Die Suasorien des älteren Seneca: Einleitung, Text Und Kommentar 3110306247, 9783110306248

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Die Suasorien des älteren Seneca: Einleitung, Text Und Kommentar
 3110306247, 9783110306248

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1 Die Suasorie
2 Die Geschichte der Deklamation
3 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte. Die sententiae, divisiones und colores
3.1 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte I
3.2 Die sententiae
3.3 Die divisio
3.4 Die colores
3.5 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte II
4 Der Kollagencharakter der Exzerpte
5 Anachronismen
6 Die Argumentation
7 Die politische Dimension der Suasorien
8 Überblick über die erhaltenen antiken Suasorien
8.1 Bisherige Arbeiten
8.2 Überblick
9 Zur Edition
9.1 Die handschriftliche Überlieferung
9.2 Editionsprinzipien
Text
Kommentar
1 suas. 1
1.1 Einleitung
1.2 Kommentar
2 suas. 2
2.1 Einleitung
2.2 Kommentar
3 suas. 3
3.1 Einleitung
3.2 Kommentar
4 suas. 4
4.1 Einleitung
4.2 Kommentar
5 suas. 5
5.1 Einleitung
5.2 Kommentar
6 suas. 6
6.1 Einleitung
6.2 Kommentar
7 suas. 7
7.1 Einleitung
7.2 Kommentar
Bibliographie
Verzeichnis der rhetorischen und literaturwissenschaftlichen Termini

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Stefan Feddern Die Suasorien des älteren Seneca

Göttinger Forum für Altertumswissenschaft

Beihefte Neue Folge

Herausgegeben von Bruno Bleckmann, Thorsten Burkard, Gerrit Kloss und Jan Radicke

Band 4

Stefan Feddern

Die Suasorien des älteren Seneca

Einleitung, Text und Kommentar

ISBN 978-3-11-030624-8 e-ISBN 978-3-11-030644-6 ISSN 1866-7651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner 2010 an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingereichten Doktorarbeit. Auch wenn ein Kommentar zu den Suasorien des älteren Seneca bisher nicht erschienen ist, ist meine Arbeit nicht ex nihilo entstanden, so dass ich hier die Gelegenheit nutzen möchte, einen Vorläufer zu würdigen, der nur allzu leicht in Vergessenheit geraten könnte, nämlich den unveröffentlichten Kommentar des Lennart Håkanson, der aufgrund von dessen verfrühtem Tod bisher weder überarbeitet noch publiziert werden konnte. Håkansons deutscher Kommentar, der in der Universität Uppsala aufbewahrt wird, behandelt das gesamte Werk des älteren Seneca auf ca. 400 Seiten und konzentriert sich, wie es aufgrund der Überlieferung und des Umfangs des Werkes nur sinnvoll ist, auf die wichtigsten textkritischen Probleme. Eine Kopie des Kommentares hat mir die Universität Uppsala dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Diesem grundlegenden Erklärungswerk verdankt mein Kommentar viele Anregungen, und es ist erfreulich zu hören, dass eine Herausgabe des Kommentares zum ersten Buch der Kontroversien in Angriff genommen wurde. Danken möchte ich an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Thorsten Burkard, der mit unermüdlichem Einsatz die Arbeit Korrektur gelesen und mir bei den unzähligen textkritischen und anderweitigen Problemen, die mit den Suasorien verknüpft sind, wertvolle Hinweise gegeben hat. Prof. Dr. Jan Radicke hat freundlicherweise das Zweitgutachten übernommen. Bei Antonio Stramaglia bedanke ich mich dafür, dass er mir die Vorabversion eines Aufsatzes zur Verfügung gestellt hat. Dem Land Schleswig-Holstein sei für die Vergabe des Landesgraduiertenstipendiums gedankt, das mich in den ersten beiden Jahren der Promotion gefördert hat. Dem Verlag De Gruyter und den Herausgebern der Reihe (Bruno Bleckmann, Thorsten Burkard, Gerrit Kloss, Jan Radicke) schließlich ist zu verdanken, dass diese Arbeit in der vorliegenden Form erscheinen kann. Gewidmet sei sie meinen Eltern. Kiel, im Februar 2013

Stefan Feddern

Inhalt Vorwort

V

1 Einleitung 1  Die Suasorie  Die Geschichte der Deklamation 7  Der Aufbau der Deklamationsexzerpte. Die sententiae, divisiones und colores 36 . Der Aufbau der Deklamationsexzerpte I 36 . Die sententiae 36 . Die divisio 38 . Die colores 44 . Der Aufbau der Deklamationsexzerpte II 59  Der Kollagencharakter der Exzerpte 60 61  Anachronismen  Die Argumentation 63  Die politische Dimension der Suasorien 67  Überblick über die erhaltenen antiken Suasorien 75 . Bisherige Arbeiten 75 . Überblick 78  Zur Edition 93 93 . Die handschriftliche Überlieferung . Editionsprinzipien 96 Text

99

Kommentar

147

 . .

148 suas. 1 Einleitung 148 155 Kommentar

 . .

225 suas. 2 Einleitung 225 Kommentar 226

 . .

305 suas. 3 Einleitung 305 Kommentar 311

VIII

Inhalt

 . .

suas. 4 339 Einleitung 339 Kommentar 340

 . .

357 suas. 5 Einleitung 357 Kommentar 359

 . .

381 suas. 6 Einleitung 381 385 Kommentar

 . .

483 suas. 7 Einleitung 483 Kommentar 486

Bibliographie

529

Verzeichnis der rhetorischen und literaturwissenschaftlichen Termini

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Einleitung 1 Die Suasorie Bei der Suasorie handelt es sich um eine Form der Deklamation. Ihre Definition muss einerseits (1) ihre Stellung innerhalb der genera causarum und andererseits (2) ihre Funktion innerhalb des gesellschaftlichen Lebens berücksichtigen. Außerdem (3) muss das Verhältnis zwischen Suasorie und Prosopopoiie geklärt werden. Wir geben im Folgenden eine Definition der Suasorie, wie sie in der Zeit des älteren Seneca etabliert war.¹ (1) Ein wesentliches Merkmal der Deklamation ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen der θέσις (lat. consultatio, propositum oder quaestio [infinita]) und der ὑπόθεσις (lat. causa oder quaestio finita), die auf Hermagoras aus Temnos zurückgeht. Bei der Hypothese handelt es sich um einen Fall, bei dem die betreffenden Personen und Begleitumstände bestimmt sind. Bei der These hingegen werden die betreffenden Personen und Begleitumstände unbestimmt gelassen.² So ist z. B. die Frage, ob man heiraten soll (an uxor ducenda), eine These, da keine bestimmte Person angegeben ist. Bei der Frage hingegen, ob Cato heiraten soll (an

1 Zur historischen Entwicklung s. das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“. 2 Vgl. Cic. inv. 1,8 (= Hermagoras fr. 6a Matthes [1962] 8 f.): Hermagoras quidem nec quid dicat attendere nec quid polliceatur intellegere videtur, qui oratoris materiam in causam et in quaestionem dividat, causam esse dicat rem, quae habeat in se controversiam in dicendo positam cum personarum certarum interpositione. […] Quaestionem autem eam appellat, quae habeat in se controversiam in dicendo positam sine certarum personarum interpositione. Part. 4: Quaestio quasnam habet partes? – Infinitam, quam consultationem appello, et definitam, quam causam nomino. Ib. 9: est in proposito finis fides, in causa et fides et motus. Top. 79 f.: Quaestionum duo genera sunt: alterum infinitum, definitum alterum. Definitum est quod ὑπόθεσιν Graeci, nos causam; infinitum quod θέσιν illi appellant, nos propositum possumus nominare. Causa certis personis, locis, temporibus, actionibus, negotiis cernitur aut in omnibus aut in plerisque eorum, propositum autem aut in aliquo eorum aut in pluribus nec tamen in maximis. Itaque propositum pars est causae. Sed omnis quaestio earum aliqua de re est quibus causae continentur, aut una aut pluribus aut nonnunquam omnibus. Quint. inst. 3,5,5 – 7. Zu Hermagoras’ Unterscheidung zwischen These und Hypothese vgl. Throm (1932) 104– 110; Matthes (1958) 121– 129. Zur Unterscheidung zwischen These und Hypothese in Cic. part. vgl. Arweiler (2003) 141– 151. Zur Unterscheidung zwischen These und Hypothese in Cic. top. vgl. Riposati (1947) 161– 204. Zur (kaum entscheidbaren) Frage, ob die Person das entscheidende Differenzkriterium zwischen These und Hypothese ist bzw. welche Peristasen der These gegenüber der Hypothese fehlen, vgl. Hermagoras fr. 6e Matthes (1962) 11 f.; Matthes (1958) 125 – 129.

2

Einleitung

Catoni uxor ducenda), handelt es sich, da eine bestimmte Person angegeben ist, um eine Hypothese – genauer gesagt: um eine Suasorie.³ Die allgemein gehaltene These war Bestandteil der Progymnasmata, die auf die Deklamation vorbereiteten.⁴ Die Hypothesen wurden anhand der genera causarum in drei Arten unterteilt: in das genus iudiciale, das genus deliberativum und das genus demonstrativum. ⁵ Zusätzlich hierzu muss jeweils zwischen den wirklichen Reden (orationes), die vornehmlich im Senat oder auf dem Forum gehalten wurden, und den fiktionalen Reden unterschieden werden:⁶ Die controversia ist die fiktionale Gerichtsrede. Die suasoria, die als leichter als die controversia galt und folglich vor ihr geübt wurde,⁷ ist die fiktionale Beratungsrede, in der einer mythischen oder historischen Person zu etwas geraten oder von etwas abgeraten wird, was in der Zukunft liegt. Ihre Aufgabe besteht also im suadere bzw. im dissuadere. ⁸ Diese beiden Typen der fiktionalen Rede wurden als

3 Vgl. Quint. inst. 3,5,8. Die Frage nach der Heirat ist in den Progymnasmata-Handbüchern das Standardbeispiel für die These; vgl. Quint. inst. 2,4,25; Theon RhG II p. 120 Spengel (p. 82 Patillon / Bolognesi [1997]); Hermogenes RhG II p. 17 Spengel; Aphthonios RhG II p. 49 Spengel; Nikolaos RhG III p. 494 Spengel = RhG XI p. 71 Felten; Priscian, Praeexercitamina p. 47 Passalacqua (1987). 4 Vgl. Quint. inst. 2,4,24 f.; Theon RhG II p. 120 – 128 Spengel (p. 82– 94 Patillon / Bolognesi [1997]); Hermogenes RhG II p. 17 f. Spengel; Aphthonios RhG II p. 49 – 53 Spengel; Nikolaos RhG III p. 493 – 497 Spengel = RhG XI p. 71– 76 Felten; Priscian, Praeexercitamina p. 47 f. Passalacqua (1987); vgl. auch Kennedy (2003) XIII. Zu den Progymnasmata allgemein vgl. Kraus (1996) 80 und (2005) 159 – 164. 5 Vgl. Cic. inv. 1,7: Aristoteles autem, qui huic arti plurima adiumenta atque ornamenta subministravit, tribus in generibus rerum versari rhetoris officium putavit, demonstrativo, deliberativo, iudiciali; Arist. rhet. 1358b. 6 Das Verhältnis zwischen Fiktion und historischer Realität bei den Deklamationen ist komplex. Hierbei müssen zumindest zwei Aspekte unterschieden werden, nämlich das Thema der Deklamation (evtl. auch das Gesetz, unter dem eine Kontroversie verhandelt wird) und die Situation des Redenden. Mit Bezug auf das Thema (und das Gesetz) der Deklamation muss in jedem Einzelfall überprüft werden, welcher Fiktionalisierungsgrad vorliegt. Drei Möglichkeiten kommen hierbei in Betracht, wobei (1) und (2) Extreme sind: (1) Das Thema ist streng historisch; (2) Das Thema ist eine freie Erfindung; (3) Es liegt eine Vermischung aus historischen Tatsachen und deklamatorischer Fiktion vor. Im Fall der Suasorien des älteren Seneca liegt ausnahmslos die dritte Möglichkeit vor (s. den Kommentar jeweils zum Thema). Hinsichtlich der Situation des Redenden ist jede Deklamation eine Fiktion, da sich der Deklamator zu Übungszwecken oder zur Unterhaltung in eine nicht aktuelle, vielleicht sogar nicht einmal historische Situation hineinversetzt. Zum fiktionalen Aspekt der Deklamation vgl. die Studie von Mal-Maeder (2007). 7 Vgl. Tac. dial. 35,4. 8 Vgl. Quint. inst. 3,8,6.

1 Die Suasorie

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Deklamation (declamatio) angesehen.⁹ Die fiktionale Rede im genus demonstrativum, d. h. die fiktionale Lob- oder Tadelrede, galt nicht als Deklamation, sondern wurde ebenso wie die These innerhalb des Schulcurriculums den Progymnasmata zugewiesen.¹⁰ (2) Im gesellschaftlichen Leben Roms lassen sich drei verschiedene Funktionen der Suasorie bzw. der Deklamation unterscheiden:¹¹ Zum einen war die Deklamation eine Übungsform (exercitatio) innerhalb des rhetorischen Studiums. Hierbei handelt es sich um die Schuldeklamation. Die Deklamation wurde aber auch von bereits ausgebildeten Rednern gepflegt, und zwar allein oder im kleineren privaten Kreis. Dann erfüllte die Deklamation entweder weiterhin die Funktion der Übung, oder sie diente der Unterhaltung. Diese Form der Deklamation könnte man als ‘Hobbydeklamation’ bezeichnen. Ausschließlich der Unterhaltung diente die Deklamation vor einem größeren Publikum. Hierbei handelt es sich um die Schaudeklamation.¹² In allen ihren Funktionen ist die Deklamation üblicherweise in Prosa verfasst.¹³

9 Dies geht aus den erhaltenen Deklamationssammlungen hervor: aus der Sammlung des älteren Seneca, den (Pseudo‐)Quintilianischen Deklamationen und der Sammlung des Calpurnius Flaccus; vgl. ferner Quint. inst. 2,1,2: illi [sc. rhetores] declamare modo et scientiam declamandi ac facultatem tradere officii sui ducunt idque intra deliberativas iudicialisque materias; 2,10,1; Tac. dial. 35,4: nempe enim duo genera materiarum apud rhetoras tractantur, suasoriae et controversiae. Auch in Griechenland scheint die Schuldeklamation auf die fiktionalen Übungsreden aus dem genus deliberativum und dem genus iudiciale beschränkt gewesen zu sein; vgl. Theon RhG II p. 59 Spengel (p. 1 Patillon / Bolognesi [1997]): νῦν δὲ οἱ πλείους τοσοῦτον δέουσι τῶν τοιούτων λόγων ἐπαΐειν, ὥστε οὐδὲ τῶν ἐγκυκλίων καλουμένων μαθημάτων ὁτιοῦν μεταλαμβάνοντες ᾄττουσιν ἐπὶ τὸ λέγειν, καὶ τὸ πάντων ἀγροικότατον, ὅτι οὐδὲ οἷς προσῆκόν ἐστιν ἐγγυμνασάμενοι, ἐπὶ τὰς δικανικὰς καὶ δημηγορικὰς ἴενται ὑποθέσεις. 10 Vgl. Quint. inst. 2,4,20; Theon RhG II p. 109 – 112 Spengel (p. 74– 78 Patillon / Bolognesi [1997]); Hermogenes RhG II p. 11– 14 Spengel; Aphthonios RhG II p. 35 – 42 Spengel; Nikolaos RhG III p. 477– 485 Spengel = RhG XI p. 47– 58 Felten; Priscian, Praeexercitamina p. 42– 44 Passalacqua (1987); vgl. auch Kennedy (2003) XIII. 11 Zur historischen Entwicklung der verschiedenen Funktionen der Deklamation s. das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“. Die Begriffe „Schuldeklamation“, „Schaudeklamation“ und „Hobbydeklamation“ sind etablierte Termini in der Forschungsliteratur; vgl. z. B. Hömke (2002) 16; 21– 29; 67. 12 Für die Unterscheidung zwischen der Übungs- und der Schaudeklamation vgl. contr. 9 praef. 1: Montanus Votienus adeo numquam ostentationis declamavit causa, ut ne exercitationis quidem declamaverit. Zur Schaudeklamation vgl. Hömke (2002) 83 – 87 und (2007). 13 Es gibt auch Versdeklamationen. Vgl. den Exkurs zu Dracontius’ Verssuasorie in unserem Überblick über die antike Suasorie.

4

Einleitung

Als Schulübung lag die Deklamation in der Zuständigkeit des Rhetors. Teilweise haben aber schon die grammatici ihre Schüler in der Suasorie geübt. Dies geht aus dem Anfang des zweiten Buches der Institutio oratoria hervor:¹⁴ Tenuit consuetudo, quae cotidie magis invalescit, ut praeceptoribus eloquentiae, Latinis quidem semper, sed etiam Graecis interim, discipuli serius quam ratio postulat traderentur. Eius rei duplex causa est, quod et rhetores utique nostri suas partis omiserunt et grammatici alienas occupaverunt. Nam et illi declamare modo et scientiam declamandi ac facultatem tradere officii sui ducunt idque intra deliberativas iudicialisque materias (nam cetera ut professione sua minora despiciunt), et hi non satis credunt excepisse quae relicta erant (quo nomine gratia quoque iis habenda est), sed ad †prosopopoeias usque ad suasorias†, in quibus onus dicendi vel maximum est, inrumpunt. Hinc ergo accidit ut quae alterius artis prima erant opera facta sint alterius novissima, et aetas altioribus iam disciplinis debita in schola minore subsidat ac rhetoricen apud grammaticos exerceat. Ita, quod est maxime ridiculum, non ante ad declamandi magistrum mittendus videtur puer quam declamare sciat.

An dieser Stelle ist der entscheidende Satz ([sc. grammatici] ad †prosopopoeias usque ad suasorias† […] inrumpunt) textkritisch umstritten. Reinhardt und Winterbottom, die Cruces setzen, diskutieren diesen Satz ausführlich und referieren mehrere Heilungsversuche.¹⁵ Wir sehen aber keinen Anlass, an der Überlieferung zu zweifeln: Quintilian kritisiert, dass einige grammatici bis zu den Prosopopoiien, ja sogar bis zu den Suasorien vordringen. Ob sich der Relativsatz in quibus onus dicendi vel maximum est grammatikalisch auf die Prosopopoiien und die Suasorien oder nur die Suasorien bezieht, ist irrelevant. Für beide Übungen gilt, dass sie für den Unterricht des grammaticus, in dem die leichteren Progymnasmata behandelt werden sollen, zu schwer sind.¹⁶ Die umstrittene Stoffverteilung zwischen grammaticus und Rhetor wird auch an der folgenden Stelle deutlich:¹⁷ si grammatices munus usque ad suasorias prorogatur, tardius rhetore opus est; at si rhetor prima officia operis sui non recusat, a narrationibus statim et laudandi vituperandique opusculis cura eius desideratur.

14 Quint. inst. 2,1,1– 3 nach Reinhardt / Winterbottom (2006) 1. 15 Vgl. Reinhardt / Winterbottom (2006) 40 – 42 ad loc. Neben anderen Heilungsversuchen wurden folgende drei Athetesen vorgeschlagen: (1) ad prosopopoeias usque [ad suasorias]; (2) [ad prosopopoeias] usque ad suasorias; (3) ad prosopopoeias usque [ad] suasorias. 16 Quintilian betrachtet die Prosopopoiien und Suasorien hier offensichtlich als separate Übungen in ihrer traditionellen Reihenfolge (die Suasorie folgt auf die Progymnasmata, zu denen die Prosopopoiie gehört; die Prosopopoiie gilt als schwieriges Progymnasma). Wenn er im dritten Buch die Prosopopoiie der Suasorie unterordnet (s. S. 5 f.), handelt es sich dezidiert um eine individuelle Entscheidung (inst. 3,8,52): quam [sc. prosopopoeiam] ego suasoriis subieci. 17 Quint. inst. 2,1,8.

1 Die Suasorie

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Einige grammatici behandeln sogar die Suasorie, woraus zu verstehen ist, dass sie ihre Schüler in sämtlichen Progymnasmata sowie in der Suasorie üben. Die Kontroversie hingegen scheint unumstrittener Bestandteil der Ausbildung beim Rhetor zu sein.¹⁸ (3) Die Deklamatoren, die eine Suasorie halten, haben zwei Möglichkeiten, ihre Rolle auszufüllen: Entweder versetzen sie sich in die Rolle eines unbestimmten Ratgebers derjenigen historischen oder mythischen Person, die eine Entscheidung treffen muss. Dies ist der Regelfall in den vom älteren Seneca überlieferten Suasorien (z. B. sprechen die Deklamatoren in der ersten Suasorie, in der Alexander überlegt, ob er den Ozean durchqueren soll, aus der Sicht eines Ratgebers). Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Deklamatoren die Person selbst personifizieren, die etwas überlegt, und in der ersten Person sprechen, wie es einige in der Agamemnon-Suasorie (suas. 3) tun und wie es in griechischen Suasorien vorkommt.¹⁹ Dann liegt eine Kombination aus der Suasorie und der Prosopopoiie bzw. Ethopoiie vor.²⁰ Die Prosopopoiie wurde im antiken Schulcurriculum zumeist den Progymnasmata zugewiesen.²¹ Eine Sonderstellung nimmt Quintilian ein. Er behandelt die Prosopopoiie derart, dass man bei ihm die theoretische Begründung für das bei Seneca d.Ä. vorliegende Phänomen gesehen hat,²² dass Deklamatoren aus der Sicht der überlegenden Person sprechen:²³ Quae omnia [sc. die Personifizierung verschiedener Charaktere] possunt videri prosopopoeiae, quam ego suasoriis subieci quia nullo alio ab his quam persona distat.

18 Sonst würde es nicht heißen tardius rhetore opus est, sondern rhetore opus non est. 19 Zur dritten Suasorie vgl. z. B. Argentarius in § 2: iterum in malum familiae nostrae fatale revolvimur: propter adulteram fratris liberi pereunt; s. das Kapitel „Prosopopoiie“ in der Einleitung zur dritten Suasorie. Zu den griechischen Suasorien vgl. unseren Überblick über die antike Suasorie. 20 Wie Quintilian (inst. 9,2,29 – 37) und Theon (RhG II p. 115 – 118 Spengel; p. 70 – 73 Patillon / Bolognesi [1997]) unterscheiden wir nicht zwischen Prosopopoiie und Ethopoiie. Andere Rhetoren unterscheiden zwischen diesen beiden Phänomenen, indem in der Prosopopoiie Dinge und Tote reden, in der Ethopoiie hingegen historische, mythische oder erfundene Personen (vgl. die Quint. inst. 9,2,31 referierte Gegenmeinung; Hermogenes RhG II p. 15 Spengel; Aphthonios RhG II p. 44 f. Spengel; Aquila RhLM p. 23 f. Halm). Zur Prosopopoiie vgl. Heusch (2005); Ventrella (2005); Pérez Custodio (1994/1995); Hagen (1966). 21 Vgl. Suet. gramm. 4,5; Theon RhG II p. 115 – 118 Spengel (p. 70 – 73 Patillon / Bolognesi [1997]); Hermogenes RhG II p. 15 f. Spengel; Aphthonios RhG II p. 44– 46 Spengel; Nikolaos RhG III p. 488 – 491 Spengel = RhG XI p. 63 – 67 Felten; Priscian, Praeexercitamina p. 45 f. Passalacqua (1987); vgl. auch Kennedy (2003) XIII. 22 Vgl. Winterbottom (1980) 52. 23 Quint. inst. 3,8,52.

6

Einleitung

Quintilian erörtert also die Prosopopoiie als eine Form der Suasorie (SuasorienProsopopoiie).²⁴ Er begründet diese Entscheidung mit dem Schwierigkeitsgrad: Zusätzlich zu den Anforderungen der Suasorie tritt bei der Prosopopoiie die Schwierigkeit hinzu, eine bestimmte Person nachzuahmen. Allerdings hat Quintilian eine andere Form der Suasorien-Prosopopoiie im Blick als diejenige, von der die Deklamatoren in der dritten Suasorie des älteren Seneca Gebrauch machen, wie aus folgender Stelle deutlich wird:²⁵ longe mihi difficillimae videntur prosopopoeiae, in quibus ad relicum suasoriae laborem accedit etiam personae difficultas: namque idem illud aliter Caesar, aliter Cicero, aliter Cato suadere debebit.

Denn die von Quintilian beschriebene Prosopopoiie erfolgt in der Form, dass eine bestimmte Person (z. B. Cicero) einer anderen Person einen Rat gibt (suadere), und nicht derart, dass der Überlegende selbst personifiziert wird und das Ergebnis seiner Überlegung mitteilt. Trotzdem ist aufgrund von Quintilians Erörterungen nachvollziehbar, dass in Suasorien auch aus der Perspektive der überlegenden Person selbst gesprochen werden kann, da die Personifizierung als Steigerung der Schwierigkeit angesehen wird. Die Entscheidung, entweder in der Rolle eines unbestimmten Ratgebers oder in der Rolle der überlegenden Person selbst zu sprechen, hat allem Anschein nach jeder Deklamator individuell getroffen. Mit Blick auf die Kontroversien, in denen zumeist ein Menschentypus personifiziert wird, geht dies aus folgendem Zeugnis hervor:²⁶ in plerisque controversiis plerumque hoc quaerere solemus, utrum ipsorum persona utamur ad dicendum, an advocati: vel propter sexum, sicut in feminis, vel propter aliquam alioqui vitae vel ipsius, de quo quaeritur, facti deformitatem.

24 Gleichzeitig gibt er zu erkennen, dass die Prosopopoiie auch eine Form der historischen Kontroversie sein kann; vgl. inst. 3,8,52: quamquam haec [sc. prosopopoeia] aliquando etiam in controversias ducitur quae ex historiis compositae certis agentium nominibus continentur. In den nicht-historischen Kontroversien ist die Personifizierung eines Menschentypus die Regel (es liegt also keine Prosopopoiie im strengen Sinn vor); vgl. ib. 51: praecipue declamatoribus considerandum est quid cuique personae conveniat, qui paucissimas controversias ita dicunt ut advocati: plerumque filii patres divites senes asperi lenes avari, denique superstitiosi timidi derisores fiunt, ut vix comoediarum actoribus plures habitus in pronuntiando concipiendi sint quam his in dicendo. 25 Quint. inst. 3,8,49. 26 Quint. decl. 260,1.

2 Die Geschichte der Deklamation

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Analog ist davon auszugehen, dass auch bei den Suasorien die Deklamatoren individuell entschieden haben, aus der Sicht eines unbestimmten Ratgebers oder durch Personifizierung der überlegenden Person selbst zu sprechen.²⁷

2 Die Geschichte der Deklamation Seneca d.Ä. stellt die Geschichte der Deklamation in der Praefatio zum ersten Kontroversienbuch folgendermaßen dar:²⁸ Declamabat autem Cicero non quales nunc controversias dicimus, ne tales quidem quales ante Ciceronem dicebantur, quas thesis vocabant. hoc enim genus materiae, quo nos exercemur, adeo novum est, ut nomen quoque eius novum sit. controversias nos dicimus: Cicero causas vocabat. hoc vero alterum nomem Graecum quidem, sed in Latinum ita translatum, ut pro Latino sit, ‘scholastica’, controversia multo recentius est, sicut ipsa ‘declamatio’ apud nullum antiquum auctorem ante Ciceronem et Calvum inveniri potest, qui declamationem distinguit; ait enim declamare iam se non mediocriter, dicere bene; alterum putat domesticae exercitationis esse, alterum verae actionis. modo nomen hoc prodiit, nam et studium ipsum nuper celebrari coepit. ideo facile est mihi ab incunabulis nosse rem post me natam.

Diese Stelle ist von der modernen Forschung mehrfach analysiert und als problematisch erwiesen worden.²⁹ Als unbestrittene Tatsache darf gelten, dass Seneca d.Ä. an dieser Stelle drei Etappen in der Entwicklung der Deklamation unterscheidet.³⁰ Diese drei Etappen ergeben sich dadurch, dass Ciceros Zeit von einer vor-Ciceronischen und einer nach-Ciceronischen Phase unterschieden wird, woraus ersichtlich ist, dass Cicero für Seneca d.Ä. die zentrale Figur der römischen Rhetorik ist: (1) In der vor-Ciceronischen Zeit wurden Thesen³¹ behandelt.³²

27 Möglich ist auch Fairweathers (1981) 152 Meinung, dass die Schultradition hierüber entschieden hat. 28 Contr. 1 praef. 12. Seit Müller (1887) 7 lesen die Herausgeber den Relativsatz [sc. Calvus] qui declamationem 〈a dictione〉 distinguit mit Gertz’ Supplierung a dictione; s. die Diskussion (S. 35). 29 Zu dieser Stelle bzw. zur Entwicklung der Deklamation bzw. der These bzw. der Hypothese vgl. v. a. Throm (1932); Hofrichter (1935) 1– 15; Bonner (1949) 1– 26; Clarke (1951); Jenkinson (1955); Turner (1972), v. a. 199 – 203; Schmidt (1975); Sussman (1978) 4– 10; Fairweather (1981) 104– 131 und (1984) 543 – 550; Sandstede (1994); Hömke (2002) 10 – 29; Stroh (2003); Migliario (2007) 33 – 45; Berti (2007) 110 – 114; Veit (2009). Zur Entstehung der griechischen Deklamation vgl. Russell (1983) 1– 20. 30 Vgl. Sussman (1978) 6; Fairweather (1981) 116; Hömke (2002) 11; Berti (2007) 111. 31 Zur These als Gegenbegriff zur Hypothese s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 1 f. 32 Vgl. auch die folgende Aussage über Aischines (contr. 1,8,16): Aeschines non ille orator (tunc enim non declamandi studium erat) sed hic ex declamatoribus novis dixit […].

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Einleitung

(2) In der Zeit Ciceros wurden causae deklamiert. (3) Schließlich hat sich die controversia, die auch scholastica genannt wird, herausgebildet. Hierbei handelt es sich um die nach-Ciceronische Phase bzw. um die Lebenszeit des älteren Seneca, da er die Deklamation als res post me nata bezeichnet. Die Forscher sind sich im Ergebnis darüber einig, dass Seneca d.Ä. der Sache nach eine inadäquate Geschichte der Deklamation darstellt, während die terminologischen Beobachtungen zuzutreffen scheinen.³³ Die Kritik an der Darstellung des älteren Seneca richtet sich maßgeblich gegen zwei Punkte: Zum einen sei es falsch, dass Cicero keine Thesen deklamiert habe.³⁴ Denn gegen diese Behauptung lassen sich Belege anführen, die das Gegenteil darlegen.³⁵ Zum anderen könne nicht die Rede davon sein, dass die Kontroversie ein nach-Ciceronisches Phänomen sei.³⁶ Denn auch gegen diese Behauptung lassen sich Belege anführen, die das Gegenteil zeigen. Obendrein bezeugt Seneca d.Ä. selbst an einer anderen Stelle, dass Cicero eine Kontroversie deklamiert hat.³⁷ Es erheben sich aber Zweifel an den Einwänden, die gegen den historischen Abriss des älteren Seneca erhoben wurden. Denn wenn die Kritik der Forscher zutreffen würde, würde sich Seneca d.Ä. widersprechen. Wir gehen daher im Folgenden der Frage nach, ob sich die zitierte Stelle auch so verstehen lässt, dass sich kein Widerspruch ergibt. Der Schlüssel zu einer Neuinterpretation scheint uns darin zu liegen, dass man die verschiedenen Funktionen der Deklamation (Schul-, Hobby- und Schaudeklamation) unterscheidet.³⁸ Dabei wird sich herausstellen, dass die Aussagen des älteren Seneca im Großen und Ganzen zutreffen. Um diesen Nachweis zu leisten, behandeln wir nacheinander die drei von Seneca d.Ä. unterschiedenen Phasen (1– 3), und zwar sowohl (a) mit Blick auf die historische Entwicklung der Phänomene als auch (b) mit Blick auf die Terminologie.

33 Vgl. z. B. Fairweather (1981) 129: „Contr. I pr. 12 presents sound lexicographical material, but this is set within a distorted picture of the whole development of Roman declamation.“ 34 Vgl. z. B. Fairweather (1981) 119: „Seneca’s flat denial in Contr. I pr. 12 that Cicero did not declaim the kind of exercises called theses is therefore one of his most unfortunate errors.“ 35 Vgl. z. B. Cic. Att. 9,4; s. S. 17 f. 36 Vgl. z. B. Fairweather (1981) 119: „Seneca was wrong in suggesting that the controversia was a type of exercise as novel as its newly coined name.“ 37 Vgl. contr. 1,4,7: Color pro adulescente unus ab omnibus, qui declamaverunt, introductus est: non potui occidere, ex illa Ciceronis sententia tractus, quam in simili controversia dixit, cum abdicaretur is, qui adulteram matrem occidendam acceperat et dimiserat: ter non ***. Zum Deklamator Cicero vgl. Berti (2009). 38 Zu den Funktionen der Deklamation s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 3.

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(1a) Die Übung der These lässt sich bis in das fünfte Jahrhundert v.Chr. zurückverfolgen.³⁹ Diogenes Laertios zufolge hat Protagoras die Thesen als dialektische Übungen eingeführt.⁴⁰ Schon damals war es offensichtlich ein Merkmal der These, das Pro und Contra eines Sachverhaltes zu erwägen (in utramque partem disserere).⁴¹ In Platons Phaidros wird eine These zitiert, die Lysias zugesprochen wird; ihr Thema lautet: ὡς χαριστέον μὴ ἐρῶντι μᾶλλον ἢ ἐρῶντι.⁴² Vor allem aber blühte die These im Peripatos auf.⁴³ Wie wir von Diogenes Laertios erfahren, hat Aristoteles folgende Arten von Thesen verfasst: θέσεις ἐπιχειρηματικαί, θέσεις ἐρωτικαί, θέσεις φιλικαί, θέσεις περὶ ψυχῆς und θέσεις πολιτικαί.⁴⁴ Auch für seinen Schüler Theophrast sind zahlreiche Thesen bezeugt.⁴⁵ Aristoteles hat die These sicherlich auch zu Unterrichtszwecken eingesetzt. Dies bezeugt zumindest Cicero, für den die These untrennbar mit Aristoteles’ Name verbunden ist, und zwar als rhetorische, nicht als philosophische Übung:⁴⁶ haec igitur quaestio a propriis personis et temporibus ad universi generis rationem traducta appellatur thesis. In hac Aristoteles adulescentis non ad philosophorum morem tenuiter

39 Vgl. z. B. Fairweather (1981) 105. 40 Vgl. Diog. Laert. 9,53: πρῶτος κατέδειξε τὰς πρὸς τὰς θέσεις ἐπιχειρήσεις. 41 Vgl. Diog. Laert. 9,51; Sen. epist. 88,43; Throm (1932) 166. 42 Vgl. Plat. Phaedr. 227c; 230e-234c. 43 Zur These im Peripatos vgl. Throm (1932) 171– 179. 44 Vgl. Diog. Laert. 5,24; s. aber S. 15 f. 45 Vgl. Throm (1932) 172. Zu Aristoteles und Theophrast vgl. Theon RhG II p. 69 Spengel (p. 13 Patillon / Bolognesi [1997]): παραδείγματα δὲ τῆς τῶν θέσεων γυμνασίας λαβεῖν ἔστι παρά τε Ἀριστοτέλους καὶ Θεοφράστου· πολλὰ γάρ ἐστιν αὐτῶν βιβλία θέσεων ἐπιγραφόμενα; s. aber S. 15 f. 46 Cic. orat. 46; vgl. auch de orat. 3,80: sin aliquis exstiterit aliquando, qui Aristotelio more de omnibus rebus in utramque partem possit dicere et in omni causa duas contrarias orationes […] explicare […] is sit verus, is perfectus, is solus orator. Zu Aristoteles als Rhetoriklehrer vgl. auch de orat. 3,141: ipse Aristoteles cum florere Isocraten nobilitate discipulorum videret, quod suas disputationes a causis forensibus et civilibus ad inanem sermonis elegantiam transtulisset, mutavit repente totam formam prope disciplinae suae versumque quendam de Philocteta paulo secus dixit. ille enim turpe sibi ait esse tacere, cum barbaros, hic autem, cum Isocraten pateretur dicere. itaque ornavit et inlustravit doctrinam illam omnem rerumque cognitionem cum orationis exercitatione coniunxit. neque vero hoc fugit sapientissimum regem Philippum, qui hunc Alexandro filio doctorem accierit, a quo eodem ille et agendi acciperet praecepta et eloquendi; Tusc. 1,7: ut Aristoteles, vir summo ingenio, scientia, copia, cum motus esset Isocratis rhetoris gloria, dicere docere etiam coepit adulescentes et prudentiam cum eloquentia iungere, sic nobis placet nec pristinum dicendi studium deponere et in hac maiore et uberiore arte versari; Quint. inst. 3,1,14: et Isocratis praestantissimi discipuli fuerunt in omni studiorum genere, eoque iam seniore (octavum enim et nonagesimum implevit annum) postmeridianis scholis Aristoteles praecipere artem oratoriam coepit, noto quidem illo, ut traditur, versu ex Philocteta frequenter usus: „turpe esse tacere et Isocraten pati dicere“.

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disserendi, sed ad copiam rhetorum in utramque partem, ut ornatius et uberius dici posset, exercuit; idemque locos – sic enim appellat – quasi argumentorum notas tradidit unde omnis in utramque partem traheretur oratio.

An anderer Stelle wird sogar noch deutlicher, dass Aristoteles für Cicero, wenn auch nicht der primus inventor, so doch die maßgebliche Person ist, die die These etabliert hat:⁴⁷ Disserendique ab isdem [sc. Aristotele et Theophrasto] non dialectice solum, sed etiam oratorie praecepta sunt tradita, ab Aristoteleque principe de singulis rebus in utramque partem dicendi exercitatio est instituta.

Die Übung der These in utramque partem hat bei den Peripatetikern eine lange Tradition entwickelt und wurde später auch in der Akademie gepflegt, wie wir einer Stelle aus De oratore entnehmen können:⁴⁸ Quae exercitatio [sc. in qua de universo genere in utramque partem disseri copiose licet] nunc propria duarum philosophiarum, de quibus ante dixi, putatur, apud antiquos erat eorum, a quibus omnis de rebus forensibus dicendi ratio et copia petebatur.

Die These wurde also ohne jeden Zweifel in vor-Ciceronischer Zeit gepflegt. Allerdings hat die Forschung zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich in vorCiceronischer Zeit auch schon fiktionale Reden in Form von Hypothesen ausfindig machen lassen.⁴⁹ Schon Gorgias’ Helena und Palamedes sind als frühe Beispiele dieser Gattung anzusehen. Auch bei Antiphons Tetralogien handelt es sich zweifellos um fiktionale Hypothesen im genus iudiciale, also um Kontroversien. In ihnen wird in je zwei Reden die Anklage und die Verteidigung eines Falles übernommen. Ferner ist Polybios’ Kritik an Timaios zu entnehmen, dass Prosopopoiien oder sogar Suasorien im Rhetorikunterricht seiner Zeit geübt wurden. Denn mit Bezug auf Timaios’ Figurenreden, und zwar insbesondere auf τὰς δημηγορίας καὶ τὰς παρακλήσεις, ἔτι δὲ τοὺς πρεσβευτικοὺς λόγους, gelangt Polybios zu folgendem Urteil:⁵⁰

47 Cic. fin. 5,10; vgl. auch Tusc. 2,9: Itaque mihi semper Peripateticorum Academiaeque consuetudo de omnibus rebus in contrarias partis disserendi non ob eam causam solum placuit, quod aliter non posset quid in quaque re veri simile esset inveniri, sed etiam quod esset ea maxima dicendi exercitatio. Qua princeps usus est Aristoteles, deinde eum qui secuti sunt. 48 Cic. de orat. 3,107; vgl. auch Tusc. 2,9 (s. die vorige Fußnote). Zur These in der Akademie vgl. Throm (1932) 179 – 183. 49 Vgl. z. B. Fairweather (1984) 544– 547; Hömke (2002) 13. 50 Polyb. 12,25a,3 – 5; Zitat in § 5.

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οὐ γὰρ τὰ ῥηθέντα γέγραφεν, οὐδ’ ὡς ἐρρήθη κατ’ ἀλήθειαν, ἀλλὰ προθέμενος ὡς δεῖ ῥηθῆναι, πάντας ἐξαριθμεῖται τοὺς ῥηθέντας λόγους καὶ τὰ παρεπόμενα τοῖς πράγμασιν οὕτως ὡς ἂν εἴ τις ἐν διατριβῇ πρὸς ὑπόθεσιν ἐπιχειροίη *** ὥσπερ ἀπόδειξιν τῆς ἑαυτοῦ δυνάμεως ποιούμενος, ἀλλ’ οὐκ ἐξήγησιν τῶν κατ’ ἀλήθειαν εἰρημένων. Denn er [sc. Timaios] hat nicht niedergeschrieben, was gesagt worden ist, und nicht, wie es wirklich gesagt worden ist, sondern, indem er schildert, wie es hätte gesagt werden müssen, stellt er alle Figurenreden und das, was auf die Ereignisse folgt, so dar wie jemand, der in der Schule über ein vorgegebenes Thema zu sprechen versucht, *** wobei er seine rednerische Fähigkeit zeigt, aber nicht erzählt, was wirklich gesagt worden ist.

Die Tatsache, dass sich schon in vor-Ciceronischer Zeit Hypothesen finden lassen, zeigt sich außerdem daran, dass uns auf einem Papyrus aus dem dritten Jahrhundert v.Chr. eine Antwortrede auf Demosthenes’ Rede gegen Leptines (or. 20) erhalten ist.⁵¹ Aus der Antike sind uns zwei Zeugnisse erhalten, die über die Einführung bzw. die Etablierung der Hypothese Aufschluss geben. Beide Zeugnisse stimmen darin überein, dass es sich um ein Phänomen aus dem späten vierten Jahrhundert v.Chr. handelt. Quintilian führt die Einführung der Hypothese ungefähr in die Zeit des Demetrios von Phaleron zurück, ohne diesen zweifelsfrei als Erfinder anzusehen:⁵² fictas ad imitationem fori consiliorumque materias apud Graecos dicere circa Demetrium Phalerea institutum fere constat. An ab ipso id genus exercitationis sit inventum, ut alio quoque libro sum confessus, parum comperi: sed ne ii quidem qui hoc fortissime adfirmant ullo satis idoneo auctore nituntur.

Philostrat verknüpft die Hypothese mit Aischines:⁵³ Ἡ μὲν δὴ ἀρχαία σοφιστικὴ καὶ τὰ φιλοσοφούμενα ὑποτιθεμένη διῄει αὐτὰ ἀποτάδην καὶ ἐς μῆκος, διελέγετο μὲν γὰρ περὶ ἀνδρείας, διελέγετο δὲ περὶ δικαιότητος, ἡρώων τε πέρι καὶ θεῶν καὶ ὅπη ἀπεσχημάτισται ἡ ἰδέα τοῦ κόσμου. ἡ δὲ μετ’ ἐκείνην, ἣν οὐχὶ νέαν, ἀρχαία γάρ, δευτέραν δὲ μᾶλλον προσρητέον, τοὺς πένητας ὑπετυπώσατο καὶ τοὺς πλουσίους καὶ τοὺς ἀριστέας καὶ τοὺς τυράννους καὶ τὰς ἐς ὄνομα ὑποθέσεις, ἐφ’ ἃς ἡ ἱστορία ἄγει. ἦρξε δὲ τῆς μὲν ἀρχαιοτέρας Γοργίας ὁ Λεοντῖνος ἐν Θετταλοῖς, τῆς δὲ δευτέρας Αἰσχίνης ὁ Ἀτρομήτου τῶν μὲν Ἀθήνησι πολιτικῶν ἐκπεσών, Καρίᾳ δὲ ἐνομιλήσας καὶ Ῥόδῳ, καὶ μετεχειρίζοντο τὰς ὑποθέσεις οἱ μὲν κατὰ τέχνην, οἱ δὲ ἀπὸ Γοργίου κατὰ τὸ δόξαν. Die alte Sophistik, die sich philosophische Themen gestellt hat, erörterte diese Themen lang und breit; sie diskutierte nämlich über die Tüchtigkeit, über die Gerechtigkeit, über die

51 Vgl. Berl. Pap. P. 9781 bei Kunst (1923) 4– 13. 52 Quint. inst. 2,4,41 f. Vgl. hierzu Heldmann (1982) 119 f. 53 Vit. soph. I 481.

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Heroen und Götter und darüber, wie das Universum seine Gestalt angenommen hat. Die Sophistik nach ihr, die man nicht neue Sophistik – sie ist nämlich alt –, sondern zweite Sophistik nennen sollte, hat die Typen des Armen, des Reichen, des Helden und des Tyrannen und die Themen hervorgebracht, die historisch überlieferte Namen enthalten. Die ältere Sophistik hat Gorgias aus Leontini in Thessalien begründet, die zweite Aischines, der Sohn des Atrometos, nachdem er aus dem politischen Betrieb in Athen ausgeschlossen worden war und sich in Karien und auf Rhodos eingerichtet hatte. Aischines’ Schüler behandelten die Themen gemäß theoretischer Instruktion, Gorgias’ Schüler nach eigenem Ermessen.

Philostrat zufolge hat also Aischines die zweite Sophistik gegründet, nachdem er aus Athen vertrieben worden war (330 v.Chr.). Als charakteristisches Merkmal der zweiten Sophistik wird die Behandlung von Hypothesen unter Verwendung von standardisierten Typen (z. B. der Arme, der Reiche, der Held, der Tyrann) genannt, wohingegen die erste Sophistik durch die Behandlung von Thesen charakterisiert wird. Auch wenn Philostrat nicht davon spricht, dass Aischines die Hypothese als Neuerung eingeführt habe, lässt sich feststellen, dass Quintilian und Philostrat die Übung in der Hypothese nahezu übereinstimmend auf das späte vierte Jahrhundert v.Chr. zurückführen. Wie verhalten sich nun die Zeugnisse von Quintilian und Philostrat, die die Hypothese mit Demetrios von Phaleron bzw. Aischines verbinden, zu der Tatsache, dass sich schon frühere Beispiele für Kontroversien anführen lassen? Und wie ist die Aussage des älteren Seneca zu erklären, dass in der vor-Ciceronischen Zeit Thesen geübt wurden, woraus unweigerlich zu verstehen ist, dass Hypothesen noch nicht deklamiert wurden? Quintilians und Philostrats Zeugnisse wird man vielleicht so verstehen, dass die Hypothese im späten vierten Jahrhundert v.Chr. einen festen Platz im rhetorischen Schulunterricht gewonnen hat, der in der Folge nicht mehr in Frage gestellt wurde. Mit anderen Worten: Am Anfang, spätestens im Verlauf des Hellenismus hat sich die Hypothese vermutlich als die zentrale Übungsform im Rhetorikunterricht etabliert und wurde vielleicht auch in Form der Schaudeklamation praktiziert. Dann würden Quintilian und Philostrat mit Demetrios von Phaleron bzw. Aischines nicht den primus inventor im strengen Sinne angeben, sondern diejenigen Personen, die der Hypothese im Schulunterricht zum Durchbruch verholfen haben. Dies wäre insofern nicht ungewöhnlich, als Cicero – wie wir gesehen haben – die These untrennbar mit Aristoteles’ Name verknüpft und ihn in dieser Hinsicht als princeps bezeichnet, obwohl festzustehen scheint, dass Protagoras die These eingeführt hat.⁵⁴

54 Vgl. Quint. inst. 2,4,41: fictas ad imitationem fori consiliorumque materias apud Graecos dicere

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Das Bild, das Seneca d.Ä.von der vor-Ciceronischen Zeit zeichnet, könnte man als inadäquat bezeichnen, zumindest ist es stark verkürzt. Da Seneca d.Ä. diese Phase dadurch kennzeichnet, dass in ihr Thesen (also noch nicht Hypothesen) Bestandteil der rhetorischen Übung waren, ist davon auszugehen, dass Seneca d.Ä. bei dieser Phase v. a. an Aristoteles denkt.⁵⁵ Möglicherweise stützt sich Seneca d.Ä. sogar direkt auf Ciceros Aussage aus dem Orator, dass Aristoteles seine Schüler in der These übte, und zwar nicht zu philosophischen, sondern zu rhetorischen Zwecken.⁵⁶ Was uns Seneca d.Ä. vorenthält, ist die weitere Entwicklung der These und der Hypothese in der Zeit zwischen Aristoteles und Cicero. Hierzu wäre zusätzlich zu den genannten Beobachtungen noch einiges zu ergänzen. Wir beschränken uns – auch aufgrund der Quellenlage – auf einige wenige Bemerkungen zum Rhetorikunterricht. Wir gehen also davon aus, dass die Hypothese am Anfang, spätestens im Verlauf des Hellenismus zur zentralen Übung im Rhetorikunterricht geworden ist. Diese Annahme scheint auch aufgrund der weiteren Entwicklung der rhetorischen Theorie und Praxis gerechtfertigt zu sein. Denn in der Theorie scheint mit Hermagoras’ Unterscheidung zwischen θέσις und ὑπόθεσις eine Konzentration auf die Hypothese in der theoretischen Instruktion (ars) verbunden gewesen zu sein.⁵⁷ Über Hermagoras’ Unterscheidung zwischen θέσις und ὑπόθεσις erfahren wir in De inventione Folgendes:⁵⁸

circa Demetrium Phalerea institutum fere constat; Cic. fin. 5,10: ab Aristotele […] principe de singulis rebus in utramque partem dicendi exercitatio est instituta. Auch Quintilian führt die These als rhetorische Übung auf die Peripatetiker zurück (inst. 12,2,25): Peripatetici studio quoque se quodam oratorio iactant: nam thesis dicere exercitationis gratia fere est ab iis institutum. 55 Die Aussage des älteren Seneca, dass in der vor-Ciceronischen Zeit Thesen geübt wurden, ist also richtig, wenn man sie auf Aristoteles bezieht. Anders Clarke (1951) 165 f. und Fairweather (1984) 546 f.: Seneca d.Ä. täusche sich (ebenso wie Sueton [rhet. 25,4] und Quintilian [inst. 2,1,9]), indem er das, was logisch früher ist („logically prior“: die abstrakte These sei logisch früher als die konkrete Hypothese) für historisch früher („historically prior“) hält. Vgl. aber auch Quint. inst. 2,1,9: An ignoramus antiquis hoc fuisse ad augendam eloquentiam genus exercitationis, ut thesis dicerent et communes locos et cetera citra complexum rerum personarumque quibus verae fictaeque controversiae continentur. Quintilian bezieht sich hier wohl ebenfalls auf Aristoteles bzw. die Peripatetiker, wie aus inst. 12,2,25 (s. vorige Fußnote) deutlich wird; vgl. Reinhardt / Winterbottom (2006) 47 f. ad inst. 2,1,9 (Clarke [1951] 160 diskutiert die Möglichkeiten, dass sich Quintilian auf Griechenland oder Rom bezieht). 56 Vgl. Cic. orat. 46 (s. S. 9 f.). 57 Zu Hermagoras’ Unterscheidung zwischen These und Hypothese s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 1 f. 58 Cic. inv. 1,8 (= Hermagoras fr. 6a Matthes [1962] 8 f.).

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Hermagoras quidem nec quid dicat attendere nec quid polliceatur intellegere videtur, qui oratoris materiam in causam et in quaestionem dividat, causam esse dicat rem, quae habeat in se controversiam in dicendo positam cum personarum certarum interpositione; quam nos quoque oratori dicimus esse adtributam (nam tres eas partes, quas ante diximus, subponimus: iudicialem, deliberativam, demonstrativam). Quaestionem autem eam appellat, quae habeat in se controversiam in dicendo positam sine certarum personarum interpositione.

Hermagoras scheint also sowohl die These als auch die Hypothese als Gegenstand der rednerischen Ausbildung angesehen zu haben. Wenn man sich aber das gesamte Werk De inventione vor Augen führt, wird man leicht feststellen, dass über die These keine weiteren Einteilungen oder Vorschriften referiert werden. Es folgen lediglich Beispiele für die These.⁵⁹ Alle weiteren Instruktionen gelten für die Hypothese. Ein noch einseitigeres Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Herennius-Rhetorik: in ihr wird die These nicht einmal erwähnt.⁶⁰ Daher scheint die Kritik, die in De oratore formuliert wird, nämlich dass die These in den Rhetorikhandbüchern nur am Anfang erwähnt, aber nicht näher behandelt wird, auf einem korrekten Sachverhalt zu beruhen:⁶¹ Atque in hoc genere illa quoque est infinita silva, quod oratori plerique, ut etiam Crassus ostendit, duo genera ad dicendum dederunt: unum de certa definitaque causa, quales sunt, quae in litibus, quae in deliberationibus versantur, addat, si quis volet, etiam laudationes; alterum, quod appellant omnes fere scriptores, explicat nemo, infinitam generis sine tempore et sine persona quaestionem.

Dass die Kritik, die in De oratore formuliert wird, auf einem Sachverhalt beruht, der nicht nur auf zeitgenössische Rhetorikhandbücher, sondern auch auf Hermagoras’ Rhetorik zutrifft, wird auch aus den anderen Hermagoras-Fragmenten bzw. Testimonien zu Hermagoras deutlich.⁶² Hermagoras scheint also lediglich die

59 Vgl. Cic. inv. 1,8: ecquid sit bonum praeter honestatem; verine sint sensus; quae sit mundi forma; quae sit solis magnitudo (für die letzten beiden Beispiele vgl. de orat. 2,66). Nach der Unterteilung in De oratore (s. S. 18) handelt es sich nur um theoretische Fragen. Möglicherweise werden die praktischen Thesen in dieser Polemik bewusst verschwiegen; vgl. Matthes (1958) 131 f. 60 Vgl. Clarke (1951) 162. 61 Cic. de orat. 2,65; vgl. auch ib. 78: dividunt [sc. rhetores] […] totam rem in duas partis, in causae controversiam et in quaestionis: causam appellant rem positam in disceptatione reorum et controversia; quaestionem autem rem positam in infinita dubitatione; de causa praecepta dant; de altera parte dicendi mirum silentium est; 3,110: alterum [sc. genus quaestionis: θέσιν] vero tantum modo in prima arte tradenda nominant [sc. rhetores] et oratoris esse dicunt; sed neque vim neque naturam eius nec partis nec genera proponunt, ut praeteriri omnino fuerit satius quam attactum deseri. 62 Vgl. Hermagoras test. 5 und fr. 6b-e Matthes (1962) 2; 9 – 13.

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Unterscheidung zwischen θέσις und ὑπόθεσις getroffen zu haben. Über die These hat er wahrscheinlich keine weiteren Angaben gemacht. Daher stellt sich die Frage, ob seine Unterteilung dem Zweck diente, die These wirklich als Gegenstandsbereich des Redners zu etablieren,⁶³ oder ob er angesichts der Tatsache, dass er die These nicht näher behandelt hat, im Gegenteil die Hypothese als den eigentlichen Gegenstandsbereich des Redners angesehen hat.⁶⁴ Vieles spricht dafür, dass seine Unterscheidung zwischen θέσις und ὑπόθεσις nur systematischen Zwecken diente und dass sich dieses Bild in der Rhetorik bis zur Entstehung von De oratore kaum geändert hat. Über die These in der rhetorischen Praxis des Hellenismus lässt sich kaum etwas Sicheres sagen, d. h.: Wir wissen nicht, ob sich die These im Hellenismus zu einem Progymnasma entwickelt hat, worauf man aufgrund der kaiserzeitlichen Progymnasmata-Handbücher, in denen die These unbestritten als Progymnasma fungiert,⁶⁵ schließen könnte. Weniger wahrscheinlich, wenn auch nicht auszuschließen ist, dass die These im Hellenismus gänzlich aus der rhetorischen Ausbildung verschwunden ist.⁶⁶ (1b) Aus terminologischer Sicht gilt es zu bemerken, dass Seneca d.Ä. vermutlich zu Recht sagt, dass in der vor-Ciceronischen Phase das Wort θέσις die allgemein gehaltene Frage bezeichnet hat. Da Seneca d.Ä. mit der vor-Ciceronischen Phase Aristoteles assoziiert, stellt sich allerdings das Problem, dass θέσις in diesem Sinn bei Aristoteles nicht zweifelsfrei überliefert ist. Denn Aristoteles verwendet θέσις in den Topika in dem eingeschränkten Sinn, dass das Substantiv die paradoxe Meinung in einer philosophischen Frage bezeichnet.⁶⁷ Die allgemein gehaltene

63 So z. B. Fairweather (1984) 547. 64 Entsprechende Zweifel formuliert Quintilian (inst. 2,21,21 f. = Hermagoras fr. 6c Matthes [1962] 11): Hermagoras quoque dicendo materiam esse in causa et in quaestionibus omnes res subiectas erat complexus: sed quaestiones si negat ad rhetoricen pertinere, dissentit a nobis; si autem ad rhetoricen pertinent, ab hoc quoque adiuvamur: nihil est enim quod non in causam aut quaestionem cadat. 65 S. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 2. 66 Auf den Hellenismus führen die These als Progymnasma bzw. generell die Progymnasmata z. B. Winterbottom (2006) 78 und Kraus (2005) 160 zurück. Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 44 hingegen äußern in ihrem Kommentar zu De Oratore die Meinung, dass die These als Progymnasma ein nach-Ciceronisches Phänomen ist. Das Argument des mirum silentium (vgl. de orat. 2,78), d. h. dass die Rhetoren über die These keine näheren Angaben machen, wird man aber als Argument nicht gelten lassen: Auch wenn die These in der Theorie kaum behandelt wurde, ist es möglich, dass sie in der Praxis als Progymnasma geübt wurde. 67 Vgl. Arist. top. 104b19 – 22: θέσις δέ ἐστιν ὑπόληψις παράδοξος τῶν γνωρίμων τινὸς κατὰ φιλοσοφίαν, οἷον ὅτι οὐκ ἔστιν ἀντιλέγειν, καθάπερ ἔφη Ἀντισθένης, ἢ ὅτι πάντα κινεῖται, καθ’ Ἡράκλειτον.

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Frage heißt bei ihm πρόβλημα.⁶⁸ Allerdings macht Aristoteles darauf aufmerksam, dass in seiner Zeit fast alle dialektischen Fragen als θέσεις bezeichnet werden.⁶⁹ Daher scheint θέσις in dieser Bedeutung ein Terminus zu sein, der vielleicht schon vor Aristoteles aufgekommen, zumindest aber zeitgenössisch ist. Für die Tatsache, dass unter Aristoteles’ Namen Bücher mit dem Titel θέσεις überliefert sind, wie Diogenes Laertios und Theon berichten,⁷⁰ kommen v. a. zwei Erklärungen in Betracht. Entweder handelt es sich bei den θέσεις um allgemeine Fragestellungen. Dann würde Aristoteles den Begriff im weiteren Sinne verwenden (oder der Titel stammt aus späterer Zeit). Oder die θέσεις beinhalten paradoxe Meinungen. Aufgrund der Theon-Stelle und der Tatsache, dass Cicero davon berichtet, dass Aristoteles seine Schüler in den allgemeinen Fragen ausgebildet hat,⁷¹ ist wohl die erste Möglichkeit wahrscheinlicher. (2a) Da sich Cicero an mehreren Stellen seines Werkes mit der Unterscheidung zwischen θέσις und ὑπόθεσις auseinandergesetzt hat, lohnt es sich, zuerst seine Äußerungen v. a. über die These und anschließend seine praktische Tätigkeit zu untersuchen. Ciceros Einstellung zur These hat sich im Laufe seines Lebens gewandelt. In De inventione kritisiert der junge Cicero Hermagoras dafür,⁷² die These als Aufgabe des Redners betrachtet zu haben. In seinen Augen handelt es sich um eine philosophische Übung, die für den Redner zu anspruchsvoll ist:⁷³ Quas quaestiones [sc. infinitas] procul ab oratoris officio remotas facile omnes intellegere existimamus; nam quibus in rebus summa ingenia philosophorum plurimo cum labore consumpta intellegimus, eas sicut aliquas parvas res oratori adtribuere magna amentia videtur.

Bei dieser Kritik sollte man nicht vergessen, dass Hermagoras wahrscheinlich nur am Anfang seiner Rhetorik die Unterscheidung zwischen θέσις und ὑπόθεσις getroffen hat, ohne weitere Instruktionen für die These zu geben.

68 Vgl. Arist. top. 104b1– 17. Daher ist jede θέσις ein πρόβλημα, aber nicht jedes πρόβλημα eine θέσις (vgl. ib. 29 f.). 69 Vgl. Arist. top. 104b34– 36: σχεδὸν δὲ νῦν πάντα τὰ διαλεκτικὰ προβλήματα θέσεις καλοῦνται. 70 Vgl. Diog. Laert. 5,24; Theon RhG II p. 69 Spengel (p. 13 Patillon / Bolognesi [1997]); s. S. 9. 71 Vgl. Cic. orat. 46; s. S. 9 f. 72 Wir gehen davon aus, dass De inventione ein Jugendwerk von Cicero ist. 73 Cic. inv. 1,8.

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In De oratore hingegen wird die fast ausschließliche Beschränkung des Redners auf die Hypothese bedauert:⁷⁴ quoniam de nostra possessione depulsi in parvo et eo litigioso praediolo relicti sumus et aliorum patroni nostra tenere tuerique non potuimus, ab eis, quod indignissimum est, qui in nostrum patrimonium inruperunt, quod opus est nobis mutuemur.

An dieser Stelle wird das discidium linguae et cordis beklagt,⁷⁵ das sich darin offenbart, dass sich die Erörterung eines abstrakten Themas als Aufgabe der Philosophie,v. a. der Akademiker und Peripatetiker, etabliert hat,wohingegen sich die Rhetoren auf die Behandlung der Hypothese beschränken. Obendrein sehen sich die Rhetoren auf dem Gebiet der Hypothese der Konkurrenz durch die Philosophie ausgesetzt, da der Akademiker Philo aus Larissa auch diese Form der Fragestellung behandelt.⁷⁶ Ciceros Wertschätzung der These lässt sich auch in einem Brief aus dem Jahr 54 v.Chr. an seinen Bruder Quintus erkennen. In diesem Brief nimmt Cicero Stellung zum Rhetorikunterricht seines Neffen:⁷⁷ Cicero tuus nosterque summo studio est Paeonii sui rhetoris, hominis, opinor,valde exercitati et boni; sed nostrum instituendi genus esse paullo eruditius et θετικώτερον non ignoras. […] si nobiscum eum rus aliquo eduxerimus, in hanc nostram rationem consuetudinemque inducemus.

Wahrscheinlich hat der dreizehnjährige Quintus Cicero bei seinem griechischen Rhetoriklehrer Paionios Hypothesen deklamiert. Zumindest geht aus dem Komparativ θετικώτερον hervor, dass es für Cicero ein Wunsch ist, dass sich der junge Quintus Cicero in der These üben wird. Aus einem Brief aus dem März 49 v.Chr. sind wir ferner darüber informiert, dass sich Cicero Thesen gestellt hat, um angesichts der aktuellen politischen Lage

74 Cic. de orat. 3,108; vgl. auch ib. 110 und s. S. 14. 75 Vgl. Cic. de orat. 3,61. 76 Vgl. Cic. de orat. 3,110: illud […] genus, quod est temporibus, locis, reis definitum, obtinent [sc. rhetores], atque id ipsum lacinia. nunc enim apud Philonem, quem in Academia vigere audio, etiam harum iam causarum cognitio exercitatioque celebratur. Cicero hat Philo 88 v.Chr. in Rom gehört; vgl. Brut. 306: eodemque tempore, cum princeps Academiae Philo cum Atheniensium optumatibus Mithridatico bello domo profugisset Romamque venisset, totum ei me tradidi admirabili quodam ad philosophiam studio concitatus. Zu Philo aus Larissa vgl. Brittains (2001) Monographie. 77 Cic. ad Q.fr. 3,3,4; vgl. hierzu Sihler (1902).

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Trost zu finden.⁷⁸ Als eines von vielen Beispielen nennt Cicero die These, ob man im Vaterland bleiben soll, wenn es von einem Tyrannen beherrscht wird.⁷⁹ Diese Thesen hat Cicero sowohl auf Griechisch als auch auf Latein in utramque partem gehalten.⁸⁰ In der rhetorischen Theorie ändert sich die Vernachlässigung der These grundlegend mit dem dritten Buch von De oratore. Denn anknüpfend an die Kritik an der einseitigen Behandlung der Hypothese in der rhetorischen Theorie erfolgt eine grundlegende Systematisierung aller quaestiones, d. h. es wird eine Systematik aufgestellt, die sowohl für die These als auch für die Hypothese gilt:⁸¹ Alle Fragen sind entweder auf das Wissen oder auf das Handeln bezogen, d. h. es werden theoretische und praktische Fragen unterschieden.⁸² Die Fragen des Wissens werden in die drei Arten coniectura, definitio und consecutio eingeteilt und weiter unterteilt.⁸³ Die Fragen des Handelns werden in die zwei Arten officium und permotio animorum eingeteilt und ebenfalls weiter unterteilt.⁸⁴ Da in De oratore immer wieder beklagt wird, dass die Rhetoren über die These keine näheren Angaben machen,⁸⁵ darf man wohl annehmen, dass die in de

78 Vgl. Cic. Att. 9,4,1: ne me totum aegritudini dedam, sumpsi mihi quasdam tamquam θέσεις quae et πολιτικαί sunt et temporum horum, ut et abducam animum ab querelis et in eo ipso de quo agitur exercear. 79 Vgl. Cic. Att. 9,4,2: εἰ μενετέον ἐν τῇ πατρίδι τυραννουμένης αὐτῆς. 80 Vgl. Cic. Att. 9,4,3: in his ego me consultationibus exercens et disserens in utramque partem tum Graece tum Latine […]. 81 Vgl. Cic. de orat. 3,111– 118; Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 39; vgl. auch das Schema bei Brittain (2001) 343, wenngleich Brittain (ib.) 339 – 343 davon ausgeht, dass in de orat. 3,111– 118 nur die These systematisch untergliedert wird. 82 Vgl. Cic. de orat. 3,111 f.: Omnis igitur res eandem habet naturam ambigendi, de qua quaeri et disceptari potest, sive in infinitis consultationibus disceptatur sive in eis causis, quae in civitate et forensi disceptatione versantur; neque est ulla, quae non aut ad cognoscendi aut ad agendi vim rationemque referatur; nam aut ipsa cognitio rei scientiaque perquiritur, ut virtus suamne propter dignitatem an propter fructum aliquem expetatur; aut agendi consilium exquiritur, ut sitne sapienti capessenda res publica. 83 Vgl. Cic. de orat. 3,113: Cognitionis autem tres modi, coniectura, definitio et, ut ita dicam, consecutio: nam quid in re sit, coniectura quaeritur, ut illud, sitne in humano genere sapientia, quam autem vim quaeque res habeat, definitio explicat, ut si quaeratur, quid sit sapientia; consecutio autem tractatur, cum quid quamque rem sequatur, anquiritur, ut illud, sitne aliquando mentiri boni viri; für die weitere Unterteilung vgl. ib. 114– 117. 84 Vgl. Cic. de orat. 3,118: Quae vero referuntur ad agendum, aut in offici disceptatione versantur, quo in genere quid rectum faciendumque sit quaeritur, cui loco omnis virtutum et vitiorum est silva subiecta, aut in animorum aliqua permotione aut gignenda aut sedanda tollendave tractantur. Huic generi subiectae sunt cohortationes, obiurgationes, consolationes, miserationes omnisque ad omnem animi motum et impulsio et, si ita res feret, mitigatio. 85 S. S. 14.

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orat. 3,111– 118 entworfene Systematik eine Synthese aus der rhetorischen Untergliederung der Hypothese und der philosophischen Untergliederung der These ist. Aufgrund der Tatsache, dass die drei genera causarum in dieser Systematik fehlen und alle Beispiele die These exemplifizieren, scheint sich die vorliegende Synthese mehrheitlich der philosophischen Untergliederung der These zu verdanken. Die philosophische Provenienz der Kategorisierung der These spiegelt sich auch darin wider, dass die grundlegende Einteilung zwischen theoretischen und praktischen Fragestellungen auf Aristoteles zurückzugehen scheint.⁸⁶ Sie wird ferner an Crassus’ Aussage deutlich, dass seine Untergliederung der theoretischen Fragen von homines doctissimi stamme.⁸⁷ Vermutlich haben die Philosophen aber nur die theoretischen Thesen (und nicht die Hypothesen) in der Art untergliedert, wie es Crassus in de orat. 3,111– 117 vorführt. Man könnte daher annehmen, dass der Versuch, eine einzige Systematik sowohl für die These als auch für die Hypothese zu entwerfen, auf Cicero zurückgeht.⁸⁸ Aber eine Stelle aus De oratore macht deutlich, dass der Versuch, die These und die Hypothese einheitlich zu systematisieren,wohl nicht erst von Cicero stammt.⁸⁹ Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Klage, dass die Rhetoren über die These keine näheren Angaben machen, auf einen Großteil der zeitgenössischen Rhetoriken zutreffen wird, dass aber Cicero mit der einheitlichen Systematisierung der These und der Hypothese keinen völlig neuen Ansatz verfolgt, sondern sich vielmehr dezidiert auf die Seite derjenigen stellt, die eine

86 Vgl. Arist. top. 1,11,104b1– 2: Πρόβλημα δ’ ἐστὶ διαλεκτικὸν θεώρημα τὸ συντεῖνον ἢ πρὸς αἵρεσιν καὶ φυγὴν ἢ πρὸς ἀλήθειαν καὶ γνῶσιν; Reichel (1909) 98. 87 Vgl. Cic. de orat. 3,117: Atque eae quidem disceptationes, quae ad cognitionem referuntur, sic fere a doctissimis hominibus describuntur; Brittain (2001) 339; Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 50. 88 Wie Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 52– 54 darlegen, ist zumindest nicht davon auszugehen, dass die Synthese von Philo aus Larissa stammt. Dieser hat zwar sowohl die These als auch die Hypothese behandelt (vgl. de orat. 3,110), aber beide Arten wahrscheinlich separat untergliedert; vgl. Cic. Tusc. 2,9: Nostra autem memoria Philo, quem nos frequenter audivimus, instituit alio tempore rhetorum praecepta tradere, alio philosophorum; Clarke (1951) 162. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass in den Partitiones oratoriae die These separat untergliedert wird (s. S. 20 f.). 89 Vgl. de orat. 1,137– 139: non negabo me ista omnium communia et contrita praecepta didicisse: […] esse omnem orationem aut de infinitae rei quaestione sine designatione personarum et temporum aut de re certis in personis ac temporibus locata; in utraque autem re quicquid in controversiam veniat, in eo quaeri solere aut factumne sit aut, si est factum, quale sit aut etiam quo nomine vocetur aut, quod non nulli addunt, rectene factum esse videatur. Vermutlich sind zwar die verschiedenen Kategorien allgemein bekannt gewesen (nämlich aus der Statuslehre), aber nicht der Ansatz, die vorgelegte Systematisierung sowohl auf die These als auch auf die Hypothese zu beziehen.

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derartige Synthese vorgeschlagen haben. Die de orat. 3,111– 118 vorliegende Systematik ist sicherlich eine historisch gewachsene Erscheinung, die ihre Quellen in der rhetorischen Untergliederung der Hypothese (inklusive der Statuslehre) und der philosophischen Untergliederung der These hat.Vermutlich liegt Ciceros Leistung in der Anordnung einzelner Unterteilungen. Die Annahme, dass die de orat. 3,111– 118 vorliegende Systematik zwar keine gänzlich neue Erscheinung darstellt, aber keine etablierte Vorgehensweise widerspiegelt, scheint auch aufgrund von Ciceros späteren rhetorischen Schriften, v. a. den Partitiones oratoriae und den Topica, gerechtfertigt. Denn in den Partitiones oratoriae, die ihre Nähe zur akademischen Lehre bekennen,⁹⁰ findet sich zwar teilweise dieselbe Systematik wieder, wie sie Crassus in De oratore aufstellt:⁹¹ Zunächst werden theoretische und praktische Fragestellungen unterschieden.⁹² Dann werden die theoretischen Fragestellungen dreigeteilt und weiter unterteilt,⁹³ wohingegen die praktischen Fragestellungen zweigeteilt werden. Allerdings werden die praktischen Fragestellungen zweimal zweigeteilt, ohne dass diese beiden Zweiteilungen miteinander zu harmonieren scheinen:⁹⁴ An der ersten Stelle werden die Fragen, ob man etwas erreichen oder etwas meiden soll, von den Fragen unterschieden, die auf einen Vorteil oder Nutzen blicken.⁹⁵ Etwas später werden die praktischen Fragestellungen allerdings derart unterteilt, dass sie entweder über das belehren, was man als Pflicht ansehen soll, oder die Affekte betreffen.⁹⁶ Die letztgenannte Unterscheidung entspricht derjenigen, die wir aus

90 Vgl. Cic. part. 139. 91 Vgl. Sternkopf (1914) 57; Arweiler (2003) 144. 92 Vgl. Cic. part. 62: prius de proposito dicamus, cuius genera sunt duo – cognitionis alterum; eius scientia est finis, ut verine sint sensus: alterum actionis, quod refertur ad efficiendum quid, ut si quaeratur quibus officiis amicitia colenda sit. 93 Vgl. Cic. part. 62: Rursus superioris genera sunt tria: sit necne, quid sit, quale sit. Sit necne, ut ius in naturane sit an in more; quid autem sit, sitne ius id quod maiori parti sit utile; quale autem sit, iuste vivere sit necne utile. Für die weitere Unterteilung vgl. ib. 64– 66; Arweiler (2003) 145 – 147. 94 Vgl. Sternkopf (1914) 60 – 64; Arweiler (2003) 144 Fußn. 240. 95 Vgl. Cic. part. 63: Actionis autem duo sunt genera – unum ad persequendum aliquid aut declinandum, ut quibus rebus adipisci gloriam possis aut quomodo invidia vitetur, alterum quod ad aliquod commodum usumque refertur, ut quemadmodum sit respublica administranda aut quemadmodum in paupertate vivendum. 96 Vgl. Cic. part. 67: Restant [sc. genera] actionis, cuius alterum est praecipiendi genus quod ad rationem officii pertinet, ut quemadmodum colendi sint parentes, alterum autem ad sedandos animos et oratione sanandos, ut in consolandis maeroribus, ut in iracundia comprimenda aut in timore tollendo aut in cupiditate minuenda. Cui quidem generi contrarium est disputandi genus ad eosdem illos animi motus, quod in amplificanda oratione saepe faciendum est, vel gignendos vel concitandos. Das letztgenannte genus contrarium darf vielleicht als Teil derjenigen Art angese-

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De oratore kennen.⁹⁷ Innerhalb der ersten Zweiteilung erinnert die erste Art an die Aristotelische Alternative zwischen αἵρεσις und φυγή.⁹⁸ Es ist aber nicht ersichtlich, wie sich die zweite Art innerhalb der ersten Zweiteilung (Vorteil) von der ersten Art (etwas erreichen oder meiden) unterscheidet. Noch unklarer ist das Verhältnis der beiden Zweiteilungen zueinander.⁹⁹ Der entscheidende Unterschied zwischen den Partitiones oratoriae und De oratore ist aber, dass die frühere, für Thesen und Hypothesen geltende Gesamtsystematik aufgegeben wird. Die eben referierte Untergliederung bezieht sich dezidiert nur auf die These.¹⁰⁰ Für die Hypothese werden im Anschluss separate Instruktionen gegeben.¹⁰¹ Daher ist es umso wahrscheinlicher, dass die Synthese, die in De oratore vorliegt, in ihrer Eigenart auf Cicero zurückgeht und keine etablierte Vorgehensweise widerspiegelt. In den Topica liegt wiederum eine ähnliche Systematik vor wie in De oratore und in den Partitiones oratoriae: Zunächst werden theoretische und praktische Fragestellungen unterschieden.¹⁰² Die theoretischen Fragestellungen werden anhand der drei Hauptstatus coniectura, definitio und qualitas dreigeteilt und weiter unterteilt.¹⁰³ Die praktischen Fragestellungen werden in die beiden aus De oratore bekannten Arten Pflicht und Affekte unterteilt und ebenfalls weiter untergliedert.¹⁰⁴

hen werden, die von den Affekten handelt, d. h. bei dieser Art geht es darum, die Affekte zu erregen oder zu lindern; vgl. Sternkopf (1914) 61; Arweiler (2003) 144 Fußn. 240. 97 Vgl. Cic. de orat. 3,118 (s. S. 18 Fußn. 84); Sternkopf (1914) 62. 98 Vgl. Arist. top. 1,11,104b1– 2 (s. S. 19 Fußn. 86). 99 Sternkopf (1914) 62 vermutet, dass Cicero ein Fehler unterlaufen ist und er in § 63 die beiden Teile desjenigen genus vorstellt, das er in § 67 als genus praecipiendi bezeichnet. Die korrekte Unterteilung wäre demnach folgende: I. genus praecipiendi: a) ad persequendum aliquid aut declinandum; b) ad aliquam commoditatem usumque pertinens; II. genus ad animi motus spectans: a) vel sedandos; b) vel concitandos. 100 Vgl. einleitend Cic. part. 62: prius de proposito dicamus, cuius genera sunt duo […]; abschließend ib. 67: haec fere est partitio consultationum. 101 Vgl. Cic. part. 68: Cognita igitur omni distributione propositarum consultationum, causarum genera restant. 102 Vgl. Cic. top 81 f.: Quaestionum […] sunt duo genera: unum cognitionis alterum actionis. Cognitionis sunt eae quarum est finis scientia, ut si quaeratur a naturane ius profectum sit an ab aliqua quasi condicione hominum et pactione. Actionis autem huius modi exempla sunt: Sitne sapientis ad rem publicam accedere; Riposati (1947) 182– 187. 103 Vgl. Cic. top 82: Cognitionis quaestiones tripertitae sunt; aut sitne aut quid sit aut quale sit quaeritur. Horum primum coniectura, secundum definitione, tertium iuris et iniuriae distinctione explicatur. Für die weitere Unterteilung vgl. ib. 82– 85; Riposati (1947) 187– 196. 104 Vgl. Cic. top 86: Actionis [sc. quaestiones] reliquae sunt, quarum duo genera: unum ad officium, alterum ad motum animi vel gignendum vel sedandum planeve tollendum. Ad officium

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Die entscheidende Frage ist aber der Geltungsbereich der in den Topica präsentierten Untergliederung. Am Anfang der Untergliederung wird dieser wie folgt angegeben: Quaestionum autem ‘quacumque de re’ sunt duo genera […].¹⁰⁵ Der präpositionale Ausdruck ‘quacumque de re’ wird von der Forschung auf die These bezogen.¹⁰⁶ Es ist aber auch möglich, dass mit diesem Ausdruck alle Arten von Fragen, also Thesen und Hypothesen, gemeint sind. Unabhängig aber davon, welche Fragen mit ‘quacumque de re’ bezeichnet werden, steht fest, dass die in den Topica präsentierte Untergliederung sowohl für die These als auch für die Hypothese gilt. Dies wird aus der Bemerkung deutlich, mit der die Untergliederung abgeschlossen wird: Haec cum in propositi quaestionibus genera sint, eadem in causas transferuntur. ¹⁰⁷ Die Hypothese wird nur insofern eigens unterteilt, als die genera causarum für sie geltend gemacht werden.¹⁰⁸ In Ciceros rhetorischen Schriften nach De inventione gewinnt die These also zunehmend an Bedeutung. Der Höhepunkt der theoretischen Auseinandersetzung mit ihr liegt sicherlich in De oratore vor, wo eine einheitliche Gesamtsystematik für die These und die Hypothese entworfen wird. Auch wenn diese Synthese in den späteren rhetorischen Schriften teilweise wieder aufgegeben wird, wie die Partitiones oratoriae zeigen, ist dennoch festzuhalten, dass der alte Zustand, dass die These von den Rhetoren nur erwähnt, aber nicht näher behandelt wird, überwunden ist. Wie ist nun angesichts der Tatsache, dass Cicero in der rhetorischen Theorie der These eine große Bedeutung zugemessen und sie auch selbst praktiziert hat, die Aussage des älteren Seneca zu erklären, dass Cicero keine Thesen deklamiert habe? Diese auf den ersten Blick verwirrende Behauptung erklärt sich wohl dadurch, dass man sie auf den Schulunterricht bezieht: Cicero hat als Schüler Hy-

sic, ut cum quaeritur suscipiendine sint liberi. Ad movendos animos cohortationes ad defendendam rem publicam, ad laudem, ad gloriam; quo ex genere sunt querellae, incitationes, miserationesque flebiles; rursusque oratio tum iracundiam restinguens, tum metum eripiens, tum exsultantem laetitiam comprimens, tum aegritudinem abstergens; Riposati (1947) 197– 204. 105 Cic. top 81. 106 Vgl. Sternkopf (1914) 57; Riposati (1947) 182; Arweiler (2003) 143 Fußn. 236; Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 53. Hierfür könnte man Cic. de orat. 2,66 anführen: si enim est oratoris, quaecumque res infinite posita sit, de ea posse dicere […]. Hier steht allerdings das Adverb infinite. 107 Cic. top 86. 108 Vgl. Cic. top 90 f.: De proposito satis multa, deinceps de causa pauciora dicenda sunt. Pleraque enim sunt ei cum proposito communia. Tria sunt igitur genera causarum: iudici, deliberationis, laudationis; Riposati (1947) 224– 227.

