. Labbe/Sally Shuttleworth (Hrsg.), Memory and Memorials, 1789–1914, London 2000, S. 199–206. 60 Alan Rauch, „Poetry and Science“, in: Richard Cronin/Alison Chapman/Antony H. Harrison (Hrsg.), A Companion to Victorian Poetry, Oxford 2002, S. 475–492, hier S. 488.

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zugänglich oder ganz verpönt waren, etwa Sexualität. Gerade letzteres Thema war nicht zuletzt durch Darwins Insistieren auf der Bedeutung der graduellen Veränderung und damit der Fortpflanzung für die Evolution mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Nadens und Kendalls Texte sind in weiteren umstrittenen zeitgenössischen Kontexten positioniert. Die Teilnahme von Frauen an naturwissenschaftlichen Debatten blieb im 19. Jahrhundert schwierig. Während es nur wenige professionelle Naturwissenschaftlerinnen gab – Constance Naden war eine von ihnen –, konnten sich Frauen zunehmend als Popularisiererinnen61 von Wissen gerade im expandierenden Medium der Zeitschrift profilieren.62 Doch zum Ende des 19. Jahrhunderts hin wurde auch diese Rolle problematisch: Frauen bewegten sich zwar in wissenschaftlichen Diskursen, doch grenzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die professionell betriebene Wissenschaft gegen die amateurhafte und die populäre mit zunehmender Institutionalisierung ab.63 Kendall und Naden bewegen sich auf genau diesen Bruchlinien und Verschiebungsversuchen von geschlechtsbedingten Rollenzuweisungen. Ist dies nun wirklich „Revolutionslyrik“? Satirische Dichtung, die große Liebende als Amöben zeichnet und bürgerliche Liebende nach den Prinzipien der sexual selection handeln lässt, die gebildete Männer gegen Arthropoden den Kürzeren ziehen lässt, die Frauen hoffen lässt, wenigstens vor der Evolution gleich zu sein, ist nicht automatisch und per se subversiv, aber eröffnet neue Denkwege und vielleicht auch neue Handlungsoptionen. Nadens und Kendalls erfrischende Respektlosigkeit vor Mythen, wissenschaftlichen Theorien und sozialem Ritus baut in zwei Richtungen kulturellen Druck auf: gegen verfestigte soziale Konventionen auf der einen und gegen neue Institutionen und Bollwerke der Naturwissenschaften auf der anderen Seite. Ihre Gedichte bewirkten keine Revolutionen, doch sorgten sie für produktive Irritationen.

61 Obwohl „Multiplikatorinnen“ vielleicht als Begriff eleganter wäre, geht es hier gerade um die Verbreitung allgemein zugänglichen, verständlich gemachten Wissens, so dass eine Übersetzung hier ohne das Element des Populären nicht auskommt. 62 Zur Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens im 19. Jahrhundert siehe Bernard Lightman, „‚The voices of nature‘: popularizing Victorian science“, in: ders. (Hrsg.), Evolutionary Naturalism in Victorian Britain. The ‚Darwinians‘ and their Critics, Farnham /Burlington 2009, S. 187–211. Speziell zur Rolle von Frauen siehe Lightman, Victorian Popularizers, S. 95–165. 63 Siehe auch Rauch, „Poetry and Science“, S. 490.

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 Ulrike Zimmermann

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 Ulrike Zimmermann

Constance Naden (1858–1889), aus Evolutional Erotics (1887)

The Complete Poetical Works of Constance Naden, London 1894, Victorian Women Writers Project, Indiana University Digital Library Program, 2010. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Digital Collection Services der Indiana University, Herman B. Wells Library, mit besonderem Dank an Michelle Dalmau.

Solomon Redivivus 1 WHAT am I? Ah, you know it, I am the modern Sage, Seer, savant, merchant, poet— I am, in brief, the Age.

7 Unorganed, undivided, We lived in happy sloth, And all that you did I did, One dinner nourished both:

2 Look not upon my glory Of gold and sandal-wood, But sit and hear a story From Darwin and from Buddh.

8 Till you incurred the odium Of fission and divorce— A severed pseudopodium You strayed your lonely course.

3 Count not my Indian treasures, All wrought in curious shapes, My labours and my pleasures, My peacocks and my apes;

9 When next we met together Our cycles to fulfil, Each was a bag of leather, With stomach and with gill.

4 For when you ask me riddles, And when I answer each, Until my fifes and fiddles Burst in and drown our speech,

10 But our Ascidian morals Recalled that old mischance, And we avoided quarrels By separate maintenance.

5 Oh then your soul astonished Must surely faint and fail, Unless, by me admonished, You hear our wondrous tale.

11 Long ages passed—our wishes Were fetterless and free, For we were jolly fishes, A-swimming in the sea.

6 We were a soft Amœba In ages past and gone, Ere you were Queen Of Sheba, And I King Solomon.

12 We roamed by groves of coral, We watched the youngsters play— The memory and the moral Had vanished quite away.

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13 Next, each became a reptile, With fangs to sting and slay; No wiser ever crept, I’ll Assert, deny who may.

15 Till, anthropoid and wary Appeared the parent ape, And soon we grew less hairy, And soon began to drape.

14 But now, disdaining trammels Of scale and limbless coil, Through every grade of mammals We passed with upward toil.

16 So, from that soft Amœba, In ages past and gone, You’ve grown the Queen of Sheba, And I King Solomon.

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URL: http://purl.dlib.indiana.edu/iudl/vwwp/VAB7115 Natural Selection 1 I HAD found out a gift for my fair, I had found where the cavemen were laid; Skull, femur, and pelvis were there, And spears, that of silex they made.

5 But there comes an idealess lad, With a strut, and a stare, and a smirk; And I watch, scientific though sad, The Law of Selection at work.

2 But he ne’er could be true, she averred, Who would dig up an ancestor’s grave— And I loved her the more when I heard Such filial regard for the Cave.

6 Of Science he hasn’t a trace, He seeks not the How and the Why, But he sings with an amateur’s grace, And he dances much better than I.

3 My shelves, they are furnished with stones All sorted and labelled with care, And a splendid collection of bones, Each one of them ancient and rare;

7 And we know the more dandified males By dance and by song win their wives— ’Tis a law that with Aves prevails, And even in Homo survives.

4 One would think she might like to retire To my study—she calls it a “hole!” Not a fossil I heard her admire, But I begged it, or borrowed, or stole.

8 Shall I rage as they whirl in the valse? Shall I sneer as they carol and coo? Ah no! for since Chloe is false, I’m certain that Darwin is true! URL: http://purl.dlib.indiana.edu/iudl/vwwp/VAB7115

Fabian Lampart (Freiburg)

Lyrik und Ökonomie im 19. Jahrhundert Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis Kann Ökonomie in lyrischen Texten eine Rolle spielen? Für das Verhältnis von Lyrik und Ökonomie gilt vermutlich in verstärkter Weise das, was auch in der Einleitung dieses Bandes über das Verhältnis von Lyrik und Wissenschaften gesagt wird: Ästhetikgeschichtlich ist Lyrik seit dem späten 18. Jahrhundert traditionell stark mit Konzepten wie Subjektivität, Innerlichkeit und Emotionalität verbunden. Dass in lyrischen Texten ökonomische Themen in ähnlicher Weise behandelt werden wie in der Prosa oder im Drama, ist deshalb nicht unbedingt naheliegend, andererseits aber auch nicht ausgeschlossen. Gleichwohl scheint eine so massive Thematisierung des Ökonomischen, wie man sie in der Moderne etwa in Ezra Pounds Cantos findet, in der Lyrik des 19. Jahrhunderts schwer vorstellbar. Entsprechend wurde die theoretische und methodische Modellierung des Forschungsgebiets Literatur und Ökonomie seit Jahrzehnten praktisch ausnahmslos mit Blick auf dramatische oder epische Texte betrieben, bei denen mimetische Referenzen im Vergleich zur Lyrik in der Regel unmittelbarer nachvollziehbar sind und im Vordergrund stehen. Neben der oft recht deutlichen Darstellung von wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen und Problemen in erzählenden Texten findet sich in Prosatexten auch vielfach die Thematisierung und Reflexion von ökonomischem Wissen, das parallel in ökonomietheoretischen Diskursen diskutiert wird. Auch solche in Erzählungen, Romanen und Dramen ausführlich untersuchten Präsentationen ökonomischen Wissens scheinen in lyrischen Texten aufgrund der spezifischen Gattungsqualitäten weniger gut vorstellbar. Andererseits gibt es neben der romantisch-subjektivistischen Tradition lyrischen Sprechens, die in unterschiedlichen Varianten in der deutschsprachigen und angloamerikanischen Literatur zu beobachten ist, durchaus Texte, in denen soziale und dabei auch wirtschaftliche Probleme reflektiert werden – als Faktoren, die Leben und Empfinden prägen oder gar determinieren. In der sozialgeschichtlich orientierten germanistischen Literaturwissenschaft der 1970er und 1980er Jahre wurden Problemfelder erschlossen, die auch für den Zusammenhang der Literatur-Ökonomie-Studien von Belang sind. Dabei spielt vor allem die Berücksichtigung der ökonomischen Realität der Autoren eine Rolle, die nicht nur identifiziert, sondern auch in ihrer Relevanz für die Texte untersucht werden kann. Bezieht man die seit Ende des 18. Jahrhunderts sich herausbildende

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Vorstellung poetischer Autonomie auf soziale und ökonomische Bedingungen dichterischer Produktion, dann lässt sich das zunächst ästhetisch verstandene Konzept lyrischer Subjektivität auch vor dem Hintergrund ökonomischer Bedingungslagen analysieren. Auch im Feld der politischen oder sozialen Lyrik kann an sozialgeschichtliche Arbeiten angeschlossen werden – hier werden ökonomische Probleme explizit thematisiert und kritisiert. Freilich würde eine solche Beschränkung auf die sozialen Bedingungen und Marktmechanismen, mit denen sich auch Lyriker im 19. Jahrhundert auseinandersetzen, dann wiederum die Bedeutung eines Wissens um die Ökonomie ausblenden und somit die Diskussion um die Beziehungen zwischen Literatur und Ökonomie wiederum nicht vollständig erfassen. Der vorliegende Beitrag hat exploratorischen Charakter. Es geht darum, die Beziehungen zwischen den Bereichen Lyrik und Ökonomie ein Stück weit auszuloten sowie eine Verbindung bestehender Forschungsansätze vorzuschlagen und diese zu erproben. Deshalb soll zunächst versucht werden, in einem kurzen Überblick der Fragestellungen der Literatur-Ökonomie-Studien Wege für eine Verortung der Lyrik in diesem Feld zu erschließen. Eingangs wird diskutiert, ob für die Untersuchung dieses Verhältnisses in lyrischen Texten dieselben methodischen Überlegungen zugrunde gelegt werden können, die in erster Linie mit Blick auf epische und dramatische Texte mit ökonomischer Thematik formuliert wurden. Die Erörterung dieser Forschungsansätze führt zur Frage, ob Referenzen auf ökonomische Phänomene in lyrischen Texten in einer Weise vermittelt werden, die man mit Prosatexten vergleichen kann (I). Zweitens sollen an Beispielen aus der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jahrhunderts mögliche Varianten solcher Referenzen auf ökonomische Themen und ökonomietheoretische Problemlagen herausgearbeitet werden. Es geht darum, wie man anhand einiger exemplarischer Texte Arten der Bezüge zwischen Lyrik und Ökonomie identifizieren kann (II). Abschließend ist zu überlegen, ob diese Relationen tatsächlich den Status eigenständiger Diskurse haben oder nicht vielmehr nur im Rahmen anderer Diskussionszusammenhänge identifizierbar sind (III).

I Methodische Vorüberlegungen Kann in lyrischen Texten die Referenz auf wirtschaftsgeschichtliche Phänomene durch explizite Bezüge auf wirtschaftliche Vorgänge und Veränderungen und vor allem auf wirtschaftliches Wissen in einer Weise vermittelt sein, die man mit Texten aus der Erzählliteratur vergleichen kann? Lassen sich die „spezifischen Orientierungsleistungen“ der Lyrik „für die Reorganisation der Gesellschafts-



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struktur [und] für die Verschiebung der Wissensbestände“1 im 19. Jahrhundert auch in Bezug auf ein Wissen um ökonomische Probleme und Zusammenhänge erkennen? Inwiefern können bestehende Forschungsansätze für die Untersuchung dieser Verhältnisse eingesetzt werden und wie müsste eine entsprechende Remodellierung in Bezug auf Lyrik im 19. Jahrhundert aussehen? Die Untersuchung der Beziehungen zwischen literarischen Texten und ökonomischem Wissen hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine facettenreiche Forschung hervorgebracht, auch wenn bereits vorher ökonomische Motive und Themen in literarischen Texten identifiziert und analysiert wurden – meist in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft, aber auch in deutschsprachigen Kontexten unter dem Dach der literaturwissenschaftlichen Sozialgeschichte.2 Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich in der angloamerikanischen Forschung der „economic criticism“ als ein Forschungsgebiet etabliert, in dem, wie Martha Woodmansee und Mark Osteen 1999 zusammenfassten, die Konstellationen von „literature, culture, and economics“3 untersucht werden. Grundsätzlich sind diese Ansätze als Teil des cultural turn in den Kulturwissenschaften zu sehen: Es geht um eine über die thematische Behandlung hinausgehende, kulturwissenschaftlich gestützte Untersuchung des Verhältnisses von Literatur und Wirtschaft, die ebenso die „economies of authorship“4 wie die Frage umfassen kann, ob und inwiefern es „parallels and analogies between linguistic and economic systems“5 gibt. Fortschreibungen dieses Programms seit den 1990er Jahren gehen in diese Richtung. Diese Integration von diskursgeschichtlichen Ansätzen führte auch in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft zu einer Neuperspektivierung der ökonomischen Kritik. Dirk Hempel und Christine Künzel charakterisierten 2009 Literatur und Ökonomie als Teil des Forschungsgebiets Literatur und Wissen, in dem die Beziehungen zwischen literarischen Texten und wirtschaftlichen Themen, Problemen oder Zusammenhängen untersucht würden. Im Mittelpunkt stehe die Frage, „wie Literatur das Thema Wirtschaft (Wirtschaftsordnung, Produktion, 1 Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger, „Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung“, in: dies. (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern u.a. 2005, S. 9–30, hier S. 17. 2 Vgl. Dirk Hempel/Christine Künzel, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), „Denn wovon lebt der Mensch?“ Literatur und Wirtschaft, Frankfurt/M. u.a. 2009, S. 9–18, hier S. 9. 3 Martha Woodmansee/Mark Osteen (Hrsg.), The New Economic Criticism, London/New York 1999, S. 3. 4 Ebd., S. 6. Marc Shell geht davon aus, dass „money, which always involves a system of tropes, is also an ‚internal‘ participant in logical or semiological organization“ (Marc Shell, Art and Money, Chicago/London 1995, S. 4). 5 Woodmansee/Osteen, The New Economic Criticism, S. 14.

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Finanzwesen, Bedingungen materieller Existenz) aufnimmt und behandelt“.6 In diesem Zusammenhang entstanden Studien, die historisch überwiegend Gegenstände der Frühen Neuzeit untersuchten und Aspekte der Ökonomisierung – Rationalisierung und Tausch sowie das Tauschmedium Geld – als Ausgangspunkt für diskursübergreifende Denkfiguren sahen. Für solche Ansätze ist sicherlich Joseph Vogls Kalkül und Leidenschaft ein prominentes Beispiel, zu nennen wäre aber auch Daniel Fuldas Schau-Spiele des Geldes7 oder ein aktueller Sammelband wie Gastlichkeit und Ökonomie.8 Auch Franziska Schößler stellte sich 2009 mit ihrem Forschungsprogramm in die Tradition diskursanalytisch-wissenspoetologischer Ansätze.9 Ihr ging es darum, literarische Reflexionen der „wirtschaftlichen Innovationen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchsetzen und die kollektive Wahrnehmung einer radikalen Modernisierung wesentlich mitbestimmen“,10 zu untersuchen. Auch wenn die methodische Orientierung explizit konstatiert wird, verbinden die materialreichen Untersuchungen letztlich thematisch-motivische Rekonstruktion mit der Aufarbeitung zentraler Kontexte. Franziska Schößler hat ihre Überlegungen 2013 im Ökonomie-Artikel des Handbuchs Literatur und Wissen11 teils fortgeführt, teils in eine Übersicht des Forschungsfeldes übertragen, die sich in zentralen Punkten deckt mit Sandra Richters etwas früher erschienener Klassifizierung des Forschungszusammenhangs Literatur und Ökonomie.12 Richter sieht erstens in einer „motiv- und stoffgeschichtlich orientierten Philologie die Rolle des Kaufmanns in der Literatur“13 im besonderen Untersuchungsfokus. Zweitens konzentrieren sich nach Richter „von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte inspirierte Studien auf ökonomische

6 Hempel/Künzel, Literatur und Wirtschaft, S. 9. 7 Daniel Fulda, Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing, Tübingen 2005. 8 Sigrid Nieberle/Claudia Nitschke (Hrsg.), Gastlichkeit und Ökonomie. Wirtschaften im Deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2014. 9 Franziska Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009. 10 Ebd., S. 10–11. 11 Franziska Schößler, „Ökonomie“, in: Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nicolas Pethes/ Yvonne Wübben (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 101–105. 12 Sandra Richter, „Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900 und die Tragfähigkeit ökonomischer Interpretationsansätze“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin 2011, S. 214–238. Vgl. auch dies., Mensch und Markt. Warum wir den Wettbewerb fürchten und ihn trotzdem brauchen, Hamburg 2012. 13 Richter, „Wirtschaftliches Wissen“, S. 215.



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Kontexte der Literatur: auf die Arbeiterklasse, auf die Opfer des Kapitalismus […], auf das kapitalistische Wirtschaftssystem und seine Exzesse […] sowie auf den literarischen Markt als ökonomischem Teilbereich mit den Handlungsrollen des Autors, des Verlegers und des Kritikers.“14 Als drittes Forschungsgebiet – hier fasst sie sehr verschiedenartige Ansätze zusammen – charakterisiert Richter „kulturwissenschaftliche, gelegentlich auch vom New Historicism inspirierte Studien“ zu „einzelnen Aspekten des Ökonomischen: dem Geld, der Arbeit, der Warenästhetik, dem Warentausch und Tauschgeschäften überhaupt, der Figur des homo oeconomicus, ökonomischen Metaphern in der Literatur sowie der Rhetorik und Narrativik des Ökonomischen.“15 Eine systematisch eher an Text-Kontext-Beziehungen orientierte Charakterisierung der Forschungslage von Andreas Böhn, in der Wirtschaft grundsätzlich als extratextueller Kontext von Literatur gesehen wird, erweist sich auch für eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Lyrik und Ökonomie als fruchtbar. Böhn stellt drei Aspekte der Beziehungen zwischen Literatur und Wirtschaft in den Vordergrund.16 Erstens ließen sich die Mechanismen und „ökonomischen Bedingungen“ der „Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur“ untersuchen. Zum zweiten könne „Literatur im Rahmen ihres Bezugs auf Welt sich auch auf Ökonomisches richten, sei es, dass sie die wirtschaftlichen Hintergründe menschlichen Lebens etwa in die Charakterisierung handelnder Figuren einfließen lässt, sei es, dass sie spezifische ökonomische Gegebenheiten oder Vorgänge zum vorrangigen Thema macht.“ Und drittens sei „auch auf der formalgestalterischen [Ebene; F.L.] eine Rückwirkung ökonomischer Bedingungen auf Literatur festzustellen“.17 All diese Systematisierungsvorschläge beziehen sich auf epische oder dramatische Literatur. Nimmt man den von Böhn und Richter charakterisierten motivund stoffgeschichtlichen Schwerpunkt als Ausgangspunkt für eine Untersuchung lyrischer Texte, dann müsste man Belege hierfür wohl am ehesten im Bereich der politisch-sozialen oder auch der Gelegenheitslyrik suchen. Aufgegriffen werden könnten hier Themen oder Motive wie die Rolle des Marktes, des Kaufmanns oder die Kritik an wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kapitalismus oder der wirtschaftlichen Industrialisierung. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob Aspekte des Ökonomischen tatsächlich als Teil des Problemfelds Ökonomie und ökonomisches Wissen behandelt werden sollten oder nicht doch in der Lyrik mit ihren 14 Ebd., S. 215–216. 15 Ebd., S. 216. 16 Andreas Böhn, „Wirtschaft“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Gegenstände und Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2007, S. 430–434. 17 Alle Zitate ebd., S. 430.

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spezifischen poetologischen und ästhetischen Voraussetzungen nur als Aspekte anderer Diskurse wie etwa des politischen oder sozialen gesehen werden sollten. Vielleicht auch deshalb dürfte sich Böhns erster (bzw. Richters zweiter) Aspekt, die Untersuchung der wirtschaftlichen Marktbedingungen, die auch Rolle und Funktion des Autors determinieren, in Bezug auf die Lyrik fruchtbarer als motiv- oder stoffgeschichtliche Ansätze erweisen. Die Untersuchung der ökonomischen Bedingtheit schriftstellerischer Existenzen wirft Probleme auf, die nicht nur deren materielle Voraussetzungen betreffen, sondern vor allem auch über textuelle Reflexionen von Autorschaft in den Blick genommen werden können. Unter diesem Gesichtspunkt dürften auch die überwiegend am Subjektivitätsparadigma orientierten Texte der klassisch-romantischen Tradition neues Interesse gewinnen. Auch Aspekte der bei Böhn und Richter unter einem drittem Schwerpunkt zusammengefassten sehr verschiedenartigen Phänomene werden in dieser Optik möglicherweise für lyrische Texte relevant. Verknüpft man Ansätze, die ökonomische Kontexte der Literatur reflektieren, mit der Frage nach ihrer rhetorisch-poetischen Übersetzung, dann dürften ökonomische Metaphern oder eine Rhetorik und Poetik des Ökonomischen auch in lyrischen Texten eine Rolle spielen. Ein ganz grundsätzliches Problem bei der Untersuchung möglicher Beziehungen von Lyrik und Ökonomie liegt in der Thematik dieses Bandes, in der Poesie zunächst mit explizit formulierten Wissensbeständen aus verschiedenen Wissenschaften in Bezug gesetzt wird. Dieser Ansatz hat bei der Prosa-Literatur produktive Ergebnisse hervorgebracht. Dort kann man ökonomische Veränderungen oder Probleme zunächst einmal beobachten und diagnostizieren – etwa das Aufkommen des Spekulanten in realistischen Erzähltexten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts –, dann aber auch ihre Problematisierung und kritische Reflexion im Rahmen einer Narration mit spezifisch ästhetischen Mitteln diskutieren. Gerade im 19. Jahrhundert liefern die zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften, die in Deutschland vor allem von der Nationalökonomie geprägt sind, Beobachtungsleistungen, die mit denen des realistischen Erzählens durchaus vergleichbar sind.18 Die verschiedenen Vertreter und Richtungen der Nationalökonomie sind durch eine dezidierte Auseinandersetzung mit Adam Smith gekennzeichnet – insbesondere durch die „Ablehnung des ökonomischen Egoismus und eine Betonung des Gemeinwohls“.19 Dabei werden Phänomene wie der Speku18 Vgl. Christian Rakow, Die Ökonomien des Realismus. Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkwirtschaftslehre 1850–1900, Berlin/Boston 2013 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 200). 19 Maximilian Bergengruen, „Ökonomisches Wagnis/Literarisches Risiko. Zu den Paradoxien des Kapitalerwerbs im Poetischen Realismus“, in: Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Literatur als



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lant, eine moderne Form des Smithschen Unternehmers, abgelehnt. Man kann also von einer Beobachterperspektive ausgehen, in der sich literarische Texte und Nationalökonomie berühren – was sich ebenso auf die Identifikation von Problemen wie auf vorgeschlagene Lösungsansätze für diese Probleme bezieht.20 Durch die parallele Beobachtung und Diagnose ökonomischer Problemlagen in literarischen Texten und in wissenschaftlichen Reflexionen ist es zumindest im 19. Jahrhundert möglich, Vergleichslinien zu ziehen und sogar eine Auseinandersetzung mit ökonomischem Wissen in der Literatur zu untersuchen. Angesichts der Poetik und Praxis der Lyrik im 19. Jahrhundert scheint es schwierig, in Bezug auf lyrische Texte ähnlich vorzugehen. Auch wenn die ästhetische Fixierung der Lyrik auf die Vorstellung, Ausdruck von Subjektivität oder Innerlichkeit zu sein, bei weitem nicht auf alle Texte zutreffen muss, scheinen hier doch poetologische Verfahren vorzuliegen, in deren Rahmen konkrete Bezugnahmen auf explizite Wissensbestände oder auf Wissensansprüche nicht im Vordergrund stehen. Deshalb werden die Beispiele im folgenden Abschnitt jeweils von zwei Seiten betrachtet. Einerseits wird von thematischen und motivischen Bezügen ausgegangen, andererseits werden auf dieser Basis die Reflexion ökonomischer Aspekte und der Determinanten von lyrischer Autorschaft diskutiert. Die Ergebnisse können als eine Grundlage für die Formulierung von Ansatzpunkten für das spannungsreiche Verhältnis von Ökonomie und Lyrik im 19. Jahrhundert dienen.

II Beispiele Eine erste Sichtung möglicher Beispiele kann sich orientieren an lyrischen Texten, in denen eine ökonomische Thematik oder ein implizites ökonomisches Wissen erkennbar ist. Die Frage, inwieweit ein bereits reflektiertes oder gar institutionalisiertes Wissen über ökonomische Fragen aufgegriffen wird, wäre dann

Wagnis. Literature as Risk. DFG-Symposium 2011, Berlin/Boston 2013, S. 208–238, hier S. 215. Zur Darstellung der wirtschaftsgeschichtlichen Fragen vgl. Birger P. Priddat, Produktive Kraft, sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998. 20 Vgl. die Diskussion in Scientia Poetica 13/2009, bes. Dirk Werle: „Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie“, in: Scientia Poetica, 13/2009, S. 255–303. Werle schlägt in einer Zuspitzung wissensgeschichtlicher Ansätze vor, „Wissensansprüche als Antworten auf Fragen oder auch als Lösungen von Problemen“ zu konzipieren (ebd., S. 258).

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je nach Fall zu diskutieren. Historisch beschränke ich mich dabei auf die Zeit von um 1800 bis etwa 1850. Eine Konzentration auf das Thema Ökonomie berührt zunächst Komplexe, die in sozialgeschichtlichen Untersuchungen identifiziert wurden – also Arbeit, Arbeiter, die Arbeiterklasse sowie den Kapitalismus und damit verbundene Probleme. Für die Reflexion der in lyrischen Texten installierten Autorschaftsmodelle ist allerdings der Bezug auf den literarischen Markt mit Autoren und Verlegern als ökonomischen Akteuren bedeutsamer. Bei Themen wie Handel, Kaufmann, Geld, Geldverkehr oder Tauschverhältnissen beginnen in der Regel Analogisierungs- und Metaphorisierungsstrategien, die einen guten Teil der Forschung zu Literatur und Ökonomie bestimmen. Möglicherweise sind gerade solche Metaphorisierungen ökonomischer Konstellationen in lyrischen Texten ausgeprägter, wie man an einem prominenten Beispiel gut erkennen kann. In der ersten Strophe von Hölderlins Brod und Wein wird die Ankunft der Nacht in der Gegenwart inszeniert. Die ersten Verse sind beherrscht von einer friedlichen Abendstimmung, in der die Geschäftigkeit des Tages der Stille des Abends weicht: Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse, Und, mit Fackeln geschmükt, rauschen die Wagen hinweg. Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen, Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen, Und von Werken der Hand ruht der geschäfftige Markt.21

Durchaus ohne negative Konnotationen wird hier die Tätigkeit eines Kaufmanns oder zumindest eines wirtschaftlich agierenden Menschen thematisiert, und zwar bei seiner Grundbeschäftigung der Bilanzierung. Man kann das als Markierung eines ökonomisch ausgerichteten Wirklichkeitsverhältnisses lesen. Aus Joseph Vogls diskursgeschichtlicher Perspektive ist das Bilanzieren sogar eines der Schlüsselmomente für die Anthropologie des sogenannten homo oeconomicus: Die doppelte Buchführung trage dazu bei, dass „sich das Regellose, Schicksalhafte oder Gefährliche des Zufalls in ein bloßes Risiko umgewandelt“ habe.22 Die später in Hölderlins Elegie einsetzende Charakterisierung der Gegenwart als 21 Friedrich Hölderlin, „Brod und Wein. An Heinze“ (Erste Fassung), in: Hölderlins sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Michael Knaupp (Hrsg.), München 1992, S. 372. 22 Vgl. Joseph Vogl, „Epoche des ökonomischen Menschen“, in: Hempel/Künzel (Hrsg.), Literatur und Wirtschaft, S. 19–36, hier S. 22–24. Vgl. auch ders., Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 4. Aufl., Zürich 2011 (1. Aufl. 2002) sowie zur Begrifflichkeit des homo oeconomicus in der Literatur: Bernd Blaschke, Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil,



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einer götterfernen Zeit, in der die Dichter eine Art Vermittlungsposition einnehmen, ist hier bereits in Konturen angedeutet – nicht zuletzt ist es der kaufmännisch-ökonomische Blick, der Prozesse der Säkularisierung und ‚Entzauberung‘ der Wirklichkeit vorantreibt, eben weil er den Zufall beherrschbar macht und die Option, das ehemals Unberechenbare durch die Evokation einer göttlichen Sphäre zu domestizieren, deutlich relativiert. Nur wird in Brod und Wein im Zeichen der Nacht die Verlustrechnung dieser Entwicklung entfaltet. Der Dichter als Repräsentant einer früheren, prä-ökonomischen Weltsicht taucht in der klanglich-sinnlichen Harmonie der ersten zwölf Verse von Brod und Wein entsprechend nur andeutungsweise auf, nämlich zu Beginn der zweiten drei Distichen: Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vieleicht, daß  Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; […].

Die Rede ist lediglich von zwei verschiedenen Motivationen für den Gesang, der von einem „Liebende[n]“, oder eben von einem „einsame[n] Mann“ kommen kann: Konstellationen, die von der Sehnsucht nach erhofft Zukünftigem, Vergangenem oder räumlich Fernem gekennzeichnet sind, das durch den Gesang in der Elegie performativ angenähert wird – ein erster Hinweis auf die Evokation des Griechischen Göttertags in der zweiten Strophentrias. Hier soll es aber um die im Text aufgebaute Opposition der von Gewinn- und Verlustkalkulationen beherrschten Welt des Markts und der durch Figurationen des ‚Andenkens‘ charakterisierten Welt der Dichtung gehen, die als Saitenspiel auf der Lyra noch ganz nah am griechischen Ursprung des Worts liegt. Denn in dieser Opposition liegt auch ein Hinweis darauf, wie wirtschaftliche Themen in der Lyrik in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts behandelt werden. Zwar steht dem Kaufmann der Dichter gegenüber, aber beide haben in der friedlichen Abendszenerie ihren Platz. Das Nebeneinander, das in den ersten zwölf Versen von Brod und Wein inszeniert wird, führt zu einer Art Funktionstrennung – Kaufleute wägen Gewinn und Verlust ab, Lyrik ist das Medium der emotional-sinnlichen Kompensation lebensweltlicher Defizite. Die Problematik der Opposition zwischen Dichtern und denen, die – wie die Kaufleute – ganz in der Gegenwart der gottfernen Zeit leben, wird in anderen Texten Hölderlins wesentlich radikaler und skeptischer thematisiert, etwa in Dich-

Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, München 2004, S. 17–24; Werner Wunderlich, ‚Geld im Sack und nimmer Not‘. Betrachtungen zum literarischen Homo oeconomicus, Zürich 2007, S. 11–24.

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terberuf (hier zitiert in der ersten Fassung), einem Text, in dem der Zustand der Gegenwart als Missbrauch der göttlichen Kräfte thematisiert wird: Denn ja! zu lang ist Göttliches dienstbar nun; Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht Die Gütigen, zur Lust, danklos ein Schlaues Geschlecht, und zu kennen wähnt es Weil ihnen der Erhabne den Aker baut Den Tagsgott, und den Donnerer und es späht Des Schiffers Rohr sie all und nennt mit Nahmen die hohen, des Himmels Sterne; […].23

Gegenüber Brod und Wein erscheint die Gegenwartsdiagnose in Dichterberuf erweitert. Es ist nicht nur ein „schlaues Geschlecht“, das den Erhabnen zum „Akerbau“, also zur Bewirtschaftung der Erde benutzt, diesem Szenario des ökonomischen Missbrauchs einer göttlichen Kraft, die zu vermitteln Aufgabe des Dichters ist, wird auch die Entzauberung der Natur durch den technischen Fortschritt und seinen Einsatz an die Seite gestellt. Die Konfrontation einer Dichterfunktion, die eine denkbar radikale Variante der Vorstellung dichterischer Autonomie darstellt, mit der wirtschaftlichen Nutzung der Erde, aber auch mit indirekt damit in Beziehung gesetzten Aspekten der technischen Moderne, ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Problematisierung des Verhältnisses von Ökonomie und Lyrik im 19. Jahrhundert. Bei Hölderlin erscheint Ökonomie als eine der Negativfolien, die dem Anspruch an den Seher-Dichter widerspricht, als eine Art Vermittler eines verlorenen Harmoniezustandes in der Gegenwart aufzutreten, möglicherweise aber auch eine Bedingung dafür ist, dass dieser Anspruch formuliert werden kann. Ein besonderes Wissen vom Ökonomischen, vergleichbar mit den zeitgleichen Reflexionen romantischer Autoren, ist hier freilich nicht erkennbar: Der Kaufmann ist derjenige, der mit dem Geld umgeht. Im Dichter, zumindest im Dichter Hölderlins, steht ihm eine Instanz gegenüber, die eine religiöse Funktion einnehmen kann und die gegenüber den realen Bedingungen der von den Mechanismen des Markts und des Geldes beherrschten Welt der Gegenwart eine Position der Überlegenheit besetzt.24 Dem Paradigma des Geldes stellt Hölderlin die

23 Friedrich Hölderlin, „Dichterberuf“ (Erste Fassung), in: Hölderlins sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Michael Knaupp (Hrsg.), München 1992, S. 269–271. 24 Wenn man Jochen Hörischs Überlegungen zur ‚Ontosemiologie‘ aufgreifen will, in der „[d]as Abendmahl, das Geld und die neuen Medien […] epochenübergreifende (und zunehmend kulturübergreifende) Leitmedien“ (Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl: die Poesie des Geldes,



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kunstreligiöse Sendung des Dichters gegenüber, der ein antik-abendländisches Vereinigungsabendmahl im Text evozieren kann. Wie auch immer man mit diesem Befund umgeht, er lässt sich an die von Gert Sautermeister formulierte Charakteristik der marktliterarischen Rahmenbedingungen der Phase zwischen 1815 und 1848 gut anschließen.25 Dem „Verlangen“ der Lyriker „nach relativer Autonomie, nach Unabhängigkeit von einem regelrechten Brotberuf, nach Freiheit von materieller, regionaler und klassenbedingter Fremdbestimmung“26 stehe eine Determination durch marktspezifische Faktoren gegenüber. Eine solche Trennung von Dichtung und Wirklichkeit sei bei Lyrikern wie Nikolaus Lenau oder Friedrich Rückert ebenso zu beobachten wie bei Eduard Mörike oder Annette von Droste-Hülshoff. Sautermeister zitiert eine Selbstreflexion Lenaus: dieser spricht „die Ökonomie meiner Seelenkräfte“ an, in der „zu wenig Berechnung, Maß, Ordnung“27 sei, um den Anforderungen eines auf Regelmäßigkeit und rationalen Gewinn-Verlust-Rechnungen aufgebauten bürgerlichen Leben zu genügen. Folgt man diesen sozialgeschichtlich perspektivierten Überlegungen zu Eichendorff, Mörike und Droste-Hülshoff, dann erscheint Eichendorff als spätromantischer Außenseiter, der in seinen Naturgedichten gegen Normierungen opponiert und so eine Art Gegenprogramm zur restaurativen Wirklichkeit entwirft. In ähnlicher Weise kann Mörike als ein Autor charakterisiert werden, der die „sich verschärfenden Widersprüche“ der Biedermeier-Epoche in seinen Texten „in ambivalente Mentalitätslagen, mehrdeutige seelische Neigungen, unentschiedene Bewusstseinshaltungen“28 transponiert. In ökonomischer Hinsicht sei das, so Sautermeister, der Widerspruch „zwischen Industrialisierung und zäher Bindung an hergebrachte Produktionsformen“.29 In dieser sozialgeschichtlichen Perspektive geht es also, in Fortführung der bei Hölderlin herausgearbeiteten Dichotomie, um eine Übersetzung des Wissens über ökonomische Prozesse und Veränderungen in metaphorische Konstellationen. Die Lyrik reflektiert Wissen, hier ein ökonomisches Wissen der Bedrohung durch die Modernisierung; diese

Frankfurt a.M. 1996, S. 26) sind, dann könnte man in der gerade in Brod und Wein inszenierten Gegenüberstellung dieser Funktionen durchaus die in den Text eingelagerte Reflexion einer solchen leitmedialen Konkurrenzsituation erkennen. 25 Gert Sautermeister, „Lyrik und literarisches Leben“, in: Gert Sautermeister/Ulrich Schmid (Hrsg.), Zwischen Restauration und Revolution: 1815–1848, München/Wien 1998 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 459–484. 26 Sautermeister, „Lyrik und literarisches Leben“, S. 459. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 481. 29 Ebd.

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konkretisiert sich für Autoren vielleicht zunächst als Ökonomisierung eines Marktes, auf dem sie sich mit Autorschaftskonzepten der Autonomie und Originalität positionieren. Die Übertragung in eine tendenziell modernisierungskritische Motivik ist entsprechend nachvollziehbar. Eduard Mörikes Die schöne Buche30 kann dann als Inszenierung eines natürlich-idyllischen Orts der Mitte gelesen werden, der mit einer religiös-sakralen Komponente versehen eine kontrafaktische Reflexion der ökonomisch determinierten zeitgenössischen Wirklichkeit bietet.31 Gerade die von der Außenwelt hermetisch abgeschlossene Privatheit wird in den letzten Versen betont: „Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber- / Guertel, o Einsamkeit, fuehlt ich und dachte nur dich!“ Diese Negation impliziert zumindest auch die Präsenz einer problematischen Gegenwelt, die explizit als „[a]b dem Pfade“ und fern vom „offene[n] Feld“ benannt wird. Das Ich zieht sich in den Bannkreis der Buche zurück, der als ein Naturraum mit ästhetischen und sakralen Qualitäten der Außenwelt konfrontiert wird. In ganz anderer Weise thematisiert Annette von Droste-Hülshoff, wie Ulrich Gaier in der kleinen Untersuchung Annette und das Geld dargelegt hat, in verschiedenen Gedichten die Probleme einer freien Schriftsteller-Existenz. In ihrem Fall wird die Problematik des Geldes, das die Voraussetzung für die wirtschaftliche Autonomie der Autorin darstellt, verbunden mit der Frage, ob und wie eine Frau aus der Aristokratie in Zeiten „gesellschaftliche[r] Umstrukturierung“32 eine solche Existenz aufbauen könnte. Gaier sieht gerade in „der paradoxen Unwirklichkeit der Bilder“ in Am Turme eine Reflexion der „ins Wanken geratenen Existenzgrundlage ihres ganzen Standes“33 und ein Motiv dafür, warum sie „in ihren erzählenden Dichtungen so häufig das Geld als bewegendes Motiv für die Handlungen und die Verbrechen ihrer Figuren einsetzt“.34 Auch wenn man also in vielen lyrischen Texten zwischen 1800 und 1830 kaum eine explizite Reflexion ökonomischer Gegebenheiten findet, die der in Prosa oder dramatischen Texten vergleichbar wäre – Wilhelm Meister, Faust II, Novalis’ romantische Ökonomien, Chamissos Peter Schlemihl sind oft verhandelte Beispiele –, so lässt sich doch immerhin festhalten, dass im Zusammen-

30 Eduard Mörike, „Die schöne Buche“, in: Eduard Mörikes Werke und Briefe, Bd. 1, Erster Teil, Hans-Henrik Krummacher (Hrsg.), Stuttgart 2003, S. 106. 31 Vgl. Mathias Mayer, Eduard Mörike, Stuttgart 1998, S. 61–62; Theodore Ziolkowski, „Mörike’s ‚Die schöne Buche‘: An Arboreal Meditation“, in: The German Quarterly, 56/1983, 1, S. 4–13. 32 Ulrich Gaier, Annette und das Geld. Die Droste, die Schriftstellerei, das Fürstenhäuschen, Konstanz 1993, S. 33. 33 Ebd., S. 31. 34 Ebd., S. 33.



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hang mit der auch poetologischen Reflexion der Funktion des sich zusehends autonom verstehenden Dichters ein Wissen über die ökonomischen Rahmenbedingungen in den Texten explizit gemacht wird. Es scheint sich weniger um eine unmittelbare Reflexion ökonomischen Wissens zu handeln als um implizite Bezüge im Rahmen anderer Problemzusammenhänge – von denen einer die sich wandelnde Position des Dichters zwischen Autonomieästhetik und literarischem Markt wäre. Diese Diagnose der impliziten Reflexion scheint zumindest auf Autoren zuzutreffen, die sich noch im Umfeld romantischer Autorschaftskonzepte bewegen. Etwas verändert ist die Situation, wenn man die seit 1830 sich entwickelnde Tradition sozialer und politischer Lyrik betrachtet – in der dann auch explizite Bezüge auf ökonomische Problemlagen enthalten sein können. In Heines Deutschland. Ein Wintermärchen tritt nicht nur Heines Verleger Campe, sondern auch sein Zensor auf, beide unter ironischen Perspektivierungen: Campe trauere über den Verlust seines Pudels mehr als über den „ein[es] ganze[n] Schock[s] / Schriftsteller“35, und der Zensor habe beim Wiedersehen „eine Träne“36 im Auge. Hier findet eine Reflexion der ökonomischen, aber auch der politischen Bedingungen der Schriftsteller-Existenz statt. Eine solche Überlagerung mit zeitgenössischen oder aktuellen Problemzusammenhängen scheint mir ein weiterer charakteristischer Reflexionsmodus für das Zusammentreffen von Ökonomie und Lyrik zu sein. Es sind mindestens zwei Überschneidungsbereiche, die man hier in den Blick nehmen kann: Zum einen natürlich Berührungen zwischen Ökonomie und Politik, dann aber ebenso zwischen meist negativ, gelegentlich aber auch positiv bewerteten Folgen der wirtschaftlichen und technischen Modernisierung; der erste Fall betrifft Beispiele einer sozialen Lyrik, der zweite Gedichte, die sich mit Technik oder mit dem Problem der Modernisierung als Industrialisierung befassen. Ich konzentriere mich nun auf Beispiele bei Heine – auch weil dieser vielleicht am ehesten als ein Autor gesehen werden kann, der aufgrund seines Kontakts mit Marx parallel über eine Art ökonomietheoretischer Erklärung sozialer Entwicklungen verfügt und also ein explizites Wissen über Ökonomie entwickelt. Zunächst kann man festhalten, dass Heines politisch-zeithistorische Lyrik durchaus einen wichtigen Aspekt der ökonomischen Wirklichkeit registriert: die Börse. Im Wintermärchen (Caput XXI) wird der Brand Hamburgs dem Sprecher

35 Heinrich Heine, „Deutschland. Ein Wintermärchen“, in: Heinrich Heines sämtliche Schriften, Bd. 4, Klaus Briegleb (Hrsg.), Darmstadt 1971, S. 571–644, hier S. 627. 36 Ebd.

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von den Hamburgern referiert – zunächst brennen die Kirchentürme (wohl der Nikolaikirche), dann die alte Börse: Die Kirchentürme loderten auf Und stürzten krachend zusammen. Die alte Börse ist verbrannt, Wo unsere Väter gewandelt Und mit einander Jahrhunderte lang So redlich als möglich gehandelt.37

Wenn auch nur indirekt, wird hier hingewiesen auf das Problem des sich verselbständigenden Börsenhandels, des Handels mit bloßen Papieren und Schuldscheinen, kurz des Spekulantentums, das in den 1840er Jahren noch nicht im Vordergrund ökonomischer Theorien steht, aber in der Adam-Smith-kritischen deutschen Nationalökonomie durchaus schon als eine neue Variante des auf Eigennutz basierenden Smithschen Ansatzes der produktionsorientierten Ökonomie erkannt wird. Heine, der in Lutetia, seinen Korrespondenzberichten aus Paris, im März 1841 den Zusammenhang zwischen Geld und politischer Macht am Beispiel von Rothschild beschreibt, deutet diese Problematik im Wintermärchen nur an. In der nunmehr abgebrannten alten Hamburger Börse sei jahrhundertelang „[s]o redlich als möglich gehandelt“ worden. Ein neuer, spekulativer Börsenhandel, in dem Papiere immer weniger an materielle Werte, immer mehr an Gewinn- und Verlusterwartungen gebunden sind – eine Entwicklung, die Heine bereits in Paris beobachten konnte –, zeichnet sich hier bereits ab. Zudem ist die bürgerliche Existenz eindeutig ökonomisch determiniert, wie in der nächsten Strophe erläutert wird: Die Bank, die silberne Seele der Stadt, Und die Bücher, wo eingeschrieben Jedweden Mannes Banko-Wert, Gottlob! sie sind uns geblieben!38

Der Brand hat den alten Börsenhandel zerstört, erhalten bleibt aber die auf dem Geldwert basierende bürgerliche Existenz – eine kritisch-ironische Analyse der Reduktion von Individualität auf ökonomische Werte. Vergleichbare Sätze findet man in Marx’ Geldanalyse in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844, wo auseinandergesetzt wird, dass „[d]ie Eigenschaften des Geldes […] seines Besitzers […] Eigenschaften und Wesenskräfte“39 seien. 37 Ebd., S. 624. 38 Ebd. 39 Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, in: Karl Marx und Friedrich Engels



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Eine solche Gleichsetzung von Mensch und Geld kann auch zu einer problematischen Verbindung zwischen Ökonomie und Politik führen, und damit wären wir bei der nächsten der oben genannten diskursiven Verschränkungen. Bei Heines Einschätzung des restaurativen Deutschlands spielt die Verwechslung und Aufhebung der Politik durch die Ökonomie eine große Rolle. Der Passagier, dem er an der Grenze begegnet, sieht im Zollverein, also in der Handelsunion, den wichtigsten Schritt zur politischen Einigung: „Der Zollverein“ – bemerkte er – „Wird unser Volkstum begründen, Er wird das zersplitterte Vaterland Zu einem Ganzen verbinden. Er gibt die äußere Einheit uns, Die sogenannt materielle; Die geistige Einheit gibt uns die Zensur, Die wahrhaft ideelle – 40

Das Zitat geht noch weiter, aber die Zielsetzung ist bereits an dieser Stelle klar: Über allen Aspekten der politischen Einigung steht die Ökonomie, ihr werden andere Werte der bürgerlichen und geistigen Freiheit untergeordnet. Heine behandelt hier die Ökonomie als Teilsystem eines politischen Zusammenhangs, das aber durch seine Relevanz im Deutschland der 1840er Jahre die Prozesse der Demokratisierung und der Einigung kontaminiert. Eine solche Verschränkung von ökonomischer und politischer Problematik ist auch bei Texten zu beobachten, die man als ,operative Literatur‘, als engagierte oder politische Lyrik bezeichnet hat – Texten, in denen soziale Probleme als zentrale Folgen wirtschaftlicher Modernisierung behandelt werden. Das kanonischste Beispiel hierfür stammt wiederum von Heine, das als ,Zeitgedicht‘ veröffentlichte Die schlesischen Weber. Es referiert auf ein von den schlesischen Webern bei den Aufständen gesungenes Lied mit dem Titel Das Blutgericht, in dem Marx den Gegensatz zwischen Proletariat und Privateigentum zum Ausdruck gebracht sah. Wenn man Heines Bearbeitung liest, so differenziert sich diese ökonomische Analyse: Der Text ist weniger ein Protest gegen die Besitzverhältnisse an sich als eine Anklage gegen den unmoralischen und unethischen Missbrauch

Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 2, Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.), Berlin 1982, S. 187–322, hier: S. 319. 40 Heine, „Ein Wintermärchen“, S. 580.

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von Arbeitskraft durch die „Reichen“ – die Produzenten, die ihr Eigentum durch die menschenunwürdige Ausbeutung von Arbeitskraft vermehren. Ein ethisches Verhalten würde religiös verbindliche Minimalanforderungen einhalten – aber dieser Gott, zu dem die Weber gebetet haben, hat sie eben „geäfft und gefoppt und genarrt“.41 Ebenso stellt sich der König, den das Elend der Weber „nicht konnte erweichen“, als der „König der Reichen“42, also der Besitzenden heraus, weil er nicht fähig ist, die Auswüchse einer zu stark produktionsorientierten Wirtschaft zu regulieren. Hier wäre nun der Punkt, an dem man eine Parallelisierung mit ökonomischem Wissen versuchen könnte. Denn eine solche ganz an der Produktion orientierte Wirtschaft hatte Adam Smith in The Wealth of Nations 1776 propagiert. Dabei war er der Auffassung, dass das Interesse des ,Reichen‘ an einer Steigerung der Produktion immer auch sozial positive Wirkungen haben würde. Smith ging von einer moralisch-ethischen Grunddisposition der Arbeitgeber aus, die vor der physischen Ausbeutung das erwirtschaftete Kapitel in die Einstellung neuer Arbeiter investieren würde. Die Möglichkeit der Ausbeutung ist in seiner moralphilosophischen Wirtschaftsordnung also nicht vorgesehen. Allerdings wurde ihm genau das in der ökonomischen Theorie des 19. Jahrhunderts vorgeworfen. Wohl auch aus einer Praxis der Beobachtung ökonomischer Prozesse in England heraus ist die Smith-Rezeption in Deutschland beherrscht von der Kritik an der Konzentration auf das Eigeninteresse. In der deutschen Nationalökonomie etwa kritisiert Bruno Hildebrand, der der älteren historischen Schule zugerechnet wird, um 1848 die zu starke Berücksichtigung des individuellen Vorteils und argumentiert, man könne diese Konzepte nicht aus ihrem historischen Umfeld herauslösen. Hildebrand stellt der Konzentration auf die bestmöglichen Produktionsbedingungen als Aufgabe einer Nationalökonomie die bestmögliche Verteilung des nationalen Reichtums gegenüber. Auch andere Ökonomen wie Karl Knies oder Wilhelm Roscher denken über das vielleicht idealistische Ziel einer gegenüber den am Eigeninteresse orientierten Überlegungen Adam Smiths besseren Verteilung des Reichtums nach.43

41 Heinrich Heine, „Die schlesischen Weber“, in: Heinrich Heines sämtliche Schriften, Bd. 4, Klaus Briegleb (Hrsg.), S. 455. 42 Ebd. 43 Zu den Daten: Bruno Hildebrands Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft erschien 1848; Karl Knies Die politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode 1853 und Wilhelm Roschers System der Volkswirthschaft ab 1854. Für eine ausführliche Analyse der hier zusammengefassten Überlegungen vgl. Priddat, Produktive Kraft, S. 261–319 und S. 343– 356.



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Solche Gedanken spielen auch in Heines Schlesischen Webern eine Rolle, und man muss nicht unbedingt gleich auf Marx referieren, um zu sehen, dass sie auch in einem Bereich ökonomischen Wissens als Probleme reflektiert werden. Insofern scheint auch eine Beziehung zwischen den lyrischen Texten und den nationalökonomischen Gedanken naheliegend.

III Spannungen, Tangenten, Konvergenzen Ist die Frage nach dem Verhältnis von Lyrik und Ökonomie eine sinnvolle Perspektive bei der Behandlung von Fragen, die das Wissen in lyrischen Texten betreffen? Kann man über Thematisierungen von ökonomischen Problemen in Gedichten Analyseperspektiven eröffnen, die mit anderen Annäherungen und Fragestellungen nicht gegeben sind? Erlauben die Spannungen zwischen den beiden Bereichen eine produktive Verknüpfung? Festzuhalten ist, dass Fragen nach Beziehungen zwischen Lyrik und Ökonomie bestimmte Problemzusammenhänge verdeutlichen und sogar zuspitzen, die in beiden Bereichen präsent sind – gerade in Diskussionen, die im 19. Jahrhundert geführt werden. Berührungspunkte dieser Art sind etwa die intensive und auch popularisierte Auseinandersetzung mit den Problemen einer produktionsorientierten Wirtschaft in den 1840er und 1850er Jahren. Politisch und sozial ausgerichtete Texte greifen hier offenbar ein bereits explizit gemachtes ökonomisches Wissen auf. Ebenso kann man auch die in lyrischen Texten besonders markante poetologische Reflexion der autonomen Dichter-Funktion als Gegenentwurf zu einer zusehends ökonomisch geprägten Wirklichkeit auffassen. In Hölderlins Brod und Wein werden zunächst die Umrisse einer ökonomischen Wirklichkeit skizziert, die dann mit einem sprachlich evozierten, lyrischen Gegenentwurf konfrontiert wird. Romantische Autorschaftskonzepte ließen sich in einer ähnlichen Perspektive betrachten. Derartige Tangenten erlauben jedenfalls die Frage, inwiefern die Faktur der Texte in Bezug zu sozialen und ökonomischen Positionierungen des Autors steht. Auch deshalb wäre für die deutschsprachige Lyrik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts daran festzuhalten, dass eher eine implizite Thematisierung ökonomischer Probleme dominiert – wobei jedoch, meist in Zusammenhängen einer politisch und sozial orientierten Lyrik, stellenweise auch durchaus ein explizites Wissen aufgegriffen werden kann. Tendenziell sind aber solche Konvergenzen zwischen Ökonomie und Lyrik offenbar eher als Teildiskurse in der Thematisierung von anderen Wissenszusammenhängen sichtbar – wie Lyrik und Geschichte, Lyrik und Evolutionstheorie oder allgemein Lyrik und Naturwissen-

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schaften. Liest man die Texte auch als Reflexionen der poetologischen Bedingungen lyrischen Schreibens, dann erlaubt das Paradigma eines ökonomischen Zugangs eine durchaus produktive Untersuchungsperspektive auch für lyrische Texte.

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Lyrik und Ökonomie im 19. Jahrhundert 

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Richter, Sandra, „Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900 und die Tragfähigkeit ökonomischer Interpretationsansätze“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin 2011, S. 214–238. Richter, Sandra, Mensch und Markt. Warum wir den Wettbewerb fürchten und ihn trotzdem brauchen, Hamburg 2012. Sautermeister, Gert, „Lyrik und literarisches Leben“, in: Gert Sautermeister/Ulrich Schmid (Hrsg.), Zwischen Restauration und Revolution: 1815–1848, München, Wien 1998 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 459–484. Schößler, Franziska, „Ökonomie“, in: Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nicolas Pethes/ Yvonne Wübben (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/ Weimar 2013, S. 101–105. Schößler, Franziska, Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009. Shell, Marc, Art and Money, Chicago/London 1995. Vogl, Joseph, „Epoche des ökonomischen Menschen“, in: Dirk Hempel/Christine Künzel (Hrsg.), „Denn wovon lebt der Mensch?“ Literatur und Wirtschaft, Frankfurt/M. u.a. 2009, S. 19–36. Vogl, Joseph, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 4. Aufl., Zürich 2011 (1. Aufl. 2002). Werle, Dirk, „Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie“, in: Scientia Poetica 13/2009, S. 255–303. Woodmansee, Martha/Mark Osteen (Hrsg.), The New Economic Criticism, London/New York 1999. Wunderlich, Werner, ‚Geld im Sack und nimmer Not‘. Betrachtungen zum literarischen Homo oeconomicus, Zürich 2007. Ziolkowski, Theodore, „Mörike’s ‚Die schöne Buche‘: An Arboreal Meditation“, in: The German Quarterly, 56/1983, 1, S. 4–13.