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pothesen (causae) deklamiert.¹⁰⁹ Die These spielte im Schulcurriculum seiner Zeit eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Diese Annahme lässt sich anhand von Selbstaussagen Ciceros belegen. Man betrachte v. a. eine Stelle aus dem Brutus: ¹¹⁰ huic ego doctori [sc. Stoico Diodoto] et eius artibus variis atque multis ita eram tamen deditus ut ab exercitationibus oratoriis nullus dies vacuus esset. Commentabar declamitans – sic enim nunc loquuntur – saepe cum M. Pisone et cum Q. Pompeio aut cum aliquo cotidie, idque faciebam multum etiam Latine sed Graece saepius.

Das Verb declamitare wird man wohl so auffassen, dass sich Cicero in denjenigen Übungen, die später als Kontroversien und Suasorien bezeichnet wurden, aber eben nicht in Thesen geübt hat. Diese Annahme wird durch andere Zeugnisse gestützt, unter anderem durch den Anfang der Tuskulanen:¹¹¹ ut […] antea declamitabam causas, quod nemo me diutius fecit, sic haec mihi nunc senilis est declamatio.

An dieser Stelle erfahren wir also, dass Cicero – wahrscheinlich sowohl während seiner Ausbildung als auch nach dem Rhetorikstudium – Hypothesen deklamiert hat.¹¹² Gleichzeitig lässt sich Ciceros gewandelte Einstellung zur These erkennen, wie sie sich in der Entwicklung von De inventione zu De oratore und den späteren rhetorischen Schriften abgezeichnet hat: Nun misst er der These einen zumindest ebenso großen Wert wie der Hypothese bei, was sich in der Form offenbart, dass er in den Tuskulanen über philosophische Probleme wie z. B. die Frage, ob der Tod ein Übel ist,¹¹³ diskutiert und diese Erörterungen (Thesen) als Deklamationen bezeichnet.

109 Dass Seneca d.Ä. die Schuldeklamation im Blick hat, geht auch aus dem Verb exercere hervor (contr. 1 praef. 12): hoc enim genus materiae, quo nos exercemur, adeo novum est, ut nomen quoque eius novum sit. controversias nos dicimus: Cicero causas vocabat. 110 Cic. Brut. 309 f. Von nicht näher spezifizierten Übungen spricht Cicero auch ib. 315 f. (u. a. bei Demetrius Syrus und Apollonius Molon; zu letzterem vgl. auch ib. 307 und 312). Vgl. auch Plut. Cicero 4,4 f. 111 Cic. Tusc. 1,7. Vgl. auch ib. 2,26: postquam adamavi hanc quasi senilem declamationem […]. 112 Vgl. auch Suet. rhet. 25,3: Cicero ad praeturam usque etiam Graece declamitavit, Latine vero senior quoque et quidem cum consulibus Hirtio et Pansa, quos discipulos et grandis praetextatos vocabat. Wahrscheinlich bezieht sich die Angabe, dass Cicero bis zu seiner Prätur (66 v.Chr.) auf Griechisch deklamiert hat, auf den Umstand, dass Cicero die Schule des zweisprachigen Antonius Gnipho frequentiert hat (vgl. ib. gramm. 7,2); vgl. Kaster (1995) 275 ad loc. Sueton macht allerdings nicht deutlich, dass es sich um Hypothesen handelt. Dies wird man aber aufgrund von Tusc. 1,7 und ad Q.fr. 3,3,4 annehmen. 113 Vgl. Tusc. 1,9.

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Auch aus dem Brief aus dem Jahr 54 v.Chr. an seinen Bruder Quintus lässt sich schließen, dass Cicero in seiner Jugend Hypothesen deklamiert hat.¹¹⁴ Denn im Anschluss an die Aussage, dass seine eigene Lehrform θετικώτερον ist, äußert sich Cicero folgendermaßen über seinen jungen Neffen:¹¹⁵ neque ego impediri Ciceronis iter atque illam disciplinam volo et ipse puer magis illo declamatorio genere duci et delectari videtur, in quo quoniam ipsi quoque fuimus, patimur illum ire nostris itineribus – eodem enim perventurum esse confidimus.

Hieraus lässt sich schließen, dass sowohl Cicero selbst als auch sein Neffe im Rhetorikunterricht anhand der Hypothese ausgebildet wurden.¹¹⁶ (2b) Die Angabe des älteren Seneca, dass Cicero seine Übungsformen causae nannte, womit die Hypothesen gemeint sind, trifft ohne jeden Zweifel zu, wie Tusc. 1,7 zeigt. Möglicherweise bezieht sich Seneca d.Ä. sogar direkt auf diese Stelle.¹¹⁷ Schwieriger sind zwei andere terminologische Probleme, die mit declamare bzw. declamitare (bzw. den anderen entsprechenden Wortarten) zusammenhängen: Ab wann bezeichnet declamare (aut sim.) bei Cicero das Deklamieren, also das Halten einer fiktionalen Rede? Und von welcher Art sind diese fiktionalen Reden: Handelt es sich um fiktionale Hypothesen aus dem genus iudiciale und dem genus deliberativum (dann würde declamare so verwendet werden wie zu Zeiten des älteren Seneca)? Zur ersten Frage gibt es Untersuchungen, die wir kurz zusammenfassen können.¹¹⁸ Declamare (aut sim.) ist ein relativ neuer Fachterminus zur Bezeichnung des Deklamierens. Bevor er sich als solcher etabliert hat, scheint uns declamare (aut sim.) die Grundbedeutung „(etwas auswendig Gelerntes) (laut) aufsagen“ gehabt zu haben, ohne dass ein Bezug zu einer Deklamation gegeben war.¹¹⁹ Zumeist war das Verb negativ konnotiert. Man betrachte hierfür eine Stelle

114 Cic. ad Q.fr. 3,3; s. S. 17. 115 Cic. ad Q.fr. 3,3,4. 116 Dies geht auch aus Beispielen hervor, die in De inventione und in der Herennius-Rhetorik vorkommen; s. S. 30. Weitere Stellen aus den Briefen, an denen über die Deklamation gesprochen wird: fam. 7,33,1; 9,16,7; 16,21,5; Att. 14,11,2; 12,2; 20,4; 22,1. 117 Vgl. Fairweather (1981) 129. 118 Vgl. v. a. Stroh (2003); Bonner (1949) 27– 31; Fairweather (1981) 124– 129; Hömke (2002) 14– 16. 119 Vgl. Stroh (2003) 13: „declamare – das hat schon der Blick auf den unrhetorischen Sprachgebrauch nahegelegt – bezeichnet eben das laute Aufsagen eines vorgefertigten, in der Regel wohl auswendig gelernten Textes“. Stroh (ib.) 8 f. geht davon aus, dass das Präfix de- in declamare dem Verb einen despektierlichen Charakter gibt, wenn es nicht als Terminus Tech-

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aus Ciceros Rede für den vermeintlichen Vatermörder Roscius (80 v.Chr.), an der er dem Ankläger seines Mandanten vorwirft, etwas Sachfremdes vorzubringen:¹²⁰ quae mihi iste visus est ex alia oratione declamare quam in alium reum commentaretur; ita neque ad crimen parricidi neque ad eum qui causam dicit pertinebant.

An dieser Stelle muss declamare soviel wie „daherreden“ bedeuten.¹²¹ Eine ganz ähnliche Bedeutung scheint an folgender Stelle vorzuliegen:¹²² Ille autem insanus, qui pro isto vehementissime contra me declamasset […].

Hier wirft Cicero einem renitenten Beamten Inhaltsleere vor, so dass declamare beinahe soviel wie „zetern“, „lamentieren“ bedeutet.¹²³ Angesichts der Tatsache, dass mit declamare zunächst nur ein unspezifischer Inhalt verknüpft ist, den man auswendig lernt und wiedergibt, kann es nicht verwundern, dass declamatio auch die Stimmübung bezeichnen konnte.¹²⁴ Hierbei wurde vom Inhalt des aufgesagten Textes gänzlich abstrahiert. In dieser Verwendung findet sich declamatio beim Auctor ad Herennium innerhalb der Vorschriften über die pronuntiatio: ¹²⁵ Mollitudinem vocis, hoc est, ut eam torquere in dicendo nostro commodo possimus, maxime faciet exercitatio declamationis.

Zur Bezeichnung einer Stimmübung dient declamare auch bei Cicero:¹²⁶

nicus für die Sprechübung oder (später) für die Deklamation verwendet wird. Allerdings scheint weniger das Präfix de- hierfür verantwortlich zu sein als der Bezug von declamare auf eine Situation, in der das auswendig Lernen bzw. Aufsagen eines Textes unangemessen erscheint (vgl. Stroh [ib.] 15). Wichtig ist daher folgende Feststellung (Stroh [ib.] 25 Fußn. 78): „Dem Gegner seine rhetorischen Studien vorzuwerfen, gehört übrigens zum Standardrepertoire der Rhetorik schon des vierten vorchristlichen Jahrhunderts (Anaximenes 36,39).“ 120 Cic. S. Rosc. 82; vgl. Stroh (2003) 8. 121 Vgl. auch Planc. 47: te […] ad communem ambitus causam contulisti, in qua desinamus aliquando, si videtur, volgari et pervagata declamatione contendere, wo Cicero den Ankläger auffordert, seine Vorwürfe zu konkretisieren (vgl. Stroh [2003] 9). 122 Cic. Verr. II 4,149. Vgl. auch die textkritisch umstrittene Stelle Mur. 44. 123 Vgl. Hömke (2002) 14 f. 124 Nach Stroh (2003) 15 ist die technische Bedeutung „Stimmübung“ bzw. „Sprechübung“ die ursprüngliche Bedeutung von declamatio. 125 Rhet. Her. 3,20. 126 Cic. fin. 5,5. Vgl. auch de orat. 1,251: Quid est oratori tam necessarium quam vox? Tamen me auctore nemo dicendi studiosus Graecorum more tragoedorum voci serviet, qui et annos compluris sedentes declamitant et cotidie, ante quam pronuntient, vocem cubantes sensim excitant ean-

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Noli […] ex me quaerere, qui in Phalericum etiam descenderim, quo in loco ad fluctum aiunt declamare solitum Demosthenem, ut fremitum assuesceret voce vincere.

Ein Bezug auf die Deklamation scheint in dem Wortfeld von declamare erstmals in De oratore vorzuliegen. Für das Adjektiv declamatorius wird dies an folgender Stelle deutlich:¹²⁷ in orationibus hisce ipsis iudiciorum, contionum, senatus, etiam si proprie ceterae non adhibeantur artes, tamen facile declaratur, utrum is, qui dicat, tantum modo in hoc declamatorio sit opere iactatus an ad dicendum omnibus ingenuis artibus instructus accesserit.

Hier verweist declamatorium opus sicherlich sowohl auf die Deklamation als auch stellvertretend auf den gesamten Rhetorikunterricht.¹²⁸ Auch wenn das declamatorium opus in einem Gegensatz das schwächere Glied darstellt, lässt sich ein abwertender Gebrauch des Adjektives in dem Sinn, dass das Deklamieren als bloße Stimmübung angesehen wird, nicht sicher erkennen.¹²⁹ Vielmehr geht es um den Gegensatz zwischen dem Schulredner, der nicht mehr gelernt hat, als notwendig ist, und dem allseitig gebildeten Redner.¹³⁰ Der Ausdruck declamatorium opus selbst scheint wertneutral „das Feld der Schulrhetorik“ zu bedeuten. Mit dem Ausdruck declamatorium opus vergleichbar ist die Stelle aus dem Brief an seinen Bruder Quintus aus dem Jahr 54 v.Chr., an der Cicero davon spricht, dass sein Neffe über das declamatorium genus erfreut ist.¹³¹ Hier ist relativ klar, dass das declamatorium genus einen Gegenbegriff zu Ciceros θετικώτερον genus bildet und Cicero die Thesen gegenüber den deklamatorischen Hypothesen fa-

demque, cum egerunt, sedentes ab acutissimo sono usque ad gravissimum sonum recipiunt et quasi quodam modo conligunt. Zu Demosthenes vgl. Val. Max. 8,7 ext. 1: [sc. Demosthenes] vadosis litoribus insistens declamationes fluctuum fragoribus obluctantibus edebat; Stroh (2003) 14. 127 Cic. de orat. 1,73. 128 Vgl. Stroh (2003) 19. 129 Dass das Deklamieren bzw. der gesamte Rhetorikunterricht hier als bloße Stimmübung angesehen wird, wie Stroh (2003) 19 annimmt, lässt sich der vorliegenden Textstelle nicht eindeutig entnehmen (allerdings lässt sich diese Ansicht auch nicht eindeutig widerlegen). Zumindest wird der Aspekt der Stimmübung hier (sonst) nirgends realisiert. Anders de orat. 1,149. 130 Dies wird auch aus dem Kontext deutlich. Der zuvor zitierte Satz ist nämlich der (mit sic eingeleitete) zweite Teil eines Vergleichs, dessen erster Teil folgendermaßen lautet (de orat. 1,73): ut qui pila ludunt, non utuntur in ipsa lusione artificio proprio palaestrae, sed indicat ipse motus, didicerintne palaestram an nesciant, et qui aliquid fingunt, etsi tum pictura nihil utuntur, tamen, utrum sciant pingere an nesciant, non obscurum est. 131 Vgl. Cic. ad Q.fr. 3,3,4; s. unter (2a).

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vorisiert. Aber eine Abwertung des declamatorium genus an sich scheint nicht vorzuliegen.¹³² Cicero konzediert nämlich explizit seinem jungen Neffen, dass er sich in den Hypothesen übt und Freude an ihnen findet, da es ihm selbst so ergangen ist. Mit der These verknüpft Cicero die Hoffnung, dass sein Neffe seine Ausbildung im Sinne der Komplementarität erweitern wird. Der Ausdruck declamatorium genus selbst scheint wertneutral „die Übungsform der Deklamation“ zu bedeuten. Das Substantiv declamator wird erstmals in De oratore verwendet. An einer Stelle heißt es über Perikles:¹³³ At hunc non declamator aliqui ad clepsydram latrare docuerat, sed, ut accepimus, Clazomenius ille Anaxagoras vir summus in maximarum rerum scientia.

Fraglich ist allerdings, was declamator ¹³⁴ in diesem offensichtlich despektierlichen Kontext bedeutet. Vermutlich bezeichnet das Substantiv hier den Redelehrer.¹³⁵ Andererseits macht der Kontext deutlich, dass die Vorstellung der Stimmübung ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, d. h. declamator bedeutet wohl soviel wie „Stimmlehrer“. Zumindest bezeichnet declamator hier nicht – wie später – denjenigen, der eine Übungsrede hält, d. h. die Bedeutung „Deklamator“ liegt nicht vor.¹³⁶ Ein Bezug zur Deklamation lässt sich auch an einer Stelle aus der Rede für Plancius (54 v.Chr.) nicht zweifelsfrei erkennen:¹³⁷ hic etiam addidisti me idcirco mea lege exsilio ambitum sanxisse ut miserabiliores epilogos possem dicere. non vobis videtur cum aliquo declamatore, non cum laboris et fori discipulo disputare?

132 Stroh (2003) 20 sieht hier eine „Abwertung des gewöhnlichen rhetorischen Übungsbetriebs“. 133 Cic. de orat. 3,138. 134 Als Varia lectio (und vielleicht Lectio difficilior) ist clamator überliefert; vgl. Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 149 ad loc. 135 Vgl. Stroh (2003) 21; Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 149 ad loc. 136 Welche Bedeutung von declamator orat. 47 vorliegt, ist nicht eindeutig: Faciet igitur hic noster – non enim declamatorem aliquem de ludo aut rabulam de foro, sed doctissimum et perfectissimum quaerimus –, ut, quoniam loci certi traduntur, percurrat omnis, utatur aptis, generatim dicat. Die Tatsache, dass der declamator in einem Zug mit dem rabula genannt wird, könnte darauf hindeuten, dass die Vorstellung der Stimmübung zugrunde liegt (vgl. Stroh [2003] 21). Allerdings lässt sich aus dem Kontext (§ 46) und generatim schließen, dass mit declamator ein beschränkter Schulredner gemeint ist, da das Adverb auf die These verweist (vgl. de orat. 2,42). 137 Cic. Planc. 83.

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Die Gegenseite hatte Cicero offensichtlich vorgeworfen, dass er in seiner lex Tullia de ambitu das Exil als neue Strafe in der Absicht eingeführt hat, um in den Epilogen seiner ambitus-Verteidigungen größeres Mitleid erregen zu können.¹³⁸ Wenn Cicero zu verstehen gibt, dass er kein declamator ist, meint er wahrscheinlich, dass er nicht beabsichtigt, im Epilog die Modulationsfähigkeit seiner ganzen Stimme einzusetzen.¹³⁹ Auch hier scheint also die Bedeutung von declamatio als „Stimmübung“ zugrunde zu liegen. Gleichzeitig ist es möglich, dass mit declamator die Vorstellung verbunden ist, dass ein Gesetz fingiert wird,womit ein Bezug auf die Deklamation gegeben wäre.¹⁴⁰ Ein eindeutiger Beleg für declamator i.S.v. „Deklamator“ lässt sich bei Cicero nicht finden. Das Verb declamare bzw. declamitare wird zuerst im Brutus auf die Deklamation bezogen, wo Cicero die Formulierung commentabar declamitans mit Bezug auf seine eigenen Übungen verwendet.¹⁴¹ Die Parenthese sic enim nunc loquuntur macht hierbei deutlich, dass sich declamitare i.S.v. „deklamieren“ wohl in den Jahren vor 46 v.Chr. zu einem Terminus technicus entwickelt hat.¹⁴² Das Deklamieren konnte aber auch durch commentari, meditari oder exercere (und die entsprechenden Wortarten) bezeichnet werden.¹⁴³ Ob das Wortfeld von declamare bei Cicero wie zu Zeiten des älteren Seneca fiktionale Hypothesen aus dem genus iudiciale und dem genus deliberativum (also das, was später Kontroversie bzw. Suasorie genannt wurde) bezeichnet, lässt sich nicht mit Gewissheit angeben. Der Anfang der Tuskulanen (Tusc. 1,7) zeigt paradigmatisch,¹⁴⁴ dass das Wortfeld von declamare selbst dann, wenn es

138 Vgl. Stroh (2003) 23. 139 Vgl. Cic. orat. 57; Stroh (2003) 24. 140 Vgl. Stroh (2003) 24 f. 141 Cic. Brut. 310; s. S. 23. 142 Declamare ist erstmals in einem Brief aus dem April 44 v.Chr. (Att. 14,12,2) i.S.v. „deklamieren“ belegt; vgl. Stroh (2003) 28. 143 Vgl. folgende Stellen aus dem Brutus, an denen zumindest Redeübungen, vielleicht sogar Deklamationen gemeint sind: 105: in exercitationibus commentationibusque; 249: sese […] cotidianis commentationibus acerrume exercuit; 272: nullum tempus illi umquam vacabat aut a forensi dictione aut a commentatione domestica; 302: nullum […] patiebatur esse diem quin aut in foro diceret aut meditaretur extra forum; 305: cotidie […] et scribens et legens et commentans oratoriis tantum exercitationibus contentus non eram; Stroh (2003) 27 f. Fußn. 87. Allerdings können auch commentari und meditari i.S.v. „(etwas auswendig Gelerntes) (laut) aufsagen“ verwendet werden; vgl. de orat. 1,260: cum […] ita balbus esset [sc. Demosthenes], ut eius ipsius artis cui studeret, primam litteram non posset dicere, perfecit meditando, ut nemo planius esse locutus putaretur; Brut. 301: memoria tanta [sc. fuit Hortensius] […] ut quae secum commentatus esset, ea sine scripto verbis eisdem redderet, quibus cogitavisset; ib. 310 (s. S. 23); S. Rosc. 82 (s. S. 25). 144 S. S. 23.

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Übungsreden bezeichnet, nicht immer die beiden genannten Typen impliziert, sondern auch auf die These verweisen kann. Allerdings legen die beiden Stellen Tusc. 1,7 und ad Q.fr. 3,3,4 folgende Präzisierung nahe: Mit Bezug auf die Schuldeklamation (sowohl auf Ciceros eigene als auch auf diejenige seines Neffen) scheint das Wortfeld von declamare auf die Hypothese zu verweisen, wohingegen bei der Hobbydeklamation auch die These gemeint sein kann. Daher lässt sich kaum sagen, welche Art von Übungsreden Cicero zusammen mit Hirtius, Dolabella und Pansa in den Jahren 46 bis 44 v.Chr. gehalten hat.¹⁴⁵ Möglicherweise hat Ciceros gewandelte Einstellung zur These dazu geführt, dass er (auch) Thesen behandelt hat bzw. hat behandeln lassen.¹⁴⁶ (3a) Wie lässt sich nun die Aussage des älteren Seneca erklären, dass Cicero keine Kontroversien deklamiert hat? Diese Aussage hält die moderne Forschung für einen Irrtum des älteren Seneca, für den sie zwei Gründe anführt: Seneca d.Ä. habe von der Terminologie auf die Phänomene geschlossen, d. h. er habe aus der Tatsache, dass controversia bei Cicero noch nicht die fiktionale Übungsrede aus dem genus iudiciale bezeichnet, geschlussfolgert, dass Cicero das Phänomen noch nicht gekannt hat.¹⁴⁷ Die Alternativerklärung besteht darin, dass sich die Dekla-

145 Vgl. fam. 9,16,7 (Juli 46 v.Chr.): Hirtium ego et Dolabellam dicendi discipulos habeo, cenandi magistros; puto enim te audisse, si forte ad vos omnia perferuntur, illos apud me declamitare, me apud illos cenitare; über die designierten Konsuln Hirtius und Pansa: Att. 14,12,2 (April 44 v.Chr.): haud amo vel hos designatos qui etiam declamare me coegerunt; Sen. contr. 1 praef. 11: alioqui [sc. wenn der Bürgerkrieg mich nicht in der Heimat festgehalten hätte] in illo atriolo, in quo duos grandes praetextatos ait [sc. Cicero] secum declamare, potui adesse; Suet. rhet. 25,3: Cicero ad praeturam usque etiam Graece declamitavit, Latine vero senior quoque et quidem cum consulibus Hirtio et Pansa, quos discipulos et grandis praetextatos vocabat. Zu Ciceros Deklamationen mit Hirtius, Dolabella und Pansa vgl. Berti (2009), der das Fragment aus einer von Cicero gehaltenen Kontroversie (contr. 1,4,7) mit jenen Deklamationen in Verbindung bringt. 146 Ein untechnischer Gebrauch von declamare liegt wiederum in den Philippiken vor; vgl. 2,42: Haec ut colligeres, homo amentissime, tot dies in aliena villa declamasti? Quamquam tu quidem, ut tui familiarissimi dictitant, vini exhalandi, non ingenii acuendi causa declamas; 5,19: Ipse interea septemdecim dies de me in Tiburtino Scipionis declamitavit sitim quaerens; haec enim ei causa esse declamandi solet. Denn an diesen Stellen bezeichnet declamare zwar Redeübungen (im ersten Fall Antonius’ Vorbereitung auf seine Senatsrede vom 19. September, mit der er auf Ciceros erste Philippische Rede reagiert und auf die Cicero wiederum mit der zweiten Philippischen Rede antwortet). Aber im Unterschied zur Deklamation geht es an diesen Stellen darum, dass Antonius mit seinem Redelehrer Sextus Clodius fertige Reden gegen Cicero oder sogar Rededuelle einstudiert hat; vgl. Stroh (2003) 29 und Suet. rhet. 29 mit Kaster (1995) ad loc. Es liegt also ein ganz konkreter Bezug zur wirklichen Rede vor. Vom Phänomen her vergleichbar ist Brut. 301: memoria tanta [sc. fuit Hortensius] […] ut quae secum commentatus esset, ea sine scripto verbis eisdem redderet, quibus cogitavisset. 147 Vgl. Fairweather (1984) 550; Berti (2007) 111 f. und (2009) 5.

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mation derart gewandelt habe, dass die Fiktion in ihr die Oberhand gewonnen hat.¹⁴⁸ Die Annahme einer zunehmenden Fiktionalisierung der Deklamation lässt sich nur schwer halten, da die Fiktion ein Gattungsmerkmal der Deklamation ist.¹⁴⁹ Außerdem spricht Seneca d.Ä. an der fraglichen Stelle nicht explizit davon, dass die fiktionalen Elemente wie Piraten, Tyrannen und andere Figuren Überhand genommen haben. Wir wissen sogar im Gegenteil durch Philostrat, dass diese Figuren am Ende des vierten Jahrhunderts v.Chr. Eingang in die griechische Deklamation gefunden haben,¹⁵⁰ so dass fraglich ist, ob die lateinische Deklamation eigene Wege gegangen ist. Die Annahme einer zunehmenden Fiktionalisierung der Deklamation erscheint auch deswegen als problematisch, weil von einer Kontroversie, die Cicero nach Aussage des älteren Seneca deklamiert hat, kaum gesagt werden kann, dass sie weniger fiktiv ist als die anderen Kontroversien aus dem Werk des älteren Seneca.¹⁵¹ Zweifellos offenbaren Beispiele, die v. a. in De inventione und in der Herennius-Rhetorik vorkommen, dass Cicero und seine Zeitgenossen in denjenigen Übungen ausgebildet wurden, die später als Kontroversien und Suasorien bezeichnet wurden.¹⁵² Insofern kann nicht die Rede davon sein, dass Cicero keine Kontroversien gekannt habe.Trotzdem lässt sich ein Unterschied zwischen der Zeit des älteren Seneca und derjenigen Ciceros feststellen, der nicht nur in der Terminologie liegt: In der Kaiserzeit galten die fiktionalen Übungsreden aus dem

148 Vgl. Sussman (1978) 8; Hofrichter (1935) 10: „Im Verhältnis zum Begriff der Fiktion ist somit zugleich der Unterschied zwischen den Deklamationen der Cicero-Cornificius-Epoche zur Zeit Senecas und ihrer Auffassung gegeben. Hier herrscht die „fictio irrealis“, dort die „potentialis“ vor.“ 149 Vgl. Hömke (2002) 27 Fußn. 84: „Auch Hofrichter 1935, 11 erkennt die Fiktion als gattungskonstituierendes Merkmal an, unternimmt jedoch den kaum haltbaren Versuch, die Geschichte der Deklamation als ein zeitliches Nacheinander von fictio potentialis (z. Zt. Ciceros) und fictio irrealis (ab Seneca d.Ä.) zu beschreiben.“ 150 S. S. 11 f. 151 Vgl. contr. 1,4,7: Color pro adulescente unus ab omnibus, qui declamaverunt, introductus est: non potui occidere, ex illa Ciceronis sententia tractus, quam in simili controversia dixit, cum abdicaretur is, qui adulteram matrem occidendam acceperat et dimiserat: ter non ***. 152 Vgl. Cic. inv. 1,17: Utrum Carthago diruatur an Carthaginiensibus reddatur an eo colonia deducatur; 2,78: Horatius occisis tribus Curiatiis et duobus amissis fratribus domum se victor recepit. Is animadvertit sororem suam de fratrum morte non laborantem, sponsi autem nomen appellantem identidem Curiatii cum gemitu et lamentatione. Indigne passus virginem occidit. Zur Herennius-Rhetorik vgl. Marx’ (1894) 102– 110 Stellensammlung in der Einleitung seiner Textausgabe; Bonner (1949) 22: „the reader of the Ad Herennium is constantly confronted with examples of such subjects of exercises on fictitious themes which bear considerable resemblance to those of the early Empire.“

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genus deliberativum (Suasorien) als leichter als die fiktionalen Übungsreden aus dem genus iudiciale (Kontroversien) und wurden folglich vor ihnen geübt.¹⁵³ Die Deklamationen waren also terminologisch und hinsichtlich des Schulcurriculums anhand der genera causarum getrennt. Zu Ciceros Zeit lässt sich weder die terminologische noch die curriculare Trennung zwischen den Deklamationen beobachten. Zwar entstammten die Deklamationen ebenfalls diesen beiden genera causarum, wie die Beispiele aus De inventione und der Herennius-Rhetorik zeigen. Aber dass die Kontroversie als schwierigste Übungsform den Abschluss des Rhetorikstudiums bildete und insofern bewusst von der Suasorie getrennt wurde, wird in Ciceros Schriften nicht deutlich. An denjenigen Stellen, an denen Cicero auf die Deklamationen aus seiner Jugend zurückblickt, spricht er von causae bzw. vom genus declamatorium, also von Hypothesen, ohne zwischen den genera causarum zu differenzieren.¹⁵⁴ Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich die Aussage des älteren Seneca, dass Cicero keine Kontroversien deklamiert habe, als nachvollziehbar, da er eine Differenzierung des Schulcurriculums im Blick hat.¹⁵⁵ Sie wird sogar noch verständlicher, wenn man bedenkt, dass es im Griechischen zumindest keine terminologische Unterscheidung zwischen der Kontroversie und der Suasorie gibt.¹⁵⁶ Fraglich ist, ob es eine curriculare Trennung zwischen diesen beiden Deklamationstypen gegeben hat.¹⁵⁷ Bis in die Zeit des älteren Seneca hatte sich also eine terminologische und curriculare Differenzierung der genera causarum etabliert, die folgendermaßen dargestellt werden kann:¹⁵⁸

153 S. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 2. 154 Cic. Tusc. 1,7; ad Q.fr. 3,3,4; s. S. 23 f. 155 Dass Seneca d.Ä. sich auf das Schulcurriculum bezieht, geht auch aus dem Verb exercere hervor (contr. 1 praef. 12): hoc enim genus materiae, quo nos exercemur, adeo novum est, ut nomen quoque eius novum sit. controversias nos dicimus: Cicero causas vocabat. Möglicherweise erklärt sich so auch die Aussage über Aischines (contr. 1,8,16): Aeschines non ille orator (tunc enim non declamandi studium erat) sed hic ex declamatoribus novis dixit […]: Zu Aischines’ Zeiten gab es kein differenziertes Schulcurriculum, in dem die Kontroversie den krönenden Abschluss bildete. 156 Vgl. Russell (1983) 10. 157 Zumindest wurden wie in Rom die fiktionalen Übungsreden aus dem genus deliberativum und dem genus iudiciale als Deklamationen angesehen und von den Progymnasmata getrennt; vgl. Theon RhG II p. 59 Spengel (p. 1 Patillon / Bolognesi [1997]): νῦν δὲ οἱ πλείους τοσοῦτον δέουσι τῶν τοιούτων λόγων ἐπαΐειν, ὥστε οὐδὲ τῶν ἐγκυκλίων καλουμένων μαθημάτων ὁτιοῦν μεταλαμβάνοντες ᾄττουσιν ἐπὶ τὸ λέγειν, καὶ τὸ πάντων ἀγροικότατον, ὅτι οὐδὲ οἷς προσῆκόν ἐστιν ἐγγυμνασάμενοι, ἐπὶ τὰς δικανικὰς καὶ δημηγορικὰς ἴενται ὑποθέσεις. 158 In dieser Graphik sind sowohl die nicht-fiktionalen Reden (orationes; nicht-fiktionale Lobund Tadelrede) als auch die fiktionalen Reden (Deklamationen und Progymnasmata) dargestellt. Die Deklamationen sind fett, die Progymnasmata kursiv gedruckt. Auf eine Untergliederung der

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Die Aussage des älteren Seneca, dass Cicero keine Kontroversien deklamiert hat, lässt sich also teilweise erklären. Vielleicht darf man annehmen, dass mit der curricularen Trennung zwischen der Suasorie und der Kontroversie auch eine gesteigerte Wertschätzung der beiden Formen der Schuldeklamation verbunden war, die schließlich dazu führte, dass Rhetoren nur noch die Deklamation und keine Progymnasmata mehr behandelt haben.¹⁵⁹ Trotzdem wird man wohl feststellen müssen, dass Seneca d.Ä. den Unterschied zwischen der Zeit Ciceros und der eigenen Zeit überbewertet, wenn er in den zeitgenössischen Deklamationen eine neue Qualität und eine neue Übungsform erblickt.¹⁶⁰ Möglicherweise spielt bei dieser Überbewertung noch ein anderer Umstand eine Rolle, nämlich die Entwicklung der Schaudeklamation.¹⁶¹ Das Phänomen, dass Rhetoren vor großem Publikum deklamieren, scheint es bereits in der Republik gegeben zu haben.¹⁶² Vor

These wurde verzichtet. Für das genus demonstrativum sind jeweils beide Teile (laus et vituperatio) angegeben; für die beiden anderen genera wurden die Teile nicht angegeben. 159 Vgl. Quint. inst. 2,1,1– 3 mit Reinhardt / Winterbottom (2006) ad loc. (s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 4). 160 Vgl. contr. 1 praef. 12: Declamabat autem Cicero non quales nunc controversias dicimus […]. hoc […] genus materiae, quo nos exercemur, adeo novum est, ut nomen quoque eius novum sit. […] modo nomen hoc [sc. declamationis] prodiit, nam et studium ipsum nuper celebrari coepit. ideo facile est mihi ab incunabulis nosse rem post me natam. 161 Turner (1972) 201 f. erklärt den Unterschied, den Seneca d.Ä. zwischen der eigenen Zeit und der Zeit Ciceros sieht, dadurch, dass sich in der Kaiserzeit die Schaudeklamation herausgebildet habe. Dieser Unterschied ist jedoch nicht kategorial, wie wir darlegen werden. 162 Vgl. Suet. gramm. 7,2: docuit [sc. Antonius Gnipho] primum in Divi Iuli domo pueri adhuc, deinde in sua privata. docuit autem et rhetoricam, ita ut cotidie praecepta eloquentiae traderet, declamaret vero nonnisi nundinis. scholam eius claros quoque viros frequentasse aiunt, in his M. Ciceronem, etiam cum praetura fungeretur.

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allem durch das Werk des älteren Seneca sind wir aber darüber informiert, dass die Schaudeklamation ein beliebtes Phänomen der Kaiserzeit ist.¹⁶³ Daher ist es denkbar, dass diese Entwicklung zum Urteil des älteren Seneca beigetragen hat, dass die Deklamationen der eigenen Zeit eine neue Entwicklungsstufe darstellen. Für das Urteil des älteren Seneca scheinen also zwei Gründe bestimmend zu sein: Zum einen lässt sich nicht bestreiten, dass er teilweise aus den neuen Begriffen (declamatio, controversia, scholastica) darauf schließt, dass sich auch die Phänomene erst jüngst entwickelt haben. Zum anderen lässt sich tatsächlich eine historische Entwicklung feststellen. Die Unterschiede zur Ciceronischen Zeit sind aber eher graduell als kategorial und lassen sich unter der gesteigerten Wertschätzung der Deklamation subsumieren: Diese zeigt sich zum einen darin, dass die Suasorie von der Kontroversie im Schulcurriculum getrennt wurde und vermutlich beide Arten der Deklamation im Unterricht beim Rhetor dominierten. Zum anderen erlebte die Schaudeklamation einen Aufschwung und wurde zu einem beliebten Ereignis der Kaiserzeit. (3b) Die terminologischen Beobachtungen des älteren Seneca scheinen, soweit wir dies überprüfen können, zuzutreffen: Die Bezeichnung controversia i.S.v. „Kontroversie“, also im Sinne einer fiktionalen Übungsrede aus dem genus iudiciale, lässt sich in der Tat noch nicht bei Cicero vorfinden. An derjenigen Stelle, an der das Signifikat die größten Übereinstimmungen mit der späteren technischen Bedeutung hat, bezeichnet controversia die Hypothese, ohne speziell auf den juristischen Typus der Hypothese zu verweisen:¹⁶⁴ dicunt [sc. Peripatetici et Academici] […] omnem civilem orationem in horum alterutro genere versari: aut de finita controversia certis temporibus ac reis; hoc modo: placeatne a Karthaginiensibus captivos nostros redditis suis recuperari? […]

Das Beispiel, das an dieser Stelle gewählt wird, zeigt sogar, dass eine Suasorie als controversia bezeichnet werden konnte.¹⁶⁵

163 Vgl. Hömke (2002) 23 – 29. 164 Cic. de orat. 3,109; vgl. Fairweather (1984) 550 Fußn. 157 und 158. 165 Möglicherweise geht die Verwendung von controversia i.S.v. „Hypothese“ auf die Akademiker und Peripatetiker zurück; vgl. Cic. de orat. 3,109: superius illud genus causam aut controversiam appellant [sc. Peripatetici et Academici] eamque tribus, lite aut deliberatione aut laudatione, definiunt. Es ist aber auch möglich, dass die terminologische Unterscheidung zwischen der Hypothese und der These als Fremdmeinung (bzw. -bezeichnung) referiert wird, obwohl es sich um die eigene Terminologie handelt, da der Sprecher die genannte Unterscheidung als Trennung darstellt und kritisiert, wohingegen er selbst der Meinung ist, dass der

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Bei scholastica handelt es sich um ein feminines Substantiv, das wahrscheinlich die griechische Form ἡ σχολαστική wiedergibt.¹⁶⁶ Das griechische Substantiv ἡ σχολαστική wiederum ist wohl als Ellipse zu ἡ σχολαστική [sc. μελέτη] zu erklären.¹⁶⁷ Es besteht kein Anlass, an der Aussage des älteren Seneca zu zweifeln, dass scholastica („Schulrede“) ein neueres Wort im Vergleich zu controversia (i.S.v. „Kontroversie“) ist. Beide Substantive sind zum ersten Mal bei Seneca d.Ä. belegt. Der Teilsatz, in dem Seneca d.Ä. berichtet, dass Calvus als Erster declamatio i.S.v. „Deklamation“ verwendet hat, ist textkritisch umstritten.¹⁶⁸ Es hat aber den Anschein, dass es Seneca d.Ä. an dieser Stelle nicht um die Wortart Substantiv (declamatio), sondern um das Wortfeld von declamare geht, also um die Frage, seit wann das Wortfeld von declamare die Deklamation bezeichnet. Denn die Aussage, dass Calvus zum ersten Mal declamatio (i.S.v. „Deklamation“) verwendet hat, belegt Seneca d.Ä. mit dessen Gebrauch des Verbs declamare. ¹⁶⁹ Nun haben wir mit Blick auf Cicero festgestellt, dass sich in De oratore zum ersten Mal das Adjektiv declamatorius findet, um auf die Deklamation zu verweisen. Wenn Seneca d.Ä. also das gesamte Wortfeld von declamare (inklusive Adjektiv) berücksichtigen sollte, ergibt sich als Terminus ante quem für Calvus’ Verwendung von declamare i.S.v. „deklamieren“ 55 v.Chr. Wenn Seneca d.Ä. nur das Verb declamare (und das Substantiv declamatio) berücksichtigen sollte, ergibt sich als Terminus ante quem für Calvus’ Verwendung von declamare i.S.v. „deklamieren“ 47 v.Chr. (Calvus’ Todesjahr; declamitare wird von Cicero seit 46 v.Chr.

Redner sowohl die These als auch die Hypothese beherrschen muss; vgl. Wisse / Winterbottom / Fantham (2008) 70 ad loc. und 45 f. 166 Vgl. Bonner (1947) 86, der die Meinung zurückweist, dass es sich bei scholastica um ein Neutrum Plural handelt; vgl. contr. 3 praef. 12: in scholastica quid non supervacuum est, cum ipsa supervacua sit? 167 Vgl. Plut. mor. 46a: ἐν ταῖς σχολαστικαῖς μελέταις. Alternativ wäre zu überlegen, ob scholastica [sc. oratio] nur im Lateinischen ein Substantiv darstellt, während es im Griechischen als Adjektiv (σχολαστικὸς λόγος) benutzt wurde. 168 Hall (1973) 11 hat Anstoß an der Tatsache genommen, dass der Relativsatz qui declamationem distinguit im Singular steht, obwohl zuvor zwei Personen genannt sind (ante Ciceronem et Calvum). Er schlägt daher vor, Ciceronem et zu tilgen. Fairweather (1984) 549 Fußn. 153 erwägt im Anschluss an Hall, ante Ciceronem et Calvum hinter inveniri potest zu stellen. Wir sehen keine Veranlassung, an dem überlieferten Text zu zweifeln. Dass Cicero genannt wird, liegt daran, dass Cicero für Seneca d.Ä. die zentrale Figur der römischen Rhetorik ist, an der sich die Entwicklungsgeschichte der Deklamation orientiert. 169 Contr. 1 praef. 12 (= Licinius Calvus fr. 34 Malcovati [1967] 500): […] ipsa ‘declamatio’ apud nullum antiquum auctorem ante Ciceronem et Calvum inveniri potest, qui declamationem distinguit; ait enim declamare iam se non mediocriter, dicere bene; alterum putat domesticae exercitationis esse, alterum verae actionis.

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i.S.v. „deklamieren“ verwendet [Brut. 310], declamare seit 44 v.Chr. [Att. 14,12,2]).¹⁷⁰ Fraglich ist allerdings, welche Unterscheidung Calvus mit Bezug auf declamatio vorgenommen hat, d. h. wovon er sie getrennt hat. Seit Müller (1887) 7 lesen die Herausgeber den Relativsatz qui declamationem 〈a dictione〉 distinguit. Was gemeint sein muss, geht aus dem Kontext hervor: Calvus hat als Erster die fiktionalen Reden (Übungsreden) terminologisch von den nicht-fiktionalen Reden unterschieden, indem er für die erste Gruppe von Reden das Verb declamare und für die zweite Gruppe das Verb dicere verwendet. Es stellen sich nun zwei Fragen: Ist a dictione, eine Supplierung von Gertz, der richtige Ausdruck, um diese Unterscheidung auszudrücken? Ist eine Supplierung notwendig? Gertz’ Supplierung ist sicherlich dadurch motiviert, dass die beiden Substantive declamatio und dictio den beiden Verben declamare und dicere gegenübergestellt werden. Aus paläographischen Erwägungen ist a dictione eine ansprechende Supplierung, da man ihre Auslassung als Haplographie erklären könnte. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dictio unter semantischen Gesichtspunkten die richtige Ergänzung darstellt, da ein Wort für die nicht-fiktionale Rede gesucht wird. Immerhin kann dictio die Rede bezeichnen.¹⁷¹ Das übliche Wort für die nicht-fiktionale Rede ist aber oratio, so dass es ratsamer wäre, Bursian (1857) 50 zu folgen, der erwägt, ab oratione vor distinguit zu ergänzen. Außerdem sollte beachtet werden, dass das in Frage stehende Substantiv wohl von Seneca d.Ä. geäußert wird, d. h. in dem Relativsatz spricht Seneca d.Ä. In dem folgenden Satz hingegen, der mit ait eingeleitet wird, wird Calvus zitiert. Auch deshalb ist die Annahme, dass man aufgrund von dicere das Substantiv dictio ergänzen sollte, nicht zwingend. Die grundlegende Frage ist aber, ob eine Supplierung überhaupt nötig ist. Dies scheint uns zweifelhaft zu sein.¹⁷² Denn welche Unterscheidung Calvus getroffen hat, wird aus dem Kontext deutlich, und distinguere erfordert nicht zwingend zwei Ergänzungen, die angeben, was wovon unterschieden wird.¹⁷³ Unter Annahme einer Brachylogie lässt sich die Überlieferung also halten.

170 S. S. 28. 171 Vgl. Cic. de orat. 1,64; 2,270. 172 Bursian (1857) 50 und Kiessling (1872) 62 verzichten wohl zu Recht auf eine Ergänzung. Vgl. auch Stroh (2003) 30 Fußn. 99: „Die Ergänzung [sc. a dictione] macht den Gedanken klarer, ist sprachlich aber vielleicht nicht unbedingt nötig; vgl. etwa Cic. orator 65 sophistarum […] magis distinguenda similitudo uidetur (sc. ab oratoribus).“ Ob ab oratoribus gedanklich zu ergänzen ist, ist allerdings fraglich. 173 Vgl. suas. 1,16: et volebam vos experiri non adiciendo iudicium meum nec separando a corruptis sana. potuisset etenim fieri, ut vos magis illa laudaretis, quae insaniunt. et nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim [sc. a corruptis sana].

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3 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte. Die sententiae, divisiones und colores 3.1 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte I Im Kolophon der Suasorien, die die Handschriften B und V überliefern, findet sich die Angabe L. Annei Senecae oratorum et rhetorum sententiae divisiones colores suasoriarum liber primus explicit incipit liber secundus feliciter. Aufgrund dieses Befundes trägt das Werk des älteren Seneca in der modernen Forschung zumeist den Titel Oratorum et rhetorum sententiae divisiones colores, wodurch suggeriert wird, dass die sententiae, divisiones und colores die drei Kategorien sind, nach denen Seneca d.Ä. die Deklamationsexzerpte angeordnet hat. Bevor wir die Frage erörtern, inwiefern der überlieferte Titel der Anordnung der Deklamationsexzerpte des älteren Seneca gerecht wird, wenden wir uns kurz den drei Begriffen und Phänomenen sententiae, divisiones und colores zu, die in der Forschung zum älteren Seneca besondere Aufmerksamkeit erfahren haben.¹⁷⁴

3.2 Die sententiae Dass es sich bei den Zitaten im ersten Teil der Deklamationsexzerpte um sententiae handelt, machen einige Stellen im Werk des älteren Seneca deutlich, an denen er seine Absicht bekundet, sententiae zu referieren.¹⁷⁵ Vor allem ein Querverweis in der Kontroversie 2,3 zeigt, dass es sich bei den sententiae um eine Kategorie handelt, nach der Seneca d.Ä. die Deklamationsexzerpte angeordnet hat (contr. 2,3,18): Latro dixit id, quod inter sententias scriptum est: ‘moriar’; dic ergo verum. Die Funktion des Relativsatzes besteht nämlich offenkundig darin, auf den Anfang (contr. 2,3,1) zu verweisen. Da es sich bei dem Werk des älteren Seneca um ein rhetorisches Werk handelt, liegt es nahe, unter sententia die Sentenz im technischen Sinn zu verstehen, die

174 Vgl. Hess (1900); Bonner (1949) 54– 57; Sussman (1978) 35 – 43; Fairweather (1981) 152– 178 und 202– 207; Quinn (1991) und (1994); Zinsmaier (1993) 75 – 84; Adiego Lajara / Artigas (1999); Heath (2002) und (2003); Riquer Permanyer (2004); Lévy (2006); Calboli Montefusco (2003) und (2007); Berti (2007) 25 – 28; Bradley (2009) 111– 127; Huelsenbeck (2009) 11– 15; Zinsmaier (2009). Thorsten Burkard bereitet eine Monographie zu den divisiones und colores vor; eine Zusammenfassung der Ergebnisse erscheint demnächst in einem Aufsatz in den von Rémy Poignault und Catherine Schneider herausgegebenen Tagungsbänden zur „Présence de la déclamation antique“. 175 Vgl. v. a. contr. 1 praef. 5; 10; 22.

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auch als Glanzlicht (lumen) bezeichnet wurde.¹⁷⁶ Die Sentenzen wurden von den Rhetoren in verschiedene Klassen unterteilt, wie aus dem Kapitel, das Quintilian der Sentenz widmet,¹⁷⁷ ersichtlich ist. Wir begnügen uns an dieser Stelle mit der grundlegendsten Unterscheidung, die die Sentenzen betrifft, nämlich zwischen Sentenzen im eigentlichen Sinn und den Sentenzen im weiteren Sinn. Sentenzen im eigentlichen Sinn sind die sog. gnomischen Sentenzen, d. h. allgemeine Weisheiten, die in jeder Rede bzw. Deklamation verwendet werden können.¹⁷⁸ Als Beispiele für die gnomische Sentenz seien zitiert:¹⁷⁹ omnis instabilis et incerta felicitas est (contr. 1,1,3); omnes uxores divites servitutem exigunt (contr. 1,6,5); magni pectoris est inter secunda moderatio (suas. 1,3). Sentenzen im weiteren Sinn sind spezielle, auf den jeweiligen Fall bezogene Sentenzen. So sagt z. B. ein Deklamator in der ersten Suasorie zu Alexander, der erwägt, auf den Ozean hinaus zu segeln:¹⁸⁰ non quaerimus orbem, sed amittimus. Allerdings werden im ersten Teil der Deklamationsexzerpte des älteren Seneca nicht nur Sentenzen im technischen Sinn zitiert, sondern auch Beschreibungen, Loci communes, Elemente aus der narratio oder argumentatio u. ä. Diese Tatsache haben einzelne Forscher dadurch zu erklären versucht, dass sie Seneca d.Ä. einen sehr weiten Gebrauch des Wortes sententia zuschrieben.¹⁸¹ Dies scheint in der Tat der richtige Ansatz zu sein, da die Identifizierung mit den Sentenzen dem Phänomen nicht gerecht wird. Der Begriff sententia im Werk des älteren Seneca ist aber auch nicht in Opposition zu verbum zu verstehen,¹⁸² d. h. er trägt nicht nur die Bedeutung „Gedanke“ in Opposition zum „sprachlichen Ausdruck“ (Signifikat vs. Signifikant). Vielmehr ist er eine Kombination aus beidem, wie u. a. aus Stellen hervorgeht, an denen Seneca d.Ä. den Begriff sententia umschreibt:¹⁸³

176 Vgl. Quint. inst. 8,5,2. Seit Bonner (1949) 54 wird der Begriff sententia im Werk des älteren Seneca auf die Sentenzen im technischen Sinn bezogen. 177 Vgl. Quint. inst. 8,5. 178 Vgl. Quint. inst. 8,5,3: Antiquissimae sunt quae proprie, quamvis omnibus idem nomen sit, sententiae vocantur, quas Graeci gnomas appellant: utrumque autem nomen ex eo acceperunt quod similes sunt consiliis aut decretis. Est autem haec vox universalis, quae etiam citra complexum causae possit esse laudabilis. 179 Vgl. teilweise Bonner (1949) 54 f.; Sussman (1978) 37. 180 Suas. 1,2. 181 Vgl. Riquer Permanyer (2004) 371; Berti (2007) 26; Sussman (1978) 36 erwägt diese Möglichkeit. 182 Vgl. z. B. Cic. de orat. 2,93: Pericles atque Alcibiades et eadem aetate Thucydides […] sententiis […] magis quam verbis abundantes. 183 Contr. 1 praef. 10; contr. 9,5,17.

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sententias a disertissimis viris factas facile in tanta hominum desidia pro suis dicunt […]. Eo libentius, quod exigitis, faciam et, quaecumque a celeberrimis viris facunde dicta teneo, […] populo dedicabo. habet hoc Montanus vitium: sententias suas repetendo corrumpit. dum non est contentus unam rem semel bene dicere, efficit, ne bene dixerit.

Für die Kategorie der sententiae lässt sich daher nur eine sehr allgemeine Bedeutung annehmen: Mit diesem Begriff werden im Werk des älteren Seneca die ästhetisch ansprechend formulierten Gedanken bezeichnet.¹⁸⁴

3.3 Die divisio Während Seneca d.Ä. im ersten Teil der Deklamationsexzerpte Äußerungen von Deklamatoren hauptsächlich zitiert und nur selten kommentiert, ist im zweiten Teil, der divisio, das Gegenteil der Fall: Hier spricht Seneca d.Ä. selbst zu uns und gibt an, wie die Deklamatoren ihre Argumentation gegliedert haben. Hierbei spielen – v. a. in den Kontroversien – die quaestiones eine wichtige Rolle. Bei den quaestiones handelt es sich um Fragen, die sich aus dem Thema und dem Gesetz der Kontroversie ergaben und die teilweise hierarchisch untergliedert wurden. Als Suchformeln dienten sie dem Zweck, die Argumente sowohl für das Pro als auch für das Contra zu finden. Die Funktion der divisio wird in einer der kleineren Quintilianischen Deklamationen treffend mit folgenden Worten beschrieben: divisio paene hoc proprium habet, ostendere ossa et nervos controversiae. ¹⁸⁵ Auf ähnliche Weise bezeichnet Seneca d.Ä. die divisio als fundamentum. ¹⁸⁶ Betrachten wir als Beispiel die Kontroversie 1,1. Das Gesetz dieser Kontroversie lautet Liberi parentes alant aut vinciantur. Zwei Brüder waren zerstritten. Der eine abdiziert seinen Sohn, als dieser gegen seinen Willen den verarmten Onkel unterstützt. Nachdem der Sohn vom Onkel adoptiert worden ist, gerät sein leiblicher Vater in Armut. Der Sohn unterstützt ihn gegen den Willen seines Onkels und wird von diesem abdiziert. Es kommt zum Prozess zwischen dem Sohn und dem Onkel.¹⁸⁷ Aus dem Referat des älteren Seneca, welche quaestiones sein Freund Latro

184 Vgl. Hess (1900) 1– 5 und 8, der meint, dass der Begriff den „in Worten ausgedrückten Gedanken“ bezeichnet. 185 Quint. decl. 270,2. 186 Vgl. contr. 1 praef. 21. 187 Vgl. contr. 1,1 thema: Duo fratres inter se dissidebant. alteri filius erat. patruus in egestatem incidit. patre vetante adulescens illum aluit. ob hoc abdicatus tacuit. adoptatus a patruo est.

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für relevant hielt, wird deren Anordnung deutlich. Latros grundlegende Unterteilung besteht in der Zweiteilung zwischen der Frage, ob die Abdikation des Sohnes rechtlich zulässig ist, und der Frage, ob sie moralisch gerechtfertigt ist. Die erste Frage behandelt er derart, dass er fragt, ob der Sohn rechtlich gezwungen war, seinen leiblichen Vater zu unterstützen, und unterteilt sie in untergeordnete quaestiones; z. B. in die Frage, ob ein Abdizierter aufhört, ein Sohn zu sein. Diese Frage ist insofern relevant, als ein Sohn nach dem Gesetz der Kontroversie dazu verpflichtet ist, seinen Vater zu unterstützen. Es ist aber fraglich, ob diese Pflicht auch in diesem Fall besteht, da der Sohn von seinem Vater abdiziert wurde. Eine weitere Frage ist, ob derjenige aufhört, ein Sohn zu sein, der nicht nur abdiziert, sondern auch von einer anderen Person adoptiert wurde.Weiterhin fragt Latro, ob selbst dann, wenn der Sohn tatsächlich noch die Rechte und Pflichten eines Sohnes hatte, jeder Sohn seinen Vater unterstützen muss. Die Frage der moralischen Rechtfertigung behandelt Latro derart, dass er zunächst fragt, ob der Sohn richtig gehandelt hat – unabhängig davon, ob sein leiblicher Vater die Unterstützung verdient hat oder nicht. Anschließend fragt er, ob sein leiblicher Vater die Unterstützung verdient hat.¹⁸⁸ An diesem Fragenkomplex kann man mehrere Beobachtungen anstellen. Zum einen wird deutlich, dass die quaestiones (zumindest in diesem Fall) einer Ordnung folgen und einzelne quaestiones unterhalb von anderen quaestiones stehen. Zum anderen kann man ersehen, dass die quaestiones sowohl für die Anklage als auch für die Verteidigung relevant sind. So kann ein Deklamator die Frage, ob ein Abdizierter aufhört, ein Sohn zu sein, grundsätzlich mit „ja“ oder „nein“ beantworten. Derjenige, der zu zeigen versucht, dass die Abdikation zu Unrecht geschehen ist, wird diese Frage mit „nein“ beantworten. Die Gegenseite hingegen wird diese Frage mit „ja“ beantworten. Bei der präzisierenden Frage, ob derjenige aufhört, ein Sohn zu sein, der nicht nur abdiziert, sondern auch von einer anderen Person adoptiert wurde, wird die Gegenseite an ihrem „ja“ festhalten und sogar einen noch besseren Grund sehen, warum der Abdizierte kein Sohn mehr ist. Wie die Seite des Sohnes diese Frage beantwortet, ist fraglich.Wenn sie diese Frage vor

patruus accepta hereditate locuples factus est, egere coepit pater; vetante patruo alit illum. abdicatur. 188 Vgl. contr. 1,1,13: Latro illas quaestiones fecit: divisit in ius et aequitatem, an abdicari possit, an debeat. 〈an possit〉 abdicari, sic quaesit: an necesse fuerit illum patrem alere, et ob id abdicari non possit, quod fecit lege cogente. hoc in has quaestiones divisit: an abdicatus non desinat filius esse; an is desinat, qui non tantum abdicatus sed etiam ab alio adoptatus est. etiamsi filius erat, an quisquis patrem non aluerit puniatur, tamquam aeger, vinctus, captus; an aliquam filii lex excusationem accipiat; an in hoc accipere potuerit. an abdicari debeat, per hoc quaesit: an, etiamsi ille indignus fuit, qui aleretur, hic tamen recte fecerit, qui aluit. deinde, an dignus fuerit, qui aleretur; vgl. hierzu das Schema bei Fairweather (1981) 160.

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Gericht stellen würde, würde sie dafür plädieren, dass auch ein Abdizierter und Adoptierter der Sohn seines leiblichen Vaters bleibt. Sollte sie aber erkennen, dass unter diesen Umständen keine rechtliche Bindung mehr zwischen Vater und Sohn besteht, wird sie diesen Punkt vor Gericht nicht behandeln. Daher stellt sich die Frage, wie sich die quaestiones zu den Argumenten, die aus ihnen gewonnen werden, und wie sie sich zur vorgetragenen Deklamation verhalten. Prinzipiell unterscheiden sich quaestiones und argumenta dadurch, dass quaestiones Fragen sind, die durch argumenta gestützt werden.¹⁸⁹ So lässt sich z. B. Latros quaestio, ob ein Abdizierter aufhört, ein Sohn zu sein, mit „ja“ oder „nein“ beantworten und durch entsprechende Argumente belegen. Im vorliegenden Fall sind wir über diese Argumente nicht informiert. Es ist aber davon auszugehen, dass die Deklamatoren zur Beantwortung dieser Frage Argumente aus der damaligen Rechtspraxis bzw. ihre Vorstellungen über die Rechtspraxis herangezogen haben. Andererseits erscheint es selbstverständlich, dass die quaestiones auch als Argumente für das jeweilige Beweisziel fungierten: Derjenige, der zu zeigen versucht, dass der Sohn zu Unrecht von seinem Onkel abdiziert wurde,wird das Argument (die umfunktionierte quaestio) benutzen, dass der Sohn auch nach der Abdikation durch seinen leiblichen Vater die Rechte und Pflichten eines Sohnes behalten hat. Dieses Argument wird der Deklamator durch untergeordnete Argumente stützen, die er aus der quaestio gewinnt. Ebenso wird er die übergeordnete quaestio, ob der Sohn rechtlich gezwungen war, seinen leiblichen Vater zu unterstützen, derart umfunktionieren, dass er hieraus ein Argument macht: Die Abdikation ist zu Unrecht geschehen, da der Sohn rechtlich gezwungen war, seinen leiblichen Vater zu unterstützen. Wir müssen also bei den quaestiones zwei Stadien unterscheiden: Zunächst sind quaestiones unentschiedene Fragen, die sowohl von der Anklage als auch von der Verteidigung fruchtbar gemacht werden können. Von dieser Art sind Latros Fragen, die Seneca d.Ä. in der Kontroversie 1,1 referiert. Sie stammen aus einem einleitenden Gespräch (praelocutio), das vor der eigentlichen Deklamation stattgefunden hat.¹⁹⁰ Eine derartige divisio findet bisweilen auch in den kleineren Quintilianischen Deklamationen Verwendung, und zwar in der Form, dass sie

189 Latro beschreibt das Verhältnis zwischen quaestio und argumentum (in Abgrenzung zum color) folgendermaßen (contr. 1,5,9): eam quaestionem esse, quae impleri argumentis possit. 190 Vgl. contr. 1 praef. 21. Zur praelocutio, die mehreren Zwecken dienen konnte, vgl. contr. 3 praef. 11: Silo Pompeius sedens et facundus et litteratus est et haberetur disertus, si a praelocutione dimitteret; declamat tam male, ut videar belle optasse, cum dixi: numquam surgas; vgl. hierzu Janka (2000) und Vössing (2003). Für das Phänomen der praelocutio vgl. die θεωρία und διάλεξις der griechischen Rhetoren (s. unseren Überblick über die antike Suasorie, speziell zu Chorikios, S. 90 f.) und den sermo der kleineren quintilianischen Deklamationen.

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Bestandteil der Instruktionen ist, die der Rhetor den Schülern zum Halten der Deklamation gibt (der Abschnitt mit derartigen Instruktionen lautet in diesem Werk sermo).¹⁹¹ Zudem zeigt eine Stelle aus der Institutio oratoria, dass es in den Rhetorikschulen üblich war, dass der Rhetor die divisio, d. h. den möglichen Aufbau der Argumentation, skizzierte, bevor die Schüler ihre Deklamation hielten.¹⁹² Daher wird anhand der divisio, in der unentschiedene Fragen gestellt werden, besonders der Schulcharakter der Deklamation deutlich: Die Gliederung der Argumentation anhand der quaestiones spiegelt aller Wahrscheinlichkeit nach die in der Schule gelernte Vorgehensweise wider, einen Fall methodisch zu zergliedern. Ein zweites Stadium der quaestiones ergibt sich daraus, dass sich der Deklamator entscheidet, das Pro oder Contra zu übernehmen. Je nach Beweisziel wird der Deklamator diejenigen Fragen auswählen, die für ihn förderlich sind und für die er plausible Argumente gefunden hat. Nur diese Fragen, die nun entschieden sind, wird er in der Deklamation behandeln, und zwar entweder in Form von Fragen, die er beantwortet und mit Argumenten belegt,¹⁹³ oder gleich in Form von Argumenten. Auf diese Weise erklärt sich die Tatsache, dass Seneca d.Ä. vereinzelt quaestiones in Form von Aussagen formuliert.¹⁹⁴ Dann handelt es sich um Fragen, die im Einklang mit dem Beweisziel beantwortet und in der Deklamation benutzt wurden. In diesen Fällen wird aus dem Kontext deutlich oder ist vorauszusetzen, dass die quaestiones durch untergeordnete Argumente gestützt wurden oder zumindest gestützt werden konnten. Es drängt sich nun die Frage auf, in welchem Verhältnis die quaestiones zur gehaltenen Deklamation stehen bzw. in welchem Verhältnis das, was Seneca d.Ä. in der divisio präsentiert, zur gehaltenen Deklamation steht. Denn die divisiones des älteren Seneca beinhalten nicht ausschließlich quaestiones, also das Gerüst für die Argumentation, sondern teilweise auch detaillierte Informationen über die gesamte Argumentation. Die Beschränkung auf die quaestiones scheint Seneca

191 Vgl. Quint. decl. 270,5: Subiungemus quaestionem, an possit quisquam accusari, quod causa mortis fuerit in eo, qui iure sit occisus. Sequitur quaestio, an hic iure sit occisus. 192 Vgl. Quint. inst. 2,6,1 f.; Winterbottom (1974) I xvii. 193 Vgl. contr. 7 praef. 2 über Albucius Silus. 194 Innerhalb der Kontroversien vgl. z. B. contr. 1,1,14: Gallio quaestionem primam Latronis duplicavit sic: licuit mihi alere etiam te vetante; deinde, non licuit non alere; 1,2,15; 1,5,4: Latro primam fecit quaestionem: non posse raptorem, qui ab rapta mori iussus esset, servari; 2,3,12: Fabianus eam quaestionem fecit et in ea multum moratus est: dementiae non posse agi nisi cum eo, qui morbo fureret. Vgl. auch suas. 1,8 mit dem Kommentar zur Stelle. Die untergeordneten Argumente haben in den Suasorien zumeist keine eigene Bezeichnung. Es gibt aber zwei Stellen, an denen sie spezielle Begriffe tragen, nämlich causa und ratio (vgl. suas. 1,8 f. mit dem Kommentar zur Stelle).

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d.Ä. v. a. hinsichtlich des Deklamators Porcius Latro vorzunehmen.¹⁹⁵ In der Kontroversie 9,2 hingegen referiert Seneca d.Ä. nicht nur die quaestiones des Votienus Montanus, sondern nennt auch ausführlich dessen Argumente.¹⁹⁶ In der Kontroversie 7,5 wiederum, in der eine gegenseitige Anklage vorliegt, verzichtet Seneca d.Ä. auf das Referat der quaestiones und gibt an, wie die Deklamatoren Anklage und Verteidigung miteinander verknüpft haben.¹⁹⁷ Dennoch stellt sich gerade mit Blick auf die quaestiones das Problem, wann die Deklamatoren sie formuliert haben, da sie offensichtlich sowohl vor als auch in der Deklamation gestellt werden konnten. Drei Möglichkeiten kommen hierbei in Betracht: (1) Die quaestiones stammen von den Deklamatoren in der Form, dass sie sie innerhalb der Deklamation (vor oder in der Argumentation) formuliert haben.¹⁹⁸ (2) Die quaestiones stammen von den Deklamatoren in der Form, dass sie sie in einem einleitenden Gespräch (praelocutio) vor der eigentlichen Deklamation formuliert haben. (3) Die quaestiones stellen dar, wie Seneca d.Ä. die Argumentation der Deklamatoren analysiert.¹⁹⁹ Die Tatsache, dass die quaestiones in den größeren Pseudo-Quintilianischen Deklamationen und in contr. 2,7 in der Form zu fehlen scheinen,²⁰⁰ wie sie Seneca d.Ä. in der divisio referiert, scheint zwar für die dritte Möglichkeit zu sprechen. Zu dieser Annahme besteht aber keine Notwendigkeit, wenn man das Fehlen der quaestiones in den größeren Pseudo-Quintilianischen Deklamationen und in contr. 2,7 dadurch erklärt, dass es möglich war, quaestiones in Form von Fragen vor der Deklamation zu formulieren und in der Deklamation die aus ihnen gewonnenen Argumente zu behandeln. Dann wäre es ein Überlieferungszufall, dass uns die quaestiones in Form von Fragen nirgends in den vollständigen Deklamationen begegnen. Da sich kaum zeigen lässt, dass Seneca d.Ä. Fragen formuliert, ohne dass sie ein Vorbild bei den Deklamatoren haben, wird man die dritte Möglichkeit zwar nicht ausschließen, aber die ersten beiden bevorzugen.²⁰¹

195 Vgl. contr. 1 praef. 22: interponam itaque quibusdam locis quaestiones controversiarum, sicut ab illo [sc. Latrone] propositae sunt, nec his argumenta subtexam, ne et modum excedam et propositum […]; contr. 1,1,13. 196 Vgl. contr. 9,2,13 – 16. 197 Vgl. contr. 7,5,7 f. 198 Hiervon scheint Bonner (1949) 56 auszugehen: „its normal place would, of course, be immediately after the narrative“. 199 Vgl. Winterbottom (1974) I xvii-xviii. 200 Zu contr. 2,7 vgl. Berti (2007) 43 – 78. 201 Die quaestiones entstammen also sowohl den praelocutiones als auch den gehaltenen Deklamationen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das Werk des älteren Seneca also als Kollage; s. hierzu das gleichnamige Kapitel, S. 60 f.

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Für die erste Möglichkeit spricht insbesondere die Tatsache, dass Seneca d.Ä. mitunter in der Form hic dixit […] einen Satz zitiert, nachdem er angegeben hat, welches Argument ein Deklamator verwendet hat.²⁰² Die Angabe des älteren Seneca wiederum, dass sein Freund Latro – anders als dessen Kollegen – vor der eigentlichen Deklamation im Sitzen die quaestiones des Falles vorstellte,²⁰³ lässt sich auf verschiedene Weise erklären: Hierdurch ließe sich bekräftigen, dass die Deklamatoren nur selten in einer praelocutio die quaestiones genannt haben. Andererseits lässt sich diese Stelle auch so verstehen, dass Latros Vorgehensweise insofern eine Besonderheit darstellte, als er die quaestiones im Sitzen präsentierte, während seine Kollegen dies im Stehen taten.²⁰⁴ Diese Stelle zeigt also, dass die zweite Möglichkeit zutrifft, wobei das Ausmaß unsicher bleibt. In den Kontroversien ist das am häufigsten benutzte Gliederungskriterium die Unterscheidung zwischen ius und aequitas. ²⁰⁵ Bei der quaestio iuris wurde gefragt, ob eine Handlung gesetzlich erlaubt ist (an licuit? an possit?).²⁰⁶ Bei der aequitas wurde gefragt, ob eine Handlung unter moralischen Gesichtspunkten richtig ist (an debeat? an oporteat?). Sicherlich kommt es vor, dass sich die Statuslehre in der divisio der Kontroversien erkennen lässt. Allerdings ist die Rolle der Statuslehre von der Forschung teilweise überschätzt worden.²⁰⁷ Kennedy beispielsweise sieht in der Unterscheidung zwischen ius und aequitas die Hermagoreische Unterscheidung zwischen den status legales und den status rationales. ²⁰⁸ Jedoch sind die Differenzen zwischen diesen verschiedenen Unterscheidungen mindestens genauso groß wie die Gemeinsamkeiten. Denn die status legales und die status rationales stehen sich durch das Kriterium des Ausschlusses gegenüber, d. h. sie sind so konstruiert, dass sich der Verteidiger entweder an einem status legalis oder einem status rationalis orientiert. Die Deklamatoren hingegen machen häufig

202 Vgl. suas. 1,9: Fabianus philosophus primam fecit quaestionem eandem: etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse. at rationem aliam primam fecit: modum imponendum esse rebus secundis. hic dixit sententiam: illa demum est magna felicitas, quae arbitrio suo constitit. 203 Vgl. contr. 1 praef. 21: id, quod nunc a nullo fieri amnimadverto, semper fecit: antequam dicere inciperet, sedens quaestiones eius, quam dicturus erat, controversiae proponebat. 204 Der Unterschied zu Pompeius Silo (vgl. contr. 3 praef. 11) bestünde dann darin, dass Pompeius Silo über allgemeinere literarische Themen diskutierte, die nicht unmittelbar mit der Deklamation zusammenhingen. 205 Vgl. Bonner (1949) 57; Sussman (1978) 39; Fairweather (1981) 155. 206 Zum gesetzlich erlaubten Handeln in der fiktiven Welt der Deklamatoren vgl. Burkard (s. Fußn. 174). 207 Vgl. auch Sussman (1978) 40: „The division of argument according to ius/aequitas generally followed the stasis theory of Hermagoras“. 208 Vgl. Kennedy (1972) 325.

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sowohl von Fragen des Rechts als auch von Fragen der moralischen Richtigkeit Gebrauch. Das genaue Verhältnis zwischen den deklamatorischen quaestiones und den status müsste eine Spezialuntersuchung aufzeigen. Unser vorläufiger Eindruck lässt sich folgendermaßen formulieren: Grundsätzlich handelt es sich um zwei verschiedene Phänomene. Die status stellen ein Argumentationsmuster dar, das maßgeblich für die Gerichtsrede entworfen wurde. In ähnlicher Weise bieten die deliberativen Kategorien dem Redner eine Orientierungshilfe für die Argumentation innerhalb der politischen Rede.²⁰⁹ Die quaestiones hingegen stellen kein festes Argumentationsmuster dar, sondern zeigen, welche Fragen einem Deklamator bei der Behandlung eines Falles relevant erschienen sind und wie er sie gegliedert hat. Potentiell kann es sich hierbei um beliebig viele und unterschiedliche Fragen handeln. Nur durch eine vergleichende Untersuchung der divisio lässt sich feststellen, ob sich die Deklamatoren an die beiden genannten Argumentationsmuster halten oder ob sich in den quaestiones eine andere Herangehensweise offenbart. Bei den Suasorien lässt sich beobachten, dass die deliberativen Kategorien häufig berücksichtigt werden, dass sich die Argumentation aber nicht in ihnen erschöpft.²¹⁰ In den Kontroversien scheinen die status zwar eine Rolle zu spielen, aber die quaestiones scheinen zum einen weiter gefasst zu sein als die status und zum anderen einer methodischen Gliederung zu unterliegen.

3.4 Die colores Die größten Probleme hat der Forschung das mit dem Begriff color bezeichnete Phänomen aufgegeben. Erst durch den Aufsatz von Zinsmaier ist ein entscheidender Fortschritt gelungen.²¹¹ Im Folgenden sollen die colores in drei Schritten erläutert werden: (1) Zunächst werden die colores, wie sie uns im Werk des älteren Seneca vorliegen, beschrieben und gegenüber demjenigen color-Begriff, den Cicero verwendet, abgegrenzt. (2) Anschließend sollen weitere Beobachtungen zum deklamatorischen Phänomen und Begriff color im Lichte eines Porphyrius-

209 Zu den deliberativen Kategorien s. das Kapitel „Die Argumentation“. 210 S. das Kapitel „Die Argumentation“. 211 Vgl. Zinsmaier (2009). Burkard (s. Fußn. 174) kommt aufgrund der Analyse aller als colores bezeichneten Phänomene bei Seneca d.Ä. zu denselben Ergebnissen wie Zinsmaier. Er unterscheidet drei Typen von colores: (1) Interne Faktoren (colores actionis) wie Motive, Unwissen, Charakterdarstellung; (2) externe Faktoren; (3) allgemeine Umstände.

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Scholiums und der Statuslehre folgen. (3) Schließlich wird die Frage gestellt, ob colores auch in den Suasorien vorkommen. (1) In Ciceros rhetorischen Schriften fungiert color als Metapher, die entweder (innerhalb der elocutio) die stilistische „Färbung“ oder (innerhalb der actio) die Nuancen der Artikulation bzw. Intonation bezeichnet.²¹² Dies geht beispielsweise aus folgender Stelle hervor:²¹³ ornatur igitur oratio genere primum et quasi colore quodam et suco suo. nam ut gravis, ut suavis, ut erudita sit, ut liberalis, ut admirabilis, ut polita, ut sensus, ut doloris habeat quantum opus sit, non est singulorum articulorum; in toto spectantur haec corpore.

Bisweilen wird color bei Cicero in Opposition zu fucus gesetzt und bezeichnet die natürliche Art des Redens im Gegensatz zum falschen Aufputz.²¹⁴ Ein ganz anderes Phänomen bezeichnet die Metapher color im Werk des älteren Seneca. Das Ziel der colores besteht vornehmlich darin, die Schuld des Angeklagten bzw. Anklägers größer oder geringer erscheinen zu lassen. Häufig handelt es sich bei den colores um unterstellte Motive,²¹⁵ wenngleich die colores auch andere Funktionen erfüllen können, wie wir noch sehen werden. In jedem Fall sind die colores im Werk des älteren Seneca Bestandteil der inventio. ²¹⁶ Betrachten wir als Beispiel wiederum die Kontroversie 1,1. Die Deklamatoren benutzen z. B. folgende colores, um die Schuld des Sohnes geringer erscheinen zu lassen: Der Sohn dachte, dass der Onkel in Wahrheit wollte, dass er seinem Vater hilft;²¹⁷ der Sohn habe überwältigt von Pietätsgefühlen gehandelt;²¹⁸ er habe einem verarmten Mann geholfen, ohne sofort zu erkennen, dass es sein Vater war.²¹⁹ Die Gegenseite schiebt die Schuld auf den Sohn, indem sie z. B. behauptet, dass dieser eine Versöhnung zwischen den beiden Brüdern verhindert habe.²²⁰ Das Beispiel zeigt, dass die Deklamatoren unterschiedliche Motive erfinden, die das Handeln der betreffenden Person erklären sollen. Da es sich um einen Fall

212 Vgl. v. a. Zinsmaier (2009) 256 f.; Calboli Montefusco (2003) 113 f.; Lévy (2006) 186; Breij (2006) 81; Bradley (2009) 117– 119. 213 Cic. de orat. 3,96. Weitere Stellen: Brut. 171; orat. 42 und 65; de orat. 3,100; 217; vgl. auch rhet. Her. 4,16. Color in diesem Sinn kann auf die ganze Rede oder auf Teile der Rede bezogen werden. 214 Vgl. Cic. Brut. 162; de orat. 3,199; Zinsmaier (2009) 257. 215 Vgl. ThLL III 1721,62– 1722,22. 216 Vgl. z. B. Zinsmaier (2009) 256. 217 Vgl. contr. 1,1,15. 218 Vgl. ib. 16. 219 Vgl. ib. 19. 220 Vgl. ib. 24.

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handelt, der im Status der qualitas absoluta verhandelt wird,²²¹ dienen die colores dem Beweisziel, die Tatsache, dass der Sohn dem Onkel geholfen hat, als gerechtfertigt bzw. als nicht gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck füllen die colores die Leerstellen, die das skizzenhafte Kontroversienthema lässt.²²² Zwingende Voraussetzung für die Verwendung der colores ist also einerseits, dass sie Informationen enthalten, die das Thema nicht liefert. Andererseits dürfen sie den im Thema getroffenen Angaben nicht widersprechen.²²³ Sie sind also auf das Thema bezogen, aber nur mittelbar mit ihm verknüpft.²²⁴ Die Funktion der colores besteht aber nicht nur darin, dem Prozessgegner Motive zu unterstellen: „Überhaupt alle vom Thema unbestimmt gelassenen Umstände der causa konnten von den Deklamatoren zugunsten ihrer jeweiligen Rolle ergänzt und ausgedeutet werden.“²²⁵ Dies wird in der zitierten Kontroversie 1,1 an denjenigen Stellen deutlich, an denen die Deklamatoren in der Rolle des Sohnes schildern, wie ihr schmutziger und weinender Vater an sie herangetreten sei.²²⁶ Ein anderes Beispiel findet sich in der Kontroversie 1,6: Der Sohn, der von Piraten gefangen genommen und von seinem Vater nicht freigekauft wurde, wird von der Piratentochter unter dem Schwur befreit, dass die beiden heiraten. Nachdem der Sohn zu seinem Vater zurückgekehrt ist und die Piratentochter geheiratet hat, befiehlt ihm der Vater, sich von der Piratentochter scheiden zu lassen und eine Witwe zu heiraten. Da der Sohn sich weigert, wird er abdiziert. Einige colores, die diejenigen Deklamatoren benutzen, die den Vater verteidigen, versuchen zu erweisen, aus welchen Motiven die Piratentochter gehandelt hat:²²⁷ Latro behauptet, dass die Piratentochter nicht aus Mitleid, sondern aus Begierde (libido) gehandelt hat. Hispo Romanius unterstellt der Piratentochter, den jungen Mann befreit zu haben, weil sie ihren Vater hasste. Buteo hingegen benutzt den color, dass hinter der Heirat zwischen dem Sohn und der Piratentochter in Wirklichkeit ihr Vater steckt, der erkannt habe, dass nur so eine Heirat zwischen den beiden möglich sei.

221 Vgl. Quint. inst. 7,4,4; Berti (2007) 92 f. Zur qualitas absoluta s. S. 49. 222 Vgl. Zinsmaier (2009) 262. 223 Vgl. Quint. inst. 4,2,90: curandum praecipue […], ne iis, quae vera esse constabit, adversa sint [sc. ea, quae fingemus]: in schola etiam ne color extra themata quaeratur; Sen. contr. 7,5,10 (Saenianus); 9,5,10; Quint. decl. 316,3; Fairweather (1981) 174 f.; Zinsmaier (2009) 262. 224 Anders als die Argumente (s. S. 48 f.). 225 Zinsmaier (2009) 262. 226 Vgl. Blandus in § 17; Argentarius in § 18; Marullus in § 19. 227 Vgl. contr. 1,6,9.

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Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch die Kontroversie 1,8: Der Fall wird unter dem Gesetz verhandelt Qui ter fortiter fecerit, militia vacet. Ein Vater versucht, seinen Sohn zurückzuhalten, der als dreifacher Held ein viertes Mal in den Krieg ziehen will. Da ihm dies nicht gelingt, abdiziert er ihn. Wie Seneca d.Ä. angibt,²²⁸ benutzt Mento, der für den Sohn spricht, den color, dass der Sohn einen Pakt mit dem Vater geschlossen habe, wonach er nur noch einmal in den Krieg zieht. Zum einen kann man an diesen Beispielen erkennen, dass sich die colores nicht nur auf den Prozessgegner beziehen.²²⁹ Zum anderen wird deutlich, dass colores nicht nur Motive sind. Durch die colores können einerseits (v. a. in der narratio) Ereignisse und Umstände fingiert werden.²³⁰ Andererseits konstituieren sie Motive, die (v. a. in der narratio und argumentatio) das Handeln einer Person plausibel erscheinen lassen. In seiner allgemeinen Funktion ist ein color daher „eine Behauptung über die fiktive Vergangenheit, die offene Stellen im argumentum strategisch ‘besetzt’“.²³¹ Da die Deklamationsthemen zumeist erfunden sind und stereotypische Charaktere in ihnen vorkommen, sind die colores nicht nur ein mögliches, sondern ein notwendiges Element der Kontroversien, und zwar unabhängig davon, welchem Status sie unterliegen. Prinzipiell ist es möglich, mehrere colores in einer Kontroversie zu benutzen.²³² Dieses Phänomen bezeichnet Seneca d.Ä. als miscere colores. ²³³ Zumeist beschränken sich die Deklamatoren aber auf einen Haupt-color. Idealerweise wird ein color so verwendet, dass er in der narratio eingeführt und in der argumentatio ausgeschöpft wird.²³⁴ Dies wird aus einer Äußerung des Asinius Pollio deutlich:²³⁵ Asinius Pollio dicebat colorem in narratione ostendendum, in argumentis exequendum. non prudenter facere eos, qui in narratione omnia instrumenta coloris consumerent, nam et plus illos ponere, quam narratio desiderasset, et minus quam probatio.

228 Vgl. contr. 1,8,14. 229 Diese Erkenntnis wird unter (2) relevant sein. 230 Für colores, die durch einen Kommentar des älteren Seneca der narratio zugewiesen werden, vgl. contr. 1,1,21; 1,4,8; 2,6,9 f. 231 Zinsmaier (2009) 262, der „fiktive“ in Klammern setzt. 232 Vgl. z. B. contr. 7,1,21. 233 Vgl. contr. 1,7,17; exc. 4,6; Fairweather (1981) 173. 234 Die colores berücksichtigen also die funktionale Einheit dieser beiden Redeteile; für deren funktionale Einheit vgl. Quint. inst. 4,2,79: quid inter probationem et narrationem interest, nisi quod narratio est probationis continua propositio, rursus probatio narrationi congruens confirmatio?; Zinsmaier (2009) 263. 235 Contr. exc. 4,3.

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Es ist aber auch möglich, einen color durchgehend in allen Teilen der Deklamation zu verwenden.²³⁶ Aufgrund der Verwendung von colores in den verschiedenen partes orationis ist bereits deutlich, dass colores grundsätzlich von Argumenten zu unterscheiden sind. Man könnte jedoch meinen, dass diejenigen colores, die in der Argumentation verwendet werden, identisch mit den Argumenten sind. Allerdings zeigen einige Stellen im Werk des älteren Seneca, an denen die colores den Argumenten gegenübergestellt und als schwächer eingestuft werden, dass ein Unterschied zwischen diesen beiden Phänomenen besteht.²³⁷ Die Forschung hat diese Stellen nicht vollends überzeugend deuten können.²³⁸ Betrachten wir eine Diskussion in der Kontroversie 1,5, der zufolge ein Mann in einer Nacht zwei Frauen vergewaltigt hat, woraufhin die eine seinen Tod, die andere die Heirat mit ihm wünscht (das Gesetz sieht für das Opfer die Wahl zwischen diesen Alternativen vor). Cestius benutzt in dieser Kontroversie eine Frage (quaestio), die dem status coniecturalis unterliegt: ob die eine der beiden Frauen gemeinsame Sache mit dem Vergewaltiger mache, um das Dilemma zu bewirken. Latro wirft ein, dass dies keine Frage, sondern ein color sei. Eine Frage könne durch Argumente (argumenta) gestützt werden. Cestius wiederum entgegnet, dass es sich um eine Frage handele, die durch Argumente gestützt werden könne.²³⁹ Der Unterschied zwischen den Argumenten und den colores besteht offenkundig darin, dass die colores frei erfunden sind, d. h. sie behandeln das,was nicht im Thema bzw. im Gesetz der Kontroversie steht: die Leerstellen. Die Argumente (argumenta) hingegen ergeben sich aus den Angaben aus dem Thema und dem Gesetz der Kontroversie. Sie sind juristische Auslegungen dieser Fakten und können durch untergeordnete Argumente gestützt werden. Man könnte den Unterschied zwischen den colores, sofern sie in der argumentatio verwendet werden, und den argumenta folgendermaßen formulieren: colores sind fiktive Argumente, argumenta (innerhalb der fiktiven Welt der Deklamation) faktische Argumente. Daher ist verständlich, dass die colores über weniger Überzeugungskraft verfügen als die faktischen Argumente. In der Praxis gibt es aber offenbar Grenzfälle wie an

236 Vgl. contr. 1,1,24: Cestius […] hoc colore usus est, quem statim a principio induxit […]; 1,4,8: Albucius non narravit, sed hoc colore egit ab initio usque ad finem […]; Fairweather (1981) 168. 237 Vgl. Contr. 1,5,9; 7,1,21; 7,5,8; 7,6,17; Quint. inst. 4,2,100. 238 Vgl. Sussman (1978) 43; Fairweather (1981) 168; Lévy (2006) 191 Fußn. 31; Calboli Montefusco (2007) 161 Fußn. 12. 239 Vgl. contr. 1,5,8 f.: Cestius et coniecturalem quaestionem temptavit: an haec cum raptore colluserit et in hoc rapta sit, ut huic opponeretur. Latro aiebat non quidquid spargi posset suspiciose, id etiam vindicandum: colorem hunc esse, non quaestionem; eam quaestionem esse, quae impleri argumentis possit. Cestius aiebat et hanc posse impleri argumentis.

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der hier vorliegenden Stelle, an der sich Cestius und Latro darüber streiten, ob ein color oder ein faktisches Argument vorliegt.²⁴⁰ (2) Bei der Frage, wie es dazu kam, dass der Begriff color erstmalig im Werk des älteren Seneca ein Phänomen bezeichnet, das die Schuld des Angeklagten größer oder geringer erscheinen lässt, hat Fairweather der Forschung den größten Impuls verliehen.²⁴¹ Fairweathers Erklärung fußt auf Scholien zu Hermogenes’ Περὶ τῶν στάσεων, die Aussagen über die Hermagoreer beinhalten. Aus einem dieser Scholien, das von Porphyrius stammt, geht Fairweather zufolge hervor, dass der deklamatorische color-Begriff bzw. das griechische Äquivalent χρῶμα seinen Ursprung in der Statuslehre hat. Bevor wir das Porphyrius-Scholium zitieren, gehen wir kurz insoweit auf die Statuslehre ein, inwieweit es für das Verständnis des Porphyrius-Scholiums und Fairweathers Schlussfolgerungen notwendig ist. Die status rationales unterteilen sich in die vier Status coniectura (στοχασμός), definitio (ὅρος) qualitas (ποιότης) und translatio (μετάληψις). Von diesen vier Status ist der status qualitatis am detailliertesten ausgearbeitet worden. Innerhalb der qualitas iuridicialis ²⁴² wird zwischen der qualitas iuridicialis absoluta (κατʼ ἀντίληψιν) und der qualitas iuridicialis adsumptiva (κατʼ ἀντίθεσιν) unterschieden. Die qualitas iuridicialis adsumptiva rekurriert im Gegensatz zur qualitas iuridicialis absoluta auf externe, d. h. nicht im Fall inhärente, Elemente, um die Tat zu rechtfertigen.²⁴³ Sie wird ihrerseits in vier Unterarten, die sog. ἀντιθέσεις, unterteilt: in die concessio, die remotio criminis, die relatio criminis und die comparatio. ²⁴⁴ Die comparatio (ἀντίστασις) liegt vor, wenn der Angeklagte der kriminellen Tat eine gleichzeitig aus ihr erwachsene Wohltat gegenüberstellt. Wenn er behauptet, dass das Opfer die Tat verdient hat, liegt die relatio criminis (ἀντέγκλημα) vor, die die Verantwortung auf das Opfer abwälzt. Wenn der Angeklagte die Schuld auf eine andere Person oder Sache schiebt, handelt es sich um die remotio criminis (μετάστασις), die sich von der relatio criminis dahingehend unterscheidet, dass sie die Schuld nicht auf die geschädigte Person, sondern allgemein auf irgendeine Person oder irgendeinen Umstand überträgt. Die con-

240 Cestius wird also versucht haben, seine Behauptung durch Angaben aus dem Thema zu untermauern (der Text gibt hierüber keinen weiteren Aufschluss). 241 Vgl. Fairweather (1981) 166 f. 242 Zur schwierigen Differenzierung zwischen dem status qualitatis negotialis und dem status qualitatis iuridicialis vgl. Calboli Montefusco (1986) 99 und 106 f. Im corpus Ciceronianum sind die einschlägigen Textstellen Cic. inv. 1,14 und rhet. Her. 1,24. 243 Vgl. Cic. inv. 1,15; Calboli Montefusco (1986) 113. 244 Vgl. Cic. inv. 1,15; Calboli Montefusco (1986) 113 – 139, v. a. 113 f.

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cessio (συγγνώμη) schließlich liegt vor, wenn dem Angeklagten nichts anderes übrig bleibt, als die Tat zu gestehen und um Nachsicht zu bitten. Aus dem Porphyrius-Scholium geht nun hervor, dass die Hermagoreer die μετάθεσις τῆς αἰτίας mit χρῶμα bezeichnet haben:²⁴⁵ ἐπειδὴ τὰ ἀπʼ ἀρχῆς ἄχρι τέλους σημεῖα ποιούμενος ὁ κατήγορος δοκεῖ βιάζεσθαι τὸν δικαστὴν καὶ πείθειν ὡς τοῦ ἐγκαλουμένου ἕνεκεν ταῦτα πεποίηκεν ὁ φεύγων, δεῖ πρὸς τοῦτο ἀγωνίζεσθαι τὸν φεύγοντα καὶ μὴ τοῦ ἐπιφερομένου ἀδικήματος ἕνεκεν φάσκειν πεποιηκέναι ἢ εἰρηκέναι ἢ τὸ πάθος συμβεβηκέναι· τοῦτο γάρ ἐστιν ἡ μετάθεσις τῆς αἰτίας, ὃ χρῶμα προσαγορεύουσιν οἱ Ἑρμαγόρειοι· ὑπάρχει δὲ λύσις τῶν ἀπʼ ἀρχῆς ἄχρι τέλους, λύσις δὲ μετὰ ἀντιθέσεως, καὶ ἔσται ἢ ἀντιστατικὴ ἢ μεταστατικὴ ἢ ἀντεγκληματικὴ ἢ συγγνωμονική· ἀντιστατικὴ μέν, ἐὰν ὄφελός τι προλαβώμεθα οἷον ‘ἀναλαμβάνω τοὺς ἀποκηρύκτους, ἵνα μὴ ἀποροῦντες ἐπὶ κλοπὴν ἢ ἐπιβουλὴν τράπωνται’. κἀκεῖνα δὲ ὁμοίως ἀντιστατικά, ὅτʼ ἂν ὅπλα ἔχων κρίνηται τυρρανίδος ἐπιθέσεως· ἐρεῖ γὰρ ὅτι ‘φυλάττω τῇ πόλει εἰς ἀναγκαῖον ἐπίδοσιν’ […] καὶ ἀπὸ ἐλέου ἐστὶ μετάθεσις, ὡς ἐπὶ τοῦ θάπτοντος τὸ νεοσφαγὲς σῶμα, ὅτι ‘ἐλεῶν ἔθαπτον’. Da der Ankläger, indem er die Abfolge von Ereignissen zu Indizien macht, Einfluss auf den Richter auszuüben und ihn zu überreden scheint, dass der Angeklagte aufgrund dessen, was ihm vorgeworfen wird, gehandelt hat, muss der Angeklagte sich dagegen wehren und sagen, dass er nicht aufgrund der inkriminierten Tat gehandelt oder gesprochen oder das Gefühl empfunden hat. Das ist die Umdeutung des Motivs (μετάθεσις τῆς αἰτίας), die die Hermagoreer „Färbung“ (χρῶμα) nennen. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Bestreitung der Abfolge von Ereignissen, und zwar eine Bestreitung mit Hilfe einer Rechtfertigung, und sie wird entweder auf einer Gegenüberstellung beruhen oder auf einem Abwälzen der Schuld oder auf einer Gegenanklage oder einer Bitte um Verzeihung. Auf einer Gegenüberstellung, wenn wir einen Nutzen vorweisen, wie z. B. „Ich kümmere mich um die Abdizierten, damit sie nicht in ihrer Verzweiflung Diebe oder Verschwörer werden“. Ebenso wird sie auf einer Gegenüberstellung beruhen, wenn derjenige, der Waffen hat, bezichtigt wird, nach einer Tyrannei zu streben. Er wird nämlich sagen: „Ich bewahre sie für den Notfall als Beitrag für die Stadt auf“. […] Es gibt auch eine Umdeutung aufgrund von Mitleid wie im Fall desjenigen, der den Leichnam eines gerade Getöteten begräbt: „Aus Mitleid habe ich ihn begraben“.

Aufgrund der vier Adjektive ἀντιστατική, μεταστατική, ἀντεγκληματική und συγγνωμονική folgerte Fairweather, dass es sich bei der μετάθεσις τῆς αἰτίας um die vier ἀντιθέσεις und damit um die qualitas iuridicialis adsumptiva handelt. Da

245 Porphyrius RhG IV 397,8 – 30 Walz = Hermagoras fr. I 14a Matthes (1962) 25 f. Matthes zitiert nur einen Teil des gesamten Scholiums (RhG IV 397,8 – 399,26 Walz). Zudem lässt er den Anfang desjenigen Teils aus, in dem die συγγνώμη exemplifiziert wird. Beispiele für die μετάστασις oder das ἀντέγκλημα liefert das Scholium nicht. Heath (2002) 8 meint, dass diese Beispiele ausgefallen sind, d. h. er nimmt eine Lacuna an. Zum Text vgl. ferner Woerther (2011) 207 f. und 227– 230. Dass die μετάθεσις τῆς αἰτίας als χρῶμα bezeichnet wurde, geht auch aus anderen Stellen hervor; vgl. Calboli Montefusco (2007) 167.

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die Hermagoreer χρῶμα (color) im Sinne der μετάθεσις τῆς αἰτίας verwenden, sei demnach zu folgern, dass die colores den ἀντιθέσεις und damit der qualitas iuridicialis adsumptiva entsprechen.²⁴⁶ Aus forschungsgeschichtlicher Sicht ist allerdings bemerkenswert, dass bereits in der Renaissance die Meinung vertreten wurde, dass color im Werk des älteren Seneca der μετάθεσις τῆς αἰτίας entspricht.²⁴⁷ Nachdem die Forschung zu Seneca d.Ä. zunächst Fairweathers Erkenntnis übernommen hatte,²⁴⁸ hat Calboli Montefusco in Zweifel gezogen, dass color im Werk des älteren Seneca der μετάθεσις τῆς αἰτίας bei Hermogenes entspricht.²⁴⁹ Zu ihrem Zweifel verleitete die italienische Forscherin die Tatsache, dass die μετάθεσις τῆς αἰτίας bei Hermogenes als Teil des στοχασμός fungiert und darin besteht, dass aus einer Schuld, die die Anklage vorwirft, ein Tatbestand gemacht wird, der der Verteidigung entgegenkommt.²⁵⁰ Als Beispiel für die μετάθεσις τῆς αἰτίας ἐν ἔργοις wählt Hermogenes folgenden Vorgang, auf den sich auch Porphyrius bezieht:²⁵¹ Derjenige, der wegen Mordes angeklagt wird, weil er dabei ertappt wurde, an einem einsamen Ort eine Leiche zu bestatten, kann zur Verteidigung anführen, dass er die Leiche bestattete, weil es eine gute Tat ist, Tote beizusetzen. Dadurch dass der Angeklagte das Indiz (das Bestatten der Leiche) anders auslegt als die Anklage, bestreitet er den Mord und macht somit vom στοχασμός Gebrauch. Also, so folgerte Calboli Montefusco,²⁵² habe Porphyrius – wie andere Scholiasten auch – die μετάθεσις τῆς αἰτίας, die nach Hermogenes dem στοχασμός angehört, fälschlicherweise als die vier ἀντιθέσεις identifiziert, die der ποιότης angehören. Eine entscheidende Rolle bei der μετάθεσις τῆς αἰτίας nach Hermogenes spielt das Indiz (σημεῖον). Wie einige Scholiasten betonen, kann es nur dann colores (χρώματα) geben, wenn es auch ein Indiz für die Tat gibt:²⁵³

246 Vgl. Fairweathers (1981) 166 f. knappe Bemerkungen. 247 Nicolaus Faber hat in seinen Bemerkungen zum älteren Seneca (1587) darauf aufmerksam gemacht, dass color der μετάθεσις τῆς αἰτίας entspricht. Diese Bemerkungen finden sich wieder bei van der Poel (1987) 276 – 281, hier 280, abgedruckt. 248 Vgl. Quinn (1994) 274; Lévy (2006) 190; Berti (2007) 27 f. Fußn. 5. 249 Vgl. Calboli Montefusco (2007), v. a. 169 und 171: „I colores di Seneca non hanno niente a vedere con la μετάθεσις τῆς αἰτίας ermogenea“. 250 Die Zugehörigkeit der μετάθεσις τῆς αἰτίας zum στοχασμός wird von Iulius Victor (21,21 f. Giomini / Celentano) explizit ausgedrückt: a translatione causam facti transferimus in id, quod facere licuit, et haec est sedes coloris, in qua parte vel maxime coniecturales causae laborant. 251 Hermogenes, Περὶ τῶν στάσεων 3,18 Patillon (2009) 27; RhG VI 49,16 – 19 Rabe. 252 Vgl. Calboli Montefusco (2007) 167 f. 253 Marcellinus RhG IV 135,20 – 23 Walz; Syrianus RhG XVI 2, 34,23 – 35,1 Rabe.

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ἐπιλείποντος […] τοῦ σημείου, συνεπιλείπει καὶ τὸ λεγόμενον χρῶμα, τουτέστιν ἡ μετάθεσις τῆς αἰτίας, ἡ τὸ ὑπεύθυνον εἰς τὸ ἀνεύθυνον μεταθεῖσα. Wenn das Indiz ausgelassen wird, wird damit zugleich das sog. χρῶμα ausgelassen, d. h. die Umdeutung des Motivs (μετάθεσις τῆς αἰτίας), die aus etwas, wofür man verantwortlich ist, etwas macht, wofür man nicht verantwortlich ist. τοῦ τοίνυν χρώματος ἀεὶ τῷ σημείῳ μαχομένου, εἰ μὴ ἐμπίπτοι τὸ σημεῖον, ὧιπερ μάλιστα ὁ κατήγορος ἰσχυρίζεται, περιττή τις ἂν εἴη καὶ ἡ διὰ τοῦ χρώματος ἀπολογία. Da nun die Färbung (χρῶμα) immer mit dem Indiz kämpft: Wenn kein Indiz vorliegen sollte, auf das sich der Ankläger am meisten stützt, wäre auch die Verteidigung durch die Färbung überflüssig.

Der spezifische Unterschied zwischen der μετάθεσις τῆς αἰτίας nach Hermogenes und den vier Hermagoreischen ἀντιθέσεις besteht also darin, dass bei der μετάθεσις τῆς αἰτίας dem Indiz eine bestimmte Auslegung gegeben wird, die dazu führt, dass die Tat, die die Anklage vorwirft, in Abrede gestellt wird (daher befindet man sich im στοχασμός). Die Aufgabe der ἀντιθέσεις hingegen besteht darin, eine eingestandene illegitime Tat aufgrund eines externen Grundes gerechtfertigt erscheinen zu lassen (daher befindet man sich in der ποιότης). Calboli Montefusco hat daher zu Recht den Zusammenhang zwischen den colores im Werk des älteren Seneca und dem Gebrauch von χρῶμα, wie ihn das Porphyrius-Scholium schildert, problematisiert. Das Porphyrius-Scholium zeigt nämlich, dass die colores (χρώματα) eine andere Bezeichnung der Hermagoreer für die μετάθεσις τῆς αἰτίας nach Hermogenes sind. Aus anderen Stellen geht sogar hervor, dass Hermogenes selbst χρῶμα im Sinne der μετάθεσις τῆς αἰτίας verwendet.²⁵⁴ Dem Wesen nach unterscheiden sich aber die colores im Werk des älteren Seneca von der μετάθεσις τῆς αἰτίας nach Hermogenes, denn die colores, die die Deklamatoren benutzen, geben nur selten Indizien bestimmte Auslegungen.²⁵⁵ Der deklamatorische color-Begriff ist unspezifischer als der χρῶμα-Begriff der griechischen Rhetoren bzw. Scholiasten, die hiermit auf ein Phänomen des στοχασμός verweisen.²⁵⁶ Trotzdem halten wir die Schlussfolgerungen, die Calboli Montefusco gezogen hat, nicht für überzeugend. Sowohl Calboli Montefusco als auch Fairweather scheinen uns die Tatsache, dass in dem Porphyrius-Scholium die vier ἀντιθέσεις in

254 Vgl. Hermogenes, Περὶ τῶν στάσεων 1,11 Patillon (2009) 5 = RhG VI 31,11 Rabe; Hermogenes, Περὶ τῶν στάσεων 3,20 Patillon (2009) 27 = RhG VI 50,10 Rabe; RhG VI 211,8 Rabe; Calboli Montefusco (2007) 167. 255 Dieser seltene Fall liegt in der Kontroversie 7,3 vor, wo dem im Thema genannten medicamentum unterschiedliche Auslegungen gegeben werden (contr. 7,3,7 f.). 256 Vgl. Zinsmaier (2009) 259.

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einem Kontext erscheinen, in dem es innerhalb des στοχασμός um die μετάθεσις τῆς αἰτίας geht, vorschnell gedeutet zu haben. Gegen Fairweather hat Calboli Montefusco zu Recht eingewendet, dass die colores im Werk des älteren Seneca nicht der μετάθεσις τῆς αἰτίας nach Hermogenes entsprechen. Diese Inkongruenz wird nicht nur aus dem Beispiel mit dem Mann, der einen Toten begräbt, sondern auch aus den anderen Beispielen deutlich, die Porphyrius anführt.²⁵⁷ Aber Calboli Montefusco geht vielleicht zu weit, wenn sie Porphyrius eine Verwechslung der μετάθεσις τῆς αἰτίας und der ἀντιθέσεις unterstellt und sich von dem Gedanken leiten lässt, dass die deklamatorischen colores den Hermagoreischen ἀντιθέσεις entsprechen.²⁵⁸ Vielmehr erkennt man an der unterschiedlichen Unterteilung der μετάθεσις τῆς αἰτίας einmal mehr, dass die Rhetoren in der Statuslehre im Detail voneinander abweichen, was Calboli Montefusco selbst in ihrem Standardwerk zu diesem Gebiet der Rhetorik an mehreren Stellen deutlich macht.²⁵⁹ Hermogenes unterteilt die μετάθεσις τῆς αἰτίας anhand der Kategorien ἐν λόγοις, ἐν ἔργοις und ἐν πάθεσι.²⁶⁰ Auf diese Unterteilung bezieht sich auch Porphyrius, wenn er sagt δεῖ […] τὸν φεύγοντα […] μὴ τοῦ ἐπιφερομένου ἀδικήματος ἕνεκεν φάσκειν πεποιηκέναι ἢ εἰρηκέναι ἢ τὸ πάθος συμβεβηκέναι. Die Hermagoreer hingegen unterteilen die μετάθεσις τῆς αἰτίας – nach Ausweis des Porphyrius – anhand der vier ἀντιθέσεις. Es ist also davon auszugehen, dass Porphyrius nicht die μετάθεσις τῆς αἰτίας und die ἀντιθέσεις miteinander verwechselt hat, sondern dass bei den Hermagoreern eine Analogiebildung in Teilen des στοχασμός und der ποιότης unternommen wurde. Die Annahme, dass Porphyrius die μετάθεσις τῆς αἰτίας und die ἀντιθέσεις miteinander verwechselt hat, muss v. a. deshalb als unwahrscheinlich gelten, weil es zum einen Parallelen für die funktionale Verknüpfung der μετάθεσις τῆς αἰτίας mit den ἀντιθέσεις gibt und zum anderen diese Verknüpfung als Entwicklung innerhalb der Statuslehre erklärt werden kann. Die funktionale Verknüpfung von

257 In diesen Beispielen wird immer das Indiz einer bestimmten Auslegung unterzogen. Z.B. legt der Mann, der aufgrund seines Waffenbesitzes bezichtigt wird, nach Tyrannei zu streben, das Indiz (den Waffenbesitz) so aus, dass es eine Wohltat zu sein scheint. 258 In Einzelfällen mag es zwar Übereinstimmungen zwischen den colores und den ἀντιθέσεις geben; vgl. Breij (2006) 82 Fußn. 12. Aber der color-Begriff ist weiter, wie wir unter (1) festgestellt haben. 259 Vgl. Calboli Montefusco (1986). Um nur ein Beispiel zu nennen: Hermogenes (Περὶ τῶν στάσεων 2,6 – 8 Patillon [2009] 13 f.; RhG VI 38,18 – 39,11 Rabe) unterteilt die vier ἀντιθέσεις noch weiter, indem er sagt, dass der Angeklagte entweder die Schuld auf sich zieht oder auf eine andere Person oder Sache schiebt. Im ersten Fall liegt die ἀντίστασις vor, im zweiten Fall kommt eine der anderen drei ἀντιθέσεις zur Anwendung; vgl. Calboli Montefusco (1986) 114. 260 Vgl. Hermogenes, Περὶ τῶν στάσεων 3,16 Patillon (2009) 26; RhG VI 49,8 f. Rabe.

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χρῶμα im Sinne der μετάθεσις τῆς αἰτίας mit den ἀντιθέσεις liegt auch bei dem Scholiasten Marcellinus vor:²⁶¹ τοῦτο γνωστέον καὶ θεωρητέον, ὅτι πᾶν χρῶμα κατὰ μίαν πάντων γίνεται τῶν ἀντιθετικῶν. ἡ δὲ αἰτία κατάδηλος· ἐπειδὴ γὰρ τὸ χρῶμα αἴτιον ἔχει τοῦ πραχθέντος σημείου, τοῦτο δὲ καὶ τῶν ἀντιθετικῶν ἴδιον, τὸ εὔλογον αἰτίαν ἀντιτιθέναι τῷ πραχθέντι, εἰκότως πάντα τὰ χρώματα κατὰ μίαν τῶν τεσσάρων εἰκόνων γίνεται. Dies muss man zur Kenntnis nehmen und beachten, dass jede Färbung (χρῶμα) anhand einer von allen Rechtfertigungs-Status (ἀντιθετική [sc. στάσις]) erfolgt. Der Grund hierfür ist nur zu deutlich. Denn da die Färbung den Grund für das ausgeführte Indiz beinhaltet, dies aber auch charakteristisch für die Rechtfertigungs-Status ist, nämlich der Tat etwas Rechtschaffenes als Grund gegenüberzustellen, erfolgen alle Färbungen im Modus der Wahrscheinlichkeit anhand einer der vier Vergleiche.

Donat erklärt eine Terenzstelle in der Art, dass deutlich wird, dass für ihn die μετάθεσις τῆς αἰτίας synonym mit color (χρῶμα) ist und eine der vier ἀντιθέσεις sein kann, und zwar in dem Sinn, dass die μετάθεσις τῆς αἰτίας nicht als Phänomen des status coniecturalis anhand einer der vier ἀντιθέσεις realisiert wird, sondern die qualitas iuridicialis adsumptiva darstellt. Bei Terenz entschuldigt ein Sklave das Schweigen seines Herrn mit folgenden Worten:²⁶² Postquam ad iudices ventumst, non potuit cogitata proloqui; ita eum tum timidum ibi obstupefecit pudor.

Wollte man die Statuslehre auf diesen Entschuldigungsgrund anwenden, würde man die Strategie des Sklaven als remotio (in rem) und damit als eine der vier ἀντιθέσεις identifizieren.²⁶³ Donat kommentiert die Terenzstelle folgendermaßen:²⁶⁴ Haec apud iudices μετάθεσις τῆς αἰτίας vocatur, translatio causae facti, quem vulgo colorem nominant.

Wie der Zusammenhang und insbesondere die Formulierung translatio causae facti deutlich machen, bezieht sich Donat auf die qualitas iuridicialis adsumpti-

261 13. 262 263 264

RhG IV 393,28 – 394,3 Walz; vgl. Calboli Montefusco (2007) 169; Zinsmaier (2009) 258 Fußn. Ter. Phorm. 282– 284. Vgl. Calboli Montefusco (2007) 168. Don. Ter. Phorm. 282.

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va. ²⁶⁵ Er wählt aber nicht den Begriff κατʼ ἀντίθεσιν (aut sim.), sondern die Begriffe color und μετάθεσις τῆς αἰτίας, woraus hervorgeht, dass die μετάθεσις τῆς αἰτίας für ihn die qualitas iuridicialis adsumptiva darstellt (möglicherweise ist für ihn die μετάθεσις τῆς αἰτίας ein Phänomen, das sowohl dem status coniecturalis als auch dem status qualitatis angehört). Als Entwicklung innerhalb der Statuslehre lässt sich die Unterteilung der μετάθεσις τῆς αἰτίας nach Hermogenes in die vier ἀντιθέσεις insofern erklären, als bei der Ausdifferenzierung der Status die Unterscheidung der vier ἀντιθέσεις von einem Status in den anderen übernommen wurde (vermutlich wurde sie aus der ποιότης in den στοχασμός übernommen). Was lässt sich also dem Porphyrius-Scholium mit Blick auf die deklamatorischen colores entnehmen? Die Antwort muss überwiegend negativ ausfallen: Innerhalb einer diachronen Untersuchung der Metapher color in der Rhetorik stellt das Scholium sicherlich eine zentrale Stelle dar. Aber für das Verständnis der deklamatorischen colores ist wenig gewonnen, da die colores nur selten der μετάθεσις τῆς αἰτίας innerhalb des στοχασμός entsprechen und nicht identisch mit der qualitas iuridicialis adsumptiva sind. Ein Zusammenhang zwischen den deklamatorischen colores und dem Porphyrius-Scholium besteht nur insofern, als einem ähnlichen Phänomen dieselbe Metapher gegeben wurde. Wenn man einen Bezug zu der qualitas iuridicialis adsumptiva herstellt, ist es ratsamer, von einer Konvergenz mit den colores zu sprechen. Dass es sich nur um eine Konvergenz handeln kann, wird auch dann klar, wenn man bedenkt, dass die Statuslehre eine Orientierung für den Verteidiger darstellt, aber kein entsprechendes Muster für die Anklage entworfen wurde.²⁶⁶ Ferner werden die colores häufig nicht dem Prozessgegner unterstellt, sondern anderen, mit dem Fall verbundenen Personen, wie das Beispiel des Piraten in der Kontroversie 1,6 gezeigt hat. Vor allem sind die colores viel weiter gefasst als die Status: sie sind – wie wir bereits festgestellt haben – Behauptungen über eine fiktive Vergangenheit, die dem Zweck dienen, das Beweisziel zu unterstützen. Die Status hingegen ermöglichen dem Angeklagten – so sind sie zumindest konstruiert worden –, anhand

265 Die Formulierung translatio causae facti zeigt, dass die qualitas iuridicialis adsumptiva vorliegt – im Gegensatz zur qualitas iuridicialis absoluta; vgl. Iulius Victor 12,24 f. Giomini / Celentano: interest inter absolutam et relativam [sc. antithesin], quod ibi facti qualitate reus se tuetur, hic qualitate causae, propter quam dicitur factum; Grillius 68,15 – 18 Martin; Martianus Capella 158,10 – 12 Willis; Calboli Montefusco (2007) 168. 266 Vgl. Woerther (2011) 211.

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einer Leitlinie seine Verteidigung aufzubauen, und das heißt: seine Argumente zu finden.²⁶⁷ Die Frage, wie es dazu kam, dass color im Werk des älteren Seneca als ein Terminus technicus vorliegt, der ein Verfahren der inventio bezeichnet, und ob ein Zusammenhang mit der Metapher von χρῶμα im Sinne der μετάθεσις τῆς αἰτίας (als Phänomen des status coniecturalis) besteht, müsste im Rahmen einer Spezialuntersuchung beantwortet werden. In diesem Zusammenhang müsste auch die kontrovers diskutierte Frage geklärt werden, wer der Erfinder der μετάθεσις τῆς αἰτίας ist. Matthes sieht Hermagoras aus Temnos als wahrscheinlichen Urheber an.²⁶⁸ Diese Zuordnung ist aber äußerst unwahrscheinlich, da uns Ciceros rhetorische Schriften oder die Herennius-Rhetorik Aufschluss über diesen zentralen τόπος des status coniecturalis geben müssten, wenn dieses Phänomen von Hermagoras aus Temnos erfunden worden wäre.²⁶⁹ Daher kommen v. a. zwei Lösungen in Betracht: Entweder sucht man den Ursprung der μετάθεσις τῆς αἰτίας (als Phänomen des status coniecturalis) bei dem jüngeren Hermagoras, wie es Heath tut.²⁷⁰ Oder man geht davon aus, dass die Hermagoreer, von denen Porphyrius spricht, kaum näher bestimmbare Anhänger des Hermagoras aus Temnos sind. Angesichts der Tatsache, dass wir über Schüler des Hermagoras aus Temnos unterrichtet sind,²⁷¹ scheint die zweite Möglichkeit vielleicht etwas wahrscheinlicher zu sein. Einen wichtigen Terminus für die Datierung und Attribuierung der μετάθεσις τῆς αἰτίας stellt auch die Tatsache dar, dass Quintilian dieses Phänomen des status coniecturalis nicht kennt. Ihm sind allerdings die colores in dem Sinne bekannt, wie sie die Deklamatoren im Werk des älteren Seneca benutzen, nämlich zum Zwecke einer falschen Darstellung (falsa expositio).²⁷² Daher wird man sowohl die

267 Wie bei der divisio bzw. den quaestiones hat man also die Rolle der Statustheorie überschätzt bzw. den inadäquaten Versuch unternommen, die unbekannten Phänomene (quaestiones, colores) auf die bekannten Phänomene (Statuslehre) zurückzuführen. Zur Unabhängigkeit der divisio und der colores von der Statuslehre vgl. Burkard (s. Fußn. 174). 268 Schon die Tatsache, dass er das Porphyrius-Scholium den Fragmenten des Hermagoras aus Temnos zuordnet, suggeriert, dass er diesen als wahrscheinlichen Urheber ansieht; vgl. Hermagoras fr. I 14a Matthes (1962) 25 f. An anderer Stelle bestätigt sich dieser Eindruck; vgl. Matthes (1958) 140: „[sc. wir lernen] als einen τόπος der Verteidigung aus Hermogenes […] die μετάθεσις τῆς αἰτίας kennen und erfahren aus den Scholien dazu, daß er auf die ‘Hermagoreer’ zurückgeht und dort – vermutlich schon bei unserem Hermagoras – χρῶμα genannt wird.“ 269 Vgl. Woerther (2011) 209 f. 270 Vgl. Heath (2002) 293. Zum jüngeren Hermagoras, der Rhetor in Augusteischer Zeit war, vgl. Echavarren (2007) 148 f. 271 Vgl. Cic. Brut. 263; 271; Quint. inst. 7,4,3 f.; Woerther (2011) 216 – 219. 272 Vgl. Quint. inst. 4,2,88 – 100.

3 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte. Die sententiae, divisiones und colores

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Entstehung der μετάθεσις τῆς αἰτίας als auch ihre metaphorische Bezeichnung als χρῶμα vielleicht im zweiten Jahrhundert nach Christus ansetzen. Die Hermagoreer, von denen Porphyrius spricht, wären dann Schüler des Hermagoras aus Temnos (oder des jüngeren Hermagoras) aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Die Metapher der deklamatorischen colores wäre demnach früher entstanden als das ebenso bezeichnete Phänomen aus dem status coniecturalis. Ein anderer Zusammenhang müsste allerdings auch noch überprüft werden, nämlich derjenige zwischen den deklamatorischen colores und der Metapher χρῶμα im Sinne der figurierten Redeweise. Über die letztere Metapher sind wir durch PseudoDionysius aus Halikarnass informiert, dem zufolge die erste von drei bzw. sechs Arten des λόγος ἐσχηματισμένος auch als χρῶμα bezeichnet wurde:²⁷³ τὸ μὲν ἐστι σχῆμα λέγον μὲν ἃ βούλεται, δεόμενον δὲ εὐπρεπείας ἢ δι’ ἀξίωσιν τῶν προσώπων, πρὸς οὓς ὁ λόγος, ἢ δι’ ἀσφάλειαν πρὸς τοὺς ἀκούοντας. καὶ τούτῳ μὲν τῷ εἴδει οὐκ ἀντιλέγουσιν οἱ ῥητορικοί, ἀλλὰ καλοῦσιν αὐτὸ χρῶμα. Es gibt die Figur, dass man zwar sagt, was man sagen will, dabei aber Taktgefühl erforderlich ist, und zwar entweder aufgrund der Würde der Personen, die man anredet, oder aus Rücksicht auf die Zuhörer. Gegen diese Art haben die Rhetoren nichts einzuwenden, sondern nennen sie Färbung (χρῶμα).

Die Farb-Metapher im Sinne der oratio figurata kennt Quintilian übrigens auch.²⁷⁴ Was die colores im Werk des älteren Seneca betrifft, so gilt auch hier wieder: zwar kann es sich bei den colores um figurierte Redeweise handeln,²⁷⁵ aber das Konzept der colores ist weiter gefasst, als dass es sich auf dieses Phänomen verengen ließe. Somit spricht einiges dafür, dass es sich bei den deklamatorischen colores um eine Farb-Metapher für ein Phänomen der inventio handelt, deren Vorläufer für uns nicht nachvollziehbar sind.²⁷⁶ Im Werk des älteren Seneca bezeichnet diese 273 Περὶ ἐσχηματισμένων α 2 Dentice di Accadia (2010) 54; vgl. Calboli Montefusco (2007) 175. 274 Vgl. Quint. inst. 3,8,44. Dort bezeichnet der Begriff die Strategie, unehrenhafte Dinge, die man einem guten Menschen rät, ehrenhaft erscheinen zu lassen, d. h. als Phänomen innerhalb des genus deliberativum. In der Typologie des Pseudo-Dionysius aus Halikarnass entspricht diese Vorgehensweise dem ersten Typ, wie aus den weiteren Bestimmungen dieses Typs deutlich wird; vgl. Περὶ ἐσχηματισμένων α 3 Dentice di Accadia (2010) 54. 275 Vgl. contr. 2,1,37: [sc. Iunius Otho] solebat hos colores, qui silentium et significationem desiderant, bene 〈dicere〉; itaque et hanc controversiam hoc colore dixit, tamquam in emendationem abdicatorum et reconciliationis causa faceret. hoc non detegebat sed omnibus sententiis utebatur ad hoc tendentibus; Calboli Montefusco (2003) 117 und (2007) 173 f. Zur figurierten Redeweise in der Deklamation generell vgl. Pernot (2007). 276 Nach Burkard (s. Fußn. 174) handelt es sich bei color um eine Metapher, die älter als die Hermagoreische Statuslehre ist.

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Metapher das Ausmalen der wenigen durch das Thema vorgegebenen Fakten.²⁷⁷ Möglicherweise sind aus diesem Gebrauch die Termini technici von color (χρῶμα) im Sinne der figurierten Redeweise und im Sinne der μετάθεσις τῆς αἰτίας erwachsen, wobei die μετάθεσις τῆς αἰτίας zunächst (bei Hermogenes) ein Phänomen des status coniecturalis war, später (bei Donat) aber auch die qualitas iuridicialis adsumptiva bezeichnen konnte. Vielleicht erkennt man an den verschiedenen Verwendungsweisen von color (χρῶμα) auch nur die Beliebtheit dieser Metapher, die für verschiedene Spezialphänomene der Rhetorik verwendet wurde. (3) Dass die colores charakteristisch für die Kontroversien, aber nicht für die Suasorien sind, ist von der Forschung zwar erkannt, aber nicht überzeugend erklärt worden.²⁷⁸ Zum anderen muss darauf hingewiesen werden, dass an einigen wenigen Stellen der Suasorien des älteren Seneca colores erscheinen, wenngleich sie dort nicht durch einen metaoratorischen Kommentar als solche identifiziert werden. Die Suasorien erfordern deshalb keine colores, weil sie dem genus deliberativum angehören. Anders als im genus iudiciale sind die Deklamatoren nicht gezwungen, eine fiktive Vergangenheit der am Prozess beteiligten Personen und Umstände zu entwerfen, da im genus deliberativum mögliche Ereignisse behandelt werden, die in der Zukunft liegen. Auf der anderen Seite ist es aber möglich, dass colores erfunden werden. Dies tut Pompeius Silo in der dritten Suasorie, in der er in Agamemnons Rolle dafür plädiert, Iphigenie nicht zu töten, obwohl Kalchas weissagt, dass die Griechen nur durch ihre Opferung nach Troja segeln können. Pompeius Silo unterstellt nämlich Kalchas, dass er die Prophezeiung erfindet, weil er nicht bereit ist, zu kämpfen, und sich Gehör bei allen Völkern verschaffen möchte.²⁷⁹ In der sechsten Suasorie, in der Cicero überlegt, ob er Antonius um Gnade bitten soll, unterstellt Geminus Antonius, dass er Cicero proskribiert hat, weil er nicht glaubt, dass Cicero ihn um Gnade bittet.²⁸⁰ Da es sich hierbei um eine Spekulation über die Vergangenheit handelt, benutzt der Deklamator einen color.

277 So erklärt Burkard (s. Fußn. 174) die Entstehung der Metapher. 278 Vgl. Sussman (1978) 41: „Since they involved judicial questions of guilt or innocence, colors were not used in suasoriae.“ Riquer Permanyer (2004) 375 übernimmt Sussmans Erklärungsversuch. Berti (2007) 27: „[sc. le suasorie] per la loro natura deliberativa non richiedono l’uso di colores“. Auch Bornecques (1902) I xviii Erklärungsversuch ist nicht deutlich genug: „Naturellement, dans les Suasoires, où il s’agit d’un conseil à donner, la troisième partie n’existe pas.“ 279 Vgl. suas. 3,4 mit dem Kommentar zur Stelle. 280 Vgl. suas. 6,13 mit dem Kommentar zur Stelle.

3 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte. Die sententiae, divisiones und colores

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In der siebenten Suasorie, deren Thema fast gleich ist, behauptet Pompeius Silo, dass Antonius’ Absicht darin besteht, Cicero zu demütigen.²⁸¹

3.5 Der Aufbau der Deklamationsexzerpte II Mit Blick auf die Kontroversien kann davon gesprochen werden, dass die sententiae, divisiones und colores diejenigen Kategorien sind, nach denen Seneca d.Ä. die Deklamationsexzerpte angeordnet hat. Allerdings gibt es Ausnahmen wie z. B. in der Kontroversie 7,5, in der anstelle der colores Aussagen der Deklamatoren über die Verletzung der Stiefmutter referiert werden.²⁸² In dieser Kontroversie liegt also eine Dreiteilung vor, die nicht anhand der Kategorien sententiae, divisiones und colores durchgeführt wird. Zudem kommentiert Seneca d.Ä. im dritten Teil der Kontroversien häufig Äußerungen der Deklamatoren, erzählt Anekdoten²⁸³ und diskutiert literarische Bezüge sowohl innerhalb der Deklamation als auch mit Bezug auf andere Gattungen.²⁸⁴ Auch die Äußerungen der griechischen Deklamatoren werden oft am Ende der Kontroversienexzerpte zusammengefasst.²⁸⁵ Während die Dreiteilung in die sententiae, divisiones und colores in den Kontroversien die Regel ist (wenngleich sie nicht immer streng durchgeführt wird), offenbaren die Suasorienexzerpte ein etwas anderes Bild, da in ihnen ein Abschnitt, in dem die colores geschildert werden, fehlt. Aber auch in den Suasorien lässt sich eine Dreiteilung feststellen. Hier ist das die Regel, was in den Kontroversien die Ausnahme ist: Nach den sententiae und den quaestiones ergibt sich ein dritter Teil, in dem v. a. die griechischen Deklamatoren zitiert und literarische Bezüge diskutiert werden.²⁸⁶

281 Vgl. suas. 7,11 mit dem Kommentar zur Stelle. 282 Vgl. contr. 7,5,8. 283 Vgl. z. B. contr. 7,5,12. 284 Vgl. z. B. contr. 1,7,14; 1,8,15; 7,1,27; 9,1,12– 14; 10,2,18; Berti (2007) 251– 310. 285 Vgl. z. B. contr. 1,1,25; 7,5,15. 286 Die Diskussion der literarischen Bezüge zeigt sich in den Suasorien besonders deutlich suas. 1,15, wo ein episches Fragment des Albinovanus Pedo zitiert wird, und suas. 6,14– 26, wo zuerst die Historikerfragmente zu Ciceros Tod erscheinen und anschließend Cornelius Severus’ epischer Nachruf auf Cicero zitiert wird; vgl. auch suas. 2,12 und 19 f.; 3,4– 7; 4,4 f.; 6,27.

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4 Der Kollagencharakter der Exzerpte Die Deklamationsexzerpte des älteren Seneca entstammen nicht jeweils einer Deklamation eines Deklamators, sondern mehreren Deklamationen von mehreren Deklamatoren, die zeitlich voneinander getrennt jeweils über dasselbe Thema gesprochen haben. Diese Besonderheit der Deklamationsexzerpte des älteren Seneca ist in der modernen Forschung unter dem Begriff ‘Kollage’ zusammengefasst worden.²⁸⁷ Das Ausmaß des Kollagencharakters, d. h. wieviel Zeit zwischen den Äußerungen der einzelnen Deklamatoren liegt, lässt sich im Einzelfall kaum näher bestimmen.²⁸⁸ Häufig lässt sich nur anhand der Biographien der Deklamatoren erahnen, dass bzw. wieviele Jahre oder Jahrzehnte zwischen den tatsächlich gehaltenen Deklamationen liegen.²⁸⁹ Im Extremfall können über 70 Jahre zwischen den ersten und letzten Deklamationen liegen, aus denen Seneca d.Ä. exzerpiert hat: Die ersten Deklamationen wurden in der Schule des Rhetors Marullus gehalten, dessen Schüler Seneca d.Ä. und Latro waren.²⁹⁰ Möglicherweise war dies in den 30er Jahren v.Chr.²⁹¹ Die letzten Deklamationen werden gehalten worden sein, kurz bevor Seneca d.Ä. sein rhetorisches Werk verfasst hat. Da Seneca d.Ä. das Exil seines Sohnes (des Philosophen) nicht erwähnt und aus Büchern zitiert, die zu Tiberius’ Regierungszeit verboten waren, geht man davon aus, dass er sein Werk gegen 40 n.Chr. fertig gestellt hat.²⁹² Der Kollagencharakter der Deklamationsexzerpte des älteren Seneca hat wichtige Konsequenzen für die Interpretation: Auch wenn sich zahlreiche Parallelen für die Gedanken und Formulierungen der Deklamatoren finden, darf nicht davon ausgegangen werden, dass ein Deklamator den anderen in derselben Deklamationssitzung imitiert hat.²⁹³ Von einer Imitation lässt sich nur dann mit

287 Soweit wir sehen, ist Pianezzola (1981) 255 der erste Forscher, der diesen Begriff geprägt hat. Das Phänomen war jedoch schon Koerber (1864) 18 f. bekannt. 288 Vgl. Berti (2007) 29: „[sc. la] dimensione diacronica ci sfugge quasi totalmente“. 289 Für diesen Versuch sind die beiden Monographien über die Deklamatoren von Bornecque (1902b) und Echavarren (2007) unentbehrlich. Migliario (2007) verwendet viele biographische Informationen über die Deklamatoren für die Interpretation der Suasorien. 290 Vgl. contr. 1 praef. 22 und 24. Ob sich Marullus’ Schule in Corduba oder in Rom befand, lässt sich nicht sicher angeben. 291 Vgl. Griffin (1972) 7; Berti (2007) 29. 292 Vgl. Griffin (1972) 4; Artigas (2005). Die genannten Bücher sind diejenigen des Cremutius Cordus und Cassius Severus; vgl. hierzu Tac. ann. 4,35,5 und Suet. Gaius 16. Das Exil des jüngeren Seneca im Jahr 41 n.Chr. ist auch der Terminus ante quem für den Tod des älteren Seneca, da Seneca d.Ä. es nirgends erwähnt. 293 Immerhin wissen wir von Deklamations-Wettkämpfen, die an aufeinanderfolgenden Tagen stattgefunden haben; vgl. contr. 1,7,13; 2,1,25 f.; Hömke (2002) 24.

5 Anachronismen

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Sicherheit sprechen, wenn Seneca d.Ä. dies in einem Kommentar bemerkt. Sogar mit Blick auf die Exzerpte desselben Deklamators bleibt ungewiss, ob sie derselben Deklamation entstammen oder sich verschiedenen Anlässen verdanken.²⁹⁴ Sofern in ihnen dasselbe Argumentationsziel verfolgt wird, haben wir aber eher den Eindruck, dass sie derselben Deklamation entstammen. Denn wenn Seneca d.Ä. in einem Exzerpt Äußerungen desselben Deklamators aus unterschiedlichen Deklamationen zusammentragen würde, wäre es unvermeidlich, dass er in der divisio darauf aufmerksam macht, dass der Deklamator bald die eine und bald die andere argumentative Strategie verwendet hat. Eine derartige Angabe findet sich aber nirgends.

5 Anachronismen Ein Phänomen, das von der Forschung entweder ignoriert wurde oder Verwirrung gestiftet hat, ist die Verwendung von Anachronismen durch Deklamatoren.²⁹⁵ Damit ist die Tatsache gemeint, dass Deklamatoren literarische Zitate benutzen, die erst nach der Zeit, in der die Deklamation spielt, geprägt wurden. Scheinbar willkürlich scheint Seneca d.Ä. derartige Zitate bald als Anachronismen zu kritisieren und bald zu loben bzw. Lob zu referieren. Eine Übersicht und Analyse der betreffenden Stellen bringt jedoch Klärung. Betrachten wir zunächst zwei konträre Fälle. In der zweiten Suasorie, in der die 300 Spartaner bei den Thermopylen über eine Flucht nachdenken, wird der Historiker und Deklamator Tuscus dafür kritisiert, dass er Caesars Ausspruch veni, vidi, vici zitiert:²⁹⁶

294 Vgl. Huelsenbeck (2009) 25 – 34, der zum einen Winterbottoms (1974) I xvi Fußn. 3 Meinung in Zweifel zieht, dass innerhalb der sententiae eines Deklamators die ursprüngliche Reihenfolge bewahrt wurde, und zum anderen vor der Annahme warnt, dass sie derselben Deklamation entstammen. Huelsenbeck ist vielmehr der Meinung, dass sententiae als „Versionen“ desselben Gedankens Alternativen zueinander darstellen können (S. 33): „we observe in reading the anthology that sententiae can offer themselves as alternative approaches, as variants of each other, or what I shall call Versions.“ Über die Reihenfolge der sententiae lässt sich nicht sicher sagen, ob sie dem Verlauf der ursprünglichen Deklamation folgt; mehrheitlich scheint sie dies zu tun. Die Meinung, dass unterschiedliche Versionen vorliegen, ist zwar möglich, aber aus dem Grund, den wir im Folgenden nennen, eher unwahrscheinlich. 295 Berti (2007) 272 f. führt die Tatsache in die Aporie, dass suas. 4,4 f. ein vermeintlicher Anachronismus nicht geahndet wird, während suas. 2,22 ebendies geschieht. 296 Suas. 2,22.

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Tuscus […] dixit: expectemus, si nihil aliud, hoc effecturi, ne insolens barbarus dicat: ‘veni, vidi, vici’, cum hoc post multos annos divus Iulius victo Pharnace dixerit.

Im Gegensatz dazu erntet jedoch Fuscus tosenden Beifall, als er in einer Kontroversie einen Locus communis gegen Träume und die Vorsehung der Götter verwendet und dabei Vergil zitiert, wie uns Seneca d.Ä. in der vierten Suasorie berichtet:²⁹⁷ quam [sc. controversiam] cum Fuscus declamaret et […] tractaret locum contra somnia et deorum providentiam […] summis clamoribus illum dixit Vergili versum: ‘scilicet is superis labor est, ea cura quietos / sollicitat’.

Die unterschiedliche Bewertung von Zitaten als Anachronismus erklärt sich unseres Erachtens durch die Zeit, zu der die Zitate – und sei es auch nur der Fiktion nach – geäußert wurden, nicht durch die Zeit, zu der die entsprechenden Werke verfasst wurden: Caesars Sentenz veni, vidi, vici ist untrennbar mit dem Sieg gegen Pharnakes II. 47 v.Chr. verbunden, so dass sich deren Gebrauch in einer Suasorie, die 480 v.Chr. spielt, als handfester Anachronismus entpuppt. Die ironische Bemerkung bei Vergil äußert Dido (Aen. 4,379 f.) in mythischer Vorzeit und ist beinahe als zeitlos anzusehen, so dass sie in einer Kontroversie ohne bestimmte zeitliche Fixierung ohne Schwierigkeiten zitiert werden kann. In diesem Fall liegt also kein Anachronismus vor. Durch das Kriterium der in dem Zitat dargestellten Zeit erklären sich auch die Urteile über deren Verwendung an anderen Suasorienstellen. Suas. 2,11 wird Dorion in den höchsten Tönen dafür gelobt, dass er eine Sentenz benutzt, die nicht bei Herodot, wie Seneca d.Ä. angibt, sondern bei Diodor (11,9,4) überliefert ist und an der Suasorienstelle aus dem Kontext rekonstruiert werden kann: in hac materia disertissima illa fertur sententia Dorionis, cum posuisset hoc dixisse trecentis Leonidam, quod puto etiam apud Herodotum esse: 〈ἀριστοποιεῖσθε ὡς ἐν Ἅιδου δειπνησόμενοι. ***〉

Die Anerkennung, die diesem Deklamator zuteil wird, erklärt sich dadurch, dass Diodor zufolge Leonidas die zitierte Sentenz an die Spartaner während der Schlacht bei den Thermopylen gerichtet haben soll. Die fiktive Situation der Suasorie und die in dem Zitat dargestellte Zeit stimmen also überein. Die Tatsache hingegen, dass Herodots Werk (und erst recht dasjenige von Diodor) im Vergleich zu der fiktiven Situation der Suasorie später verfasst wurde, ist unerheblich.

297 Suas. 4,4.

6 Die Argumentation

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Analog ist davon auszugehen, dass Nicetes’ Demostheneszitat (suas. 2,14), das leider ausgefallen ist, deshalb kritisiert wird, weil in ihm wohl der tapferen Soldaten, die in den Kämpfen mit den Persern gefallen sind, gedacht wurde (aus dem Kontext wird wahrscheinlich, dass Nicetes aus § 208 der Kranzrede zitiert hat): Nicetes longe disertius hanc phantasiam movit et adiecit: *** nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, ὅρκον ei dicere 〈liceret〉.

Im Vergleich zu der Schlacht bei den Thermopylen erscheint das von Nicetes verwendete Zitat daher als Anachronismus. Auffälligerweise betreffen Anachronismen nur literarische Zitate, d. h. es handelt sich um ein Phänomen, das in verbis, nicht in rebus liegt. Denn in der dritten Suasorie, in der Agamemnon überlegt, ob er Iphigenie opfern soll, damit die Griechen nach Troja segeln können, benutzen zwei Deklamatoren ihr mythologisches Hintergrundwissen, ohne dafür kritisiert zu werden. So sagt Fuscus nihil adhuc virgo Priami timet und spielt dabei auf Kassandras späteres Unheil nach Trojas Eroberung an.²⁹⁸ In ähnlicher Weise sagt Cestius libentius hanc sacerdotem habebit quam victimam und gibt sein mythologisches Hintergrundwissen zu erkennen, dass Iphigenie Artemis bei den Taurern als Priesterin dienen wird.²⁹⁹

6 Die Argumentation Der argumentative Aufbau der Suasorien erfolgt häufig anhand der Kategorien des honestum, des utile und des δυνατόν.³⁰⁰ Zwar kommt es relativ selten vor, dass alle deliberativen Kategorien zugleich in einer Suasorie berücksichtigt werden.³⁰¹ Es

298 Vgl. suas. 3,1 mit dem Kommentar zur Stelle. 299 Vgl. suas. 3,2 mit dem Kommentar zur Stelle. 300 Zu diesen drei Kategorien (und divergierenden Einteilungen) vgl. Quint. inst. 3,8,22– 35. Fairweather unterschätzt allem Anschein nach die Bedeutung dieser klassischen deliberativen Kategorien für die Argumentation innerhalb der Suasorie, wenn sie behauptet, dass sich die Deklamatoren nicht an diese Kategorien halten; vgl. Fairweather (1981) 154: „The declaimers did not feel at all tied to the classic plan for persuasion“. Möglicherweise resultiert diese Fehleinschätzung aus dem Missverständnis, dass alle deliberativen Kategorien zugleich in einer Suasorie berücksichtigt werden müssen; vgl. Quint. inst. 3,8,26: quas partes non omnes in omnem cadere suasoriam manifestius est, quam ut docendum sit. 301 Vgl. aber suas. 1,8 mit dem Kommentar zur Stelle. Fairweather (1981) 154 hält die drei von Cestius verwendeten deliberativen Kategorien (vgl. suas. 6,10: Cestius sic divisit: mori tibi utile est, honestum est, necesse est) unter Verweis auf Quint. inst. 3,8,22 für klassisch. Jedoch weist Quintilian (ib. 22– 25) darauf hin, dass einige Rhetoren diese Dreiteilung vornehmen. Er selbst hält die Kategorie des δυνατόν statt des necesse für die dritte deliberative Kategorie. Cestius ist

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lässt sich aber häufig beobachten, dass zumindest anhand einer dieser Kategorien oder unter Verknüpfung von zwei Kategorien argumentiert wird, wie unser Kommentar zu den divisiones zeigen wird. Andererseits wird aus der divisio deutlich, dass die drei klassischen deliberativen Kategorien nicht das einzige Repertoire für die Argumentation darstellen.³⁰² Zwei wiederkehrende Strategien lassen sich bei der Argumentation innerhalb der Suasorien beobachten. Zum einen verknüpfen die Deklamatoren häufig zwei Argumente in der folgenden Weise: Zuerst wird gesagt, dass man etwas auch unter einer Prämisse machen soll, die zunächst nicht entschieden wird. In einem zweiten Schritt wird die Prämisse bestritten, wodurch sich eine noch stärkere Position ergibt. Diese Strategie wird von Quintilian empfohlen:³⁰³ Rem de qua deliberatur aut certum est posse fieri aut incertum. Si incertum, haec erit quaestio sola aut potentissima; saepe enim accidet ut prius dicamus ne si possit quidem fieri esse faciendum, deinde fieri non posse.

Quintilian empfiehlt also bei in Frage stehenden Handlungen, deren Verwirklichung ungewiss ist, zunächst die Argumente anzuführen, warum eine Handlung nicht durchgeführt werden sollte, und zwar unabhängig davon, ob ihre Verwirklichung möglich ist oder nicht, und anschließend darzulegen, dass die Handlung nicht durchgeführt werden kann. Mit anderen Worten: man soll zuerst mit den Kategorien des honestum und des utile argumentieren und dann von der Kategorie des δυνατόν Gebrauch machen. Diese Strategie lässt sich in der ersten Suasorie entdecken, in der Alexander überlegt, den Ozean zu durchqueren. Dort legen die Deklamatoren zuerst dar, warum eine Durchquerung nicht unternommen werden soll, selbst wenn sie möglich ist, um anschließend Argumente dafür anzuführen, dass eine Durchquerung nicht möglich ist.³⁰⁴ Die Prämisse wird hier wie auch an den anderen Stellen mit etiam si eingeleitet. Auf ähnliche Weise gliedert sich in der sechsten Suasorie, in der Cicero überlegt, ob er Antonius um Gnade bitten soll, die Argumentation des Deklamators Latro in zwei größere Abschnitte: Zunächst legt er anhand der Kategorien des honestum und des utile dar, dass Cicero Antonius nicht um Gnade bitten sollte,

der einzige Deklamator in der Suasoriensammlung des älteren Seneca, der die Kategorie des necesse verwendet; vgl. suas. 2,11 mit dem Kommentar zur Stelle. 302 S. weiter unten zur zweiten Argumentationsstrategie (S. 66 f.). 303 Quint. inst. 3,8,16. 304 S. die Einleitung zur ersten Suasorie: „Rhetorisch-technische Anweisungen zum Halten dieser Deklamation“; vgl. suas. 1,8: Cestius […] sic [sc. hanc suasoriam] divisit, ut primum diceret, etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse. […] deinde illam quaestionem subiecit, ne navigari quidem Oceanum posse.

6 Die Argumentation

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um am Leben zu bleiben, selbst wenn es möglich ist, dass Antonius Ciceros Leben verschont.³⁰⁵ Dann bestreitet er die Prämisse und versucht, Cicero davon zu überzeugen, dass er keinen Erfolg bei seinem Versuch haben wird; er benutzt also die Kategorie des δυνατόν. Die Deklamatoren verwenden dieselbe Strategie aber auch in einer freieren Art, indem nicht nur ein Argument, das der Kategorie des δυνατόν angehört, zunächst als Prämisse unentschieden gelassen und anschließend bestritten wird. Jede Art von Argument kann in dieser Weise behandelt werden. So sagt der Deklamator Fuscus in der zweiten Suasorie, deren Thema die Schlacht bei den Thermopylen ist, dass eine Flucht der Spartaner schimpflich ist – unabhängig davon, ob sie nützlich ist.³⁰⁶ Dann behauptet der Deklamator, dass vom Standpunkt des utile Flucht und Kampf in gleichem Maße ratsam sind. Schließlich gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass eine Flucht (vom Standpunkt des utile) sogar schlechter ist.Wenn Seneca d.Ä. diese Strategie dort als volgaris bezeichnet, zeigt dies zumindest, dass die von Fuscus verwendete Verknüpfung der Kategorien des honestum und des utile eine typische Vorgehensweise widerspiegelt, die bei dieser oder bei anderen Suasorien, in denen über eine Flucht debattiert wird, verwendet wird.Vielleicht wird aus der Bezeichnung aber auch deutlich, dass das zugrunde liegende Argumentationsschema (die Bestreitung der Prämisse) einem Standardplan der Suasorien entspricht. Analog argumentiert Fuscus in der dritten Suasorie zuerst gegen Iphigenies Opferung unter der Annahme, dass ihre Verschonung für die Griechen bedeutet, nicht nach Troja segeln zu können.³⁰⁷ Dann bestreitet er die Prämisse, dass nur durch Iphigenies Opferung eine Fahrt nach Troja möglich ist, und gelangt so zu einer noch stärkeren Position. In diesem Fall wird zwar auch eine Möglichkeit bestritten, also mit der Kategorie des δυνατόν argumentiert, aber diese Möglichkeit betrifft nicht die eigentlich zur Debatte stehende Frage, ob Agamemnon Iphigenie opfern soll (es wird nicht gefragt, ob Agamemnon Iphigenie opfern kann), sondern den im Thema genannten Umstand, dass nach Kalchas’ Aussage eine Überfahrt nach Troja nur möglich ist, wenn Iphigenie geopfert wird. In der fünften Suasorie benutzt Fuscus dasselbe Argumentationsschema: Zunächst argumentiert er gegen die Beseitigung der Trophäen, die nach dem Sieg über die Perser errichtet wurden, unter der Prämisse, dass Xerxes seine Drohung

305 Vgl. suas. 6,8 mit dem Kommentar zur Stelle: Latro sic hanc divisit suasoriam: etiamsi impetrare vitam ab Antonio [non] potes, 〈non est〉 tanti rogare. 306 Vgl. suas. 2,11 mit dem Kommentar zur Stelle: Divisione autem 〈in〉 hac suasoria Fuscus usus est illa volgari, ut diceret non esse honestum fugere, etiam si tutum esset. 307 Vgl. suas. 3,3 mit dem Kommentar zur Stelle: Hanc suasoriam sic divisit Fuscus, ut diceret, etiamsi aliter navigare non possent, non esse faciendum […].

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wahr macht und zurückkehrt, wenn die Athener sie nicht beseitigen.³⁰⁸ Dann bestreitet er die Prämisse, d. h. er legt dar, dass Xerxes nicht zurückkehren wird. Die zweite Argumentationsstrategie, die sich wiederholt beobachten lässt, ist die Argumentation auf der allgemeinen Ebene, d. h. auf der Ebene der θέσις:³⁰⁹ Die Deklamatoren, die immer über einen konkreten Fall (ὑπόθεσις) beraten, abstrahieren von diesem Fall, indem sie die zugrunde liegenden allgemeinen Fragen behandeln. Dies ist z. B. in der dritten Suasorie der Fall. Dort stützt Fuscus sein Argument, dass die Griechen Iphigenie nicht töten sollen, auch wenn ihre Verschonung für die Griechen bedeutet, nicht nach Troja segeln zu können, durch das untergeordnete (und zugleich allgemeinere) Argument, dass man einen Menschen nicht töten soll.³¹⁰ Aufschlussreich ist auch, wie Cestius in derselben Suasorie Kalchas’ Weissagung zurückweist, dass eine Überfahrt nach Troja nur möglich ist, wenn Iphigenie geopfert wird: Er argumentiert anhand der drei Thesen, dass (1) die Götter sich um menschliche Belange nicht kümmern, dass (2), auch wenn sie sich darum kümmern sollten, die Menschen den Willen der Götter nicht verstehen und dass (3), auch wenn die Menschen ihn verstehen sollten, das Schicksal nicht geändert werden kann.³¹¹ In ähnlicher Weise bestreitet Fuscus in der vierten Suasorie, dass der Weissagung des Augurs Glauben zu schenken ist, der Alexander davor warnt, Babylon zu betreten, indem er allgemein das Zukunftswissen der Weissager in Zweifel zieht.³¹² In der fünften Suasorie bekräftigt derselbe Deklamator sein Argument, dass die Athener die Trophäen, die nach dem Sieg über die Perser errichtet wurden, nicht beseitigen sollen, durch das allgemeinere Argument, dass man wie

308 Vgl. suas. 5,4 mit dem Kommentar zur Stelle: Fuscus sic divisit: etiamsi venturus est Xerses, nisi tollimus, non sunt tropaea tollenda. 309 Zu θέσις und ὑπόθεσις s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 1 f., sowie das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“. 310 Vgl. suas. 3,3 mit dem Kommentar zur Stelle: Hanc suasoriam sic divisit Fuscus, ut diceret, etiamsi aliter navigare non possent, non esse faciendum, et sic tractavit, ut negaret faciendum, quia homicidium esset, quia parricidium. 311 Vgl. suas. 3,3 mit dem Kommentar zur Stelle: Hoc Cestius diligenter divisit: dixit enim deos rebus humanis non interponere arbitrium suum. si interponant, voluntatem eorum ab homine non intellegi. ut intellegatur, non posse fata revocari. 312 Vgl. suas. 4,4 mit dem Kommentar zur Stelle: In hac suasoria nihil aliud tractasse Fuscum scio quam easdem quas supra retuli quaestiones ad scientiam futuri pertinentis. Genau genommen liegt ein Locus communis vor (vgl. suas. 3,4 und 7 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle). Locus communis und These unterscheiden sich nach Theon aber nur darin, dass bei der These über etwas diskutiert wird, was zweifelhaft ist, also utramque in partem diskutiert werden kann, während der Locus communis etwas ausweitet, worüber Einigkeit herrscht; vgl. Theon RhG II p. 120 Spengel (p. 82 Patillon / Bolognesi [1997]).