Alexander Nebrig (Berlin)

Entbindung von der Disziplin Arno Holz’ Begründung des Lebenswissens im Phantasus I Wissenschaftliche und poetische Rede Arno Holz (1863–1929) hat 1898 einen erstaunlichen Satz veröffentlicht: ‚Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt war ich eine Schwertlilie.‘ Obzwar dahinter ein wissenschaftliches Theorem steckt – die Rekapitulation der Gattungsentwicklung in der Entwicklung des Einzelwesens –, würde ihn so kein Zoologe publiziert haben. Zuerst erschienen in einer Jugendstilzeitschrift, versehen mit einer Illustration, ist er zudem für den um 1900 in Prosa gehaltenen Wissenschaftsdiskurs in die untypische Versform gebracht: „Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt / war ich eine Schwertlilie.“1 Vor allem würde der freie Gebrauch der ersten Person Singular in einem Fachtext irritieren, wo der Wissenschaftler, wenn überhaupt, von sich als einem objektiven Beobachter spricht. Die Freiheit des Rollen-Ichs ist ihm verwehrt; hingegen ist sie in poetischen Genres nicht nur legitim, sondern sie wird geradezu erwartet. Neu ist dagegen die Verortung des lyrischen Ichs in einem paläontologischen Zustand. Zwar war der Satz durch eine naturwissenschaftliche Theorie von 1866 – das sogenannte biogenetische Grundgesetz (englisch recapitulation theory) – ermöglicht worden, aber er wird wohl kaum nur als ihre poetische Applikation zu verstehen sein. Es muss einen Grund dafür geben, das Theorem anzuwenden. Die Frage, was es für Holz als Dichter wert macht, einen solchen Satz überhaupt auszusprechen, sei vorläufig mit dem Hinweis beantwortet, dass er, abgesehen von den konkreten Wissenselementen, einen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch transportiert. Holz interessiert sich für diesen, genauer für seinen Bezeugungscharakter, über den er die von ihm selbst erneuerte Ausdrucksform der Lyrik – er verstand sich als Revolutionär in poeticis – und mit ihr das Rollensprechen als wahr bezeugen kann. Nicht allein das konkrete Wissen, sondern auch seine Beglaubigung durch eine wissenschaftliche Disziplin wird übernommen, wobei in einem letzten Schritt – in der mit Selbstsicherer Auftakt übertitelten Nachlass-

1 Erstdruck: Arno Holz, [„Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt“], in: Ver Sacrum, 1/1898, 11, S. 2; dann im zweiten Teil des Phantasus von 1899: Arno Holz, Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung, Gerhard Schulz (Hrsg.), Stuttgart 1968, S. [59].

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fassung – der Bezug zur Wissenschaft als Disziplin gekappt wird. Indem Holz das Wissen aus dem Rahmen der Wissenschaft löst, behauptet er seine lyrische Autorschaft. Dass Holz einen solchen Satz schrieb, verwundert nicht. Seine Autorschaft steht wie kaum eine andere in einem sowohl polemisch-parodistischen als auch in einem affirmativ-imitatorischen Bezug zu den Wissenschaften. Einerseits verfasste Holz die mehrfach erweiterte Wissenschaftsparodie Die Blechschmiede (1902, 1917, 1921, 1924, postum 1963/64) und das erkenntniskritische Drama Ignorabimus (1913), andererseits die zuerst 1898/99 erschienene Dichtung Phantasus (1913, 1916, 1925, postum 1961), die über den Bezug zur Naturwissenschaft die kosmologischen Träume eines lyrischen Ichs begründet.2 Hier wie dort ist die Einbindung konkreter Wissenselemente nicht zu übersehen; jedoch ist der affirmative Bezug auf die Wissenschaften im Unterschied zum parodistischen in seiner Funktion weniger klar. Aber auch bei diesem gilt, dass der naturwissenschaftliche Kontext durch den neuen poetischen Kontext verändert, wenn nicht gar aufgegeben wird. Unmöglich deckt sich die poetische mit der wissenschaftlichen Rede hinsichtlich ihres epistemologischen Status, und die diskursiven Rahmenbedingungen des Wissens in Poesie und Wissenschaft differieren. Anstatt das zur Sprache kommende Wissen zu isolieren und als wissenschaftliches oder populärwissenschaftliches zu identifizieren, möchte ich den Unterschied zwischen poetischer und wissenschaftlicher Rede betonen, um den Transferprozess und die damit verbundene Funktion des Wissens für das poetische Verfahren zu erörtern.3 2 Darüber hinaus lässt sich der Barockzyklus Dafnis (zuerst 1904) als Auseinandersetzung mit der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung verstehen, vgl. Alexander Nebrig, Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2013, S. 170–210. 3 Dieses Vorhaben modifiziert das Verhältnis zwischen ‚Literatur‘ und Diskurs (zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. Harald Neumeyer, „Diskurs“, in: Roland Borgards/Harald Neumeyer/ Nicolas Pethes/Yvonne Wübben (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 33–36) bzw. das Verständnis der Literatur als contre-discours. Obgleich nicht bestritten werden soll, dass ‚Literatur‘ einen institutionalisierten Gegendiskurs zu den sachlich rückversicherten Diskursen darstellt und diese interdiskursiv bzw. polyphon vereint (vgl. z.B. Christoph Bode, Selbst-Begründungen. Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik, Bd. I: Subjektive Identität, Trier 2008, S. 11–12), lässt sich der Unterschied insbesondere zwischen wissenschaftlicher und poetischer Rede darüber hinaus hinsichtlich der Frage nach der sozialen Kontrolle der Rede diskutieren. Diese scheint mir vor allem in der modernen, von der Tradition befreiten Lyrik schwach ausgeprägt zu sein; eben gerade weil sie einen ‚Freiraum‘ der Rede eröffnet. Das muss notwendig zu einem anderen Umgang mit dem Wissen führen als in den Wissenschaften, das dort von disziplinären Diskurspraktiken beherrscht ist. Bezieht sich ein lyrischer Sprecher auf wissenschaftliches Wissen, steht er nie nur mit dem Wissen, sondern auch



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Nicht nur die sprachlichen Verfahren, Gattungen und Traditionen differieren, in denen es jeweils zur Darstellung gelangt, sondern auch die Praktiken der Kommunikation. Die wissenschaftliche Rede gehorcht den formalen Ansprüchen des Fachdiskurses, ist gebunden an wissenschaftliche Medien und die kommunikative Interaktion von Wissenschaftlern, geprägt von Denkstilen und Schulen,4 vor allem aber konzentriert sie sich auf Organisation des bestehenden und Hervorbringung neuen Wissens unter Beachtung des aktuellen Diskussionszusammenhangs. Zwar kennt die Literaturgeschichte soziale Schreibformen – Holz selbst war das Haupt einer Dichterschule –,5 aber literarische Gruppenbildungen haben nicht primär den Zweck, neues Wissen zu schaffen, sondern sind stärker ästhetisch, ethisch und politisch dimensioniert als erkenntnistheoretisch. Auch Autorschaft, Schreibstil und der Umgang mit sprachlichen Unwägbarkeiten ist in poetischer und wissenschaftlicher Rede verschieden. Wenigstens drei Merkmale lassen sich anführen, um das wissenschaftliche Schreiben vom literarischen abzugrenzen. Erstens ist die Identität zwischen Autorname und Sprecher-Ich in der Wissenschaft Voraussetzung; in der Poesie ist sie hingegen brüchig, und selbst dort, wo Identität besteht, trennen wir den empirischen Autor vom Textsubjekt. Das andere Kriterium ist ein starker Sachbezug der wissenschaftlichen Rede; in der Dichtung herrschen stärker ethische und emotionale Überzeugungsstrategien vor. Als dritte Besonderheit ist schließlich der sprachliche Ernst wissenschaftlicher Rede zu nennen, der nach Eindeutigkeit strebt und wenigstens versucht, Ambivalenzen zu vermeiden. Wissenschaftler spielen nicht mit der Sprache wie Dichter, die eine Lizenz zur Idiosynkrasie haben. Nimmt man schließlich hinzu, dass seit Aristoteles poetische als potentielle Rede angesehen werden kann, die Möglichkeiten und Alternativen zum Bestehenden entwirft, hingegen Wissenschaft, zumindest im Bereich der empirischen Naturwissenschaften, Faktizität zu erkennen strebt, wäre es verkürzt, nach dem Wissenstransfer zwischen diesen beiden diskursiven Rahmen noch vom selben Wissen zu sprechen. In gebundenen lyrischen und epischen Formen erscheint der Unterschied noch deutlicher als in der deskriptiv-narrativen Prosa, welche den wissenschaftlichen Stil stärker imitieren kann. Die gezielte Übernahme wissenschaftlichen Wissens gewann mit der Entstehung der modernen Wissenschaften im 19. Jahrhundert ein neues Ausmaß. mit seinem disziplinären Charakter in Bezug. Zum disziplinären Charakter des philologischen Wissens vgl. Nebrig, Disziplinäre Dichtung, S. 16–30. 4 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel 1935. 5 Vgl. Robert Wohlleben, „Regiment Sassenbach. Lyrik aus der literarischen Werkstatt um Arno Holz“, in: ders. (Hrsg.), Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz, Leipzig 2013, S. 133–150.

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Die zeitgleich anzutreffenden Popularisierungsformen des Wissens sind Indiz dafür,6 dass literarische Autoren auf allgemeine Verbreitung des wissenschaftlichen Wissens rechnen konnten. Indem die Poesie durch die Partizipation am Wissen der Wissenschaft erkenntnistheoretisch aufgeladen wurde, erfuhr sie eine allgemeine Aufwertung. Die Bindung an die Autorität der Wissenschaft garantierte Aufmerksamkeit in der literarischen Öffentlichkeit.7 Auch die wissenschaftliche Seite versuchte, das Band zur Poesie nicht zu zerreißen. Ohne jene prinzipielle Verschiedenheit des diskursiven Rahmens sehen zu wollen, verstand sich manch ein Wissenschaftler als Poet. Als im 19. Jahrhundert die Wissenschaften erstarkten, wurde nicht nur die Frage nach der Erkenntnisleistung der Poesie dringlich, sondern ebenso die Frage nach der schöpferischen Kraft der Wissenschaft. Der stilistische Anspruch, die Wissenschaft in schöner Form darzustellen, war eine Folge dieser Affinität der Wissenschaft zur Poesie.8 Obgleich neues Wissen in Verbünden von Wissenschaftlern – angesiedelt meist an Institutionen wie Akademien, Instituten und Universitäten – generiert wurde, obgleich dieses Wissen in Fachzeitschriften und auf Kongressen vorgestellt und diskutiert wurde, obgleich also der Kontext dieses Wissens vornehmlich disziplinär war, hielten Vertreter sowohl der Poesie als auch der Wissenschaft an der Überzeugung einer erkenntnistheoretischen Gleichwertigkeit von Wissenschaft und Poesie fest. Die Nähe wird keinesfalls nur von den Dichtern behauptet; bemerkenswert ist die Bezugnahme von Wissenschaftlern auf poetische Autoren. Johann Friedrich Herbart verglich über das anthropologisch-psychologische Vorstellungsvermögen Isaac Newton und William Shakespeare; demnach sei es zweifelhaft, wer von beiden mehr Phantasie besessen habe.9 Nicht nur in Ästhe-

6 Zur Popularisierung der Naturwissenschaften vgl. Andreas W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998. – Allgemein vgl. Safia Azzouni, „Popularisierung“, in: Borgards/Neumeyer/Pethes/Wübben (Hrsg.), Literatur und Wissen, S. 294–298. 7 Helmut Scheuer, „Naturalismus und Naturwissenschaften“, in: Klaus Bohnen u.a. (Hrsg.), Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext, München 1984, S. 9–25, hier S. 9, ordnet den Naturalismus in eine Reihe von literarischen Rechtfertigungsbewegungen ein. 8 Zwar sieht Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1978, die schöne Darstellungsform im 19. Jahrhundert aus den Wissenschaften sich zurückziehen, aber die vielen Gegenbeispiele, von denen auch Scheuer, „Naturwissenschaften und Naturalismus“, S. 14, welche kennt und die ein Jahrhundert später im Anschluss an die Forschungen von Hayden White nicht umsonst von den Literaturwissenschaften analysiert wurden, lassen m.E. eine eindeutige Tendenz nicht ausmachen. 9 Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch der Psychologie. 2. Aufl., Königsberg 1834, S. 74.



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tik, Philosophie und Psychologie, die ähnlich wie die Philologien eine durch den Gegenstand bedingte Nähe zur Dichtung aufweisen, finden sich derartige Zeugnisse. Naturwissenschaftler redeten „überall wie [Emil] Du Bois-Reymond in Kunst, Dichtung und Religion“10 hinein. Sicherlich sah der in Jena lehrende Zoologe Ernst Haeckel, der seine Generelle Morphologie (1866) neben Charles Darwin und Jean Lamarck auch Johann Wolfgang Goethe widmete, in letzterem vornehmlich den morphologischen Naturforscher; aber sobald man bedenkt, wie intensiv sich Haeckel bemühte, die Wissenschaft von der Natur in eine Ästhetik der Natur zu überführen,11 darf man vermuten, dass der Name ‚Goethe‘ auch für den Dichter stand, den Haeckel im Übrigen ausgiebig ab Kapitel XXVII zitiert. Die rhetorische Verwandtschaft beider Bereiche gerät in dem Moment auf den Prüfstand, in dem das äußerlich identische Wissen von den jeweils mit Wissenschaft und Poesie verbundenen diskursiven Verfahren zugleich verhandelt wird. Auf der einen Seite wird das Wissen von einer Disziplin mit ihren Publikationsmedien, Forschungspraktiken und Qualifikationsregeln geordnet, bewertet und vermehrt, auf der anderen Seite ist es frei verfügbar. Sobald es aus dem diskursiven und sozialen Gefüge der Disziplin heraustritt, wird es von seinem disziplinären Kontext entbunden. Dieser Schritt betrifft den diskursiven Rahmen und kann wie im Fall der Parodie sogar von den Wissenschaftlern selbst ausgehen, wobei sich nicht allein die der Poesie nahestehenden Philologen hervortaten.12 Die Würzburger Chemische Gesellschaft veröffentlichte 1891 eine romantische Oper mit dem Titel Kohlenstoff, der chemische Tannhäuser. Gattung und Titel lassen erahnen, dass die wissenschaftlichen Autoren anders über ihren Gegenstand sprechen als in ihren Fachzeitschriften. Im Zentrum steht der Chemiker Jacobus Henricus van ’t Hoff (1852–1911), der jenem Element seine Tochter Theoria verspricht, das am besten die ‚chemische Liebe‘ preise. Der monogame Wasserstoff beginnt:

10 Albert Soergel/Curt Hohoff, Dichtung und Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, Düsseldorf 1961, S. 35. 11 Zu Haeckels Naturästhetik vgl. Christoph Kockerbeck, Die Schönheit des Lebendigen. Ästhetische Naturwahrnehmung im 19. Jahrhundert, Wien 1997, S. 79–101. – Allgemein vgl. Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M. 1991. 12 Parodien ihrer Zunft ließen Germanisten des 19. Jahrhunderts meist handschriftlich zirkulieren und in Bierzeitungen versammeln. Eine gedruckte Sammlung des 20. Jahrhunderts: Des Germanisten Bescheidenheit. Gesungen und gesagt auf dem Greifswalder Germanisten-Abend (gest. 1924), Greifswald 1935.

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Die wahre chemische Liebe, Sie ist so köstlich schön. Sie fühlt die reinsten Triebe – Ihr Lob allzeit ertön! Die Bindung sei stets einfach, So heischts Elemententreu, Wer mehrfach sich gleich bindet, Wird fühlen bittre Reu! –––– Den höchsten Wert verleihet Monovalenz, sie nur allein; :,: Sie ist die chemische Tugend – Sie soll gepriesen sein! :,:13

Hierauf entgegnet der Tannhäuser Kohlenstoff in der Melodie ‚Auf in den Kampf – Carmen‘: „Einwertigkeit magst preisen Du – / Bleib tetravalent, / Bis an mein End. / Könnte ungesättigt nicht mehr leben; / Bleib tetravalent – / Bis an mein End!“14 Sowohl die Elemente als auch die Valenztheorie sind nicht mehr Teil des Fachdiskurses, sondern werden spielerisch mit literarischen Redeweisen verbunden. Jenseits der wissenschaftlichen Disziplin erhält dasselbe Wissen eine andere Geltung, nicht nur eine praktisch-ethische, sondern auch eine ästhetisch-spielerische. Das Vereinsfest veranlasst die Chemiker, ihren Diskurs mit den Mitteln der Poesie zu parodieren, und ihre komische Geste, die mit der Analogie zwischen chemischen, erotischen und sprachlichen Bindungen spielt, verlacht sowohl das Wissen als auch die Zunft der Chemiker. Selbstparodien und Wissenschaftsparodien durch Dritte15 stehen affirmative Bezugnahmen auf das Wissen der Wissenschaften gegenüber, um das poetische Sprechen durch diese „Ergebenheitsadressen an die Wissenschaften“16 zu legitimieren. Im 19. Jahrhundert halfen neben den bildenden Künsten und der Musik die Wissenschaften das dichterische Selbstverständnis ausformulieren; insbesondere naturalistische Autoren gaben an, sich an den modernen Naturwissenschaften zu orientieren. Bekannte Sprachrohre wissenschaftlicher Theorien sind die darwinistischen Epen und epischen Versuche von Adolf Friedrich von Schack

13 Kohlenstoff, der chemische Tannhäuser. Große, wilde, romantische Oper in 1 Vorspiel und 3 Akten. Vom Vergnügungskomité der Chemischen Gesellschaft Würzburg zur Feier des 18. Stiftungsfestes am 31. Januar 1891 im Russischen Hof, Würzburg o.J., S. 9. 14 Ebd. 15 Zur Travestie der Wissenschaften und Wissenschaftsparodie im 19. Jahrhundert vgl. Alfred Liede, Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Bd. 2, Berlin 1963, S. 356–359. 16 Scheuer, „Naturalismus und Naturwissenschaften“, S. 15.



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und Heinrich Hart.17 Anders als der parodistische macht der affirmative Bezug nicht sofort evident, dass mit einer Übertragung in die Dichtung das Wissen von seinen disziplinären Verpflichtungen entbunden ist. Insbesondere die Texte von Arno Holz stellen das Wissen in das Spannungsfeld von Disziplin und Poesie (III). Obgleich im Phantasus das naturwissenschaftliche Wissen der Zoologie in Frage steht, verläuft der Wissenstransfer nicht direkt, sondern philosophisch-hermeneutisch vermittelt, wie es auch für die naturalistische Epoche, der Holz zugerechnet wird, charakteristisch ist (II).

II Von der Naturwissenschaft zum Naturalismus Der deutsche Naturalismus gilt als eine problematische Epoche, weil der revolutionäre Anspruch, mit traditionellen Schreibverfahren zu brechen und sich wissenschaftlichen Praktiken zuzuwenden,18 um soziale Realität zu erschließen, von einer „Handvoll Werke“19 abgesehen, auf die Rhetorik der Programmschriften beschränkt blieb. Nicht wenige der sogenannten Naturalisten haben sich zudem aus der Großstadt aufs Land zurückgezogen und den selbstgewählten Epochenbegriff thematisch ausgelegt, indem sie sich mit der organischen Natur befassten, genauer mit dem, was ‚jenseits von ihr‘ liegt und sie begründet. Die meta-

17 Hans-Edwin Friedrich, „‚Aufzählen wird uns bald nach Darwins Lehre | Ein Jeder seine ganze Vorfahr-Reihe‘. Darwinismusrezeption im Epos des 19. Jahrhunderts (Adolf Friedrich von Schack, Heinrich Hart)“, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hrsg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 451–471. – Weitere Fälle bei Peter Sprengel, „Darwinismus und Literatur. Germanistische Desiderate“, in: Scientia Poetica, 1/1997, S. 140–182; ders., Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998; Werner Michler, Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859–1914, Wien/Köln/Weimar 1999. Die Bedeutung Darwins für die Transformation narrativer Strukturen untersucht Philip Ajouri, Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus. Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller, Berlin/New York 2007. – Allgemein zum Evolutionsparadigma in der Literaturgeschichte vgl. Niels Werber, „Evolution“, in: Borgards/ Neumeyer/Pethes/Wübben (Hrsg.), Literatur und Wissen, S. 208–216. 18 Vgl. Dagmar Kaiser, „Entwicklung ist das Zauberwort.“ Darwinistisches Naturverständnis im Werk Julius Harts als Baustein eines neuen Naturalismus-Paradigmas, Mainz 1995; Stefan Hajduk, „Experiment und Revolution. Zur ästhetischen Theorie des historischen Naturalismus“, in: Weimarer Beiträge 51/2005, 2, S. 236–253; Jin Ho Hong, „Naturalismus und Darstellung der ‚objektiven Wahrheit‘. Naturwissenschaftsrezeption im deutschen Naturalismus“, in: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur & Literaturen 15/2006, S. 29–54. 19 Wolfgang Riedel, „Homo Natura“. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin/New York 1996, S. 103.

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physische Ausrichtung insbesondere der Lyrik, die in eine Literaturgeschichte des ‚ozeanischen Gefühls‘ mündet,20 erklärt die oberflächliche Rezeption der empirischen Naturwissenschaften, auf die man sich desto emphatischer bezog, je weniger man ihre disziplinären Mechanismen durchschaute. Kritische Stimmen haben deshalb die angeblich große Bedeutung der Naturwissenschaften für die naturalistische Dichtung im Allgemeinen und den Phantasus im Besonderen geschmälert: „Die Alimentation des Naturalismus durch die deutschen Naturwissenschaften“, bemerkt Walter Gebhard, „war auf der Ebene der Sprachübernahme wie der methodologischen Orientierung bedeutend geringer, als Literaturgeschichten der Einfachheit halber zu lehren pflegen.“21 Ganz ähnlich sieht das Wolfgang Riedel, der feststellt, „daß Naturwissenschaft poetisch in aller Regel erst auf einer Ebene rezipiert wird, die den Übergang zu Sinnkonstruktionen erlaubt und an die mehr oder weniger ‚metaphysische‘ Ganzheitsaussagen angeschlossen werden können.“22 Fragt man nach dem diskursiven Charakter jener nicht naturwissenschaftlich-empirischen, sondern poetischhermeneutischen Ebene, ist man auf Texte verwiesen, die eine Verbindung von der Fachwissenschaft zur Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert herstellen und nicht selten über das Didaktische hinaus weltanschaulich ausgerichtet sind.23 In diesen populärwissenschaftlichen Formen beginnt der Prozess, der das Wissen aus dem Kontext der Fachwissenschaft entbindet, um es ethischen und politischen Interessen dienstbar zu machen. Doch auch die Wissenschaften hatten einen diskursiven Raum ausgebildet, in dem die metaphysische Frage, was die empirischen Erkenntnisse für das Ganze der Natur bedeuten, erörtert werden konnte. Keineswegs wurde diese Frage nur außerhalb der Fachwelt gestellt, sondern besaß als spekulatives Problem der Naturphilosophie eine wissenschaftliche Entsprechung in den hermeneutischen Geisteswissenschaften. Ein von Gebhard und Riedel bemerkter Unterschied gegenüber Frankreich, den die Autoren an der kritischen Rezeption der Werke Émile Zolas festmachen, besteht darin, „daß sich durch die naturalistische Theorie und Programmatik die Anschauungs- und Argumentationsform der deutschen Naturphilosophie durchhält“24.

20 Vgl. dazu das dritte Kapitel von ebd., S. 85–150. 21 Walter Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge“. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984, S. 492. 22 Riedel, „Homo Natura“, S. 106. 23 Im Sinne von Horst Thomé, „Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380. 24 Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge“, S. 490; vgl. auch Riedel, „Homo natura“, S. 104. – Aus



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Aus dem Bekenntnis zum Paradigma der romantischen Naturphilosophie ist nicht zwingend eine anti-wissenschaftliche Haltung abzuleiten, da jenes aus dem Wissenschaftssystem noch nicht gänzlich ausgeschieden war. Zwar war es von dem Physiologen Johannes Müller (1801–1858) und seinen Schülern Emil Du Bois-Reymond (1818–1896), Hermann von Helmholtz (1821–1894) und Rudolf Virchow (1821–1902) erheblich geschwächt worden; aber schon Ernst Haeckel (1834–1919), ein Schüler Müllers der zweiten Generation, der mit Darwins Evolutionstheorie sozialisiert worden war, verlieh diesem romantischen Paradigma im wissenschaftlichen Denken neue Aktualität, indem er „Kosmos- und Daseinsdeutung“25, also die hermeneutische Fragestellung, wieder miteinbezog. Geistesbzw. ideengeschichtlich hat Riedel auf den seit Friedrich Schleiermacher (1768– 1834) in Deutschland lebendigen Pantheismus aufmerksam gemacht, von dem sich empirische Naturwissenschaftler wie Haeckel, Hermann Lotze (1817–1881) und Gustav Theodor Fechner (1801–1887) dermaßen überzeugt zeigten, dass sie gleichsam als missionierende Naturphilosophen auftraten,26 die zumindest Holz bekehren konnten; für ihn ging Gott „in der Natur auf“ als dem Medium, durch welches die All-Einheit (Gott) „uns zum Bewußtsein kommt. Die All-Einheit erfassen, packen und in ein großes Wort drängen, ist Sache des Dichters.“27 Dabei verstand Holz alles Reale als Natur.28 Im Wissenschaftsbetrieb bedeutete das indirekte Fortwirken der Naturphilosophie eine Nähe von Naturwissenschaft und Philosophie, die auf Dauer zu Spannungen führen musste. Sie lösten sich in dem Moment, in dem das romantisch-hermeneutische Naturerkennen in die sich gerade formierende Geisteswis-

germanistischer und romanistischer Perspektive betrachtet die Wissenschaftsrezeption des Naturalismus Niklas Bender, Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin. Flaubert, Zola, Fontane, Heidelberg 2009; Tanja van Hoorn, „Biogenesis. Arno Holz’ Phantasus als poetische Transformation zeitgenössischer Entwicklungstheorien (Haeckel, Bölsche)“, in: Jean-Marie Valentin (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“, Bern 2008, S. 359–368, hier S. 360, sieht in Holz’ Biogenesis eine Analogie zu Zolas physiologischem Experimentalroman. – Zu Holz und Zola auch Scheuer, „Naturalismus und Naturwissenschaften“, S. 13, und Hajduk, „Experiment und Revolution“. 25 Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge“, S. 471. 26 Nur am Rande möchte ich bemerken, dass es ohne die Schulung in idealistischer Rhetorik wohl kaum möglich gewesen wäre, über die Natur zu philosophieren. Zu glauben, dass die Natur Ausdruck Gottes sei, reicht nicht allein. – Zu Haeckels Pantheismus vgl. Bernhard Kleeberg, Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen, Köln 2005. 27 Arno Holz an Max Trippenbach am 7.1.1886, in: Arno Holz, Briefe. Eine Auswahl, Anita Holz/ Max Wagner (Hrsg.), München 1948, S. 73–76, hier S. 74. 28 Ebd., S. 75.