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ein Sklave handeln würde, wenn man Befehle ausführt.³¹³ In der sechsten Suasorie verweist Latro darauf, dass es für jeden Römer unehrenhaft wäre, um Gnade zu flehen, und in besonderer Weise für Cicero unehrenhaft wäre.³¹⁴ Das Abstrahieren vom konkreten Fall (ὑπόθεσις) zur allgemeinen Frage (θέσις) ist im übrigen auch in den Kontroversien eine Standardvorgehensweise.³¹⁵ Hierin scheinen die Deklamatoren der von Cicero vertretenen Doktrin gefolgt zu sein.³¹⁶

7 Die politische Dimension der Suasorien In der Forschung wurde mehrfach die politische Dimension der Deklamation untersucht.³¹⁷ Mit Bezug auf die Suasorien hat es vor allem zwei Untersuchungen gegeben, nämlich diejenigen von Berti und Migliario. Bertis Studie ist allerdings nicht im strengen Sinne als eine Analyse der politischen Dimension der Suasorie anzusehen,³¹⁸ da es nicht sein Ziel ist, die Aussagen der Deklamatoren auf die

313 Vgl. suas. 5,4 mit dem Kommentar zur Stelle: Fuscus sic divisit: etiamsi venturus est Xerses, nisi tollimus, non sunt tropaea tollenda: confessio servitutis est iussa facere. 314 Vgl. suas. 6,8 mit dem Kommentar zur Stelle: in priore illa parte posuit, turpe esse cuilibet Romano, nedum Ciceroni, vitam rogare. 315 Dort werden zumeist erst die allgemeinen und dann die konkreten Fragen gestellt; vgl. contr. 9,2,13 – 15, wo Votienus Montanus erst allgemein das crimen maiestatis definiert, und dann fragt, ob Flamininus im vorliegenden Fall gegen dieses Gesetz verstoßen hat (§ 15): Deinde, si potest vindicari maiestatis lege id, quod proconsul maiestatis publicae et iure et apparatu usus peccavit, an hoc possit. 316 Vgl. Cic. orat. 45: quibus [sc. die Status coniectura, definitio und qualitas] ut uti possit orator, non ille vulgaris sed hic excellens, a propriis personis et temporibus semper, si potest, avocet controversiam; latius enim de genere quam de parte disceptare licet, ut quod in universo sit probatum id in parte sit probari necesse; de orat. 3,120: Ornatissimae sunt igitur orationes eae, quae latissime vagantur et a privata ac singulari controversia se ad universi generis vim explicandam conferunt et convertunt, ut ei, qui audiant, natura et genere et universa re cognita de singulis reis et criminibus et litibus statuere possint; part. 61: est consultatio quasi pars causae quaedam et controversiae: inest enim infinitum in definito, et ad illud tamen referuntur omnia; top. 80: propositum pars est causae. S. auch das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“, S. 16 – 22. 317 Vgl. z. B. Heldmann (1982) 227– 242 (u. a. zu contr. 2,4,12 f.). 318 Vgl. Berti (2007) 341– 348. Berti bezieht sich teilweise auf Tandois (1964) und (1967) Untersuchungen zum epischen Fragment des Albinovanus Pedo, das Seneca d.Ä. in der ersten Suasorie überliefert und das von Germanicus’ Nordsee-Expedition im Jahr 16 n.Chr. handelt (vgl. suas. 1,15 mit dem Kommentar zur Stelle). Tandoi untersucht das Verhältnis dieses Fragments zum politischen Diskurs der Julisch-Claudischen Dynastie. Im Vordergrund stehen folgende Verse: V. 1– 4; V. 19: alium […] quaerimus orbem. Vgl. hierzu Tandoi (1967) 46: „Agli occhi dei

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zeitgenössische Politik zu beziehen, sondern er Stellen v. a. aus der ersten Suasorie, an denen die Topik des Eroberers, der die bekannte Welt verlässt und neue Länder erschließt,³¹⁹ auf Alexander angewendet wird, mit anderen Stellen in Verbindung bringt, an denen diese Topik auf Caesar übertragen wird.³²⁰ Eine Analyse der politischen Dimension der Suasorie im eigentlichen Sinne liegt bei Migliario vor. Sie hat analysiert, ob die Aussagen der Deklamatoren in der sechsten und siebenten Suasorie einen ernsthaften Beitrag zur politischen Debatte darstellen und ob diese Aussagen durch die Biographie der Deklamatoren verständlich werden.³²¹ Angeregt wurde dieses Forschungsinteresse vielleicht auch von der häufig anzutreffenden Vorstellung, dass die forensische Rhetorik mit dem Übergang von der Republik zur Kaiserzeit ihr gewohntes Betätigungsfeld verloren habe und die Rhetorikschule zum Ersatz für das Forum geworden sei.³²² Die Vorstellung von einem Rückzug der politischen Rhetorik vom Forum in die Rhetorikschule halten wir allerdings für problematisch. Die biographistisch-politische Ausdeutung der Suasorien wiederum scheint uns nur teilweise überzeugend zu sein. Von einem Rückzug der politischen Rhetorik vom Forum in die Rhetorikschule zu sprechen ist deswegen problematisch, weil die griechisch-römische Dekla-

Romani del I secolo d. C. bastava l’ alium…. quaerimus orbem a caratterizzare Germanico come novello Alessandro […].“ 319 Vgl. z. B. Moscus (suas. 1,2): non quaerimus orbem, sed amittimus; Marullus (ib. 3): orbem, quem non novi, quaero; Iuv. 10, 168 f.: unus Pellaeo iuveni non sufficit orbis / aestuat infelix angusto limite mundi. 320 Vgl. Lucan. 5,355 f. (über Caesar und seine Soldaten): sperantis omnia dextras / exarmare datur, quibus hic non sufficit orbis; 10,456: hic, cui Romani spatium non sufficit orbis; Vell. 2,46,1: [sc. cum Caesar] in Britanniam traiecisset exercitum, alterum paene imperio nostro ac suo quaerens orbem […]; Flor. epit. 1,45,16: Omnibus terra marique peragratis respexit Oceanum et, quasi hic Romanis orbis non sufficeret, alterum cogitavit. Berti (2007) 346 f. vertritt einerseits die Meinung, dass diese Alexandertopik in der Rhetorikschule entstanden ist, gibt aber andererseits an (ib.) 344, dass sie schon älter ist, indem er auf Val. Max. 8,14 ext. 2 verweist: Nam Alexandri pectus insatiabile laudis, qui Anaxarcho comiti suo ex auctoritate Democriti praeceptoris innumerabiles mundos esse referenti ‘heu me’ inquit ‘miserum, quod ne uno quidem adhuc sum potitus!’ Vgl. schon Aischin. 3,165: ὁ δ’ Ἀλέξανδρος ἔξω τῆς ἄρκτου καὶ τῆς οἰκουμένης ὀλίγου δεῖν πάσης μεθειστήκει; Hoffmann (1907) 34. 321 Migliario (2008); vgl. auch die entsprechenden Beobachtungen (2007) 121– 142 und 21 f. für den Ansatz, Deklamationen als Zeugnisse für politisch-ideologische Tendenzen in der zeitgenössischen Gesellschaft auszuwerten (in diesem Zusammenhang spricht Migliario von „kulturellen Codes“). 322 Diese Vorstellung hat Norden 5(1958) I 248 in die moderne Forschung eingeführt. Sie geht jedoch bis auf Goethe zurück, wie Stroh (2009) 411 gesehen hat.

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mation eine jahrhundertealte Tradition aufweisen kann.³²³ In Rom ist davon auszugehen, dass die Schuldeklamation seit dem zweiten Jahrhundert v.Chr. in griechischer und seit dem ersten Jahrhundert v.Chr. in lateinischer Sprache praktiziert wurde. Es wäre daher nur möglich, von einer Kompensation der politischen Beredsamkeit durch die Deklamation insofern zu sprechen, als die Schaudeklamation wohl erst im Prinzipat aufgeblüht ist.³²⁴ Aber selbst dann wären noch zwei Prämissen zu überprüfen, die sich kaum verifizieren lassen: (1) Darf man von einem Verfall der praktischen Beredsamkeit sprechen und diesen – bewusst oder unbewusst – mit Maternus aus Tacitus’ Dialogus de oratoribus auf den Übergang zum Prinzipat zurückführen?³²⁵ (2) Ist die Schaudeklamation wirklich entstanden, weil die forensische Rhetorik angeblich im Niedergang begriffen war, oder ist sie unabhängig davon kurz nach oder kurz vor dem Übergang zum Prinzipat entstanden? Uns scheint die letztere Möglichkeit wahrscheinlicher zu sein, zumal wir darüber informiert sind, dass es schon in der Republik die Schaudeklamation gegeben hat.³²⁶ Daher wird man eher annehmen, dass sich die Schaudeklamation in Analogie zur Rezitation herausgebildet hat.³²⁷ Es hat den Anschein, als habe man aus der lückenhaften Überlieferung, die sich darin offenbart, dass uns einerseits Deklamationen erst aus der Kaiserzeit überliefert sind und andererseits Reden aus der Kaiserzeit kaum auf uns gekommen sind, und aus der antiken Debatte über den Verfall der Beredsamkeit die Schlussfolgerung gezogen, dass ein Niedergang der forensischen Beredsamkeit stattgefunden habe, der durch ein Aufleben der Deklamation kompensiert worden sei. Die Vorstellung von der Rhetorikschule als Ersatz für das Forum, die wir für bedenklich halten, betrifft jedoch nur eine rein äußerliche Kompensation. Anders verhält es sich mit der politischen Dimension, die Migliario in den Aussagen der Deklamatoren sieht. Aber auch die Untersuchung des Zusammenhanges zwischen den Aussagen der Deklamatoren und der zeitgenössischen Politik stößt auf prinzipielle Schwierigkeiten. Denn ein derartiger Zusammenhang würde gestützt

323 Vgl. Sandstede (1994) 481 f.; Turner (1972); s. unser Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“. 324 Vgl. Sandstede (1994) 483. Zu den verschiedenen Funktionen der Deklamation s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 3. Zum Aufblühen der Schaudeklamation im Prinzipat s. das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“, S. 32 f. Auf das Aufkommen der Schaudeklamation bezieht sich Norden 5(1958) I 248 nicht, sondern auf die soziale Anerkennung der Deklamation und der Deklamatoren. 325 Vgl. die Untersuchung von Heldmann (1982). Der Verfall der praktischen Beredsamkeit war ein Modethema im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Auch Stroh (2009) 408 – 411 äußert Zweifel an der Richtigkeit der Verfallshypothese. 326 Vgl. Suet. gramm. 7,2; s. das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“, S. 32 f. 327 Zur Rezitation vgl. suas. 6,27 mit dem Kommentar zur Stelle.

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werden, wenn sich zeigen ließe, dass die Aussagen der Deklamatoren in der damaligen gesellschaftspolitischen Debatte Parallelen aufweisen. Leider fehlen aber für diesen Nachweis die Quellen, wie sich noch zeigen wird. Die fundamentale Schwierigkeit ergibt sich aber dadurch, dass wir es mit Rhetorik, noch dazu mit Deklamationen zu tun haben.³²⁸ Denn das primäre Ziel der Deklamatoren besteht im Überzeugen,³²⁹ und hierfür können sie alle zur Verfügung stehenden Mittel verwenden und ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Es ist also höchst fraglich, ob man die Aussagen der Deklamatoren als politisches Manifest lesen und ihnen damit zumindest eine zusätzliche, wenn nicht sogar andere Absicht unterstellen darf, als sie eigentlich verfolgen, nämlich argumentativ in einer vorgegebenen Situation eine Entscheidung herbeizuführen. Desweiteren wird die Untersuchung einer politischen Dimension der Deklamation dadurch erschwert, dass uns Seneca d.Ä. keine vollständigen Deklamationen, sondern Exzerpte überliefert. Betrachten wir die Einzelergebnisse, zu denen Migliario bei der Analyse der sechsten und siebenten Suasorie gelangt. In beiden Suasorien überlegt Cicero, ob er Antonius um Gnade bitten soll. Einer politischen Interpretation unterzieht Migliario folgende Äußerung des Deklamators Haterius aus der sechsten Suasorie, mit der dieser Cicero davon abraten möchte, Antonius um Gnade zu bitten (suas. 6,1): Quemadmodum autem hunc senatum intrare poteris, exhaustum crudeliter, repletum turpiter? Nach Meinung von Migliario spielt der Deklamator auf die Aufstockungen des Senats nach den Proskriptionen aus dem Jahr 43 v.Chr. und auf die über 300 Senatoren an, die 32 v.Chr. zu Antonius in den Osten geflüchtet sind.³³⁰ Implizit liege aber auch ein Kontrast zu den Säuberungen und Aufstockungen des Senats durch Augustus ab 28 v.Chr. vor. Eine Entsprechung zu diesen politischen Äußerungen sieht Migliario in der Biographie des Deklamators, da ein gewisser Haterius – möglicherweise ein Familienangehöriger des Deklamators – zu den Opfern der Proskriptionen zählte und der Deklamator selbst durch Augustus in den Senat gehoben worden sei.³³¹ Diese Auslegung ist allerdings nicht haltbar. Denn wenn Haterius auf mehrere Säuberungen und Aufstockungen des Senates anspielt, dann ist es nicht möglich,

328 Diesen Einwand erhebt auch van den Berg (2010) 281 f. in einer Rezension zu Migliarios (2007) Monographie. 329 Bei der Schaudeklamation wird zwar das Ziel verfolgt, ein Publikum zu unterhalten, aber auch in diesem Fall wird das Ziel des Überredens nicht aus den Augen verloren. 330 Vgl. Cassius Dio 50,2,7. 331 Vgl. Migliario (2007) 122 – 125; (2008) 81– 83. In ihrer Monographie aus dem Jahr 2007 spricht sie etwas vorsichtiger davon, dass Haterius „vielleicht“ von Augustus in den Senat gehoben worden sei; vgl. S. 125 und 124 Fußn. 14. In der in vielen Punkten identischen Publikation aus dem Jahr 2008 fehlt diese Einschränkung (S. 82).

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dass die Adverbien crudeliter und turpiter einerseits eine negative und andererseits eine positive Bewertung ausdrücken. Vor allem aber ist nicht explizit überliefert, dass Haterius durch Augustus in den Senat gehoben worden ist, so dass es sich um eine bloße Spekulation handelt. Ebenso fraglich ist die politische Deutung von Haterius’ Aussage über Caesar in der siebenten Suasorie (suas. 7,1): merito hercules illo tempore vixisti, quo Caesar ultro te rogavit, ut viveres, sine ulla pactione, quo tempore non quidem stabat res publica sed in boni principis sinum ceciderat. Nach Migliario ist Haterius der erste und einzige Deklamator, der in Caesar den „Prototyp“ des guten Herrschers erblickt und durch Bezug auf dessen clementia auf diejenige des Augustus anspielt.³³² Diese Interpretation steht jedoch im Widerspruch zu der Tatsache, dass der Deklamator an der zuvor zitierten Stelle aus der sechsten Suasorie von einer grausamen Dezimierung und schimpflichen Aufstockung des Senats spricht, wobei er sich auf Caesars und Antonius’ Maßnahmen beziehen muss. Daher sollte Haterius’ Äußerung unter rhetorischen Gesichtspunkten gedeutet werden: Um Cicero von einem Gnadengesuch an Antonius abzuraten, behauptet er, dass Cicero sich nach dem Bürgerkrieg zwar zu Recht mit Caesar versöhnt habe, dass aber eine Versöhnung mit Antonius schimpflich wäre. Aus diesem Grund gelangt er zu der Aussage, dass Caesar ein guter Herrscher gewesen sei, und lässt durchblicken, dass Antonius dies nicht ist.³³³ Auch wenn diese Aussage plausibel erscheinen muss: eine politisch fundierte Aussage liegt nicht vor. Die Ziele, die der Deklamator Varius Geminus in der sechsten Suasorie verfolgt, halten einer politischen Interpretation ebenfalls nicht stand. Seneca d.Ä. berichtet von diesem Deklamator, dass er Ciceros Wahl zwischen Gnadengesuch und Tod um eine dritte Möglichkeit erweitert, nämlich die Flucht, und zwar am ehesten zu Brutus, Cassius oder Sextus Pompeius. In diesem Zusammenhang formuliert er die Sentenz et res publica suos triumviros habet (suas. 6,11). Migliario sieht in dieser Sentenz eine boshafte Aussage und meint, dass Varius Geminus Cicero eine wenig ehrenhafte Alternative vorschlägt.³³⁴ Es gibt jedoch keinen Grund, die Aussage über die republikanischen Triumvirn in ein schlechtes Licht zu rücken. Ferner ist der Rat, den der Deklamator Cicero gibt, nicht unehrenhaft. Denn der Deklamator stellt zunächst einmal klar, dass er Cicero zum Sterben auffordern würde, wenn es nur die beiden Optionen Gnadengesuch oder Tod gäbe.³³⁵ Außerdem bedeutet die mögliche Flucht zu Brutus, Cassius oder Sextus

332 Vgl. Migliario (2007) 123 f.; (2008) 82 f. 333 S. den Kommentar zur Stelle. 334 Vgl. Migliario (2008) 83 und (2007) 140 f. 335 Vgl. suas. 6,11: Varius Geminus sic divisit: hortarer te, si nunc alterutrum utique faciendum esset, aut moriendum aut rogandum, ut morereris potius quam rogares.

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Pompeius, dass Cicero den Kampf um die republikanischen Ideale weiterführen würde. Schließlich verknüpft der Deklamator die möglichen Fluchtziele mit den glanzvollen Taten, die Cicero zuvor dort vollbracht hat – z. B. die Verwaltung von Sizilien und Kilikien. Daher liegen auch hier allem Anschein nach lediglich Argumente vor, die Cicero überzeugen sollen. Eine noch klarere politische Tendenz erkennt Migliario in der Tatsache, dass Varius Geminus der einzige Deklamator ist, der in der sechsten Suasorie auch das andere Argumentationsziel verfolgt, d. h. Cicero zum Gnadengesuch auffordert.³³⁶ Migliario zufolge würden das Argumentationsziel und die Argumente, die Varius Geminus verwendet, besondere Relevanz erhalten, wenn die Identifizierung des Deklamators mit dem gleichnamigen italischen Senator zutreffen würde.³³⁷ Aber zum einen ist die Identität der Personen nur eine Spekulation. Und zum anderen müsste man Varius Geminus Schizophrenie unterstellen, wenn man bedenkt, dass er beide Argumentationsziele verfolgt, und davon ausgeht, dass er in den Suasorien seine politische Meinung äußert. Daher gilt auch hier wieder, dass die Äußerungen des Deklamators rhetorisch gedeutet werden sollten, und das heißt in diesem Fall, dass er von dem Prinzip des in utramque partem disserere Gebrauch macht. Die Tatsache, dass Latro in der sechsten Suasorie die Schlacht bei Munda erwähnt,³³⁸ könnte mit Migliario damit begründet werden, dass der Deklamator aus Spanien stammt und seine Kindheit von den Konflikten zwischen Caesarianern und Pompejanern überschattet war.³³⁹ Da er aber Munda in einer Reihe mit Pharsalos und Mutina nennt und Munda eine der wichtigsten Schlachten des Bürgerkrieges war, ist es mindestens ebenso wahrscheinlich, dass die Erwähnung von Munda nicht biographisch motiviert ist. Zwar wird die Schlacht bei Munda – soweit die Exzerpte ein Urteil zulassen – explizit von keinem anderen Deklamator in der sechsten oder siebenten Suasorie genannt, aber derselbe Befund gilt für die Schlacht bei Mutina. Desweiteren wird auf die Schlacht bei Munda immerhin an einer Stelle indirekt verwiesen, an der der älteste Sohn des Triumvirn Pompeius genannt wird.³⁴⁰ Dort ist es der Grieche Cestius Pius, der auf Munda anspielt. Schließlich ist gegen Migliarios biographistische Interpretation einzuwenden,

336 Vgl. suas. 6,12. 337 Vgl. Migliario (2008) 83 f.; (2007) 141 f. 338 Vgl. suas. 6,3 mit dem Kommentar zur Stelle: unius tabellae albo Pharsalica ac Mundensis Mutinensisque ruina vincitur. 339 Vgl. Migliario (2007) 126; (2008) 85. 340 Vgl. suas. 7,3 mit dem Kommentar zur Stelle: Si occidetur Cicero, iacebit inter Pompeium patrem filiumque et Afranium, Petreium, Q. Catulum, M. Antonium illum indignum hoc successore generis.

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dass wir über Latros Kindheit nicht ausreichend informiert sind, um einschätzen zu können, ob sie wirklich von den Konflikten zwischen Caesarianern und Pompejanern überschattet war. Eine plausible politische Interpretation erfährt eine Stelle aus der divisio der sechsten Suasorie.³⁴¹ Dort berichtet Seneca d.Ä., dass Albucius Silo als einziger Deklamator gewagt hat zu behaupten, dass Cicero nicht nur Antonius’ Hass auf sich gezogen hat.³⁴² Die Tatsache, dass nur Albucius Silo andeutet, dass Augustus in Ciceros Tod verstrickt war, scheint in der Tat politisch motiviert zu sein. Allerdings wird diese Interpretation durch den Kommentar des älteren Seneca gestützt, d. h.: zumindest in den Augen des älteren Seneca enthielt Albucius Silos Äußerung politische Implikationen. Würden weitere derartige Kommentare des älteren Seneca vorliegen, wäre es unproblematisch, eine politische Dimension der Suasorie in größerem Umfang offen zu legen. Um die Äußerungen des griechischen Deklamators Cestius Pius einschätzen zu können, konfrontiert Migliario sie mit historischen Informationen, die Seneca d.Ä. in der siebenten Suasorie erzählt. Dort erfahren wir, dass Cestius Pius zu Gast bei Ciceros Sohn war, während dieser als Prokonsul die Provinz Asien verwaltete. Als Ciceros Sohn von seinem Sklaven erfuhr, dass der Deklamator seinen Vater für einen Ungebildeten halte, ließ er ihn auspeitschen.³⁴³ Im Gegensatz zu diesen diffamierenden Äußerungen stehen die Exzerpte, die Seneca d.Ä. aus dessen Cicerodeklamationen zitiert. Aus der sechsten Suasorie ist uns folgendes Enkomion überliefert, das auf eine Stelle aus Ciceros Rede Pro Marcello rekurriert: Si ad desiderium populi respicis, Cicero, quando perieris, parum vixisti; si ad res gestas, satis vixisti; si ad iniurias Fortunae et praesentem rei publicae statum, nimium diu vixisti; si ad memoriam operum tuorum, semper victurus es. ³⁴⁴ In der siebenten Suasorie nennt Cestius Pius Ciceros literarisches Werk monumenta eloquentiae. ³⁴⁵ In der divisio derselben Suasorie erfahren wir, dass der Deklamator auch das

341 Vgl. Migliario (2007) 129; (2008) 85 f. 342 Vgl. suas. 6,9 mit dem Kommentar zur Stelle: et solus 〈ex〉 declamatoribus temptavit dicere non unum illi esse Antonium infestum. hoc loco dixit illam sententiam: si cui ex triumviris non es invisus, gravis es. et illam sententiam, quae valde excepta est: roga, Cicero, exora unum, ut tribus servias. 343 Vgl. suas. 7,13 mit dem Kommentar zur Stelle. 344 Vgl. suas. 6,4 mit dem Kommentar zur Stelle. 345 Vgl. suas. 7,2 mit dem Kommentar zur Stelle: intellexit Antonius salvis eloquentiae monumentis non posse Ciceronem mori.

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Argument benutzt hat, dass dank Cicero die römische Beredsamkeit die griechische übertroffen hat.³⁴⁶ Für Migliario zeigen diese divergierenden Äußerungen, dass Cestius Pius nach 29 v.Chr.³⁴⁷ und aufgrund seiner Übersiedlung nach Rom seine Meinung über Cicero geändert und auf die Linie eingeschwenkt ist, die seine römischen Kollegen vertreten haben.³⁴⁸ Aber abgesehen davon, dass wir nicht wissen, aus welchem Jahr die Exzerpte aus Cestius Pius’ Suasorien stammen: Die divergierenden Äußerungen über Cicero lassen sich einfacher dadurch erklären, dass der Deklamator in den Suasorien nicht seine tatsächliche Meinung über Cicero preisgibt, sondern Argumente sucht, die seinem Argumentationsziel dienen. Die Tatsache, dass Cestius Pius Cicero einen Ungebildeten nennt, hängt vielmehr mit dessen Eitelkeit zusammen, von der uns Seneca d.Ä. an mehreren Stellen berichtet.³⁴⁹ In diesem Zusammenhang erzählt nämlich Seneca d.Ä. die Anekdote über den Besuch des Cestius Pius beim jüngeren Cicero. Die Äußerungen, die Cestius Pius in den Cicerosuasorien trifft, spiegeln daher wahrscheinlich ebenso wenig wie diejenigen der griechischen Deklamatoren Arellius Fuscus und Argentarius einen Akkulturationsprozess in dem Sinne wider, dass ursprüngliche politische Meinungen revidiert und diejenigen der römischen Kollegen übernommen wurden. In Wirklichkeit zeigt die Tatsache, dass sowohl die griechischen als auch die römischen Deklamatoren häufig dieselben Gedanken formulieren,³⁵⁰ dass sie von Topoi Gebrauch machen. Insofern ist Migliarios Ansatz, die Äußerungen der Deklamatoren in den Suasorien politisch zu deuten und von der unterschiedlichen Biographie der Deklamatoren her verständlich zu machen, wenig ergiebig.³⁵¹ Die Schwäche einer politischen Deutung der Suasorien wird auch an der Verwendung des Cato-Beispiels deutlich: Viele Deklamatoren verwenden dieses exemplum, um Cicero dazu aufzufordern, in ähnlicher Weise lieber zu sterben, als um Gnade zu bitten.³⁵² Wenn man einem politisch-biographistischen Interpretationsansatz folgen würde, müsste man versuchen, die Wahl des Beispiels dadurch

346 Vgl. suas. 7,10 mit dem Kommentar zur Stelle: [sc. Cestius Pius dixit] iniuriam illum facturum populo Romano, cuius linguam inopem extulisset, ut insolentis Graeciae studia tanto antecederet eloquentia quanto fortuna. 347 Die Datierung des Prokonsulats auf 29 v.Chr. hängt wohl damit zusammen, dass der jüngere Cicero 30 v.Chr. zum consul suffectus ernannt wurde. 348 Vgl. Migliario (2007) 134– 136; (2008) 87– 89; (2009) 519 – 521. 349 Vgl. suas. 7,12 mit dem Kommentar zur Stelle. 350 Diese Konvergenz beobachtet auch Migliario (2008) 89. 351 Vgl. Migliario (2007) 22– 31, v. a. 31. Diesen Vorwurf erhebt auch van den Berg (2010) 281 in einer Rezension zu Migliarios (2007) Monographie. 352 Vgl. suas. 6,2 mit dem Kommentar zur Stelle.

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zu begründen, dass diese Deklamatoren einer älteren Generation angehören, die Catos Selbstmord noch miterlebt hat. Es stellt sich aber heraus, dass die Deklamatoren, die das Cato-Beispiel verwenden, beiden Generationen angehören, die Migliario unterscheidet.³⁵³ Denn Haterius und der Grieche Cestius, die einer älteren Generation angehören, rekurrieren ebenso auf dieses exemplum wie die jüngeren Marcellus und Asprenas.³⁵⁴ Deshalb zeigt die Verwendung des CatoBeispiels durch Deklamatoren, die verschiedenen Generationen angehören und einen verschiedenen ethnischen – vielleicht auch sozialen – Hintergrund haben, dass Herkunft, Alter und sozialer Rang weniger relevante Faktoren bei der Wahl von Beispielen und Argumenten sind. Vielmehr machen die Deklamatoren generationsübergreifend von einem Topos Gebrauch. Als gesichertes Ergebnis einer politischen Deutung der Cicerosuasorien darf daher lediglich der Umstand angesehen werden, dass fast alle Deklamatoren Augustus’ Verstrickung in Ciceros Tod ausblenden und die gesamte Schuld auf Antonius schieben. Möglicherweise lässt sich diese Tendenz auch an der folgenden Stelle erkennen, an der Augustus nicht genannt wird:³⁵⁵ Vide, ut Cicero audiat Lepidum, Cicero audiat Antonium, nemo Ciceronem. An den anderen Stellen ist eine politische Interpretation zwar nicht ausgeschlossen, aber es ist schwierig plausibel zu machen, dass eine derartige Interpretation der Intention der Deklamatoren gerecht wird.

8 Überblick über die erhaltenen antiken Suasorien 8.1 Bisherige Arbeiten Eine Aufzählung der historischen Suasorien- und Kontroversienthemen – unabhängig davon, ob die Deklamationen überliefert sind oder nicht – bietet Kohl (1915). Die Themen werden nach der Zeit, in der sie spielen, angeordnet. Aber dadurch, dass Kohl zum einen die Themen und nicht die Deklamationen selbst in den Blick nimmt und zum anderen auch die historischen Kontroversienthemen berücksichtigt, ist sein Überblick weiter gefasst als unserer. Klek hat im Jahr 1919 eine Teilgeschichte des γένος συμβουλευτικόν vorgelegt. Allerdings täuscht der Titel des Werkes über Kleks wirkliches Vorhaben hinweg, da

353 Migliario (2007) 22 unterscheidet zwischen einer Generation, die zwischen 50 und 45 v.Chr. geboren wurde und die letzte Etappe des Bürgerkrieges miterlebt hat, und einer Generation, die in den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts v.Chr. oder später geboren wurde. 354 Vgl. für diese Personen Migliario (2007) 23 f.; 29 f. 355 Suas. 7,8; s. den Kommentar zur Stelle.

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er keineswegs das gesamte genus deliberativum untersucht, sondern nur denjenigen Teilbereich, in dem eine Privatperson einer anderen Privatperson in einer konkreten Situation einen Ratschlag erteilt.³⁵⁶ Die Suasorien werden aber nicht nur aus diesem pragmatischen, sondern zusätzlich aus einem gattungstheoretischen Grund beiseite gelassen. Denn Klek sieht einen spezifischen Unterschied zwischen der Suasorie und dem λόγος συμβουλευτικός darin, dass in der Suasorie darüber beraten wird, ob ein Unterfangen in die Tat umgesetzt werden soll oder nicht (dabei bezieht sich Klek auf die von Seneca d.Ä. überlieferten Suasorien, deren Themen ein deliberat an-Schema aufweisen). Die zum γένος συμβουλευτικόν gehörigen Reden befassen sich hingegen Klek zufolge mit der Frage, auf welche Weise der Gegenstand der Beratung umgesetzt werden soll.³⁵⁷ Allerdings lässt sich die Frage nach dem Ob bzw. nach dem Wie nur teilweise als gattungsdifferenzierendes Kriterium halten. Denn die Definitionen des genus deliberativum in den antiken Rhetorikhandbüchern zeigen deutlich, dass diese Gattung weitgehend über die Frage definiert wurde, welche Alternative in die Tat umzusetzen ist.³⁵⁸ Es ließe sich allenfalls festhalten, dass in den Suasorien immer nach dem Ob gefragt wird, während im λόγος συμβουλευτικός sowohl über das Ob als auch über das Wie debattiert wird. Bornecque (1934) hat in einem Aufsatz ein ähnliches Ziel wie Kohl verfolgt, indem er die Themen der römischen Suasorien zusammengestellt hat. Da außer den Suasorien des älteren Seneca keine römischen Suasorien überliefert sind, ist Bornecques Beitrag allerdings für unsere Untersuchung von geringer Relevanz.³⁵⁹ Eine umfangreiche Monographie zur Entwicklung der Deklamation von den Anfängen in Griechenland bis in die Renaissance hat Turner (1972) verfasst. Diese

356 Klek (1919) 30 gibt den Bereich der von ihm untersuchten Texte wie folgt an: „De eis tantum scriptis symbuleuticis dicam, quibus orator vel epistolographus ut amicus et familiaris – non ut legati vel civis munere fungens – sive oratus sive non oratus privatus privatis consilia dat suadetque, quomodo in certa quadam condicione vitae (quae est περίστασις πραγμάτων) utiliter agi oporteat.“ 357 Vgl. Klek (1919) 157– 162. 358 Vgl. Rhet. Her. 3,2,2: Deliberationes partim sunt eiusmodi, ut quaeratur, utrum potius faciendum sit; partim eiusmodi, ut, quid potissimum faciendum sit, consideretur. Utrum potius, hoc modo: Kartago tollenda an relinquenda videatur. Quid potissimum, hoc pacto: ut si Hannibal consultet, quom ex Italia Kartaginem arcessatur, an in Italia remaneat, an domum redeat, an in Aegyptum profectus occupet Alexandriam. Die Zugehörigkeit der Suasorie zum γένος συμβουλευτικόν wird auch aus dem Kapitel deutlich, das Quintilian dieser Gattung widmet (inst. 3,8), da er – wie der Verfasser der Herennius-Rhetorik – zur Exemplifizierung fast immer auf Suasorien rekurriert. 359 Becks „Untersuchungen zur Theorie des Genos symbuleutikon“ aus dem Jahr 1970 beinhalten leider keine Auseinandersetzung mit der Suasorie.

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Studie stellt eine Pionierarbeit dar und bietet Anknüpfungspunkte für weiterführende Arbeiten zu allen von Turner behandelten Epochen. Turner geht aber einerseits von einem zu weiten Deklamationsbegriff aus, während er andererseits nicht alle Deklamationen berücksichtigt, die er konsequenterweise in seine Studie einbeziehen müsste. Der Deklamationsbegriff ist zu weit, da er auch auf Figurenreden in den Homerischen Epen, der Historiographie und Philosophie ausgeweitet wird.³⁶⁰ Diese Reden haben zwar häufig als Vorlage für spätere Suasorien gedient, sind aber nicht selbst als Deklamationen anzusehen, da sie keine der drei Funktionen Schul-, Hobby- oder Schaudeklamation erfüllen.³⁶¹ Die lückenhafte Erwähnung der überlieferten Deklamationen wird unter anderem daran deutlich, dass Aristides’ Suasorien nicht behandelt werden.³⁶² Überhaupt erwähnt Turner nur exemplarisch die uns überlieferten Deklamationen.³⁶³ Einen kurzen Abriss der Gattungsgeschichte der Suasorie gibt Krapinger (2009) in dem entsprechenden Artikel im Historischen Wörterbuch der Rhetorik. Mit Klek definiert Krapinger die Suasorie in der Form, dass beraten wird, ob ein Unterfangen in die Tat umgesetzt werden soll oder nicht – nicht aber, auf welche Weise es umgesetzt werden soll (letzteres behandele der λόγος συμβουλευτικός).³⁶⁴ Durch Übernahme dieser engen Definition und die weitere Zuspitzung dadurch, dass er das deliberat an-Schema zum gattungsspezifischen Merkmal der Suasorie erhebt, gelangt Krapinger zu der Schlussfolgerung, dass nur von Seneca d.Ä. „Beispiele der Praxis der Suasorie aus der Antike“ erhalten sind.³⁶⁵ Die Suasorien etwa eines Libanios werden nicht thematisiert. Andererseits ist die Abgrenzung zur These nicht scharf genug,wenn Themistios’ Überlegung, ob man Landbau betreiben soll (εἰ γεωργητέον), dem λόγος συμβουλευτικός zugeordnet wird.³⁶⁶

360 Turner (1972) 20 spricht mit Bezug auf die Figurenreden in den Homerischen Epen von „poetical declamations“. Innerhalb der Historiographie bezieht sich Turner (ib.) 25 f. v. a. auf die Figurenreden bei Herodot. Auf die Philosophie verweist Turner (ib.) 61– 63, indem er die Figurenreden aus Platons Symposion als Deklamationen ansieht. 361 Zu diesen drei Funktionen s. unser Kapitel „Die Suasorie“, S. 3. 362 In dem Kapitel „Declamation during the Second Sophistic“ (S. 249 – 298) wäre die Vorstellung von Aristides’ Suasorien zu erwarten gewesen. 363 Civiletti hat sich 2002 in einem Aufsatz mit dem Titel „Melete: analisi semantica e definizione di un genere“ auch mit Gattungsfragen, die die Deklamation betreffen, auseinandergesetzt. Diese beschränken sich aber auf die Berührung der Deklamation mit dem γένος ἐπιδεικτικόν. 364 Vgl. Krapinger (2009) 246; Klek (1919) 157– 162. 365 Krapinger (2009) 248. 366 Vgl. Krapinger (2009) 249. Eigentlich müsste diese Überlegung als These angesehen werden. Wenn das entscheidende Gattungsmerkmal der Suasorie die Frage ist, ob ein Unterfangen in die

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Unser Anliegen ist es, ausgehend von der Definition der Suasorie, die wir formuliert haben,³⁶⁷ eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, indem wir diejenigen Suasorien aufzählen und kurz vorstellen, die uns aus der Antike überliefert sind. Mit Ausnahme der Suasorien des älteren Seneca sind – abgesehen von Zweifelsfällen – nur griechische Suasorien erhalten. Viele von diesen stammen aus der Zweiten Sophistik.³⁶⁸

8.2 Überblick Seneca d.Ä. Die ersten sicheren Suasorien, die uns aus der Antike überliefert wurden,³⁶⁹ sind die sieben des älteren Seneca (ca. 50 v.Chr. – ca. 40 n.Chr.),³⁷⁰ obwohl Deklamationen wahrscheinlich seit dem Hellenismus Bestandteil des Schulunterrichts waren.³⁷¹ Die Deklamationen des älteren Seneca sind insofern untypisch, als Seneca d.Ä. zum einen keine vollständigen Deklamationen, sondern Exzerpte überliefert und zum anderen nur der Kompilator der Exzerpte ist: die Exzerpte entstammen den Übungsreden, die die Deklamatoren seiner Zeit gehalten haben.³⁷² Die sieben Suasorien haben folgende Themen:³⁷³

Tat umgesetzt werden soll oder nicht, müsste Themistios’ Überlegung als Suasorie angesehen werden. 367 S. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 1– 7, v. a. 1– 3: Bei der Suasorie handelt es sich um eine fiktionale Hypothese im genus deliberativum. 368 Zur griechischen Deklamation insgesamt vgl. Russell (1983); zur griechischen Deklamation in der zweiten Sophistik vgl. Korenjak (2000); Gascó (1992); Kennedy (1974). 369 Auf zwei mögliche Suasorien, die fragmentarisch auf Papyri überliefert sind, machen Grenfell / Hunt (1906) 55 – 61 und (1899) 33 f. aufmerksam (vgl. Krapinger [2009] 248). Im ersten Fall (der Papyrus stammt aus der Zeit zwischen 280 und 240 v.Chr.) versucht ein Athener, seine Mitbürger von einer entschlossenen Politik zum Zweck der Freiheit zu überzeugen. Grenfell / Hunt (1906) 55 äußern die Meinung, dass es sich hierbei um eine Deklamation handelt, in der die Situation nach Alexanders Tod nachgespielt wird, da von einem Wandel die Rede ist. Dies scheint uns aber nur eine Spekulation zu sein, da das Fragment keine Entscheidung zulässt, ob es sich um eine Deklamation oder eine wirkliche Rede handelt, und die Situation äußerst unklar bleibt. Im zweiten Fall (der Papyrus stammt aus der ersten Hälfte des ersten Jh.s n.Chr.) reagiert ein athenischer Redner auf einen Brief, den er als Aufforderung zur Unterwerfung ansieht und als Affront zurückweist. Auch in diesem Fall kann man nur spekulieren, ob der Brief von Philipp stammt und die Rede eine Deklamation ist (vgl. Grenfell / Hunt [1899] 33). 370 Zur Biographie des älteren Seneca vgl. Griffin (1972), v. a. S. 4. 371 S. das Kapitel „Die Geschichte der Deklamation“, S. 11 f. 372 Teilweise vergleichbar sind nur Himerios’ Deklamationen (s. S. 87 f.). 373 Nähere Informationen zu den Themen geben wir im Kommentar zu den jeweiligen Suasorien.

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suas. 1: Deliberat Alexander, an Oceanum naviget. („Alexander überlegt, ob er den Ozean durchsegeln soll.“) suas. 2:Trecenti Lacones contra Xersen missi, cum treceni ex omni Graecia missi fugissent, deliberant, an et ipsi fugiant. („Nachdem die Abteilungen von je dreihundert Mann aus ganz Griechenland geflohen sind, beraten die gegen Xerxes entsandten dreihundert Spartaner, ob auch sie fliehen sollen.“) suas. 3: Deliberat Agamemnon, an Iphigeniam immolet negante Calchante aliter navigari posse. („Agamemnon überlegt, ob er Iphigenie opfern soll, wobei Kalchas sagt, dass man sonst nicht segeln könne.“) suas. 4: Deliberat Alexander Magnus, an Babylona intret, cum denuntiatum esset illi responso auguris periculum. („Alexander der Große überlegt, ob er Babylon betreten soll, obwohl ihm nach der Warnung eines Sehers dort Gefahr droht.“) suas. 5: Deliberant Athenienses, an tropaea Persica tollant Xerse minante rediturum se, nisi tollerentur. („Die Athener überlegen, ob sie die Siegestrophäen, die sie nach den Siegen über die Perser aufgestellt haben, wegschaffen sollen, da Xerxes mit Rückkehr droht, wenn diese nicht weggeschafft werden.“) suas. 6: Deliberat Cicero, an Antonium deprecetur. („Cicero überlegt, ob er Antonius um Gnade bitten soll.“) suas. 7: Deliberat Cicero, an scripta sua comburat promittente Antonio incolumitatem, si fecisset. („Cicero überlegt, ob er seine Schriften verbrennen soll, da ihm Antonius sein Leben zusichert, wenn er dies tut.“) Wie bei einigen späteren griechischen Suasoriensammlungen (z. B. derjenigen des Aristides) lassen sich auch die Themen in der Sammlung des älteren Seneca durch ihre Herkunft aus Geschichte bzw. Mythos gruppieren: Zwei Suasorien kreisen um Alexander den Großen (suas. 1 und 4), zwei Themen entstammen den Perserkriegen (suas. 2 und 5), ein Thema dem Mythos (suas. 3), und die letzten beiden Suasorien spielen auf dieselbe historische Konstellation zwischen Cicero und Antonius an (suas. 6 und 7). Das Übergewicht an griechischen Themen (suas. 1– 5) erklärt sich dadurch, dass Seneca d.Ä. in diesen Suasorien v. a. einen Rhetor (Arellius Fuscus) zitiert, der eine Vorliebe für griechische Themen hatte.³⁷⁴ Von der Funktion her handelt es sich bei den Deklamationen, aus denen Seneca d.Ä. exzerpiert hat, sowohl um Schul- als auch um Schaudeklamationen. Im Einzelnen lässt sich eine Trennung zwischen diesen beiden Funktionen bei den Exzerpten, die uns vorliegen, nicht durchführen. Möglicherweise zitiert Seneca

374 Vgl. suas. 4,5 mit dem Kommentar zur Stelle.

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d.Ä. an einer Stelle sogar aus einem Progymnasma, das dem Schulbetrieb entstammt.³⁷⁵

Herodes Atticus Von Herodes Atticus (ca. 101– 177 n.Chr.) ist nur eine Suasorie erhalten, die gleichzeitig dessen einzige Deklamation ist, die auf uns gekommen ist: Περὶ πολιτείας („Über die Verfassung“). Nachdem Archelaos von Makedonien eine Oligarchie in Larisa (Thessalien) errichtet hat (um 400 v.Chr.), regen die Spartaner an, dass sich die Larisäer dem hellenischen Bund anschließen und sich am Kampf gegen Archelaos beteiligen. Herodes Atticus rät in der Rolle eines Larisäers zu der Annahme des Vorschlags.³⁷⁶

Aristides Einen Teil des literarischen Werks des Aelius Aristides (117 – ca. 187 n.Chr.) nehmen dessen Deklamationen ein. Bei den Deklamationen handelt es sich um 12 Suasorien, die – mit einer Ausnahme – historische Themen behandeln; Kontroversien sind uns in Aristides’ Werk nicht überliefert.³⁷⁷ Die 12 Suasorien sind durch ihre Themen teilweise miteinander verknüpft.³⁷⁸ Dies gilt für die ersten beiden Deklamationen insofern, als sie in derselben politischen Streitfrage die einander entgegengesetzten Handlungsoptionen empfehlen:³⁷⁹ or. 5: περὶ τοῦ πέμπειν βοήθειαν τοῖς ἐν Σικελίᾳ („Über die Frage, ob den Leuten auf Sizilien Hilfe geschickt werden soll“). In dieser und der nächsten Suasorie wird diejenige Situation aus dem Jahr 413 v.Chr. nachgespielt, in der die Athener darüber beraten, ob sie ihre Kontingente aufstocken, um Sizilien zu er-

375 Vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle. 376 Zu dieser Deklamation vgl. die Ausgabe von Albini (1968); Tobin (1997) 48 f.; Hass (1880). 377 Zu den nicht überlieferten Deklamationen vgl. Milazzo (1983); Boulanger (1923) 157– 159. 378 Hilfreiche Hinweise zu den Themen der Deklamationen finden sich in der englischen Übersetzung von Behr (1986). Wir folgen ihr auch in der Nummerierung der Reden. Der griechische Text findet sich in den Bänden 1 und 2 bei Dindorf (1829). Zu Aristides vgl. die Monographie von Wilamowitz-Moellendorff (1925). 379 Das Phänomen, dass Deklamatoren sowohl das Pro als auch das Contra in einer Debatte vertreten, begegnet nicht nur in Aristides’ Sammlung häufiger (s.u.), sondern kann geradezu als typisch für Deklamationen bezeichnet werden, wie v. a. aus den Kontroversien des älteren Seneca hervorgeht. Mit Blick auf die Suasorien vgl. die ersten beiden Suasorien des Chorikios (s. S. 88 f.). und Sen. suas. 2,9 mit dem Kommentar zur Stelle.

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obern, oder ob sie den Plan fallen lassen sollen. In dieser Suasorie spricht sich Aristides in der Rolle eines Atheners für die Entsendung von Hilfstruppen aus.³⁸⁰ or. 6: εἰς τὸ ἐναντίον („Dagegen“). Aristides rät in der Rolle eines Atheners davon ab, Hilfstruppen nach Sizilien zu schicken. Die nächsten beiden Suasorien greifen Ereignisse aus dem Peloponnesischen Krieg auf: or. 7: ὑπὲρ τῆς πρὸς Λακεδαιμονίους εἰρήνης („Für den Frieden mit den Spartanern“). Im Jahr 425 v.Chr. verhandeln die Athener mit den Spartanern über einen Friedensvertrag unter der Voraussetzung, dass die Athener eine spartanische Garnison freilassen, die sie auf der Insel Sphakteria gefangen genommen hatten. Aristides befürwortet in dieser Deklamation die Schließung eines Friedensvertrages.³⁸¹ or. 8: ὑπὲρ τῆς πρὸς Ἀθηναίους εἰρήνης („Für den Frieden mit den Athenern“). Aristides deklamiert aus der Sicht eines Spartaners für einen milden Friedensvertrag mit den Athenern. Die historische Situation, die Anlass zu dieser Suasorie gibt, ist Athens aussichtslose Lage kurz vor Ende des Peloponnesischen Krieges (405 v.Chr.).³⁸² Das fiktive Datum der Suasorien 5 und 6 (or. 9 und 10) ist das Jahr 338 v.Chr.: Die Athener schicken eine Gesandtschaft mit Demosthenes zu den Thebanern, um diese von einem gemeinsamen Bündnis zu überzeugen. Die Notwendigkeit eines Bündnisses ergibt sich für die Athener dadurch, dass Philipp Elatea eingenommen und Vorbereitungen getroffen hat, gegen Athen zu marschieren. Während Demosthenes’ Rede nicht erhalten ist, hat Aristides dieser fiktiven Debatte zwei Reden gewidmet, die dasselbe Ziel verfolgen, nämlich die Thebaner zu einem Bündnis zu überreden.³⁸³ or. 9: Συμμαχικὸς αʹ. Φιλίππου δίοδον αἰτοῦντος παρὰ Θηβαίων ἐπʼ Ἀθηναίους ἥκουσιν Ἀθηναῖοι ἑκόντες ἑαυτοὺς εἰς συμμαχίαν διδόντες. („Über ein Bündnis I. Als Philipp von den Thebanern ein Durchmarschrecht gegen die Athener fordert, kommen die Athener und bieten sich freiwillig [sc. den Thebanern] als Bündnispartner an“). or. 10: Συμμαχικὸς βʹ. πρὸς Θηβαίους περὶ τῆς συμμαχίας. („Über ein Bündnis II. An die Thebaner über das Bündnis“). Die fünf folgenden Deklamationen rekurrieren auf dasselbe historische Ereignis, nämlich die Schlacht bei Leuktra (371 v.Chr.), in der die Thebaner die Spartaner bezwangen. In der Folge schickten sie eine Gesandtschaft zu den 380 Zu or. 5 und 6 vgl. Thukyd. 7,10 – 16; Boulanger (1923) 275 – 279; Pernot (1981). 381 Zu or. 7 vgl. Thukyd. 4,17– 20; Boulanger (1923) 279 f. 382 Zu or. 8 vgl. Boulanger (1923) 280 f. 383 Zu or. 9 und 10 vgl. Boulanger (1923) 290 f.

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Athenern, um diese von einem gemeinschaftlichen Feldzug gegen Sparta zu überzeugen. Die Athener erteilten der thebanischen Gesandtschaft jedoch keine Antwort.³⁸⁴ Die mögliche Debatte unter den Athenern hat Aristides auf folgende Weise nachgespielt:³⁸⁵ or. 11: Λευκτρικὸς αʹ. ὑπὲρ Λακεδαιμονίων πρῶτος. („Erste Leuktrische Rede. Erste Rede für die Spartaner“). In dieser Suasorie rät Aristides in der Rolle eines Atheners, Sparta zugunsten eines Gleichgewichtes der Mächte zu unterstützen. or. 12: Λευκτρικὸς βʹ. ὑπὲρ Θηβαίων πρῶτος. („Zweite Leuktrische Rede. Erste Rede für die Thebaner“). In der zweiten Leuktrischen Suasorie rät Aristides in der Rolle eines Atheners, das Angebot der Thebaner anzunehmen und diese gegen Sparta zu unterstützen. or. 13: Λευκτρικὸς γʹ. ὑπὲρ Λακεδαιμονίων δεύτερος. („Dritte Leuktrische Rede. Zweite Rede für die Spartaner“). Aristides verfolgt dasselbe Ziel wie in der ersten Leuktrischen Suasorie. or. 14: Λευκτρικὸς δʹ. ὑπὲρ Θηβαίων δεύτερος. („Vierte Leuktrische Rede. Zweite Rede für die Thebaner“). Aristides verfolgt dasselbe Ziel wie in der zweiten Leuktrischen Suasorie. or. 15: Λευκτρικὸς εʹ. ὑπὲρ τοῦ μηδετέροις βοηθεῖν. („Fünfte Leuktrische Rede. Für Neutralität“). In der abschließenden Suasorie spricht sich Aristides dafür aus, Neutralität zu wahren, d. h. weder den Thebanern noch den Spartanern zu helfen. Die einzige Suasorie aus Aristides’ Werk, in der keine historische Situation nachgespielt wird, ist die zwölfte: or. 16: πρεσβευτικὸς πρὸς Ἀχιλλέα („Die Rede der Gesandtschaft zu Achill“). Das literarische Vorbild für diese Deklamation ist die Episode aus dem neunten Buch der Ilias (Il. 9,225 – 655), in der geschildert wird, wie die Gesandtschaft, zu der Odysseus, Phoinix und Ajas gehören, den erfolglosen Versuch unternimmt, Achill zur Rückkehr in den Kampf zu bewegen. Diese mythologische Situation stellte einen beliebten Anknüpfungspunkt für Suasorien dar, da neben Aristides auch Libanios eine Deklamation verfasst hat, die diese Beratschlagung aufgreift und in der Achill Odysseus erwidert, dass er nicht beabsichtigt, in den Kampf einzutreten.³⁸⁶ Chorikios personifiziert in einer Suasorie Patroklos und versucht, Achill zum Wiedereintritt in den Kampf zu überreden, nachdem die Gesandtschaft keinen Erfolg hatte.³⁸⁷ Aufgrund der Tatsache, dass in Libanios’ fünfter Deklamation Achill Odysseus antwortet, wurde angenommen, dass Libanios’ Suasorie

384 385 386 387

Vgl. Xen. Hell. 6,4,19 f.; Behr (1986) 491. Vgl. Boulanger (1923) 281– 290. Libanios, decl. 5 (s. S. 85). Chorikios, decl. 10 (s. S. 90).

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eine Antwortdeklamation auf diejenige von Aristides ist³⁸⁸ und (zumindest Libanios zufolge) Odysseus der Sprecher dieser Suasorie ist. Diese Meinung hat Behr zu Recht problematisiert,³⁸⁹ da sich aus Libanios’ Suasorie kein direkter Bezug auf diejenige von Aristides ergibt und an keiner Stelle von Aristides’ Deklamation deutlich wird, welcher der drei Gesandten der Sprecher ist bzw. ob einer der drei Gesandten der Sprecher ist.³⁹⁰ Anhand der Unsicherheit bei der Frage nach dem Sprecher in or. 16 wird ein Merkmal deutlich, das als Charakteristikum von Aristides’ Suasorien gelten darf: In keiner Deklamation personifiziert Aristides eine bestimmte Person aus Mythos oder Geschichte, sondern es spricht immer eine unbestimmte Person, zumeist irgendein Athener. Eine Verknüpfung von Prosopopoiie und Suasorie liegt bei ihm nirgends vor. Da Aristides auch unterrichtete,³⁹¹ wurden seine Deklamationen möglicherweise im Unterricht eingesetzt. Ihre ausgearbeitete Gestalt legt jedoch nahe, dass sie hauptsächlich als Schaudeklamationen anzusehen sind, die auch in schriftlicher Form zum literarischen Ruhm des Autors beitragen sollten.³⁹²

Lukian Lukian (ca. 115 – 190 n.Chr.) hat zwei Suasorien hinterlassen,³⁹³ die in derselben Situation spielen: Der berüchtigte Tyrann Phalaris, der in Akragas seine Opfer in einem Bronzestier verbrennen ließ, lässt diesen Stier den Einwohnern von Delphi überbringen, damit sie ihn Apoll weihen. Φάλαρις αʹ: Phalaris’ Gesandte verlesen einen von ihm verfassten Brief, in dem dieser die Einwohner von Delphi darum bittet, den ehernen Stier als Weihgeschenk anzunehmen. Φάλαρις βʹ: Ein Einwohner aus Delphi rät seinen Mitbürgern, das Geschenk anzunehmen. Wie bei anderen Verfassern von Deklamationen lässt sich auch bei Lukian die Technik erkennen, mehrere Deklamationen in derselben Situation spielen zu lassen. Insofern in den Suasorien dasselbe Ziel in einer anderen Rolle verfolgt

388 Vgl. Schouler (1984) I 27. 389 Vgl. Behr (1986) 499. 390 Anders Kindstrand (1973) 215 – 219, dem zufolge Odysseus wiederum spricht, nachdem er dies bereits einleitend getan hat (Il. 9,225 – 306) und Achill ihm geantwortet hat (ib. 308 – 429). Zu der Suasorie vgl. auch Boulanger (1923) 273 – 275. 391 Vgl. Philostr. soph. 605; Russell (1983) 74. 392 Zur Schaudeklamation in der Zweiten Sophistik vgl. Russell (1983) 75 – 86. 393 Der Text findet sich in Band 1 bei Macleod (1972). Zu den beiden Suasorien vgl. Keil (1913).

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wird, sind v. a. die ersten beiden Suasorien des Libanios vergleichbar.³⁹⁴ An der ersten Phalarisdeklamation fällt auf, dass in ihr die Briefform dominiert. Insofern erinnert sie an Ovids Heroides. ³⁹⁵

Lesbonax Bei der ersten der drei Reden, die von Lesbonax (2. Jh. n.Chr.) überliefert sind, handelt es sich um eine Suasorie: Πολιτικός: Lesbonax rät in der Rolle eines Atheners zu einem Rachefeldzug gegen Theben. Vermutlich spielt diese Suasorie bald nach der Eroberung von Plataiai durch die Thebaner (373 v.Chr.).³⁹⁶

Libanios Die ergiebigste Quelle für die Untersuchung der antiken Deklamation stellt die Sammlung des Redelehrers Libanios (314– 393 n.Chr.) dar.³⁹⁷ Zu der Deklamationssammlung gehören acht Suasorien, von denen sich die ersten sieben in einen mythologischen und einen historischen Block gliedern.³⁹⁸ Zur ersten Gruppe gehören folgende drei Suasorien, die vor dem Hintergrund des Trojanischen Sagenkreises spielen:³⁹⁹ decl. 3: πρεσβευτικὸς πρὸς τοὺς Τρῶας ὑπὲρ τῆς Ἑλένης. Μενέλεως („Gesandtschaftsrede an die Trojaner über Helena. Menelaos“). Nachdem Helena von Paris entführt worden ist und bevor der Trojanische Krieg ausbricht, schicken die Griechen eine Gesandtschaft nach Troja, um die Trojaner dazu zu überreden, Helena freizugeben. In dieser Suasorie personifiziert Libanios Menelaos und fordert die Trojaner auf, Helena auszuliefern.

394 Vgl. Libanios, decl. 3 und 4 (s. S. 84 f.). 395 S. den Exkurs zu Ovids Heroides am Ende dieses Kapitels. 396 Vgl. die Ausgabe von Kiehr (1907); Kohl (1915) 53 f. 397 Für einen vollständigen Überblick über Libanios’ Deklamationen vgl. die Übersicht von Schouler (1984) I 28 – 34 sowie diejenige von Förster und Münscher (RE XII 2, s.v. Libanios, Sp. 2485 – 2551, hier 2509 – 2518). Die Identifizierung der Suasorien deckt sich nicht immer mit unseren Ergebnissen. So werden z. B. die Deklamationen 3 – 5 von Schouler (1984) I 28 dem „genre épidictique“ zugeordnet. Förster und Münscher unterscheiden die Deklamationen nach „mythologisch-historischen“ und „ethologischen“. Libanios’ Deklamationen finden sich in den Bänden 5, 6 und 7 bei Förster (1909/1911/1913). Zur Schule des Libanios vgl. Cribiore (2007). 398 Zu Libanios’ historischen Deklamationen vgl. Johansson (2011). 399 Zu decl. 3 und 4 vgl. Penella (2011).

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In der zweiten Suasorie verfolgt Libanios dasselbe Ziel in einer anderen Rolle:⁴⁰⁰ decl. 4: πρεσβευτικὸς πρὸς τοὺς Τρῶας ὑπὲρ τῆς Ἑλένης. Ὀδυσσεύς („Gesandtschaftsrede an die Trojaner über Helena. Odysseus“). Nun fordert Libanios in Odysseus’ Rolle die Trojaner auf, Helena auszuliefern. decl. 5: πρὸς τὸν Ὀδυσσέως ἐν Λιταῖς πρεσβευτικὸν ἀντιλογία Ἀχιλλέως („Achills Entgegnung auf Odysseus’ Gesandtschaftsrede im neunten Buch der Ilias“). In Anlehnung an die Gesandtschaft aus dem neunten Buch der Ilias hält Libanios eine Deklamation, in der er in Achills Person Odysseus’ Rede erwidert, mit der jener – wie Phoinix und Ajas – versucht hat, Achill dazu zu überreden, wieder in den Kampf einzutreten. Die Situation ist daher dieselbe wie in Aristides’ 12. Suasorie, in der Achill zum Wiedereintritt in den Kampf aufgefordert wird. Trotzdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei Libanios’ fünfter Deklamation um eine Antwortdeklamation in dem Sinne handelt, dass Libanios Odysseus als Sprecher von Aristides’ 12. Suasorie ansieht und diesem antwortet.⁴⁰¹ Die folgenden vier Suasorien bilden insofern eine Einheit, als sie thematisch durch die Auseinandersetzungen zwischen Demosthenes und Philipp von Makedonien verbunden sind. Vor diesem Hintergrund spielen auch drei Kontroversien (decl. 17, 18 und 23), so dass insgesamt sieben Deklamationen einen Redezyklus bilden. Das Phänomen, ein historisches Ereignis bzw. eine historische Ereigniskette in mehreren Suasorien zu behandeln, begegnet auch bei Aristides, der fünf Suasorien zu einem Themenkomplex verfasst hat.⁴⁰² Abgesehen von der Tatsache, dass Demosthenes und Philipp von Makedonien politische Gegner waren, und der wiederholten Anspielung auf die Schlacht bei Chaironeia (338 v.Chr.) sind die vier folgenden Suasorien fiktiv, da es die Situationen, die in ihnen vorgegeben werden, nie gegeben hat. decl. 19: μετὰ τὰ ἐν Χαιρωνείᾳ Φίλιππος ἐξῄτησε Δημοσθένην. ὁ δῆμος ᾔτησε πέντε ἡμέρας εἰς σκέψιν. ἐν ταύταις ὁ Δημοσθένης ἀποθνήσκειν ἀξιοῖ. („Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen in Chaironeia forderte Philipp Demosthenes’ Auslieferung. Das Volk forderte fünf Tage zur Prüfung. In diesen fünf Tagen bittet Demosthenes darum, zu sterben.“) Die folgende Suasorie, die zu demselben Redezyklus gehört, ist insofern eine Dublette, als dieselbe Person dasselbe Redeziel verfolgt.

400 Vgl. – neben Lukian – die ersten beiden Suasorien des Aristides (s. S. 80 f.), in denen dieser in derselben Rolle die einander entgegengesetzten Alternativen empfiehlt, und die ersten beiden Suasorien des Chorikios (s. S. 88 f.), in denen jener in zwei verschiedenen Rollen die einander entgegengesetzten Alternativen empfiehlt; Penella (2011) 93 f. 401 S. S. 82 f. zu Aristides’ 12. Suasorie (or. 16). 402 Aristides hat fünf Leuktrische Suasorien verfasst (or. 11– 15; s. S. 81 f.).

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decl. 20: μετὰ τὰ ἐν Χαιρωνείᾳ Φίλιππος ἐξῄτησε Δημοσθένην. ὁ δῆμος ᾔτησε πέντε ἡμέρας εἰς διάσκεψιν. ἐν ταύταις ὁ Δημοσθένης ἀποθανεῖν ἀξιοῖ. („Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen in Chaironeia forderte Philipp Demosthenes’ Auslieferung. Das Volk forderte fünf Tage zur Überprüfung. In diesen fünf Tagen bittet Demosthenes darum, zu sterben.“) Nur in διάσκεψιν statt σκέψιν und in ἀποθανεῖν statt ἀποθνήσκειν unterscheidet sich der Wortlaut dieses Themas von demjenigen der vorigen Suasorie. Die Deklamation gilt als unecht. decl. 21: μετὰ τὰ ἐν Χαιρωνείᾳ ἔπεμψε Φίλιππος ὑπισχνούμενος τοὺς δισχιλίους αἰχμαλώτους ἀποδώσειν, εἰ λάβοι Δημοσθένην. ἀξιοῖ Δημοσθένης ἐκδίδοσθαι. („Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen in Chaironeia schickte Philipp Gesandte aus mit dem Versprechen, die zweitausend Kriegsgefangenen herauszugeben, wenn er Demosthenes gefangen nehmen sollte. Demosthenes fordert, ausgeliefert zu werden.“) Der fiktive Charakter dieser Suasorie kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass Philipp in Wirklichkeit die zweitausend Kriegsgefangenen ohne Lösegeld freiließ.⁴⁰³ decl. 22: ἐξῄτησεν ὁ Φίλιππος τὸν Δημοσθένην. κατέφυγεν ἐπὶ τὸν Ἐλέου βωμὸν ὁ Δημοσθένης. ἀποσπασθεὶς ἐξεδόθη. καὶ ἀφεθεὶς ὑπὸ τοῦ Φιλίππου γράφει παρʼ Ἀθηναίοις ἀνελεῖν τὸν βωμόν. Δημοσθένης („Philipp forderte Demosthenes’ Auslieferung. Demosthenes floh zu dem Altar des Mitleids. Nachdem er mit Gewalt entfernt worden war, wurde er ausgeliefert. Und nachdem er von Philipp freigelassen worden ist, beantragt er bei den Athenern die Entfernung des Altars. Demosthenes“).⁴⁰⁴ Die achte Suasorie hat keinen realen Hintergrund, sondern ist ein Konstrukt: decl. 41: Λοιμὸς ἐπεῖχε τὴν πόλιν. ἔχρησεν ὁ θεὸς παύσασθαι τὸν λοιμόν, εἰ ὁ δῆμος ἑνός του τῶν πολιτῶν παῖδα θύσειεν. ἔλαχεν ὁ τοῦ μάγου. ὑπισχνεῖται παύσειν τὸν λοιμόν, εἰ ἀπόσχοιντο τοῦ παιδός. βουλεύονται. („Eine Seuche suchte die Stadt heim. Der Gott verkündete, dass die Seuche aufhören würde, wenn das Volk ein Kind eines Mitbürgers opfern würde. Das Los traf das Kind des Magiers. Dieser verspricht die Seuche zu beenden, wenn sie sein Kind verschonen würden. Sie beraten.“) Aus der Sicht eines Bürgers empfiehlt Libanios, nicht auf das Versprechen des Magiers einzugehen. Da Libanios der bedeutendste Rhetor seiner Zeit war, erfüllten seine Deklamationen zum Teil sicherlich den Zweck, im Unterricht als Muster zu dienen. Diese didaktische Funktion seiner Deklamationen wird auch aus den προθεωρίαι ersichtlich, die einigen Deklamationen vorangehen und in denen er Hinweise zum

403 Vgl. Diod. 16,87,3; Völker (2003) 40. 404 Nähere Informationen zu diesem Thema und eine Übersetzung gibt Russell (1996) 93.

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Halten der Deklamation gibt.⁴⁰⁵ Zusätzlich wird man davon ausgehen können, dass die Deklamationen – wie diejenigen des Aristides – bei öffentlichen Anlässen als Schaudeklamationen vorgetragen wurden und auch niedergeschrieben dem literarischen Ruhm des Verfassers dienen sollten.

Himerios Aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert stammen neben Libanios’ Deklamationen auch diejenigen des Himerios (ca. 320 – 383 n.Chr.).⁴⁰⁶ Himerios’ Deklamationen sind uns leider nicht vollständig überliefert, sondern nur in Auszügen in der Bibliothek des Patriarchen Photios (9. Jh. n.Chr.) erhalten. Photios hat die in seinen Augen interessantesten Äußerungen exzerpiert, ohne sie zu kommentieren oder den Aufbau von Himerios’ Deklamationen anzugeben. Unter Himerios’ Deklamationen befinden sich folgende drei Suasorien (auch die Titel stammen von Photios): or. 1: ἐκ τοῦ ὑπὲρ Δημοσθένους Ὑπερίδου („Aus Hyperides’ [sc. Rede] für Demosthenes“). Aus den Exzerpten wird deutlich, dass die Situation ähnlich ist wie in den Deklamationen 19 – 23 bei Libanios: Dort wird fingiert, dass Philipp nach der Schlacht bei Chaironeia (338 v.Chr.) Demosthenes’ Auslieferung fordert. Bei Himerios scheint die Situation derart zugespitzt zu sein, dass die Beseitigung von Demosthenes und allen antimakedonischen Kräften gefordert wird. Insofern sich Hyperides für Demosthenes einsetzt, ist Libanios’ decl. 18 zu vergleichen. or. 2: ἐκ τῆς μελέτης, ᾗ Δημοσθένην εἰσάγει συμβουλεύοντα κατάγειν Αἰσχίνην, φήμης ῥυείσης ὅτι Ἀλέξανδρος τοὺς φυγάδας κατάξει. („Aus der Deklamation, durch die er [sc. Himerios] Demosthenes den Rat erteilen lässt, Aeschines aus dem Exil zurückzuholen, nachdem das Gerücht aufgekommen war, dass Alexander die Verbannten zurückkehren lassen würde.“) Die fiktive Situation rekurriert auf ein Ereignis aus dem Jahr 324 v.Chr.: In diesem Jahr ließ Alexander der Große bei den Olympischen Spielen verkünden, dass alle Verbannten mit Ausnahme der Tempelschänder und Mörder in ihre Heimatstädte zurückkehren dürften. Demosthenes setzt sich in dieser Suasorie für seinen Erzfeind Aischines ein, der seit der Niederlage im Prozess gegen Ktesiphon (330 v.Chr.) im Exil lebte.⁴⁰⁷ or. 5: ἐκ τῆς ἐπιγραφομένης μελέτης· μετὰ τὰ Μηδικὰ ἐψηφίσαντο πρὸς τοὺς βαρβάρους Ἀθηναῖοι πόλεμον· πυθόμενος ὁ βασιλεὺς ὑπέσχετο τὰ λελυμασμένα 405 Lib. decl. 3; 6; 12; 24; 25; 46. Vgl. Himerios und Chorikios weiter unten. 406 Vgl. die Ausgabe von Colonna (1951) und die Übersetzungen und Anmerkungen von Völker (2003) 80 – 138 und Penella (2007) 156 – 206. 407 Vgl. Völker (2003) 85 Fußn. 1, 2 und 5; Penella (2007) 158.

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Einleitung

ἐπανορθώσασθαι, εἰ τὸν πόλεμον καταλύσειαν· βουλομένων αὐτῶν Θεμιστοκλῆς ἀντιλέγει. („Aus der Deklamation mit folgender Überschrift: ‘Nach den Perserkriegen beschlossen die Athener einen Krieg gegen die Barbaren. Nachdem der Großkönig dies erfahren hatte, versprach er, die angerichteten Schäden wiedergutzumachen, wenn sie den Krieg beenden sollten. Während die Athener diesen Vorschlag akzeptieren wollen, widerspricht Themistokles.’“) Das Thema dieser Suasorie ist insofern fiktiv, als es sich um eine anachronistische Zusammenstellung von historischen Einzelereignissen handelt. Denn der Krieg, den die Athener der Deklamation zufolge nach den Schlachten von Plataiai und Mykale (479 v.Chr.) beschlossen haben, lässt an die Kriegshandlungen denken, die ab 470 v.Chr. unter Kimon gegen die Perser aufgenommen wurden.⁴⁰⁸ Das Motiv der Wiedergutmachung hingegen erinnert an Mardonios’ Versprechungen noch während der Perserkriege mit dem Ziel, die Athener zum Frieden zu bewegen.⁴⁰⁹ Von der Funktion her handelt es sich bei Himerios’ Deklamationen um Stücke, die im Unterricht als Muster für die Schüler und vor einem Publikum als werbewirksame Schaureden eingesetzt werden konnten. Ihr didaktischer Nutzen lässt sich auch daran erkennen, dass der ersten Deklamation eine sog. θεωρία vorangeht, in der einleitende Bemerkungen zum Halten der Deklamation gemacht werden. Ähnliche Anweisungen sind uns aus den kleineren quintilianischen, aus Libanios’ und Chorikios’ Deklamationen bekannt; dort werden sie unter demselben Begriff (Chorikios) bzw. unter dem Begriff sermo bzw. προθεωρία (Libanios) zusammengefasst.⁴¹⁰

Chorikios Die letzten aus der Spätantike erhaltenen Suasorien sind diejenigen, die Chorikios (1. Hälfte 6. Jh. n.Chr.) verfasst hat. Es handelt sich hierbei um vier vollständige Stücke, die zusammen mit acht Kontroversien einen Teil von Chorikios’ Werk bilden.⁴¹¹ Die beiden ersten Suasorien sind wie bei Aristides und Libanios thematisch miteinander verknüpft: decl. 1: μετὰ τὴν Ἕκτορος τελευτὴν ἐρασθεὶς Ἀχιλλεὺς τῆς Πολυξένης πρεσβεύεται πρὸς τοὺς Τρῶας μισθὸν ἐπαγγελλόμενος τοῦ γάμου τὴν συμμαχίαν. βουλευομένων τῶν Τρώων παραινεῖ δέχεσθαι Πολυδάμας ἀντιλέγοντος Πριάμου.

408 Vgl. Plut. Kimon 12– 14; vgl. auch das Thema der fünften Suasorie des älteren Seneca mit dem Kommentar zur Stelle. 409 Vgl. Herodot 8,136 – 140; Völker (2003) 110 Fußn. 1; Penella (2007) 160. 410 Zu Libanios s. S. 86 f.; zu Chorikios s. S. 90 f. 411 Vgl. die Ausgabe von Förster und Richtsteig (1929) und die Übersetzung von Penella [et al.] (2009); Schouler (2005); Webb (2006).

8 Überblick über die erhaltenen antiken Suasorien

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μελετῶμεν τὸν Πολυδάμαντα. („Nach Hektors Tod schickt Achill, der sich in Polyxena verliebt hat, eine Gesandtschaft zu den Trojanern, wobei er ein Bündnis in Aussicht stellt als Gegenleistung für eine Heirat mit ihr. Während die Trojaner beraten, empfiehlt Polydamas, das Angebot anzunehmen, wohingegen Priamos widerspricht. Wir halten die Deklamation in Polydamas’ Rolle.“) Weder aus der ersten noch aus der zweiten Suasorie geht hervor, wann sich Achill in Polyxena, die Tochter des Priamos und Schwester des Hektor, verliebt hat. Anders als in anderen Versionen des Mythos erwidert Polyxena Achilles’ Liebe nicht.⁴¹² Die zweite Suasorie ist eine Erwiderung auf die erste in der Rolle einer anderen Person: decl. 2: μελετῶμεν τὸν Πρίαμον. τὸ προοίμιον αὐτῷ τῆς θεωρίας εἴρηται τῶν ἀκροατῶν ἐν τοῖς ἐπιλόγοις τοῦ προλαβόντος λόγου αἰτησάντων εἰς τὸ ἐναντίον εἰπεῖν καὶ βοησάντων ὁ γέρων βίαν μὴ πάθῃ. („Wir halten die Deklamation in Priamos’ Rolle. Die einleitenden erklärenden Bemerkungen hat er gesprochen, nachdem die Zuhörer am Ende der vorangehenden Rede gefordert hatten, für die Gegenseite einzutreten, und ausgerufen hatten ‘Der alte Mann soll nicht gezwungen werden’.“) Dieser Suasorie geht eine Themenangabe voran, die von den anderen abweicht, da das Thema dasselbe ist wie bei der ersten Suasorie. Anstelle der üblichen Schilderung der Situation erfahren wir, dass die Zuhörer eine Gegenrede zu der ersten Suasorie gefordert haben. Letztlich besteht die Funktion dieser Angabe in der Überleitung zur θεωρία, in der der Sprecher die Strategie seiner Rede darlegt.⁴¹³ decl. 3: Κῦρος ὁ Περσῶν βασιλεύς αἰχμάλωτον εἷλε τὸν Λυδῶν ἄρχοντα Κροῖσον. νεωτερίζειν τι τοὺς Λυδοὺς περὶ τὴν βασιλείαν αἰσθανόμενος ἐκέλευσε γυμνωθέντας τῶν ὅπλων ἐσθῆτι γυναικείᾳ χρωμένους ᾄδειν τε καὶ κιθαρίζειν καὶ τοὺς παῖδας διδάσκειν τὰ παραπλήσια, συστέλλειν ἐντεῦθεν αὐτοῖς τὸ φρόνημα μηχανώμενος. κινουμένης αὐτῷ μετὰ ταῦτα τῆς ἐπὶ Μασσαγέτας ἐφόδου Λυδοὺς μεταπέμπεται καὶ τὴν προτέραν αὐτοῖς ἀποδιδόντι σκευὴν ἀντιλέγουσι. μελετῶμεν τοὺς Λυδούς. („Der Perserkönig Kyros nahm Kroisos, den Anführer der Lyder, gefangen. Als er merkte, dass die Lyder revoltieren, um ihr Königreich zurückzuerlangen, befahl er ihnen, die Waffen abzulegen, Frauenkleidung zu tragen, zu singen und Kithara zu spielen und ihren Kindern derartige Sachen beizubringen. Dies heckte er aus, um sie in ihrem Stolz zu verletzen. Als er danach den Feldzug gegen die Massageten unternimmt, lässt er die Lyder hinzuziehen, aber sie widersprechen, obwohl er bereit ist, ihnen ihre frühere Ausrüstung zu-

412 Vgl. decl. 1,87; 2,87; Penella (2009) 16 f.; Webb (2006) 110. Zu decl. 1 und 2 vgl. auch Schouler (2005) 123 – 125. 413 Zur θεωρία s. S. 90 f.