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senschaft abwanderte, wobei zu berücksichtigen ist, dass die institutionelle Ordnung des Wissens im 19. Jahrhundert nicht dermaßen deutlich polarisiert war. In München z.B. war bis 1867 die Philosophische Fakultät sowohl für die geistes- als auch die naturwissenschaftlichen Fächer zuständig gewesen; und bis 1937 gab es ebenda zwei philosophische Fakultäten, von denen die 2. Sektion die naturwissenschaftlichen Fächer enthielt. Dass die positivistische Wissenschaft von der Natur und die hermeneutische des Geistes institutionell verbunden blieben, ließe sich auch an den anderen deutschen Universitäten zeigen. Vor dem disziplingeschichtlichen Hintergrund lässt sich die Bedeutung der Naturwissenschaften für den deutschen Naturalismus differenzieren. Seine mangelnde naturwissenschaftliche Strenge irritiert nur, sobald man ausblendet, dass sich Naturwissenschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts noch mit der romantischen Naturphilosophie berühren konnte. Das romantische Erbe des Naturalismus ist nicht mehr nur aus der literarischen Tradition erklärbar, sondern auch aus dem Umstand, dass die Wissenschaft von der Natur eine Zeitlang Anspruch auf dieses Erbe erhob. Umgekehrt konnte die romantische Tradition für die naturalistische Literatur virulent bleiben, weil sie in den Fächern der Natur- und Geisteswissenschaft Schutzräume gefunden hatte. Der Bezug des Naturalismus zum Wissenschaftssystem erstreckt sich nicht ausschließlich auf die empirisch-induktiven Naturwissenschaften, sondern auch auf ihre hermeneutischen Nebenformen in der Populärwissenschaft sowie auf die sich herausbildenden Geisteswissenschaften. Die skizzierten disziplinären und diskursiven Grenzen, die den Raum epistemischer und epistemologischer Aussagen organisieren, können von ein und demselben Autor überschritten werden. Kaum reflektiert ist bisher der Umstand, dass Wissenschaftler ihre Autorschaft nicht nur auf ein fachwissenschaftliches Textsubjekt, sondern auch auf ein rhetorisch-publizistisches ausdehnten. Dies betrifft Reden wie Emil Du-Bois Reymonds Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) oder allgemeinverständliche Vorlesungen wie Ernst Haeckels Welthrätsel (1899). Nicht bestritten werden soll, dass Haeckels Darwinismus, verstanden nicht als wissenschaftliches Paradigma, sondern als öffentliche Meinung, auch für seine Forschung leitend war. Aber für die öffentliche Rezeption bedeutet ein weltanschaulicher Text Haeckels etwas anderes als ein zoologischer, der sich an die wissenschaftlichen Kollegen richtet und nicht an eine außerwissenschaftliche Öffentlichkeit. Spricht Haeckel zu einem außerfachwissenschaftlichen Publikum, verleiht er dem Wissen eine rhetorische, d.h. eine ethisch überblendete Form. Haeckels ‚idealistisch gefilterter Darwin‘29 und der Sozialdarwinismus sind

29 Vgl. Karl Eibl, „Darwin, Haeckel, Nietzsche. Der idealistisch gefilterte Darwin in der deutschen Dichtung und Poetologie des 19. Jahrhunderts. Mit einer Hypothese zum biologischen Ur-



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zurückführbar auf öffentlichkeitsorientierte Redeformen, die sich disziplinären Kommunikationsregeln entziehen und sich teils aufgrund rhetorischer Strategien, teils aufgrund schöner Formen eher mit dichterischen Redeweisen berühren. Dass das Wissen von der Natur rhetorisch überblendet vorliegen konnte und durch Übernahmen von Topoi wie ‚Kampf ums Dasein‘ einen „topologischen Charakter“30 besaß, schuf die Möglichkeit für seinen Transfer in die dichterische Rede.

III Das Wissen zwischen Disziplin und Poesie Die externen Bindungen des Phantasus sind vielseitig. Die Konzeption einschließlich der evolutionären Poetik erinnert an Walt Whitmans Leaves of Grass (1855, 91892); der Titel weist in die Romantik; neben der Zoologie besteht eine Verbindung zur Psychologie, die wiederum Praktiken der Natur- und Geisteswissenschaft vereint.31 Aufgrund von Holz’ lebenslanger Überarbeitung seiner egologischen Dichtung entstand der Eindruck, dass sich der epistemologische Anspruch nicht auf die polyphone Inszenierung von Diskurselementen32 beschränkt, sondern auf die Erkenntnis der ganzen Welt in einem Ich erstreckt. Ein briefliches Bekenntnis aus dem Jahr 1900 hat dieser Sichtweise Nachdruck verliehen: „Wie ich vor meiner Geburt die ganze physische Entwicklung meiner Spezies durchgemacht habe, wenigstens in ihren Hauptstadien, so seit meiner Geburt ihre psychische.“33 Er könne „aus tausend Einzelorganismen nach und nach einen riesigen Gesamtorganismus […] bilden, der lebendig aus ein und derselben Wurzel wächst.“34 Die Forschung hat die Selbstdeutung

sprung der Kunst“, in: Helmut Henne/Christine Kaiser (Hrsg.), Fritz Mauthner – Sprache, Literatur, Kritik. Festakt und Symposion zu seinem 150. Geburtstag, Tübingen 2000, S. 87–108. 30 Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge“, S. 470. 31 Literaturgeschichtlich steht Holz in der Nachfolge des durch seinen einstigen Weggefährten Johannes Schlaf vermittelten Walt Whitman, wenn er ein Ich und seine ‚egologischen‘ Phantasmen zum Gegenstand der Darstellung erhebt. Vgl. zu Whitman in Deutschland Walter Grünzweig, Walt Whitmann [!]. Die deutschsprachige Rezeption als interkulturelles Phänomen, München 1991; zu Holz und Whitman in Anlehnung an Grünzweig vgl. Riedel, „Homo natura“, S. 132–134; zu Whitmans Leaves of Grass ebd., S. 126–150. 32 In diese Richtung geht Carola von Edlinger, Kosmogonische und mythische Weltentwürfe aus interdiskursiver Sicht. Untersuchungen zu Phantasus (Arno Holz), Das Nordlicht (Theodor Däubler) und Die Kugel (Otto zur Linde), Frankfurt a.M. 2002. 33 Arno Holz an Karl Hans Strobl am 25.6.1900, in: Holz, Briefe, S. 127. 34 Ebd.

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bestätigt.35 Holz habe im Phantasus Haeckels biogenetisches Grundgesetz angewendet, wonach die Ontogenese die Phylogenese rekapituliere. Der Phantasus wird daher als poetische Biogenesis gelesen.36 Der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Textsorte und poetischer Gattung wird nur selten bemerkt: „Nun bedient sich Holz aber der Form des Kunstwerks, nicht des wissenschaftlichen Traktats. Man muss also nicht voraussetzen, dass er an die Gültigkeit des biogenetischen Grundgesetzes wirklich ‚glaubt‘.“37 In den späteren Überarbeitungsstufen, so Mellmann weiter, werde jedoch der erkenntnistheoretische Anspruch gesteigert, so dass das spielerische Moment zurückgehe: „Der Phantasus wird zu einem tatsächlichen Konkurrenzprojekt zur zeitgenössischen Wissenschaftskultur und die Illudierung geht verloren.“38 Wodurch gelang es Holz, einen solchen Eindruck zu wecken? Es ist doch wohl jedem Leser sofort ersichtlich, dass es sich beim Phantasus nicht um einen wissenschaftlichen Beitrag handelt. Gleichwohl ist der Eindruck berechtigt, Holz habe nicht nur mit der Sprache gespielt, sondern eine Erkenntnis mitgeteilt. Paradoxerweise resultiert dieser Eindruck gerade nicht aus der Nachahmung, sondern aus der Abkehr von wissenschaftlichen Darstellungsverfahren. Der Unterschied zur Wissenschaft ist nicht nur stilistisch festzumachen; auch die Wahl einer in der Disziplin akzeptierten Textsorte hätte noch keine Einbindung in den disziplinären Redezusammenhang bewirkt, da der poetische Sprechakt zur Selbstbegründung tendiert.39 Die Poesie schafft ihre Sprechgrundlage jedes Mal von neuem, transformiert Bedeutungen, semantisiert Formen anders als zuvor. Dieser originäre Anspruch kappt die Anschlüsse an vorausgehende Rede gezielt. Wenn sich ein poetischer Text auf diese bezieht, dann im Dienste der einseitigen Traditionsbildung, aber nicht einer wechselseitigen Kommunikation. Sonderfälle wie Texte literarischer Gruppen und geselliger Spiele sind zwar Zeugnisse des kommunikativen Ausgleichs in der Poesie, aber auch sie stünden quer zu den Gepflogenheiten der Wissenschaftssprache. Das bedeutet jedoch nicht, dass der poetische Text an der Wissenschaft vorbeiginge. Im Gegenteil kann er deren Probleme aufgreifen und nach eigenen Lösungen suchen, Theoreme überprüfen, in Konkurrenz treten und vieles mehr.

35 Vgl. Gerhard Schulz, „Nachwort“, in: Holz, Phantasus, S. 129–155, hier S. 140, und Katja Mellmann, „Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren. Elemente einer verhaltensbasierten Fiktionalitätstheorie“, in: Thomas Anz/Heinrich Kaulen (Hrsg.), Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin/New York 2009, S. 56–78, zu Holz, S. 73–77. 36 Vgl. van Hoorn, „Biogenesis“. 37 Mellmann, „Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren.“, S. 75. 38 Ebd., S. 76. 39 Für Autoren der englischen Romantik vgl. Bode, Selbst-Begründungen.



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Er kann Bereiche des Wissens miteinander verbinden, die in der Wissenschaft unverbunden geblieben sind. So ähnelt der Phantasus dem Drama Ignorabimus darin, dass sich Holz auch hier auf „neutralem und von niemandem reklamierten Terrain“40 bewegt und so epistemische Grenzen überwindet – im Ignorabimus zwischen Erkenntnisskepsis und Okkultismus, im Phantasus zwischen psychologischem und zoologischem Wissen.41 Man würde jedoch die Dichtung überbewerten, spräche man ihr die Fähigkeit der Grenzüberschreitung allein zu. Die psycho-zoologische Idee findet sich auch im populärwissenschaftlichen Diskurs. Wie oben gesehen, wird der Transfer eines bestimmten Wissens erleichtert, sobald es ästhetisiert vorliegt oder rhetorisch überblendet ist. Prominente Wissenschaftler haben die Erkenntnisse ihrer Forschungen durch künstlerische und rhetorische Strategien selbst verbreitet und von anderen verbreiten lassen. Die eindrucksvollste Naturästhetik um 1900 hat Ernst Haeckel ins Werk gesetzt, dessen Kunstformen der Natur wie der zweite Teil des Phantasus ab 1899 erschienen. Der von Holz geschätzte Haeckel suchte nicht nur die Nähe zur Ästhetik. Insofern er ökologisch und monistisch dachte, entwarf er zugleich eine Ethik der Natur. Das biogenetische Grundgesetz formulierte er zuerst als Thesen 1866 in der Generellen Morphologie; er hat es in fachwissenschaftlichen Fallstudien erprobt (Studien zur Gastraea-Theorie, 1877 ), um es schließlich in der gegen Du Bois-Reymond gerichteten Schrift Die Welträthsel, die selbige qua Naturwissenschaft zu lösen beabsichtigt,42 ‚gemeinverständlich‘

40 Alexander C.T. Geppert, „Okkultismus als Anti-Ignorabimus: Zur Geschichte einer epistemischen Mesalliance, 1872–1913“, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2007, S. 253–279, hier S. 279. 41 Prominente Texte der psychologischen Ästhetik sind Hermann Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, Berlin 1869; Wilhelm Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik“, in: Fr[iedrich Theodor] Vischer (Hrsg.), Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, S. 304–482. – Der auch zu ästhetischen Themen publizierende Physiker Hermann Scheffler, der Kunstphilosoph Moriz Carrière und Carl du Prel (Psychologie der Lyrik. Beiträge zur Analyse der dichterischen Phantasie, Leipzig 1880) tauchen in Holz’ Sozialaristokraten auf. 42 Für die Wissenschaftstheoretiker des frühen 20. Jahrhunderts, namentlich für die Vertreter des Wiener Kreises, wären sowohl Du Bois-Reymonds Ignorabimus als auch die Postulierung von Welträtseln keine wissenschaftlich zu diskutierenden Probleme gewesen, weil sie als Schein­ probleme bestimmt worden wären, die sich nicht in „empirische Fragen transformieren“ ließen: „Der methodologische Szientismus des Wiener Kreises setzt in diesem Punkt die eliminativen Bestrebungen des naturalistischen Szientismus fort; seine Behauptung ist nicht nur, daß die Wissenschaft zu bestimmten Problemen nichts zu sagen hat, sondern daß diese eben deshalb auch gegenstands- und bedeutungslos, wenn nicht gar irrational sind“ (Kurt Bayertz, „‚Das Rätsel gibt es nicht.‘ Von Emil Du Bois-Reymond über Wittgenstein zum Wiener Kreis“, in: Kurt Bayertz/

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neu zu formulieren: „Die Ontogenesis ist eine schnelle und kurze Rekapitulation der Phylogenesis.“43 Unterstützung fanden seine Bestrebungen durch Wilhelm Bölsche (1861– 1939), der die monistische Lehre noch attraktiver für die Gegenwartslyrik machte. Dazu trug nicht wenig seine stilisierte „Prosa“ bei, die bisweilen in „Poesie“ umschlägt.44 In der Entwicklungsgeschichte der Natur (1894–1896) kommt es darüber hinaus zu rhetorischen Vereinseitigungen. Alle Einwände der zoologischen Disziplin gegen das biogenetische Grundgesetz werden für null und nichtig erklärt. Haeckel erscheint als Genius, der die Theorie mit Hilfe seiner Phantasie ins Werk setzt und das vorgeschichtliche Vorkambrium gleichsam hervorzaubert: Wo die Thatsachen schweigen, da beginnt die Phantasie unwillkürlich ihr reges Spiel. Die Wahrscheinlichkeit ist eine leider ziemlich große, daß niemals ein menschliches Auge Reste jener vorkambrischen Fauna und Flora gewahren wird. Unter diesen Umständen sucht der kombinierende Geist wenigstens durch kühnes Schließen ein Schattenbild des Unerreichbaren hervorzuzaubern. Und es läßt sich nicht leugnen, daß die Experimente, die hier gemacht worden sind, eine Hochentfaltung menschlicher Kombinationsfähigkeit enthalten, an der nur der verknöcherte Fanatiker des ‚Handgreiflichen‘ teilnahmlos vorübergehen kann.45

Neben konkreten Wissensfragen zu paläontologischen Blumentieren zeigt sich Holz’ Phantasus-Ich vom transdisziplinären Bezug auf die psychologische Kategorie der Phantasie und von deren Aufwertung für das Erkennen der Natur affiziert. In diesem Lichte wird Holz’ Transformation von Bölsches Schluss der Entwicklungsgeschichte der Natur sinnfällig, die zuerst Peter Sprengel gesehen hat.46 Bölsche amalgamiert erneut Phantasie und biogenetisches Gesetz, dessen methodologische Funktion für die Erschließung des unbekannten vorzeitlichen Naturraums nun klar vor Augen liegt:

Myriam Gerhard/Walter Jaeschke [Hrsg.], Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2007, S. 183–203, hier S. 203). 43 Ernst Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn 1899, S. 94. – Das Buch erschien schon 1902 in der achten Auflage und wurde dann als Volksausgabe gedruckt. 44 In diesem Sinne: Peter Sprengel, „Vom ‚Ursprung der Arten‘ zum ‚Liebesleben in der Natur‘. Metaphysischer Darwinismus in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Norbert Elsner/ Werner Frick (Hrsg.), „Scientia Poetica“. Literatur und Naturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 293– 315, hier S. 300. 45 Wilhelm Bölsche, Entwicklungsgeschichte der Natur, Bd. 2, Neudamm 1896, S. 209. 46 Sprengel, Darwin in der Poesie, S. 25.



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In den Phantasieträumen der Menschheit ist oft die Vorstellung wiedergekehrt, daß die Sterne des Firmaments Anteil hätten an unserer kleinen irdischen Lebensbahn, daß die Blumen mit ihren weichen Farben, ihrem Duft verzauberte Menschenseelen seien. In gewissem, hohem Sinne wird das zur Wahrheit auch in dem einheitlichen Weltenbilde, das die Forschung uns entrollt. In der ungeheuren Kette, die alles Gewordene zusammenhält, greift der fernste Fixstern ein in unser eigenstes Sein. In den immer erneuten Möglichkeiten der Entwickelung schlummert in jedem alles: in der blauen Lotosblüte schläft schon der Mensch.47

Die Anthropomorphisierung der Blumen und kosmischen Sterne ergibt sich aus der Geschichte der Phantasie selbst. Zwar ruft Bölsche botanische und astronomische Kategorien auf; zoologische sind aber mitgedacht. In den Kunstformen der Natur beschreibt Haeckel den Palmenstern, der auch als Seelilie bezeichnet wird, mit menschlichen Eigenschaften – ein nicht unübliches Verfahren, durch das uns das blumenartige Meerestier mit Bauch, Mund und Armen erscheint. Es ist also das ideale Wesen, die botanisch-zoologische Einheit des Kosmos zu repräsentieren, und deshalb ist es auch in der Literaturgeschichte häufiger anzutreffen. Noch Thomas Mann vergleicht Felix Krull mit einer Seelilie.48 Die Seelilie habe, so Haeckel, einen Kelch ausgebildet, „welcher unten an der Rückfläche durch einen langen, gegliederten Stiel am Meeresboden befestigt ist, während oben in der Mitte der Bauchfläche der Mund liegt.“49 Sternförmig, und damit auf astronomische Kategorien verweisend, ist die Gelenkfläche des Stiels, von dem die Arme abgehen. An Haeckels und Bölsches Texten zeigt sich, dass das wissenschaftliche Wissen, bevor es in die Poesie kam, schon vom Sprechrahmen der Disziplin entbunden war. Es wurde sowohl im Bereich der öffentlichen Meinung als auch in jenem des schönen Scheins relativ frei gestaltet. Holz macht aus diesem Wissen ein Gedicht, das den zweiten Teil des fünfzig Seiten umfassenden Phantasus-Zyklus von 1899 eröffnet, später jedoch zum Auftakt eines auf über 1500 Seiten erweiterten Großpoems wird. Haeckel und Bölsche haben sich der Seelilie mehrfach gewidmet; aber schon der Blumenname für das Sternentier erlaubt es, Holz’ berühmten ‚Schwertlilien‘-Vergleich auch mit der Seelilie zu überblenden, welche die Einheit von Botanik, Zoologie und Astro-

47 Bölsche, Entwicklungsgeschichte der Natur, Bd. 2, S. 794. 48 Zu diesem Vergleich ausführlich vgl. Malte Herwig, „‚Nur in der Jugend gestielt‘. Die langen Wurzeln des Felix Krull“, in: Thomas Mann Jahrbuch, 18/2005, S. 141–158. Holz selbst widmet sich im Phantasus an anderer Stelle ausführlich den Seelilien: Arno Holz, „Phantasus“, in: ders., Werke, Bd. 1, Wilhelm Emrich/Anita Holz (Hrsg.), Neuwied am Rhein 1961, S. 319. 49 Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, Bd. 1, Leipzig 1899, Tafel 20.

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nomie symbolisiert.50 Wenn Holz in der zweiten Strophe von einem anderen Stern spricht, dann geht er von einem ersten Stern aus, der der Sprecher selbst ist. Er ist Stern, Blume, Tier und Mensch zugleich. Im Vorabdruck der Jugendstil-Zeitschrift Ver sacrum von 1898 wird das noch besser deutlich, da dort das Gedicht von Koloman Moser (1868–1918) illustriert ist:

Abbildung 1: Ver Sacrum 1898, Bd. 1, H. 11 Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt war ich eine Schwertlilie. Unter meinen schimmernden Wurzeln drehte sich ein andrer Stern. Auf seinem dunklen Wasser schwamm meine blaue Riesenblüte.51

50 Den Vergleich mit einer Türkenbundlilie referiert Bölsche, Entwicklungsgeschichte der Natur, Bd. 2, S. 290. 51 Holz, [„Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt“ (1898)], S. 2.



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Im Phantasus wird aber nicht nur das Wissen der Wissenschaft ausgestellt, sondern auch das sprachliche Medium, das es aufbereitet. Konnte im epischen Lehrgedicht durch die Konventionalisierung der metrischen Bindung im Hexameter oder Alexandriner verhindert werden, dass das Sprachmaterial eine zu starke Eigendynamik gewinnt, wird diese in der modernen Versdichtung von Holz freigesetzt. Das Sprachmaterial ist in ständiger Bewegung, und Wilhelm Emrich zufolge ist das Werk gar vom Evolutionsgedanken beherrscht: Wenn Poesie ein zoologisch-psychologischer Zusammenhang ist, dann muss sie sich permanent verändern wie die Psyche und das pflanzlich-tierische Leben auch.52 Die Überarbeitung des Phantasus, die das Gedicht zudem an den Anfang rückt, zeigt das in der Nachlassfassung mit aller Evidenz: Selbstsicherer Auftakt In letztem, tiefem, bannendem, webendem, lastendem Nachtschlaf, durch purpurn … balliges Gedicht, aus überjenweltlichem Sphärenlicht ein erdleiblosgelöstes Glanzgesicht, raunte sich mir, kündete sich mir, gestaltete sich mir die Gewißheit: Sieben Billionen … Jahre … vor meiner Geburt war ich eine Schwertlilie. Meine suchenden Wurzeln saugten sich um einen Stern. Aus seinen sich wölbenden Wassern,

52 Wilhelm Emrich, „Zur Ausgabe“, in: Arno Holz, Werke, Bd. 7: Die Blechschmiede II, Wilhelm Emrich/Anita Holz (Hrsg.), Neuwied am Rhein 1964, S. 472, empfiehlt eine kritische Ausgabe, die nicht mehr zwischen Lesarten und Apparat trennt, um diesen Evolutionsprozess zu demonstrieren.

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blumenblätternarbig, goldpfeilfädenstäubig, traumblau, in neue, wallende, werdende, wogende, brauende, brodelnde, kreisende Weltenringe wuchs, stieg, stieß, steilte, teilte, speilte, verglühte, zerströmte, versprühte sich, geheimnisträchtigst, geheimnismächtigst, geheimnishehrst sich selbst begattend, sich selbst befruchtend, sich selbst beschattend, sich selbst zerzeugend, Flammenkugelmeteore, Kometenkaskaden, Planetenbuntkränze verschwenderisch um sich regnend, verspenderisch um sich segnend, vergeuderisch um sich schwingschleudernd, meine dunkel-metallische, halkyonisch-phallische, klingend-kristallische Riesenblüten-Szepterkrone. Noch in mein schweres Frühauferjachen, in mein Wiedermenschwerden, in mein wieder volles Erwachen sturzlachte, sturzjubelte, sturzleuchtete ihre Kraftstolzfreude, ihre Schöpfermutanfeuerung, ihre Zuversicht!53

Wenn Holz sowohl das Wissen als auch dessen sprachlichen Rahmen ausstellt, dann unterliegen beide Ebenen demselben Gestaltungswillen. Wie in guten Rahmenerzählungen kann man auch hier davon ausgehen, dass der Rahmen mit der Binnenebene verwoben ist. Das einst wissenschaftliche Wissen ist an die neue

53 Holz, Phantasus, S. 7–8.



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Sprachauffassung gebunden; Holz stellt Gegenstand und sein poetisches Darstellungsmedium zugleich aus mit dem Gewinn, Letzteres dadurch epistemologisch zu rechtfertigen. Auf diese Weise vermeidet er den Eindruck, das Ganze sei bloße Spielerei, bzw. lenkt er seinen dichterischen Spieltrieb in eine ernsthafte epistemologische Geste. Holz Phantasus gibt die konventionellen Bindungsformen Reim und Metrum zwar auf, aber das führt weder zum Prosagedicht noch zu ungebundenen und allein im Zeilenbruch erkennbaren Versen. Der Vers ist als semantische Einheit strukturiert und zudem nicht mehr linksbündig, sondern zentriert gesetzt. Die Auflösung der formalen Tradition bedeutet keinesfalls die Aufgabe sprachlicher Bindungsverfahren. In der Erstfassung des Phantasus ist noch latent, was hier unübersehbar ist: das Bemühen, lautliche und syntaktische Bindungsmittel zu intensivieren. Daraus entsteht die von Tanja van Hoorn bemerkte Verräumlichung des Wissens: „Sprachlich rückt vielmehr ein nebeneinander in den Mittelpunkt, das die chronologisch fließende Erzählung aufbricht und zu einer variantenreichen Verästelung in den Sprachraum umleitet.“54 Es wäre verkehrt, aus dem „Verzicht auf den Reim als das wesentliche Bindemittel“55, dessen sich Holz selbst noch im Buch der Zeit (1886) bedient hatte, auf eine Lockerung der lyrischen Sprache zu schließen. Vielmehr werden die Bindungen auf andere Sprachebenen verlagert. Holz scheint für sich entdeckt zu haben, dass das Wesen der lyrischen Rede in der Herstellung paralleler Strukturen besteht, die erst frei gestaltet werden können, sobald man sich von den schematischen Bindungen Metrum und Reim befreit. Das poetische Darstellungsmedium ist in sich sogar fester gebunden als in der Erstfassung. Vor allem die klanglich korrespondierenden Synonyme werfen die Frage nach der Relevanz der einzelnen Teile auf. Holz lässt die ersten beiden Strophen nahezu unberührt von der neuen Bindungsart und konzentriert sich auf die dritte Strophe: „Auf seinem dunklen Wasser / schwamm / meine blaue Riesenblüte“56. Sie ist vom Evolutionsprozess der lyrischen Rede besonders stark betroffen, semantisch angezeigt durch den Wechsel des tragenden Verbs. Aus dem passiv gebrauchten ‚schwimmen‘ wird das aktive ‚wachsen‘, genauer: „wuchs, / stieg, stieß, / steilte, teilte, speilte, / verglühte, zerströmte, versprühte“57. Diese sprachliche Hypertrophie, die auch die Adverbien und Objekte betrifft, veranschaulicht den Wachstumsprozess performativ.

54 Van Hoorn, „Biogenesis“, S. 367. 55 Schulz, „Nachwort“, S. 142. 56 Holz, [„Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt (1898)“]. 57 Holz, Phantasus, S. 8.

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Die geradezu ornamentalen Bindungen ähnlicher Laute, Wörter und Syntagmen, die in der Nachlassfassung mehrere Tausend Verse durchziehen, werfen die Frage nach ihrer Begründung auf. Was rechtfertigt diese besondere Form der internen Bindung? Worin besteht ihre externe Bindung? Die lyrische Tradition kommt nicht in Frage, denn Holz hatte in Revolution der Lyrik, erschienen 1899, diese Bindung programmatisch gekappt. Angemessener ist es sicherlich, diese neue Rückbindung der Lyrik in den tonangebenden Naturwissenschaften zu verorten. Die explizite Einbeziehung zoologischen Wissens deutet darauf hin. Allerdings werden mit dem Wissenstransfer die diskursiven Rahmenbedingungen des Wissens, die seine Glaubwürdigkeit garantieren, nicht übernommen. Im Transfer, so die Überlegung, wird der disziplinäre Rahmen zwar mitgedacht, aber nicht dargestellt, weil die neue poetische Sprechweise ihre eigenen Rahmenbedingungen erzeugt. So lebt das von der Poesie übernommene Wissen vom Kredit der Disziplin, die eben dieses Wissen verwaltet. Diese Erkenntnis kann für den Dichter zu einer Bürde werden, die als Verdacht nur abzuschütteln ist, wenn er die tatsächlichen Bedingungen seiner Autorschaft und damit den eigenen Rederahmen expliziert. An der letzten Umarbeitung des Eröffnungsgedichts vollzieht Holz denn auch eine Befreiung von der Wissenschaft. Dieser Akt der Selbstbehauptung garantiert zugleich poetische Originalität. Für einen Wissenschaftler dagegen käme die Loslösung von den diskursiven Rahmenbedingungen seiner Disziplin einem Identitätsverlust gleich. Der Fall wissenschaftlichen Fortschritts, der durch Aufgabe eines bestehenden Paradigmas eintritt, ist schwerlich als eine intendierte Einzelleistung zu verstehen, sondern als ein historischer Prozess. Es sind eher die Erkenntnisse und Entdeckungen, die revolutionär wirken als die Neubegründungsversuche innerhalb einer Fachsprache durch einen individuellen Autor. Schon allein Fachsprache und individuelle Autorschaft ist ein Widerspruch in sich. Die wissenschaftliche Rede funktioniert ohne die jedesmalige Begründung der Autorschaft. Die Disziplin garantiert, dass der Autor ein wissenschaftlicher Autor ist und entlastet ihn vom Rechtfertigungsdruck. Dem, was er sagt, kann zunächst einmal Glaubwürdigkeit zugesprochen werden als wissenschaftlicher Aussage. Bei der poetischen Autorschaft, zumal wenn sie sich von formalen und generischen Traditionen befreit, ist dies nicht selbstverständlich. Was ein Dichter bezeugt und worin sich seine Autorschaft begründet, müssen drängende Fragen für Holz gewesen sein, sonst hätte er wohl kaum das Eröffnungsgedicht mit einer Rechtfertigung der lyrischen Rede eingeleitet:



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Selbstsicherer Auftakt In letztem, tiefem, bannendem, webendem, lastendem Nachtschlaf, durch purpurn … balliges Gedicht, aus überjenweltlichem Sphärenlicht ein erdleiblosgelöstes Glanzgesicht, raunte sich mir, kündete sich mir, gestaltete sich mir die Gewißheit: […].58

Wissenschaftliches Wissen, das seinen Ursprung in der Zoologie Haeckels hat, wird zum „Auftakt“ genommen, macht den Sprecher ‚selbstsicher‘. Worauf es ankommt, ist die Art und Weise, wie die Sicherheit gewonnen wird. Der Sprecher will den Eindruck vermeiden, er habe das Wissen bloß übernommen, so, als handele es sich um sekundäres Wissen, welches eine besondere Wissenschaft zuvor mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln erarbeitet hat. Er möchte klarstellen, dass der Phantasus von disziplinärer Heteronomie befreit und direkt vom Dichter erzeugt ist. Kam in der Erstfassung das Gedicht noch einer Illustration gleich, versichert es nunmehr eine neue Art, mit lyrischer Sprache umzugehen. Im Medium des ‚Gedichts‘ habe sich dem Sprecher, der seine Träume und Phantasien bezeugen will, Gewissheit über die Wahrheit des in ihnen Gesehenen gestaltet: „raunte sich mir, kündete sich mir, gestaltete / sich mir“59. Bezeichnend ist, dass er die Gewissheit gerade nicht durch disziplinäre Praktiken des Erkennens erlangt hat, die ein aktives Beobachtersubjekt voraussetzen, sondern durch Eingebung. Eine solche Begründung widerspricht jeder wissenschaftlichen Vernunft und schließt an die epistemologische Tradition des poeta vates an. Das Wissen kommt aus einem transzendenten Raum („aus überjenweltlichem Sphärenlicht“), im Zustand des Schlafs, und artikuliert sich durchs Gedicht; es wird vom inneren Gesicht gesehen und dadurch erkannt. Ausdruck dieser Erkenntnis ist die dichterische Gestalt. Die Bindung der Phantasus-Rede an die Inspirationslehre ist ein Akt der Befreiung; schafft sie doch zugleich die Entbindung des Sprechens von der Wissenschaft als Disziplin. Holz räumt unmissverständlich den Verdacht aus, das

58 Ebd., S. 7. 59 Ebd.

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poetische Sprechen durch Teilnahme am epistemologisch gedeckten Diskurs der Disziplin beglaubigen zu wollen. Statt durch die Wissenschaft das Sprechen abzusichern, begehrt er gegen sie auf. Die Frage, ob man das verhandelte Wissen als Affirmation der jeweiligen Disziplin zu lesen hat, ist zu verneinen. Holz muss begriffen haben, dass die neuen Ausdrucksmöglichkeiten, welche die Wissenschaften der Poesie bereitstellten, auch zu neuen Abhängigkeiten führten. Nur so erklärt sich, weshalb er mitten im wissenschaftlichen Zeitalter eine epistemologische Figur ins Spiel brachte, die doch eigentlich längst hätte überholt sein sollen. Die klassische Moderne wird Holz’ Selbstbehauptung lyrischer Autorschaft bestätigen.