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rückzugeben. Wir halten die Deklamation in der Rolle der Lyder.“) Das Thema dieser Suasorie ist durch Herodot inspiriert, der berichtet, dass der gefangene Kroisos Kyros den entsprechenden Ratschlag gegeben hat, um eine schlimmere Bestrafung seines Volkes zu verhindern.⁴¹⁴ Allerdings ist nicht überliefert, dass Kyros bei seinem Zug gegen die Massageten die Lyder als Verbündete gewinnen wollte.⁴¹⁵ decl. 10: ἀφαιρεθεὶς Ἀχιλλεὺς τῆς Βρισηίδος ἐπὶ τῆς οἰκείας διῆγε σκηνῆς ὠργισμένος. πρεσβεύεται πρὸς αὐτὸν Ἀγαμέμνων μετὰ πλείστων τὴν κόρην ἀποδιδοὺς δωρεῶν. καὶ γέγονεν ἄπρακτος αὐτῷ ἡ πρεσβεία καὶ Βρισηίδι καὶ δώροις. χρόνος ἐν μέσῳ βραχὺς καὶ προσθήκη ταῖς Ἑλλήνων ἀτυχίαις πολλή. ᾔσθετο Πάτροκλος καὶ συνήλγησε καὶ τὰ μὲν δακρύων, τὰ δὲ νουθετῶν διαλλάξαι πειρᾶται τὸν Ἀχιλλέα τοῖς Ἕλλησιν. μελετῶμεν τὸν Πάτροκλον. („Nachdem man Achill Briseis weggenommen hatte, blieb er erzürnt in seinem Zelt. Agamemnon schickt eine Gesandtschaft zu ihm und ist bereit, das Mädchen zusammen mit vielen Geschenken zurückzugeben. Aber die Gesandtschaft mit Briseis und den Geschenken hat keinen Erfolg. Nur wenig Zeit verging dazwischen, und das Unglück der Griechen häufte sich. Patroklos nahm das wahr und litt mit ihnen; und teils weinend, teils warnend versucht er, Achill mit den Griechen zu versöhnen. Wir halten die Deklamation in Patroklos’ Rolle.“) Diese Suasorie belegt ein weiteres Mal, wie stark die Homerischen Figurenreden auf die Suasorie gewirkt haben.⁴¹⁶ In diesem Fall hat Patroklos’ kurze Rede an Achill (Il. 16,21– 45) als eine Anregung für die Suasorie gedient.⁴¹⁷ Allerdings besteht Patroklos’ Intention bei Homer darin, Achill für dessen passive Haltung zu kritisieren und um das Einverständnis zu bitten, mit den Myrmidonen wieder in den Krieg einzutreten, nachdem er die Hoffnung aufgegeben hat, Achill dazu zu bewegen. Insofern ist die Situation in Chorikios’ Deklamation eher mit derjenigen der Bittgesandtschaft aus Buch 9 der Ilias zu vergleichen.⁴¹⁸ Chorikios’ Deklamationen selbst werden zum einen durch das Thema, zum anderen durch eine θεωρία eingeleitet. Die Suasorienthemen aus Chorikios’ Sammlung sind die längsten, die uns aus der Antike erhalten sind. Vor allem im Vergleich zu den Suasorienthemen, die Seneca d.Ä. überliefert, stechen sie durch ihre vielen Details hervor. Auffällig ist auch die Angabe, in welcher Rolle Chorikios die Deklamationen hält. Chorikios benutzt hierfür sogar eine eigene Wendung, die

414 415 416 417 418

Vgl. Herodot 1,154– 156; Penella (2009) 18; Webb (2006) 115. Zum Zug gegen die Massageten vgl. Herodot 1,201– 216. Vgl. Aristides, or. 16; Libanios, decl. 5; Dracontius, Romul. 9. Vgl. Penella (2009) 23 f.; Webb (2006) 110. S. S. 82 f. zu Aristides, or. 16; vgl. Schouler (2005) 121– 123.

Exkurs 1: Dracontius

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aus transitivem μελετᾶν besteht. Nur der zweiten Suasorie geht eine Themenangabe voran, die von den anderen abweicht (s.o.). Durch das Substantiv τὸ προοίμιον ist der Charakter der θεωρία annäherungsweise angegeben.⁴¹⁹ Dabei darf der Gebrauch des Wortes „Proömium“ nicht mit dem bekannteren verwechselt werden, bei dem das Wort den ersten Teil der Rede bezeichnet, also auf einen integralen Bestandteil der Rede verweist. Unter dem Begriff θεωρία werden einleitende Bemerkungen zusammengefasst, die technische Aspekte der zu haltenden Deklamation beleuchten.⁴²⁰ Somit stimmt die θεωρία mit dem gleichnamigen Phänomen bei Himerios überein bzw. mit dem, was bei Libanios als προθεωρία und in den kleineren quintilianischen Deklamationen als sermo bezeichnet wird.⁴²¹ Ferner muss noch ein weiteres Phänomen unterschieden werden, das ebenfalls als „Vorwort“ bezeichnet werden kann. Hierbei handelt es sich um eine eigenständige, kleine Rede, die διάλεξις genannt wird und das Ziel hat, die Gunst des Publikums zu gewinnen. Eine solche διάλεξις konnte derart eingesetzt werden, dass sie auf eine Deklamation vorbereitet; sie existierte aber auch als literarisches Produkt unabhängig von der Deklamation.⁴²² Inhaltlich ist die διάλεξις nicht mit der Deklamation verbunden. Beispielsweise nimmt Chorikios durch die διάλεξις, die auf die zweite Suasorie vorbereitet, seinen Lehrer Prokop in Schutz, der dafür kritisiert wurde, dass er keine Schaudeklamationen hielt. Wie die θεωρία und die διάλεξις deutlich machen, handelt es sich bei Chorikios’ Deklamationen wie bei denjenigen von Himerios wohl um Stücke, die als Musterreden im Unterricht und als Schaudeklamationen vor Publikum eingesetzt werden konnten.

Exkurs 1: Dracontius Eine Sonderform unter bzw. neben den Suasorien stellt Dracontius’ Deliberativa Achillis (Romul. 9) aus dem späten fünften Jahrhundert n.Chr. dar, da es sich um

419 Vgl. das Thema der zweiten Suasorie. 420 Vgl. Penella (2009) 14– 16. 421 Vereinzelt findet sich in den Handschriften zu Chorikios auch der Titel προθεωρία; vgl. Penella (2009) 15. 422 Vgl. Penella (2009) 27 f., in dessen Publikation diejenigen διαλέξεις des Chorikios aufgelistet werden, die den Deklamationen vorangehen. Allgemein zur διάλεξις vgl. auch Korenjak (2000) 23; Russell (1983) 77– 79.

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Einleitung

ein Gedicht handelt.⁴²³ Das Versmaß ist aber der einzige Unterschied zur üblichen Suasorie, so dass man von der Sonderform einer Verssuasorie sprechen kann.⁴²⁴ Dies gilt zum einen für den deliberativen Charakter und das Sujet von Romul. 9: In diesem Gedicht versucht der Sprecher Priamos, Achill davon zu überzeugen, dass er Hektors Leiche zur Bestattung freigibt. Daher hat auch für diese Sonderform der Suasorie eine berühmte Rede aus der Ilias die Vorlage gebildet (Il. 24,477– 694).⁴²⁵ Der deklamatorische Charakter von Romul. 9 wird auch darin deutlich, dass das Gedicht von zwei quaestiones unterbrochen wird. Diese quaestiones sind zwar nicht mit denjenigen der Deklamatoren identisch, die Seneca d.Ä. referiert, aber ähnlich. Denn während die quaestiones der Deklamatoren dazu dienen, Argumente zu finden, handelt es sich bei den quaestiones in Romul. 9 um Achills Einwände, die zurückgewiesen werden und damit der Refutatio dienen. Der äquivalente Ausdruck für diese Einwände in den Deklamationen wäre contradictio. ⁴²⁶

Exkurs 2: Ovids Heroides In der Forschung zu Ovids Briefen und Briefpaaren mythischer⁴²⁷ Gestalten, den Heroides, wurde häufig die Frage nach der Gattung gestellt.⁴²⁸ Eine häufige (Teil‐) Antwort auf diese Frage war, dass es sich um Suasorien handelt.⁴²⁹ Diese Forschungsmeinung geht bis in die Zeit des Erasmus zurück, der die Meinung referiert, dass es sich bei den Heroides um declamatiunculae handelt, und dieser

423 Vgl. die Ausgabe von Wolff (1996) und diejenige von Díaz de Bustamante (1978), in der auch Romul. 9 besprochen wird (S. 214– 223); Schetter (1981); Bouquet (1996) 246 f.; Scaffai (1995); de Gaetano (2009) 191– 195. 424 Analog handelt es sich bei Romul. 5 um eine Verskontroversie; vgl. Bouquet (1996) 245 f. 425 Vgl. zum einen die Suasorien, die auf die Bittgesandschaft aus dem neunten Buch der Ilias rekurrieren: Aristides, or. 16 (s. S. 82 f.); Libanios, decl. 5 (s. S. 85); zum anderen Chorikios, decl. 10 (s. S. 90). 426 Vgl. Sen. suas. 2,17 f. mit dem Kommentar zur Stelle. 427 Sapphos Brief an Phaon (epist. 15) stellt eine Ausnahme dar. 428 Vgl. z. B. Roussel (2008); Knox (2002); Spoth (1992); Steinmetz (1987); Sabot (1981); Kirfel (1969); Oppel (1968). 429 Vgl. die von Oppel (1968) 44 f. und Auhagen (1999) 56 – 60 referierten Forschungsmeinungen. Sehr deutlich hat diese Meinung Eggerding (1908) geäußert; vgl. z. B. S. 141 und 190, wo er von nudae declamationes spricht; S. 222 (mit Bezug auf epist. 4): duas revera suasorias conscripsit Ovidius. Für Eggerding sind die Heroides Suasorien, die erst später die Briefform erhalten haben; vgl. Kirfel (1969) 3.

9 Zur Edition

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Ansicht nicht widerspricht.⁴³⁰ Jedoch kann nur schwerlich davon gesprochen werden, dass es sich bei den Heroides um Suasorien handelt,⁴³¹ da die Absicht der Heroinen nicht generell darin besteht, dem Adressaten etwas zu raten bzw. von etwas abzuraten. Vielmehr hat Ovid eine neue Gattung geschaffen,⁴³² die Überschneidungen mit anderen Gattungen aufweist.⁴³³ Dem rhetorischen Charakter des Werks wird man am ehesten gerecht, wenn man die Ähnlichkeit zur Prosopopoiie bzw. Ethopoiie herausstellt,⁴³⁴ da sich in den Briefen, ja sogar innerhalb desselben Briefes vielfältige Intentionen und Gefühle der Heroinen offenbaren. Häufig besteht ihr Anliegen darin, ihrem Geliebten Vorwürfe zu machen. Die Übereinstimmungen der Heroides mit der Prosopopoiie erscheinen umso stärker, wenn man bedenkt, dass dieses Progymnasma für Theon auch in Form eines Briefes verfasst werden konnte.⁴³⁵ Forschungsgeschichtlich gesehen erklärt sich die Meinung, dass es sich bei den Heroides um Suasorien handelt, vielleicht auch dadurch, dass zu Erasmus’ Zeiten nicht streng zwischen der Deklamation und den Progymnasmata, zu denen die Prosopopoiien gehören, unterschieden wurde.⁴³⁶

9 Zur Edition 9.1 Die handschriftliche Überlieferung Das Werk des älteren Seneca wurde auf zweifache Weise überliefert, nämlich einmal in Handschriften, die den ungekürzten Text tradieren und vom Hyparchetyp α abhängen, und zum Zweiten in Handschriften, die auf eine gekürzte Version des Werkes zurückgehen und vom Hyparchetyp β abhängen. Diese ge-

430 Vgl. Erasmus, De conscribendis epistolis p. 224 Margolin (1971): [sc. epistulae] heroinarum, autore Nasone, aliaeque consimiles, quas si quis malit appellare declamatiunculas, equidem non admodum refragabor. 431 Vgl. Oppel (1968) 37– 67. Ein Argument, das den Unterschied zwischen den Suasorien und den Heroides belegen soll (S. 39), ist nur teilweise gültig, nämlich das Argument, dass in einer Suasorie ein neutraler Berater dem Überlegenden einen Ratschlag gibt, wohingegen in den Heroides Personifizierungen vorliegen. Denn auch in den Suasorien ist es möglich, die überlegende Person zu personifizieren; s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 5 – 7. 432 Vgl. Ovids Selbstaussage (ars 3,346): ignotum hoc aliis ille novavit opus. 433 Vgl. z. B. Heinze (1997) 25. 434 Zur Prosopopoiie bzw. Ethopoiie s. das Kapitel „Die Suasorie“, S. 5 – 7. Die Meinung, dass die Heroides maßgeblich Prosopopoiien sind, wurde u. a. von Oppel (1968) 33 vertreten. 435 Vgl. Theon RhG II p. 115 Spengel (p. 70 Patillon / Bolognesi [1997]): ὑπὸ δὲ τοῦτο τὸ γένος τῆς γυμνασίας πίπτει καὶ τὸ […] εἶδος […] τῶν ἐπιστολικῶν [sc. λόγων]; Kirfel (1969) 5. 436 Vgl. Feddern (2010), v. a. S. 162– 168.

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kürzte Version ist vermutlich in der Spätantike entstanden, als gewissermaßen Exzerpte von den Deklamationsexzerpten hergestellt wurden. Da aber die gekürzte Version nur Exzerpte aus den Kontroversien (und ihre Praefationes) beinhaltet, ist dieser Überlieferungszweig für die Edition der Suasorien irrelevant. Daher beschränken wir uns auf die Beschreibung der für die Edition der Suasorien relevanten Handschriften.⁴³⁷ Der Hyparchetyp α lässt sich aus den drei Handschriften A, B und V rekonstruieren:⁴³⁸ Antverpiensis (A): Dieser Codex, der unter der Signatur B 411 in der Erfgoedbibliotheek Hendrik Conscience in Antwerpen aufbewahrt wird, stammt aus dem 10. oder 11. Jahrhundert.⁴³⁹ Einzelne Folia dieser Handschrift (u. a. das Ende der Suasorien) sind ausgefallen.⁴⁴⁰ Der Codex ist im 16. Jahrhundert von einer manus recentior (A2) emendiert worden. Bruxellensis (B): Hierbei handelt es sich um einen Teil des Codex 9581– 9595, der in der Königlichen Bibliothek Belgiens in Brüssel aufbewahrt wird. Das Werk des älteren Seneca ist auf den Folien 88r-167v überliefert. Der Codex stammt aus

437 Für eine Beschreibung der gesamten Überlieferung vgl. Håkanson (1989) V-XV; Müller (1887) X-XXXV. In den Handschriften stehen die Suasorien vor den Kontroversien. Es ist aber eher davon auszugehen, dass im ursprünglichen Werk die Suasorien auf die Kontroversien folgten; vgl. contr. 2,4,8: quae dixerit [sc. Latro in einer Suasorie über Theodotus], suo loco reddam, cum ad suasorias venero. Zur Frage nach einer verloren gegangenen Praefatio zum Suasorienbuch s. die Einleitung zur ersten Suasorie (S. 152 f.): „Die Lacuna am Anfang des Suasorienbuches“. Vielleicht ist (zumindest) ein zweites Suasorienbuch verloren gegangen (vgl. Sussman [1978] 34). Dies könnte man aus contr. 2,4,8 und dem Kolophon der Suasorien schließen: L. Annei Senecae oratorum et rhetorum sententiae divisiones colores suasoriarum liber primus explicit incipit liber secundus feliciter. Es ist aber auch möglich, dass Seneca d.Ä. den contr. 2,4,8 gefassten Plan, die Theodotus-Suasorie zu referieren, nicht verwirklicht hat und der Genetiv suasoriarum epexegetisch und nicht partitiv zu verstehen ist, so dass der liber secundus das erste Kontroversienbuch ist (vgl. Fairweather [1981] 34). Denn in der subscriptio des ersten Kontroversienbuches wird eben dieses Buch als zweites Buch bezeichnet (zur Nummerierung in den subscriptiones vgl. Müller [1887] VIIII Fußn. 1). Dann müsste man annehmen, dass die subscriptiones entstanden (oder modifiziert worden) sind, nachdem man (offenbar gegen die Intention des Autors) die Suasorien vor die Kontroversien gestellt hatte – wohl um die Reihenfolge der Übungen in der Schule nachzuahmen. 438 Vgl. Håkanson (1989) VI; Müller (1887) X-XI. Zur Datierung der Handschriften vgl. Bischoffs Urteil, das Vervliet in einer nicht veröffentlichten Studie zitiert; vgl. Håkanson (1989) VI Fußn. 1. 439 Nach Müller (1887) X stammt der Codex aus dem 10. Jahrhundert, nach Bischoff (s. die vorige Fußn.) aus dem 11. Jahrhundert. 440 Vgl. Vervliet (1959).

9 Zur Edition

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dem 9. Jahrhundert.⁴⁴¹ Insbesondere der Suasorientext ist an mehreren Stellen von einer manus recentior (B2) im 16. Jahrhundert emendiert worden. Vaticanus (V): Diese Handschrift, die unter der Signatur Vat. lat. 3872 in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrt wird, stammt ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert.⁴⁴² In V findet sich häufig unter Abweichung von A und B ein geglätteter Text. Diese Abweichungen in V (bzw. in der Vorlage von V) sind größtenteils auf einfache Verbesserungen und Interpolationen, teilweise aber wohl auch auf Lesarten aus einem Codex zurückzuführen, der uns nicht überliefert ist.⁴⁴³ Nach Müller ist der Codex erst von einer manus paulo recentior (V2) und dann von einer manus recentior (V3) aus dem 15. Jahrhundert emendiert worden.⁴⁴⁴ Wir fassen wie Håkanson die Verbesserungen in V unter der Sigle V2 zusammen.⁴⁴⁵ Die drei Handschriften A, B und V standen uns für die Edition in Form von Mikrofilmen zur Verfügung. Das Verhältnis der drei Handschriften A, B und V untereinander ist umstritten. Während feststeht, dass V aus einer korrigierten und interpolierten Abschrift von α hervorgeht,⁴⁴⁶ sind sich die Herausgeber uneins, ob auch die Handschriften A und B über eine gemeinsame Abschrift von α abhängen. Zur Annahme einer gemeinsamen Vorlage verleitete Müller die Tatsache, dass A und B untereinander mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als mit V.⁴⁴⁷ Håkanson hingegen erklärt die größere Übereinstimmung zwischen A und B dadurch, dass diese beiden Handschriften direkt von α abhängen, während die Abweichungen in V auf die Abschrift zwischen α und V zurückzuführen sind.⁴⁴⁸ Winterbottom wiederum zieht Håkansons Stemma in Zweifel, da es ihm zu wenig begründet erscheint, und führt die Tatsache, dass V vereinzelt überzeugende Lesarten enthält, die A und B nicht bieten, als Argument dafür an, dass V unabhängig von der gemeinsamen Vorlage von A und B ist.⁴⁴⁹ Allerdings ist die Frage nach einer möglichen Handschrift, von der A und B abhängen, für die Textkonstitution nicht entscheidend (und kaum

441 Vgl. Bischoff (s. Fußn. 438): „Den Bruxellensis mit seiner eigenartig schmalen Schrift […] würde ich […] um die Mitte des IX. Jhs. ansetzen.“ 442 Vgl. Bischoff (s. Fußn. 438): „Ich habe keinen Zweifel, daß der Vaticanus in Corbie, in der 1. Hälfte des IX. Jhs. geschrieben ist“. 443 Vgl. Håkanson (1989) VII-XI; Müller (1887) XII-XIII; Kiessling (1872) VII. Als Beispiel aus den Suasorien nennt Håkanson (ib.) XI Hesperii (suas. 1,15), wo A und B asperum überliefern. 444 Vgl. Müller (1887) XI. 445 Vgl. Håkanson (1989) VI. 446 Vgl. Håkanson (1989) VII; Müller (1887) XII-XIII. 447 Vgl. Müller (1887) XII-XIII; vgl. auch Winterbottom (1974) I xxviii. 448 Vgl. Håkanson (1989) V und VII. 449 Vgl. Winterbottom (1991) 338. Die überzeugenden Lesarten in V erklärt Håkanson dadurch, dass sie von außerhalb der uns bekannten Überlieferung herrühren.

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Einleitung

entscheidbar), da sich die Herausgeber darüber einig sind, dass die Handschriften A und B den Hyparchetyp α besser wiedergeben als V.⁴⁵⁰ Von der Handschrift V hängen die jüngeren Handschriften (Recentiores) ab. Von diesen haben wir häufig zwei berücksichtigt, da sie zur Verbesserung des Textes beitragen:⁴⁵¹ Bruxellensis (einst Toletanus) (T): Dieser Codex, der nun in der Königlichen Bibliothek Belgiens in Brüssel liegt (unter der Signatur 2025), stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist eine Abschrift von V. Der Text wurde von drei manus recentiores emendiert, von denen eine diejenige von Schott ist, wie Vervliet festgestellt hat.⁴⁵² Da diese Emendationen teilweise so überzeugend sind, dass der Eindruck entsteht, dass sie den ursprünglichen Wortlaut wiederherstellen, ist Müller der Ansicht, dass der Corrector (eigentlich müsste er von den Correctores sprechen) einen Codex eingesehen hat, der den ursprünglichen Text bewahrt hat.⁴⁵³ Kiessling hingegen ist der Meinung, dass es sich um Konjekturen handelt.⁴⁵⁴ Diese Frage lässt sich aber nicht sicher beantworten. Wie die vorigen Herausgeber haben wir an mehreren Stellen die Emendationen dieser Handschrift übernommen. Da es schwierig ist, die drei manus recentiores voneinander zu trennen, fassen wir wie Håkanson unter τ sämtliche Emendationen in T zusammen.⁴⁵⁵ Bruxellensis (D): Hierbei handelt es sich um einen Teil des Codex 9142 – 9145, der in der Königlichen Bibliothek Belgiens in Brüssel aufbewahrt wird. Die Handschrift stammt aus dem 15. Jahrhundert. Das Werk des älteren Seneca ist auf den Folia 129r-220r überliefert. Obwohl der Codex hauptsächlich von V abstammt, finden sich in ihm auch Lesarten von B.

9.2 Editionsprinzipien Die Aufgabe, die mit einer Edition der schlecht überlieferten Deklamationsexzerpte des älteren Seneca verbunden ist,⁴⁵⁶ hat Shackleton Bailey (vor der Veröffentlichung von Håkansons Edition) folgendermaßen formuliert: „Whoever next

450 Vgl. Håkanson (1989) VII und XI; Müller (1887) XIII; Winterbottom (1974) I xxviii. 451 Für die weiteren Recentiores vgl. Håkanson (1989) VI-VII, der auf Vervliet (s. Fußn. 438) verweist, und Müller (1887) XIII-XXIII. 452 Vgl. Håkanson (1989) VI und s. Fußn. 438. Vgl. auch Vervliet (1964) 431 f. 453 Vgl. Müller (1887) XVII-XVIIII. 454 Vgl. Kiessling (1872) VIII. 455 Vgl. Håkanson (1989) VI-VII. 456 Einen vollständigen Überblick über die Drucke des Werkes gibt Vervliet (1957).

9 Zur Edition

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addresses himself to the task can take heart from Eduard Norden (Röm. Lit., p. 180): ‘der Text ist schwer korrupt, für Konjekturalkritik noch viel zu tun’.“⁴⁵⁷ Dabei sollte die Aufgabe der Konjekturalkritik vorrangig so verstanden werden, dass jede Anstrengung unternommen wird, um die Überlieferung, wann immer es möglich ist, zu halten.⁴⁵⁸ Erst wenn sich herausstellt, dass die Überlieferung nicht gehalten werden kann, ist es die Aufgabe der Konjekturalkritik, in den Text einzugreifen. An vielen Stellen ist es der Textkritik zum älteren Seneca gelungen, aus einem korrupten einen verlässlichen Text herzustellen. Es lassen sich aber auch viele Stellen anführen, an denen die Überlieferung unnötigerweise verworfen wurde. In den modernen Editionen lässt sich eine klare Tendenz in der Form feststellen, dass die Herausgeber immer mehr Konjekturen getätigt oder übernommen haben. Insbesondere zwischen Bursian (1857) und Kiessling (1872) auf der einen Seite und Müller (1887) und Håkanson (1989) auf der anderen Seite lässt sich die unterschiedliche textkritische Ausrichtung erkennen.⁴⁵⁹ Der von uns edierte Text ist am ehesten mit demjenigen zu vergleichen, den Bursian und Kiessling herausgegeben haben, da er auf viele Konjekturen verzichtet.⁴⁶⁰ An einzelnen Stellen bewahren wir sogar gegen alle modernen Herausgeber die Überlieferung. Wie Håkanson bemühen wir uns um ein benutzerfreundliches Druckbild, indem jedes Exzerpt eines anderen Deklamators einen neuen Absatz erhält. Zudem lassen wir jeden neuen Gedanken innerhalb der Exzerpte mit einem Großbuchstaben im ersten Wort beginnen. Selbstverständlich ist es nicht immer leicht, innerhalb von Exzerpten eindeutig die Grenze zwischen zwei Gedanken zu ziehen. Daher stellen die Großbuchstaben eine bescheidene Orientierungshilfe dar, die nicht als eindeutige Grenzziehung verstanden werden soll.

457 Shackleton Bailey (1969) 320. 458 Shackleton Bailey (ib.) gibt selbst zu, dass die Textkritik zum älteren Seneca zu viele unnötige Konjekturen produziert hat: „It may be added that he will do a service by jettisoning a large proportion of what Konjekturalkritik has already produced – too much of this nature in Müller’s text and apparatus, to say nothing of later contributions, is merely depressing.“ 459 Zu Müllers Textausgabe s. die vorige Fußn. und vgl. Winterbottom (1974) I xxvii: „The text I present here is in effect a corrected Müller. Müller printed far too many conjectures.“ Zu Håkansons Textausgabe vgl. Shackleton Bailey (1993) 38: „An innovative text with many (too many, it must be said) original conjectures“. Winterbottom (1991) und Watt (1991) wägen überzeugende und weniger überzeugende textkritische Entscheidungen gegeneinander ab und gelangen zu einem äußerst positiven Gesamturteil über Håkansons Textausgabe; vgl. Watt (1991) 317: „This is not the definitive text of Seneca; the tradition is such as to preclude a definitive text. But it is certainly the best text so far produced, and a worthy monument to a distinguished scholar.“ 460 Allerdings stützen Bursian und Kiessling ihre Editionen maßgeblich auf die Handschriften A und B. Müller greift erstmals auf eine vollständige Kollation der Handschrift V durch Petschenig zurück.

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Einleitung

Abgesehen von der Tatsache, dass wir einen positiven Apparat erstellen, ist unser Apparat am ehesten mit demjenigen von Müller zu vergleichen, d. h. wir sind um eine möglichst vollständige Dokumentation bemüht. Zwar nehmen wir offensichtliche Verschreibungen, die nur in einer (oder zwei) der drei Handschriften A, B und V vorliegen, nicht auf.⁴⁶¹ Aber die vielfältigen textkritischen Eingriffe, durch die der Text des älteren Seneca verbessert werden sollte, werden von uns möglichst exhaustiv verzeichnet.⁴⁶² Sofern diese textkritischen Eingriffe vor 1887 vorgeschlagen wurden, entnehmen wir sie i. d. R. Müllers Textausgabe, da uns die entsprechenden Veröffentlichungen bibliographisch kaum zugänglich waren und viele Emendationen Müller brieflich mitgeteilt wurden. In der Orthographie machen wir hier auf folgende Phänomene aufmerksam, die wir nicht einzeln im Apparat verzeichnen: die Variation ae – e wurde zu ae vereinheitlicht; einfaches statt doppeltem -i- (z. B. das Perfekt perit statt periit) wurde beibehalten; fehlendes oder falsch platziertes h wurde ergänzt bzw. umgestellt; fälschlicherweise einfach oder doppelt geschriebene Konsonanten wurden korrigiert (z. B. wurde dissertus zu disertus korrigiert). Zwischen u und v wurde unterschieden.

461 Diesen Vorwurf hat Watt (1991) 314 f. zu Recht gegen Håkanson erhoben. 462 Keinen Vorbildcharakter hat in dieser Hinsicht Håkansons Ausgabe, wie Watt (1991) 315 zu Recht moniert, da sich Håkanson häufig für eine Konjektur entscheidet, ohne Alternativen anzugeben.

Text

〈SVASORIARUM LIBER〉 〈Deliberat Alexander, an Oceanum naviget〉

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… sinunt. cuicumque rei magnitudinem natura dederat, dedit et modum. Nihil 1 infinitum est nisi Oceanus. Aiunt fertiles in Oceano iacere terras ultraque Oceanum rursus alia litora, alium nasci orbem, nec usquam rerum naturam desinere sed semper inde, ubi desisse videatur, novam exsurgere. facile ista finguntur, quia Oceanus navigari non potest. Satis sit hactenus Alexandro vicisse, qua mundo lucere satis est. intra has terras caelum Hercules meruit. Stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles; novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit; confusa lux alta caligine et interceptus tenebris dies; ipsum vero grave et defixum mare et aut nulla aut ignota sidera. Ita est, Alexander, rerum natura: post omnia Oceanus, post Oceanum nihil. ARGENTARI. Resiste, orbis te tuus revocat. vicimus qua lucet. Nihil tantum 2 est, quod ego Alexandri periculo petam. POMPEI SILONIS. Venit ille dies, Alexander, exoptatus, quo tibi operae 〈finis〉 adesset: idem sunt termini et regni tui et mundi. MOSCHI. Tempus est Alexandrum cum orbe et cum sole desinere. Quod noveram, vici; num concupisco, quod nescio? Quae tam ferae gentes fuerunt, quae non Alexandrum posito genu adorarent? qui tam horridi montes, quorum non iuga victor miles calcaverit? Vltra Liberi patris trophaea constitimus. non quaerimus orbem, sed amittimus. Immensum et humanae intemptatum experientiae pelagus, totius orbis vinculum terrarumque custodia, inagitata

Incipit liber Iannei senece sententiarum (del. A2 et suasoriarum add.) A; in BV deest subscriptio 2 thema suppl. τ 〈alexander macedo deliberat an transfretet oceanum〉 D2 ‖ 3 sinunt α finita T finitam τ sin ut D omnia desinunt Linde desinunt Müll. | cuicumque Kiessl. cuius- α ‖ 4 aiunt Burs. aliut α avitus aut autous V2 | ultraque B2V utraque AB ‖ 5 Oceanum B2, recc. -nus α 6 novam B2, recc. nova α | facile ista V facilis est AB facilius ista Burs. ‖ 7 finguntur V afinguntur AB ‖ 8 lucere τ lug- α ludere Wehle patere Petschenig lucere 〈soli〉 Cornelissen ‖ 8 – 9 stat immotum A2B2 statim motum α ‖ 9 mare et recc. maree α mare B2 | deficientis recc. -ficieritis (ficeritis V2) α -ficiens B2 ‖ 10 terribiles α -lis dubit. Gertz ‖ 11 confusa α circumfusa Müll. offusa dubit. Kiessl. fusca Gertz ‖ 12 ita V ta A et fort. B ea B2 tua Håk. ista Linde haec Dräger ‖ 14 resiste α desiste dubit. Müll. | qua recc. qui α que B2 | lucet BV licet AB2 〈ille〉 lucet Ribbeck | tantum B tatum A tutum V tanti dubit. Schott ‖ 16 〈tuis〉 post exoptatus suppl. Gertz ‖ 16 – 17 operae 〈finis〉 adesset τ opere adesse α operae est adesse D opera desset Kiessl. opera desit vel orbis pereat; ecce Burs. ‖ 19 vici; num scripsi vicinum α vici nunc recc. vici. non Schott ‖ 20 adorarent α adorarint anon. ante Schottum ‖ 21 calcaverit B2V calcaverint AB

102 | Suasoria 1, 2 – 4

remigio vastitas, litora modo saeviente fluctu inquieta, modo fugiente deserta; taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit. MVSAE. Foeda beluarum magnitudo et immobile profundum. testatus es, Alexander, nihil ultra esse, quod vincas; revertere. 3 ALBVCI SILI. Terrae quoque suum finem habent et ipsius mundi aliquis occasus est. nihil infinitum est. Modum magnitudini facere debes, quoniam Fortuna non facit. Magni pectoris est inter secunda moderatio. Eundem Fortuna victoriae tuae quem naturae finem facit: imperium tuum cludit Oceanus. O quantum magnitudo tua rerum quoque naturam supergressa est: Alexander orbi magnus est, Alexandro orbis angustus est. Aliquis etiam magnitudini modus est: non procedit ultra spatia sua caelum; maria intra terminos suos agitantur. Quidquid ad summum pervenit, incremento non reliquit locum. Non magis quicquam ultra Alexandrum novimus quam ultra Oceanum. MARVLLI. Maria sequimur, terras cui tradimus? orbem, quem non novi, quaero, quem vici, relinquo? FABIANI. Qui ista toto pelago infusa caligo navigantem tibi videtur admit4 tere, quae prospicientem quoque excludit? non haec India est nec ferarum terribilis ille conventus. immanes propone beluas, aspice, quibus procellis fluctibusque saeviat, quas ad litora undas agat. tantus ventorum concursus, tanta convulsi funditus maris insania est. nulla praesens navigantibus statio est, nihil salutare, nihil notum. rudis et imperfecta natura penitus recessit. ista maria ne illi quidem petierunt, qui fugiebant Alexandrum. sacrum quidem terris natura circumfudit Oceanum. illi, qui iam siderum collegerunt metas et annuas hiemis atque aestatis vices ad certam legem redegerunt, quibus nulla pars ignota mundi est, de Oceano tamen dubitant, utrumne terras velut vinculum circumfluat an in suum colligatur orbem et in hos per quos navigatur sinus quasi

1 remigio Faber remissio α | saeviente α aestuante dubit. Müller subeunte Gertz superveniente Schaefer veniente Studemund | inquieta α inpleta Gertz ‖ 2 premit et Haase remittet α | qui T quin α quid (quod omisso) recc. ‖ 3 aeterna Schott e terra α ‖ 4 testatus es α testatur B2 -antur D -atum est Müll. -atur ecce Walter ‖ 7 modum α 〈ipse〉 modum Studemund 〈tu〉 modum C.F.W. Müll., Köhler | magnitudini A -ne BV | facere α 〈tu vel ipse〉 facere Gertz ‖ 9 naturae Burs. -ra et α et del. V vel V2 | tuum B2V tamen A tum B ‖ 13 reliquit α relinquit C.F.W. Müll. ‖ 17 qui ista Burkard quista AB quae ista B2V quid? ista Schult. | toto α toti Gertz, Ahlheim | tibi T ubi α 19 〈gentium〉 post ille suppl. Schult. | 〈Oceanus〉 post procellis suppl. Håk. ‖ 20 saeviat V sibi ad AB ‖ 21 praesens V, p.c. A praesenti AB in praesenti Burs. | navigantibus α innavigantibus Gertz ‖ 22 et B2V sed AB | recessit α -cepit Lucarini ‖ 23 quidem2 α quiddam Gertz enim dubit. Novák ‖ 24 〈etiam〉 post illi suppl. Gertz | metas AV metus B motus B2 meatus Ribbeck ‖ 26 velut V vel AB ‖ 27 circumfluat D2 pluat AB circumpluat V cludat Burs. perfluat Diels amplectatur Gertz | suum B2, recc. sua A suam BV

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Suasoria 1, 4 – 5 | 103

spiramenta quaedam magnitudinis exaestuet; ignem post se, cuius augmentum ipse sit, habeat an spiritum. quid agitis, commilitones? *** domitoremque generis humani, magnum Alexandrum, eo dimittitis, quod adhuc quid sit disputatur? memento, Alexander, matrem in orbe victo adhuc magis quam pacato 5 relinquis. Divisio. Aiebat CESTIVS hoc genus suasoriarum aliter declamandum esse 5 quam suadendum. non eodem modo in libera civitate dicendam sententiam quo apud reges, quibus etiam quae prosunt ita tamen, ut delectent, suadenda sunt. et inter reges ipsos esse discrimen: quosdam minus aut magis [us] veritatem 10 pati; Alexandrum ex iis esse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum elatos accepimus. denique, ut alia dimittantur argumenta, ipsa suasoria insolentiam eius coarguit: orbis illum suus non capit. itaque nihil dicendum aiebat nisi cum summa veneratione regis, ne accideret idem, quod praeceptori eius †autem Aristotelis† accidit, quem occidit propter intempestivos liberos 15 sales. nam cum se 〈deum〉 vellet videri et vulneratus esset, viso sanguine eius philosophus mirari se dixerat, quod non esset ἰχώρ, οἷός πέρ τε ῥέει μακάρεσσι θεοῖσιν. ille se ab hac urbanitate lancea vindicavit. Eleganter in C. Cassi epistula quadam ad M. Ciceronem missa positum: multum iocatur de stultitia Cn. Pompei adulescentis, qui in Hispania contraxit

1 quaedam magnitudinis exaestuet α quaedam 〈amplae〉 magnitudinis exaestuet Thomas quaedam magnitudinis 〈suae〉 exaestuet Schult. quaedam magnitudinis exaestuet 〈suae〉 Gertz post se recc. posse α | augmentum α alimentum Gertz ‖ 2 domitoremque α -ne Haupt domitorem Novák 1895, Håk. 〈regem〉 domitoremque D 〈ducem vestrum〉 domitoremque Novák 1915 〈regem〉 dominatoremque Hoefig domitorem quoque Linde ‖ 4 victo α placato Wehle | pacato τ cato α capto D tuto dubit. Burs. ‖ 6 – 7 aliter declamandum esse quam suadendum Burs. 1857, Kiessl. aliter declamandum esset quam suadendum α aliter declamandum quam esset suadendum Haase 〈alibi〉 aliter declamandum esse [quam suadendum] Müll. praeeuntibus Faber et Novák aliter declamandum 〈cum magis laudandum〉 esset quam suadendum Burs. 1869 aliter declamandum 〈cum magis adulandum〉 esset quam suadendum Håk. aliter declamandum esse 〈prout persona alia, apud〉 quam suadendum Leo 〈alias〉 aliter declamandum esse; suadenti enim Gertz aliter declamandum esse quam sententiam Gron. ‖ 8 〈caute〉 post prosunt suppl. Novák ‖ 9 quosdam α quoddam Gertz | aut magis α alios magis Novák paucos magis Watt contumacis Thomas | us del. Leo usi A2 ut B2 usus V2 〈rerum〉 usum 〈habere〉 D usum 〈rerum habere〉 τ usos Thomas osos Schott | veritatem α -e Thomas ‖ 10 pati Leo facti AB2V faciti B facile Kiessl. (qui antea osos legit) facili Thomas fastu Burs. patet Gertz factis Ribbeck | ex iis esse Haase exisse α ‖ 11 elatos B2V inlatos AB inflatos Burs. | accepimus Burs. acerrimus α cernimus recc. acceperimus Otto | argumenta α argumento ipso Gertz ‖ 12 coarguit α coargui Otto 13 summa B2, recc. sua α ‖ 13 – 14 praeceptori eius α praeceptoris Born., qui hanc vocem post Aristotelis transp. ‖ 14 autem AB om. V amitino Burs. aemulo Burkard | Aristotelis α -li V2 intempestivos α intempestive ed. Frob. ‖ 15 se 〈deum〉 recc. se α 〈deum〉 se Burs. deus ‘vg’ Müll. 16 ἰχώρ eIXWP α | πέρ τε ῥέει πPPTePI AB πPOTePI V | μακάρεσσι MΛCΛPeCCI α ‖ 18 Cassi recc. casti α

104 | Suasoria 1, 5 – 8

exercitum et ad Mundam acie victus est. deinde ait: ‘nos quidem illum deridemus, sed timeo, ne ille nos gladio ἀντιμυκτηρίσῃ’. 6 In omnibus regibus haec urbanitas extimescenda est. aiebat itaque apud Alexandrum esse dicendam sententiam, ut multa adulatione animus eius permulceretur, servandum tamen aliquem modum, ne non veneratio 〈videretur〉 et accideret tale aliquid, quale accidit Atheniensibus, cum publicae eorum blanditiae non tantum deprehensae sed castigatae sunt. nam cum Antonius vellet se Liberum patrem dici et hoc nomen statuis subscribi iuberet, habitu quoque et comitatu Liberum imitaretur, occurrerunt venienti ei Athenienses cum coniugibus et liberis et Διόνυσον salutaverunt. belle illis cesserat, si nasus Atticus ibi substitisset: dixerunt despondere ipsos in matrimonium illi Minervam suam et rogaverunt, ut duceret. Antonius ait ducturum sed dotis nomine imperare se illis mille talenta. tum ex Graeculis quidam ait: κύριε, ὁ Ζεὺς τὴν μητέρα σου Σεμέλην ἄπροικον εἶχεν. huic quidem impune fuit, sed Atheniensium sponsalia mille talentis aestimata sunt. quae cum exigerentur, complures contumeliosi libelli proponebantur, quidam etiam ipsi Antonio tradebantur sicut ille, qui subscriptus statuae eius fuit, cum eodem tempore et Octaviam uxorem haberet et Cleopatram: ‘Ὀκταουία καὶ Ἀθηνᾶ Ἀντωνίῳ· res tuas tibi habe’. 7 Bellissimam tamen rem Dellius dixit, quem Messala Corvinus desultorem bellorum civilium vocat, quia ab Dolabella ad Cassium transiturus salutem sibi pactus est, si Dolabellam occidisset, a Cassio deinde transit ad Antonium, novissime ab Antonio transfugit ad Caesarem. hic est Dellius, cuius epistulae ad Cleopatram lascivae feruntur. cum Athenienses tempus peterent ad pecuniam conferendam nec exorarent, Dellius ait: ‘et tamen dicito illos tibi annua, bienni, trienni die debere’. 8 Longius me fabellarum dulcedo produxit; itaque ad propositum revertar. aiebat Cestius magnis cum laudibus Alexandri hanc suasoriam esse dicendam, 2 ἀντιμυκτηρίσῃ ΛNTIMYKINΓICH vel sim. α ‖ 3 itaque α ita quidem Burs. ita quoque Gertz 4 〈sic〉 post esse suppl. Müll., post Alexandrum Born. ‖ 5 non veneratio 〈videretur〉 scripsi praeeuntibus Haase (non veneratio 〈videretur sed irrisio〉) et Otto (non veneratio 〈videretur sed adulatio〉) non veneratio B non verieratio A non V non bene ratio 〈constaret〉 Burs. conrueret ratio Kiessl. non 〈con〉veniret ratio Ribbeck non 〈conveniret〉 veneratio Linde non 〈eveniret〉 veneratio Heidler notaretur ratio Gertz | et AB om. V ‖ 8 〈suis〉 post statuis suppl. Gertz | habitu quoque α 〈et〉 habitu quoque dubit. Kiessl. habituque C.F.W. Müll., Otto ‖ 10 Διόνυσον recc. aIONYCON α | ibi τ sibi α ‖ 11 〈sed〉 ante dixerunt suppl. Jahn ‖ 12 rogaverunt B2, recc. rogavimus α ‖ 13 – 14 ‘Graeca emend. Muretus’ Müll. ‖ 13 κύριε KYPIC α | μητέρα ΛΛHTePΛ A aaHIePa BV 14 ἄπροικον aTIPOIRON vel sim. α | sed V an sed AB ausum sed Gertz ‖ 18 Ὀκταουία τ hoc tua vita α | καὶ Ἀθηνᾶ KaIDΘNNa vel sim. α | Ἀντωνίῳ aNTWNeW α | res tuas τ restituas α 20 transiturus τ -urum α | sibi B2 τ tibi α ‖ 22 – 23 hic – feruntur del. dubit. Kiessl. ‖ 23 lascivae D -viae α ‖ 24 dicito recc. digito (-ta B) α | annua recc. adnua α ‖ 27 Alexandri B2 -dria AB -dro V hanc B2, recc. hac α

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Suasoria 1, 8 – 11 | 105

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quam sic divisit, ut primum diceret, etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse: satis gloriae quaesitum. regenda esse et disponenda, quae in transitu vicisset. consulendum militi tot eius victoriis lasso. de matre illi cogitandum. et alias causas complures subiecit. deinde illam quaestionem subiecit, ne navigari quidem Oceanum posse. FABIANVS philosophus primam fecit quaestionem eandem: etiamsi navigari 9 posset Oceanus, navigandum non esse. at rationem aliam primam fecit: modum imponendum esse rebus secundis. hic dixit sententiam: illa demum est magna felicitas, quae arbitrio suo constitit. dixit deinde locum de varietate fortunae, et, cum descripsisset nihil esse stabile, omnia fluitare et incertis motibus modo attolli, modo deprimi, absorberi terras et maria siccari, montes subsidere, deinde exempla regum ex fastigio suo devolutorum, adiecit: ‘sine potius rerum naturam quam fortunam tuam deficere’. secundam quoque quaestionem aliter 10 tractavit; divisit enim illam sic, ut primum negaret ullas in Oceano aut trans Oceanum esse terras habitabiles. deinde: si essent, perveniri tamen ad illas non posse. hic difficultatem navigationis, ignoti maris naturam non patientem navigationis. novissime: ut posset perveniri, tanti tamen non esse. hic dixit incerta peti, certa deseri: descituras gentes, si Alexandrum rerum naturae terminos supergressum enotuisset. hic matrem, de qua dixit: ‘quomodo illa trepidavit, etiam quod Granicum transiturus esset!’ GLYCONIS celebris sententia est: τοῦτο οὐκ ἔστι Σιμόεις οὐδὲ Γράνικος· 11 τοῦτο εἰ μή τι κακὸν ἦν, οὐκ ἂν ἔσχατον ἔκειτο. hoc omnes imitari voluerunt. PLVTION dixit: καὶ διὰ τοῦτο μέγιστόν ἐστιν, ὅτι αὐτὸ μὲν μετὰ πάντα, μετὰ δὲ αὐτὸ οὐθέν. ARTEMON dixit: βουλευόμεθα, εἰ χρὴ περαιοῦσθαι. οὐ ταῖς Ἑλλησποντίαις ᾐόσιν ἐφεστῶτες οὐδʼ ἐπὶ τῷ Παμφυλίῳ πελάγει τὴν ἐμπρόθεσμον καραδοκοῦμεν ἄμπωσιν· οὐδὲ Εὐφράτης τοῦτʼ ἔστιν οὐδὲ Ἰνδός,

3 vicisset B2, recc. vicisse α | tot eius Haase totius α tot in B2 tot [ius] ed. Rom. tot suis dubit. Müll. tot iustis Linde | victoriis recc. -oris α ‖ 8 est recc. et α ‖ 12 exempla recc. -plo α | regum Haase rerum α | ex Müll. et α e recc. ‖ 16 navigationis α del. Hoefig descripsit Gruppe navigari nominavit Gertz ‖ 17 navigationis α naves descripsit Novák ‖ 18 deseri descituras recc. describe scituras α ‖ 19 enotuisset cod. Brug. Schotti enotavisset α ‖ 20 trepidavit α -verit Schult. | quod α quom C.F.W. Müll. | esset α esses C.F.W. Müll. ‖ 21 – 22 ‘Graeca emend. Muretus’ Müll. ‖ 21 τοῦτο οὐκ TOΦYTO OK α | Γράνικος ΓPaNeIHOC (TPa- A) α ‖ 22 ἦν τ IIN α | οὐκ ἂν OYKC aN α ἔσχατον Petschenig, Wilamowitz NCaTON (HC- V) α ὕστατον Muretus νέατον Burs. | ἔκειτο ΗΚεΙΤΟ α ‖ 23 αὐτὸ ΛΟΤΟ ΑΒ aΟΤΟ V | μὲν aUIN AB aCHN V | μετὰ1 HeTa (Ne- A) α 23 – 24 μετὰ δὲ αὐτὸ οὐθέν MΛNTa Λe ΛYTO OYONN (-NH V) α ‖ 24 βουλευόμεθα Gertz BOYΛeTONeONΔ α | βουλευτέον εἰ δεῖ ἄρα edd. vett. | χρὴ Gertz ΛPN AB aPH V | περαιοῦσθαι Haase TINPΛIOYCIΘΛI vel sim. α ‖ 24 – 25 ταῖς Ἑλλησποντίαις CΛYC eMNSITONTIaIC α 25 ἐφεστῶτες eΦeCTWTeO vel sim. α | Παμφυλίῳ ΓIaNΦTΛIO α | πελάγει ITeΛΛTI α 26 ἐμπρόθεσμον eNPOTECMON α | Εὐφράτης CIΦPΛTeC α | τοῦτʼ TOTT AB TOIT V

106 | Suasoria 1, 11 – 13

ἀλλʼ εἴτε γῆς τέρμα εἴτε φύσεως ὅρος εἴτε πρεσβύτατον στοχεῖον εἴτε γένεσις θεῶν, ἱερώτερόν ἐστιν ἢ κατὰ ναῦς ὕδωρ. APATVRIVS dixit: ἔνθα μὲν ἡ ναῦς ἐκ μιᾶς φορᾶς 〈εἰς〉 ἀνατολάς, ἔνθα δὲ εἰς τὰς ἀοράτους δύσεις. CESTIVS 〈dixit, cum saevitiam maris〉 descripsisset: fremit Oceanus, quasi indignetur, quod terras 5 relinquat. 12 Corruptissimam rem omnium, quae umquam dictae sunt, ex quo homines diserti insanire coeperunt, putabant DORIONIS esse in metaphrasi dictam Homeri, cum excaecatus Cyclops saxum in mare iecit: 〈*** ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται *** καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος ***〉 haec quomodo ex corruptis eo perveniant, ut et magna et tamen sana sint, aiebat Maecenas apud Vergilium 10 intellegi posse. tumidum est ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται. Vergilius quid ait? rapit haud partem exiguam montis. ita magnitudini [scedat] studet, 〈ut〉 non imprudenter discedat a fide. est inflatum καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος. Vergilius quid ait [qui] de navibus? … credas innare revolsas Cycladas.

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non dicit hoc fieri, sed videri. propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur, antequam dicitur. 13 Multo corruptiorem sententiam MENESTRATI cuiusdam, declamatoris non abiecti suis temporibus, nactus sum in hac ipsa suasoria, cum describeret belua- 20

1 ἀλλʼ εἴτε ΛMeTe α | γῆς THC α | τέρμα Jahn TNPN α τέρμʼ Gertz ‖ 1 – 2 πρεσβύτατον στοχεῖον εἴτε γένεσις θεῶν, ἱερώτερόν ITPΛeCBYTaN CTIXION ITe TeNeCCeC eeWP IePOTON α ‖ 2 ἔνθα μὲν eNTeYē vel sim. α ‖ 2 – 3 ἡ ναῦς ἐκ μιᾶς e NΛY eT MTaC (MIaC V) α ‖ 3 εἰς1 suppl. edd. vett. ἔνθα δὲ ΛeNTa Λe α | ἀοράτους δύσεις ΛOPΛTOC aYSIC (DY- V) α ‖ 3 – 4 〈dixit, cum saevitiam maris〉 descripsisset Novák descripsisset V describsisset A describisset B descripsit sic vg descripsit. set dubit. Kiessl. describit sic Burs. ‖ 4 fremit p.c. AB2 -ito B et fort. A -itu V 5 relinquat α -as recc. ‖ 7 putabant α -bam Gertz | metaphrasi dictam recc. -pharasi dictam α metaphrasi 〈Odysseae〉 Homeri Gron. ‖ 8 cum A tum BV tunc ‘vg’ Müll. | excaecatus recc. -atos α | Cyclops recc. -opos α | iecit Schott reiecit α deiecit Håk. ‖ 8 – 9 lacunam ind. C.F.W. Müll., Ribbeck; partim supplevi ‖ 11 ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται Spengel COPOT OPOC aTIOCπΛTe α χώρου ὄρος ἀποσπᾶται Burkard οὔρεος οὖρος ἀποσπᾶται Wilamowitz οὖρος ἀποσπᾶται Gertz ὄρος ἀποσπᾶται Costanza ‖ 11 – 14 rapit – ait om. A ‖ 13 magnitudini [scedat] studet, 〈ut〉 Gertz, Thomas magnitudini scedat studet BV magnitudini se dat, sed ut τ magnitudini cedat studet Burs. 〈a〉 magnitudine discedit, ut Kiessl. ‖ 14 χειρία Wilamowitz KEIPIa BV καίρια vg κειρίᾳ Costanza | νῆσσος NHeCOC BV νᾶσος Wilamowitz | qui α del. edd. vett. | de recc. e α ‖ 15 credas recc. reddas α | innare recc. innave α ‖ 17 〈autem〉 post propitiis suppl. Gertz | sit C.F.W. Müll., Sander est α ‖ 19 declamatoris B2V -ibus AB ‖ 20 abiecti A -is BV | suis recc. suus A vis BV

Suasoria 1, 13 – 15 | 107

rum in Oceano nascentium magnitudinem: *** efficit haec sententia, ut ignoscam MVSAE, qui dixit ipsis Charybdi et Scylla maius portentum: ‘Charybdis ipsius maris naufragium’ et, ne in una re semel insaniret: ‘quid ibi potest esse salvi, ubi ipsum mare perit?’ 5 DAMAS ethicos induxit matrem loquentem, cum describeret assidue prioribus periculis nova supervenisse: *** BARBARVS dixit, cum introduxisset excusantem se exercitum Macedonum, hunc sensum: *** 14 FVSCVS ARELLIVS dixit: testor ante orbem tibi tuum deesse quam militem. 10 LATRO †sedens hanc dixit† non excusavit militem, sed dixit: dum sequor, quis mihi promittit hostem, quis terram, quis diem, quis mare? da, ubi castra ponam, ubi signa ponam. reliqui parentes, reliqui liberos; commeatum peto. numquid immature ab Oceano? Latini declamatores in descriptione Oceani non nimis viguerunt, nam aut 15 15 minus descripserunt aut curiose. nemo illorum potuit tanto spiritu dicere quanto PEDO, qui navigante Germanico dicit:

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iam pridem post terga diem solemque relictum iam pridem notis extorres finibus orbis per non concessas audaces ire tenebras Hesperii metas extremaque litora mundi. nunc illum, pigris immania monstra sub undis

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1 lac. ind. Schott ‖ 2 ignoscam Musae Müll. -amus ei α -amus Musae dubit. Kiessl. | ipsis ed. Schott. ipsi α | Scylla recc. scyllae α ‖ 5 ethicos eticos AB eticus V ‖ 6 nova B2 recc. -as α supervenisse B2V -venisset AB ‖ 10 sedens hanc dixit α sedens hanc 〈suasoriam〉 dixit dubit. Burkard secus hanc dixit Burs. secus hoc dixit dubit. Håk. sequens hanc [dixit] Gertz sedatius hanc dixit A. Schaefer 〈aliter vel contra〉 sententiam dixit Traube | excusavit V -bit AB -bat B2 dixit2 α di〈centem indu〉xit Eussner, Traube di〈centem fin〉xit Traube | dum α duc Gertz duc me Walter ducem dubit. Müll. | sequor α -ar Otto, Håk. ‖ 10 – 11 〈sed quo?〉 post sequor suppl. Walter 11 – 12 quis1 – ponam2 om. A ‖ 11 mare α aerem Wehle spirare Walter ‖ 12 ponam2 BV inferam Müll. conferam Gertz pandam Walter figam Gron. | reliqui utroque loco B2V relinqui AB 14 descriptione B2 τ -nem α ‖ 15 minus α tumide Håk. | curiose α 〈nimis〉 curiose Haupt | tanto B2V -os AB ‖ 16 〈in〉 post qui suppl. Thomas | dicit V dicet AB dixit B2 ‖ 17 versus sequentes a prosa oratione non distinxit α | iam pridem α iamque vident Kent, Benario | relictum α relincunt Haupt relicti Burkard ‖ 18 iam pridem recc. iam quidem (-dam A) α iamque vident Withof, Gertz iamque putant Mariotti seque vident Goodyear iam piget Burmann | notis recc. natis α noti se Baehrens notis 〈se〉 Burs. ‖ 19 non recc. nos α | ire tenebras α isse pigebat Gron. ‖ 20 Hesperii V asperum AB ad rerum Haupt trans rerum Håk. Hesperii ad Schult. ‖ 21 nunc α unum Gertz hunc Pithoeus

108 | Suasoria 1, 15 – 16

qui ferat, Oceanum, qui saevas undique pristis aequoreosque canes, ratibus consurgere prensis – accumulat fragor ipse metus –, iam sidere limo navigia et rapido desertam flamine classem seque feris credunt per inertia fata marinis tam non felici laniandos sorte relinqui. atque aliquis prora caecum sublimis ab alta aera pugnaci luctatus rumpere visu, ut nihil erepto valuit dinoscere mundo, obstructo talis effundit pectore voces: ‘quo ferimur?’ fugit ipse dies orbemque relictum ultima perpetuis claudit natura tenebris. anne alio positas ultra sub cardine gentes atque alium †liberis† intactum quaerimus orbem? di revocant rerumque vetant cognoscere finem mortales oculos. aliena quid aequora remis et sacras violamus aquas divumque quietas turbamus sedes?

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Ex Graecis declamatoribus nulli melius haec suasoria processit quam GLYCONI, sed non minus multa corrupte dixit quam magnifice. utrorumque 20 faciam vobis potestatem. et volebam vos experiri non adiciendo iudicium meum nec separando a corruptis sana. potuisset etenim fieri, ut vos magis illa laudaretis, quae insaniunt. et nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim. illa belle dixit: *** sed fecit, quod solebat, ut sententiam adiectione supervacua atque tumida perderet; adiecit enim: *** illud quosdam dubios iudicii sui habet; ego 25

1 ferat α fert dubit. Gertz | pristis V pristinis AB ‖ 6 tam α iam Schott quam Heinsius ah Gertz 7 caecum Haase, Haupt cedunt α cedat V2 sedat D sedens τ ‖ 8 visu V2 -sum α nisu D 10 obstructo D -ta α -ta in Burs. adstricto Oudendorp | pectore α -ora Burs. ‖ 11 fugit corrector cod. Leid. Voss. Lat. 72, Gron. rugit α ruit V2 ‖ 14 liberis AB libris V nautis Burkard flabris Haupt lembis Oudendorp bellis Meyer, Tandoi nobis Burmann alii alia ‖ 16 aliena V -nos A -nas B -nis B2 ‖ 19 haec A2V nec AB ‖ 20 corrupte dixit quam magnifice Thomas magnifice dixit quam corrupte α | utrorumque corrector cod. Florent. 1179, Haase, C.F.W. Müll. utrumque α utriusque A2 recc. ‖ 22 etenim α enim Kiessl., Madvig | ut B2 sit AB si V ‖ 23 et α at Schenkl sed Gertz distinxerim recc. -erit α ‖ 24 atque cod. Vat. Schotti que ad α quod recc. ‖ 25 tumida cod. Vat. Schotti -ide α

Suasoria 1, 16 – 2, 1 | 109

non dubito contra sententiam ferre: ὑγίαινε, γῆ, ὑγίαινε, ἥλιε· Μακεδόνες ἄρα χάος εἰσᾴσσουσι.

Trecenti Lacones contra Xersen missi, cum treceni ex omni Graecia missi fugissent, deliberant, an et ipsi fugiant

2

ARELLI FVSCI patris. At, puto, rudis lecta aetas, animus qui frangeretur 1 metu insueto, armaque non passurae manus, hebetataque senio aut vulneribus corpora. quid dicam: potissimos Graeciae an Lacedaemonios an Eleos? an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia? Et nunc produntur condita sine moenibus templa? Pudet consilii nostri; pudet, 10 etiamsi non fugimus, deliberasse talia. ‘At cum tot milibus Xerses venit.’ hoc Lacedaemonii, et adversus barbaros? non refero opera vestra, non animos, non patres, quorum [non] exemplo ab infantia surgit ingenium. pudet Lacedaemonios sic adhortari: loco tuti sumus. licet totum classe Orientem trahat, licet metuentibus explicet inutilem numerum; hoc mare quod tantum ex vasto patet 15 urguetur in minimum, insidiosis excipitur angustiis vixque minimo aditus 5

1 ὑγίαινε, γῆ YΓIMN TN (TH V) α | ὑγίαινε, ἥλιε Haase YπaNe ale vel sim. α ‖ 1 – 2 Μακεδόνες ἄρα χάος Haase ΛΛΛKeΛOMeT aPa RaOC α ‖ 2 εἰσᾴσσουσι Gertz eITaCOCCI α ἐσπλέουσι Haase 3 treceni corrector cod. Florent. 1179, Schott -centi α troezeni recc. ‖ 5 aetas animus AV aetas etaset animus (etaset del.) B aetas et animus V2 aetas 〈est〉 et animus Gertz ‖ 6 insueto armaque V -oque arma AB -aque arma Burs. insueta arma Novák ‖ 7 Lacedaemonios an eleos (an eleos om. A) α Lacedaemoniorum electos Gertz Lacedaemonios an electos Burs. Lacedaemonis electos Lucarini ‖ 8 repetam recc. ereptum α | totque α tot D, Novák ‖ 9 produntur condita α proh dolor concidunt recc. | sine moenibus Burs. siremianibus AB siremanibus V si remanemus V2 si remeabimus D si remeamus τ his de manubiis Gertz ‖ 10 hoc Gertz ho AB o B2V 11 〈moventur〉 post Lacedaemonii suppl. Gertz | et α ite Madvig ita Born. 〈bellum aut res〉 est dubit. Schenkl, Morgenstern | refero B2, Madvig revero AB revera V reveremini recc. referam Kiessl. refert Gertz | animos Burs. -us α avos recc. ‖ 12 non α del. Rebling nos recc. vobis Kiessl. nobis dubit. Burs. in Thomas vos Faber | exemplo Burs. exemplum α exemplum 〈moveat〉 recc. 13 loco Novák filico α vel loco τ scilicet D ilico dubit. Studemund sed loco Clausen hic loco C.F.W. Müll. hoc loco dubit. Müll. ipso loco Linde illic dubit. Kiessl. filo loci Thomas situ loci Gertz en, loco Jahn ei, loco Burs. quali loco Ribbeck | tuti sumus D tutissimis α tuti simus τ, Ribbeck classe V -em AB ‖ 14 metuentibus α in- C.F.W. Müll., Madvig metuendum intuentibus Thomas inutilem numerum α ingentem navium numerum Studemund navalem numerum Thomas numerum navium, geret rem inutilem Novák | hoc α hic Sh. Bailey | mare α mari Håk. | tantum recc. tandem α | ex vasto patet α patet, ex vasto Gertz

110 | Suasoria 2, 1 – 3

navigio est, et huius quoque remigium arcet et inquietat omne quod circumfluit mare, fallacia cursus vada altioribus internata, aspera scopulos et cetera, quae navigantium vota decipiunt. pudet, inquam, Lacedaemonios et armatos 2 quaerere, quemadmodum tuti sint. Non referam Persarum spolia; certe super spolia nudus cadam. sciet et alios habere nos trecentos, qui sic non fugiant et sic 5 cadant. Hunc sumite animum: nescio an vincere possimus; vinci non possumus. Haec non utique perituris refero, sed etsi cadendum est, erratis, si metuendam creditis mortem. nulli natura in aeternum spiritum dedit statutaque nascentibus in fine vitae dies est. inbecilla enim nos materia deus orsus est; quippe minimis succidunt corpora. indenuntiata sorte rapimur; sub eodem pueritia fato est, 10 eadem iuventus causa cadit. optamus quoque plerique mortem; adeo in securam quietem recessus ex vita est. at gloriae nullus finis est proximique deos sic agentes agunt. feminis quoque frequens hoc in mortem pro gloria iter est [illud]. quid Lycurgum, quid interritos omni periculo, quos memoria sacravit viros, referam? ut unum Othryadem excitem, adnumerare trecentis exempla possum. 15 3 TRIARI. Non pudet Laconas nec pugna quidem hostium sed fabula vinci? Magnum aes alienum virtutis est nasci Laconem. Ad certam victoriam omnes remansissent, ad certam mortem tantum Lacones. Ne sit Sparta lapidibus

1 est et ed. Herv. esset α | arcet et B2 arceta AB arcet A2V arctat dubit. Kiessl. arcent Haupt inquietat omne B2 inquieta omne α inquietum omne Otto inquietat〈que〉 omne Castiglioni inquietatione ‘vg’ Müll. inquieta volutatione Gertz inquieto amne Haupt inquieto momine Ribbeck ‖ 2 fallacia BV -atia A fallentia Burs. | vada D -et AB -at V -a et Wb. | internata α 〈stagna〉 internata D | aspera α -rata Castiglioni | scopulos AB -lis V -orum Haupt, Gertz ‖ 3 〈apud〉 post inquam suppl. Wb. ‖ 4 〈si〉 ante non suppl. Watt | 〈at〉 ante certe suppl. Gertz ‖ 5 sciet α -at Schult. | habere nos AB nos habere nos (nos2 del. V2) V nos habere D ‖ 6 hunc α hinc Schult. 7 〈ut〉 post utique suppl. Schult. | etsi V et sic AB si Schott etiamsi Morgenstern ‖ 8 statutaque V stat atque AB statque Steigemann ‖ 9 fine α -em recc. | est1 α ex B2 del. Steigemann ‖ 11 plerique α -umque Gertz ‖ 12 ex vita Burs. exuit AB ex A2 om. V | 〈pro patria morientium〉 post gloriae suppl. Novák ‖ 12 – 13 proximique deos sic agentes agunt Walter proximique deos sica geses sagunt AB proximique deos sicages sa (sa del. V2) satagunt V proximeque deos hac cadentes accedunt Opitz proximeque deos accedunt, qui sic agunt Novák proximique deo sic agentes agunt Pianezzola proximique deos hic acie caesi sacrum habebitis Håk. alii alia ‖ 13 iter est [illud] vg iteres illud (illud del. A2) AB iter est illud V iter exstitit Gertz iter restitit Linde 14 interritos omni cod. Vat. Schotti -bitos somni α -litos somni V2 〈tot〉 interritos omni Gron. 15 excitem Burs. escitem α ‖ 16 nec α ne Schult. ‖ 17 aes Burs. es AB est V et B2 del. Schenkl, Born. | alienum α alimentum τ alumnum Dτ2, Schult. 〈non〉 alienum Novák adiumentum Gron. columen Gertz alimonium dubit. Madvig | virtutis α -ti Novák | est nasci AB nasci A2V nasci et Schult. ‖ 18 ne sit Sparta Schulting, Petschenig, Gertz nesi parta α non est sic sparta recc. non est Sparta Burs., Kiessl. [nesi] 〈ut non sit〉 Sparta Novák

Suasoria 2, 3 – 5 | 111

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circumdata: ibi muros habet, ubi viros. Melius revocavimus fugientes trecenos quam sequimur. ‘Sed montes perforat, maria contegit.’ numquam solido stetit superba felicitas, et ingentium imperiorum magna fastigia oblivione fragilitatis humanae conlapsa sunt. scias licet ad finem non pervenisse, quae ad invidiam perducta sunt. maria terrasque, rerum naturam statione mutavit sua: moriamur trecenti, ut hic primum invenerit, quod mutare non posset. Si tandem amens placiturum consilium erat, cur non potius in turba fugimus? PORCI LATRONIS. In hoc scilicet morati sumus, ut agmen fugientium 4 cogeremus? Rumori terga vertitis? sciamus saltem, qualis sit iste, quem fugimus. Vix istud victoria dedecus elui potest; ut omnia fortiter fiant, feliciter cadant, multum tamen nomini nostro detractum est: iam Lacones, an fugeremus, deliberavimus. ‘At enim moriemur.’ quantum ad me quidem pertinet, post hanc deliberationem nihil aliud timeo, quam ne revertar. Arma nobis fabulae excutiunt? Nunc, nunc pugnemus; latuisset virtus inter trecenos. ‘Ceteri quidem fugerunt.’ si me quidem interrogatis, quid sentiam, ego in nostrum et in Graeciae patrocinium loquar: electi sumus, non relicti. GAVI SABINI. Turpe est cuilibet viro fugisse, Laconi etiam deliberasse. 5 MARVLLI. In hoc restitimus, ne in turba fugientium lateremus? Habent quemadmodum se excusent Graeciae treceni: ‘munitas Thermopylas putavimus, cum relinqueremus illic Lacona’.

1 ibi muros habet ubi viros Burs. ibi muros habet ubi muros habet ubi (ibi V) muros (ubi muros3 del. A2) α ibi muros habet ubi muros non habet ibi viros D ibi viros habet ubi muros non habet Gron. | revocavimus α -bimus ed. Ven. ‖ 2 sequimur α -emur recc. | solido α -ide B2 in solido ed. Rom., ‘vg’ Müll. ‖ 3 superba α -bo dubit. Morgenstern | fastigia V2 -gio α ‖ 4 scias α -iat C.F.W. Müll. | finem α finem 〈bonum〉 Gertz finem 〈tantum〉 Thomas | pervenisse V2 -isset α ‖ 5 naturam τ, Schott -ra α | statione V -nem AB2 -num B | mutavit α im- Burs., Kiessl. ‖ 6 posset AB -sit V tandem amens α tam demens C.F.W. Müll. ‖ 7 turba V2 truba α ‖ 9 cogeremus α augeremus Schott | rumori Gron. furori α furore anon. cur 〈rum〉ori dubit. Kiessl. | qualis Burs. quam α quis V2 quisnam B2 quam 〈fortis〉 Müll. quinam Novák qui Otto | 〈timendus〉 post iste suppl. Castiglioni | 〈vir〉 post fugimus suppl. Walter ‖ 10 vix istud Gertz vixit ut A vixit (vix B2) in B vicit at V vix illud Linde vix iam Otto vix vel Müll. vix Rebling, Madvig | cadant BV cedant A ‖ 11 iam α del. Castiglioni nam dubit. Håk. ‖ 12 at enim moriemur Otto ut (ita B2) enim moriemur α ut enim 〈non〉 moriemur D ut enim 〈non〉 moriamur τ utinam moriamur Burs. ‖ 13 revertar AB -amur V 14 trecenos Burs. -centos α troecenos D | ceteri quidem α 〈ne〉 ceteri quidem Madvig 〈at〉 ceteri quidem Novák ceteri quid enim Otto ceteri inquit Gertz ceteros qui Schulting ‖ 15 quid A2V ut quid AB | ego V ei (del. A2) AB et Haase | 〈honorem〉 post nostrum suppl. Gertz | Graeciae vg gretie A gratiae BV ‖ 17 Gavi ed. Schott. alii α | 〈de fuga〉 ante deliberasse suppl. Gertz 18 restitimus recc. et voluit V2 -sistimus α | habent α habeant Gertz ‖ 19 Graeciae B2 gratiae α munitas recc. mutas α tutas Burs. | Thermopylas vg thermopostlias AB thermopost alias V -pilas V2 -pylas 〈satis〉 D ‖ 20 Lacona α -onas B2V2

112 | Suasoria 2, 5 – 8

CESTI PII. Quam turpe esset fugere, iudicastis, Lacones, tam diu non fugiendo. Omnibus sua decora sunt: Athenae eloquentia inclitae sunt, Thebae sacris, Sparta armis. ideo hanc Eurotas amnis circumfluit, qui pueritiam indurat ad futurae militiae patientiam; ideo Taygeti nemoris difficilia nisi Laconibus iuga; ideo Hercule gloriamur de operibus caelum merito; ideo muri nostri arma 6 sunt. o grave maiorum virtutis dedecus: Lacones se numerant, non aestimant! Videamus, quanta turba sit, ut habeat certe Sparta etiamsi non fortes milites at nuntios veros. Ita ne bello quidem sed nuntio vincimur? merito, hercules, omnia contempsit, quem Lacones audire non sustinent. Si vincere Xersen non licet, videre liceat; volo scire, quem fugiam. Adhuc non sum ex ulla parte Atheniensium similis, non muris nec educatione; nihil prius illorum imitabor quam fugam? POMPEI SILONIS. Xerses multos secum adducit, Thermopylae paucos 7 recipiunt. Erimus inter hostes fugacissimi, inter fugaces tardissimi. nihil refert, quantas gentes in orbem nostrum Oriens effuderit quantumque nationum secum Xerses trahat; tot ad nos pertinent, quot locus ceperit. CORNELI HISPANI. Pro Sparta venimus, pro Graecia stemus. Vincamus hostes, socios iam vicimus. Sciat iste insolens barbarus nihil esse difficilius quam Laconis armati latus fodere. Ego vero, quod discesserunt, gaudeo: liberas nobis reliquere Thermopylas. nil erit, quod virtuti nostrae se opponat, quod inferat; non latebit in turba Laco; quocumque Xerses aspexerit, Spartanum videbit. 8 BLANDI. Referam praecepta matrum, ‘aut in his aut cum his’? Minus turpe est a bello inermem reverti quam armatum fugere. Referam captivorum verba?

1 esset B2 est AB om. V | iudicastis α indicastis Kiessl. ‖ 2 Thebae vg taebe A taebae B thebea V thebaea D ‖ 3 〈enitimur in〉 post ideo suppl. Müll. ‖ 4 Taygeti nemoris (montis D) recc. tayetine moris α Taygeti 〈enitimur〉 nemoris vel Taygeti enitimur Gertz ‖ 5 Herculem gloriamur deum 〈et〉 operibus caelum meritum Schulting | de α ‘om. codex Brugensis Schotti et sic Schott ac vg’ Müll. deo Kiessl. sescentis Ritschl duodecim C.F.W. Müll. patre vel auctore Gertz duris Morgenstern 9 contempsit α -erit Schulting | quem α quae Faber | Xersen α Persen Gron. ‖ 10 quem V qui AB quid Burs. ‖ 11 muris α moribus Linde | nec α non Kiessl. | educatione recc. duc- α ‖ 13 multos secum V multosum AB -orum B2 multos una Gertz ‖ 14 enuntiatum erimus – tardissimi transp. edd. | hostes α fortes Faber nostros dubit. Kiessl. | fugacissimi V fag- (sag- B2) AB fortissimi Linde ‖ 15 quantumque V quantum AB | secum B2V que cum AB 〈agmen〉 secum Ribbeck 16 quot V quod AB ‖ 18 vicimus AV vincimus B ‖ 18 – 19 enuntiatum sciat – fodere post ceperit (l. 16) transp. dubit. Kiessl. ‖ 19 Laconis recc. -oni α | 〈at ceteri fugere〉 post fodere suppl. Gertz, sim. Wb. | discesserunt V di- AB 〈troeceni〉 discesserunt D discesserunt 〈treceni〉 Köhler 20 reliquere V relinquere AB | opponat α ap- Ribbeck ‖ 21 〈se〉 ante inferat suppl. Ribbeck inferat AB inserat V | Spartanum V -no AB -nos B2 ‖ 22 videbit B2V -bat AB ‖ 24 fugere B2V fuge AB 〈a〉 fuga dubit. Kiessl.

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Suasoria 2, 8 – 10 | 113

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captus Laco ‘occide’ inquit, ‘non servio’. non potuit non capi, si fugere voluisset? Describite terrores Persicos; omnia ista, cum mitteremur, audivimus. Videat trecentos Xerses et sciat, quanti bellum aestimatum sit, quanto aptus numero locus. Revertamur ne nuntii quidem nisi novissimi? Quis fugerit, nescio; hos mihi Sparta commilitones dedit. Descriptio Thermopylarum. nunc me delectat, quod fugerunt treceni; angustas mihi Thermopylas fecerunt. Contra. CORNELI HISPANI. At ego maximum 〈video〉 dedecus futurum rei 9 publicae nostrae, si Xerses nihil prius in Graecia vicerit quam Laconas. Ne testem quidem virtutis nostrae habere possumus; id de nobis credetur, quod hostes narraverint. Habetis consilium meum; id est autem meum, quod totius Graeciae. si quis aliud suadet, non fortes vos vult esse sed perditos. CLAVDI MARCELLI. Non vincent nos, sed obruent. satis fecimus nomini, ultumi cessimus. ante nos rerum natura victa est. Divisio. Huius suasoriae feci mentionem, non quia in ea subtilitatis erat 10 aliquid, quod vos excitare posset, 〈sed〉 ut sciretis, quam nitide Fuscus dixisset vel quam licenter. ipse sententiam feram: vestri arbitrii erit, utrum explicationes eius luxuriosas putetis an ut poet〈ic〉as. Pollio Asinius aiebat hoc non esse suadere sed lascivire. recolo nihil fuisse me iuvene tam notum quam has explicationes Fusci, quas nemo nostrum non alius alia inclinatione vocis velut sua quisque modulatione cantabat. at quia semel in mentionem incidi Fusci, ex

1 non potuit non AB non potuit VB2 potuit non Born. | potui non capi, si fugere voluissem cod. Vat. Schotti, ‘vg’ Müll. | capi si fugere B2V capis fugeres AB capi, nisi fugere Gertz 2 – 4 enuntiatum videat – locus ante descriptio (l. 5) transp. Gertz ‖ 3 sciat α sciet Haase | quanti α quod tanti Schulting | quanto α quanti Ribbeck quam Castiglioni ‖ 4 revertamur α -emur dubit. Faber | nisi α del. Gertz ‖ 6 fecerunt α -erant T ‖ 7 ego α puto Haase | video suppl. B2 post ego transp. Watt iudico Linde ‖ 8 nostrae α nostrae 〈arbitror〉 D | quam V quas AB qua B2 ‖ 9 credetur V -itur AB ‖ 10 narraverint BV -verunt A | quod B2V quo AB ‖ 11 aliud suadet B2V alius suadent AB | vult B2 ut AB om. V | perditos AB perditos gaudet V ‖ 13 ultumi A ultum B multum B2 multum in (in del. V2) V multum rei D | cessimus Kiessl. gess- α ‖ 14 subtilitatis recc. -tate α 15 sed suppl. recc. ‖ 16 〈non〉 ante feram suppl. Schulting | explicationes B2V2 -onis α ‖ 17 eius 〈ut〉 luxuriosas vituperetis an ut poeticas 〈laudetis vel probetis〉 Burs. | ut poeticas scripsi praeeuntibus Gruter et Burs. ut poetas B ut petas A ut poeta V poeticas, 〈ut〉 Gruter vel poeticas Decker laetas Wb. locupletes dubit. Håk. ut vegetas Kiessl., Madvig vegetas Gertz floridas Gron. vero politas Schulting ut politas Lucarini ineptas Konitzer lepidas anon. apud Müll. negetis Linde postea Faber ‖ 18 sed lascivire Hoffa inscividere α scividere T sed invidere Dτ sed ludere Gertz sed irridere Schott, Burs. sed inludere Gron. sed inscite ridere Schulting scire Vahlen lascivire vero Decker ‘ipse videris’ Klussmann | non volo nihili fuisse, quae iuvenis amavi Gron. | recolo Burs., Madvig ve volo α ne volo recc. vos volo Vahlen do Decker | me iuvene tam notum Burs. et iuvenet anno tam α et iuvenis te amotam D tam inventione a re amotum Decker ‖ 19 alius recc. -ios α -ias Haase ‖ 20 〈ordine〉 post ex suppl. Håk.

114 | Suasoria 2, 10 – 12

omnibus suasoriis celebres descriptiunculas subtexam, etiamsi nihil occurrerit, quod quisquam alius nisi suasor dilexerit. 11 Divisione autem 〈in〉 hac suasoria FVSCVS usus est illa volgari, ut diceret non esse honestum fugere, etiam si tutum esset. deinde, aeque periculosum esse fugere et pugnare. novissime, periculosius esse fugere: pugnantibus hostes timendos, fugientibus et hostes et suos. CESTIVS primam partem sic transit, quasi nemo dubitaret, an turpe esset fugere. deinde illo transit, an non esset necesse. haec sunt, inquit, quae vos confundunt: hostes, sociorum paucitas. Non quidem 〈in〉 hac suasoria, sed in hac materia disertissima illa fertur sententia DORIONIS, cum posuisset hoc dixisse trecentis Leonidam, quod puto etiam apud Herodotum esse: 〈ἀριστοποιεῖσθε ὡς ἐν Ἅιδου δειπνησόμενοι. ***〉 SABINVS ASILIVS, venustissimus inter rhetoras scurra, cum hanc senten12 tiam Leonidae rettulisset, ait: ego illi ad prandium promisissem, ad cenam renuntiassem. ATTALVS Stoicus, qui solum vertit a Seiano circumscriptus, magnae vir eloquentiae, ex his philosophis, quos vestra aetas vidit, longe et subtilissimus et facundissumus, cum tam magna et nobili sententia certavit et mihi dixisse videtur animosius quam prior: *** Occurrit mihi sensus in eiusmodi materia a SEVERO CORNELIO dictus tamquam de Romanis nescio an parum fortiter. edicta in posterum diem pugna epulantes milites inducit et ait:

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… stratique per herbam ‘hic meus est’ dixisse ‘dies’. elegantissime quidem adfectum animorum incerta sorte pendentium expressit, 25 sed parum Romani animi servata est magnitudo: cenant enim tamquam

1 descriptiunculas V -ungula AB -unculam B2 ‖ 2 nisi suasor dilexerit α in his (iis Madvig) suasoriis dixerit Håk., Madvig 〈nihil〉 nisi suasor dilexerit Decker ‖ 3 in suppl. Schulting | hac B2V hanc AB ‖ 4 aeque α 〈certe〉 aeque Gertz utrumque Novák | periculosum ed. Herv. -culum α 5 〈et〉 ante fugere1 suppl. Novák | periculosius Schulting -orum AB -osum V | 〈quam pugnare〉 post fugere2 suppl. Schulting ‖ 6 post hostes sequuntur in α timendos fugientibus et hostes, del. A2B2V2 ‖ 7 transit α -iit D -siluit Gertz tractavit Born. | dubitaret V2 -abit A -abit et BV ‖ 8 fugere V pugnaret A pugeret B fugere et B2 | transit α -iit D ‖ 9 hostium copia, vestrorum paucitas Linde sociorum B2V socior AB | 〈fuga〉 post sociorum suppl. Kiessl., 〈fuga, vestra ipsorum〉 suppl. Gertz ‖ 10 〈in〉 hac suasoria Haase haec suasoriae α ‖ 12 Graeca (haec vel sim.) suppl. edd. vett. lacunam ind. Gertz ‖ 17 〈et〉 ante ex dubit. suppl. Håk. ‖ 19 lacunam ind. Schulting ‖ 21 tamquam α quam- dubit. Kiessl. ‖ 23 stratique B2 gratique α ‖ 24 est B2V es AB | dixisse α -ere D 25 pendentium V perdentium AB prandentium τ | expressit V -itur AB

Suasoria 2, 12 – 14 | 115

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crastinum desperent. quantus illis Laconibus animus erat, qui non poterant dicere ‘hic dies est meus’! Illud PORCELLVS grammaticus arguebat in hoc versu 13 quasi soloecismum, quod, cum plures [dicerent] induxisset, diceret: ‘hic meus [dies] est dies’, non ‘hic noster est’, et in sententia optima id accusabat, quod optimum. muta enim, ut ‘noster’ sit: peribit omnis versus elegantia, in quo hoc est decentissimum, quod ex communi sermone trahitur; nam quasi proverbii loco est ‘hic dies meus est’. et cum ad sensum rettuleris, ne grammaticorum quidem calumnia ab omnibus magnis ingeniis sum〈mov〉enda habebit locum; dixerunt enim non omnes semel tamquam in choro manum ducente grammatico, sed singuli ex iis ‘hic meus est dies’. Sed ut revertar ad Leonidam et trecentos, pulcherrima illa fertur GLYCONIS 14 sententia: *** In hac ipsa suasoria non sane refero memoria ullam sententiam Graeci cuiusquam nisi DAMAE: ποῖ φεύξεσθε, ὁπλῖται, τείχη; De positione loci eleganter dixit HATERIVS, cum angustias loci facundissime descripsisset: natus trecentis locus. CESTIVS, cum descripsisset 〈honores〉, quos habituri essent, si pro patria cecidissent, adiecit: per sepulchra nostra iurabitur. NICETES longe disertius hanc phantasiam movit et adiecit: *** nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, ὅρκον ei dicere 〈liceret〉. hanc suam dixit sententiam aut certe non deprehensam, cum descripsisset oportunitatem loci et tuta undique pugnantium latera et angustias a tergo positas sed adversas hostibus: *** 1 quantus illis Laconibus animus erat edd. vett. quantum illis Laconibus animis aeratis AB quantus illis Laconibus animus erat iis V quantum illis Laconibus animi erat Bursian quanto melius Laconibus animus servatus Håk. quanto illis Laconibus elatior (vel alacrior) animus erat Gertz | non post poterant transp. Born. ‖ 2 Porcellus BV procellus A Po〈mponius Ma〉rcellus Mazzarino Marcellus Dahlmann ‖ 3 dicerent α del. V2 dicentes Burs. | diceret α -ere V2 -erent Kiessl. ‖ 4 dies1 α del. cod. Brux. 9768 | 〈erat〉 post quod suppl. V2 ‖ 5 muta τ multa α | peribit τ -ibuit AB -hibuit B2V ‖ 7 est1 T et α ‖ 8 summovenda ed. Frob. sumenda α spernenda τ ‖ 9 semel α simul recc. ‖ 13 〈dignam〉 post memoria suppl. Kiessl., 〈vivam〉 post ullam suppl. Gertz ‖ 14 ποῖ φεύξεσθε Haase TIeY ΦeTZeTCe (-ZCe A) α τί οὖν φευξείετε Gertz | ὁπλῖται Müll. otilita α ὅπλα Haase, Bücheler ὅπλα τὰ Burs. ὁπλῖται 〈ἐπὶ τὰ〉 Håk. 〈ὅπλα〉 ὁπλίταις Gertz Σπάρτας Wilamowitz τείχη vg teiXN A teIXN BV ‖ 15 loci2 α del. Ribbeck ‖ 15 – 16 facundissime B2V fact- AB 16 descripsisset V di- AB ‖ 17 honores V2T om. α post cum transp. Kiessl., ante habituri dubit. Wb., ibidem (aut post habituri) Håk. ‖ 19 lacunam implevit verbis ex Demostheni de corona (§ 208) sumptis et 〈nitide〉 ante nisi suppl. Gertz ‖ 19 – 20 Demosthenes, ὅρκον ei dicere liceret scripsi praeeunte Gertz (〈ut〉 Demosthenis ὅρκον hic dicere 〈liceret〉) Demosthenes CIPTOY cui dicere α 〈ut〉 Demosthenis ὅρκον hic diceret Håk. 〈ut illum〉 Demosthenis ὅρκον hic dicere 〈liceret〉 Born. Demosthenes, epitaphium diceret Burs. Demosthenes, potuisset dicere hanc sententiam Gron. Demosthenes, pro Ctesiphonte cum diceret, hanc suam dixisset sententiam Schulting Demosthenes, 〈non male〉 subreptum huic diceres dubit. Müll. ‖ 20 ante hanc nomen declamatoris desideravit Otto | suam α sanam Otto ‖ 22 lacunam ind. Burs.

116 | Suasoria 2, 15 – 17

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POTAMON magnus declamator fuit Mytilenis, qui eodem tempore viguit, quo LESBOCLES, magni nominis et nomini respondentis ingenii. in quibus quanta fuerit animorum diversitas in simili fortuna, puto vobis indicandum, multo magis quia ad vitam pertinet, quam si ad eloquentiam pertineret. utrique filius eisdem diebus decessit: Lesbocles scholam solvit, nemo umquam amplius animo recessit. Potamon a funere filii contulit se in scholam et declamavit. utriusque tamen adfectum temperandum puto: hic durius tulit fortunam quam 16 patrem decebat, ille mollius 〈quam〉 virum. Potamon, cum suasoriam de trecentis diceret, tractabat, quam turpiter fecissent Lacones hoc ipsum quod deliberassent de fuga, et sic novissime clausit: *** Insanierunt in hac suasoria multi circa Othryadem: MVRREDIVS, qui dixit: fugerunt Athenienses; non enim Othryadis nostri litteras didicerant. GARGONIVS dixit: Othryades, qui perit, ut falleret, revixit, ut vinceret. LICINIVS NEPOS: cum exemplo vobis etiam mortuis vincendum fuit. ANTONIVS ATTICVS inter has pueriles sententias videtur palmam meruisse; dixit enim: Othryades paene a sepulchro victor digitis vulnera pressit, ut tropaeo ‘Laconem’ inscriberet. deo dignum in Spartano sacramento virum, cuius ne litterae quidem fuere sine sanguine! CATIVS CRISPVS †municipalis† cacozelos dixit post relatum exemplum Othryadis: aliud ceteros, aliud Laconas decet; nos sine deliciis educamur, sine muris vivimus, sine vita vincimus. 17 SENECA fuit, cuius nomen ad vos potuit pervenisse, ingenii confusi ac turbulenti, qui cupiebat grandia dicere, adeo ut novissime morbo huius rei et teneretur et rideretur; nam et servos nolebat habere nisi grandes et argentea

1 Mytilenis D moylenis α ‖ 3 vobis B2V obis AB ob id Gertz | indicandum B2V indicam dum AB 4 quam si B2, recc. quasi α ‖ 5 〈audivit〉 post solvit suppl. Walter | nemo α neque Madvig | 〈postea declamantem audivit〉 post umquam suppl. Müll. | amplius α -iore V2 | 〈declamantem audivit; aequo〉 post amplius suppl. Ribbeck, Wagner, 〈declamavit; maiore〉 Madvig ‖ 6 animo α animosius Walter | recessit Burs., Ribbeck, Wagner -gressit A -gessitur B -cessitur B2 se gessit V contulit se B2V -tulisse AB ‖ 8 patrem V patrem’ AB | decebat B2V2, recc. di- α | quam suppl. Burs. | virum AB verum V | Potamon A2B2V potamoni AB Potamon 〈igitur〉 Gertz ‖ 9 diceret V2 -ere α ‖ 11 qui α quippe Gertz del. dubit. Müll. ‖ 13 perit α periit D ‖ 14 cum α eius aut eo Müll. cuius Gron. cum 〈hoc〉 dubit. Håk. | exemplo V vel V2 exemplum AB exemplum 〈haberetis Othryadem〉 Novák | inter has B2 in terras α ‖ 15 pueriles Burs. plura res AB plures V | palmam B2V2 palam α ‖ 16 pressit τ1 et quidam codd. Schotti cessit α tersit B2 gessit V2 〈prae〉cessit τ2 〈im〉pressit τ3 〈con〉pressit Kiessl. 〈la〉cessit Watt 〈per〉cussit dubit. Håk. | Laconem α -onum V2 Laconem 〈victorem〉 Watt Laconum 〈nomen〉 dubit. Håk. | inscriberet B2V -bere AB | deo α o Gron. ‖ 17 in α del. ed. Rom. | sacramento α sacramento o B2 atramentum! o Bernays 18 municipalis α municipalis 〈orator〉 Müll. municipalis 〈rhetor〉 dubit. Edward 〈declamator〉 municipalis Gertz | cacozelos Gron. gatozeos AV gacozeos B ‖ 19 post Othryadis sequuntur in α dicebam (-bat V) municipalis, del. A2 | ceteros recc. -ras α ‖ 21 confusi ac V2D -fugiae AB -fugi ac V -fusi et B2 ‖ 22 dicere α del. Gertz

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Suasoria 2, 17 – 19 | 117

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vasa non nisi grandia. credatis mihi velim non iocanti: eo pervenit insania eius, ut calceos quoque maiores sumeret, ficus non esset nisi mariscas; concubinam ingentis staturae habebat. omnia grandia probanti impositum est cognomen vel, ut Messala ait, cognomentum, et vocari coepit Seneca Grandio. aliquando iuvene me is in hac suasoria, cum posuisset contradictionem ‘at omnes qui missi erant a Graecia fugerunt’, sublatis manibus insistens summis digitis – sic enim solebat, quo grandior fieret – exclamat: gaudeo, gaudeo! mirantibus nobis, qui tantum illi bonum contigisset, adiecit: totus Xerses meus erit. item dixit: iste, qui classibus suis maria subripuit, qui terras circumscripsit, dilatavit profundum, novam rerum naturae faciem imperat, ponat sane contra caelum castra: commilitones habebo deos. SAENIANVS multo potentius dixit: terras armis obsidet, caelum sagittis, 18 maria vinculis; Lacones, nisi succurritis, mundus captus est. Decentissimi generis stultam sententiam referam VICTORIS STATORI, municipis mei, cuius fabulis memoria dignissimis aliquis †suasoria occasione† sumpsit contradictionem: ‘at’ inquit ‘trecenti sumus’ et ita respondit: trecenti, sed viri, sed armati, sed Lacones, sed ad Thermopylas. numquam vidi plures trecentos. LATRO in hac suasoria, cum tractasset omnia, quae materia capiebat, posse 19 ipsos et vincere, posse certe invictos reverti et beneficio loci, tum illam sententiam: si nihil aliud, erimus certe belli mora. postea memini auditorem Latronis †ARBRONVM† SILONEM, patrem huius Silonis, qui pantomimis fabulas scripsit

1 non1 α del. Novák | insania eius α insaniae Schott ‖ 3 habebat α -eret Kiessl. | probanti Burs. -bati AB -bata V 〈si quando inveniret〉 probanti Kiessl., qui haec verba emendata ex enuntiato proximo (aliquando invenire) huc transp. ‖ 4 Grandio ed. Ven. -ia α ‖ 4 – 5 aliquando 〈mireris, aliquando〉 inventa rideas. in hac suasoria Haase ‖ 5 iuvene me Jonas invenire α -ret D del. A2 invenuste Burs. | is B2V his AB | posuisset V2 inposuisset α interposuisset Gertz | at V ad AB ait V2D ‖ 6 summis digitis B2V summi digiti AB ‖ 7 quo V quod AB | exclamat α -avit Otto | qui B quid AB2V quod C.F.W. Müll. ‖ 8 bonum α boni D, ‘vg’ Müll. | item α idem Novák ‖ 10 imperat α importat τ2 imperavit Ribbeck imperet Madvig | castra Faber astra α et astra B2 ‖ 12 〈non〉 ante multo suppl. Gertz | potentius V potensius AB portentosius Otto 〈im〉potentius Madvig pudentius Gertz ‖ 14 decentissimi α in- Watt licentissimi Sh. Bailey ‖ 14 – 15 referam 〈e〉 Victoris Statorii, municipis mei, [cuius] fabulis memoria dignissimis. aliquis huius suasoriae Madvig cuius 〈in〉 fabulis memoria dignissima 〈sunt〉 aliqua. is 〈in hac〉 suasoria Schulting aliquis 〈valde delectetur. is in hac〉 suasoria Vahlen ‖ 16 at B2V ad AB ‖ 16 – 17 trecenti sed B2V trecentis et AB 17 armati V armatis AB | ad V a AB | numquam vg mum- A inum- B 〈si〉 num- V nus- Schulting 20 et2 α hic Schulting ait Müll. 〈virtute〉 et Håk. del. Kiessl. | beneficio AB -cia V ‖ 20 – 21 〈adiecit〉 post sententiam suppl. Schulting ‖ 21 mora V -am AB ‖ 22 arbronum AB abronum V Arbronium Burs. Arbonium Knoche Abronium Glandorpius teste Schulting Apronium Schott Artorium Jahn

118 | Suasoria 2, 19 – 21

et ingenium grande non tantum deseruit sed polluit, recitare carmen, in quo agnovimus sensum Latronis in his versibus: ite agite, 〈o〉 Danai, magnum paeana canentes, ite triumphantes: belli mora concidit Hector. tam diligentes tunc auditores erant, ne dicam tam maligni, ut unum verbum 5

20 surripi non posset; at nunc cuilibet orationes in Verrem tuto 〈dicere〉 licet pro suo. sed ut sciatis sensum bene dictum dici tamen posse melius, notate prae ceteris, quanto decentius Vergilius dixerit hoc, quod valde erat celebre, ‘belli mora concidit Hector’: quidquid ad adversae cessatum est moenia Troiae, Hectoris Aeneaeque manu victoria Graium haesit.

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Messala aiebat hic Vergilium debuisse desinere; quod sequitur et in decimum vestigia rettulit annum

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explementum esse. Maecenas hoc etiam priori comparabat. 15 Sed ut ad Thermopylas revertar, DIOCLES CARYSTIVS dixit: *** APATVRIVS dixit *** CORVO rhetori testimonium stuporis reddendum est, qui dixit: quid? si iam Xerses ad nos suo mari navigat, fugiamus, antequam nobis terra subripiatur? hic est Corvus, qui, cum temptaret scholam Romae, Sosio illi, qui Iudaeos subegerat, declamavit controversiam de ea, quae apud matronas disserebat 20 liberos non esse tollendos et ob hoc accusatur rei publicae laesae. in hac contro1 deseruit recc. diss- AB dis- V ‖ 3 〈o〉 ante Danai suppl. ed. Rom. ‖ 4 concidit Hector vg occiditore sectora A occidit occiditore sectora B occidit occidit ore sed ora V concidit hectorem B2 concidit; Orcus Hectora 〈habet〉 dubit. Burs. ‖ 5 ne V nec AB | unum verbum Spengel unus verba α unius verba recc. unus versus Madvig, C.F.W. Müll. una syllaba Håk. unum 〈vel duo〉 verba aut una II verba dubit. Gertz ‖ 6 posset α -ent recc. | cuilibet recc. qui- α quid- Gertz | orationes α -nem Müll. 〈ex〉 oratione Gertz | 〈habere〉 ante tuto suppl. Vahlen, 〈adferre〉 Gertz | 〈dicere〉 licet Kiessl. licet α dicet Burs. licet 〈dicere〉 Müll. ‖ 7 suo BV sua A suis D | 〈dicere〉 post suo suppl. Wb., 〈vendere〉 Watt ‖ 7 – 8 notate prae ceteris recc. non prae ceteris α comparate his aut non praeteribo dubit. Håk. ‖ 9 〈ait enim〉 post Hector suppl. Gertz ‖ 10 quidquid vg 〈item〉 quicquid ras.V aut V2 quod qui AB | ad adversae vg aadverse AB apud durae mg.V aut V2, recc. | cessatum V gess- AB | moenia recc. moynia α ‖ 11 Hectoris Aeneaeque V haectori sene equod AB ‖ 13 quod V quid AB ‖ 15 etiam α autem Lucarini ‖ 17 rhetori Gron. thore AV (del. A2) hore B | qui B2V quid AB | quid α quidni Gertz ‖ 19 temptaret (tent- A) α temperaret Gertz ostentaret Schott | Sosio Gron. sunio α ‖ 20 disserebat V dissirebat AB ‖ 21 tollendos A2B2V tolendo (-ll- A) sed AB

Suasoria 2, 21 – 3, 1 | 119

versia sententia eius haec ridebatur: inter pyxides et redolentis animae medicamina constitit mirata contio. sed si vultis, historicum quoque vobis fatuum dabo. 22 TVSCVS ille, qui Scaurum Mamercum, in quo Scaurorum familia extincta est, maiestatis reum fecerat, homo quam improbi animi, tam infelicis ingenii, cum 5 hanc suasoriam declamaret, dixit: expectemus, si nihil aliud, hoc effecturi, ne insolens barbarus dicat: ‘veni, vidi, vici’, cum hoc post multos annos divus Iulius victo Pharnace dixerit. DORION dixit: ἄνδρες *** aiebat NICOCRATES Lacedaemonius insignem hanc sententiam futuram fuisse, si media intercideretur. 10 Sed ne vos diutius infatuem, quia dixeram me Fusci Arelli explicationes 23 subiecturum, finem suasoriae faciam. quarum nimius cultus et fracta compositio poterit vos offendere, cum ad meam aetatem veneritis. interim 〈non〉 dubito, quin nunc vos ipsa quae offensura sunt vitia delectent.

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Deliberat Agamemnon, an Iphigeniam immolet negante Calchante aliter navigari posse

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ARELLI FVSCI patris. Non in aliam condicionem deus fudit aequora, quam 1 ne omnis ex voto iret dies. nec ea sors mari tantum est, ceterum ipsa non sub eadem condicione sidera sunt? alias negatis imbribus exurunt solum, et miseri cremata agricolae legunt semina, et hoc interdum anno lex est. alias serena 20 clauduntur, et omnis dies caelum nubilo gravat; subsidit solum, et creditum sibi terra non retinet. alias incertus sideribus cursus est et variantur tempora, neque soles nimis urguent neque ultra debitum imbres cadunt. quidquid asperatum aestu est, quidquid nimio diffluxit imbre, invicem temperatur altero. sive ita natura disposuit, sive, ut ferunt, luna cursu gerit – quae sive plena lucis suae est 2 mirata α mitrata anon. apud Schott myrrhata Gron. | contio α potio Gron. | fatuum recc. factum α ‖ 3 Scaurorum V2 scaurum α ‖ 8 Dorion anon. apud Schott durion α | aiebat recc. ag- α Nicocrates recc. nicogrates α | Lacedaemonius Burs. -demonies AB -demones V | insignem V2 -num α ‖ 11 finem D sic α hic Kiessl. | faciam V -iem AB -ient Haase 〈finem〉 faciam Kiessl. 12 non suppl. ed. Rom. ‖ 13 quin nunc vg qui nunc α an V2 quin haec Håk. 14 negante Calchante recc. legam teo alcant te α ‖ 15 posse ed. Rom., ‘vg’ Müll. fuisse α potuisse D fas esse Burs. ‖ 16 patris Kiessl. pii AB del. A2 om. V ‖ 17 〈homini〉 ante omnis suppl. Gertz ceterum ipsa non α caelum specta; nonne Haase caelo imposita aut cetera universi non Gertz ceterum ipsa Madvig ‖ 18 sidera post alias transp. Gertz | alias Schott alia α ‖ 19 legunt α lugent Haase | hoc α haec recc. | 〈toto〉 post anno dubit. suppl. Watt | est V es AB | alias Burs. alia α 20 omnis dies α omne Haase | gravat τ grava α gravae B2 gravi D grave Haase | subsidit B2 -dis α -dit in Haase ‖ 21 et V om. A et ut B ‖ 23 aestu B2V aestus AB | diffluxit AB de- V | temperatur V -tum AB | sive ita B2V sivit A sivita B sive ista Gertz ‖ 24 gerit α regit anon. apud Schott

120 | Suasoria 3, 1 – 3

splendensque pariter adsurgit in cornua, imbres prohibet, sive occurrente nubilo sordidiorem ostendit orbem suum, non ante finit quam †in lucem reddit† – sive ne lunae quidem ipsa potentia est, sed flatus qui occupavere annum tenent; quidquid horum est, extra iussum dei tutum fuit adultero mare. ‘At non potero vindicare adulteram.’ prior est salus pudicae. ne quid huius virginitati timerem, persequebar adulterum. victa Troia virginibus hostium parcam. nihil adhuc virgo Priami timet. 2 CESTI PII. Vos ergo adhuc, di immortales, invoco: sic reclusuri estis maria? obstate potius. Ne Priami quidem liberos immolaturus es. Describe nunc tempestatem. omnia ista patimur, nec parricidium fecimus. Quod hoc sacrum est, virginis deae templo virginem occidere? libentius hanc sacerdotem habebit quam victimam. CORNELI HISPANI. Infestae sunt, inquit, tempestates et saeviunt maria; neque adhuc parricidium feci. ista maria, si numine suo deus regeret, adulteris clauderentur. MARVLLI. Si non datur nobis ad bellum iter, revertamur ad liberos. ARGENTARI. Iterum in malum familiae nostrae fatale revolvimur: propter adulteram fratris liberi pereunt. Ista mercede nollem reverti. At Priamus bellum pro adultero filio gerat. 3 Divisio. Hanc suasoriam sic divisit FVSCVS, ut diceret, etiamsi aliter navigare non possent, non esse faciendum, et sic tractavit, ut negaret faciendum, quia homicidium esset, quia parricidium, quia plus impenderetur quam peteretur: peti 〈adulteram〉, impendi Iphigeniam; vindicari adulterium, committi parricidium. deinde dixit, etiamsi non immolasset, navigaturum; illam enim moram naturae, maris et ventorum. deorum voluntatem ab hominibus non intellegi.

1 splendensque B2V splendesque AB | occurrente Gertz, Novák occurret (-it V) de α occupata B2 2 in lucem reddit AB in lucem redit V in vicem redit B2 lucem reddit Kiessl. vicem reddit Burs. 3 ipsa α ista Haase ipsius ea Schulting ‖ 4 at V ad AB ‖ 5 〈aliter〉 ante vindicare suppl. dubit. Gertz ‖ 6 〈ergo〉 ante victa suppl. Gertz | parcam B2V pargam AB parendum D | adhuc α ab hoc Gertz ‖ 8 ergo α ego Kiessl. erga Linde, Gertz | adhuc Kiessl., C.F.W. Müll. adhunc α ad hanc D del. Ribbeck ad haec Faber, ‘vg’ Müll. nunc Diels hunc Linde, Gertz | di immortales Faber diemmortales α diem immortales recc. | 〈si〉 ante sic suppl. Linde ‖ 9 obstate α obserate Gertz obstruite Thomas absistite Linde | 〈adulteris〉 post potius suppl. Lucarini ‖ 11 virginis deae templo α virgini deae extemplo dubit. Kiessl. ‖ 16 〈aliter〉 post nobis suppl. Gertz ‖ 18 fratris V fratres AB | nollem α nollem 〈eam〉 Kiessl. nolo illam Müll. | at B2V ad AB ‖ 19 gerat α -it Gron. 21 navigare V -ri AB | possent α -et Burs. | et α hoc Müll. id Gertz | sic B2V2 si α ‖ 22 quia3 vg quo α quod Gertz ‖ 23 peti ed. Rom. -it α -itur D | adulteram suppl. ed. Rom., 〈Helenam〉 Wehle 25 ventorum α ventorum 〈esse〉 D ventorum 〈deberi〉 Gertz

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Suasoria 3, 3 – 5 | 121

Hoc CESTIVS diligenter divisit: dixit enim deos rebus humanis non interponere arbitrium suum. si interponant, voluntatem eorum ab homine non intellegi. ut intellegatur, non posse fata revocari. si non sint fata, nesciri futura. si sint, non posse mutari. 5 SILO POMPEIVS, etiamsi quod esset divinandi genus certum, auguriis 4 negavit credendum: quare ergo, si nescit, Calchas adfirmat? primum [et] scire se putat. hic communem locum dixit in omnes, qui hanc adfectarent scientiam. deinde: irascitur tibi: invitus militat. quaerit sibi tam magno testimonio apud omnes gentes fidem. 10 In ea descriptione, 〈quam〉 primam in hac suasoria posui, FVSCVS ARELLIVS Vergilii versus voluit imitari. valde autem longe petit et paene repugnante materia, certe non desiderante, inseruit. ait enim de luna: quae sive plena lucis suae est splendensque pariter assurgit in cornua, imbres prohibet, sive occupata nubilo sordidiorem ostendit orbem suum, non ante finit quam †vicem reddit†. at 5 15 Vergilius haec quanto et simplicius et beatius dixit: luna revertentes cum primum colligit ignes, si nigrum obscuro comprenderit aera cornu, maximus agricolis pelagoque parabitur imber. et rursus: 20

si … pura nec obtunsis per caelum cornibus ibit. solebat autem Fuscus ex Vergilio multa trahere, ut Maecenati imputaret. totiens enim pro beneficio narrabat in aliqua se Vergiliana descriptione placuisse, sicut in hac ipsa suasoria dixit: cur iste in eius ministerium placuit? cur hoc os deus

1 dixit B2V duxit AB ‖ 2 si V om. AB et si B2 ut Burs. ‖ 3 nesciri B2 sacri AB sacra V sacra〈ri〉 vel sacra 〈pro〉 V2, recc. ignorari τ obserari Novák ‖ 5 auguriis vg auguris α -uri V2, recc. ‖ 6 et α del. Müll. et 〈si〉 dubit. Burs. ‖ 7 〈nescit〉 post putat suppl. dubit. Burs., 〈et〉 Gertz, qui enuntiatum quaerit – fidem huc transp. ‖ 10 quam suppl. Burs. | primam Burs. -um α | posui Burs. potuit α del. A2V2 ‖ 11 repugnante ex -natae V -natae AB -nae A2 -natque B2 -nat D -nanti Gron. 12 materia Haase -iae AB -ie ex -iae V | desiderante τ -rant α -ranti D ‖ 13 pariter V pari AB cornua ed. Ven. -nu α | occupata α occurrente Gron. ‖ 14 vicem reddit α lucem reddit Kiessl. 〈in〉 lucem redit Håk. ‖ 20 si α sin recc. | versum implevit Müll. ‖ 24 iste in eius scripsi iste inter eius α ista in eius Schott triste inter nos eius Schulting iste in triste vel foedius Burs. iste vates et eius Gertz iste in interius Thomas iste interpres et eius Madvig iste inter eiusmodi Linde iste in interpretis Leo iste in Tiresiae Håk.

122 | Suasoria 3, 5 – 7

elegit? cur hoc sortitur potissimum pectus, quod tanto numine impleat? aiebat se imitatum esse Vergilium: ‘plena deo’. 6 Solet autem Gallio noster hoc aptissime ponere. memini una nos ab auditione Nicetis ad Messalam venisse. Nicetes suo impetu valde Graecis placuerat. quaerebat a Gallione Messala, quid illi visus esset Nicetes; Gallio ait: ‘plena 5 deo’. quotiens audierat aliquem ex his declamatoribus, quos scholastici caldos vocant, statim dicebat: ‘plena deo’. ipse Messala numquam aliter illum ab ignoti hominis auditione venientem interrogabat, quam ut diceret: ‘numquid plena 7 deo?’ itaque hoc ipsi iam tam familiare erat, ut invito quoque excideret. apud Caesarem cum mentio esset de ingenio Hateri, consuetudine prolapsus dixit: ‘et 10 ille erat plena deo’. quaerenti deinde, quid hoc esse vellet, versum Vergilii retulit et quomodo hoc semel sibi apud Messalam excidisset et numquam 〈non〉 postea potuisset excidere. Tiberius, ipse Theodoreus, offendebatur Nicetis ingenio; itaque delectatus est fabula Gallionis. hoc autem dicebat Gallio Nasoni suo valde placuisse; itaque fecisse illum, quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non 15 subripiendi causa sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci. esse autem in tragoedia eius: feror huc illuc, vae, plena deo. Iam vultis ad Fuscum revertar et descriptionibus eius vos satiem? satiabo ac potissimum eis, quas in simili huius tractatione posuit, cum diceret omnino non 20 concessam futurorum scientiam.

1 pectus Madvig poetis α poesis D Phoebus Gron. Pythius Kiessl. | quod α quo Gron. | tanto numine Diels tanto nemine AB tanto nomine V tantum non Kiessl., Leo, ‘vg’ Müll. | impleat Müll. praeeuntibus Leo (pectus quod 〈impleat? quo〉 tantum non impie) et Diels (impleatur) impie α inepte Ribbeck ‖ 2 se recc. si α | vergilium α Vergilianum Gron. ‖ 3 solet α solebat Gertz | hoc α haec D ‖ 4 – 5 placuerat α -uit D ‖ 5 visus recc. usus α ‖ 6 〈inde〉 ante quotiens suppl. Gertz scholastici B2 -asti α | caldos α caldeos B2 caludos V2 validos dubit. Håk. ‖ 7 illum α eum D | ab ignoti Haase agnovit α ab novi Burs. a novicii dubit. Håk. ‖ 8 interrogabat ‘vg’ Müll. -rogat α -rogatum p.c. V -rogavit Kiessl. | quam ut α 〈nihil aliud〉 quam ut D quemadmodum τ ‖ 9 tam recc. iam α del. Gertz ‖ 11 erat AB erit V errat dubit. Gertz | quaerenti V -rent AB -runt B2 | esse α sibi Schott | retulit α rettulit vg ‖ 12 excidisset V2 -isse α incidisset B2 | non suppl. Schulting, ante potuisset Gertz ‖ 13 Theodoreus D teodoris (ex -us B) AB theodorus V ‖ 14 fabula B2V2D pabula α | hoc autem α hanc eandem Gruppe ‖ 16 subripiendi B2V subrupiendi AB | mutuandi Kiessl. mutandi α imitandi voluit A2, ‘vg’ Müll. aemulandi Baehrens ‖ 18 vae Ribbeck ue α ceu Wissowa ut ‘vg’ Müll. ‖ 19 vultis B2 multis AV ultis B 〈si〉 vultis Schulting 〈ut〉 vultis Gertz sultis dubit. Müll. | satiem Burs. satium AB om. V statim B2 affatim Gertz | ac Haase haec α et τ ‖ 20 quas (ex quasi) V quasi AB | simili huius Vahlen similitudinis α verisimilitudinis Schulting simili Faber similis quaestionis dubit. Burs. simili huic dubit. Müll.

Suasoria 4, 1 – 2 | 123

Deliberat Alexander Magnus, an Babyloniam intret, cum denuntiatum esset illi responso auguris periculum

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ARELLI FVSCI. Quis est, qui futurorum scientiam sibi vindicet? novae 1 oportet sortis is sit, qui iubente deo canat, non eodem contentus utero, quo imprudentes nascimur. quandam imaginem dei praeferat, qui iussa exhibeat dei. sic est: tantum enim regem tantique rectorem orbis in metum cogit. magnus iste et supra humanae sortis habitum sit, cui liceat terrere Alexandrum; ponat iste suos inter sidera patres et originem caelo trahat; agnoscat suum vatem deus. non eodem vitae fine, aetate magna, extra omnem futurorum necessitatem caput sit, quod gentibus futura praecipiat. si vera sunt ista, quid ita non huic studio servit omnis aetas? cur non ab infantia rerum naturam deosque qua licet visimus, cum pateant nobis sidera et interesse numinibus liceat? quid ita inutili desidemus facundia aut periculosis atteritur armis manus? at melius alio pignore quam futuri scientia ingenia surrexerint? qui vero in media se, ut praedi- 2 cant, fatorum misere pignora, natales inquirunt et primam aevi horam omnium annorum habent nuntiam. quo ierint motu sidera, in quas discucurrerint partes: contrane deus steterit an placidus adfulserit Sol; in plenam lucem initia surgentis acceperit an abdiderit in noctem obscurum caput Luna; Saturnus nascentem an ad bella Mars militem, an negotiosum in quaestus Mercurius exceperit; an blanda adnuerit nascenti Venus, an ex humili in sublime Iuppiter tulerit,

1 an B2V a AB | Babyloniam B2V -onia AB -ona Kiessl. ‖ 4 is AB om. V | contentus ex -temptum V2 -temtum AB -tentus sit D -teptus τ ‖ 6 sic α necesse Gertz | in metum B2 in metu α 〈esse〉 in metu D ‖ 7 et V2 est α | habitum α habitum 〈oportet〉 D ‖ 8 suos V vos AB ‖ 9 eodem α eodem 〈claudatur〉 D | aetate magna α del. Haase, Konitzer aetatem agat Walter 〈non〉 aetate maligna Gertz aetate 〈plus quam hu〉mana. Reitzenstein aetate magna 〈caelestia tollatur ad signa〉 Bieler futurorum α fatorum Schulting ‖ 10 gentibus α regentibus Huelsenbeck | quid recc. quin α 12 visimus V visuimus (in B -i- sup. -um- superscr.) AB quaesivimus Ribbeck visum imus? Gertz visu subimus Walter vi eruimus Hauler vi subimus Bieler discimus vel via subimus Håk. prosequimur Huelsenbeck | 〈in〉 ante inutili suppl. Novák ‖ 13 desidemus α -sudamus Kiessl. -sidet animus Huelsenbeck | at V ad AB an V2 ‖ 14 qui ed. Frob. quid α ‖ 15 pignora α signa Håk. verba natales inquirunt post habent nuntiam transp. Konitzer | primam aevi horam Haase prima melioram (-rem V) α -iora in B2 -iorum recc. primam vitae horam Novák | 〈veram〉 post horam suppl. Dräger ‖ 16 habent α -entes Haase | nuntiam AB -ia V initia recc. | 〈quaerunt〉 ante quo suppl. Ribbeck | motu B2V moto AB ‖ 17 deus α deos B2 dirus Gertz durus Thomas radiis Huelsenbeck | steterit V iste terint AB restiterit Huelsenbeck | in α an recc. del. Thomas inde Gertz | plenam lucem α plena lucis Huelsenbeck | initia B2 invitia AB an vitia V an initia vg an in vitia Bieler ‖ 17 – 18 surgentis α sugentis Burkard ‖ 18 acceperit Aurelius -erint α | in noctem V innocentem AB in noctis Huelsenbeck | 〈satorem ad cultum agrorum〉 ante Saturnus suppl. Gertz | 〈ad cultum agrorum〉 post nascentem suppl. Konitzer, 〈ad sementem〉 Eussner, 〈annonae praebendae agricolam ediderit〉 Bieler ‖ 19 Mars ex maris V maris AB martis B2 ‖ 20 sublime B2V sublim AB | tulerit V -erint AB attulerint B2

124 | Suasoria 4, 2 – 5

3 aestimant. tot circa unum caput tumultuantis deos! futura nuntiant? plerosque dixere victuros, et nihil metuentis oppressit dies. aliis dedere finem propincum, at illi superfuere egentes inutili animae. felices nascentibus annos spoponderunt, at Fortuna in omnem properavit iniuriam. incertae sortis vivimus enim. unicuique ista pro ingenio finguntur, non ex fide. Erit aliquis orbe toto locus, qui 5 te victorem non viderit? Babylonia cluditur, cui patuit Oceanus? 4 Divisio. In hac suasoria nihil aliud tractasse FVSCVM scio quam easdem quas supra retuli quaestiones ad scientiam futuri pertinentis. illud, quod nos delectavit, praeterire non possum. declamitabat Fuscus Arellius controversiam de illa, quae, postquam ter mortuos pepererat, somniasse se dixit, ut in luco 10 pareret. valde in vos contumeliosus fuero, si totam controversiam, quam ego intellego me dicere *** 〈quam cum〉 Fuscus declamaret et a parte avi non agnoscentis puerum tractaret locum contra somnia et deorum providentiam, et male de magnitudine eorum dixisset mereri eum, qui illos circa puerperas mitteret, summis clamoribus illum dixit Vergili versum: 15 scilicet is superis labor est, ea cura quietos sollicitat.

5 auditor Fusci quidam, cuius pudori parco, cum hanc suasoriam de Alexandro ante Fuscum diceret, putavit aeque belle poni eundem versum et dixit:

1 tumultuantis α -antes B2 nuntiantes Schulting ‖ 2 〈diu〉 ante dixere suppl. Gertz | et α at C.F.W. Müll. | metuentis α -entes B2 -entis 〈mox〉 Born. | dies α deus Linde | propincum AB propinquum V ‖ 3 egentes inutili animae α ingementes inutili animae Håk. agentes inutilis animas Haase, Ribbeck 〈non〉 egentes inutilis animae Haase | annos V ad nos AB ‖ 4 at B2V ad AB | sortis vivimus enim α enim sortis vivimus V2, recc. sortis vivimus omnes Konitzer sortis vivimus [enim] Castiglioni ‖ 5 fide Burs. vide AV ide B inde B2 〈scientiae〉 supra vide superscr. V2 siderum scientia Opitz scientia. vide Madvig | 〈eruuntur〉 post fide suppl. Gertz, 〈proferuntur〉 Novák | toto V tot A tota a.c. B ‖ 6 victorem B2V -ore AB | Babylonia B2 -oni α -one V2D 〈e〉 -onia τ -on ei Freinsheim -onne Haase | cluditur α clauditur B2V2 cludetur Gertz excluditur Bongars ‖ 8 retuli α rettuli vg | nos α vos dubit. Kiessl. ‖ 9 delectavit α -abit dubit. Kiessl. | declamitabat α -clamabat D -clamitarat Müll. -clamitaverat Schulting ‖ 11 〈posuero〉 post controversiam suppl. Faber ‖ 12 me α vos Edward 〈memoria vos tenere, cantavero. hanc cum a religione orsus, ut solebat saepissi〉me Bieler | 〈tenere, voluero〉 post me suppl. Novák | dicere α scire 〈dixero〉 Schulting scire 〈fusius exposuero〉 Gertz dicere 〈vos nolle, exposuero〉 Stramaglia dicere 〈posse, exposuero〉 Schenkl, Müll. | quam suppl. Schenkl, cum Faber 〈hanc ergo cum〉 ib. suppl. Gertz, 〈cum autem〉 Håk. | 〈cum〉 post Fuscus suppl. Schulting, 〈ergo, cum eam〉 Novák | a parte avi Faber aperte aut α a parte viri Gertz ‖ 14 puerperas V2, recc. puerperos α ‖ 19 putavit ed. Ven. -bit α -bat recc.

Suasoria 4, 5 – 5, 1 | 125

scilicet is superis labor est, ea cura quietos sollicitat. Fuscus illi ait: si hoc dixisses audiente Alexandro, scisses apud Vergilium et illum versum esse: 5

capulo tenus abdidit ensem. et quia soletis mihi molesti esse de Fusco, quid fuerit, quare nemo videretur dixisse cultius, ingeram vobis Fuscinas explicationes. dicebat autem suasorias libentissime et frequentius Graecas quam Latinas. HYBREAS in hac suasoria dixit: οἷον ἔσχηκε Βαβυλὼν μάντιν ὀχύρωμα.

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Deliberant Athenienses, an tropaea Persica tollant Xerse minante rediturum se, nisi tollerentur

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ARELLI FVSCI. Pudet me victoriae vestrae, si fugatum creditis Xersem, ut 1 reverti possit. tot caesa milia, nihil ex tanta acie relictum minanti, nisi quod vix fugientem sequi possit; totiens mersa classis. Quid Marathona, quid Salamina 15 referam? pudet dicere: dubitamus adhuc, an vicerimus. Xerses veniet? nescio quomodo languet circa memoriam iacturae animus et disturbata arma non repetit. prior enim metus futuri pignus est, et amissa, ne audeat, amissurum monent. ut interdum in gaudia surgit animus et spem ex praesenti metitur, ita adversis frangitur. omnis sistit animum dies, ubi ignominia spem premit, ubi 20 nullam meminit aciem, nisi qua fugerit; errat circa damna sua, et quae male expertus est vota deponit. Si venturus esset, non minaretur. suis ira ardet 3 et V te AB ‖ 5 abdidit ensem V abdit tensem AB ‖ 6 mihi B2V mi AB ‖ 9 ‘Graeca emend. Muretus’ Müll. eCXN BaBYauIN aNTIN OXYPWMa vel. sim. α 10 tropaea vg eropea A tropea B -phea V semper tropaea scripsi, quamquam α saepius formam trophea (singulis locis -pea, -phaea) praebet | xerse BV (sic semper V, saepe B, raro A) xerxe A semper Xerses scripsi | minante B2V minate AB ‖ 11 tollerentur AV -eretur B -antur B2 ‖ 12 vestrae α nostrae Lucarini | si AB sic V si 〈sic〉 C.F.W. Müll. et alii si 〈ita〉 dubit. Burs. ‖ 12 – 13 verba fugatum – possit parenthesi inclus. Petschenig, Studemund ‖ 12 Xersem α -en recc. ‖ 17 pignus Schott regnus α regni is recc. augur Huelsenbeck | est et Haase esset α est Faber ‖ 18 interdum α inter bona Lucarini | in gaudia α in gaudio Jahn gaudio C.F.W. Müll. | 〈metu〉 ante metitur dubit. suppl. Huelsenbeck ‖ 19 omnis α omne Håk. | sistit Thomas est sit α aest situ recc. destituit Schott deficit Gertz, Linde destruit Burs. deserit vel compescit Novák | dies α spes Schott fides Eussner vis Linde | ubi1 α del. dubit. Gertz ‖ 20 qua AB quae V | errat α haeret Cornelissen 21 suis α saevis Schulting

126 | Suasoria 5, 1 – 5

2 ignibus et in pacta non solvitur. Non denuntiaret, si venturus esset, neque armaret nos nuntio nec instigaret victricem Graeciam nec sollicitaret arma felicia; magis superveniret improvidis iam et arma indenuntiata moveret. Quantumcumque Oriens valuit, primo in Graeciam impetu effusum est. hoc ille numero ferox et in deos arma tulerat. extincta tot ante Xersem milia, tot sub ipso iacuerunt. nulli nisi qui fugerunt supersunt. quid dicam Salamina? quid Cynaegiron referam et te, Polyzele? et hoc agitur, an viceris! Haec ego tropaea dis posui, haec in totius conspectu Graeciae statui, ne quis timeret Xersen minantem. me miserum! pugnante Xerse tropaea posui; fugiente tollam? nunc Athenae vincimur: non tantum credetur redisse sed vicisse Xerses. non potest Xerses nisi 3 per nos tropaea tollere. credite mihi, difficile est attritas opes recolligere et spes fractas novare et paenitenda acie in melioris eventus fiduciam surgere. CESTI PII. ‘Inferam’ inquit ‘bellum’; alia mihi tropaea promittit. Potest maior venire quam victus est? ARGENTARI. Non pudet vos? pluris tropaea vestra Xerses aestumat quam vos. Divisio. FVSCVS sic divisit: etiamsi venturus est Xerses, nisi tollimus, non 4 sunt tropaea tollenda: confessio servitutis est iussa facere. si venerit, vincemus. hoc non est diu colligendum: de eo dico ‘vincemus’ quem vicimus. sed ne veniet quidem. si venturus esset, non denuntiaret. fractus est et viribus et animo. CESTIVS et illud adiecit, quod in prima parte tractavit, non licere Atheniensibus tropaea tollere: commune in illis ius totius Graeciae esse, commune bellum fuisse, communem victoriam. deinde, ne fas quidem esse: numquam factum, ut quisquam consecratis virtutis suae operibus manus adferret. ista tropaea non sunt Atheniensium, deorum sunt: illorum bellum fuit, illos Xerses vinculis, illos sagittis persequebatur. haec omnia ad impiam et superbam Xersis 5 militiam pertinent. ecquid ergo bellum habebimus? habuimus, et si Xersem 3 iam et Burs. nam et α etiam C.F.W. Müll. ut antea Gertz etiam et Rebling, Håk. magis et Huelsenbeck | 〈antea〉 ante arma dubit. suppl. Burs., 〈ante〉 ib. Novák, 〈antea〉 post arma Schulting | moveret α -verat dubit. Burs. -vit Gron. admoveret Håk. ‖ 4 ille ed. Ven. illo α 5 extincta tot ante V extincto tante (tanto B2) AB | xersem D serse AB xerse B2V xersen L 6 iacuerunt Burs. -cerent α -cent τ -ceret 〈et〉 D ‖ 7 viceris α -cerimus Otto -ceritis dubit. Kiessl. -cerim Gertz ‖ 7 – 8 dis posui C.F.W. Müll. deposui α deis posui Otto de 〈te〉 posui Kiessl. de 〈Persis〉 posui Thomas ideo posui Schulting dis vovi Gertz ‖ 9 Athenae V cathene (-nae B) AB 12 〈ex〉 post et suppl. Schulting ‖ 13 Cestii Pii BV om. A ante quantumcumque (l. 4) dubit. transp. Gertz ‖ 14 〈quom〉 post quam suppl. Linde, 〈antequam〉 Schenkl ‖ 15 aestumat B2V aestum ad AB 19 eo α eodem Faber | vincemus α del. Gertz ‖ 20 et1 V sed AB ‖ 21 adiecit Kiessl. dicit α dixit Schult. ‖ 24 consecratis α -tum dubit. Burs. | manus ed. Frob. munus α minas B2 | adferret ed. Frob. ferret AB auferret V, recc. inferret Jahn ‖ 26 – 27 verba haec – pertinent del. Konitzer 26 haec α hic Kiessl. ‖ 27 pertinent ecquid V pertinent ea quid AB pertinent et quid B2 pertinentia. quid Kiessl. | habuimus α habebimus ‘vg’ Müll. | 〈habebimus〉 post et suppl. Diels

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Suasoria 5, 5 – 8 | 127

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removebis, invenietur alius hostis. numquam magna imperia otiosa. enumeratio bellorum prospere ab Atheniensibus gestorum. deinde, non erit bellum; Xerses enim non veniet. multo timidiores esse, qui superbissimi fuerint. novissime, ut veniat, cum quibus veniet? reliquias victoriae nostrae colliget. illos adducet, quos priore bello quasi inutiles reliquias novit, si qui ex fuga consecuti sunt. nullum habet militem nisi aut fastiditum aut victum. ARGENTARIVS his duobus contentus fuit: aut non venturum Xersen aut non 6 esse metuendum, si venerit. his solis institit et illud dixit, quod exceptum est: ‘tollite’ inquit ‘tropaea’; si vicisti, quid erubescis? si victus es, quid imperas? locum movit non inutiliter: iudicare quidem se neque Xersen neque iam quemquam Persarum ausurum in Graeciam effundi, sed eo magis tropaea ipsis tuenda, si quis umquam illinc venturus hostis esset, ut conspectu tropaeorum animi militum accenderentur, hostium frangerentur. BLANDVS dixit: repleat ipse prius Atho et maria in antiquam faciem reducat. 7 apparere vult posteris quemadmodum venerit: appareat quemadmodum redierit. TRIARIVS omni dimissa divisione tantum exultavit, quod Xersen audiret venire ad se: ipsis novam victoriam, nova tropaea. SILO POMPEIVS venusto genere sententiae usus est: ‘nisi tollitis’ inquit ‘tropaea, ego veniam’; hoc ait Xerses: nisi haec tropaea tollitis, alia ponetis. Alteram partem solus GALLIO declamavit et hortavit ad tollenda tropaea. 8 dixit gloriae nihil detrahi: mansuram enim memoriam victoriae, quae perpetua esset. ipsa tropaea et tempestatibus et aetate consumi. bellum suscipiendum fuisse pro libertate, pro coniugibus, pro liberis; pro re supervacua et nihil nocitura, si fieret, non esse suscipiendum. hic dixit utique venturum Xersen et descripsit adversus ipsos deos tumentem. deinde, habere illum magnas vires:

1 removebis α -veris Schulting | 〈sunt〉 post otiosa suppl. Novák | enumeratio Kiessl., Haase enim A omnium BV 〈enumeratio〉 omnium dubit. Håk. 〈hic mentio〉 omnium Novák ‖ 3 〈victos〉 post esse suppl. Novák | qui ‘edd. vett.’ Håk. quam α quom Ribbeck qui 〈ante〉 Gertz ‖ 5 [reliquias] noluit sequi: [ex fuga consecuti sunt] Konitzer | reliquias novit α reliquerat aut si vel reliquit domi et Burs. reliquias noluit et Haase [reliquias] noluit et Wb. reliquerat domi et Håk. reliquias movit Faber removit et Schulting removit Hertz movit et Kuhn reliquit aut vel [reliquias] ducere noluit et Novák reliquit; ... bit Madvig [reliquias] noluit sequi et Walter | si qui BV sequi A consecuti α -stituti Burs. -servati Diels -quisiti Håk. ‖ 7 Argentarius his recc. -rii usis α -ius is B2 8 exceptum V2 -certum α et certum B2 excerptum D ‖ 10 locum AB iocum V ‖ 11 effundi, sed eo vg effundisse deo (ideo V) α effundere ideo B2 effundisse se ideo D effundi se ideo τ effundere; sed eo Schott effundere 〈copias〉; sed eo Novák | ipsis V ipsi AB ‖ 13 militum α civium Gertz militum 〈suorum〉 Otto | accenderentur B2V -derent AB ‖ 14 ipse V ipse se AB | Atho Burs. hatos AB hiatus V ‖ 18 ad se α at se B2 adesse Haase ‖ 19 sententiae τ -ia α ‖ 20 alia τ illa BV -am A 21 hortavit (or- AB) α hortatus est L hortatus vel hortans Gertz ‖ 25 fieret α de- Sauppe | post suscipiendum suppl. 〈fuisse pro libertate〉 et del. B

128 | Suasoria 5, 8 – 6, 3

neque omnes illum copias in Graeciam perduxisse nec omnes in Graecia perdidisse. timendam esse fortunae varietatem. exhaustas esse Graeciae vires nec posse iam pati alterum bellum; illi esse immensam multitudinem hominum. hoc loco disertissimam sententiam dixit, quae vel in oratione vel in historia 5 ponitur: diutius illi perire possunt quam nos vincere.

6

Deliberat Cicero, an Antonium deprecetur

1

Q. HATERI. Sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem. Laudandus erit tibi Antonius; in hac causa etiam Ciceronem verba deficiunt. Crede mihi: cum diligenter te custodieris, faciet tamen Antonius, quod Cicero tacere non possit. Si intellegis, Cicero, non dicit ‘roga, ut 10 vivas’ sed ‘roga, ut servias’. Quemadmodum autem hunc senatum intrare poteris, exhaustum crudeliter, repletum turpiter? intrare autem tu senatum voles, in quo non Cn. Pompeium visurus, non M. Catonem, non Lucullos, non Hortensium, non Lentulum atque Marcellum, non tuos, inquam, consules Hirtium ac Pansam? Cicero, quid in alieno saeculo tibi? iam nostra peracta sunt. 15 2 M. Cato, solus maximum vivendi moriendique exemplum, mori maluit quam rogare (nec erat Antonium rogaturus), et illas usque ad ultimum diem puras a civili sanguine manus in pectus sacerrimum armavit. Scipio, cum gladium penitus abdidisset, quaerentibus qui in navem transiverant militibus imperatorem ‘imperator’ inquit ‘bene se habet’; victus vocem victoriae misit. ‘Vetat’ 20 inquit ‘Milo rogare iudices’; i nunc et Antonium roga. 3 PORCI LATRONIS. Ergo loquitur umquam Cicero, ut non timeat Antonius, loquitur umquam Antonius, ut Cicero timeat? Civilis sanguinis Sulla〈na〉 sitis in civitatem redit, et ad triumviralem hastam pro vectigalibus civium Romanorum 1 〈quas adduxerat〉 post omnes2 suppl. Lucarini ‖ 3 hominum V homini AB ‖ 4 quae α 〈dignam〉 quae Müll. quae 〈digna est, quae〉 Novák ‖ 5 ponitur α -atur Schulting poni meretur Walter 〈apte〉 ponetur Gertz 6 an V om. AB ‖ 7 Hateri Müll. -ius α ‖ 8 tibi recc. ubi α ‖ 9 deficiunt α -ient recc. ‖ 12 turpiter B2V turoiter AB ‖ 13 〈es〉 post visurus suppl. ed. Frob., 〈sis〉 C.F.W. Müll. ‖ 14 inquam α 〈tuos〉 inquam vel denique Gertz ‖ 15 ac B2V haec A hac B et D ‖ 16 moriendique AB monendique V 17 nec erat B2V negerat A negerad B | puras V curas AB ‖ 18 sanguine B2V -nem AB | in pectus sacerrimum Burs. insectus acerrimem AB infectus acerrime V ‖ 19 penitus Burs. ponitur AV ponitus B in pectus Frensheim 〈in pectus〉 vel 〈pectori〉 penitus Gertz | abdidisset B2 -sse α transiverant α -ierant vg ‖ 20 victoriae (-ie A) misit α -is emisit B2 ‖ 21 inquit α inquis Otto inquisti Gertz | 〈me〉 ante Milo suppl. Studemund | rogare α -ri ‘vg’ Müll. | i Schott u α | nunc V nuc AB | roga AB -at V ‖ 23 Sullana vg silla A sylla BV syllae B2 Syllana V2 ‖ 24 civitatem B2V2 -te AV vitatem B | redit α rediit Otto, Gertz | civium Romanorum recc. cives romani α

Suasoria 6, 3 – 5 | 129

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mortes locantur. unius tabellae albo Pharsalica ac Mundensis Mutinensisque ruina vincitur. consularia capita auro rependentur. tuis verbis, Cicero, utendum est: ‘o tempora, o mores!’ Videbis ardentes crudelitate simul ac superbia oculos; videbis illum non hominis, sed belli civilis vultum; videbis illas fauces, per quas bona Cn. Pompei transiverunt, illa latera, illam totius corporis gladiatoriam firmitatem; videbis illum pro tribunali locum, quem magister equitum, cui ructare turpe erat, vomitu foedaverat. supplex accadens genibus deprecaberis et ore, cui se debet salus publica, humilia in adulatione verba summittes? pudeat Verrem quoque: proscriptus fortius perit. CLAVDI MARCELLI AESERNINI. Occurrat tibi Cato tuus, cuius a te laudata 4 mors est. Quicquam ergo tanti putas, ut vitam Antonio debeas? CESTI PII. Si ad desiderium populi respicis, Cicero, quando perieris, parum vixisti; si ad res gestas, satis vixisti; si ad iniurias Fortunae et praesentem rei publicae statum, nimium diu vixisti; si ad memoriam operum tuorum, semper victurus es. POMPEI SILONIS. Scias licet tibi non expedire vivere, si Antonius permittit, ut vivas. Tacebis ergo proscribente Antonio et rem publicam laniante, et ne gemitus quidem tuus liber erit? malo populus Romanus mortuum Ciceronem quam vivum desideret. TRIARI. ‘Quae Charybdis est tam vorax? Charybdim dixi? quae, si fuit, 5 animal unum fuit. vix me dius fidius Oceanus tot res tamque diversas uno tempore absorbere potuisset.’ huic tu saevienti putas Ciceronem posse subduci? ARELLI FVSCI patris. Ab armis ad arma discurritur; foris victores domi trucidamur, dum in sanguine intestinus hostis incubat. quis non hoc populi Romani statu Ciceronem, ut vivat, cogi putat? Rogabis, Cicero, turpiter Antonium, frustra. Non te ignobilis tumulus abscondet; idem virtuti tuae, qui

1 unius tabellae Gron. iniusta bella (-llam A) α ‖ 2 rependentur α -duntur ed. Ven. | Cicero BV om. A ‖ 3 〈illos〉 post videbis suppl. Drechsler ‖ 5 transiverunt α -ierunt T | gladiatoriam τ clamatoriam α ‖ 6 locum quem Schott loco quo α | magister AV 〈modo〉 magister B ‖ 6 – 7 cui ructare turpe erat Schott cum raptaretur pererat (preerat V) α ‖ 7 accadens V accades A accadar B accidens vg | genibus V cenibus AB | et α eo Haase et 〈eo〉 Otto ‖ 8 adulatione α -nem V2 9 Verrem α Verres Kiessl. | quoque ed. Rom. quodque α | perit BV parit A periit Burs. patitur Gertz ‖ 10 Claudi vg praeeunte Faber (Claudii) CLp A Cl B CIRI V | Marcelli Faber marylli α | tuus cuius recc. tusculus α ‖ 11 mors B2V mor AB ‖ 12 quando B2V quanto AB quando〈que〉 Schott quando〈cumque〉 Novák ‖ 13 vixisti1 B2V2 vicisti α ‖ 17 rem publicam B2V re publica AB | et2 α del. Kiessl. at Otto ‖ 20 quae1 V2, recc. quod α ‖ 22 absorbere B2 -solvere α ‖ 23 domi anon. apud Schott dum α ‖ 24 dum α domi Schott | in sanguine α nostro sanguini Gertz domestico sanguini Castiglioni | non α del. van der Vliet ‖ 25 vivat α 〈non〉 vivat Müll. vivere desinat Thomas | 〈posse〉 post cogi suppl. van der Vliet ‖ 26 〈rogabis〉 ante frustra suppl. Thomas, 〈et〉 Schulting | 〈nec〉 ante idem suppl. Madvig, Usener | virtuti α -tis vg | qui α qui 〈vitae〉 D2, Morgenstern 〈vitae〉que Madvig

130 | Suasoria 6, 5 – 8

finis est immortalium; humanorum operum custos memoria, quae magni viri

6 vita perpetua est, in omnia te saecula sacratum dabit. nihil aliud intercidet quam corpus fragilitatis caducae, morbis obnoxium, casibus expositum, proscriptionibus obiectum. animus vero divina origine haustus, cui nec senectus ulla nec mors, onerosi corporis vinculis exsolutus ad sedes suas et cognata sidera recurrit. Et tamen, si ad aetatem annorumque numquam observatum viris fortibus numerum respicimus, sexaginta supergressus es, nec potes videri non nimis vixisse, qui moreris rei publicae superstes. Vidimus furentia toto orbe civilia arma et post Italicas Pharsaliasque acies Romanum sanguinem hausit Aegyptus. quid indignamur in Cicerone Antonio licere? in Pompeio Alexandrino licuit. at non sic occiduntur, qui ad indignos confugiunt? CORNELI HISPANI. Proscriptus est ille, qui tuam sententiam secutus est. 7 tota tabula tuae morti proluditur. alter fratrem proscribi, alter avunculum patitur. quid habes spei? ut Cicero periret, tot parricidia facta sunt. Repete agedum tot patrocinia, tot clientelas et maximum beneficiorum tuorum, ipsum: iam intelleges Ciceronem in mortem cogi posse, in preces non posse. ARGENTARI. Explicantur triumviralis regni delicata convivia, et popina tributo gentium instruitur. ipse vino et somno marcidus deficientes oculos ad capita proscriptorum levat. iam ad ista non satis est dicere: ‘hominem nequam!’ 8 Divisio. LATRO sic hanc divisit suasoriam: etiamsi impetrare vitam ab Antonio [non] potes, 〈non est〉 tanti rogare. deinde, impetrare non potes. in priore illa parte posuit, turpe esse cuilibet Romano, nedum Ciceroni, vitam rogare. hoc loco omnium, qui ultro mortem adprehendissent, exempla posuit.