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Entbindung von der Disziplin 

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Benjamin Specht (Stuttgart)

„Wurzel alles Denkens und Redens“ Der wissenschaftliche Metapherndiskurs um 1900 und die Lyrik Hugo von Hofmannsthals  roblemdiagnose: Spannungen in Hofmannsthals I P Metaphernkonzept Am 24. März 1894 erscheint in der Frankfurter Zeitung eine Rezension von Alfred Bieses (1856–1930) Abhandlung Philosophie des Metaphorischen (1893), verfasst von niemand Geringerem als Hugo von Hofmannsthal (1874–1929). Den Normen der Textsorte wird diese Buchkritik jedoch nicht gerecht – und sie versucht es auch gar nicht erst. Die wenigen Passagen, in denen Hofmannsthal überhaupt auf den zu beurteilenden Text eingeht, dienen ihm lediglich als Anlass, um eigene Überlegungen anzuknüpfen zu einem wichtigen Thema, das der Literarhistoriker Biese nur sehr unbefriedigend behandelt habe: Eine unlängst erschienene ‚Philosophie des Metaphorischen‘ von Alfred Biese geht von einer sonderbaren Voraussetzung aus: es gebe in Deutschland Leute, die den metaphorischen Ausdruck für einen willkürlich gewählten Schmuck der Rede, eine geistreiche Erfindung der Schriftsteller hielten und denen man erst beweisen müsse, es sei dem nicht so, es sei ganz im Gegenteil das Metaphorische eine primäre Anschauung zu nennen, das eigentliche innerste Schema des Menschengeistes, und die Metapher eine wahre Wurzel alles Denkens und Redens.1

Bei diesem negativen Urteil unterschätzt Hofmannsthal allerdings nicht unerheblich, wie sehr der Rezensierte mit seiner Einschätzung den faktischen Diskus-

1 Hugo von Hofmannsthal, „Philosophie des Metaphorischen“, in: Gesammelte Werke. Bd. VIII: Reden und Aufsätze I, Bernd Schoeller/Rudolf Hirsch (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, S. 190–193, hier S. 190. Da die im Zusammenhang dieses Aufsatzes besonders wichtigen Schriften Hofmannsthals zum Teil noch nicht in der Kritischen Ausgabe erschienen sind, werden alle Prosatexte des Autors im Folgenden aus dieser Ausgabe zitiert, sofern sie dort ediert sind. Dafür werden im Fließtext direkt nach einer Zitation die römische Bandziffer und die Seitenzahl angegeben. Die Gedichte werden mit der Sigle KA hingegen zitiert nach: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. I: Gedichte 1, Eugene Weber (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1984. Auch hier erfolgt die Bandangabe in römischen Ziffern. Auch in den Gesammelten Werken nicht Enthaltenes wird aus den Sämtlichen Werken mit Sigle und Bandangabe belegt.

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 Benjamin Specht

sionsstand der Zeit trifft, nämlich den der konventionellen Poetik und Rhetorik.2 Die Metapher wird um 1900 tatsächlich noch oft streng im Rahmen der überkommenen rhetorischen Tropenlehre behandelt, wenn dies auch nicht mehr in den avancierteren Debatten der Zeit der Fall ist. ‚Solche Leute‘, die sie als reinen ornatus der Rede betrachten, sie auf poetischen Sprachgebrauch begrenzen und ihr keine eigenständige kognitive Kapazität zugestehen, gibt es an den Universitäten und Schulen durchaus noch zuhauf. Mit ihrer Fehleinschätzung macht Hofmannsthals Rezension somit indirekt darauf aufmerksam, dass der poetische und der akademische Metapherndiskurs um 1900 keinesfalls reibungslos ineinandergreifen,3 dass sie einander genau und kritisch beobachten und dass die künstlerische der normalwissenschaftlichen Betrachtung im Grunde voraus ist. Sachlich ist es somit kaum nachvollziehbar, dass Hofmannsthal in seiner Rezension Alfred Bieses Argumentation jegliche Berechtigung abspricht, ja dass er der durchaus hochfliegenden Studie – die auf wenigen Seiten eine Gesamtschau über die Rolle der Metapher nicht nur in der Literatur versucht, sondern auch im kindlichen Spracherwerb, der Mythogenese und der Erkenntnistheorie – ausgerechnet ‚hartnäckig-dämonischen Fleiß eines deutschen Philologen‘ (VIII, 190) zum Vorwurf macht.4 Und doch steckt hinter seiner nicht ganz treffsicheren Kritik auch ein gewichtiger genereller Einwand: Über Bieses Gegenstand könne man im Grunde überhaupt keine wissenschaftliche Abhandlung verfassen. Im

2 Dieses negative Votum des Autors hat sich dann auch in der Forschungsgeschichte weitervererbt, siehe z.B. Wolfgang Riedel, „Arara = Bororo oder die metaphorische Synthesis“, in: Manfred Engel/Rüdiger Zymner (Hrsg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, Paderborn 2004, S. 220–241, hier S. 230. 3 In der Verwendung des Diskurs-Begriffs folge ich Michael Titzmann: „Mit ‚Diskurs‘ sei hier gemeint: ein in einem sozialen Raumzeitsegment relevantes System des Denkens und Argumentierens, also der Wissensproduktion, [...] abstrahiert von einer Textmenge – definiert erstens durch einen gemeinsamen Redegegenstand, also einen im kulturellen Wissen schon konstituierten oder sich konstituierenden Objektbereich, zweitens durch Regularitäten der Rede über diesen Objektbereich, also zum einen durch explizite oder implizite ontologische und epistemologische Basisprämissen, zum zweiten durch Argumentations- und Folgerungsregeln, zum dritten durch Formulierungsregeln, d.h. Regeln der Versprachlichung von Propositionen“ (Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann, „Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation“, in: dies. [Hrsg.], Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 9–48, hier S. 19–20). 4 Hofmannsthal suchte stets die Nähe zur Philologie und grenzte sich doch auch scharf ab, nennt Philologen gar die „entsetzlichsten Menschen der Welt“ (VIII, 236). Die Disziplin selbst betrachtet er als Opponentin der Literatur, hat sich aber dennoch an einer romanistischen Habilitation versucht. Das spannungs- und aufschlussreiche Verhältnis Hofmannsthals zur Philologie seiner Zeit ist eingehend aufgearbeitet bei Christoph König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, Göttingen 2001.



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Metaphorischen geht es um nichts Geringeres als die Partizipation von Mensch und Welt, aufgrund deren wir „einen Augenblick lang den großen Weltzusammenhang ahnen, der uns die Metapher leuchtend und real hinterlässt“ (VIII, 192). Die konkrete poetische Metapher ist demnach die Objektivation der Teilhabe des Menschen am Ganzen, dem ‚Leben‘.5 Dem Anspruch, dieses Potential gedanklich einzuholen, muss eine diskursive Studie notwendigerweise unangemessen sein. Sie bleibt ein Akt thetischen Bewusstseins, welches schon durch die Art und Weise der Behandlung des Themas Differenzierungen von Subjekt- und Objektsphäre reproduziert, die auf der Ebene des Gegenstandsbereichs ‚Metapher‘ gerade unterlaufen sind. Die Integrationsleistung der Metapher kann daher nur in Poesie adäquat thematisiert werden, weil Gehalt und Ausdrucksform hier noch eng Hand in Hand gehen. Konsequenterweise schließt Hofmannsthal auch seine eigene Rezension mit der detailverliebten Imagination eines dezidiert poetischen Ambientes ab, eines Gesprächs von ‚recht modernen, jungen Menschen‘ im Wiener Volksgarten an einem Juniabend, eingebettet in eine umfassende ästhetische Szenerie voller Akazienblüten, vergoldeter Eisengitter, grotesker Steinfirste, etc. „Ja, die könnten über das Metaphorische philosophieren. Aber es wäre ein ganz unwissenschaftliches Buch“ (VIII, 193). Wissen und Poesie, Begriff und Metapher, stehen bei Hofmannsthal also, wie es scheint und wie es die Forschung oft wiederholt hat, in einem asymmetrischen und kompensatorischen Verhältnis:6 Die Poesie bietet die Lösung eines Darstel-

5 Hofmannsthals Verwendung dieses wenig scharfen, aber für die ganze Epoche kardinalen Konzepts des ‚Lebens‘ lässt sich im Groben so erläutern: ‚Leben‘ ist die vorgängige Totalität aller psychophysischen Bezüge ‚an sich‘, die aber für das Bewusstsein nicht fassbar ist, solange sie noch nicht zum Erlebnis ‚für uns‘, d.h. in für den Menschen kommensurable Form geronnen ist. Dabei denkt Hofmannsthal, wie auch die Zeitgenossen, diesen Universalzusammenhang des ‚Lebens‘ keinesfalls als transzendent, sondern als Ausdruck eines immanenten Zusammenspiels der Phänomene. Monika Fick interpretiert den Lebensdiskurs um 1900 generell daher zu Recht als metaphysisches Ersatzkonstrukt (Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 8). 6 Siehe die Betrachtung von Wolfgang Riedel, der verdienstvoll, aber selektiv die Metapher bei Hofmannsthal lediglich als Ausdrucksweise der Einheit betrachtet: „In jeder Metapher versichert sich post festum diese apriorische Totalität des Seins. Daher für Hofmannsthal die immanenten Offenbarungen der Einheit des Lebens in metaphorischen, in Übertragungs-Erlebnissen erfahren werden; daher für ihn umgekehrt Tropen und Gleichnisse, sowohl in horizontaler Richtung durch die Erscheinungen hindurch wie in vertikaler auf den Willen hin, Offenbarungscharakter haben“ (Wolfgang Riedel, „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin/New York 1996, S. 39). Und so wie Riedel und ein Großteil der Hofmannsthal-Forschung, so identifiziert auch Sabine Schneider in der Rede vom ‚Begriff‘ das kontradiktorische Gegenstück zur so verstandenen ‚Metapher‘ bzw. zum ‚Bild‘, wenngleich sie sehr zu Recht betont, dass die Rede vom ‚Bild‘ weit umfänglicher ist, weil sie auch visuelle und mentale Vorstellungen mit Gestalt-Cha-

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lungsproblems, nämlich die basale Einheit von Mensch und Welt zur Sprache zu bringen, an dem der wissenschaftliche Diskurs notwendigerweise scheitert. Dies ist jedoch mitnichten das einzige und letzte Wort, das Hofmannsthal in der Sache verliert, und es wäre eine unzulässige Reduktion seiner vielschichtigen Auseinandersetzung mit dem Thema, wenn man nicht auch die andere Seite berücksichtigte. Zum ersten verfügt der Mensch der Gegenwart nämlich gemäß Hofmannsthal immer weniger über Metaphern, die eine solche Wiederanbindung von Subjekt und Lebenswelt tatsächlich leisten. Sein Votum für die Metapher steht also allein schon unter einem kulturkritischen Vorbehalt, dass nämlich keinesfalls klar ist, ob und wie sie ihre synthetisierende Funktion überhaupt noch in der Moderne entfalten kann. Während das Weltverhältnis vormoderner Epochen sich noch durch eine gestaltende Einheit von Mensch und Lebenswelt im ‚metaphorischen‘ Selbstausdruck auszeichnete, so ist es genau das Fehlen eines solchen Nexus, das die aktuelle Zivilisationsstufe für Hofmannsthal charakterisiert. Im Vortrag Der Dichter und diese Zeit (1906) bemerkt er: Es ist das Wesen dieser Zeit, daß nichts, was wirkliche Gewalt hat über die Menschen, sich metaphorisch nach außen ausspricht, sondern alles ins Innere genommen ist, während etwa die Zeit, die wir das Mittelalter nennen und deren Trümmer und Phantome in unsere hineinragen, alles, was sie in sich trug, zu einem ungeheuren Dom von Metaphern ausgebildet aus sich ins Freie emportrieb. (VIII, 57)

Es fehlt der Moderne ein solches ‚metaphorisches‘ Ausdrucks- und Synthesemittel, das eine re-ligio, Wieder-Anbindung von Subjekt und Lebenswelt wie im Mittelalter leisten würde. In Zeiten moderner Fragmentierung bräuchte es neue Metaphern, die die disparaten Phänomene wieder zu einem organischen Ganzen verbinden würden, aber diese stehen nicht zur Verfügung. Zum zweiten sprechen neben dieser zeit- und kulturkritischen Problemlage v.a. auch prinzipielle, sprach- und erkenntnistheoretische Gründe gegen ein exklusives Verständnis der Metapher als Ausdruck der Teilhabe von Mensch und Welt. Schon in seinen frühesten Tagebuchaufzeichnungen kommt mit der Meta-

rakter umfasst (Sabine Schneider, „Das Leuchten der Bilder in der Sprache. Hofmannsthals medienbewußte Poetik der Evidenz“, in: Hofmannsthal-Jahrbuch, 11/2003, S. 209–248, hier S. 228). Der schlichten Kontradiktion von Metapher und Begriff kann man allerdings entgegenhalten, dass Hofmannsthal keinesfalls durchgehend zu einem Votum gegen den letzteren gelangt. Die Bildung von Begriffen ist für den Menschen durchaus unumgänglich und notwendig, wie schon frühe Aufzeichnungen wie die folgende deutlich machen: „2 heilige Arbeiten: das Auflösen und das Bilden von Begriffen“ (X, 373). Und schließlich behandelt Hofmannsthal Begriff und Metapher auch nicht als absolute Gegensätze, sondern als Abstufungen auf einer Skala (X, 390–391).



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pher auch eine Differenzerfahrung zum Ausdruck, die letztlich in ihrer ‚Medialität‘ gründet. Alle sprachlichen Zeichenbildungen, in der Wissenschaft genau so wie in der Dichtung, setzen einen qualitativen Sprung vom unmittelbaren Erlebnis bis zu dessen mittelbarem Ausdruck voraus7 und die Poesie stellt als sekundäres Zeichensystem sogar noch eine weitere Potenzierung dessen dar, ist also eher mehr als weniger mittelbar im Vergleich zur Normalsprache. Dadurch erhalten Sprache und Poesie per se etwas Arbiträres. Dies macht Hofmannsthal auch in dem Kurzessay Bildlicher Ausdruck (1897) deutlich, erschienen in Stefan Georges Blättern für die Kunst, der oft in Parallele zur Biese-Rezension gelesen wurde, weil er sich mit demselben Thema befasst. Nun betont Hofmannsthal allerdings gerade nicht mehr die Fähigkeit der Metapher, den Rückweg zu einer mystischen Einheitserfahrung zu bahnen, sondern vielmehr die prinzipielle Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, die den Zugang des Menschen zum ‚Leben‘ kategorisch versperrt. Stets gibt uns selbst die Poesie nur „Gleichnisse, aus vielen Gleichnissen zusammengesetzt“ (VIII, 234), niemals aber die Sache selbst. Die Metaphorizität der Rede indiziert in Bildlicher Ausdruck im Gegensatz zu Philosophie des Metaphorischen eine Separation, keine Vermittlung der Sphären: Die Unmittelbarkeit des ‚Lebens‘ lässt sich nicht in vermittelnde Form transformieren, ob künstlerisch oder normalsprachlich, und diejenigen, die nach einem ‚eigentlichen‘ Sinn von Sprache und Dichtung fahnden, sind daher „wie die Affen, die auch immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein.“ (ebd.) Diesen gespaltenen Befund möchte ich im Folgenden weiterentwickeln und fundieren, indem ich zunächst kursorisch den bekannteren und unbekannteren wissenschaftlichen Metapherndiskurs um 1900 rekapituliere, der genau auf die Ambivalenzen zuläuft, die sich in der Widersprüchlichkeit der Biese-Rezension und von Bildlicher Ausdruck auch auf der Ebene der Autorenpoetik Hofmannsthals bemerkbar machen (II.). Danach will ich zwei besonders elaborierte Vermittlungsversuche des Autors im poetologischen Werk diskutieren, nämlich das Vorwort zu Tausendundeine Nacht und das Gespräch über Gedichte, die sich beide mit der Koordinierung und Versöhnung der beiden Potentiale tropischer Rede befassen (III.). Am Ende sollen anhand dreier knapper Gedichtinterpretationen Konsequenzen dieser Überlegungen für Hofmannsthals lyrisches Schaffen erörtert werden (IV.). Dass er als Autor die Metapher nicht nur theoretisch, sondern auch in praxi thematisiert, macht Hofmannsthals Fall im Zusammenhang

7 „Von Gefühltwerden zum Bewußtwerden, vom Bewußtwerden zum Verstandenwerden und vom Verstandenwerden zum Ausgedrücktwerden, das ist die via dolorosa der Gedanken, mit Geißelung, Dornenkrönung und Schändung“ (X, 333).

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der Frage nach einem ‚Wissen der Poesie‘ besonders interessant. Der Wissenstransfer im Zeichen der Metapher vollzieht sich nicht allein nur über explizite Wissensinserate auf der Ebene der Information, sondern auch über die Faktur der Texte, wobei die Metapher Wissensobjekt und Vertextungsmodus in einem ist.8

II P  roblemkontext: Der wissenschaftliche Metapherndiskurs vor 1900 Wenn man auf die intensive Debatte über die Metapher vor 1900 zurückblickt und sie mit der gegenwärtigen Diskussion vergleicht, dann präsentiert sie sich mitnichten weniger breit und interdisziplinär. Wo heute die Metapher v.a. Linguistik, Kognitions-, Literatur- und Kulturwissenschaft zusammenbringt, wird sie im späten 19. Jahrhundert zum Scharnier, das nicht nur Humanwissenschaften untereinander verbindet, sondern auch einen Bezug zu den Naturwissenschaften herstellt. Ihre Anwendungsfelder umfassen somit nicht nur Ästhetik, Poetik, Ethnologie, Mythenforschung, Erkenntnistheorie und die entstehende Sprachwissenschaft, sondern ebenso auch Sinnesphysiologie und ‚empirische‘ Psychologie. Den Anfang dieser Synergie der an der Metapher interessierten Disziplinen, die sich im 19. Jahrhundert zunächst ohne große Berührungen nebeneinander her entwickelt hatten, macht in den 1870er Jahren der frühe Friedrich Nietzsche (1844–1900)9 und exportiert das Muster der Metapher – die Behandlung von etwas ‚bloß Ähnlichem‘ als ‚Gleiches‘, wie er in einer Nachlass-Notiz pointiert10 – in den Kontext von Wahrnehmungspsychologie, Sprachphilosophie und

8 Ein systematischer Metaphernbegriff kann nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein, sondern lediglich ein historischer. Hofmannsthal stimmt jedoch darin mit dem neueren Stand der Debatte überein, dass er den Begriff über den rhetorischen Tropus und das Sprachereignis auf der Ebene des Wortes hinaus kontextuell und textuell öffnet. Gemeint ist bei ihm – wo er den Metaphernbegriff nicht gar ausweitet auf alle künstlerischen Äußerungen des Menschen überhaupt wie in Der Dichter und diese Zeit – meist ‚Bildlichkeit‘ im Allgemeinen, nicht nur der Tropus Metapher im engeren Sinne. In einem Brief an Ernst Bernhard spricht Hofmannsthal von ‚umhüllender Metaphorik‘, „worunter ich Gestalten, Hintergründe, Rede und Gegenrede und alles verstehe“ (Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1890–1901, Berlin 1935, S. 337). Alle uneigentlichen, indirekten und fiktionalen Formen von Bedeutung in literarischen Texten, nicht allein die Tropen, werden so letztlich als ‚metaphorisch‘ charakterisiert. 9 Allerdings wurden seine Debattenbeiträge erst in den 1890er Jahren in größerem Umfang publik. 10 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 7, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), München 1999, S. 498.



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Erkenntnistheorie. Bereits in seinen Basler Rhetorikvorlesungen ist für ihn die Sprache insgesamt ‚tropisch‘ oder ‚bildlich‘ zu nennen,11 weil sie auf gestaffelten Mediensprüngen beruht, bei denen es keinen zureichenden Grund gibt, warum Zeichen und Bezeichnetes so und nicht anders zusammenhängen sollen. In dem fragmentarisch gebliebenen Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von 1873 bringt Nietzsche diese Kontingenz jedweder sprachlicher Zeichenbildung schließlich explizit auf den Begriff der ‚Metapher‘: Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. [...] Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.12

Die Nietzsche-Philologie hat nachgewiesen, dass sich der Philosoph bei diesen Überlegungen von der Linguistik der Zeit inspirieren ließ,13 die sich mittlerweile disziplinär herausgebildet hat und in der sich eine entsprechende Ausweitung und Kontextualisierung der Metapher findet, wenn auch zunächst ohne dieselbe erkenntniskritische Konsequenz. Friedrich Max Müller (1823–1900), umstrittene Zentralfigur der Sprachforschung der Zeit, notiert etwa: „Die Metapher ist einer der mächtigsten Tragepfeiler in dem Gebäude der menschlichen Sprache und wir können uns kaum denken, wie irgend eine Sprache ohne sie die einfachsten Elemente hätte überschreiten können.“14 Vor allem spiele sie bei der psychophysischen Sprachentstehung eine Rolle und sei überdies auch kardinaler Faktor des Bedeutungswandels. Nach Ansicht vieler Psychologen der Zeit kann die Metapher daher den Forscher zurückführen vom sprachlichen Ausdruck zu den psychischen Tiefenstrukturen im Individualbewusstsein, etwa bei so diskursprägenden Figuren wie

11 Friedrich Nietzsche, „Rhetorik“, in: Philologica, Unveröffentlichtes zur Litteraturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik, Bd. 2, Otto Crusius (Hrsg.), Leipzig 1912, S. 237–268, hier S. 249. 12 Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 879. 13 Siehe Anthonie Mejiers/Martin Stingelin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in ‚Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, 17/1988, S. 350–368. 14 Friedrich Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. Für das deutsche Pub­ likum bearbeitet von Carl Böttger, Bd. 2, Leipzig 1866, S. 331–332.

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Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Wilhelm Wundt (1832–1920).15 Die Metapher, besonders die poetische, ist damit Oberflächenphänomen einer submentalen Verschmelzung von Physischem und Psychischem, aus der die menschliche Wahrnehmung überhaupt sich speist. Dieser Gedanke wird auch in die Philologien der Zeit importiert. Bereits bei Wilhelm Dilthey (1833–1911) sind die Tropen die kleinsten dichterischen Einheiten, in denen sich eine erlebnishafte Verschmelzung von inneren und äußeren Zuständen niederschlägt, unter ihnen besonders die Metapher. In ihr wirke deutlich „das oberste Princip des Weltverständnisses in der psychophysischen Natur des Menschen“ nach.16 Dies vermag besonders der Künstler in seinen Metaphernbildungen transparent zu machen, was ihn zum bevorzugten psychophysisch-philologischen ‚Untersuchungsobjekt‘ macht. Und auch Ernst Elster (1860–1940), der im Jahr 1897 den Begriff ‚Literaturwissenschaft‘ eingeführt und sie als ‚psychologische Prinzipienlehre‘ konzipiert hat, interessieren die Tropen nicht mehr als Redeschmuck und ästhetisches Phänomen, sondern als Manifestationen gesetzmäßiger psychischer Prozesse im Material der Sprache. Die Metapher besteht darin, „dass der Auffassende sein Denken in die Dinge der Aussenwelt hineinprojiziert“, und dieser psychische Mechanismus ist durch sie daher noch immer mittelbar erschließbar.17 Aber nicht nur an die Wurzeln des Individualbewusstseins soll die Metapher heranführen, sondern sie stellt in Mythenforschung und Ethnologie auch menschheitsgeschichtlich das Rudiment einer primitiven Bewusstseinsform und Kulturstufe dar,18 das eine rückwärtige Rekonstruktion der Sprach- und Bewusstseinsgenese erlaube, eine „Paläontologie des menschlichen Geistes“19 oder „lin-

15 Unter Bezug auf die erwähnten Vordenker kommt dann auch Alfred Biese zu genau dieser Einschätzung (Alfred Biese, Die Philosophie des Metaphorischen in Grundlinien dargestellt, Hamburg/Leipzig 1893, S. 2–3). 16 Wilhelm Dilthey, „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik“, in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum, Leipzig 1962 [unveränderter Nachdruck der Originalausgabe 1887], S. 303–482, hier S. 463. 17 Ernst Elster, Prinzipien der Litteraturwissenschaft, Bd. 1, Halle 1897, S. 362. 18 Siehe Friedrich Max Müller, Das Denken im Lichte der Sprache. Aus dem Englischen übersetzt von Engelbert Schneider, Frankfurt a.M. 1983 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1888], S. 304–305: „Es war völlig unmöglich, die äußere Welt zu erfassen und festzuhalten, zu erkennen und zu verstehen, zu begreifen und zu benennen, ohne diese fundamentale Metapher, diese Universalmythologie, dieses Blasen unseres eigenen Geistes in das Chaos der Objecte und das Wiedererschaffen nach unserem Bilde.“ 19 Müller, Vorlesungen, S. 319.