1 immortalium α mortalium Gron. immortalis Gertz | humanorum α del. Madvig Romanorum, quam vocem post finis est transp. Thomas ‖ 1 – 2 quae magni viri vita perpetua est τ que manus viri vita perpetua est α quae mansuri vita perpetua est D qua magnis viris vita perpetua est vel qua magni viri vita perpetua est Burs. quae mansura vita perpetua est Gron. qua mansura vita perpetuo est Schulting quae mansura perpetua est Madvig quae magnis viris vitam perpetuat Kiessl. ‖ 2 saecula τ secuta α | sacratum α servatum Madvig ‖ 6 〈sibi〉 ante sidera suppl. Gertz recurrit AB -curret V ‖ 7 videri non α non videri Schulting ‖ 8 〈diu〉 post nimis suppl. Håk. superstes V supersites AB ‖ 9 Pharsaliasque V2 parsiliasque A parsaliasque BV pharsalicasque recc. ‖ 10 quid V quin AB quod C.F.W. Müll. | Cicerone AB -nem V | licere α licere 〈quod〉 B2 licere 〈id〉 C.F.W. Müll. licere. 〈sic〉 ‘vg’ Müll. licere 〈si〉 Haase | Pompeio α -um Gron. ‖ 11 at non V ad non AB an non V2 spadoni Gertz ‖ 12 〈senatus〉 post proscriptus suppl. Sh. Bailey | qui α qui〈cumque〉 Gertz si quis Schulting | 〈ordo〉 post secutus est suppl. Novák ‖ 13 proluditur α prae‘vg’ Müll. ‖ 14 〈tu〉 ante quid suppl. Gertz ‖ 14 – 15 repete agedum Haase, Burs. repete agecum α ‖ 15 ipsum α repetas tecum B2 repete age tecum D2 age repete tecum Petschenig, Otto 〈consulatum〉 ipsum Linde, Köhler ipsum 〈consulatum〉 Håk. 〈te〉 ipsum ‘vg’ Müll. 〈rem publicam〉 ipsam Schulting ‖ 20 divisit τ divisionem (-ne B) α divisit in B2 divisit omnem D impetrare AB -res V ‖ 21 potes, non est Burs. non potes α non potes non B2 non est τ ‖ 22 illa α illud dubit. Håk. | vitam V tam AB ‖ 23 omnium α hominum Gertz

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Suasoria 6, 8 – 10 | 131

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deinde, inutilis illi vita futura et morte gravior detracta libertate. hic omnem acerbitatem servitutis futurae descripsit. deinde, non futurum fidei impetratae beneficium. hic cum dixisset: ‘aliquid erit quod Antonium offendat, aut factum tuum aut dictum aut silentium aut vultus’, adiecit sententiam: ‘aut erit: placiturus es.’ ALBVCIVS aliter divisit. primam partem fecit moriendum esse Ciceroni, 9 etiamsi nemo proscriberet eum. haec insectatio temporum fuit. deinde, moriendum esse illi [se] sua sponte, quia moriendum esset, etiamsi mori noluisset. graves odiorum causas esse; maximam causam proscriptionis ipsum esse Ciceronem. et solus 〈ex〉 declamatoribus temptavit dicere non unum illi esse Antonium infestum. hoc loco dixit illam sententiam: si cui ex triumviris non es invisus, gravis es. et illam sententiam, quae valde excepta est: roga, Cicero, exora unum, ut tribus servias. CESTIVS sic divisit: mori tibi utile est, honestum est, necesse est, ut liber et 10 illibatae dignitatis consummes vitam. hic illam sententiam dixit audacem: ut numereris cum Catone, qui servire Antonio quidem nondum domino potuit. MARCELLVS hunc sensum de Catone melius: usque eone omnia cum fortuna populi Romani conversa sunt, ut aliquis deliberet, utrum satius sit vivere cum Antonio an mori cum Catone? sed ad divisionem Cesti revertamur. dixit utile esse, ne etiam cruciatus corporis pateretur: non simplici illum modo periturum, si in Antonii manus incidisset. et in hac parte cum descripsisset contumelias

1 inutilis V utilis AB vilis C.F.W. Müll. | illi recc. illis α illa T del. Haase tibi Burs. | vita α salus Gertz | futura α futura 〈proponitur〉 D futura 〈est〉 Gertz | gravior V -iora A -iore B ‖ 2 futurum fidei impetratae α futurum fide impetrata Burkard futurum fidele vitae impetratae Gron. futuram fidem impetranti Kiessl. futurum fidei imperturbatae Thomas futurum fidei intemeratae Müll. futurum bonae fidei impetratum Novák ‖ 3 〈semper〉 ante aliquid suppl. Trabandt ‖ 4 aut erit AB haud enim V aut, 〈si non〉 erit Håk. [aut erit] tantum morte Watt [aut erit] sic vel ita Wb. [erit] etiam Sh. Bailey aude perire Müll. hanc: 〈unde〉 enim 〈ei〉 Schulting aut ei omnino 〈non〉 dubit. Sander aude mori, et Gertz aude mori, si Pingel ‖ 4 – 5 placiturus α placaturus Eussner 7 eum Schulting cum α del. Novák | haec α hic Schulting 〈in〉 hac Gertz | fuit α del. Novák ‖ 8 esse illi Burs. est ille α est illi τ | se α del. Burs. | quia recc. quam α quom Kiessl. quoniam Haase 10 ex suppl. B2, recc. om. α e Burs. de Kiessl. ‖ 12 es et A2 esset α | illam sententiam Schulting illa sententia α ‖ 14 utile B2V ut ille AB ‖ 15 – 16 ut numereris α utinam morereris Köhler ‖ 16 Antonio quidem nondum (nundum B) domino potuit α Antonio quidem nondum domino 〈non〉 potuit Edward 〈ne〉 Antonio quidem nondum domino potuit Burs. 〈ne〉 Antonii quidem [nondum] domino, 〈nedum Antonio〉 potuit van der Vliet 〈ne〉 Antonii quidem [nondum] domino potuit, 〈nedum Antonio possit〉 Born. Antoni 〈ne domino〉 quidem [nondum domino] potuit Håk. ‖ 19 ad divisionem B2V a divisione AB | utile B2V ut ille AB 〈mori illi〉 utile Müll. utile 〈mori illi〉 dubit. Gertz ‖ 21 in Antonii manus ed. Frob. in Antonii manibus α [in] Antonii manibus Kiessl. incidisset et α incidisset B2D

132 | Suasoria 6, 10 – 13

insultantium Ciceroni et verbera et tormenta, dixit illam multum laudatam sententiam: tu mehercules, Cicero, cum veneris ad Antonium, mortem rogabis. 11 VARIVS GEMINVS sic divisit: hortarer te, si nunc alterutrum utique faciendum esset, aut moriendum aut rogandum, ut morereris potius quam rogares. et omnia complexus est, quae a ceteris dicta erant, sed aliquid et tertium: adhortatus est illum ad fugam. illic esse M. Brutum, illic C. Cassium, illic Sextum Pompeium. et adiecit illam sententiam, quam Cassius Severus unice mirabatur: quid deficiemus? et res publica suos triumviros habet. deinde etiam, quas petere posset regiones, percucurrit: Siciliam dixit vindicatam esse ab illo, Ciliciam a proconsule egregie administratam, familiares studiis eius et Achaiam et Asiam, Deiotari regnum obligatum beneficiis, Aegyptum et habere beneficii memoriam et agere perfidiae paenitentiam. sed maxime illum in Asiam et in Macedoniam hortatus est, in Cassi et in Bruti castra. itaque Cassius Severus aiebat alios declamasse, Varium Geminum vivum consilium dedisse. Alteram partem pauci declamaverunt; nemo 〈paene〉 ausus est Ciceronem ad 12 deprecandum Antonium hortari; bene de Ciceronis animo iudicaverunt. GEMINVS VARIVS declamavit alteram quoque partem et ait: spero me Ciceroni meo persuasurum, ut velit vivere. quod grandia loquitur et dicit: ‘mors nec immatura consulari nec misera sapienti’, non movet me; idiotam petit. ego belle mores hominis novi: faciet, rogabit. nam quod ad servitutem pertinet, non recusabit; iam collum tritum habet. et Pompeius illum et Caesar subiecerunt. veteranum mancipium videtis. et complura alia dixit scurrilia, ut illi mos erat. 13 divisit sic, ut diceret non turpiter rogaturum, non frustra rogaturum. in priore parte illud posuit, non esse turpe civem victorem rogari a victo. hic, quam multi rogassent C. Caesarem, hic et Ligarium. deinde, ne iniquum quidem esse Ciceronem satisfacere, qui prior illum proscripsisset. qui litem incohasset, ab eo

2 tu α tum Kiessl. ‖ 3 hortarer B2V ocarer A ortarer B | nunc Kiessl. non α del. Schott iam Burs. alterutrum recc. aliter utrum α ‖ 5 aliquid α addidit vg datur, inquit Gertz adiecit Håk. | et α est Haase ‖ 5 – 6 adhortatus α ad〈iecit:〉 hortatus Novák ‖ 6 Sextum α Sex. vg ‖ 8 quid α qui Jahn deficiemus α deficimus Burs. te faciemus Haase deficiet nos Linde ‖ 9 regiones V religiones AB 10 familiares V familiare AB ‖ 12 〈ire〉 ante in1 suppl. Drechsler ‖ 13 aiebat V2 audiebat α 14 Varium recc. varrum α | vivum α unum τ verum Watt fort. del. cens. Håk. ‖ 15 nemo 〈paene〉 Gertz nemo α 〈fere〉 nemo Håk. ‖ 17 〈de〉clamavit B2, recc. clamavit α ‖ 19 idiotam petit Burs. praeeunte Schulting (〈nec enim〉 idiotam petit vel potius idiotam petat) idiotam (ideo tam B) perit α 〈ne〉 ideo vitam petat Schulting ideo tamen 〈non〉 peribit Kiessl. idiotam gerit Müll. idiotam 〈iam〉 geret Gertz idiotam deceperit Walter ideo iam perit? Håk. 〈nec〉 ideo iam perit Morgenstern ideo tamen supererit Usener ‖ 20 faciet AV ficiet B 〈satis〉 faciet Gertz 21 subiecerunt BV -ierunt A -egerunt Novák, Usener ‖ 26 qui litem incohasset Burs. quietem (tum V qui et eum B2) iudicasset α qui hostem iudicasset Gron. qui et hostem iudicasset Otto qui aequum iudicasset Schott qui et aequum iudicasset Schulting | ab eo α ab reo Schulting a reo Usener, Gertz

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Suasoria 6, 13 – 15 | 133

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semper nasci satisfactionem, ac data rogari. deinde, non pro vita illum sed pro re publica rogaturum: satis illum sibi vixisse, rei publicae parum. in sequenti parte dixit exorari solere inimicos: ipsum exoratum a Vatinio Gabinioque reis adfuisse. facilius exorari Antonium posse, cui contentio esset, ne quis 〈e〉 tribus hanc tam speciosam clementiae occasionem praeriperet. fortasse ei irasci Antonium, qui ne tanti quidem illum putasset, quem rogaret. fuga quam pericu- 14 losa esset, cum descripsisset, adiecit: quocumque pervenisset, serviendum illi esse: ferendam esse aut Cassii violentiam aut Bruti superbiam aut Pompei stultitiam. Quoniam in hanc suasoriam incidimus, non alienum puto indicare, quomodo quisque se ex historicis adversus memoriam Ciceronis gesserit. nam, quin Cicero nec tam timidus fuerit, ut rogaret Antonium, nec tam stultus, ut exorari posse eum speraret, nemo dubitat excepto Asinio Pollione, qui infestissimus famae Ciceronis permansit. et is etiam occasionem scholasticis alterius suasoriae dedit. solent enim scholastici declamitare: deliberat Cicero, an salutem promittente Antonio orationes suas comburat. haec inepte ficta cuilibet 15 videri potest. Pollio vult illam veram videri; ita enim dixit in ea oratione, quam pro Lamia dedit. ASINI POLLIONIS. Itaque numquam per Ciceronem mora fuit, quin eiuraret suas esse, quas cupidissime effuderat orationes in Antonium; multiplicesque numero et accuratius scriptas illis contrarias edere ac vel ipse palam pro contione recitare pollicebatur. 1 semper nasci α expectari Usener | 〈qui laesisset〉 post semper suppl. Novák | ac data rogari Burs. ac dacto rogari A ac dato rogari BV audacter rogaret Traube audacter roganti vel rogantibus anon. satis dato rogari Usener 〈eum〉 aequo pacto rogare Wagner ac laesum rogari Schott ac pacem rogari Gertz 〈et victorem〉 a victo rogari Linde eo pacto 〈posse〉 rogari dubit. Müll. derecto rogari Thomas ac 〈veniam tempore〉 dato rogari dubit. Novák a coacto rogari Håk. a capto rogari Sh. Bailey ‖ 3 exoratum V2 exor(-hor- V)tatum α | a α del. Müll. | Gabinioque reis Gertz gaio quoque verri (verra A) α Gabinio Schott del. Wb. ‖ 4 adfuisse α ad〈futurum〉 fuisse Schulting | cui contentio Phillimore qui cum tertio (-ius B2V) α qui vel cum del. cens. Schulting, [qui] del. Watt IIIvir pro tertio scr. Schott 〈curaturus esset〉 post tertius esset suppl. Burs. | ne quis 〈e〉 tribus Faber ne quis tribus α ne quis 〈ex〉 tribus Burs. ne quis 〈sibi〉 〈e〉 tribus Phillimore reliquis III 〈viris〉 Kiessl. ‖ 5 praeriperet AB praeteriret V | fortasse ei C.F.W. Müll. fortasset AB fortasse V fortasse et B2 ‖ 6 qui ne B2V qui A quin B quia ne Jahn quod ne Gron. | illum V2 ullum α | quem BV quam A ‖ 10 hanc V hac AB | suasoriam AV -ia B ‖ 12 quin Gron. que α ‖ 13 posse eum Kiessl. possem AB posse A2B2V | qui in- V quin AB ‖ 15 declamitare Burs. -clamatores α -clamatores 〈ponere〉 D -clamare Novák ‖ 16 promittente B2V -entem AB | haec B2V hoc AB 17 illam V, corr. ex ullam B vel B2 ullari A | videri2 B2, recc. -ere α | dixit α dicit Schulting 18 dedit α edidit Schulting ‖ 19 Asini Pollionis α del. C.F.W. Müll. | per Ciceronem mora Burs. perficere nemora (nec mora V) α | eiuraret B2V eiura A eiurares B ‖ 20 suas esse α del. Gron. suas [esse] Müll. suas istas Schulting submisse Gertz | quas B2V quis AB ‖ 21 accuratius B2, recc. -satius α | illis V illas AB | vel ed. Rom. velut α ‖ 22 pollicebatur α -eretur Gertz

134 | Suasoria 6, 15 – 17

Ceteraque his alia sordidiora multo, ut tibi facile liqueret hoc totum adeo falsum esse, ut ne ipse quidem Pollio in historiis suis ponere ausus sit. huic certe actioni eius pro Lamia qui interfuerunt, negant eum haec dixisse – nec enim mentiri sub triumvirorum conscientia sustinebat – sed postea composuisse. 16 Nolo autem vos, iuvenes mei, contristari, quod a declamatoribus ad historicos transeo. satisfaciam vobis, et fortasse efficiam, ut his sententiis lectis solidis et verum habentibus recedatis. et quia hoc, si tamen, recta via consequi non potero, decipere vos cogar velut salutarem daturus pueris potionem sumpti poculi. Livius adeo retractationis consilium habuisse Ciceronem non dicit, ut neget tempus habuisse; ita enim ait: T. LIVI. Marcus Cicero sub adventum triumvirorum urbe cesserat pro certo 17 habens, id quod erat, non magis Antonio eripi quam Caesari Cassium et Brutum posse. primo in Tusculanum fugerat; inde transversis itineribus in Formianum ut ab Caieta navem conscensurus proficiscitur. unde aliquotiens in altum provectum cum modo venti adversi retulissent, modo ipse iactationem navis caeco volvente fluctu pati non posset, taedium tandem eum et fugae et vitae cepit regressusque ad superiorem villam, quae paulo plus mille passibus a mari abest, ‘moriar’ inquit ‘in patria saepe servata’. satis constat servos fortiter fideliterque paratos fuisse ad dimicandum; ipsum deponi lecticam et quietos pati quod fors iniqua cogeret iussisse. prominenti ex lectica praebentique immotam cervicem caput praecisum est. nec satis stolidae crudelitati militum fuit: manus quoque scripsisse aliquid in Antonium exprobrantes praeciderunt. ita

1 ceteraque α adieceratque C.F.W. Müll. atque Gertz | ut tibi α ut ibi Müll. ut cuilibet C.F.W. Müll. unde Gertz ut [tibi] Brakman ‖ 2 huic certe α ceterum huic Gertz ‖ 6 et α sed Gertz | lectis α inlecti dubit. Gertz | solidis α solida Håk. ‖ 7 habentibus B2V -enti AB habentia Håk. agentibus Madvig | 〈a scholasticis〉 ante recedatis suppl. Burs., 〈robur a scholasticis〉 Castiglioni, 〈a vanis et falsis〉 Schenkl | recedatis α recipiatis Håk. accedatis Gertz | et quia α sed quia vel aequiores vel ex via Burs. et quidem Sh. Bailey | si tamen D sitam α propositum Burs. del. Brakman, Wb. statim Håk. si cupiam Watt si iam Kiessl. si eam Gertz | recta (-tam A) via α [sitam] sua via Usener ‖ 8 cogar α cogor dubit. Gertz ‖ 8 – 9 sumpti (samti A sumti B) poculi (populi AB) α absinthiati poculi ed. Herv. et Rom. sum〈ma〉 parte poculi Schulting sumpto poculo vel sumptis poculis Burkard sumite pocula Müll. suavitate poculi Usener sumitote Mommsen 〈melle〉 ungit poculum Gertz ‖ 10 〈T.〉 ante Livius suppl. Usener | Livius ed. Rom. huius α | retractationis Schott detractionis A detractationis B detrectationis V ‖ 12 T. Livi Burs. L. Livi AB L. Livii V del. C.F.W. Müll., Otto | Marcus α M. vg | adventum AB -tu V ‖ 13 〈se〉 ante eripi suppl. recc., post magis transp. Kiessl., post eripi vg ‖ 14 Tusculanum V2 tuscula non α | fugerat B2 fuerunt α fugit V2 15 conscensurus B2V -urum AB ‖ 16 retulissent α rettulissent vg ‖ 19 post abest lacunam postul. Lucarini ‖ 20 quietos recc. quias AB quia V quidvis dubit. Burs. aequis animis C.F.W. Müll. 21 fors α sors recc. ‖ 21 – 22 immotam V2 -ta α ‖ 22 cervicem ABV2 -ice B2V | 〈id〉 post nec suppl. Müll., 〈hoc〉 Gertz ‖ 23 aliquid α del. Schaefer

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Suasoria 6, 17 – 20 | 135

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relatum caput ad Antonium iussuque eius inter duas manus in rostris positum, ubi ille consul, ubi saepe consularis, ubi eo ipso anno adversus Antonium quanta nulla umquam humana vox cum admiratione eloquentiae auditus fuerat. vix attollentes lacrimis oculos homines intueri trucidata membra civis poterant. Bassus Aufidius et ipse nihil de animo Ciceronis dubitavit, quin fortiter se 18 morti non praebuerit tantum, sed obtulerit: AVFIDI BASSI. Cicero paulum remoto velo postquam armatos vidit, ‘ego vero consisto’ ait; ‘accede, veterane, et, si hoc saltim potes recte facere, incide cervicem’. trementi deinde dubitantique ‘quid, si ad me’ inquit ‘primum venissetis?’ Cremutius Cordus et ipse ait Ciceronem, cum cogitasset, utrumne Brutum an 19 Cassium an Sex. Pompeium peteret, omnia illi displicuisse praeter mortem. CREMVTI CORDI. Quibus visis laetus Antonius, cum peractam proscriptionem suam dixisset esse (quippe non satiatus modo caedendis civibus sed differtus quoque), super rostra exponit. itaque, quo saepius ille ingenti circumfusus turba processerat, quae paulo ante coluerat piis contionibus, quibus multorum capita servaverat, tum per artus suos latus aliter ac solitus erat a civibus suis conspectus est, praependenti capiti orique eius inspersa sanie, brevi ante princeps senatus Romanique nominis titulus, tum pretium interfectoris sui. praecipue tamen solvit pectora omnium in lacrimas gemitusque visa ad caput eius deligata manus dextera, divinae eloquentiae ministra. ceterorumque caedes privatos luctus excitaverunt, illa una communem. BRVTTEDI NIGRI. Elapsus interim altera parte villae Cicero lectica per agros 20 ferebatur. sed ut vidit appropinquare notum sibi militem, Popillium nomine, memor defensum a se laetiore vultu aspexit. at ille victoribus id ipsum imputaturus occupat facinus caputque decisum nihil in ultimo fine vitae facientis, quod

3 eloquentiae V -tia AB del. Konitzer ‖ 4 〈madentes〉 post attollentes suppl. Håk., 〈prae〉 Gron. homines α humentes C.F.W. Müll. | trucidata α -dati Haase truncata Müll. detruncata Gertz | civis α cives C.F.W. Müll. eius ‘vg’ Müll. 〈tanti〉 civis Hertz ‖ 8 saltim AB saltem V ‖ 9 quid, si α quid? quasi Jahn ‖ 11 Ciceronem α -ni Burs. | cum cogitasset α secum cogitasse C.F.W. Müll. ‖ 12 〈sed〉 ante omnia suppl. C.F.W. Müll. | illi BV illa A ‖ 13 visis recc. lusis α ‖ 15 differtus B difertis A defectus V | quoque ed. Herv. quod A quodque B quotque V | super Haase sit (sint V) per α iussit per Burs. | exponit α -poni Burs. | saepius ille α saepissime Kiessl. saepissime ille dubit. Schenkl saepe vir ille Gertz 〈iterum ac〉 saepius ille dubit. Müll. ‖ 16 quae α quam Wb. | coluerat piis contionibus (conationibus AB) α caluerat piis contionibus Håk. 〈aures〉 praebuerat piis orationibus dubit. Müll. coluerat plenis contionibus dubit. Gertz coluerat praeclaris contionibus Ribbeck | 〈in〉 ante quibus suppl. Schulting, 〈sub〉 Gertz ‖ 17 〈eo〉 ante tum suppl. Gertz, 〈ibi〉 dubit. Håk. | suos latus α suos allatus B2 suos laceratus V2 sublatus Gertz suos 〈sub〉latus dubit. Håk. suos 〈di〉latus Lucarini singulos laceratus C.F.W. Müll. ‖ 18 praependenti Burs. -tendenti α -tenta Schulting -canenti Haase | capiti α capillo Gertz | inspersa Haase insponsa AB impensa V 19 sui α servi Kiessl. ‖ 20 caput V cat AB ‖ 21 deligata recc. -cata α

136 | Suasoria 6, 20 – 22

alterutram in partem posset notari, Antonio portat oblitus se paulo ante defensum ab illo. et hic voluit positi in rostris capitis miserabilem faciem describere, sed magnitudine rei obrutus est: 21 BRVTTEDI NIGRI. Ut vero iussu Antonii inter duas manus positum in rostris caput conspectum est, quo totiens auditum erat loco, dato gemitu et fletu maximae viri inferiae, nec, ut solet, vitam depositi in rostris corporis contio audivit, sed ipsa narravit: nulla non pars fori aliquo actionis inclutae signata vestigio erat, nemo non aliquod eius in se meritum fatebatur. hoc certe publicum beneficium palam erat illam miserrimi temporis servitutem a Catilina dilatam in Antonium. Quotiens magni alicuius mors ab historicis narrata est, totiens fere consummatio totius vitae et quasi funebris laudatio redditur. hoc, semel aut iterum a Thucydide factum, item in paucissimis personis usurpatum a Sallustio, T. Livius benignus omnibus magnis viris praestitit. sequentes historici multo id effusius fecerunt. Ciceroni hoc, ut Graeco verbo utar, ἐπιτάφιον Livius reddit: T. LIVI. Vixit tres et sexaginta annos, ut, si vis afuisset, ne immatura quidem 22 mors videri possit. ingenium et operibus et praemiis operarum felix, ipse fortunae diu prosperae. et in longo tenore felicitatis magnis interim ictus vulneribus, exilio, ruina partium, pro quibus steterat, filiae morte, exitu tam tristi atque acerbo, omnium adversorum nihil, ut viro dignum erat, tulit praeter mortem, quae vere aestimanti minus indigna videri potuit, quod a victore inimico 〈nihil〉 crudelius passus erat, quam quod eiusdem fortunae compos victo fecisset. si quis tamen virtutibus vitia pensaret, vir magnus ac memorabilis fuit, et in cuius laudes exsequendas Cicerone laudatore opus fuerit.

5 Bruttedi Nigri vg brotedi Nigri α del. C.F.W. Müll., Morgenstern ‖ 6 dato α datae Faber claro Gron. | gemitu α 〈multo〉 gemitu Walter ‖ 7 maximae α -imo Faber, Gron. -imae 〈manibus〉 Walter viri α viro Faber pias Gron. | inferiae α -ias Gron. | vitam Schulting ita α rite Gron. laudes Gertz 〈laudes〉 post corporis suppl. Faber ‖ 8 audivit B2V aut dividit AB | aliquo B2V2 -quae α | inclutae B indute A inclitae B2V ‖ 10 a Catilina Rebling ac alienam α ac lanienam Gron. ‖ 12 〈viri〉 post alicuius suppl. Gron. | fere B2V ferre AB ‖ 13 – 14 a Thucydide ed. Herv. adhuc hydide AB adhuc itidem V ‖ 14 item α idem Sander | T. τ l. AB L. V ‖ 15 benignus α benignius D2 | praestitit ed. Frob. -stitisse α ‖ 16 ἐπιτάφιον B2V ei TITAΦION A et ΠITAΦION B ‖ 17 T. Livi α del. C.F.W. Müll., Otto ‖ 18 〈eius〉 post ingenium suppl. Gertz | operarum α operum recc. ‖ 19 et α at Håk. sed Gertz fort. delendum cens. Müll. ‖ 20 partium V2 -titum α | filiae D2 filii α | morte α amatae Gertz del. Madvig morte, 〈vitae〉 Mewes morte, 〈denique〉 Schenkl morte, 〈suo〉 dubit. Müll. ‖ 21 ut viro dignum erat α quod viro dignum esset Frank ‖ 22 quae D2 quam α ‖ 23 nihil suppl. Lipsius, qui nil scripsit | compos victo Mommsen, Rebling composito α -site B2 compos ipse Lipsius compos ita Schott compos item Schulting conpoti item Haase conpoti Burs. compos in eo Madvig compos illo Otto compos ipso Gertz compoti ipse Linde ‖ 24 pensaret α -rit V2 -vit Gron. 25 exsequendas Gron. sequendas α

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Suasoria 6, 22 – 24 | 137

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Vt est natura candidissimus omnium magnorum ingeniorum aestimator T. Livius, plenissimum Ciceroni testimonium reddidit. Cordi Cremuti non est operae etiam referre redditam Ciceroni laudationem; 23 nihil enim ipso Cicerone dignum est, ac ne hoc quidem, quod paene maxime tolerabile est: CREMVTI CORDI. Proprias enim simultates deponendas interdum putabat, publicas numquam vi decernendas. civis non solum magnitudine virtutum sed multitudine quoque conspiciendus. AVFIDI BASSI. Sic M. Cicero decessit, vir natus ad rei publicae salutem, quae diu defensa et administrata in senectute demum e manibus eius elabitur uno ipsius vitio laesa, quod nihil in salutem eius aliud illi, quam si caruisset Antonio, placuit. vixit sexaginta et tres annos ita, ut semper aut peteret alterum aut invicem peteretur, nullamque rem rarius quam diem illum, quo nullius interesset ipsum mori, vidit. Pollio quoque Asinius, qui Verrem, Ciceronis reum, fortissime morientem 24 tradidit, Ciceronis mortem solus ex omnibus maligne narrat, testimonium tamen quamvis invitus plenum ei reddit: ASINI POLLIONIS. Huius ergo viri tot tantisque operibus mansuris in omne aevum praedicare de ingenio atque industria superva〈cuum est〉. natura autem atque fortuna pariter obsecuta est. ei quidem facies decora ad senectutem prosperaque permansit valitudo. tunc pax diutina, cuius instructus erat artibus, contigit. namque [a] prisca severitate iudiciis exacta maxima noxiorum multitudo provenit, quos obstrictos patrocinio incolumes plerosque habebat. iam felicissima consulatus ei sors petendi et gerendi (magna munera deum!)

1 aestimator p.c. V -atur α ‖ 3 est V esto AB | etiam α pretium Kiessl., C.F.W. Müll. | referre Schott de- α ‖ 4 ipso recc. ipsea α ipso ac Burs. in ea Gertz in ipsa Schott | paene α per se dubit. C.F.W. Müll. ante nihil transp. Müll. del. Wb. ‖ 6 Cremuti Cordi α del. C.F.W. Müll. ‖ 7 vi decernendas Bücheler vides credendam α avide exercendas Gertz vi deserendas Burs. [vi] deserendas Kiessl. laudes ei reddam Thomas | virtutum ed. Frob. -tem α ‖ 8 multitudine V -nem AB ‖ 10 elabitur vg habitu α labitur recc. abit Håk. | uno Müll. non α hoc Gertz ‖ 11 laesa α nisi Gron. laesa 〈sed〉 Schulting | salutem Gron. -ute α ‖ 13 rarius α amarius Lucarini | quo recc. quod α ‖ 17 reddit BV redidit A reddidit Kiessl. ‖ 18 Asini Pollionis α del. C.F.W. Müll. | mansuris α -uri Burs. 19 supervacuum est Schott superba α supervacaneum Haase ‖ 20 quidem α 〈si〉 quidem D 〈cui〉 quidem Burs. 〈et〉 quidem Gron. ‖ 21 valitudo AB2V valetudo B | tunc α tum vg ‖ 22 namque α 〈per〉 eamque Schulting in qua Gertz | [a] prisca severitate iudiciis exacta Håk. a prisca severitate iudicis exacti α [a] prisca severitate 〈e〉 iudiciis exacta dubit. Kiessl. a prisca severitate iudiciis declinatis vel inclinatis Sh. Bailey ad priscam severitatem iudiciis exactis Gron. | maxima Gron. -orum α ‖ 24 〈et〉 ante petendi suppl. van der Vliet | magna munera α magno munere Ribbeck, qui magno munere deum post felicissima transp. magno, munere Müll. magna, munere Edward

138 | Suasoria 6, 24 – 26

consilio industriaque. utinam moderatius secundas res et fortius adversas ferre potuisset! namque utraeque cum venerant ei, mutari eas non posse rebatur. inde sunt invidiae tempestates coortae graves in eum, certiorque inimicis adgrediendi fiducia. maiores enim simultates appetebat animo quam gerebat. sed quando mortalium nulli virtus perfecta contigit, qua maior pars vitae atque ingenii stetit, 5 ea iudicandum de homine est. atque ego ne miserandi quidem exitus eum fuisse iudicarem, nisi ipse tam miseram mortem putasset. 25 Adfirmare vobis possum nihil esse in historiis eius hoc, quem retuli, loco disertius, ut mihi tunc non laudasse Ciceronem sed certasse cum Cicerone videatur. nec hoc deterrendi causa dico, ne historias eius legere concupiscatis; 10 concupiscite et poenas Ciceroni dabitis. Nemo tamen ex tot disertissimis viris melius Ciceronis mortem deploravit quam Severus Cornelius:

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CORNELI SEVERI oraque magnanimum spirantia paene virorum in rostris iacuere suis. sed enim abstulit omnis, tamquam sola foret, rapti Ciceronis imago. tunc redeunt animis ingentia consulis acta iurataeque manus deprensaque foedera noxae patriciumque nefas extinctum; poena Cethegi deiectusque redit votis Catilina nefandis. quid favor aut coetus, pleni quid honoribus anni profuerant, sacris et vita quid artibus acta? abstulit una dies aevi decus, ictaque luctu conticuit Latiae tristis facundia linguae. unica sollicitis quondam tutela salusque, egregium semper patriae caput, ille senatus

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1 〈suo〉 post consilio suppl. Sh. Bailey | industriaque α industriaque 〈magna munera deum〉 transp. Eussner industriaque 〈aequavit vel pensavit〉 van der Vliet ‖ 2 venerant α evenerant C.F.W. Müll. ‖ 3 sunt invidiae α secutae invidiae 〈et〉 Mommsen | graves in eum ed. Herv. graves in eo α gravissimae, eo Kiessl. ‖ 4 maiores α -re τ ‖ 7 putasset B2V putas sed AB ‖ 8 nihil B2V nisi AB | retuli α rettuli vg ‖ 11 Ciceroni α certe non Håk. ‖ 12 deploravit V depluit AB deflevit Burs. 15 paene α saepe Burmann ‖ 16 iacuere V iacueres AB ‖ 17 rapti α carpti Gron. ‖ 18 ingentia V ingenia AB ‖ 20 extinctum Gron. est tunc α etiam tum Scaliger exectum Baehrens detectum Iacobsius | poena α 〈et〉 poena D 〈ut〉 poena Scaliger ‖ 22 aut coetus α aut cultus Barth adsuetus Heinsius ‖ 23 profuerant α -fuerunt D | et vita α exculta Kiessl. exacta Schott devota Gertz et vota Baehrens devincta Thomas | acta D2 aetas α ‖ 24 aevi α urbis Heinsius ‖ 25 Latiae B2, recc. lati et AB latae V ‖ 27 egregium V etgeium AB et gratum B2

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Suasoria 6, 26 – 27 | 139

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vindex, ille fori, legum ritusque togaeque, publica vox saevis aeternum obmutuit armis. informes voltus sparsamque cruore nefando canitiem sacrasque manus operumque ministras tantorum pedibus civis proiecta superbis proculcavit ovans nec lubrica fata deosque respexit. nullo luet hoc Antonius aevo. hoc nec in Emathio mitis victoria Perse nec te, dire Syphax, non fecit 〈in〉 hoste Philippo, inque triumphato ludibria cuncta Iugurtha afuerant, nostraeque cadens ferus Hannibal irae membra tamen Stygias tulit inviolata sub umbras.

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Non fraudabo municipem nostrum bono versu, ex quo hic multo melior Severi 27 Cornelii processit: 15

conticuit Latiae tristis facundia linguae.

SEXTILIVS ENA fuit homo ingeniosus magis quam eruditus, inaequalis poeta et plane quibusdam locis talis, quales esse Cicero Cordubenses poetas ait, 〈pingue〉 quiddam sonantis atque peregrinum. is hanc ipsam proscriptionem recitaturus in domo Messalae Corvini Pollionem Asinium advocaverat et in 20 principio hunc versum non sine assensu recitavit: Deflendus Cicero est Latiaeque silentia linguae. Pollio Asinius non aequo animo tulit et ait: ‘Messala, tu, quid tibi liberum sit in domo tua, videris; ego istum auditurus non sum, cui mutus videor’; atque ita consurrexit.

1 ille α illa Burs. | ritusque α iurisque Heinsius iurumque Lindenbrog ‖ 2 saevis Scaliger evis AB eius V ‖ 3 informes V in fores AB ‖ 4 canitiem vg caniciem B2V ganiciem AB ‖ 5 civis V vices AB avis D victor ‘vg’ Müll. ‖ 8 nec in α non Gertz | Emathio recc. hematio α | mitis B mittis AV tristis Baehrens ‖ 9 te α tibi Baehrens | dire V dires AB | Syphax V2 sypax α | non α nec Baehrens | fecit in ed. Ven. fecit α fecerat Kiessl. | hoste Philippo (filippho AB) α false Philippe Baehrens Pseudophilippo Gertz ‖ 10 cuncta α tanta Schele iuncta Baehrens | Iugurtha D iugurta α 11 afuerant Kiessl. afuerat α afuerunt Heinsius, Burs. | Hannibal irae V annibalire AB 13 fraudabo B2 raudabo AB laudabo V | municipem V2 municem α ‖ 17 plane B2 plenae (-ne B) AB pene V | Cordubenses poetas V corduvenses poeta AB ‖ 18 pingue suppl. ed. Frob. | quiddam V2 quidam α ‖ 19 advocaverat V2 -erant α ‖ 21 deflendus recc. -fiendus AB -ficiendus V

140 | Suasoria 6, 27 – 7, 1

Enae interfuisse recitationi Severum quoque Cornelium scio, cui non aeque displicuisse hunc versum quam Pollioni apparet, quod meliorem quidem sed non dissimilem illi et ipse composuit. Si hic desiero, scio futurum, ut vos illo loco desinatis legere, quo ego a scholasticis recessi; ergo, ut librum velitis usque ad umbilicum revolvere, 5 adiciam suasoriam proximae similem.

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Deliberat Cicero, an scripta sua comburat promittente Antonio incolumitatem, si fecisset Q. HATERI. Non feres Antonium. intolerabilis in malo ingenio felicitas est, nihilque cupientis magis accendit quam prosperae turpitudinis conscientia. 10 difficile est. non feres, inquam, et iterum inritare inimicum in mortem tuam cupies. Quod ad me quidem pertinet, multum a Cicerone absum, tamen non taedet tantum me vitae meae, sed pudet. Ne propter hoc quidem ingenium tuum amas, quod illud Antonius plus odit quam te? Remittere ait se tibi, ut vivas, commentus, quemadmodum eripiat etiam, quod vixeras. crudelior est pactio 15 Antonii quam proscriptio: ingenium erat, in quo nihil iuris haberent triumviralia arma. commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone, 〈a Cicerone〉 proscriberetur. Hortarer te, Cicero, ut vitam magni aestimares, si libertas suum haberet in civitate locum, si suum in libertate eloquentia, si non civili ense cervicibus luerentur. nunc, ut scias nihil esse 20 melius quam mori, vitam tibi Antonius promittit. pendet nefariae proscriptionis tabula: tot praetorii, tot consulares, tot equestris ordinis viri! paene nemo

1 Enae Gertz ne α ei Kiessl. et Burs. | interfuisse Burs. -fuisset α | Severum Jahn eorum α | quoque Burs. quod α ‖ 4 〈scribere〉 post desiero suppl. Bonnet ‖ 6 suasoriam proximae α suasoriam proxime vel suasoriae proximam Warmington 8 fecisset α fecerit dubit. Gertz ‖ 9 Hateri Müll. alterius α Haterius vg | intolerabilis τ tolerabilius (-ior p.c. V) α ‖ 10 cupientis α 〈prava〉 cupientis Håk. 〈nocere〉 cupientis Müll. cupidines dubit. Kiessl. peccantis vel 〈turpia〉 cupientis Gertz superbientes 〈ea〉 Schulting cupi〈dinem noc〉entis Eussner saevientis Novák impudentis Opitz | prosperae α propriae Schulting ‖ 11 difficile α difficilis Håk. 〈illi continere se〉 difficile Gertz 〈at mori〉 difficile van der Vliet ‖ 12 tamen B2V tam et AB ‖ 13 post quidem iterum trad. α pertinet multum a cicerone, del. Gron. ‖ 16 quo α quod Gertz ‖ 18 〈a Cicerone〉 proscriberetur scripsi praeeuntibus Burs. et Müll. proscriberetur α proscribere D proscribere 〈per ciceronem toleretur〉 D2 〈proscribere, a Cicerone〉 proscriberetur Burs. 〈proscribi, a Cicerone〉 proscriberetur Müll. ‖ 20 eloquentia B2V loquentia AB | cervicibus α civibus Schott | luerentur α luderetur anon. apud Schott illuderetur Schott ‖ 21 tibi B2V sibi AB | pendet α pendent Håk. ‖ 22 praetorii recc. petori A pecori BV pretores V2 | consulares V2 consulatores α | paene α periere V2

Suasoria 7, 1 – 4 | 141

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relinquitur, nisi qui servire possit. nescio, an hoc tempore vivere velis, Cicero; nemo est, cum quo velis. merito hercules illo tempore vixisti, quo Caesar ultro te rogavit, ut viveres, sine ulla pactione, quo tempore non quidem stabat res publica, sed in boni principis sinum ceciderat. CESTI PII. Numquid opinio me fefellit? intellexit Antonius salvis eloquentiae 2 monumentis non posse Ciceronem mori. ad pactionem vocaris, qua pactione melior in te pars tui petitur. Accommoda mihi paulisper eloquentiam: Ciceronem periturum rogo. si te audissent Caesar et Pompeius, neque inissent turpem societatem neque diremissent. si uti umquam consilio tuo voluissent, neque Pompeius 〈concidisset neque〉 Caesar. quid consulatum salutarem urbi, quid exilium consulatu honestius, quid provocatam inter initia adulescentiae libertate tirocinii tui Sullanam potentiam, quid Antonium avulsum Catilinae, rei publicae redditum? ignosce, Cicero, 〈si〉 diu ista narravero: forsitan hoc die novissime audiuntur. Si occidetur Cicero, iacebit inter Pompeium patrem filium- 3 que et Afranium, Petreium, Q. Catulum, M. Antonium illum indignum hoc successore generis. si servatur, vivet inter Ventidios et Canidios et Saxas. ita dubium est, utrum satius sit cum illis iacere an cum his vivere? Pro uno homine iactura publica pacisceris? scio omne pretium iniquum esse, quod ille constituit: nemo tanti Ciceronis vitam, quanti vendit Antonius. si hanc tibi pactionem ferret: ‘vives, sed eruentur oculi tibi; vives, sed debilitantur pedes’, etiamsi in alia damna corporis praestares patientiam, excepisses tamen linguam. Vbi est sacra illa vox tua: ‘mori enim naturae finis est, non poena’? hoc tibi uni non liquet? at videris Antonio persuasisse. Adsere te potius libertati et unum crimen inimico adice: fac moriendo Antonium nocentiorem. P. ASPRENATIS. Vt Antonius Ciceroni parcat, Cicero in eloquentiam suam 4 ipse animadvertet? quid autem tibi sub ista pactione promittitur? ut Cn. Pompe-

3 pactione τ actione α ‖ 4 boni B2V bonis AB | sinum ed. Frob. sinu α ‖ 6 qua B2V quam AB pactione BV -nem A del. Kiessl. ‖ 7 in te α interim Håk. ante te Gertz certe C.F.W. Müll. 7 – 8 Ciceronem periturum α Cicero, nec perituram Håk. 〈tuam〉, Cicero; nam periturum Schulting ‖ 9 diremissent recc. dirimissent α ‖ 10 Pompeius 〈concidisset neque〉 Caesar scripsi e.g. Pompeius Caesar α Pompeius 〈Caesarem neque〉 Caesar 〈Pompeium deseruisset〉 recc. Pompeius Caesar〈em deseruisset neque Pompeium Caesar〉 vg Pompeius Caesar〈em aluisset neque Pompeium violasset Caesar〉 Sh. Bailey | 〈referam〉 post quid1 suppl. Müll., 〈commemorem〉 Gertz ‖ 11 consulatu V -tum AB ‖ 12 libertate AB -tem V | tirocinii tui Schott tirociniis tuis α tirocinii istius recc. | Sullanam vg sillanam V illa nam AB | potentiam V -tia AB | Catilinae Novák praeeunte Gron. (Catilinae 〈et〉 vel 〈a〉 Catilina) catillinam (-il- V) α ‖ 13 si suppl. Schott | diu V divi AB dum B2 tibi dubit. Kiessl. ‖ 14 novissime A -issimo A2BV | audiuntur α -ientur recc. ‖ 15 Q. ed. Ven. qui AB -que V ‖ 16 successore recc. -orem α | servatur α -bitur C.F.W. Müll. ‖ 17 his B2, recc. is AB iis V ‖ 18 scio α scito Schulting ‖ 19 nemo tanti α nemo tanti 〈emit〉 D non emo tanti Kiessl. ‖ 20 debilitantur α -tabuntur recc. ‖ 22 naturae recc. mature α ‖ 23 unum α novum Ribbeck

142 | Suasoria 7, 4 – 7

ius et M. Cato et ille antiquos restituatur rei publicae senatus, dignissimus apud quem Cicero loqueretur? Multos care victuros animi sui contemptus oppressit. multos perituros parati ad pereundum animi ipsa admiratio eripuit et causa illis vivendi fuit fortiter mori. Permitte populo Romano contra Antonium liceri: 〈si〉 scripta combusseris, Antonius paucos annos tibi promittit: at si non combusseris, gratia populi Romani omnes. 5 POMPEI SILONIS. Quale est, ut perdamus eloquentiam Ciceronis, fidem sequamur Antonii? Misericordiam tu istam vocas, supplicium summum Ciceronis ingenio? Credamus Antonio, Cicero, si bene illi pecunias crediderunt faeneratores, si bene pacem Brutus et Cassius. hominem et vitio naturae et licentia temporum insanientem, inter scaenicos amores sanguine civili luxuriantem, hominem, qui creditoribus suis oppigneravit rem publicam, cuius gulae duorum principum bona, Caesaris ac Pompei, non potuerunt satisfacere! tuis utar, Cicero, verbis: ‘cara est cuiquam salus, quam aut dare aut eripere potest Antonius?’ Non est tanti servare Ciceronem, 〈ut〉 servatum Antonio debeam. 6 TRIARI. Compulsus aliquando populus Romanus in eam necessitatem est, ut nihil haberet praeter Iovem obsessum et Camillum exulem. nullum tamen fuit Camilli opus maius, quam quod indignum putavit viros salutem pactioni debere. O gravem vitam, etiamsi sine pretio daretur! Antonius hostis a re publica iudicatus nunc hostem rem publicam iudicat. Lepidus, ne quis illum putet male Antonio collegam placuisse, alienae semper dementiae accessio, utriusque collegae mancipium, noster dominus. 7 ARGENTARI. Nihil Antonio credendum est. mentior? quid enim iste non potest, qui occidere Ciceronem potest, qui servare nisi crudelius quam occidebat non potest? ignoscentem illum tibi putas, qui ingenio tuo irascitur? ab hoc tu speras vitam, cui nondum verba tua exciderunt? ut corpus, quod fragile et

1 antiquos AB -quus B2V ‖ 2 care Schulting ea re α saepe Kiessl. in arena Jahn secure Ribbeck beate dubit. Otto | sui α pusilli C.F.W. Müll. miseri dubit. Kiessl. ‖ 3 animi V adimi AB ‖ 4 〈velle〉 post mori suppl. C.F.W. Müll. | permitte α permitte 〈te〉 ‘vg’ Müll. promitte vel promittit Schulting repromitte Usener | liceri: 〈si〉 Gertz licet α licere 〈si〉 Schott scilicet 〈si〉 Kiessl. polliceri Novák 5 〈tua〉 post scripta suppl. Schulting, 〈tua si〉 Müll. | at V ad AB ‖ 6 gratia populi Romani omnes Ribbeck quam (del. A2) populi Romani omnes α fama populi Romani omnes Haase [quam] populus Romanus omnes Schott amor populi Romani omnes Müll. fortuna populi Romani omnes C.F.W. Müll. cura populi Romani omnes Lucarini vitam populi Romani omnem Usener spondet populus Romanus omnes dubit. Kiessl. aevom populus Romanus omne Gertz ‖ 7 quale α grave dubit. Gertz ‖ 8 summum α sumptum Haase sumi Gron. ‖ 8 – 9 〈de〉 ante Ciceronis suppl. Gron. ‖ 9 crediderunt recc. redd- α ‖ 15 servare AB -ire V -ari Burs. | ut suppl. recc. 〈si〉 Linde 18 viros α Romanos Gertz viros 〈Romanos〉 Müll. ‖ 20 iudicat α vindicat Lucarini | male ed. Herv. malo α ‖ 22 dominus α dominus 〈est〉 Kiessl. 〈est〉 dominus Wb. ‖ 23 mentior α mentitur Otto merito Ribbeck ‖ 24 occidebat α -deret Burs. -dat Müll. ‖ 25 ignoscentem α ignoscere tu Gron.

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Suasoria 7, 7 – 10 | 143

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caducum est, servetur, pereat ingenium, quod aeternum est? Ergo mirabar, si non crudelior esset Antonii venia. P. Scipionem a maioribus suis desciscentem 8 generosa mors in numerum Scipionum reposuit. Mortem tibi remittit, ut id pereat, quod in te solum immortale est. Qualis est pactio? aufertur Ciceroni ingenium sine vita. promittuntur 〈pro〉 oblivione nominis tui pauci servitutis anni. non ille te vivere vult, sed facere ingenii tui superstitem. Vide, ut Cicero audiat Lepidum, Cicero audiat Antonium, nemo Ciceronem. pateris perire, ut, quod Cicero optimum habet, ante se efferat? sine durare post te ingenium tuum, perpetuam Antonii proscriptionem. ARELLI FVSCI patris. Quoad humanum genus incolume manserit, quamdiu suus litteris honor, suum eloquentiae pretium erit; quamdiu rei publicae nostrae aut fortuna steterit aut memoria duraverit, admirabile posteris vigebit ingenium, et uno proscriptus saeculo proscribes Antonium omnibus. Crede mihi, vilissima pars tui est, quae tibi vel eripi vel donari potest; ille verus est Cicero, quem proscribi Antonius non putat nisi a Cicerone posse. Non ille tibi remittit proscrip- 9 tionem, sed tolli desiderat suam. Si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies; quod ad me attinet, fallere malo. Per te, M. Tulli, per quattuor et sexaginta annos pulchre actos, per salutarem rei publicae consulatum, per aeternam, si pateris, ingenii tui memoriam, per rem publicam, quae, ne quid te putes carum illi relinquere, ante te perit, oro et obtestor, ne moriaris confessus, quod nolueris mori. Huius suasoriae alteram partem neminem scio declamasse. omnes pro libris 10 Ciceronis solliciti fuerunt, nemo pro ipso, cum adeo illa pars non sit mala, ut Cicero, si haec condicio lata ei fuisset, deliberaturus non fuerit. itaque hanc

1 pereat ingenium B2, recc. per eum ingenium α pereundumst ingenio dubit. Kiessl. peremes ingenium Gertz | ergo α ego B2 ‖ 2 non α non 〈supplicio〉 D non 〈morte〉 dubit. Burs. mors Gertz crudelior V crulior A clurior B durior Burs. | ante P. Scipionem lacunam ind. Håk. | P. α Q. Gertz 3 generosa mors ed. Herv. generosus amor α generosa 〈sua〉 mors Gertz ‖ 4 pereat α perdat dubit. Kiessl. ‖ 5 sine vita α sine vitam Håk. sinitur vita Lucarini | 〈pro〉 oblivione Schulting oblivione α ob oblivionem Gertz ‖ 6 anni B2V annis AB | facere α facere 〈te〉 Gertz tacere C.F.W. Müll. iacere C.F.W. Müll., Ribbeck | vide ut α vive ut recc. videlicet dubit. Kiessl. vives ut Otto vivat 〈Cicero〉 ut [Cicero] Gron. ‖ 7 Cicero α del. Gron. | pateris perire α 〈ingenium Ciceronis〉 pateris perire Håk. poteris perferre Schulting pateris fieri Burs. poteris perire Burkard pati poteris ‘vg’ Müll. pateris petere vel pateris petere 〈eum〉 Gertz poteris 〈non〉 perire Novák ‖ 8 Cicero recc. dico α 9 perpetuam α -tua Jahn | proscriptionem α -ne Jahn ‖ 10 patris vg p. AB om. V | genus B2V generis AB ‖ 11 suus recc., N. Heinsius usus α | suum recc., N. Heinsius sum AB del. A2 summum B2 summae V suumque Schulting | eloquentiae V -tia (ex -tiam A) AB ‖ 12 posteris V poteris AB potens B2 | ingenium α ingenium 〈tuum〉 D ‖ 13 proscribes p.c. V -scribe α ‖ 15 remittit recc. emittit α mittit A2 ‖ 17 fallere BV fallerem A fallere 〈eum〉 Kiessl. fallare Haase | per2 α del. dubit. Burs. ‖ 20 illi α tibi Burs. | te perit vg ceperit (coep- V) α te periit recc. ‖ 21 quod V que AB quam C.F.W. Müll., Madvig ‖ 23 illa A2 nulla α ‖ 24 lata ei fuisset V latae infuisse AB

144 | Suasoria 7, 10 – 11

suasoriam nemo declamavit efficacius quam Silo Pompeius. non enim ad illa speciosa se contulit, ad quae Cestius, qui dixit hoc gravius esse supplicium quam mortem, et ideo hoc Antonium eligere. brevem vitam esse omni, multo magis seni; ita memoriae consulendum, quae magnis viris aeternitatem promitteret; non qualibet mercede vitam redimendam. et hic condiciones intolerabiles: esse 〈omnia potius subeunda〉 quam monumenta ingenii sui ipsum exurere. iniuriam illum facturum populo Romano, cuius linguam inopem extulisset, ut insolentis Graeciae studia tanto antecederet eloquentia quanto fortuna. iniuriam facturum generi humano. paenitentiam illum acturum tam care spiritus empti, cum in servitute senescendum fuisset. in hoc unum eloquentia utendum, ut laudaret Antonium. male cum illo agi: dari vitam, eripi ingenium. SILO 11 POMPEIVS sic egit, ut diceret Antonium non pacisci sed illudere: non esse illam condicionem sed contumeliam. combustis enim libris nihilominus occisurum. non esse tam stultum Antonium, ut putaret ad rem pertinere libros a Cicerone comburi, cuius scripta per totum orbem terrarum celebrarentur, et hoc petere eum, quod posset ipse facere, nisi forte non esset in scripta Ciceronis ei ius, cui esset in Ciceronem. quaeri nihil aliud, quam ut ille Cicero multa fortiter de mortis contemptu locutus ad turpes condiciones perductus occideretur. Antonium illi non vitam cum condicione promittere, sed mortem sub infamia quaerere. itaque quod turpiter postea passurus esset, nunc illum debere fortiter pati. Et haec suasoria *** 〈insania〉 insignita est. dixit enim sententiam cacozeliae genere humillimo et sordidissimo, quod detractione aut adiectione syllabae facit sensum: ‘Pro facinus indignum! peribit ergo, quod Cicero scripsit, manebit, quod Antonius proscripsit’.

2 ad quae V2 atque α ‖ 3 post Antonium in A duo folia desunt, in quibus scripta erant verba eligere. brevem – ali vetuit (contr. 1,1,2) | omni BV homini recc. omnibus dubit. Müll. ‖ 4 ita BV ita〈que〉 Schulting iam vel del. cens. Burs. ‖ 5 et BV esse Müll. del. Kiessl. ‖ 6 esse 〈omnia potius subeunda〉 recc. esse BV 〈omnia potius subeunda〉 esse Burs. [esse] 〈omnia potius subeunda〉 Kiessl. 〈nihil tam intolerabile〉 esse Müll. 〈nihil humilius〉 esse Håk. | ipsum exurere BV ipse exureret Haase, Madvig ‖ 7 inopem Morgenstern incipem B in civem V principem vel in culmen Burs. 〈in locum〉 principem Haase in tantum C.F.W. Müll. in eam spem Madvig sic ipse vel huc ipse Gertz in lucem Ribbeck ‖ 9 facturum recc. -ura BV | tam care Schott tangere BV ‖ 10 〈et〉 ante in hoc suppl. Burs. ‖ 11 illo agi τ ille (illi V) ait BV ‖ 13 occisurum B2V occissorum B ‖ 15 terrarum B om. V | et BV nec Jahn ‖ 16 ei ius Burs. eius B is V ius τ ‖ 17 〈potestas〉 post Ciceronem suppl. B2 | quaeri Burs. quare BV | 〈eum agere〉 post aliud suppl. D ‖ 19 condicione promittere V conditionem promitteret B ‖ 22 *** lacunam post suasoria ind. Gertz | 〈insania〉 supplevi praeeuntibus Gertz (〈insania declamatorum〉), Morgenstern (〈insania Seniani〉), Håk. (〈Murredii insania〉) | insignita V insignata B | post enim lacunam ind. Schulting | 〈Senianus〉 post enim suppl. Gertz | cacozeliae recc. catozelie BV ‖ 23 humillimo V umililimo B | quod V quo B detractione (nisi -tractatione vol.) B2 -tractat B -tracta V -tractu recc.

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Suasoria 7, 12 – 14 | 145

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Apud Cestium praeceptorem declamabat hanc suasoriam SVRDINVS, 12 ingeniosus adulescens, a quo Graecae fabulae eleganter in sermonem Latinum conversae sunt. solebat dulces sententias dicere, frequentius tamen praedulces et infractas. In hac suasoria cum ius iurandum bellis sensibus prioribus complexus esset, adiecit: ‘ita te legam!’ CESTIVS, homo nasutissimus, dissimulavit exaudisse se, ut adulescentem ornatum quasi †impudens† obiurgaret: ‘Quid dixisti, quid? ita te fruar?’ Erat autem Cestius nullius quidem ingenii 〈amator〉, Ciceroni etiam infestus, quod illi non impune cessit. Nam cum M. Tullius, filius Ciceronis, Asiam obtine- 13 ret, homo qui nihil ex paterno ingenio habuit praeter urbanitatem, cenabat apud eum Cestius. M. Tullio et natura memoriam dempserat et ebrietas, si quid ex ea supererat, subducebat; subinde interrogabat, qui ille vocaretur, qui in imo recumberet, et cum saepe subiectum illi nomen Cestii excidisset, novissime servus, ut aliqua nota memoriam eius faceret certiorem, interroganti domino, quis ille esset, qui in imo recumberet, ait: ‘hic est Cestius, qui patrem tuum negabat litteras scisse’. adferri protinus flagra iussit et Ciceroni, ut oportuit, de corio Cestii satisfecit. Erat autem, etiam ubi pietas non exigeret, scordalus. Hybreae, disertissimi 14 viri, filio male apud se causam agenti ait: ‘ἡμεῖς οὖν πατέρων;’ et cum in quadam postulatione Hybreas patris sui totum locum ad litteram omnibus agnoscentibus diceret, ‘age’ inquit ‘non putas me didicisse patris mei: quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?’ GARGONIVS amabilissimus in hac suasoria dixit duas res, quibus stultiores ne ipse quidem umquam dixerat: unam in principio; nam cum coepisset schola-

1 praeceptorem Schott, Faber praetorem BV Pium rhetorem Burs. Pium Schott rhetorem Gron. 4 bellis B2V 〈de〉 bellis B ‖ 6 impudens BV imprudens recc. impudens 〈esset〉 Müll. impudentem dubit. Burs., Gertz impurum Gertz ‖ 8 amator suppl. Kiessl. 〈nisi sui amator〉 suppl. Müll., 〈citra sui〉 Gertz | 〈tamen〉 ante etiam suppl. Schulting ‖ 11 memoriam dempserat D memoriam demerat BV memoriam demserat V2 memoriam ademerat Gertz memoria infidelis erat Burs. memoria deerat dubit. Kiessl. memoria infelix erat dubit. Müll. memoriam denegarat C.F.W. Müll. memoria debilis erat Wagner ‖ 12 qui1 BV quid C.F.W. Müll. | in imo B2V inimico B ‖ 16 protinus V2 potius AB ocius τ ‖ 17 Cestii BV Cestius Schulting ‖ 18 ubi Gron. ibi BV | exigeret V exieret B ‖ 19 ait B2 at BV | ἡμεῖς οὖν πατέρων Wilamowitz HMHONHΛTHPWN BV μὴ οὖν πατὴρ ὤν Burs. ἡμεῖς οὖν πατέρων 〈μέγʼ ἀμείνονες εὐχόμεθʼ εἶναι〉 Müll. ἡμεῖς οὐ πατέρων Diels ἦ μὴν οὐ πατρώζεις Gertz ‖ 20 postulatione V postulationem B | patris sui totum Burs. partibus stultotum (stultum B2) BV partibus (patribus τ) stultorum recc. ‖ 22 Catilina V cantilena B ‖ 23 amabilissimus BV 〈fatuorum〉 amabilissimus Müll. homo vilissimus Burs. amabilissimus 〈stultorum〉 Gron. 〈fatuus vel stultus〉 amabilissimus Thomas 〈homo〉 amabilissimus Franzoi ‖ 24 – 146,2 nam cum coepisset scholasticorum frequentissimo iam more 〈ut quam primum tantum tumeant quantum potest〉 a iure iurando et dixisset multa, 〈ait〉 [ita quam primum tantum timeat, quantum potest] Håk.

146 | Suasoria 7, 14

sticorum frequentissimo iam more a iure iurando et dixisset multa, 〈ait〉: ‘ita quam primum tantum timeat, quantum potest, ita aut totus vivat Cicero aut totus moriatur, ut ego, quae hodie pro Ciceronis ingenio dixero, nulla pactione delebo’. alteram rem dixit, cum exempla referret eorum, qui fortiter perierant: 5 ‘Iuba et Petreius mutuis vulneribus concucurrerunt et mortes faeneraverunt’.

1 – 2 〈ait〉 ita quam C.F.W. Müll. itaquam BV 〈ait〉 ut quam Sh. Bailey 〈ait〉 itaque Gertz ‖ 2 primum BV Antonium Gertz | 〈Antonium〉 post tantum suppl. Müll., 〈Antonius〉 dubit. Burs. | timeat BV tumeat Sh. Bailey ‖ 3 quae B qui V ‖ 5 mutuis τ iut mutuis multis BV | L Annei Senecae oratorum et retorum (rheth- V) sententiae divisiones colores suasoriarum liber primus explicit incipit liber secundus feliciter (om. V) BV

Kommentar

1 suas. 1 1.1 Einleitung Der historische Hintergrund Wie alle Themen der Suasoriensammlung bewegt sich auch das Thema der ersten Suasorie (Deliberat Alexander, an Oceanum naviget) zwischen historischer Realität und deklamatorischer Fiktion. Das Thema scheint die Situation nahezulegen, dass Alexander an der Küste des Ozeans steht und seine Durchquerung¹ erwägt.² Diese Situation hat es den historischen Quellen zufolge nicht gegeben.³ In den Quellen über den Alexanderfeldzug wird der Ozean aber in drei Situationen mit Alexander in Verbindung gebracht, die Parallelen zum Thema dieser Suasorie aufweisen. Im ersten Fall handelt es sich sogar um eine Debatte, nämlich um diejenige während der Meuterei am Fluss Hyphasis in Indien (326 v.Chr.).⁴ Damals weigerte sich das makedonische Heer nach jahrelangen Strapazen und angesichts der bevorstehenden Gefahren, den Feldzug fort zu führen. In dieser Situation soll Alexander Arrian zufolge seinen Generälen den Plan offenbart haben, bis zum Ganges und zum „östlichen Meer“ vorzustoßen.⁵ Sollte daher auch die Frage, ob der Ozean durchquert werden soll, während der Meuterei am Hyphasis behandelt worden sein, wäre die damalige Situation fast mit derjenigen identisch, die das Thema dieser Suasorie evoziert – mit dem Unterschied, dass die historische Debatte am Hyphasis und nicht an der Küste des Ozeans stattgefunden hat. Die zweite mit dem Thema dieser Suasorie vergleichbare Situation hat sich im Anschluss an die Meuterei am Hyphasis zugetragen. Aufgrund der Tatsache, dass Alexander seine Generäle und Soldaten nicht von seinem Vorhaben überzeugen konnte, beschloss er die Rückkehr in die Heimat. Es wurde jedoch nicht der direkte Rückweg eingeschlagen, sondern vom Fluss Hydaspes aus, der westlich vom Hyphasis lag, wurde zunächst eine Flottenfahrt unternommen, die über den Indus

1 Navigare bezeichnet wohl die Durchquerung; s. den Kommentar zum Thema. 2 Vgl. Sen. benef. 7,2,5: cui [sc. Alexandro], quamquam in litore rubri maris steterat, plus deerat, quam qua venerat. 3 Vgl. Migliario (2007) 58. Folgende Quellen sind uns erhalten: Buch 17 aus Diodors Bibliotheke historike; das neunte Buch aus Curtius Rufus’ Alexandergeschichte; das fünfte Buch aus Arrians Anabasis; Plutarchs Alexandervita. 4 Vgl. Migliario (2007) 59 – 62 und die dort angegebene Literatur. 5 Vgl. Arr. an. 5,26,1: εἰ δέ τις καὶ αὐτῷ τῷ πολεμεῖν ποθεῖ ἀκοῦσαι ὅ τι περ ἔσται πέρας, μαθέτω ὅτι οὐ πολλὴ ἔτι ἡμῖν ἡ λοιπή ἐστιν ἔστε ἐπὶ ποταμόν τε Γάγγην καὶ τὴν ἑῴαν θάλασσαν. Mit dem „östlichen Meer“ ist wohl der Ozean gemeint. Bei Curtius Rufus (9,4,17) werden der Ganges und die Länder jenseits des Flusses als Ziel angegeben, bei Plutarch (Alexander 62,1 f.) der Ganges.

1.1 Einleitung

149

in den Ozean mündete. Vom Indusdelta segelte Alexander ein Stück weit auf den Ozean hinaus.⁶ Im Unterschied zum Thema dieser Suasorie ist jedoch in den historischen Quellen von keiner Debatte die Rede. Zudem wäre die Annahme einer solchen Debatte zumindest am Indusdelta unsinnig, da das Vorstoßen auf den Ozean das alternativlose Ziel der Flotte sein musste, die den Indus flussabwärts fuhr. Die dritte mit dem Thema dieser Suasorie vergleichbare Situation schildern Quellen, die unter historischen Gesichtspunkten wenig verlässlich sind, nämlich die Herennius-Rhetorik und Lukan.⁷ Diese beiden Autoren geben an, dass Alexander den Ozean durchqueren wollte, aber der frühe Tod ihn von seinem Vorhaben abhielt. Im Unterschied zum Thema dieser Suasorie beziehen sich der Auctor ad Herennium und Lukan allerdings nicht auf einen Zeitpunkt während des Indienfeldzuges, sondern auf einen unverwirklichten Plan, den Alexanders Tod in Babylon (323 v.Chr.) vereitelte, wohingegen die Deklamatoren eine Beratung an der Küste des Ozeans fingieren.

Ähnliche Darstellungen Da die Überlegung, den Ozean zu durchqueren, in einigen Punkten der historischen Debatte während der Meuterei am Hyphasis nahesteht, lohnt sich ein Vergleich zwischen der Darstellung in den historischen Quellen und den Exzerpten aus den Suasorien. Aufgrund der Tatsache, dass in dieser Suasorie nur Deklamatoren zitiert werden, die Alexander von einer Durchquerung des Ozeans abraten (s.u.: „Aufbau dieser Suasorie“), ist ein solcher Vergleich nur mit Blick auf diejenigen Figurenreden möglich, in denen Alexander zum Abbruch des Feldzuges geraten wird. Da Figurenreden wiederum nur bei Arrian und Curtius Rufus vorliegen, scheiden andere historische Quellen zum Vergleich aus. Die Beratungsgremien werden von Arrian und Curtius Rufus unterschiedlich angegeben: Arrian berichtet, dass Alexander eine Beratung mit den Truppenführern anberaumte.⁸ Curtius Rufus hingegen lässt die Debatte über die Fortführung des Feldzuges in einer Heeresversammlung stattfinden.⁹ Beide Historiker stimmen aber darin überein, dass Koinos, einer der Generäle Alexanders, diesen zur Umkehr aufgefordert hat. Bei den Argumenten, die Koinos in der Figurenrede

6 Vgl. Arr. an. 6,19; nach Curt. 9,9,27 wagte sich Alexander 400 Stadien auf das offene Meer hinaus. 7 Vgl. Rhet. Her. 4,31; Lucan. 10,36 – 42 (s. Kommentar zum Thema). 8 Arr. an. 5,25,2. 9 Curt. 9,2,12.

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1 suas. 1

und die Deklamatoren in ihren Suasorien verwenden, ergeben sich zahlreiche Parallelen, die zur Veranschaulichung in einer Tabelle dargestellt seien:

genügend Heldentaten vollbracht Ende der Welt Ende des Sonnenlichtes Mühen und Gefahren müssen beendet werden Heer dezimiert physische und/oder psychische Erschöpfung Mangel an Waffen und Material Heimweh Alexander muss an seine Mutter denken möglicher zukünftiger Feldzug Mäßigung im Glück erobertes Gebiet muss gesichert werden

Arrian Curtius Rufus (,, – (,) )

Deklamatoren¹⁰

§ – – §

§§ ;  §§ f.; ¹¹ § –

§§ ; ;  §§  –  et passim §§ ;  §§ ; 

§§ f. § – § § §§ f. § –

– §§ ;  f. §§  –  – – – – –

– § – §  §§ ; ; ;  – §§ ;  §§ ; ; 

In vielen Punkten sind also Übereinstimmungen festzustellen. Auf der anderen Seite ist aber auch darauf hinzuweisen, dass die Deklamatoren ein Argument benutzen, das sich bei den Historikern nicht findet, nämlich dass das eroberte Gebiet gesichert werden muss. Ein wesentliches Element, das die Deklamatoren verwenden, nämlich die Beschreibung des Ozeans, kann aufgrund der unterschiedlichen Redesituation (s.o.: „Der historische Hintergrund“) keine Entsprechung in den Figurenreden haben. Ein deutlicher Einfluss der Deklamation auf die historiographischen Darstellungen von Curtius Rufus und Arrian, den Migliario sieht, lässt sich aber kaum feststellen.¹² Denn abgesehen von einer Stelle bei Curtius Rufus, die auch sprachliche Parallelen zu zwei Suasorienstellen aufweist,¹³ handelt es sich nur insofern um Übereinstimmungen, als die Figurenreden

10 Hier werden nicht exhaustiv alle Stellen der ersten Suasorie genannt, sondern Beispiele. 11 Für die Vorstellung vom Ende der Welt vgl. auch Alexanders Rede 9,2,26: pervenimus ad solis ortum et Oceanum; nisi obstat ignavia, inde victores perdomito fine terrarum revertemur in patriam; 9,6,20: iam […] haud procul absum fine mundi, quem egressus aliam naturam, alium orbem aperire mihi statui. 12 Migliario (2007) 61 spricht mit Bezug auf Arrian und besonders auf Curtius Rufus von einem Einfluss der Suasorie auf die historiographischen Darstellungen. Auffällig sind vielleicht die Entsprechungen zwischen Curtius Rufus und den Deklamatoren hinsichtlich des Endes der Welt und des Sonnenscheins. Allerdings stellt sich auch dann die kaum zu beantwortende Frage, wer von wem abhängt. 13 Vgl. folgende Beschreibungen des Ozeans: § 1: stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles; novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae pro-

1.1 Einleitung

151

den Suasorien entsprechen und sich vergleichbare Argumente finden. Daher ist es ratsamer, von einem Diskurs zu sprechen, an dem sowohl die Historiker als auch die Deklamatoren teilhaben.

Rhetorisch-technische Anweisungen zum Halten dieser Deklamation Quintilian verweist an mehreren Textstellen seiner Institutio oratoria auf dieses und verwandte Suasorienthemen.¹⁴ Durch diese Belege sind wir darüber informiert, wie die Deklamatoren ihre Argumentation gliedern sollten:¹⁵ Rem de qua deliberatur aut certum est posse fieri aut incertum. Si incertum, haec erit quaestio sola aut potentissima; saepe enim accidet ut prius dicamus ne si possit quidem fieri esse faciendum, deinde fieri non posse. cum autem de hoc quaeritur, coniectura est: […] an Alexander terras ultra Oceanum sit inventurus.¹⁶

Die Überlegung, die Alexander in dieser Suasorie anstellt, bezieht sich auf etwas, von dem nicht sicher ist, ob es möglich ist. Konkret bedeutet dies, dass die Fragestellung, ob Alexander den Ozean durchsegeln soll, die Frage impliziert, ob der Ozean überhaupt durchquert werden kann. Die Deklamatoren sollen daher diese beiden Fragen beantworten und werden – sofern sie gegen eine Durchquerung des Ozeans argumentieren – erst ihre Argumente dafür vorbringen, warum eine Durchquerung nicht unternommen werden soll, um abschließend auch noch darzulegen, dass eine Durchquerung nicht erfolgen kann. Sie werden also erst anhand der Kategorien des honestum und des utile argumentieren und dann von der Kategorie des δυνατόν Gebrauch machen.¹⁷ Die Deklamatoren, deren divisio uns Seneca d.Ä. präsentiert, gehen in genau derselben Weise vor, wie es Quintilian empfiehlt; vgl. § 8: Cestius […] sic [sc. hanc suasoriam] divisit, ut primum diceret, funda ista vastitas nutrit; confusa lux alta caligine et interceptus tenebris dies; ipsum vero grave et defixum mare et aut nulla aut ignota sidera; § 2: taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit. Wie wir zu § 1 bemerken, ist die Annahme, dass die entsprechende Stelle bei Curtius Rufus (9,4,18) von den Deklamatoren abhängt, nicht zwingend. Die Beschreibung des Ozeans bei Curtius Rufus erfolgt nicht in der Debatte während der Meuterei am Hyphasis, sondern zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich während der Flottenfahrt zum Ozean. 14 Quint. inst. 3,8,16; 7,2,5; 7,4,2. 15 Quint. inst. 3,8,16; s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 64. 16 Mit der Frage an Alexander terras ultra Oceanum sit inventurus ist gemeint, ob es Alexander möglich ist, jenseits des Ozeans auf Land zu stoßen. Diese Frage gehört zur coniectura bzw. zum δυνατόν. 17 Zu den drei klassischen Kategorien honestum, utile und δυνατόν s. S. 63.

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1 suas. 1

etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse. […] deinde illam quaestionem subiecit, ne navigari quidem Oceanum posse; §§ 9f.: Fabianus philosophus primam fecit quaestionem eandem: etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse. […] secundam quoque quaestionem aliter tractavit. ¹⁸

Die Lacuna am Anfang des Suasorienbuches Da die Überlieferung mit einem unvollständigen Satz beginnt, liegt am Anfang des Suasorienbuches eine Lacuna vor, in der zweifellos das Thema der ersten Suasorie (s.u.: „Die Rekonstruktion des Themas“) und der Anfang des ersten Exzerpts ausgefallen sind. Fraglich ist allerdings, ob bzw. wie weit sich der Ausfall darüber hinaus erstreckt. Sussman ist der Meinung, dass auch eine Praefatio zum ersten Suasorienbuch verloren gegangen ist. Das erste Exzerpt hingegen ordnet er Arellius Fuscus zu in der Annahme, dass dieses Exzerpt zwar unvollständig überliefert ist, aber keine weiteren Exzerpte ausgefallen sind.¹⁹ Was die Praefatio betrifft, gelangt Sussman nach einer Analyse des Aufbaus der Suasoriensammlung und einem Vergleich mit dem Aufbau der einzelnen Kontroversienbücher zu der Schlussfolgerung, dass Seneca d.Ä. vornehmlich Arellius Fuscus präsentiert und eine Gegenüberstellung zwischen der Deklamation und anderen literarischen Gattungen geboten hat.²⁰ Denn Arellius Fuscus ist innerhalb der Suasoriensammlung diejenige Person, die am meisten zitiert wird, und an mehreren Stellen wird die Deklamation anderen literarischen Gattungen gegenübergestellt (v. a. suas. 6,14– 27). Gegen Sussman ist jedoch einzuwenden, dass sich nur darüber spekulieren lässt, ob eine Praefatio zum ersten Suasorienbuch verloren gegangen ist. Die Annahme einer Vorrede zum ersten Suasorienbuch rührt daher, dass den Kontroversienbüchern Praefationes vorangehen.²¹ Allerdings besitzt nicht jedes Kontroversienbuch eine eigene Vorrede, sondern nur die Bücher 1, 2, 3, 4, 7, 9 und 10. Daher ist es auch möglich, dass es nie eine Praefatio zum Suasorienbuch gegeben hat. Die Frage, welchem Deklamator das unvollständig überlieferte Exzerpt zu Beginn der Suasorie zugeordnet werden muss, kann ebenso wenig beantwortet

18 Die Angabe secundam quoque quaestionem aliter tractavit zeigt, dass der Deklamator ebenfalls an zweiter Stelle das Argument benutzt hat, dass der Ozean nicht durchquert werden kann, wenngleich er das Argument anders begründet hat; s. den Kommentar zur Stelle. 19 Sussman (1977) 305 Fußn. 7; 307 Fußn. 10. 20 Sussman (1977) 321– 323. 21 Grundlegend zu den Praefationes: Citti (2005).

1.1 Einleitung

153

werden. Aufgrund der Tatsache, dass Fuscus gerade in den Suasorien 2– 5 am Anfang zitiert wird und seine Aussagen von Seneca d.Ä. auch kommentiert werden (vgl. v. a. suas. 2,10), liegt eine gewisse Wahrscheinlichkeit vor, dass auch in der ersten Suasorie zunächst aus seiner Deklamation zitiert wird. Andererseits wird Fuscus erst in der zweiten Suasorie zur zentralen Figur, d. h. erst dort fasst Seneca d.Ä. den Plan, an erster Stelle aus Fuscus’ Deklamationen zu zitieren.²² Außerdem ist es möglich, dass mehrere Exzerpte ausgefallen sind. Daher muss das unvollständig überlieferte Exzerpt zu Beginn der Suasorie nicht notwendigerweise Fuscus zugeordnet werden.

Die Rekonstruktion des Themas Mit dem Anfang des Suasorienbuches ist auch das Thema der ersten Suasorie verloren gegangen (s.o.: „Die Lacuna am Anfang des Suasorienbuches“). Jedoch lässt sich das Thema auf zweifache Weise rekonstruieren, und zwar zum einen aus den Exzerpten selbst, die uns die erste Suasorie bietet, und zum anderen aus einer anderen Stelle aus dem Werk des älteren Seneca, die uns Aufschluss über den Wortlaut dieses Suasorienthemas gibt (contr. 7,7,19): ut in illa suasoria, in qua deliberat Alexander, an Oceanum naviget, cum exaudita vox esset: ‘quousque invicte?’ Das Thema dieser Suasorie wird daher zumindest deliberat Alexander, an Oceanum naviget gelautet haben. Diese Rekonstruktion begegnet uns auch als Supplierung einer zweiten Hand (τ) in einer jüngeren Handschrift²³ und wird von den Herausgebern seit Müller (1887) 519 in den Text gesetzt. Gegenüber der Themenangabe Alexander macedo deliberat an transfretet ²⁴ Oceanum, die sich ebenfalls als Supplierung einer zweiten Hand in einer jüngeren Handschrift findet (D2), hat diejenige durch den Korrektor τ den Vorteil, dass sich die Junktur Oceanum navigare in der divisio findet, in der am ehesten Formulierungen aus dem Thema aufgegriffen werden.²⁵

22 Vgl. suas. 2,10: at quia semel in mentionem incidi Fusci, ex omnibus suasoriis celebres descriptiunculas subtexam, etiamsi nihil occurrerit, quod quisquam alius nisi suasor dilexerit; den Plan realisiert Seneca d.Ä. suas. 2,1 f. und 23; 3,1 und 7; 4,1– 3 und 5; 5,1– 3. 23 Es handelt sich um die Handschrift T. Die Korrekturen, die sich in dieser Handschrift finden, haben die Sigle τ; vgl. S. 96. In diesem Fall liegt eine Supplierung vor, die der entsprechende Korrektor wahrscheinlich aus der Kontroversienstelle geschöpft hat. 24 Das Verb transfretare ist seit Sueton (Iul. 34,1) belegt; in dieser Suasorie kommt es nicht vor. 25 Vgl. § 8: ut primum diceret [sc. Cestius], etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse; […] deinde illam quaestionem subiecit, ne navigari quidem Oceanum posse; § 9: Fabianus philosophus primam fecit quaestionem eandem: etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse.

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1 suas. 1

Schwieriger ist die Frage, ob auch der Zusatz cum exaudita vox esset: ‘quousque invicte?’ zum Thema dieser Suasorie gehört. Dass τ den Zusatz cum exaudita vox esset: ‘quousque invicte?’ nicht als Teil dieses Suasorienthemas ansieht, liegt wohl daran, dass in den Auszügen aus der ersten Suasorie kein Deklamator auf diese Worte eingeht, während an der Kontroversienstelle gerade die Zitierung der genannten Worte thematisiert wird. Denn dort wird referiert, wie ein Schüler des Cestius die Worte quousque invicte am Anfang und am Ende seiner Deklamation benutzte und ein anderer Schüler mit diesen Worten eine Beschreibung abschloss, wofür sie beide Cestius’ Spott ernteten. Daher ist es möglich, dass das Thema in unterschiedlichen Versionen vorlag und die an der Kontroversienstelle genannte Version um jenes Detail reicher war als die an dieser Stelle zu erschließende Version. Das Phänomen, dass ein Thema in den Rhetorikschulen in unterschiedlichen Versionen deklamiert wurde, ist nicht singulär.²⁶ Auf der anderen Seite ließe sich jedoch auch die Position vertreten, dass der Zusatz cum exaudita vox esset: ‘quousque invicte?’ zum Thema dieser Suasorie gehört, da ein ‘Überlieferungszufall’ vorliegt, d. h. dass sich nur zufälligerweise kein Deklamator in den uns überlieferten Exzerpten auf die Mahnung bezieht, da Seneca d.Ä. ohne Rücksicht auf jene Mahnung exzerpiert hat. Ein Blick in die Kontroversie 7,7 zeigt jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sich solche Worte in den Exzerpten finden, wenn sie im Thema stehen, denn dort rekurrieren die Deklamatoren häufig (§§ 2; 5; 8; 11; 18; 19; 20) auf die im Thema genannten Worte cavete proditionem. Da die Angabe cum exaudita vox esset: ‘quousque invicte?’ in dieser Suasorie nirgends relevant ist, nehmen wir sie nicht in das Thema auf. Für die Annahme verschiedener Versionen des Themas spricht auch die Tatsache, dass in den Lukanscholien ein Bezug auf das Thema dieser Suasorie in wiederum anderer Form vorzuliegen scheint:²⁷ Alexander Magnus cum Oceanum pernavigare vellet, subito vocis sonitu monitus est: ‘Desiste’.

26 Vgl. contr. 7,5: Wie aus den Bemerkungen einiger Deklamatoren (Triarius in § 2, Iulius Bassus in § 5, Latro in § 6) hervorgeht, muss es neben der Themenversion, die Seneca d.Ä. zitiert, auch eine Version gegeben haben, in der ein Licht erwähnt wird, das der Mörder bei sich trug, da die genannten Deklamatoren darauf Bezug nehmen. Gegen Bornecque (1902) II 365 ist daher davon auszugehen, dass Seneca d.Ä. das Detail des Lichtes nicht vergessen hat, sondern dass eine Kontamination vorliegt: Seneca d.Ä. zitiert in der Kontroversie 7,5 die Deklamatoren, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, welcher Version sie folgen. 27 Schol. Lucan. Bern. 3,233.

1.2 Kommentar

155

Aufbau dieser Suasorie Ein Kriterium, das für den Aufbau der von Seneca d.Ä. präsentierten Deklamationen die Regel ist, kommt hier nicht zum Tragen, nämlich die Zweiteilung in Pro und Contra. Alle Deklamatoren, die in dieser Suasorie zitiert werden, sprechen sich gegen eine Durchquerung des Ozeans aus. Dieser Befund, der nicht exzeptionell ist,²⁸ mag darauf zurückzuführen sein, dass Seneca d.Ä. zufällig aus denjenigen Suasorien exzerpiert, die abratenden Charakter haben. Mit einiger Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch sagen, dass es beliebter und wohl auch einfacher war, Alexander vor der Durchquerung des Ozeans zu warnen und ihm dabei in einer Beschreibung die Gefahren des Ozeans vor Augen zu führen. Adiego Lajara (et al.) geben zwar zu Recht zu bedenken, dass es möglich ist, dass in der Lacuna (s.o.: „Die Lacuna am Anfang des Suasorienbuches“) Exzerpte aus Deklamationen ausgefallen sind, in denen Alexander zu einer Durchquerung des Ozeans geraten wurde.²⁹ Aber dann würde man in der divisio Angaben über die Argumentation derjenigen Deklamatoren erwarten, die diesen Part übernommen haben.

1.2 Kommentar Thema 〈Deliberat Alexander, an Oceanum naviget〉: Zum historischen Hintergrund und zur Rekonstruktion des Themas s. Einleitung. Transitives navigare, das sicher seit Vergil (Aen. 1,67; textkritisch umstritten ist Cic. fin. 2,112) belegt ist, kann entweder „befahren“ oder „durchsegeln“, „durchqueren“ bedeuten (vgl. OLD s.v. navigo 3). An dieser Stelle liegt wohl die letztere Bedeutung vor (gegen O. & E. Schönberger [2004] 275: „Alexander berät, ob er auf den Ocean hinausfahren soll“). Denn die Formulierungen ultra Oceanum, post Oceanum (beide § 1) und trans Oceanum (§ 10) zeigen, dass zumindest einzelne Deklamatoren navigare in diesem Sinne verstehen. Ferner bezieht sich der griechische Deklamator Artemon in § 11 mit den Worten βουλευόμεθα, εἰ χρὴ περαιοῦσθαι auf das Thema dieser Suasorie. Schließlich ist es wahrscheinlicher, dass das Thema, das ja ohnehin eine Situation evoziert, die es in dieser Form nie gegeben hat, dadurch zugespitzt wird und mehr Brisanz erhält, dass Alexander nahezu größenwahnsinnig die Durchquerung des

28 Vgl. die kurzen Suasorien 3 und 5; contr. 7,5. 29 Vgl. Adiego Lajara (et al.) (2005) 272 Fußn. 1.

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1 suas. 1

Ozeans erwägt. Hierfür sprechen auch die folgenden Parallelen: Rhet. Her. 4,31: Alexandro si vita data longior esset, trans Oceanum Macedonum transvolassent sarisae; Sen. epist. 91,17: [sc. Alexander] trans Oceanum cogitationes suas mittens; epist. 94,63: it […] ultra Oceanum solemque; nat. 5,18,10; benef. 7,2,6; Lucan. 10,39 f.: [sc. Alexander, nisi mortuus esset] isset in occasus mundi devexa secutus / ambissetque polos Nilumque a fonte bibisset; Schol. Lucan. Bern. 3,233: Alexander Magnus cum Oceanum pernavigare vellet […]. Die einfache Fragepartikel an in der indirekten Einzelfrage („ob“) ist im Werk des älteren Seneca die übliche Partikel, während -ne und num kaum vorkommen. In den Themen der Suasorien und in der divisio wird ausnahmslos an benutzt.