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guistische Archäologie“.20 Der ‚Primitive‘ und der Mythengläubige unterscheiden sich vom modernen Menschen dadurch, dass sie noch kein Bewusstsein von der Uneigentlichkeit der Metaphern, besonders der Personifikationen entwickelt haben, in denen sie sich bewegen, und so leben sie im Bewusstsein einer allumfassenden Partizipation. Dieser magische Weltbezug wirkt dabei noch immer in den Metaphern der Dichter nach, wenngleich die neuere Literatur im Gegensatz zum überkommenen Mythos beim Rezipienten ein Wissen um das bloße ‚Als ob‘ der Sprachbilder voraussetzt. Ganz im Gegensatz zu diesen Deutungen als Rudiment frühgeschichtlicher Einheitserfahrung gilt die Metapher in der sprachkritischen Philosophie um 1900 jedoch auch als Muster eines problematischen solipsistischen Wirklichkeitsbezugs. Wenn sie als Inbegriff der Kontingenz von Zeichenbildungen nämlich bereits unser physisches Weltverhältnis bestimmt, wie bei Nietzsche, und wenn sie im Zentrum der Sprache steht, wenn Sprache aber das Apriori unseres Denkens darstellt, dann sind Wahrheit und Wirklichkeit durch sie generell in Frage gestellt. Dies kann man wie Fritz Mauthner (1849–1923) im Metaphernkapitel seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/02) beklagen und „ruhig daran verzweifeln“,21 oder man kann darin den Beginn eines neuen, schöpferischen Wirklichkeitsbezugs entdecken, wie Mauthners Freund und ‚Lektor‘ Gustav Landauer (1870–1919), der sich in seiner auch ‚metaphorologisch‘ einschlägigen Abhandlung Skepsis und Mystik (1903) explizit auf Hofmannsthal und dessen Rollenprosatext Ein Brief (1902) bezieht. Wenn nämlich alles, was wir wahrnehmen und denken, immer nur uneigentlich-metaphorisch bleibt, dann ist streng genommen zugleich auch nichts mehr als uneigentlich zu betrachten, weil die Unterscheidung in sich zusammen fällt. Auf dieser Basis kann die Metapher nach Landauer eine schöpferische Ermächtigung des Individuums begründen, das sich in ihr seiner weltbildkonstituierenden Fähigkeiten bewusst wird.22

20 Ludwig Noiré, Der Ursprung der Sprache, Mainz 1877, S. 268. 21 Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 641. 22 Siehe Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik, 2. Aufl., Köln 1923, S. 9: „Bisher haben wir uns begnügt, die Welt in den Menschengeist, besser gesagt: in den Hirngeist zu verwandeln; verwandeln wir jetzt uns in den Weltgeist.“

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III P  oetik: Vermittlungsversuche der Spannungen des Metaphern-Konzepts im essayistischen Werk Hofmannsthals Hofmannsthal nimmt beide Anschlusspotentiale, die der Metapherndiskurs um 1900 bietet, genau zur Kenntnis. Von seinen literarischen Anfängen bis zu seiner letzten ausführlicheren Stellungnahme zur Metapher im Vorwort zur Neuausgabe von Tausendundeine Nacht im Jahr 1906 beschäftigt er sich durchgehend mit dem Thema und sucht stets auch Bezug auf die wissenschaftliche Debatte der Zeit.23 Wilhelm Diltheys poetologisches Werk hat Hofmannsthal schon in den 1890ern sehr wahrscheinlich über seinen philologischen Lehrer Alfred von Berger (1853– 1912) kennengelernt, später macht er aber auch persönlich Bekanntschaft, und es entspinnt sich ein Briefwechsel zwischen den beiden.24 Aus den vielen Schriften des Sprachwissenschaftlers Friedrich Max Müller erwähnt Hofmannsthal explizit dessen indogermanistisches Œuvre,25 aber auch seine metapherntheoretischen Überlegungen hat er, wie ich gleich darlegen will, direkt oder indirekt zur Kenntnis genommen. Und auch mit dem Sprachkritiker Fritz Mauthner entspinnt sich ein direkter brieflicher Gedankenaustausch, nachdem dieser Ein Brief liest und darin „das erste dichterische Echo nach meiner ‚Kritik der Sprache‘“ (KA XXXI, 286) erkannt haben will. Hofmannsthal bestätigt Mauthner die Lektüre des ersten Bandes der Beiträge, teilt aber – wie die vorangegangene Analyse seiner Metaphernreflexion in den 1890er Jahren gezeigt hat durchaus zu Recht – auch mit, dass er in der Abhandlung nur eigene Gedanken bestätigt gefunden habe, die er zuvor schon selbst gedacht habe: „Meine Gedanken sind früh ähnliche Wege gegangen, vom Metaphorischen der Sprache manchmal mehr entzückt, manchmal mehr beängstigt.“ (Ebd.) Dauerhaft schlägt sich Hofmannsthal jedoch auf keine der beiden Seiten: das ‚Entzücken‘ über das Metaphorische oder die ‚Angst‘ davor, die Diagnose umfassender Partizipation oder die eines anthropozentrischen Solipsismus. Vielmehr erstrebt er einen Metapherngebrauch, der beides miteinander versöhnt. Der zwiespältige Stand der wissenschaftlichen Debatte wird dabei nicht einfach in der Poesie kompensiert, wie es die Biese-Rezension nahelegen könnte, sondern

23 Insofern ist es auch gerechtfertigt, dass der vorliegende Aufsatz sich ausschließlich mit dem frühen Hofmannsthal befasst. 24 Im Jahr 1911 verfasst Hofmannsthal für die Berliner Zeitung Der Tag auch einen eindringlichen Nachruf, in dem er unter anderem auf das ‚Metaphorische‘ bzw. ‚Gleichnishafte‘ bei Dilthey eingeht und diesem ein „tiefes Sich-Beruhigen über dem Gleichnishaften unseres Tuns“ zuspricht (VIII, 452). 25 Siehe KA XXXI, 41.



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soll in ihr integriert und ‚aufgehoben‘ werden. Dies möchte ich im Folgenden für zwei wichtige tropen-theoretische Stellungnahmen des Autors herausarbeiten, nämlich das erwähnte Vorwort Tausendundeine Nacht und das Gespräch über Gedichte. Der ersterwähnte Text erscheint 1906 im Insel Verlag anlässlich einer Neuausgabe des titelgebenden orientalischen Klassikers, mit der Anton Kippenberg (1874–1950) sich gegenüber einer konkurrierenden Edition positionieren wollte, die die Märchen-Sammlung über ihre erotischen Aspekte vermarktete. Folglich suchte Kippenberg einen Autor für ein klärendes Vorwort, das diese Motive im Textganzen kontextualisieren und relativieren sollte.26 Wie so oft erfüllt Hofmannsthal diese strategischen Erwartungen seiner Auftraggeber vollauf, nutzt die Gelegenheit und den populären Publikationsort aber zugleich auch zur Darlegung und Verbreitung eigener poetologischer Erwägungen.27 So weitet er über den von Kippenberg gewünschten moralischen Kontext hinaus seine Überlegungen aus zu einer prinzipiellen sprach- und dichtungstheoretischen Stellungnahme. Das nämlich, was dafür sorge, dass sich der moderne westeuropäische Leser der orientalischen Märchen trotz ihrer derben Passagen nicht unangenehm berührt fühle, weise nicht nur in „die innerste Natur orientalischer Poesie“ im Speziellen, sondern weit allgemeiner auch ins geheime Weben der Sprache; denn dies Geheimnisvolle, das uns beim höchsten gehäuften Lebensanschein von jeder Beklemmung, jeder Niedrigkeit entlastet, ist das tiefste Element morgenländischer Sprache und Dichtung zugleich: daß in ihr alles Trope ist, alles Ableitung aus uralten Wurzeln, alles mehrfach denkbar, alles schwebend. Die erste Wurzel ist sinnlich, primitiv, konzis, gewaltig; in leisen Überleitungen geht’s von ihr weg zu neuen verwandten, kaum mehr verwandten Bedeutungen; aber auch in der entferntesten tönt noch etwas nach vom Urklang des Wortes, schattet noch wie in einem trüben Spiegel das Bild der ersten Empfindung. (VIII, 364–365)

Die Rede von der ‚Ableitung aus uralten Wurzeln‘ ist dabei nicht etwa selbst metaphorisch, sondern durchaus begrifflich zu nehmen, wie der Forschung bisher entgangen ist.28 ‚Wurzel‘ ist in der Zeit der linguistische Terminus für die ersten, in einem gehaltvollen Sinne ‚sprachlich‘ zu nennenden Zeichenbildungen des Menschen, aus denen alle modernen Idiome hervorgehen. Schon in der Philologie des frühen 19. Jahrhunderts kennt man den Begriff, im späten 19. Jahrhundert führt man diese Gedanken jedoch überdies mit der aktuellen Psychophysik

26 Ursprünglich war dafür ausgerechnet Houston Stewart Chamberlain (1855–1924) vorgesehen, als dieser aber absagte, wandte sich Kippenberg an Hofmannsthal. 27 Auch der Chandos-Brief erscheint zuerst etwa in einer Berliner Tageszeitung. 28 In der KA wird diese Formulierung auf Goethes West-östlichen Diwan zurückgeführt.

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zusammen. Für den erwähnten Friedrich Max Müller sind die ‚Wurzeln‘ die ersten Verbindungen von Laut und Bedeutung. Sie unterscheiden sich in qualitativer Hinsicht vom bloßen Naturlaut, indem sie nicht mehr nur reflexartig subjektive Erfahrung ausartikulieren,29 sondern „eine generelle, nicht eine individuelle Idee“30 verkörpern. Sie sind damit die ‚Keimzelle‘31 der menschlichen Sprache, weil sie mit ihrer vom Einzelfall abstrahierenden Tendenz eine Vorstufe der Wörter bilden. Erst so können sie überhaupt für die Erfüllung kommunikativer Bedürfnisse dienlich sein und sich nicht in bloßen Reflexreaktionen erschöpfen. Und da das dringlichste kommunikative Bedürfnis der ersten Menschen gewesen sein muss, ihre Interaktionen zu koordinieren, bezeichneten die ‚Wurzeln‘ zunächst ausschließlich Tätigkeiten.32 Dann aber wurden sie aufgrund von Ausdrucksnot metaphorisch übertragen und auch zur Bezeichnung von Zuständen und Sachverhalten verwendet. Müller spricht in Bezug auf diesen Prozess von sogenannten ‚radikalen Metaphern‘,33 bei denen die Lautkörper der Wurzeln eine neue, sekundäre Bedeutung hinzugewinnen. Durch die Staffelung und Differenzierung dieser ersten einfachen metaphorischen Operationen in der (oft) als historisches Faktum gedachten ‚Wurzel-Periode‘34 entstehen schließlich all die Sprachen der Gegenwart mit ihren gesamten komplexen Vokabularen.

29 Siehe auch Müller, Vorlesungen, S. 174: „Wurzeln sind nicht Interjectionen oder Schallnachahmungen. Interjectionen wie pfui und Lautnachahmungen wie bau-wau sind das gerade Gegentheil von Wurzeln. Und warum? Weil die Wurzeln ihrem Laute nach bestimmt (articuliert), aber ihrer Bedeutung nach allgemein, während Interjectionen und Lautnachahmungen ihrem Laute nach allgemein, d.h. unbestimmt und schwankend, aber ihrer Bedeutung nach bestimmt und eindeutig sind.“ 30 Müller, Vorlesungen, Bd. 1, S. 319. 31 Die biologische Metapher der ‚Keimzelle‘ der Sprache ist dabei bei den Sprachforschern der Zeit weit verbreitet, siehe z.B. Müller, Das Denken, S. 167–168. 32 Für Müller ist es so, „daß jede Wurzel einen Begriff, eine allgemeine Idee, oder, correcter gesagt, das Bewußtsein wiederholter Handlungen wie scharren, graben, schlagen, binden, schneiden, essen, trinken, sehen, hören, u.s.w. ausdrückt. Sie drücken transitive und intransitive Handlungen aus und das Bewußtsein von solchen Handlungen muß, wenn es durch irgendwelche phonetische oder anderweitige Zeichen ausgedrückt wird, für die erste Stufe zur Begriffsbildung angesehen werden“ (Müller, Das Denken, S. 202). 33 Ebd., S. 303. 34 Siehe Clemens Knobloch, Geschichte der psychologischen Sprachauffassung in Deutschland von 1850–1920, Tübingen 1988, S. 101: „Einerseits verteidigte er [Max Müller, BS] die ‚psychologische Wendung‘ der Frage, wonach bestenfalls die Bedingungen zu rekonstruieren sind, unter denen Sprache entstehen kann, andererseits war er von der historischen Realität der Wurzelperiode überzeugt und so der Versuchung ausgesetzt, seine Hypothesen sprachhistorisch zu stützen.“



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Diesen linguistischen Gedankengang überführt Hofmannsthal auf zunächst recht unscheinbare Art und Weise per analogiam in einen veränderten Kontext, dient er doch nicht mehr der sprachdiachronen Modellbildung, sondern wird herangezogen zur Lösung des poetologischen und lebensphilosophischen Darstellungsproblems. Auch Hofmannsthal geht von ersten Wurzeln aus, in denen der konstitutive psychophysische Impuls, der das Zeichen hervorruft, nur wenig abgefedert wird (‚sinnlich, primitiv, konzis, gewaltig‘). Durch Übertragungen treten dann aber neue, mittelbarere Bedeutungen hinzu, die die alten überlagern, nicht aber völlig ablösen. Bilden das Ding und sein Zeichen auf der Wurzel-Ebene folglich noch eine einfache Dyade, in der die Gewalt und Unmittelbarkeit des Lebenseindrucks nur wenig abgefedert ist, so löst sich im Laufe der Sprachgeschichte „vermöge der Vieldeutigkeit des Ausdrucks“ dieses potenziell Bedrängende „in einen Zaubernebel auf, daß wir hinter dem nächsten Sinn einen anderen ahnen, von dem jener übertragen ist“. So bleiben wir jetzt im „Gefühl in der Schwebe zwischen dem, was er versinnlicht, und einem höheren dahinter, das bis zum Großartigen, zum Erhabenen uns blitzschnell hinleitet.“ (VIII, 364–365) Diese Häufung überlagernder Bedeutungen verleiht selbst der Rede von den derbsten und sinnlichsten Gegenständen eine Mehrdimensionalität, die das Impulsive der sinnlichen Eindrücke virtualisieren kann und in eine polyvalente Distanz versetzt. Und doch sind die Worte der modernen Sprachen trotz dieser wachsenden Distanz zu den unmittelbaren Impulsen des ‚Lebens‘ noch immer genealogisch mit diesem verbunden. Diesen Tropen-Charakter, der gleichzeitig Verbindung hält und Abstand ermöglicht, macht sich die orientalische Sammlung Tausendundeine Nacht so zunutze, dass aus ihm ‚Poesie‘ entsteht. Dies gelingt, indem in der jeweils moderneren Kulturstufe – pars pro toto das Basra der Rahmenerzählung um Scheherazade – noch immer eine viel ältere, lebensnähere Welterfahrung latent ist, nämlich durch die Bedeutungsgeschichte der verwendeten Sprachzeichen. Diese sind Urworte, gebildet, ein grandioses, patriarchalisches Leben, ein nomadisches Tun und Treiben, lauter sinnliche, gewaltige, von jeder Gemeinschaft freie, reine Zustände sinnlich und naiv, unbekümmert und kraftvoll […]. Von einem solchen urtümlichen Weltzustand sind wir hier weit entfernt, und Bagdad und Basra sind nicht Gezelte der Patriarchen. Aber noch ist die Entfernung keine solche, daß nicht eine unverwüstete, von Anschauung strotzende Sprache diesen modernen Zustand an jenen uralten tausendfach zu knüpfen vermöchte. (VIII, 365–366)

Wenn Poesie wie in Tausendundeine Nacht gelingt, dann also, indem der Dichter den latenten Lebensimpuls hinter den Sprachzeichen, der zu ihrer Bildung führte, als Reminiszenz an einen ursprünglich-unmittelbaren Zustand reakti-

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viert, aber so, dass er überhaupt kommensurabel ist, weil er sich mittelbar in der Mehrdeutigkeit der Tropen artikuliert. Und gerade weil die Worte, die letztlich durch ihren Ursprung alle Tropen sind, in der Dichtung so gebraucht werden, dass sie sowohl die ursprüngliche Einheit indizieren als auch Differenz zu ihr schaffen, hält der Mensch durch poetische Metaphern einerseits Verbindung zum Leben, verfügt andererseits aber auch überhaupt erst über eine Möglichkeit, die unmittelbare Lebenseinheit darstellbar zu machen und zu Bewusstsein zu bringen. Allerdings ist damit im Grunde nur behauptet, dass die dichterische Metaphorik auf dem historischen Stand von Tausendundeine Nacht einmal zu solchen Brückenschlägen in der Lage war, nicht aber, dass sie dazu generell und auch heute noch fähig ist, wo die Sprache sich noch viel weiter von ihren Ursprüngen entfernt hat. Dass nämlich die Möglichkeit einer ‚metaphorischen‘ Anbindung von Mensch und Welt im Prozess der Modernisierung immer mehr in Frage gestellt wird, macht ja die eingangs erwähnte Rede Der Dichter und diese Zeit deutlich. Wie kann die Dichtung aber auch in der Gegenwart zum Medium der Lebenseinheit werden? Wie kann sie diese indizieren und gleichzeitig die Differenz anerkennen, ohne die sie gar nicht Gegenstand des Bewusstseins werden könnte? Diese vom konkreten historischen Fall gelöste Diskussion trägt Hofmannsthal in seinem fiktiven Dialog Das Gespräch über Gedichte aus.35 Zwar spricht er hier vom ‚Symbol‘, nicht von der ‚Metapher‘, damit ist jedoch das identische Prob­lem indiziert.36 Ja, es werden im Gespräch explizit zwei verschiedene Sym35 Nur wenige Monate nach dem Chandos-Brief arbeitet Hofmannsthal an diesem Schlüsseltext, der ebenfalls ein poetisches Präsentationsformat für die poetologische Diskussion wählt und der zwar nicht weniger einschlägig ist für sein Dichtungsverständnis, aber weit geringere Resonanz gefunden hat. Auch wenn das Gespräch sehr oft am Rande thematisiert wird, existieren kaum Einzelstudien, v.a. auch neueren Datums. Eine seltene Ausnahme bildet Hans-Jürgen Schings, „Lyrik des Hauchs. Zu Hofmannsthals ‚Gespräch über Gedichte‘“, in: HofmannsthalJahrbuch, 11/2003, S. 311–339. 36 Gegen Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) meint etwa Biese, der Begriff, „der das Band bildet, zwischen Denken und Dichten, zwischen Wirklichkeit und Phantasie in Sprache und Mythos, Religion und Kunst und Philosophie,“ sei nicht das Symbol, sondern „das als notwendige Folge unseres psycho-physischen Wesens sich ergebende Metaphorische“ (Biese, Philosophie des Metaphorischen, S. 15–16). Insgesamt werden die Begriffe ‚Symbol‘ und ‚Metapher‘ um 1900 oft nebeneinander verwendet, dann aber wiederum auch idiosynkratisch voneinander abgegrenzt und zuweilen regelrecht gegeneinander ausgespielt, was indirekt aber ebenfalls die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der Begriffsverwendung verdeutlicht. Tendenziell überwiegt die Verwendung des Symbol-Begriffs in der traditionellen Ästhetik und Poetik, denn er weist die höhere ‚philosophische Dignität‘ auf. Dafür ist die Rede von der ‚Metapher‘ um 1900 stärker von psychophysiologischen Assoziationen begleitet als dies mit dem Symbol-Begriff der Fall ist, in



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bolkonzepte gegenübergestellt:37 das traditionell ‚goethezeitliche‘ bei Clemens (bzw. das, was man um 1900 unter dem goethezeitlichen Symbolgebrauch verstand) und ein umfänglicherer, anthropologisch-lebensphilosophischer Begriff bei Gabriel. Diese zweite Vorstellung vom ‚Symbol‘ deckt sich konzeptuell weitestgehend mit dem, was ansonsten im Werk des Autors Hofmannsthal (der ohnehin beide Begriffe oft nonchalant nebeneinander verwendet)38 und in der Epoche insgesamt auch als das ‚Metaphorische‘ des menschlichen Weltbezugs bezeichnet wird. Diese zweite Symbol-Konzeption möchte Gabriel seinem Gesprächspartner Clemens im Verlauf des gesamten Dialogs verdeutlichen, wenngleich mit mäßigem Erfolg. Gemessen am insgesamt einvernehmlichen Duktus des Gesprächs reagiert er daher recht brüsk auf Clemens’ Behauptung, die Poesie setze „eine Sache für die andere“. Welch ein häßlicher Gedanke! Sagst du das im Ernst? Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe Alltagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft. (VII, 498–499)

Bei der Deutung dieser vielzitierten Passage darf nicht übersehen werden, dass Gabriel der Dichtung hier keinesfalls tatsächlich die Fähigkeit zuschreibt, ‚die Sache selbst zu setzen‘, also letztlich magisches Sprechen zu sein, wie man Hofmannsthal oft missverstanden hat.39 Poesie ist lediglich ‚bestrebt‘, eine solche ‚Zauberkraft‘ zu erreichen. Sie ist eine besonders reflektierte Art der Rede, die im Gegensatz zu Wissenschafts- und Alltagssprache davon weiß, dass sie nicht bis zu den ‚Sachen‘ gelangt, aber sich dennoch diesem kontrafaktischen Anspruch zu stellen sucht und sich an einer solchen Leitidee der Poesie orientiert.

dem stärker die Philosophie der Goethezeit nachhallt und der daher auch (noch) nicht für eine ähnliche interdisziplinäre Konjunktur offen ist. 37 Siehe zu den diversen Symbolbegriffen um 1900 Rüdiger Zymner, „Symbol, Allegorie, Mythos“, in: Sabine Haupt/Stefan Bodo Würffel (Hrsg.), Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008, S. 279–297, hier S. 279. 38 Siehe hierzu Nicola Gess, „‚So ist damit der Blitz zur Schlange geworden‘. Anthropologie und Metapherntheorie um 1900“, in: DVjs, 83/2009, 4, S. 643–666, hier S. 661. 39 Ein solch ‚sprachmagisches‘ Hofmannsthal-Verständnis findet sich in der älteren Forschung allenthalben, ja war lange Zeit diskursbestimmend. Aber auch in der neueren Diskussion wird die These noch oft bemüht. Demgegenüber möchte ich hier für das Bild eines modernen, aufgeklärten und hochreflektierten, keinesfalls magisch-irrationalen Autors plädieren, der sich um steten Bezug zum wissenschaftlichen Wissen bemüht.

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Gabriels Konsequenz aus diesem Widerstreit von Anspruch und Möglichkeit der poetischen Darstellung ist es allerdings nicht, sich resignativ damit abzufinden, dass für den Menschen ein ‚Eigentliches‘ nicht zu haben ist, wie etwa bei Mauthner. Nicht die Funktion der Referenz von Sprache auf das ‚Leben‘ in der Poesie überhaupt wird von Gabriel aufgegeben, nur der Versuch, diese positiv und konzise bestimmen zu wollen. Dies wird in der Diskussion über Friedrich Hebbels (1813–1863) Gedicht Zwei Schwäne deutlich: Clemens: Und diese Schwäne? Sie sind ein Symbol? Sie bedeuten – Gabriel: Laß mich dich unterbrechen. Ja, sie bedeuten, aber sprich es nicht aus, was sie bedeuten: was immer du sagen wolltest, es wäre unrichtig. Sie bedeuten hier nichts als sich selber: Schwäne. Schwäne, aber freilich gesehen mit den Augen der Poesie, die jedes Ding zum erstenmal sieht, die jedes Ding mit allen Wundern seines Daseins umgibt. (VII, 501)

Mit seinem Einspruch gegen Clemens’ Versuch einer Paraphrase will Gabriel verdeutlichen, dass die dichterischen Symbole wie die Schwäne tatsächlich Zeichen eines ursprünglichen Lebensimpulses sind, aber dass dessen Unverfügbarkeit und unerschöpfliche Fülle zu respektieren ist. Eine Erläuterung des Gemeinten würde nur die Kluft zwischen Bild und Bedeutung sichtbar werden lassen und weiter befestigen. Indem aber in ihr unexplizit bleibt, was das Zeichen ‚eigentlich‘ bezeichnet, vermeidet die Poesie die Entstellungen, die dem ‚Leben‘ ansonsten in Alltagssprache und Wissenschaft entstünden. Gerade indem sie gar nicht erst den Anspruch auf direkte Bezeichnung erhebt, kann sie am Ende doch zum Ort werden, an dem die Erlebniseinheit immerhin indirekt erfahrbar wird, weil für sie Raum eröffnet und keine konzise, damit auch limitierende und irreführende, Bezeichnung vollzogen wird. So versöhnt dieses Symbol-Konzept auch die divergierenden Potentiale von Einheit und Differenz, indem es den Widerspruch voraussetzt und inkorporiert. Pointiert gesagt: Das dichterische Symbol ist Spur der Einheit von Ich und Welt unter den Bedingungen ihrer Differenz. Es steht unter dem Vorbehalt des Verzichts auf direkte Benennung, und doch bietet es gerade dadurch eine Reminiszenz an die Lebenseinheit, die in der Poesie so immer noch zumindest dunkel und mittelbar erfahren werden kann.40

40 Dies gilt auch für die anschließende Passage des Gesprächs, die die Forschung stark beschäftigt, nämlich zur Parallelisierung des religiösen Opfers und des dichterischen Symbols. Auch damit unterstreicht Gabriel schließlich, dass in beiden Fällen stets eine Einheit und Durchlässigkeit zwischen dem unmittelbaren Erleben und seinen mittelbaren Zeichen vorausgesetzt ist und dass die Latenz dieser Einheit ex post immer noch an der religiösen bzw. künstlerischen Handlung ablesbar wird. Das Symbol bezieht seine Legitimität und Geltung aus der Reminiszenz der basalen Identitätserfahrung. So auch im Falle des Tieropfers: „Das Tier starb hinfort den symbolischen Opfertod. Aber alles ruhte darauf, daß auch er in dem Tier gestorben war, einen



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IV Lyrik: Die poetische Metapher als Ausdruck der Einheit und Differenz Interessant ist Hofmannsthals Auseinandersetzung mit dem Janusgesicht der Metapher aber natürlich nicht nur dadurch, dass er sie immer wieder poetologisch reflektiert. Als Lyriker behandelt er das Problem auch in seinen literarischen Texten. Und auch in den konkreten Metaphernverwendungen seiner Gedichte werden manchmal die diametralen Potentiale des Tropus und die Widersprüche der wissenschaftlichen Betrachtung ausgespielt, manchmal wird aber auch nach Strategien gesucht, die Einheit und Differenz miteinander versöhnen könnten. Was das lyrische Œuvre Hofmannsthals bei aller Vielfalt der Formen und Themen in allen Werkphasen eint, ist dieses Problem:41 Wie ist eine Teilhabe des modernen Menschen am ‚Leben‘ möglich? Und (wie) kann die Dichtung einen substanziellen Beitrag dazu leisten, wo die ‚Uneigentlichkeit‘ der Sprache sich hier an sich doch besonders ausgeprägt darstellt? Im letzten Teil dieses Aufsatzes sollen literarische Antwortversuche Hofmannsthals auf diese Fragen in drei Gedichten im Mittelpunkt stehen, die zwar nicht zu dem kleinen ‚harten‘ Kern der Texte gehören, die Hofmannsthals Platz in der Geschichte der Lyrik begründet haben, aber die diskursiv und/oder ‚performativ‘ einen besonderen ‚metaphorologischen‘ Ertrag aufweisen. In dem frühen Gedicht Wolken von 1892 wird die Metapher zunächst als Einheitsprinzip aktualisiert, ganz im Sinne der Biese-Rezension: Am nächtigen Himmel Ein Drängen und Dehnen: Wolkengewimmel In hastigem Sehnen. In lautloser Hast

Augenblick lang. Daß sich sein Dasein für die Dauer eines Atemzugs, in dem fremden Dasein aufgelöst hatte“ (VII, 503). So auch Ritchie Robertson, „The Theme of Sacrifice in Hofmannsthal’s Das Gespräch über Gedichte and Andreas“, in: Modern Austrian Literature, 23/1990, S. 19–33, hier S. 21: „The symbol makes a version of this experience available to modern man. In apprehending a symbol one apprehends the essence of an object. The object itself, the emotion, and the language that links them are all fused. What makes this experience possible is, ‚daß wir und die Welt nichts Verschiedenes sind‘. By briefly removing the illusion of one’s separate identity the symbol permits one to apprehend the underlying unity of the world.“ 41 So meint schon Eckhart Krämer, „daß die Metaphorik das zentrale Problem seines dichterischen Bemühens, vor allem seines lyrischen Schaffens, darstellt“ (Eckhart Krämer, Die Metaphorik in Hugo von Hofmannsthals Lyrik und ihr Verhältnis zum modernen Gedicht, Marburg 1963, S. 3).

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– Von welchem Zug Gebietend erfaßt? – Gleitet ihr Flug … Es schwankt gigantisch Im Mondesglanz Auf meiner Seele Ihr Schattentanz, Wogende Bilder: Kaum noch begonnen Wachsen sie wilder, Sind sie zerronnen. Ein loses Schweifen .. Ein Halb-versteh’n .. Ein flüchtig-Ergreifen … Ein Weiterweh’n … Ein lautloses Gleiten, Ledig der Schwere, Durch aller Weiten Blauende Leere. (KA I, 23)

In der ersten Volksliedstrophe erblickt ein lyrisches Ich den Zug der Wolken, anthropomorphisiert diese Beobachtung jedoch schon im Moment des Betrachtens, indem es ihren mächtigen Bewegungen ein ‚Drängen‘ und ‚hastiges Sehnen‘ attestiert. Im Anschluss an diesen Eindruck einer nicht nur physikalischen, sondern auch ‚vitalen‘ Bewegtheit der Wolken stellt sich in der zweiten Strophe für das Ich die Frage nach dem Movens dieser Dynamik, nach der Ursache und Beschaffenheit des ‚gebietenden Zuges‘, der sie hervorbringt. Damit erfragt es mittelbar auch die ‚reale‘ Basis der anthropomorphen Zuschreibungen, wie die ersten Verse sie von vornherein schon vorgenommen haben. Wie kommt es, dass die Wolken den Eindruck nicht nur einer kinetischen, sondern ‚psychischen‘ Dynamik erwecken, so dass das Ich nach ihrem inneren Antrieb fragen kann und muss? Das Gedicht gibt zwar nicht diskursiv eine Antwort auf diese Frage, aber es lässt doch im Vollzug eine ‚Erklärung‘ sinnfällig werden, indem es die enge ‚metaphorische‘ Verbindung von Innen und Außen in den konkreten poetischen Verfahren der Metaphernbildung plastisch macht. Um die metaphorische Integrationsleistung von Mensch und Welt inhaltlich und formal zu demonstrieren, wendet sich der Blick des Sprechers in der dritten Strophe von der äußeren Natur in das Selbst, und nun werden in der vierten – ganz komplementär zum Eingang des Gedichts – seelische Empfindungen ihrerseits ‚naturalisiert‘ nach Maßgabe der Wolkenbewe-



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gungen, nämlich als ‚wogende Bilder‘, ‚loses Schweifen‘ und ‚Weiterwehn‘.42 Nicht mehr von Wolkenbewegungen selbst ist hier die Rede, sondern von den psychischen Prozessen, die sie im Gemüt des Betrachters hinterlassen, von ‚Bildern der Seele‘ und ‚Schattentänzen‘, die aber in ihrer Flüchtigkeit und Schwerelosigkeit ganz analog erscheinen.43 Diese metaphorische Überblendung der äußeren und der inneren Sensationen geht schließlich so weit, dass in den letzten beiden Strophen gar nicht mehr klar ist, worüber überhaupt gesprochen wird, über die Dynamik der Seele oder die des Himmels. Durch eine solche Vertauschung von Bildspender und -empfänger im Verlauf der literarischen Argumentation des Textes, ja schließlich ihre Ununterscheidbarkeit, entsprechen sich Faktur und Information des Gedichts aufs Genaueste, denn es wird nicht nur ‚metaphorische‘ Partizipation von Innen und Außen, Mensch und Welt thematisiert, sondern sie wird auch vor- und durchgeführt. Wolken und psychische Bilder können sich wechselseitig repräsentieren und erscheinen daher als die zwei verschiedenen komplementären Seiten desselben Erlebnisses. Der spezielle Einsatz der dichterischen Metapher beglaubigt hier vollzugshaft, dass die Sphären von Subjekt und Objekt aufeinander hin ‚metaphorisch‘ durchlässig sind. Ganz anders in dem ein Jahr später entstandenen Gedicht Psyche.44 Hier gelingt keine solche Anbindung von Mensch und Lebenswelt, auch und gerade nicht im Zeichen der Metapher, und damit macht sich der Text eine implizite Poetik wie in Bildlicher Ausdruck zu eigen.

42 Keinesfalls wird dies jedoch als klarer Schnitt inszeniert, sondern als weicher Übergang ohne eine deutliche Zäsur. Schon die Syntax macht diese allmähliche Transformation deutlich. In diesem Gedicht, in dem ansonsten Strophen- und Satzgrenzen stets akkordieren, kommt es genau in der Mitte zu einer langen Hypotaxe und zu dem einzigen zwischenstrophischen Enjambement, so dass die dritte und vierte Strophe, in denen sich auch der Übergang der semantischen Akzente vollzieht, allein sprachlich enger als die anderen miteinander liiert werden. 43 Daher wird man Krämer widersprechen dürfen, wenn er über Wolken bemerkt: „Dieses Gedicht, formal einfach, inhaltlich belanglos, ist ein charakteristisches Beispiel für die impressionistische Stilhaltung dieser ersten Gedichte. Es handelt sich um eine Naturimpression, deren Gegenstand (die Wolken) schon motivisch der Neigung des Impressionisten nach Auflösung der Konturen und nach dem endlosen, momentgebundenen Wechsel entgegenkommt“ (Krämer, Metaphorik, S. 23). Dass es hier nicht nur einfach um Wolken, sondern ebenso um ihre psychischen Abbilder geht, erkennt er nicht. 44 Ohne die letzte Strophe erschien das Gedicht erstmals in den Blättern für die Kunst. Die letzte Strophe ist im Rahmen seines Essays Der neue Roman von D’Annunzio (1895) separat erschienen. Nach eigenem Bekunden setzte Hofmannsthal sie aber handschriftlich unter das Gedicht. Zu seinen Lebzeiten sind niemals beide Teile miteinander im Druck erschienen, und die Handschrift, die Hofmannsthal erwähnt, liegt der Forschung nicht vor.

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.. und Psyche, meine Seele, sah mich an Von unterdrücktem Weinen blass und bebend Und sagte leise: „Herr, ich möchte sterben, Ich bin zum Sterben müde und mich friert.“ „O Psyche, Psyche, meine kleine Seele, Sei still, ich will Dir einen Trank bereiten Der warmes Leben strömt durch alle Glieder. Mit gutem, warmem Wein will ich Dich tränken, Mit glühendem, sprühendem Saft des lebendigen, Funkelnden, dunkelnden, rauschend unbändigen, Quellenden, schwellenden, lachenden Lebens, Mit Farben und Garben des trunkenen Bebens: Mit sehnender Seele von weinenden Liedern Mit Ballspiel und Grazie von tanzenden Gliedern, Mit jauchzender Schönheit von sonnigem Wehen Hellrollender Stürme auf schwarzgrünen Seen, Mit Gärten, wo Rosen und Efeu verwildern, Mit blassen Frauen und leuchtenden Bildern, Mit fremden Ländern, mit violetten, Gelbleuchtenden Wolken und Rosenbetten, Mit heissen Rubinen, grüngoldenen Ringen Und allen prunkenden, duftenden Dingen.“ Und Psyche, meine Seele, sah mich an Und sagte traurig: „Alle diese Dinge Sind schal und trüb und todt. Das Leben hat Nicht Glanz und Duft. Ich bin es müde, Herr.“ Ich sagte: „Noch weiss ich wohl eine Welt, Wenn Dir die lebendige nicht gefällt.“ Mit wunderbar nie vernommenen Worten Reiss ich Dir auf der Träume Pforten: Mit goldenglühenden, süssen, lauen Wie duftendes Tanzen von lachenden Frauen; Mit monddurchsickerten nächtig webenden, Wie fiebernde Blumenkelche bebenden; Mit grünen, rieselnden, kühlen, feuchten Wie rieselndes, grünes Meeresleuchten, Mit trunken-tanzenden, dunkeln, schwülen Wie dunkelglühender Geigen Wühlen; Mit wilden, wehenden, irren und wirren Wie grosser, nächtiger Vögel Schwirren; Mit schnellen und gellenden, heissen und grellen Wie metallener Flüsse grellblinkende Wellen .. Mit vielerlei solchen verzauberten Worten Werf ich Dir auf der Träume Pforten: Den goldenen Garten mit duftenden Auen,



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Im Abendroth schwimmend, mit lachenden Frauen; Das rauschende, violette Dunkel Mit weissleuchtenden Bäumen und Sterngefunkel; Den flüsternden, braunen, vergessenen Teich Mit kreisenden Schwänen und Nebel bleich; Die Gondeln im Dunkeln mit seltsamen Lichtern, Schwülduftenden Blumen und blassen Gesichtern; Die Heimath der Winde, die nachts wild wehen, Mit riesigen Schatten auf traurigen Seen; Und das Land von Metall, das in schweigender Gluth Unter eisernem, grauem Himmel ruht. – Da sah mich Psyche meine Seele an Mit bösem Blick und hartem Mund und sprach: „Dann muss ich sterben, wenn Du so nichts weisst Von allen Dingen, die das Leben will.“ (KA I, 32–33)

Der Text besteht aus dem Dialog des Ich mit seiner ‚Seele‘, die durch den antiken Namen ‚Psyche‘ personifiziert wird. Dadurch, dass sie den Sprecher als ‚Herrn‘ adressiert und sich zur Anwältin des Lebens macht, wird man aber annehmen müssen, dass sie nicht Allegorie der psychischen Vorgänge insgesamt sein soll, sondern nur der nicht-bewussten Anteile, während das Ich sich dadurch hervortut, dass es sie mit gekünstelter lebensferner Rhetorik überzeugen will, und somit für die bewussten Anteile der Person stehen mag. Psyches Redebeiträge in den Strophen 1, 3 und 5, in denen Sie ihre Todessehnsucht artikuliert, sind denn auch betont schmucklos in Blankversen gehalten und kommen ohne auffallende Metaphern aus.45 Die beiden Gesprächsbeiträge des Ich dagegen bieten eine Kaskade an Bildern und Klangfiguren, wobei ein Missverhältnis von Äußerung und Geäußertem entsteht. Mittels eines einzigen, 15 Zeilen umfassenden Satzes versucht das Ich eigentlich nur, der todessehnsüchtigen Psyche den ‚Trank‘ möglichst detailliert und attraktiv zu schildern, den er ihr bereiten will, um ihr die Schönheiten eines sinnlichen ausschweifenden Lebens zu zeigen. Genau wie später auch in der zweiten Suada des Sprechers, wo von den schönen ‚Worten‘ der Kunst die Rede ist, diskreditiert das Ich seine Botschaft allein schon durch diese Disproportionalität. Diese macht sich im Falle der Metaphern aber nicht nur bemerkbar durch ihre übermäßige Häufung, sondern auch ihre überkomplexe Komposition. Die

45 Das gilt auch noch für die erste Gegenrede des Ich zu Beginn, dann jedoch schwenkt es in einen ganz neuen Tonfall ein; nämlich in eine vierhebige, meist daktylische Metrik und in paargereimte Verse, und dieses prätentiösere Format wird nun mit einigen kleinen Unregelmäßigkeiten bis zum Ende beibehalten.

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Sprachbilder, die das Ich bemüht, sind stets mehrfach verschachtelt, so dass sich die Uneigentlichkeit des Ausdrucks durch sie potenziert und die Sprache des Ich sich vom ‚Eigentlichen‘ mehr entfernt, als dass es sich ihm nähert. Oft erstrecken sich die metaphorischen Ausdrücke über mehrere Verse und bestehen aus mit Partizipien gespickten, durch Dative und Genitive gebildeten unübersichtlichen Hypotaxen, bei denen die einzelnen in der übergreifenden Metapher verbundenen Glieder ihrerseits schon aus Metaphern gebildet sind. Bei der Konstruktion dieser komplexen Syntagmen spielen, wie z.B. die stakkatohaften Schlagreime verdeutlichen, sehr viel stärker klangliche, nicht semantische Kriterien die dominante Rolle. Und all diese schon in der ersten Rede feststellbaren Manierismen werden in der zweiten, exakt doppelt so langen Ausführung des Ich sogar nochmals überboten. Statt der Welt der Sinnlichkeit beschwört das Ich nun die der Kunst und treibt dabei auch seine Rhetorik noch einmal mehr ins Artifizielle. Zu den Metaphernclustern der ersten Rede treten nun noch mehrere Vergleiche hinzu: ‚goldenglühend wie duftendes Tanzen‘, ‚monddurchsickert wie fiebernde Blumenkelche‘ oder ‚trunkentanzend wie dunkelglühender Geigen Wühlen‘. Trotzdem, oder vielmehr wegen dieser Forciertheit der Bildspender bildet sich auf Seiten der Bildempfänger kein plastisches Szenario heraus46 und es bleibt bei flüchtigen, einzelnen Stimmungsbildern. Diese entgleiten dem Ich zudem gegen Ende zunehmend und geraten entgegen seiner persuasiven Absicht ins Bedrohliche, indem nämlich anorganische metaphorische Quellbereiche zunehmen, die Intensität der evozierten sinnlichen Reize ins Lebensfeindliche gesteigert wird (‚heiß, grell, glühend, wild‘) und sich traditionelle Topoi des Todes häufen (‚große nächtige Vögel‘, Gondeln, Nebel, ‚blasse Gesichter‘). Wieder erfüllt die Rede auf diese Weise nicht das Ziel, Psyches Wunsch zu sterben abzuwenden, und wieder lässt der allzu angestrengte Einsatz von Metaphern nur den Kontrast zu Psyches schmucklos-schroffer Zurückweisung hervortreten. Wie schon in Wolken entsprechen sich so Aussage und metaphorische Faktur des Gedichts aufs Genaueste, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Die metaphorische Hypertrophie des Ich trifft hart auf die Zurückhaltung Psyches, und gleichzeitig wird auch inhaltlich die Differenz von Bewusstsein und Leben

46 Tobias Heinz weist ein ganzes Netz von Bezügen durch Wortwiederholungen und durch Flexion variierten Bildspendern nach: Garten/Gärten; Land/Länder; Trank, tränken, Trunk, trunken, etc. „Hofmannsthal legt über die Wortkaskaden der Aufzählungen ein Netz aus ineinander gewobenen Wortfamilien und Wortfeldern, die sich jedoch nicht in der konventionellen Manier zu Symbolen verdichten. Stattdessen bleibt in Psyche der Bedeutungsgehalt der Wörter vage, gleichsam ohne Konsistenz“. (Tobias Heinz, Hofmannsthals Sprachgeschichte. Linguistisch-literarische Studien zur lyrischen Stimme, Tübingen 2009, S. 166)



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akzentuiert: „Dann muss ich sterben, wenn Du so nichts weisst / Von allen Dingen, die das Leben will.“ Wie im poetologischen, so gibt sich Hofmannsthal aber auch im poetischen Werk nicht zufrieden mit der bloßen Alternative von Identitätsbehauptung und Differenzmarkierung. Oft sucht er nach einem dichterischen Umgang, der beides miteinander versöhnen könnte. Zu welchen metaphorischen Techniken er bei dieser Suche gelangt, soll abschließend an dem Gedicht Erlebnis von 1892 demonstriert werden. Mit silbergrauem Dufte war das Tal Der Dämmerung erfüllt, wie wenn der Mond Durch Wolken sickert. Doch es war nicht Nacht. Mit silbergrauem Duft des dunklen Tales Verschwammen meine dämmernden Gedanken Und still versank ich in dem webenden Durchsicht’gen Meere und verließ das Leben. Wie wunderbare Blumen waren da Mit Kelchen dunkelglühend! Pflanzendickicht, Durch das ein gelbrot Licht wie von Topasen In warmen Strömen drang und glomm. Das Ganze War angefüllt mit einem tiefen Schwellen Schwermütiger Musik. Und dieses wußt ich, Obgleich ich’s nicht begreife, doch ich wußt es: Das ist der Tod. Der ist Musik geworden, Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend, Verwandt der tiefsten Schwermut. Aber seltsam! Ein namenloses Heimweh weinte lautlos In meiner Seele nach dem Leben, weinte Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff Mit gelben Riesensegeln gegen Abend Auf dunkelblauem Wasser an der Stadt, Der Vaterstadt, vorüberfährt. Da sieht er Die Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht Den Duft der Fliederbüsche, sieht sich selber, Ein Kind, am Ufer stehn, mit Kindesaugen, Die ängstlich sind und weinen wollen, sieht Durchs offne Fenster Licht in seinem Zimmer – Das große Seeschiff aber trägt ihn weiter Auf dunkelblauem Wasser lautlos gleitend Mit gelben fremdgeformten Riesensegeln. (KA I, 31)

Allein der Titel indiziert die Schärfe des Darstellungsproblems, da ein Erlebnis nach Hofmannsthal per se ja nicht direkt zur Sprache kommen kann, ohne im Medium verzerrt und verfälscht zu werden. Gesteigert wird diese Schwierig-

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keit noch dadurch, dass hier gar das Ultimum des Undarstellbaren, nämlich die Erfahrung des eigenen Todes, thematisiert wird. Dieses Problem prägt den Text gleichermaßen auf der Ebene der Äußerung wie der des Geäußerten. Sinnfällig werden diese Komplikationen zunächst an der Zeitdeixis. Dadurch, dass der Text im Präteritum verfasst ist, ist textlogisch impliziert, dass ein erlebendes Ich von einem erinnernden, das für die Informationsvergabe zuständig ist, unterschieden werden muss. Die Möglichkeit dieser retrospektiven textuellen Instanz steht aber natürlich in Frage, wenn das, was das Subjekt erlebt, ausgerechnet sein Tod ist. Hinzu kommt inhaltlich, dass das, was hier in den ersten zweieinhalb Blankversen als Beschreibung der Diegese erscheint – ein Tal bei Sonnenuntergang mit ‚silbergrauem Duft‘ –, vielmehr nur eine Projektion des Ich ist, heißt es doch explizit, dass es gar nicht Nacht ist und es sich bei der geschilderten Szenerie nur um ‚meine dämmernden Gedanken‘ handelt. Damit dementiert der Sprecher die eigene Aussage bereits kurz nachdem er sie getätigt hat und legt nahe, dass es sich bei allem Gesagten ‚nur‘ um uneigentliche Rede handelt. Dies wird denn auch in der Kernaussage des ersten Teils thematisiert: „Und dieses wußt ich, / Obgleich ich’s nicht begreife, doch ich wußt es: / Das ist der Tod“. Mit der auch aus anderen Kontexten bekannten Unterscheidung von ‚Wissen‘ und ‚Begreifen‘, d.h. stimmungshaft-vorbewusster Evidenz und einer umfassenden Kenntnis,47 versetzt Hofmannsthal die Gültigkeit alles Gesagten in einen Schwebezustand. Das Ich empfindet zwar zweifelsohne, was ihm widerfährt, als Tod, dieses Erlebnis entzieht sich jedoch seinem vollen Begreifen und gewinnt keine Eindeutigkeit. Diese Suggestion von Uneigentlichkeit reicht im ersten Teil des Textes bis in die punktuelle Gestaltung der einzelnen Motive und Tropenverwendungen hinein. Die auffallendsten Metaphern des ersten Teiles – der Duft als Meer, das Dämmerlicht als Glühen der Blumen, die Musik als Tod – spielen die Empfindungsarten von Riechen, Sehen und Hören ein, wobei diese durch die Zuweisung von ‚wellenartigen‘ Medien als Bildspender (Luft, Schall, Wasser, Licht) bewusst ins Unstoffliche, Unfassliche, sprich: ‚Unbegreifliche‘, verflüchtigt werden. Auf diese vielfältigen Weisen spielt der erste Teil von Erlebnis zwar eine Fülle von überwiegend angenehmen Stimmungswerten ein, die aber in ihrem Ensemble nicht plastisch werden und kein konsistentes Gesamtbild ergeben.

47 ‚Begreifen‘ ist für Hofmannsthal nicht, wie Heinz vermutet, das Verb zu ‚Begriff‘, bezeichnet also nicht nur bewusste und geordnete, kategoriale Vorstellungen des Menschen, sondern bedeutet eine Form der Kenntnis, bei der alle Erkenntnisinstanzen gleichermaßen involviert sind, sinnliche und intellektuelle Vorstellung. (Vgl. Heinz, Sprachgeschichte, S. 250)



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Dennoch geht es dem Gedicht nicht nur darum, solche Darstellungsprobleme auszustellen, sondern es wird zugleich auch der Versuch unternommen, sie zu vermitteln. Dabei spielt der konkrete Umgang mit der sprachbildlich erzeugten Uneigentlichkeit, der sich im zweiten Teil signifikant verändert,48 wiederum eine herausragende Rolle. Ausgangspunkt ist ein ambivalentes Gefühl des Heimwehs nach dem ‚Leben‘, das den Sprecher nun nach den anfänglich noch ungebrochen positiven Empfindungen überkommt. Dezidiert wird dieses Gefühl als ‚namenlos‘ bezeichnet, d.h. als vorkategorial und ‚unbegreiflich‘ im Sinne des ersten Gedichtabschnitts. Dennoch zieht der Sprecher daraus nicht den Schluss des Verstummens, sondern unternimmt den Versuch, es wenn schon nicht zu benennen, so doch weiter zu beschreiben. Damit wird die ohnehin schon ausgewiesene Uneigentlichkeit der Rede aber nochmals potenziert, indem sie nämlich in einen Vergleich übergeht, bei dem das Ich sein Heimweh nach dem Leben mit der Empfindung eines Seereisenden zusammenführt, der an seiner Heimatstadt vorüberfährt. Er erspürt die Stadt am Ufer in vielen Einzelheiten, sieht am Ende sich selbst als Kind, wird aber nolens volens vom Boot weitergetragen. Mit dieser Parallelisierung des Lebenslaufs und einer Schiffsreise greift das Gedicht in seiner zweiten Hälfte ein topisches Konzept auf, das Bildfeld von der navigatio vitae,49 das fortan bis zum Ende durchgehalten wird und die weiteren Tropen integriert. Dadurch erscheint dieser zweite Teil erheblich konsistenter und anschaulicher als der erste. Verfahrenstechnisch handelt es sich bei diesem Anschluss, wie auch in vielen anderen Gedichten und Essays Hofmannsthals, um einen narrativ extendierten, figurativen Vergleich.50 Wird bei literalen Vergleichen die Gemeinsamkeit der Teilglieder noch auf der Textoberfläche ausgesagt und zudem in beide Richtungen ohne Verletzung semantischer Routinen zuschreibbar, ist bei figurativen, wie bei Metaphern, das Ähnlichkeitsmoment nicht explizit, sondern wird nur mittelbar rekonstruierbar.51 So auch im vorliegenden Fall: Am Ende kommt die Erfah48 Diese Zäsur fiel schon in der älteren Forschung auf, etwa Gotthart Wunberg, Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart 1965, S. 43. 49 Siehe hierzu Jost Schneider, Alte und neue Sprechweisen. Untersuchungen zur Sprachthematik in den Gedichten Hugo von Hofmannsthals, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 97. 50 Ich danke Jürgen Pafel vom Institut für Linguistik der Universität Stuttgart für den Hinweis auf diese wichtige Unterscheidung. Unter der Bezeichnung ‚eigentlicher‘ vs. ‚metaphorischer Vergleich‘ differenziert so auch Rüdiger Zymner, Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn u.a. 1991, S. 124–126. 51 Wenn auch nicht hier in Erlebnis, so schaltet Hofmannsthal in vielen anderen Texten, etwa in den Terzinen, häufig gleich mehrere solcher Metaphern im Gewand von Vergleichen hintereinander und verhindert so noch einmal zusätzlich, dass ihnen ein fixes und distinktes tertium comparationis eingelesen werden kann. Um diese markante metaphorische Technik

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rung des Schiffsreisenden wieder an ihren Ausgangspunkt zurück, nämlich zum Empfinden eines Abschiedsschmerzes, den er mit dem sterbenden lyrischen Ich teilt und der durch den ganzen Exkurs ja eigentlich erläutert werden sollte. Dieses Erlebnis ist durch die ineinander verschachtelte Bildlichkeit nicht in Form einer konzisen Behauptung gebracht worden, so dass das Gedicht den Forderungen aus dem Gespräch über Gedichte durchaus Rechnung trägt. Und doch wurde der Abschiedsschmerz durch den Vergleich nun aus mehreren Perspektiven beleuchtet und eingekreist. Zwar umreißt er, weil er ein figurativer ist, den Bereich des Gemeinsamen und Gemeinten lediglich vage, ohne eine tatsächliche Explikation zu bieten. Auf diese Weise wird das Erlebnis aber doch zumindest indirekt zur Darstellung gebracht, weil Hofmannsthal einen Raum möglicher Assoziationen absteckt, der das unbekannte und unsagbare Terrain zumindest immer mehr konturiert, wenn schon nicht wirklich expliziert. Das Gefühl des nahenden Todes ist durch die Verschiebung und Verschachtelung der Bildebenen im Vergleich ja durchaus präzisiert worden, denn die diffuse und widersprüchliche Rede im ersten Teil ist im zweiten durch das ausgreifende Szenario um den Schiffsreisenden immerhin in ein konsistenteres und konziseres Bild transformiert worden.52 Mit dem besonderen Einsatz von figurativen Vergleichen wie in Erlebnis hat Hofmannsthal somit eine Technik gewonnen, mit der er die jeder Metapher innewohnende Spannung von Identitätsbehauptung und Differenzmarkierung explizit machen, steigern und ‚aufheben‘ kann. Die ausgestellte und potenzierte Uneigentlichkeit der bildhaften Rede ist Bedingung der Möglichkeit, dass das thematische Erlebnis wenigstens im Modus der Uneigentlichkeit zur Sprache gebracht werden kann. Das Wissen und die Leistung der Poesie bestehen somit darin, so kann man wohl pointieren, dass sie im Gegensatz zur Wissenschaft um ihr Nicht-Wissen weiß und dennoch nicht verstummt.

auf den Punkt zu bringen, schlägt bereits Eckhart Krämer die Formel vom ‚progressiven assoziierenden Schein-Vergleich‘ (Krämer, Metaphorik, S. 138–172) vor. Die Scheinhaftigkeit ent­ steht dadurch, dass die Metapher prätendiert, ein Vergleich zu sein, die progressive Komponente hingegen dadurch, dass der „erste Vergleich“ oft „in einen zweiten hinübergleitet und auch dieser, anstatt sich der lyrischen Erlebnisgrundlage zurückzuwenden, seinerseits wieder in einen weiteren Vergleich hineingeschoben wird u.s.f.“ (ebd., S. 150). 52 Viele Motive und Aspekte, die im ersten Teil eine diffuse, lediglich stimmungsmalerische Verbindung eingingen, kehren im zweiten wieder: das Gelb der Blumen in dem der ‚Riesensegel‘, das ‚Meer‘ des Duftes in dem Ozean vor der Vaterstadt, das Licht der Topase in dem des Zimmers, auch die Sensationen von Sehen, Hören und Riechen („Da sieht er / Die Gassen, hört die Brunnenrauschen, riecht / Den Duft der Fliederbüsche“), ja selbst die paradoxe Thematisierung von Selbstwahrnehmung in der Verdopplung des Ichs, das sich als Kind beobachtet. Diese Elemente, die im ersten Teil nur flüchtig über das wahrnehmende Subjekt miteinander assoziiert sind, präsentieren sich jetzt aber in einem relativ geschlossenen Ganzen.



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Zu den Autorinnen und Autoren Christoph Bode; Professor für Englische Literatur der Moderne an der LMU München, Gastprofessuren an UCLA, in Berkeley und in China. Bundesverdienstkreuz 2013. Forschungsschwerpunkte: Englische und europäische Romantik (Vorstand der Gesellschaft für englische Romantik), Modernism, Travel Writing, Narratology (ERC Advanced Investigator Grant für „Narrating Futures“). Publikationen (in Auswahl): Future Narratives: Theory, Poetics, and Media-Historical Moment, Berlin/Boston 2013 (mit Rainer Dietrich); The Novel: An Introduction, Oxford 2012; Selbst-Begründungen: Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik, I: Subjektive Identität, Trier 2008. Marco Thomas Bosshard; Professor für Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg. Außerdem verantwortlicher Lektor im Bereich iberoromanische Belletristik für den Verlag Klaus Wagenbach. Publikationen (in Auswahl): Churata y la vanguardia andina, Lima 2014; Return Migration in Romance Cultures, Freiburg 2014 (Hrsg., mit Andreas Gelz); La reterritorialización de lo humano. Una teoría de las vanguardias americanas, Pittsburgh 2013. Marc Föcking; Professor für italienische und französische Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Italienische Renaissance und Barock; Literatur des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Italien; Grenzgebiete des Ästhetischen (Krimi, Thriller, Kitsch). Publikationen (in Auswahl): James Bond. Anatomie eines Mythos, Heidelberg 2012 (Hrsg., mit Astrid Böger); Pathologia litteralis. Wissenschaftliches Erzählen und erzählte Wissenschaft im französischen 19.Jahrhundert, Tübingen 2002; Rime sacre und die Genese des barocken Stils, Stuttgart 1994. Henning Hufnagel; wissenschaftlicher Mitarbeiter im ANR/DFG-geförderten deutsch-französischen Forschungsprojekt „Biolographes. Création littéraire et savoirs biologiques au XIXe siècle“ am Romanischen Seminar der Universität Freiburg i.Br.; 2011 bis 2014 Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Forschungsschwerpunkte (u.a.): Beziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft; französische Lyrik des 19. Jahrhundert, insbesondere der Parnassiens; (Dialog-)Literatur der italienischen Renaissance. Publikationen (in Auswahl): „Dialogo topologico, topica dialogica. Sul ruolo delle imprese ne Il Conte di Torquato Tasso“, in: Testo, 68/2014, S. 7–22; Turning Traditions Upside Down. Rethinking Giordano Bruno’s Enlightenment, Budapest/New York 2013 (Hrsg., mit Anne Eusterschulte); Ein Stück von jeder Wissenschaft. Gattungshybridisierung, Argu-

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 Zu den Autorinnen und Autoren

mentation und Erkenntnis in Giordano Brunos italienischen Dialogen, Stuttgart 2009. Thomas Klinkert; Professor für romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.; 2008–2009 Senior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Co-Leiter des ANR/DFG-geförderten deutsch-französischen Forschungsprojekts „Biolographes. Création littéraire et savoirs biologiques au XIXe siècle“. Forschungsschwerpunkte (u.a.): der Zusammenhang von Literatur und Wissen; Liebessemantik; Literaturtheorie. Publikationen (in Auswahl): Katastrophe und Gedächtnis, Berlin/Boston 2014 (Hrsg., mit Günter Oesterle); Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin/New York 2010; Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800, Berlin/New York 2008 (Hrsg., mit Monika Neuhofer). Olav Krämer; akademischer Rat auf Zeit am Deutschen Seminar der Universität Freiburg i.Br.; 2011 bis 2013 Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Forschungsschwerpunkte (u.a.): deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts; Literatur- und Wissensgeschichte; Komparatistik. Publikationen (in Auswahl): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin 2015 (Hrsg., mit Andrea Albrecht, Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase); Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, Berlin/Boston 2012 (Hrsg., mit Lilith Jappe und Fabian Lampart); Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin/New York 2009. Fabian Lampart; akademischer Rat auf Zeit und außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 2008/2009 Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Forschungsschwerpunkte (u.a.): deutschsprachige Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur; Lyrik und Lyriktheorie; Literatur- und Wissensgeschichte. Publikationen (in Auswahl): Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960, Berlin/Boston 2013; Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurengestaltung, Berlin/Boston 2012 (Hrsg., mit Lilith Jappe und Olav Krämer); Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni, Würzburg 2002. Hugues Marchal; Professor für französische und allgemeine Literaturwissen­ schaft, Universität Basel; Mitglied des ANR/DFG-geförderten deutsch-franzö­si­ schen Forschungsprojekts „Biolographes. Création littéraire et savoirs biologi­ ques au XIXe siècle“ und des SNF-geförd­erten Sinergia-Projekts „Poetik und



Zu den Autorinnen und Autoren 

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Ästhetik des Staunens“ (Zürich/Basel); Leiter des SNF-Projekts „Reconstruire Delille“. Forschungsschwerpunkte (u.a.): Dichtung von 1800 bis zur Gegenwart; Literatur und Wissenschaft. Publikationen (in Auswahl): La Poésie scientifique, de la gloire au déclin, 2014 (Hrsg., mit Muriel Louâpre und Michel Pierssens; www.epistemocritique.org); Muses et ptérodactyles: la poésie de la science de Chénier à Rimbaud, Paris 2013 (Hrsg.); La Poésie, Paris 2007. Alexander Nebrig; wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin; Forschungsschwerpunkte (u.a.): Literatur und Ethik, literarische Mehrsprachigkeit, Literaturgeschichte vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Publikationen (in Auswahl): Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2013; Komparatistik, Berlin 2012 (mit Evi Zemanek); Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung, Göttingen 2007. Benjamin Specht; Juniorprofessor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte (u.a.): Literatur und Wissenschaftsgeschichte; Metapherntheorie; Literatur um 1800. Publikationen (in Auswahl): Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit, Berlin/New York 2014 (Hrsg.); Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800, Berlin/New York 2010; „Der Traum als Laboratorium. Traum-Erzählungen der Aufklärung zwischen Literatur und Experiment“, in: Michael Gamper/Martina Wernli/Jörg Zimmer (Hrsg.), „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I: 1580–1790, Göttingen 2009, S. 395–416. Ulrike Zimmermann; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Englischen Seminar der Universität Freiburg i.Br. und am SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“. Forschungsschwerpunkte (u.a.): Popularisierungen des 18. Jahrhunderts, Literatur und Naturwissenschaften, zeitgenössische britische Prosa. Publikationen (in Auswahl): „Bright Hair and Brittle Bones: Gothic Affinities in Metaphysical Poetry“, in: Elisabeth Bronfen und Beate Neumeier (Hrsg.), Gothic Renaissance. A Reassessment, Manchester/New York 2014, S. 152–166; Comic Elements in Women’s Novels of Development from the 1960s to the 1980s, Würzburg 2013; „Out of the Ordinary – and Back? Jackie Kay’s Recent Short Fiction“, in: Lars Eckstein u.a. (Hrsg.), Multi-Ethnic Britain 2000+. New Perspectives in Literature, Film and the Arts, Amsterdam/New York 2008, S. 123–137.

Personenregister Abrams, M. H. 209, 214 Acquisto, Joseph 94, 105 Addison, Joseph 37, 39, 65 Ajouri, Philip 17, 30, 245, 260 Alpers, Paul 95, 105 Andrews, Chris 176, 188 Apollinaire, Guillaume 103, 105–106 Arat von Soloi 37 Arnold, Matthew 87, 90, 191 Arz, Maike 54, 65 Aurier, Albert 161, 172 Azzouni, Safia 242, 260 Bacon, Francis 70 Bailey, Benjamin 80 Balzac, Honoré de 16, 18–19, 32, 34–35, 108, 122–124, 151 Banville, Théodor de 127 Barbereau, Auguste 109 Barbey d’Aurevilly, Jules 107, 121 Baroli, Marc 94, 98, 105 Bartolini, Simonetta 103, 105 Baudelaire, Charles 14, 20–23, 25–26, 30–34, 107–116, 119–122, 159, 172 Bayertz, Kurt 251, 260–261 Beer, Gillian 17–18, 30, 191, 211–212, 214 Bender, Niklas 14, 17, 21, 30, 123, 149, 247, 260 Bergengruen, Maximilian 224, 236 Berger, Alfred von 272 Berthelot, Marcellin 159, 172 Bies, Michael 7, 9, 30, 35 Biese, Alfred 263–264, 267, 270, 272, 276, 279, 289 Blackmore, Richard 38, 61, 65 Blackwell, Antoinette Brown 196, 214 Blain, Virginia 192, 198, 207, 214 Blake, William 24, 71–75, 79, 81, 90 Blaschke, Bernd 110–111, 122, 226, 236 Boccaccio, Giovanni 70 Bode, Christoph 11, 13, 24, 69, 73, 82, 88–90, 240, 250, 260 Bohm, Willard 103, 105 Böhme, Jakob 71

Böhn, Andreas 223–224, 236 Bölsche, Wilhelm 63–64, 247, 252–254, 260–261 Bonnet, Charles 55 Borgards, Roland 4, 30, 222, 237, 240, 242, 260, 262 Borgstedt, Thomas 7, 30 Bosshard, Marco Thomas 13, 27, 175, 186, 188 Bourget, Paul 167 Bowler, Peter J. 48, 65 Brandl, Leopold 64–65, 194 Brandstetter, Thomas 132–133, 149 Braungart, Georg 11, 31 Brunetière, Ferdinand 26, 124–126, 131, 149 Brunner, Bernd 133, 149 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 154, 170, 176 Burdett, Francis 52 Burrows Acton, Harry 196, 214 Busch, Walter 17, 30 Calderón de la Barca, Pedro 70 Calmettes, Fernand 176, 179, 184 Campe, Julius 231 Canning, George 50 Carducci, Giosuè 96, 99, 102, 106 Carrier, David 108, 122 Carrière, Moriz 251 Cavailhon, Édouard 171–172 Chai, Leon 22, 31 Chamberlain, Houston Stewart 273 Chamisso, Adelbert von 230 Charles, David 165, 172 Chaucer, Geoffrey 70 Chénier, André 27–28, 169, 172, 175–181, 183–189 Chométy, Philippe 156, 172 Christie, John 191–192, 214 Clements, Patricia 22, 31 Coates, Carol 98, 105 Cockcroft, Robert 46, 65 Cohen, Hermann 251, 260 Coleman, Joyce 186

296 

 Personenregister

Coleridge, Samuel Taylor 24, 71, 78–79, 86, 90 Compagnon, Antoine 124, 149 Coppée, François 127, 185 Coran, Charles 134 Corbellari, Alain 178, 189 Cousin, Victor 20, 32, 130 Credi, Roberto 102, 105 Croce, Benedetto 124 Cullhed, Anna 91, 105 Cuvier, Georges 154 Danneberg, Lutz 3, 5, 6, 31 D’Annunzio, Gabriele 147, 149, 281 Dante Alighieri 70 Darwin, Charles 13, 17, 20, 28, 31, 34–35, 48, 135, 149, 155, 165, 191–196, 200, 202, 204–208, 211–214, 216–217, 243, 245, 248, 252, 260–262 Darwin, Erasmus 3, 23–24, 37, 39–53, 57, 60–67, 79 Daston, Lorraine 6, 31, 136, 149 Daum, Andreas 11, 31, 64–65, 242, 260 Dawson, Gowan 22, 31 Dear, Peter 5, 31 Décultot, Elisabeth 20, 31 Delille, Jacques 27, 154–158, 160, 162–163, 169–172 Demokrit 73 De Quincey, Thomas 120 Deschamps, Émile 183 Dessons, Gérard 7–10, 31 Didier, Béatrice 177, 189 Dilthey, Wilhelm 251, 260, 270, 272, 289 Doizé, J. 182, 189 Dorvault, François 26, 111, 112 Droste-Hülshoff, Annette von 11, 15, 34, 93, 105, 229, 230 Dryden, John 78, 197 Du Bois-Reymond, Emil 243, 247–248, 251, 260 Du Camp, Maxime 1, 2, 12, 16, 31, 34, 98–99, 105, 140, 159, 163, 172 Duff, David 3, 31, 79, 90 Dusolier, Alcide 15, 31, 127, 149 Edlinger, Carola von 249, 260 Ehrard, Jean 177, 189

Eibl, Karl 248, 260 Einfalt, Michael 2, 31 Eliot, George 17, 30, 33–34, 191, 214 Elster, Ernst 270, 289 Empedokles 157–158 Emrich, Wilhelm 255, 261 Epikur 46 Fabian, Bernhard 37, 65 Fanelli, Giovanni 103, 105 Fara, Patricia 50–51, 65 Fayolle, François-Jospeh-Marie 187, 189 Fechner, Gustav Theodor 247, 270 Fick, Monika 265, 289 Flaubert, Gustave 18, 122, 125, 131, 159, 183 Fleck, Ludwik 241, 261 Föcking, Marc 11–12, 25, 31, 91, 97, 105, 123, 125, 131, 139, 150 Fontane, Theodor 18 Foucault, Michel 5–7, 31, 34, 88–90 Friedrich, Caspar David 211 Friedrich, Hans-Edwin 20, 31, 245, 261 Friedrich, Hugo 22, 32 Fulda, Daniel 222, 236 Furman, Nelly 94, 105 Fusil, Casimir 153, 172 Füßli, Johann Heinrich 52 Gaier, Ulrich 230, 236 Galison, Peter 136, 149 Gamper, Michael 7, 9, 30, 35 Garfinkle, Norton 42, 66 Gautier, Léon 27–28, 177–189 Gautier, Théophile 127–128, 130–132, 150, 183 Gebhard, Walter 11, 32, 246–247, 249, 261 George, Stefan 267 Geppert, Alexander C.T. 251, 261 Gerber, Gustav 269, 289 Gess, Nicola 277, 289 Ghil, René 20, 35, 153, 159, 172 Ginzburg, Carlo 182 Gittings, Robert 83, 90 Godwin, William 50 Goethe, Johann Wolfgang 23–24, 37–41, 53–63, 65–67, 91, 105, 131–132, 151, 243, 273 Gothot-Mersch, Claudine 135, 150

Personenregister 

Goujon, Jean-Paul 187, 189 Gourmont, Remy de 161, 172 Greiner, Thorsten 21, 32 Groth, Helen 192, 214 Grünzweig, Walter 249, 261 Guignard, Jacques 179, 182, 184, 189 Haeckel, Ernst 20, 35, 63–64, 134, 150, 243, 247–248, 250–253, 259, 261 Hajduk, Stefan 245, 247, 261 Haquette, Jean-Louis 154, 172 Harrison, James 48, 66, 212, 215 Harter, Ursula 133, 150 Hart, Heinrich 245, 261 Hartung, Stefan 16, 20, 23, 32, 127–131, 134, 136, 150 Hastings, Francis Rawdon 52 Haydon, Benjamin Robert 83 Hebbel, Friedrich 278 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 2, 20, 32, 91, 92, 105, 210 Heine, Heinrich 22, 34, 93, 105, 231–236 Heinz, Tobias 284, 286, 289 Helmholtz, Hermann von 247 Hémon, Camille 169, 172 Hempel, Dirk 221–222, 226, 236–237 Hempfer, Klaus W. 15, 22, 31, 92, 105, 128–130, 150, 182, 186, 189 Herbart, Johann Friedrich 242, 261 Herder, Johann Gottfried 55 Heredia, José Maria de 13, 27–28, 126–127, 129, 132–138, 143–148, 150, 175–176, 179, 182–189 Herwig, Malte 253, 261 Hesketh, Ian 193, 214–215 Hildebrand, Bruno 234 Hinterhäuser, Hans 96, 106 Hoeges, Dirk 124, 150 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 109 Hofmann, Anne 126–127, 150 Hofmannsthal, Hugo von 29–30, 263–268, 271–273, 275–277, 279, 281, 284–290 Hölderlin, Friedrich 226–229, 235–236 Holmes, John 193–195, 205, 214 Holmes, Richard 139, 150, 205 Holz, Arno 29, 239–241, 245, 247, 249–262 Homer 78, 176–179, 181, 185–186, 207

 297

Hong, Jin Ho 245, 261 Hoorn, Tanja van 247, 250, 257, 261 Hörisch, Jochen 228, 236 Hruschka, Joachim 49, 66 Hufnagel, Henning 7, 14, 26–27, 32, 123–127, 129, 130–131, 136, 143, 149, 150, 183, 188–189 Hugo, Victor 160, 165, 172, 175, 177, 179, 189 Huxley, Aldous 72, 108 Huxley, Thomas Henry 191, 193, 210 Ibrovac, Miodrag 183–189 Inoue, Teruo 108, 110, 122 Iser, Wolfgang 21, 32 Jäger, Georg 14, 32 Jameson, Frederic 22, 32 Janik, Dieter 12, 32 Jarry, Alfred 160 Jean Paul 91–92, 97, 106 Jeanroy-Félix, Victor 158, 172 Kablitz, Andreas 18–19, 32 Kaehler, Anny 110, 122 Kaiser, Dagmar 245, 261 Kant, Immanuel 20, 55, 210 Kaston Tange, Andrea 194, 198, 200, 205, 214 Keats, John 24, 71, 79–83, 90 Kemp, Wolfgang 52, 66 Kendall, May 28, 191, 193–194, 198, 206–207, 209–211, 213–214 Kippenberg, Anton 273 Kittler, Friedrich 112, 122 Kleeberg, Bernhard 247, 261 Kleeberg, Ingrid 7, 9, 30, 35 Kleinert, Andreas 20, 32 Klinkert, Thomas 4, 7, 14, 16, 18, 21, 25, 31–32, 107, 121–122 Knebel, Karl Ludwig 53 Knies, Karl 234 Knight, Richard Payne 50–51, 66 Knobloch, Clemens 274, 289 Kockerbeck, Christoph 243, 261 König, Christoph 264, 289 Köppe, Tilmann 6, 32–33 Kopp, Robert 26, 111, 122 Krämer, Eckhart 279, 281, 288–289

298 

 Personenregister

Krämer, Olav 4, 15, 23–24, 33, 37 Kühlmann, Wilhelm 11, 33 Künzel, Christine 221–222, 226, 236–237 Kupfer, Alexander 110, 122 Laforgue, Jules 12, 160 La Harpe, Jean-François de 160, 172 Lamarck, Jean-Baptiste de 194, 202–203, 214, 243 Lamartine, Alphonse de 175, 179 Lamb, Charles 83 Lampart, Fabian 13, 28, 219 Landauer, Gustav 271, 289 Lansyer, Emmanuel 144 Lasser, Carol 196, 214 Laufhütte, Hartmut 12, 32 Lazare, Bernard 171–172 Leask, Nigel 11, 32 Leconte de Lisle, Charles 13, 16, 27, 33–34, 125–128, 130–131, 135, 139, 140–143, 148, 150–151, 175, 178–179, 182–183, 185–186, 188 Lefèvre, André 183 Legouvé, Ernest 154, 172 Leibniz, Gottfried Wilhelm 55 Lemaître, Jules 171, 172 Lenau, Nikolaus 15, 229 Lenoir, Timothy 6, 33 Lepenies, Wolf 20, 33, 242, 261 Le Roux, M. 160, 172 Levron, Jacques 178, 182, 189 Liede, Alfred 244, 262 Lightman, Bernard 192–193, 213–215 Lingay, Joseph 156–157, 172 Linné, Carl von 45 Lorenzini, Niva 96, 106 Lotze, Hermann 247 Louâpre, Muriel 38, 66, 153, 172 Lukrez 12, 23, 37–40, 46–47, 50, 53–54, 56, 58, 61, 66, 155, 157–158, 170–171, 176 Lyell, Charles 195, 215 Madelénat, Daniel 188, 189 Mahler, Andreas 129, 151 Mahlmann-Bauer, Barbara 38, 66 Mahr, Johannes 12, 33 Maillard, Christine 14, 33

Malthus, Robert 80 Marchal, Hugues 3, 12, 27, 33, 38–39, 66, 140, 153, 156, 170, 172 Marey, Étienne-Jules 136 Marmontel, Jean-François 157, 172 Martus, Steffen 3, 7–8, 12, 30, 33, 221, 236 Marx, Karl 231–233, 235–236 Mauthner, Fritz 249, 261, 271–272, 278, 289 Mauzi, Robert 177, 189 Mayer, Mathias 230, 236 McNeil, Maureen 48, 52, 66 Mejiers, Anthonie 269, 289 Mellmann, Katja 31–32, 245, 250, 261–262 Ménard, Louis 183 Mendès, Catulle 124, 127 Meter, Helmut 103, 106 Meyer, Paul 182 Michelet, Jules 15 Michler, Werner 245, 262 Millet, Claude 127–128, 130, 151 Milton, John 70, 79, 80 Monkhouse, Thomas 83 Montagnon, François 158, 172 Monti, Vincenzo 97, 105 Moreau de Tours, Jacques-Joseph 112 Mörike, Eduard 15, 229–230, 236–237 Moritz, Karl Philipp 55 Morrison, Jim 72 Mortelette, Yann 11, 15, 20, 31, 33, 127–128, 146, 149, 151, 175–176, 183, 186, 189 Moser, Koloman 254 Mulder, Caroline de 140–142, 151 Müller, Friedrich Max 269, 270, 272, 274, 289 Müller, Johannes 247 Murphy, Patricia 194, 196, 200, 205, 215 Musset, Alfred de 165, 172 Naden, Constance 28, 191, 193–194, 198–203, 205–207, 211, 213–216 Nebrig, Alexander 13, 18, 29, 239–241, 262 Neubauer, John 54–56, 66 Neumeister, Sebastian 124, 151 Neumeyer, Harald 4, 30, 222, 237, 240, 260, 262 Newton, Isaac 73, 75, 83, 155, 163, 176, 208, 242 Nieberle, Sigrid 222, 236

Personenregister 

Niefanger, Dirk 12, 15, 33 Nietzsche, Friedrich 268, 269, 271, 289 Nisbet, Hugh Barr 38, 40, 53–56, 59, 66 Noiré, Ludwig 271, 289 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 230 Osteen, Mark 221, 237 Otis, Laura 191, 203, 209, 215 Otto, Regine 54, 66, 249 Ovid 162 Paine, Thomas 50 Paolozzi, Eduardo 73 Paris, Gaston 176, 182 Parmenides 158 Pasteur, Louis 165 Pater, Walter 22, 35, 147, 151 Pavie, T. 99, 106 Peacock, Thomas Love 69 Penzenstadler, Franz 92, 106 Pethes, Nicolas 4, 30, 33, 222, 237, 240, 260, 262 Petrarca, Francesco 70 Phalaris von Akragis 96 Piave, Francesco Maria 104, 106 Pichois, Claude 21, 26, 33, 107, 111, 122 Pitt, William 51–52 Pizarro, Francisco 186–187 Plath, Margarethe 53, 66 Platon 59, 201 Plessis, Frédéric 134 Poe, Edgar Allan 21 Polignac, Melchior de 38, 66 Ponsard, François 178–179, 189 Pope, Alexander 77–79, 90, 197 Postlewaithe, Diana 17, 33 Prel, Carl du 251, 262 Priddat, Birger P. 225, 234, 236 Priestley, Joseph 50 Priestman, Martin 41–43, 46, 48, 52, 66–67 Primer, Irwin 52, 67 Rakow, Christian 224, 236 Rauch, Alan 12, 20, 33, 212–213, 215 Rau, Heribert 64, 67 Regaldo, Marc 187, 189 Renan, Ernest 167

 299

Reynolds, J.H. 81 Richepin, Jean 160 Richet, Charles 156, 164 Richter, Karl 4–6, 33–34, 264, 289 Richter, Sandra 91, 106, 222–224, 237 Riedel, Eva 127, 151 Riedel, Wolfgang 245–247, 249, 262, 264–265, 289–290 Rimbaud, Arthur 12, 14, 21, 30, 32 Robertson, Ritchie 11, 34, 279, 290 Robinson, James K. 23, 34 Romains, Jules 159–160, 172 Ronsard, Pierre de 175 Roscher, Wilhelm 234 Rousseau, Jean-Jacques 73 Rowntree, Benjamin Seebohm 207 Rückert, Friedrich 14, 33, 229 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 2, 157–158, 173 Sasson, Donald 94, 106 Sauder, Gerhard 54, 58, 66, 67 Sautermeister, Gert 4, 21–22, 34, 229, 237 Scafe, John 63 Schack, Adolf Friedrich von 244, 245, 261 Schamm, Christoph 103, 106 Scheffel, Joseph Victor 12 Scheffel, Michael 18, 34 Scheffler, Hermann 251 Scherer, Stefan 3, 7–8, 12, 30, 33, 221, 236 Scheuer, Helmut 242, 244, 247, 262 Schievelbusch, Wolfgang 99–101, 106 Schings, Hans-Jürgen 276, 290 Schleiermacher, Friedrich 247 Schneider, Jost 287, 290 Schneider, Sabine 265–266, 290 Schneider, Ulrich Johannes 6, 34 Schönert, Jörg 4–6, 33–34, 264, 289 Schößler, Franziska 222, 237 Schulz, Gerhard 239, 250, 257, 262 Scott, Walter 209 Secord, James A. 195, 215 Seel, Martin 243, 262 Selbmann, Rolf 3–4, 12, 34 Sengle, Friedrich 3, 14, 34 Senneville, Gérard de 2, 34 Shakespeare, William 70, 242

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 Personenregister

Shelley, Mary 70, 89 Shelley, Percy Bysshe 11, 24, 33, 69–71, 78–79, 83–84, 86–88, 90 Shell, Marc 221, 237 Shuttleworth, Sally 17, 34, 191–192, 212, 214 Šklovskij, Viktor 84 Smith, Adam 80, 224–225, 232, 234 Smith, Charlotte 24, 71, 87–90 Smith, Jonathan 193, 215 Soergel, Albert 243, 262 Soffici, Ardengo 25, 91, 94, 102–106 Specht, Benjamin 13, 29, 263 Spencer, Herbert 166, 196, 208, 214 Spinoza, Baruch de 59 Spoerhase, Carlos 5, 34 Sprengel, Peter 13, 20, 34, 245, 252, 262 Staël, Germaine de 157, 173 Sternberger, Dolf 100, 106 Stiening, Gideon 6, 34 Stockinger, Claudia 3, 7–8, 12, 30, 33, 221, 236 Strachan, John 50, 67 Strobl, Karl Hans 249 Sully Prudhomme 12, 20, 27, 35, 126–127, 137–140, 148, 151, 153–165, 167–173, 175, 183, 185 Swedenborg, Emanuel 71 Taine, Hippolyte 124–125 Tam, Nicholas 199, 215 Taylor, Andrew 181, 189 Teukolsky, Rachel 22, 34 Thain, Marion 194, 198, 215 Thiher, Allen 123, 151 Thomé, Horst 18, 34, 63–64, 67, 246, 262 Titzmann, Michael 4–6, 33–34, 264, 289 Trippenbach, Max 247 Turner, William 74 Vacherot, Étienne 159, 173 Vadé, Yves 157, 173 Valéry, Paul 21, 171, 173 Ventarola, Barbara 17, 34 Verdi, Giuseppe 104, 106 Vergil 37, 65, 157, 170 Verlaine, Paul 25, 91, 94, 97–106, 159, 173

Vianey, Joseph 16, 34 Vigny, Alfred de 25, 91, 94–99, 101–102, 105–106, 140, 151, 177 Virchow, Rudolf 247 Vischer, Friedrich Theodor 11, 92, 106, 251, 276 Vogl, Joseph 6, 34–35, 222, 226, 237 Vollhardt, Friedrich 3, 31 Voltaire (François-Marie Arouet) 73, 186, 188 Wanlin, Nicolas 12, 20, 35, 153 Warning, Rainer 88, 90 Wasserman, Earl R. 44, 67 Wehle, Winfried 16, 35, 95, 106 Werber, Niels 245, 262 Werle, Dirk 5, 34, 225, 237 Wessely, Christina 132–133, 149 Westerwelle, Karin 108, 122 Wetzel, Hermann H. 14, 21, 32, 35 Whewell, William 209 Whitman, Walt 249, 261 Wieland, Christoph Martin 38, 67 Wilberforce, Samuel 193 Wilde, Oscar 70, 90 Williamson, Karina 206, 215 Wilmot, John 206, 215 Wittgenstein, Ludwig 84, 89–90, 251, 260 Wohlleben, Robert 241, 262 Wolff, Christian 55 Wolf, Norbert Christian 131, 151 Woodmansee, Martha 221, 237 Wordsworth, William 24, 71, 74–81, 83, 86, 90 Wunberg, Gotthart 287, 290 Wunderlich, Werner 227, 237 Wundt, Wilhelm 270 Wyder, Margrit 55, 67 Yannis, Kanarakis 22, 34 Zaharia, Mihaela 54, 67 Zemon Davis, Natalie 182 Zimmermann, Ulrike 13, 28, 191 Ziolkowski, Theodore 230, 237 Zola, Émile 7, 17–18, 31–32, 34, 123–124, 127, 150–151, 155, 222, 246–247 Zymner, Rüdiger 9–10, 35, 264, 277, 287, 289–290