Erster Teil (1 – 4) 1 Der Text beginnt nach einer Lacuna mit dem Exzerpt aus einer Deklamation, deren Urheber unbekannt ist. Zur Frage, ob dieses Exzerpt möglicherweise Fuscus zugeordnet werden kann, s. Einleitung: „Die Lacuna am Anfang des Suasorienbuches“, S. 152 f. cuicumque rei magnitudinem natura dederat, dedit et modum: Der nächste Satz ist derart mit diesem Satz verknüpft, dass hier die Regel und im folgenden Satz die Ausnahme genannt wird, ohne dass der adversative Sinn sprachlich ausgedrückt ist. Dies ist der Unterschied zu Stellen wie Sen. epist. 1,3: omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est und Ov. met. 8,187: omnia possideat, non possidet aera Minos. Wahrscheinlich folgte der nächste Satz in der ursprünglichen Deklamation nicht unmittelbar auf diesen Satz. Für magnitudinem dare vgl. das ähnliche modum dare Sen. Herc.f. 1140 f.: numquid Hesperii maris / extrema tellus hunc dat Oceano modum? Seit Kiessling (1872) 1 wird dessen Konjektur cuicumque anstelle des überlieferten cuiuscumque in den Text gesetzt, um ein Dativobjekt zu dederat zu gewinnen. Auch wir übernehmen diese Konjektur, da wir keine Parallelstellen gefunden haben, an denen der Genetiv statt des Dativs in Abhängigkeit von dare mit Substantiv im Akkusativ steht (Cic. Pis. 98 ist ein Sonderfall, da veniam dare phraseologisch ist). Nihil infinitum est nisi Oceanus: Zum Zusammenhang dieser Sentenz mit dem ersten Satz s. die vorige Anmerkung. Für die Sentenz vgl. Albucius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: nihil infinitum est. Die Vorstellung eines unendlichen Ozeans, die der Deklamator auch im Folgenden äußert (post omnia Oceanus, post Oceanum nihil), geht bis auf Homer zurück (vgl. Od. 10,195: πόντος ἀπείριτος).Vgl. auch Mela 3,1: ingens infinitumque pelagus; Plin. nat. 2,171: inproba et infinita debet

1.2 Kommentar

157

esse tam vastae molis possessio; Oros. 1,2,78: Oceano infinito. Zahlreicher sind die Parallelen für die etwas abgeschwächte Vorstellung eines riesigen Ozeans; vgl. Moschus in § 2: immensum […] pelagus; Plution in § 11: καὶ διὰ τοῦτο μέγιστόν ἐστιν, ὅτι αὐτὸ μὲν μετὰ πάντα, μετὰ δὲ αὐτὸ οὐθέν; Caes. Gall. 3,9,4: in vastissimo Oceano; Tac. Agr. 10,6: nusquam latius dominari mare; Dion. Per. 630: πολὺς Ὠκέανος; Avien. ora 391: pontus maximus; Aug. civ. 16,9: Oceani immensitate. Aiunt fertiles in Oceano iacere terras ultraque Oceanum rursus alia litora, alium nasci orbem, nec usquam rerum naturam desinere sed semper inde, ubi desisse videatur, novam exsurgere: Aiunt bedeutet eine Distanzierung von dem Gesagten und bereitet die im nächsten Satz enthaltene Antithese vor. Für den Gedanken vgl. Curt. 9,6,20, wo Alexander spricht: iam […] haud procul absum fine mundi, quem egressus aliam naturam, alium orbem aperire mihi statui. Die Existenz einer bewohnten Welt jenseits des Ozeans wurde im wissenschaftlichen Diskurs von Strabo (1,4,6) vertreten; vgl. Migliario (2007) 67. In dieser Tradition steht auch Sen. Med. 375 – 379. Im Kontrast hierzu vgl. Suet. frg. p. 240 Reifferscheid: philosophi autem aiunt, quod post Oceanum terra nulla sit sed solo denso aere nubium contineatur mare. Vgl. auch die bei Gellius (12,13,20) referierte Meinung nihil citra eum [sc. Oceanum] est und Augustinus (civ. 16,9), der es für absurd hält, dass es jenseits des Ozeans bewohntes Land gibt. Für desinere in dem hier vorliegenden geographischen Sinn vgl. Sil. 8,574: Brundisium, quo desinit Itala tellus. facile ista finguntur, quia Oceanus navigari non potest: Dies ist die Antithese zu dem im vorhergehenden Satz ausgedrückten Gedanken: Die Meinung, dass der Ozean begrenzt ist und sich jenseits des Ozeans Land befindet, wird als Fiktion abgetan, ja methodisch als unhaltbar erwiesen, da der Ozean nicht durchsegelt werden kann. Vgl. Suet. frg. p. 240 Reifferscheid: Oceani autem magnitudo inconparabilis et intransmeabilis latitudo perhibetur; Orig. 2,3,6: Oceanus intransmeabilis est. Satis sit hactenus Alexandro vicisse, qua mundo lucere satis est: Für die Vorstellung, dass die Sonne hinter einem bestimmten geographischen Punkt nicht mehr scheint, vgl. Argentarius in § 2 (textkritisch umstritten); Moschus ib.: tempus est Alexandrum cum orbe et cum sole desinere; Curt. 9,3,8 (Koinos’ Rede): inter feras serpentesque degentes eruere ex latebris et cubilibus suis expetis, ut plura, quam sol videt, victoria lustres; Sen. epist. 94,63: it [sc. Alexander] […] ultra Oceanum solemque. Im von griechischen Geographen dominierten wissenschaftlichen Diskurs findet sich – soweit wir sehen – die Vorstellung nicht, dass die Sonne hinter einem bestimmten geographischen Punkt nicht mehr scheint (vgl. RE XVII 2 s.v. Okeanos, Sp. 2308 – 2349, hier 2348). Wahrscheinlich handelt es sich um eine weitere

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1 suas. 1

Übertreibung des Gedankens, dass Alexander über die Grenzen der bekannten Welt hinaus vorgedrungen ist; vgl. schon Aischin. 3,165: ὁ δ’ Ἀλέξανδρος ἔξω τῆς ἄρκτου καὶ τῆς οἰκουμένης ὀλίγου δεῖν πάσης μεθειστήκει. Für die seltene Konstruktion hactenus … qua, die hier zum ersten Mal vorliegt, vgl. Quint. decl. 338,26. Aufgrund der angeführten Parallelen lesen wir wie alle modernen Herausgeber die korrigierte Form lucere (τ) anstelle der Lesart lugere. Denn das Argument, dass genügend Trauer über die Welt geschüttet wurde, wird Alexander kaum überzeugen (vgl. §§ 5 – 8) und wird von keinem anderen Deklamator benutzt. Unverständlich ist uns Wehles (1863) 165 Vorschlag, ludere zu lesen, den er folgendermaßen begründet: „Alexander ist siegreich in eine Gegend vorgedrungen, die sonst nur der dichterischen Phantasie zugänglich war“. Cornelissen (1875) 81 schlägt die Ergänzung von soli vor (qua mundo lucere 〈soli〉 satis est) und führt den Ausfall auf das ähnliche satis zurück. Auch wenn wir keine Parallele für mundus lucet gefunden haben, dürfte die Ergänzung von soli unnötig sein, da das Verb lucere nicht notwendigerweise impliziert, dass das entsprechende Subjekt Eigenlicht ausstrahlt; vgl. Cic. rep. 6,16: [sc. stella] luce lucebat aliena. intra has terras caelum Hercules meruit: Alexander wird in der Geschichtsschreibung und an anderen Stellen der lateinischen Literatur öfters mit Herkules und Bacchus in Verbindung gebracht (vgl. Curt. 9,2,29; 9,4,21; Sen. benef. 1,13, v. a. 1,13,2: tamquam caelum […] teneret, quia Herculi aequabatur; benef. 7,3,1; epist. 94,63; Arr. an. 4,8,3; 4,10,6; 5,2,1; 5,3,1– 4; 5,26,5). In dieser Suasorie wird Herkules nur hier als Vorbild genannt.Vgl. jedoch Moschus in § 2, der Bacchus mit Alexander in Verbindung setzt. Der Grund für diese Parallelisierung liegt darin, dass Herkules im Westen bis zu den nach ihm benannten Säulen und im Osten zumindest bis zum Kaukasus vorgedrungen ist, um Prometheus zu befreien. Bacchus ist sogar bis nach Nysa in Indien gelangt (vgl. Arr. an. 5,1,1; 5,26,5; Ind. 1,4– 7). Die Funktion des Herkulesbeispiels an dieser Stelle besteht daher darin, darauf hinzuweisen, dass es für Herkules’ Vergöttlichung nicht notwendig war, bis nach Indien vorzustoßen oder sogar den Ozean zu durchqueren (vgl. Edward [1928] 84). Die Parallelisierung von Alexander und Herkules spiegelt sich auch darin wider, dass beide das Epitheton invictus tragen (für Herkules vgl. Sen. benef. 4,8,1; Priap. 20,5; Apul. apol. 22,26; für Alexander contr. 7,7,19 [s. S. 153]). Für Herkules’ Apotheose vgl. Cic. nat. deor. 2,62 mit Pease ad loc. Für caelum merere bzw. mereri vgl. suas. 2,5: ideo Hercule gloriamur de operibus caelum merito; Ov. ars 2,218; Manil. 1,784; Octavia 504 f. (1) Stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles; (2) novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit; (3) confusa lux alta caligine et interceptus tenebris dies;

1.2 Kommentar

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(1) ipsum vero grave et defixum mare et (3) aut nulla aut ignota sidera: Es folgt eine größtenteils stichwortartige Beschreibung des Ozeans (vgl. Moschus in § 2). Bis pigra moles liegt ein vollständiger Satz vor. Anschließend werden elliptisch und asyndetisch weitere Merkmale des Ozeans genannt. Bemerkenswert sind die Parallelen zwischen der Beschreibung dieses Deklamators und einer Passage aus Curtius Rufus’ Alexandergeschichte (9,4,18). Diese Passage, in der in indirekter Rede die Beschwerden der Soldaten wiedergegeben werden, entstammt der Flottenfahrt zum Ozean (s. S. 148 f.): [sc. Macedones] trahi (3) extra sidera et solem cogique adire, quae mortalium oculis Natura subduxerit. […] (3) caliginem ac tenebras et perpetuam noctem profundo incubantem mari, (2) repletum immanium beluarum gregibus fretum, (1) immobiles undas, in quibus emoriens natura defecerit. Ob man mit Bornecque (1902) II 388 so weit gehen darf zu behaupten, dass sich Curtius Rufus von der hier vorliegenden Beschreibung inspirieren ließ, lässt sich schwer entscheiden. Die inhaltlichen und sprachlichen Entsprechungen zwischen diesen beiden Texten und einer Beschreibung in § 2 (taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit) sind jedoch so offensichtlich, dass man irgendeine Form der Abhängigkeit wohl annehmen muss – vielleicht auch in Form einer gemeinsamen Quelle. Forschungsmeinungen zum möglichen Abhängigkeitsverhältnis referiert Migliario (2007) 62 Fußn. 57. Stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles: Für ähnliche Vorstellungen vom Meer als einer trägen Masse vgl. Moschus und Musa in § 2; Albinovanus Pedo in § 15 (V. 5): pigris […] sub undis; Tac. Agr. 10,5: mare pigrum et grave remigantibus perhibent ne ventis quidem perinde attolli […] profunda moles continui maris; Germ. 45,1: [sc. mare] pigrum ac prope inmotum; Plin. nat. 4,30: mare concretum. Die Bedeutung von deficere an dieser Stelle ist umstritten. O. & E. Schönberger (2004) 275, Winterbottom (1974) II 487 und Edward (1928) 39 und 85 nehmen die allgemeine Bedeutung an, dass sich etwas dem Ende zuneigt (ThLL V 1,330,81– 335,65), und können für diese Übersetzung auf in suo fine verweisen. Nach Zanon dal Bo (1988) 111 hingegen liegt hier die speziellere Bedeutung „Kraft verlieren“ (ThLL V 1,331,2– 332,61) vor, wie es die Attribute immotum und pigra nahe legen. Beide Bedeutungen hängen insofern miteinander zusammen, als die Vorstellung zugrunde liegt, dass der Natur am Rande der Welt die Kräfte ausgehen. Impliziert wird dadurch, dass keine Winde mehr wehen und die Gezeiten nicht bewahrt werden (für erstere Vorstellung vgl. Tac. Agr. 10,5 [s.o.]; für letztere Lucan. 5,443 – 446). Aufgrund der Parallele bei Curtius Rufus (9,4,18 [s. vorige Anmerkung]) sollte die speziellere Übersetzung „Kraft verlieren“ gewählt werden. Die Herausgeber und Übersetzer sind sich uneins, ob hinter mare mit den Recentiores et gelesen werden muss (in den besten Handschriften ist maree überliefert) oder ob mit B2 das angehängte -e getilgt werden sollte, wie es Müller (1887) 520, Bornecque

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(1902) II 287, Edward (s.o.) 1 und Winterbottom (s.o.) tun. Da das angehängte -e wohl aus et resultiert, sollte mit den Recentiores et gelesen werden. Die Funktion des et lässt sich auf zweierlei Weise erklären. Håkanson (1977) 93 und ad loc. zufolge verbindet et quasi zum einen immotum und zum anderen pigra moles. Einfacher ist die Erklärung von et als explikativ. novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit: Mit den Ungeheuern bezieht sich der Deklamator wohl hauptsächlich auf die Wale im Indischen Ozean. Nearchos, Alexanders Oberbefehlshaber der Flotte, berichtet, dass diese bis dahin unbekannten Tiere den Griechen Angst eingejagt haben; vgl. FGrHist 133 F 1a, 30,1 Jacoby = Arr. Ind. 30,1: κήτεα δὲ μεγάλα ἐν τῇ ἔξω θαλάσσῃ βόσκεται καὶ ἰχθύες πολὺ μέζονες ἢ ἐν τῇδε τῇ εἴσω; Strabo 15,2,11– 13, v. a. 11: οἱ περὶ Νέαρχον εἰσέπλεον εἰς τὸν Περσικὸν κόλπον, πολλὰ ταλαιπωρήσαντες διὰ […] τὰ μεγέθη τῶν κητῶν. Vgl. auch Strabo 15,2,13 über die eigene Zeit: λέγουσι μὲν οὖν καὶ οἱ νῦν πλέοντες εἰς Ἰνδοὺς μεγέθη θηρίων καὶ ἐπιφανείας. Innerhalb dieser Suasorie vgl. Musa in § 2: foeda beluarum magnitudo; Fabianus in § 4. Vgl. ferner Hor. carm. 4,14,47 f.: beluosus […] Oceanus; Sen. dial. 6,18,7; Curt. 9,4,18 (s. S. 159); 10,1,12: plenum esse beluarum mare; Plin. nat. 9,8; Dion. Per. 1087: Ὠκεανοῦ μεγακήτεος (schon bei Homer, Od. 3,158 heißt es μεγακήτεα πόντον). Die syntaktisch-semantische Funktion von Oceano ist umstritten. Edward (1928) 39 und Bornecque (1902) II 288 scheinen einen präpositionslosen Ablativus loci anzunehmen. Dieser ist bei Oceano jedoch nur dichterisch belegt (vgl. Verg. Aen. 1,745), d. h. man würde an dieser Stelle wie in § 10 in Oceano erwarten. O. & E. Schönberger (2004) 275, Zanon dal Bo (1988) 111 und Winterbottom (1974) II 487 fassen Oceano als Dativ in Abhängigkeit von magnus auf („groß sogar für den Ozean“). In ähnlicher Weise wird der Dativ nach magnus auch in § 3 verwendet: Alexander orbi magnus est, Alexandro orbis angustus est. confusa lux alta caligine et interceptus tenebris dies: Die Dunkelheit auf dem Ozean beschreiben auch Moschus in § 2: taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit; Fabianus in § 4: qui ista toto pelago infusa caligo navigantem tibi videtur admittere, quae prospicientem quoque excludit?; Albinovanus Pedo (V. 3 und 17) in § 15; Curt. 9,4,18 (s. S. 159). Das überlieferte confusa hat Schwierigkeiten bereitet und ist von mehreren Herausgebern durch Konjektur beseitigt worden, obwohl keine Notwendigkeit dazu besteht (dieser Meinung sind auch Edward [1928] 86 und Håkanson ad loc.; für die Konjekturen vgl. Müller [1887] 520): circumfusa (Müller); offusa (Kiessling); fusca (Gertz). Für confundere („unkenntlich machen“, „verschwimmen lassen“) mit Bezug auf Himmelsphänomene vgl. ThLL IV 260,44– 48 und v. a. Ov. met. 14,367:

1.2 Kommentar

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[sc. deos carmine adorat] quo solet et niveae vultum confundere Lunae / et patrio capiti bibulas subtexere nubes. ipsum vero grave et defixum mare et aut nulla aut ignota sidera: Für das grave et defixum mare vgl. oben immotum mare mit dem Kommentar zur Stelle. Defixus wird hier adjektivisch i.S.v. immotus verwendet; vgl. Plin. epist. 9,34,2: ipse nescio, quid […] faciam, sedeam defixus […]; Stat. Theb. 9,677. Für die unbekannten Gestirne vgl. extra sidera et solem bei Curt. 9,4,18 (s. S. 159). Ita est, Alexander, rerum natura: post omnia Oceanus, post Oceanum nihil: Für dieses Epiphonem vgl. die Sentenz weiter oben: nihil infinitum est nisi Oceanus und Plution in § 11 mit dem Kommentar zur Stelle: καὶ διὰ τοῦτο μέγιστόν ἐστιν, ὅτι αὐτὸ μὲν μετὰ πάντα, μετὰ δὲ αὐτὸ οὐθέν. Håkanson (1989) 331 emendiert das in A und B überlieferte ta (AB) zu tua und verweist auf Pompeius Silos Sentenz in § 2: idem sunt termini et regni tui et mundi. Da V ita überliefert, ist jedoch davon auszugehen, dass in A und B das anlautende i- von ita ausgefallen ist. Ita ist insofern unproblematisch, als es hier soviel wie talis bedeutet (vgl. ThLL VII 2,519,21– 46). 2 Resiste, orbis te tuus revocat: Argentarius verbindet die Aufforderung an Alexander, Halt zu machen, mit einem Herrscherlob (vgl. Cestius in §§ 5 – 8), indem er den Erdkreis als Alexanders Eigentum bezeichnet. Vgl. Pompeius Silo weiter unten: idem sunt termini et regni tui et mundi. Für resiste in diesem Zusammenhang vgl. desiste in den Lukanscholien (Schol. Lucan. Bern. 3,233): Alexander Magnus cum Oceanum pernavigare vellet, subito vocis sonitu monitus est: ‘Desiste’. Wie Edward (1928) 86 sind aber auch wir der Meinung, dass diese Parallele kein Grund dafür ist, desiste statt resiste zu lesen, was Müller (1887) 520 erwägt. vicimus qua lucet: Für den Gedanken vgl. Moschus weiter unten: tempus est Alexandrum cum orbe et cum sole desinere; § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: satis sit hactenus Alexandro vicisse, qua mundo lucere satis est. Auch an dieser Stelle ist textkritisch umstritten, ob eine Form von lucere in den Text zu setzen ist, d. h. ob die Vorstellung vorliegt, dass das Licht auf bzw. hinter dem Ozean nicht mehr scheint. Licet ist durch A und B2 überliefert, wohingegen sich lucet in den Handschriften B und V findet, d. h. beide Lesarten sind in den besten Handschriften vertreten. Wie in § 1 tendieren wir dazu, aufgrund der textkritisch unumstrittenen Parallele bei Moschus eine Form von lucere zu lesen. Das in A und B2 überlieferte licet ist wohl eine Vereinfachung und lucet die Lectio difficilior.

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Nihil tantum est, quod ego Alexandri periculo petam: Auch hinter dem Gefahrenargument steht der Vorsatz, Herrscherlob in die Argumentation einfließen zu lassen (vgl. Cestius in §§ 5 – 8). Venit ille dies, Alexander, exoptatus, quo tibi operae 〈finis〉 adesset: idem sunt termini et regni tui et mundi: Edward (1928) 86 zitiert zwei Stellen aus Curtius Rufus’ Alexandergeschichte, aus denen hervorgeht, dass sich nicht Alexander selbst, sondern seine Soldaten nach einem Ende der Strapazen sehnten; vgl. Curt. 9,2,11; 9,9,4: adesse finem laboris omnibus votis expetitum. Für die Vorstellung, dass die Grenzen des eroberten Reiches mit den Grenzen der Welt übereinstimmen, vgl. mit Bezug auf Alexander Arr. an. 5,26,2 (Alexanders Rede): καὶ ὅροι τῆς ταύτῃ ἀρχῆς [sc. γίγνονται] οὕσπερ καὶ τῆς γῆς ὅρους ὁ θεὸς ἐποίησε; mit Bezug auf Rom vgl. Cic. Sest. 67 (über Pompeius): qui omnibus bellis terra marique compressis imperium populi Romani orbis terrarum terminis definisset; Cat. 3,26 und 4,21; Ov. fast. 2,684; Edward (s.o.). Das Ende des Relativsatzes ist textkritisch umstritten. In den besten Handschriften ist das ungrammatische opere adesse überliefert. Eine Korrektur in der Handschrift T stellt operae finis adesset her (τ). Bursian (1869) 3 schlägt vor, opera desit oder orbis pereat; ecce zu lesen, wohingegen Kiessling (1871) 5 opera desset herstellt. Wir lesen mit τ und Linde (1905) 3 operae finis adesset, da es sich um die wahrscheinlich einfachste Verbesserung handelt. Zudem findet sich in Curt. 9,9,4 (s.o.) eine vergleichbare Formulierung. Gertz (1888) 296, der tuis hinter exoptatus ergänzt, geht von der falschen Annahme aus, dass der Deklamator in diesem Satz nur die Sehnsüchte der Soldaten im Blick hat. Zu dieser Annahme haben Gertz wohl die oben zitierten historischen Quellen verleitet. Der Relativsatz zeigt jedoch deutlich (auch wenn er textkritisch umstritten ist), dass exoptatus auch auf Alexander zu beziehen ist. Tempus est Alexandrum cum orbe et cum sole desinere: Dies ist eine pointierte Formulierung für tempus est Alexandrum desinere, ubi orbis et sol desinit. Das Verb desinere wird hier zeugmatisch gebraucht, da es mit Bezug auf Alexander bedeutet, dass er davon ablassen soll, fremde Völker zu erobern und bei dieser Expansion auf den Ozean hinauszusegeln. Mit Bezug auf den Erdkreis bedeutet desinere, dass er endet, während das Verb mit Bezug auf die Sonne meint, dass sie aufhört zu scheinen. Für den letztgenannten Gedanken vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle und Argentarius in § 2. Für das Ende der Welt vgl. Argentarius und Pompeius Silo in § 2; für desinere in diesem geographischen Sinn vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: nec usquam rerum naturam desinere. Quod noveram, vici; num concupisco quod nescio?: Vgl. Marullus in § 3 : orbem, quem non novi, quaero, quem vici, relinquo? Die Form concupisco ist (wie

1.2 Kommentar

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quaero und relinquo bei Marullus) dubitativ aufzufassen („soll ich begehren“); vgl. L.-H.-Sz. II, S. 308. Der Satz wirft zwei Schwierigkeiten auf: Zum einen ist unklar, welche Person hier spricht. Zum anderen ist die Verbindung der beiden Teilsätze textkritisch umstritten. Ein Zitat, das der Deklamator Alexander in den Mund legt, wird hier nicht vorliegen, da auf das Zitat nicht erwidert wird. Daher ist wohl mit Hoffa (1909) 54 davon auszugehen, dass auch hier der Soldat bzw. General als Pars pro toto für das ganze Heer spricht. Eher auszuschließen ist, dass der Deklamator Alexander personifiziert (zur Suasorien-Prosopopoiie s. die allg. Einleitung: „Die Suasorie“, S. 5 – 7), da er dies in den übrigen Exzerpten nicht tut. Die Verbindung zwischen den beiden Teilsätzen stellen alle modernen Herausgeber dadurch her, dass sie mit den Recentiores die Aussage vici; nunc lesen (so auch Rebling [1868] 7). Es ist jedoch zu bezweifeln, dass der Deklamator eine Aussage trifft, die seinem Argumentationsziel widerspricht (dies wäre der einzige Fall in dieser Suasorie, dass für die Durchquerung des Ozeans argumentiert wird; zudem würde Seneca d.Ä. eine solche Sentenz in einem eigenen Absatz rubrizieren, der mit contra eingeleitet wird; vgl. suas. 2,9). Schott emendiert die Überlieferung zu vici. non (vgl. Müller [1887] 520), wodurch er die Aussage dem Argumentationsziel anpasst. Es ist aber deutlich einfacher, das in den besten Handschriften überlieferte vicinum als vici; num zu lesen, d. h. eine Frage anzunehmen. Zwar sind die meisten einfachen direkten Satzfragen im Werk des älteren Seneca partikellos; vgl. aber für num contr. 9,6,11: num flet puella? Für den Gedanken, dass der bekannte Erdkreis überschritten und in unbekannte Bereiche vorgedrungen wird, vgl. folgende bei Edward (1928) 86 verzeichnete Äußerungen über Caesar: Vell. 2,46,1: alterum paene imperio nostro ac suo quaerens orbem; Flor. 1,45,16: omnibus terra marique peragratis respexit Oceanum et, quasi hic Romanis orbis non sufficeret, alterum cogitavit. Mit Bezug auf Alexander vgl. Curt. 9,6,20: iam […] haud procul absum fine mundi, quem egressus aliam naturam, alium orbem aperire mihi statui. Seneca d.J. schildert Alexanders Begehren, die bekannte Welt zu verlassen, in ähnlichen Worten wie Moschus und kritisiert ihn dafür (epist. 119,8): quaerit quod suum faciat, scrutatur maria ignota, in Oceanum classes mittit novas […] inventus est, qui concupisceret aliquid post omnia. Quae tam ferae gentes fuerunt, quae non Alexandrum posito genu adorarent? qui tam horridi montes, quorum non iuga victor miles calcaverit?: In zwei parallel gebauten rhetorischen Fragen fasst Moschus die bisherigen militärischen Erfolge Alexanders zusammen. Der Zweck dieser Fragen liegt darin, zum Ausdruck zu bringen, dass Alexander bereits die ganze Welt erobert hat. Für dieses Herrscherlob vgl. die Anweisungen von Cestius §§ 5 – 8. In dem beschriebenen Kniefall, einer Form der Proskynese, kommt die persische Königsverehrung zum Ausdruck. Alexander verlangte nach dem Sieg über Dareios auch von seinen ei-

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genen Soldaten den Kniefall, wodurch er sich Kallisthenes’ Feindschaft zuzog (vgl. § 5 mit dem Kommentar zur Stelle). Für die Proskynese vgl. Nep. Con. 3,3: necesse est enim, si in conspectum veneris, venerari te regem (quod προσκύνησιν illi vocant). Die Prädikate der Relativsätze sind textkritisch umstritten. Die besten Handschriften überliefern adorarent im ersten und calcaverint im zweiten Relativsatz. Es ist jedoch schwer zu entscheiden, ob im ersten Relativsatz mit adorarent ein anderes Tempus gestanden hat als im folgenden. Anders als die Herausgeber seit Müller (1887) 520 halten wir das überlieferte adorarent und gehen von einer Inkonsequenz im Tempusgebrauch aus, wie sie beispielsweise auch in ut-Sätzen vorkommt (vgl. K.-St. II 2, S. 188 f.). An dieser Stelle ließe sich die unterschiedliche Tempuswahl dadurch begründen, dass adorare ein duratives, calcare hingegen ein punktuelles Verb ist. Unter den von Kühner und Stegmann angeführten Beispielen vgl. besonders Flor. 2,12,8: cuius adventus ipse adeo terribilis regi fuit, ut interesse non auderet, sed gerenda ducibus bella mandaverit. Vltra Liberi patris trophaea constitimus: Die Soldaten sind noch weiter in den Osten vorgestoßen als Bacchus. Für die Parallelisierung zwischen Alexander und Bacchus und den sachlichen Hintergrund vgl. diejenige zwischen Alexander und Herkules in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle. Bacchus galt im Mythos traditionell als der Eroberer des Orients (vgl. Eurip. Bacch. 13 – 22). Seit den Alexanderfeldzügen wird er auch als Eroberer Indiens angesehen (vgl. Megasthenes, FGrHist 715 F 11 Jacoby = Arr. Ind. 5,8). Dass Bacchus jedoch in Indien trophaea aufgestellt hat, ist uns – soweit wir sehen – nirgends überliefert. Allerdings soll Bacchus die Inder als einziges Volk kriegerisch unterworfen haben (vgl. Arr. an. 5,5,1 f.). non quaerimus orbem, sed amittimus: Zur Suche nach einem (neuen) Erdkreis vgl. Marullus in § 3: orbem, quem non novi, quaero, quem vici, relinquo?; Iuv. 10,168 f.: unus Pellaeo iuveni non sufficit orbis / aestuat infelix angusto limite mundi; Albinovanus Pedo in § 15 über Germanicus’ Nordsee-Expedition (V. 19): alium […] quaerimus orbem?; vgl. auch die weiter oben (zu quod noveram, vici; num concupisco quod nescio?) angegebenen Parallelen. Den „Erdkreis zu verlieren“ (orbem amittere) bedeutet konkret, dass das eroberte Gebiet nicht von Soldaten gesichert wird. Dieselbe strategische Gefahr bezeichnet Marullus in § 3: maria sequimur, terras cui tradimus? Immensum et humanae intemptatum experientiae pelagus: Hier beginnt eine Beschreibung des Ozeans, die wie diejenige in § 1 größtenteils stichwortartig erfolgt. Für die Größe des Ozeans vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: nihil infinitum est nisi Oceanus. Das Substantiv pelagus wird überwiegend dichterisch gebraucht; in der Prosa vgl. bell. Hisp. 40,6; Vitr. 2,8,14. Für intemptatus mit dem

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Dativ eines Abstraktums vgl. Sen. dial. 6,18,5: videbis nihil humanae audaciae intemptatum. totius orbis vinculum terrarumque custodia: Vgl. Fabianus in § 4: sacrum quidem terris natura circumfudit Oceanum. […] de Oceano […] dubitant, utrumne terras velut vinculum circumfluat. Die Vorstellung, dass der Ozean die gesamte bewohnte Welt umgibt, geht bis auf Homer zurück (Il. 7,421 f.; 8,485 f.; 18,606 f.) und wird von den griechischen Geographen unabhängig davon geäußert, ob sie die Erde als Scheibe oder als Kugel ansehen. Zu Homer vgl. auch Strabo 1,1,3: καὶ πρῶτον μὲν τῷ Ὠκεανῷ περίκλυστον, ὥσπερ ἔστιν, ἀπέφαινεν αὐτήν [sc. τὴν οἰκουμένην γῆν]. Zu Platon vgl. Phaid. 112e: τὸ […] μέγιστον [sc. ῥεῦμα] καὶ ἐξωτάτω ῥέον περὶ κύκλῳ ὁ καλούμενος Ὠκεανός ἐστιν. Zu Eratosthenes vgl. folgende Testimonien: fr. II A 8 p. 91 Berger (Geogr. Gr. min. II p. 217,21 f.; 428b,26 f.; 429b,37– 39 Müller): ὡς τοῦ Ὠκεανοῦ περιειληφότος τὴν γῆν, καθὰ καὶ Ἐρατοσθένης δοξάζει. […] [sc. Διονύσιος] Ἐρατοσθένους δὲ ὢν ζηλωτὴς κύκλῳ περιέχεσθαι τὴν γῆν φησιν ὑπὸ τοῦ Ὠκεανοῦ. […] Διονύσιος δὲ τοῦ Ἐρατοσθένους ὢν ἐραστὴς ἐν κύκλῳ φησὶ τὸν Ὠκεανὸν κεῖσθαι, νῆσον δὲ ὥσπερ ὑπ’ αὐτοῦ περιλαμβάνεσθαι τὴν οἰκουμένην γῆν. Zu Poseidonios vgl. Strabo 2,3,5 (Poseidonios F 49 p. 72 Edelstein / Kidd): ἐκ πάντων δὴ τούτων φησὶ δείκνυσθαι, διότι ἡ οἰκουμένη κύκλῳ περιρρεῖται τῷ Ὠκεανῷ. Zu Strabo vgl. das Zitat oben über Homer. Das Substantiv vinculum wird hier und in § 4 erstmals in der lateinischen Literatur mit Bezug auf den Ozean verwendet; später vgl. Sen. dial. 6,18,4: vinculum terrarum Oceanus. Bei custodia handelt es sich sogar um eine singuläre Verwendung. Für Verbalausdrücke, die die kreisförmige Umschließung der Erde durch den Ozean ausdrücken, lassen sich jedoch zahlreiche, auch frühere Belege anführen; vgl. Cic. rep. 6,21: terra […] parva quaedam insula est circumfusa illo mari, quod Atlanticum, quod magnum, quem Oceanum appellatis; Catull. 64,30: Oceanus […], mari totum qui amplectitur orbem; Hor. epod. 16,41: Oceanus circumvagus; Sen. nat. 3,29,7: qui terras cingit Oceanus; Flor. epit. 1,13,5; Mela 1,24; Gell. 12,13,20; Oros. 1,2,1; Firm. 3,5; Isid. orig. 13,15,1. Zu vinculum vgl. ferner das griechische Synonym δεσμός in den folgenden Versen, die innerhalb eines Poseidonios-Testimoniums überliefert sind (F 49 p. 72 Edelstein / Kidd = Strabo 2,3,5), aber wohl auf Eratosthenes zurückgehen: οὐ γάρ μιν [sc. τὸν Ὠκεανὸν] δεσμὸς περιβάλλεται ἠπείροιο, / ἀλλ’ ἐς ἀπειρεσίην κέχυται· τό μιν οὔτι μιαίνει. In diesen Versen wird die von Platon (Tim. 24e-25a) vertretene Auffassung, dass das Festland den Ozean umgibt, zurückgewiesen, d. h. δεσμός bezieht sich hier auf das Festland.Wenn aber das Wort die Umschließung des Ozeans durch das Festland bezeichnen kann, ist davon auszugehen, dass es im wissenschaftlichen Diskurs auch für die umgekehrte Vorstellung benutzt wurde, dass der Ozean das Festland umgibt.

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inagitata remigio vastitas: Für die Vorstellung vom unbewegten Ozean allgemein vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles. Ein spezieller Bezug auf das Rudern liegt auch Tac. Agr. 10,5 vor: mare […] grave remigantibus. litora modo saeviente fluctu inquieta, modo fugiente deserta: Der Deklamator meint, dass die Gezeiten Gefahren bergen. Fraglich ist allerdings, auf welche Küsten (litora) sich Moschus bezieht. Sollte er die Küste meinen, an denen Alexander der imaginären Situation zufolge steht, nämlich die indische Ozeanküste, würde er die Gefahr speziell beim Auslaufen beschreiben (vgl. Fabianus in § 4: aspice, […] quas ad litora undas agat [sc. Oceanus]; Artemon in § 11). Möglich ist aber auch, dass Küsten von Inseln oder Ländern gemeint sind, die im oder jenseits des Ozeans liegen. Einen entsprechenden Bezug stellt Fabianus in § 4 ex negativo her, wenn er behauptet, dass es im Ozean keinen Ankerplatz gibt: nulla praesens navigantibus statio est. Die Unsicherheit bei der Frage, auf welche Küsten sich Moschus bezieht, spiegelt sich auch in desertus wider: Die Grundbedeutung des Wortes („menschenleer“) spricht dafür, dass Moschus an entfernte Küsten denkt. Der Aufbau des Satzes hingegen ist als Indiz zu werten, dass desertus soviel wie „unbespült“ bedeutet. Diese Bedeutung ist allerdings nicht belegt. Für saevire mit Bezug auf das Meer vgl. Fabianus in § 4: aspice, quibus procellis fluctibusque [sc. Oceanus] saeviat; Ov. epist. 7,73; Sen. epist. 90,7: pelago saeviente. Müller (1887) 521 erwägt daher unnötigerweise, aestuante zu lesen, wie auch Håkanson ad loc. bemerkt (ebenso überflüssig sind die Konjekturen subeunte, superveniente und veniente). Auch inquieta ist zu Unrecht von Gertz (1888) 297 verdächtigt worden, der inpleta vorschlug; für litora inquieta vgl. Sen. epist. 17,3: nec unius comitatu inquieta sunt litora. Das Verb fugere wird, wenn es sich auf einen natürlichen Vorgang bezieht, sowohl mit Wolken als auch mit Wasser in Verbindung gebracht; für letztere Verbindung vgl. Ov. met. 11,468; Verg. Aen. 11,627 f.: [sc. pontus] rapidus retro atque aestu revoluta resorbens / saxa fugit litusque vado labente relinquit. taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit: Für die Dunkelheit auf dem Ozean vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: confusa lux alta caligine et interceptus tenebris dies. Der Teilsatz quod humanis natura subduxit oculis hat eine fast wörtliche Parallele bei Curtius Rufus (9,4,18): quae mortalium oculis Natura subduxerit. Da auch die Beschreibung des Ozeans in § 1 viele Entsprechungen zu derjenigen bei Curtius Rufus aufweist, ist davon auszugehen, dass diese drei Stellen miteinander zusammenhängen (s. den Kommentar zu stat immotum mare […] ignota sidera in § 1). Für premere in diesem Zusammenhang vgl. Curt. 7,3,11: obscura caeli verius umbra quam lux, nocti similis, premit terram. Für nescio qui („auf merkwürdige / ge-

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heimnisvolle Weise“) lassen sich über das OLD nur Parallelen bei Plautus (Merc. 388) und Terenz (Andr. 841) ausfindig machen, wie Håkanson ad loc. kommentiert. Jedoch benutzt auch Cicero diese Junktur; vgl. z. B. Cic. div. in Caec. 47; Flacc. 40; Sest. 68; Phil. 13,26; fam. 15,16,1. Für die Verbindung von nox mit obruit vgl. Lucr. 5,650: at nox obruit ingenti caligine terras; 6,864; Sen. epist. 36,11; Thy. 786. Für aeterna nox vgl. Lucr. 5,980 f.; Sen. Thy. 1094; vgl. auch perpetua nox Curt. 9,4,18 (s. S. 159). Bei premit et handelt es sich um eine gelungene Konjektur von Haase (vgl. Müller [1887] 521) anstelle des überlieferten remittet, da remittere in diesem Zusammenhang keinen Sinn ergibt. Zudem ist das Futur unverständlich. Für caligo (aut sim.) premit vgl. hingegen die oben angegebene Parallele bei Curtius Rufus; Ov. met. 11,521; Sen. epist. 24,26. Foeda beluarum magnitudo et immobile profundum: Auch Musa beschreibt den Ozean. Für die Ungeheuer im Meer vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit. Für die Unbeweglichkeit des Meeres vgl. ebenfalls § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles […] ipsum vero grave et defixum mare. testatus es, Alexander, nihil ultra esse, quod vincas; revertere: Anders als die vorigen Herausgeber sind wir der Meinung, dass das in den besten Handschriften überlieferte testatus es gehalten werden kann: Alexander war gewissermaßen Augenzeuge, dass jenseits des Ozeans keine Völker liegen, die er besiegen könnte (ultra ist als ultra Oceanum zu verstehen; vgl. Albucius in § 3). Wahrscheinlich spielt der Deklamator mit dieser Aussage auf die Fahrt auf dem Ozean an, als sich Alexander 400 Stadien auf das offene Meer hinaus wagte (s. S. 149; vgl. Curt. 9,9,27). Håkanson ad loc., der mit Müller (1887) 521 testatum est liest und für das Perfekt des Deponens eine passive Bedeutung annimmt (vgl. Cic. Mur. 20), verweist auf folgende Stelle bei Curtius Rufus (9,4,19): [sc. rex docet] nihil deinde praeter has gentes obstare, quominus terrarum spatia emensi ad finem simul mundi laborumque perveniant. Jedoch ist die Situation, die dort geschildert wird, eine andere: Alexander behauptet vor seinen Soldaten, dass nur noch einige wenige indische Stämme den Weg zum Ozean versperren. Musa zufolge hat er hingegen festgestellt, dass jenseits vom Ozean keine Völker mehr bezwungen werden können. Ferner besteht keine Notwendigkeit, die Konjektur testatum est zu übernehmen, womit ein unbestimmter Bezug auf Einheimische oder Geographen hergestellt würde. 3 Terrae quoque suum finem habent et ipsius mundi aliquis occasus est. nihil infinitum est: Für die Sentenz nihil infinitum est vgl. diejenige in § 1: nihil

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infinitum est nisi Oceanus. Im Gegensatz zum Deklamator, der in § 1 zitiert wird, wird der Ozean nicht als Ausnahme von der Regel genannt, dass nichts unendlich ist.Vermutlich entspricht es in der Tat Albucius’ Vorstellung, dass auch der Ozean begrenzt ist, da er Teil der Welt (mundus) sein dürfte und weiter unten gesagt wird, dass auch die Meere begrenzt sind (maria intra terminos suos agitantur). Beide Deklamatoren stimmen jedoch insofern überein, als es für Alexander sinnlos wäre, den Ozean zu durchqueren, da er nicht auf neues Land stoßen wird. Die Junktur occasus mundi ist insofern auffällig, als sie an den einzigen Parallelstellen, die wir finden konnten (Lucan. 10,39 und 276) den Westen bezeichnet. Hier muss allerdings das Ende der Welt gemeint sein. Daher ist diese Junktur mit anderen Verknüpfungen von occasus und einem Planeten wie sol (Caes. Gall. 1,50,3), luna (Liv. 44,37,7) oder Maia (Verg. georg. 1,225) nur insofern zu vergleichen, als eine zeitliche Begrenzung impliziert ist. Für occasus in der Bedeutung „Ende“ haben wir nur eine Parallele gefunden (Ps.Quint. decl. 9,18): semper odiorum honestus occasus est. Modum magnitudini facere debes, quoniam Fortuna non facit: In diesem utile-Argument wird Alexander dazu aufgefordert, sich selbst zu bescheiden, bevor sich das Schicksal gegen ihn wendet. Für den Gedanken vgl. § 9: [sc. Fabianus dixit] modum imponendum esse rebus secundis und Curt. 9,6,15: iamque confusis vocibus flentes eum orabant, ut tandem ex satietate laudi modum faceret ac saluti suae id est publicae parceret. Um den Gegensatz zwischen den beiden Teilsätzen noch deutlicher zu machen, hat man tu oder ipse im ersten Teil des Satzes ergänzt. Thomas (1900) 175 f. und Håkanson ad loc. haben diese Ergänzungen aber zu Recht verworfen, da der Gegensatz auch ohne ein Pronomen deutlich genug hervortritt. Thomas vergleicht contr. 7,5,1, wo Kiessling (1872) 335 in dem Satz miserrime puer, quamvis pericliter, plus tamen pro te timeo unnötigerweise das Pronomen ipse vor pericliter ergänzt, obwohl auch dort der Gegensatz deutlich genug ist. Magni pectoris est inter secunda moderatio: Hier wird anhand der Kategorie des honestum argumentiert. Eine einschlägige Parallele für die Mahnung zur Bescheidenheit in Momenten des Glücks ist Horaz’ Ode 2,10, in der er die aurea mediocritas beschreibt; vgl. Hor. carm. 2,10,13 – 15: metuit secundis / alteram sortem bene praeparatum / pectus. Mit Bezug auf Alexander vgl. Arr. an. 5,27,9 (Koinos’ Rede): καλὸν δέ, ὦ βασιλεῦ, εἴπερ τι καὶ ἄλλο, καὶ ἡ ἐν τῷ εὐτυχεῖν σωφροσύνη. Vgl. ferner Sen. nat. 3 praef. 7: secundis nemo confidat. Für pectus als Sitz der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten vgl. neben der zitierten Horazstelle Sen. dial. 2,6,1: ira ob alienum peccatum sordida et angusti pectoris est. Für magnum pectus vgl. Verg. Aen. 4,448.

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Eundem Fortuna victoriae tuae quem naturae finem facit: imperium tuum cludit Oceanus:Vgl. Pompeius Silo in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: idem sunt termini et regni tui et mundi; Sen. epist. 119,7: [sc. Alexander] scrutatur maria ignota, in Oceanum classes novas mittit et ipsa, ut ita dicam, mundi claustra perrumpit. Man könnte geneigt sein, an dieser Stelle einen Widerspruch zu der vorigen Stelle zu sehen, an der der Deklamator behauptet hat, dass das Schicksal Alexander keine Grenze setzt: modum magnitudini facere debes, quoniam Fortuna non facit. Denn nun heißt es, dass das Schicksal Alexander eine Grenze setzt. Es handelt sich allerdings nur scheinbar um einen Widerspruch, da zwei verschiedene Begrenzungen gemeint sind: Zuerst behauptet der Deklamator, dass das Schicksal Alexanders militärischen Erfolgen (noch) kein Ende setzt. Hier wird hingegen eine geographische Begrenzung festgestellt. Für eine ähnliche Sentenz über Alexander vgl. Curt. 10,5,36: vitae quoque finem eundem illi quem gloriae statuit [sc. fortuna]. O quantum magnitudo tua rerum quoque naturam supergressa est: Alexander orbi magnus est, Alexandro orbis angustus est: Der Deklamator spielt in dieser sprachlich parallelen Formulierung mit Alexanders Epitheton magnus. Auch hier liegt nur ein scheinbarer Widerspruch zum vorhergehenden Satz vor, da Alexander die Natur in Wirklichkeit nicht übertroffen hat, sondern die Überlegung, den Ozean zu durchqueren, eine mögliche Überschreitung der natürlichen Grenzen darstellt. Für den Gedanken vgl. Iuv. 10,168 f.: unus Pellaeo iuveni non sufficit orbis, / aestuat infelix angusto limite mundi. Die Positive magnus und angustus sind im Deutschen mit „zu groß“ bzw. „zu eng“ wiederzugeben; vgl. Val. Max. 8,14 ext. 2: Alexandri pectus insatiabile laudis, qui Anaxarcho comiti suo ex auctoritate Democriti praeceptoris innumerabiles mundos esse referenti ‘heu me’ inquit ‘miserum, quod ne uno quidem adhuc sum potitus!’ angusta homini possessio fuit, quae deorum omnium domicilio sufficit; Caes. Gall. 1,2,5: [sc. Helvetii] pro multitudine […] hominum […] angustos se fines habere arbitrabantur; Sen. benef. 6,31,3: alius [sc. dixit] angusta esse classibus [sc. Xerxis] maria. Für quoque i.S.v. „sogar“ vgl. § 4: qui ista toto pelago infusa caligo navigantem tibi videtur admittere, quae prospicientem quoque excludit?; Cic. off. 1,159: ea Posidonius collegit permulta, sed ita taetra quaedam, ita obscena, ut dictu quoque videantur turpia. Aliquis etiam magnitudini modus est: non procedit ultra spatia sua caelum; maria intra terminos suos agitantur: Derselbe Gedanke wird im ersten Satz in § 1 ausgedrückt: cuicumque rei magnitudinem natura dederat, dedit et modum. Für den Gedanken und die Beispiele aus der Natur vgl. teilweise Sen. epist. 79,8 f.: numquid sol magnitudini suae adicit? numquid ultra quam solet luna procedit? maria non crescunt; mundus eundem habitum ac modum servat. extollere se quae

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iustam magnitudinem implevere non possunt; vgl. auch nat. 3,30,6: natura pelagus stare aut intra terminos suos furere coget. Quidquid ad summum pervenit, incremento non reliquit locum: Teilweise vergleichbar mit dieser Vorstellung ist der Locus communis der alternierenden Aszendenz und Deszendenz. Aber im Unterschied zu diesem Locus communis thematisiert der Deklamator hier nur einen Aspekt, da er Alexander nicht vor dem Fall warnt, sondern ihn darauf hinweist, dass ein weiterer Aufstieg nicht mehr möglich ist (vgl. Edward [1928] 88). Insofern liegen stärkere Bezüge zur Aristotelischen Entelechie vor.Vgl. Sen. epist. 79,8: cum ad summum perveneris, paria sunt; non est incremento locus, statur. Das überlieferte reliquit hat Håkanson ad loc. mit dem Argument verteidigt, dass ein gnomisches Perfekt wie Hor. ars 342 vorliegt: omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci. Zögernd schließen wir uns dieser Auffassung an und meinen, dass reliquit nicht mit C.F.W. Müller zu relinquit (vgl. Müller [1887] 521) emendiert werden muss. Denn das Perfekt reliquit drückt das Resultat aus, dass keine weitere Steigerung möglich ist. Non magis quicquam ultra Alexandrum novimus quam ultra Oceanum: Die Präposition ultra wird hier in einer Distinctio (vgl. Lausberg §§ 660 – 662) verwendet, da sie mit Bezug auf Alexander etwas „Größeres als Alexander“, mit Bezug auf den Ozean „jenseits des Ozeans“ bedeutet; vgl. Bornecque (1902) II 289: nous ne connaissons rien au-dessus d’Alexandre, non plus qu’au-delà de l’Océan. Für die Distinctio in den Suasorien vgl. suas. 2,7: vincamus hostes, socios iam vicimus; 7,5: credamus Antonio, Cicero, si bene illi pecunias crediderunt faeneratores, si bene pacem Brutus et Cassius. Für das Herrscherlob vgl. Cestius’ Instruktionen in §§ 5 – 8. MARVLLI: Die beiden Sätze, die Seneca d.Ä.von diesem Deklamator zitiert, lassen kein Urteil darüber zu, ob Marullus in der Rolle eines unbestimmten Ratgebers oder in derjenigen Alexanders spricht. Da Marullus der einzige Deklamator wäre, der Alexander personifiziert, ist wahrscheinlicher, dass auch er aus der Sicht eines Soldaten oder Generals spricht. Zur Personifizierung allgemein s. das Kapitel „Die Suasorie“ (S. 5 – 7). Maria sequimur, terras cui tradimus?: Auch Marullus betont das strategische Risiko, das mit der Durchquerung des Ozeans verbunden ist. Vgl. Moschus in § 2: non quaerimus orbem, sed amittimus. orbem, quem non novi, quaero, quem vici, relinquo?: Zur Suche nach einem neuen Erdkreis vgl. Moschus in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: non quaerimus

1.2 Kommentar

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orbem, sed amittimus. Anders als die vorigen Herausgeber lesen wir diesen Satz als Frage.Vgl. dieselbe Problematik bei Moschus in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: quod noveram, vici; num concupisco, quod nescio? Auch die Dubitative quaero und relinquo („soll ich suchen / soll ich zurücklassen“) haben dort eine Parallele in concupisco. Die partikellose direkte Satzfrage ist bei den Deklamatoren die Regel. 4 FABIANI: Fabianus argumentiert mit den Gefahren des Meeres und beschreibt den Ozean. Die Beschreibung nimmt den größten Teil dieses Exzerptes ein. Abschließend erinnert der Deklamator in einem Satz an Alexanders Mutter. Qui ista toto pelago infusa caligo navigantem tibi videtur admittere, quae prospicientem quoque excludit?: Fabianus benutzt ein Argumentum a maiori: Wenn die Dunkelheit verhindert, dass man auf dem Meer sehen kann, dann verhindert sie erst recht, dass man es durchfahren kann. Für den Gedanken der Dunkelheit auf dem Ozean vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: confusa lux alta caligine et interceptus tenebris dies. Bei toto pelago handelt es sich wohl um ein Dativobjekt zu infusa. Da der Dativ von totus gewöhnlicherweise toti heißt, stellen Ahlheim und Gertz diese Form her. Diese Konjektur ist aber wohl unnötig, wie Håkanson ad loc. unter Verweis auf Neue – Wagener II S. 529 f. bemerkt, wenngleich im Werk des älteren Seneca die Dativform toto sonst nirgends vorkommt. Vgl. aber folgende Stellen, an denen der überlieferte Dativ toto von den Herausgebern teilweise geändert wurde: Caes. Gall. 7,89,5: ex reliquis captivis toto exercitui capita singula […] distribuit; Hirt. Gall. 8,34,4; Ov. am. 3,3,41; Curt. 6,5,27. Anders als alle modernen Herausgeber, die Schultings Konjektur quid? ista übernehmen, sind wir der Meinung, dass mit qui ista eine Emendation gelesen werden kann (mündlicher Hinweis von Thorsten Burkard), die näher an der Überlieferung bleibt (in A und B ist quista überliefert, durch B2 und V quae ista). Für qui in der direkten Frage vgl. Cic. de orat. 1,50: qui discernes eorum […] in dicendo ubertatem et copiam ab […] exilitate […]?; fat. 38: quod autem verum non est, qui potest non falsum esse? Zu pelagus vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle. Für quoque i.S.v. „sogar“ vgl. § 3: o quantum magnitudo tua rerum quoque naturam supergressa est. non haec India est nec ferarum terribilis ille conventus: Fabianus meint, dass die Gefahren, die mit dem Ozean verbunden sind, noch viel schlimmer sind als diejenigen Indiens (vgl.Winterbottom [1974] II 489 Fußn. 3). Mit den wilden Tieren Indiens dürften vor allem die Elefanten und Schlangen gemeint sein, die Curtius Rufus nennt (Curt. 9,2,19; 9,3,8). Für die Elefanten vgl. auch Lucr. 2,536 – 540. Schultings Ergänzung von gentium hinter ille, die Bornecque (1902) II 290 übernimmt, entstellt den Sinn und ist aufgrund der angeführten inhaltlichen Parallelen zu verwerfen. Möglicherweise hat der Bezug von conventus auf wilde Tiere

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Schulting zu der Supplierung veranlasst.Vgl. aber Sen. dial. 4,8,2, wo ebenfalls die Junktur conventus ferarum vorliegt. Dass conventus nicht nur die förmliche Zusammenkunft bezeichnet, geht schon aus Cic. parad. 27 hervor: quae est enim civitas? omnisne conventus etiam ferorum et immanium? immanes propone beluas, aspice, quibus procellis fluctibusque saeviat, quas ad litora undas agat: Für die Ungeheuer im Meer vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit. Das Verb proponere bedeutet hier „sich vor Augen führen“ (vgl. OLD s.v. propono 5). Håkansons (1989) 332 Ergänzung von Oceanus hinter procellis wird auch von O. & E. Schönberger (2004) 308 zurückgewiesen. Da wir es mit einem Exzerpt zu tun haben, ist es das Wahrscheinlichste, dass Seneca d.Ä. diesen Satz aus einem Zusammenhang gerissen hat, in dem der Ozean das Subjekt war. Für saevire mit Bezug auf das Meer vgl. Moschus in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle. tantus ventorum concursus, tanta convulsi funditus maris insania est: Die stürmischen Winde als Verursacher des wogenden Meeres werden in dieser Suasorie sonst nirgends erwähnt. Insania wird nicht häufig mit Bezug auf natürliche Phänomene verwendet (vgl. ThLL VII 1,1829,12– 17); vgl. Sen. nat. 4a,2,6: inter rapidam insaniam Nili; Stat. silv. 4,4,86. Für convellere mit Bezug auf das Meer vgl. Verg. Aen. 5,142 f.: totum […] dehiscit / convulsum remis rostrisque tridentibus aequor. nulla praesens navigantibus statio est, nihil salutare, nihil notum: Für statio i.S.v. „Ankerplatz“, „Anlegeplatz“ vgl. Liv. 23,34,2: ubi navis occulta in statione erat und Verg. Aen. 2,23: statio male fida carinis. Das Adjektiv praesens bedeutet hier „sichtbar“; vgl. Verg. Aen. 3,174: praesentia […] ora videbar [sc. agnoscere]. Die Form praesenti in den Handschriften A und B wird, wie Håkanson ad loc.vermutet, infolge partieller Antizipation von navigantibus in den Text geraten sein. Daher ist mit V praesens zu lesen. Für das Unbekannte, das Alexander und seine Soldaten auf dem Ozean erwarten würde, vgl. Moschus in § 2: num concupisco, quod nescio?; Marullus in § 3: orbem, quem non novi, quaero […]? rudis et imperfecta natura penitus recessit: Der Gedanke, dass der Ozean aufgrund seiner Randlage etwas Defizitäres darstellt, scheint keine Entsprechung im wissenschaftlichen Diskurs zu haben. Er liegt aber auch bei Glykon in § 11 vor: τοῦτο εἰ μή τι κακὸν ἦν, οὐκ ἂν ἔσχατον ἔκειτο. Möglicherweise liegt die Vorstellung zugrunde, dass jenseits des Ozeans Chaos-ähnliche Zustände herrschen, da Ovid das Adjektiv rudis mit Bezug auf das Chaos benutzt (met. 1,7): chaos: rudis

1.2 Kommentar

173

indigestaque moles. Ferner wird das Chaos in dieser Suasorie bezeichnenderweise von eben jenem Glykon in § 16 erwähnt: ὑγίαινε, γῆ, ὑγίαινε, ἥλιε· Μακεδόνες ἄρα χάος εἰσᾴσσουσι. Der Gedanke speist sich letztlich vielleicht aus der Assoziierung des Unbekannten mit dem Gefährlichen (vgl. im vorigen Satz nihil salutare, nihil notum). Die Angabe penitus recessit ist als penitus in oder trans Oceanum recessit zu verstehen (vgl. ThLL X 1,1077,46 f. und Håkanson ad loc.). Für diesen Gebrauch von penitus, das zumeist um eine Ortsangabe erweitert ist, vgl. Verg. ecl. 1,66: penitus toto divisos orbe Britannos; Liv. 28,1,2: Hasdrubal […] ad Oceanum penitus Gadesque concesserat. ista maria ne illi quidem petierunt, qui fugiebant Alexandrum: Diese pointierte Aussage impliziert, dass der Ozean eine größere Gefahr darstellt als Alexanders militärische Bedrohung. sacrum quidem terris natura circumfudit Oceanum: Für den Gedanken, dass der Ozean die Erde umgibt, vgl. Moschus in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: totius orbis vinculum terrarumque custodia. Der Gedanke, dass der Ozean etwas Heiliges ist, findet sich auch bei Artemon in § 11: εἴτε γῆς τέρμα εἴτε φύσεως ὅρος εἴτε πρεσβύτατον στοχεῖον εἴτε γένεσις θεῶν, ἱερώτερόν ἐστιν ἢ κατὰ ναῦς ὕδωρ. Vgl. ferner die Horaz-Ode 1,3, wo seine Durchquerung als nefas (carm. 1,3,26) gebrandmarkt wird; das zweite Chorlied in Senecas Medea (301– 379); Albinovanus Pedos dritten Vers (§ 15). Für circumfundere mit Bezug auf den Ozean vgl. Cic. rep. 6,21 (s. S. 165). Müller (1887) 522 und Håkanson (1989) 332 übernehmen Gertz’ (1879) 146 Konjektur quiddam anstelle des überlieferten quidem. Doch scheint uns dieser Eingriff in den Text ebenso unnötig zu sein wie derjenige Nováks (1908) 132, der zögernd vorschlägt, enim statt quidem zu lesen, da quiddam beim älteren Seneca nicht belegt sei (vgl. aber contr. 1,2,17). Für Partikel, die durch den Exzerpiervorgang funktionslos geworden sind, s. S. 456. illi, qui … habeat an spiritum: Der Deklamator weist in einem langen Satz darauf hin, dass das Wesen des Ozeans im Gegensatz zu anderen natürlichen Phänomenen umstritten ist, so dass seine Durchquerung mit vielen unwägbaren Gefahren verbunden ist. Mit illi sind Naturphilosophen gemeint. siderum collegerunt metas:Wir sind mit Kiessling (1872) 3 der Meinung, dass das überlieferte metas (AV) beibehalten werden kann und nicht mit Ribbeck zu meatus geändert werden muss, wie es Håkanson (1989) 333, Winterbottom (1974) II 490 und Müller (1887) 522 tun, bzw. mit B2 motus zu lesen ist (so Bursian [1857] 3). Der Bevorzugung von meatus liegt wohl die Vorstellung zugrunde, die Håkanson ad loc. formuliert, dass hier der siderum cursus annuus gemeint ist, also der jährliche

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1 suas. 1

Umlauf der Gestirne. Es spricht jedoch nichts dagegen, meta hier als Pars pro toto für den Umlauf aufzufassen. Das Verb colligere bedeutet hier „berechnen“ (vgl. ThLL III 1619,8 – 44); vgl. für diese Bedeutung in diesem Zusammenhang Quint. inst. 2,17,38: qui intervalla siderum et mensuras solis ac terrae colligunt. annuas hiemis atque aestatis vices ad certam legem redegerunt: Gemeint ist eine Beschreibung der Jahreszeiten. Für vices in diesem Zusammenhang vgl. Hor. carm. 1,4,1: solvitur acris hiems grata vice veris et Favoni. de Oceano tamen dubitant, utrumne terras velut vinculum circumfluat an in suum colligatur orbem: Die beiden Möglichkeiten, die der Deklamator referiert, bestehen darin, dass der Ozean die Erde umgibt oder dass er sie aus seinem Inneren bespült, wodurch sich die Gezeiten erklären. Für die erste Vorstellung vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: totius orbis vinculum terrarumque custodia. Für die zweite Vorstellung und colligere in diesem Zusammenhang vgl. Mela 3,1: ubi in omnia litora, quamvis diversa sint, terrarum insularumque ex medio pariter effusum est, rursus ab illis colligitur in medium et in semet ipsum redit. utrumne: Für utrumne in der indirekten Doppelfrage im Werk des älteren Seneca vgl. suas. 6,19: [sc. cogitavit] utrumne Brutum an Cassium an Sex. Pompeium peteret; contr. 7,1,20; 10,4,19; Sander (1877) 21. Die häufigere Verknüpfung der indirekten Doppelfrage ist auch im Werk des älteren Seneca utrum […] an. circumfluat: Überliefert sind an dieser Stelle pluat (AB), circumpluat (V) und circumfluat (D2).Winterbottom (1974) II 490 liest mit Bursian (1869) 4 cludat. Ferner wurden die Konjekturen perfluat und amplectatur vorgeschlagen. Håkanson (1989) 333 liest circumfluat und verteidigt seine Entscheidung ad loc. damit, dass circum- nach vinculum leicht ausgefallen sein kann und die Verschreibung eines -fzu -p- leicht ist (vgl. § 5 veritatem pati,wo facti statt pati (umstritten) überliefert ist). Erschwert wird die textkritische Entscheidung dadurch, dass die in Frage kommenden Verben entweder zum Ozean oder zum Band (vinculum) passen: Circumfluere lässt sich selbstverständlich mit dem Ozean verknüpfen (vgl. Gell. 12,13,20), ist aber nicht mit Bezug auf ein Band (vinculum) belegt. Dasselbe gilt für claudere (für den Bezug auf den Ozean bzw. den orbis terrarum vgl. Sen. Oed. 504: Oceanus clausum dum fluctibus ambiet orbem; Verg. Aen. 1,233). Als Verba propria bezeichnen constringere (vgl. Cic. de orat. 1,226) und circumdare (vgl. Liv. 21,43,3; Ov. met. 1,631) die Umschnürung durch ein Band. Da man aber ohnehin von einem zeugmatischen Gebrauch des Verbs an dieser Stelle ausgehen muss, lesen wir wie Håkanson die Korrektur circumfluat aus den von ihm genannten paläographischen Erwägungen.

1.2 Kommentar

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et in hos per quos navigatur sinus quasi spiramenta quaedam magnitudinis exaestuet: Die Erweiterung der Alternative beschreibt den Ozean in einer Weise, die das Phänomen der Gezeiten verständlich macht. Dabei handelt es sich um eine animalistische Theorie, die Ebbe und Flut als Effekte des ein- und ausatmenden Ozeans beschreibt. Diese Theorie geht zumindest auf Athenodoros von Tarsos (1. Jh.v.Chr.), vielleicht sogar auf dessen Lehrer Poseidonios (vgl. Poseidonios F 214 p. 191 Edelstein / Kidd = Strabo 1,1,8 f.) zurück. Zu Athenodoros von Tarsos vgl. FGrHist 746 F 6c Jacoby = Strabo 3,5,7: εἰ δ’, ὥσπερ Ἀθηνόδωρός φησιν, εἰσπνοῇ τε καὶ ἐκπνοῇ τὸ συμβαῖνον περὶ τὰς πλημμυρίδας καὶ περὶ τὰς ἀμπώτεις ἔοικεν […]. Vgl. für die animalistische Theorie auch Strabo 1,3,8 und Mela 3,2, der sie als erste von drei möglichen Erklärungen der Gezeiten referiert: neque adhuc satis cognitum est, (1) anhelitune id suo mundus efficiat retractamque cum spiritu regerat undam undique, si, ut doctioribus placet, unum animal est, (2) an sint depressi aliqui specus, quo reciprocata maria residant, atque unde se rursus exuberantia adtollant, (3) an luna causas tantis meatibus praebeat. Die Alternativerklärungen bestehen (2) in der Vorstellung von unterirdischen Hohlräumen, die auf Platon (vgl. Phaid. 111c112e) zurückgeht, und (3) in der Annahme, dass die Gezeiten durch den Mond beeinflusst sind; vgl. Sen. dial. 1,1,4 mit Lanzarone ad loc. Die letzte Theorie lässt sich bis Pytheas von Massalia (4. Jh. v.Chr.) zurückverfolgen (vgl. Plin. nat. 2,217; Aet. 3,17,3). Für die Vorstellung, dass Luftkanäle (spiramenta) die Erde durchziehen, vgl. Lucan. 10,247 f.: sunt, qui spiramina terris esse putent; Sen. nat. 6,23,4: spiritus intrat terram per occulta foramina, quemadmodum ubique, ita et sub mari; für das Wort spiramentum vgl. die animalistische Theorie über Vulkane Ov. met. 15,342 f.: nam sive est animal tellus et vivit habetque / spiramenta locis flammam exhalantia multis. Für exaestuare mit Bezug auf den Ozean bei Flut vgl. Curt. 9,9,9: tertia ferme hora erat, cum stata vice Oceanus exaestuans invehi coepit et retro flumen urgere; Sen. dial. 6,18,6. ignem post se, cuius augmentum ipse sit, habeat an spiritum: Dass das Meer das Feuer ernährt, ist ein Gedanke, der im zweiten (‘stoischen’) Buch von Ciceros De natura deorum und an anderen Stellen der griechischen und lateinischen Literatur häufig referiert wird; vgl. Cic. nat. deor. 2,40 mit Pease ad loc.: cum sol igneus sit Oceanique alatur umoribus. Die Frage hingegen, ob sich hinter dem Ozean Luft befindet, mag aus der stoischen Lehre herrühren, dass aus Wasser Luft und umgekehrt entsteht; vgl. Sen. nat. 3,10,1: ex aqua aer, ex aere aqua [sc. fit]. Für spiritus als Bezeichnung des Elementes Luft vgl. OLD s.v. spiritus 9; Cic. nat. deor. 2,18: ab aere eo, quem spiritum dicimus; Plin. 2,10. Das Substantiv augmentum ist vor dem 2. Jh. n.Chr. nur noch bei Varro (ling. 5,22,112) in einem ganz anderen Zusammenhang belegt (vgl. ThLL I 1360,41– 44), weswegen Håkanson (1989) 333 Gertz’ (1879) 146 f. Konjektur alimentum übernimmt. Dieser textkritische Eingriff

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1 suas. 1

geht jedoch von der Voraussetzung aus, dass der Deklamator sich technisch korrekt ausdrückt. Da dies zweifelhaft ist und Cicero augere in diesem Zusammenhang nahezu synonym zu alere benutzt (vgl. Cic. nat. deor. 2,33; 41; 50: multaque ab ea [sc. luna] manant et fluunt, quibus et animantes alantur augescantque et pubescant; 81; 83), halten wir zögernd augmentum. quid agitis, commilitones? *** domitoremque generis humani, magnum Alexandrum, eo dimittitis, quod adhuc quid sit disputatur?: Fabianus wendet sich in einer Apostrophe an seine Kameraden. In dem Nachsatz fasst er sein vorher benutztes Argument zusammen, dass der Ozean unbekannt geblieben ist. Für das Epitheton magnus im Zusammenhang mit Alexander vgl. Albucius in § 3: Alexander orbi magnus est. Als domitor wird Alexander als einzelne Person, soweit wir sehen, in der lateinischen Literatur nur noch bei Mela herausgehoben (2,34): Philippus Graeciae domitor, Alexander etiam Asiae. Bei Curtius Rufus bezieht sich das Wort einmal im Plural auf Alexander und seine Soldaten (3,12,19), einmal auf das Heer (5,1,39); vgl. jedoch auch Oriente perdomito (10,5,36), wozu Alexander logisches Subjekt ist. Das an domitorem angehängte -que haben die meisten modernen Herausgeber mit Haupt (1876) 443 zu -ne emendiert. Gegen diese Emendation spricht allerdings, dass in den Deklamationen partikellose Fragen die Regel sind (vgl. Novák [1895] 299 f.). Håkanson (1989) 333 hat -que getilgt, da es als Dittographie aus dem folgenden ge- von generis entstanden sei. Diese Vermutung hat schon Novák (s.o.) geäußert, sich jedoch (1915) 281 umentschieden und die Ergänzung von ducem vestrum vor domitoremque vorgeschlagen. Eine Supplierung findet sich bereits in der jüngeren Handschrift D: dort wird regem vor domitoremque ergänzt (für rex mit Bezug auf Alexander vgl. § 5). Da das angehängte -que in der Tat darauf hindeutet, dass ein Ausfall vorliegt, aber nur darüber spekuliert werden kann, welches Wort ausgefallen ist, zeigen wir eine Lacuna an. Der Ausfall eines Wortes liegt auch in § 5 vor, wo die Recentiores deum ergänzen. memento, Alexander, matrem in orbe victo adhuc magis quam pacato relinquis: Auch Fabianus benutzt das strategische Argument, dass das eroberte Gebiet noch nicht gesichert ist (vgl. Moschus in § 2 und Marullus in § 3), und gibt ihm eine persönliche Note, indem er auf Alexanders Mutter Olympias verweist. Wie aus seiner divisio (§ 10) deutlich wird, handelt es sich um zwei Argumente, die Fabianus in dieser Sentenz verknüpft. Auf Alexanders Mutter bezieht sich auch Cestius (vgl. § 8). Dass gerade seine Mutter als Bezugsperson erwähnt wird, liegt an Alexanders besonderer Beziehung zu ihr (Alexander wollte sie vergöttlichen; vgl. Curt. 9,6,26). Das Argument, dass das eroberte Gebiet noch nicht befriedet ist, entspricht insofern historischen Tatsachen, als es immer wieder Versuche sowohl in Griechenland als auch in den anderen eroberten Gebieten gab, abtrünnig zu

1.2 Kommentar

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werden (vgl. z. B. Curt. 7,4,32; 7,6,13; 8,2,13 – 18; 8,13,3; 9,10,19 – 21). Für die mit memento eingeleitete Anrede an Alexander vgl. diejenige an Flamininus contr. 9,2,8: memento terrorem imperio quaeri, non oblectamenta mulierculis. Die Korrektur pacato (τ) ist mit den bisherigen Herausgebern anstelle des überlieferten cato zu lesen, da das Adjektiv catus in diesem Kontext keinen Sinn ergibt und pacato eine leichte Verbesserung ist.

Die divisio (5 – 10) Die divisio ist zweigeteilt: zunächst wird die divisio des Cestius referiert (§§ 5 – 8), dann diejenige des Fabianus (§§ 9 – 10). Jedoch spielt in dem Referat über Cestius die eigentliche divisio eine eher untergeordnete Rolle, denn Seneca d.Ä. erklärt nur knapp, wie Cestius seine Deklamation gegliedert hat (§ 8). Den größeren Raum nehmen Ratschläge zum Halten der Deklamation ein (§§ 5 – 7), die Cestius wohl seinen Schülern gegeben hat und damit dieselbe Funktion haben wie der sermo der kleineren pseudoquintilianischen Deklamationen und die θεωρία bzw. προθεωρία der griechischen Rhetoren (zu letzteren s. unsere „Übersicht über die antike Suasorie“, v. a. S. 86 f; 88; 90 f.). Innerhalb der Deklamationssammlung des älteren Seneca, d. h. sowohl mit Blick auf die Suasorien als auch mit Blick auf die Kontroversien, ist dies der einzige Fall, in dem ein sermo eines Rhetors wiedergegeben wird. Ob die Ratschläge und dazugehörigen Beispiele, die in den Paragraphen 5 – 7 genannt sind, gänzlich auf Cestius zurückzuführen sind oder nur hauptsächlich von diesem stammen und durch Gedanken des älteren Seneca ergänzt werden, lässt sich aufgrund des Wechsels von direkter und indirekter Rede nicht eindeutig angeben. Aber es wäre wohl ein Irrtum zu glauben, dass der Wechsel von indirekter zu direkter Rede automatisch bedeutet, dass Seneca d.Ä. nicht mehr Cestius’ Gedanken referiert. Trotzdem meinen wir, dass sich eine Vermischung von Gedanken der beiden Personen erkennen lässt, was weniger aufgrund von formalen als inhaltlichen Erwägungen wahrscheinlich ist. Seneca d.Ä beginnt das Referat (§ 5) mit den Worten aiebat Cestius und behält die indirekte Rede bis accepimus bei. Dann folgt ein Satz in direkter Rede (denique […] coarguit […] capit), ohne dass die Wiedergabe von Cestius’ Ratschlägen unterbrochen zu sein scheint, bevor Seneca d.Ä. von einem Scherz auf Kosten Alexanders erzählt, wobei er von der anfänglichen indirekten Rede (itaque nihil dicendum aiebat) zur direkten (eius philosophus mirari se dixerat […] ille se ab hac urbanitate lancea vindicavit) wechselt. Bis hierhin scheint Seneca d.Ä. Cestius’ Instruktionen wiederzugeben (vgl. Fairweather [1981] 54).

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1 suas. 1

Der erste Satz von Paragraph 6 resümiert das zuvor Gesagte in direkter Rede. Dann bezieht sich Seneca d.Ä. mit aiebat wiederum auf Cestius. Es folgt die längere Erläuterung eines Beispiels (Antonius’ Aufenthalt in Athen), das von Cestius stammt, jedoch in direkter Rede von Seneca d.Ä. wiedergegeben wird (§§ 6 – 7). Das Beispiel wird jedoch durch drei Anekdoten (Witz des Graeculus, Scheidungswitz, der Witz mit den Raten) erweitert, die nicht das Ziel verfolgen, auf die Notwendigkeit von Herrscherlob in dieser Suasorie aufmerksam zu machen. Daher handelt es sich vielleicht bei diesen drei Anekdoten um Hinzufügungen des älteren Seneca (s. den Kommentar zur Stelle). In Paragraph 8 wird Cestius’ zentraler Ratschlag unter ausdrücklichem Verweis auf diesen (aiebat) wiederholt. Schließlich gibt Seneca d.Ä. dessen divisio – wie üblich – in indirekter Rede wieder bzw. beschreibt diese. Der Wechsel von der indirekten Rede zur direkten Rede lässt sich daher hauptsächlich durch die Länge des Referats und nicht durch das Kriterium begründen, wessen Gedanken referiert werden. 5 Aiebat CESTIVS hoc genus suasoriarum aliter declamandum esse quam suadendum: Bei diesem Satz hat es vielfältige Emendationsvorschläge gegeben. Müller (1887) 523 und Winterbottom (1974) II 490 lesen hinter suasoriarum mit Novák alibi, emendieren esset zu esse und tilgen quam suadendum mit Faber (1672) 4: aiebat Cestius hoc genus suasoriarum alibi aliter declamandum esse: „Cestius sagte, dass diese Art der Suasorien an verschiedenen Orten verschieden deklamiert werden muss.“ Diese Textkonstitution versucht dem im nächsten Satz ausgedrückten Gedanken Rechnung zu tragen, dass man in einem freien Staat anders spricht als vor Königen. Bursian (1869) 4 und Håkanson (1989) 333 ergänzen cum magis laudandum bzw. adulandum hinter declamandum: aiebat Cestius hoc genus suasoriarum aliter declamandum, cum magis laudandum (Bursian; adulandum Håkanson) esset quam suadendum: „Cestius sagte, dass diese Art der Suasorien anders [sc. als andere] deklamiert werden muss, weil man eher schmeicheln als beraten muss.“ Håkansons adulandum hat dabei einen Rückhalt in § 6 (aiebat itaque apud Alexandrum esse dicendam sententiam, ut multa adulatione animus eius permulceretur), Bursians laudandum in § 8 (aiebat Cestius magnis cum laudibus Alexandri hanc suasoriam esse dicendam). Diese Emendation hat für sich, dass ebenfalls im nächsten Satz gesagt wird, dass man Königen zwar raten soll, aber dennoch so, dass die Ratschläge gefallen, womit konkret die Anwendung von Herrscherlob gemeint ist (s. die folgende Anmerkung). In jedem Fall geht aus dem Kontext hervor, dass sich der Unterschied, der in aliter declamandum zum Ausdruck kommt, letztlich auf den Adressaten der Suasorie bezieht, d. h. auf die Tatsache, dass man vor Leuten wie Alexander anders sprechen muss als z. B. vor Senatoren in der römischen Kurie. Es geht jedoch nicht um einen

1.2 Kommentar

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Vergleich zwischen Kontroversie und Suasorie, weshalb Edwards (1928) 90 Auffassung, dass hoc genus suasoriarum „in this class which consists of suasoriae“ bedeute, abwegig ist (vgl. Håkanson ad loc.). Die einfachsten Textkonstitutionen, die den geforderten Sinn gewähren, sind entweder diejenigen von Bursian (1857) 3 und Kiessling (1872) 4, die esset zu esse emendieren (aiebat Cestius hoc genus suasoriarum aliter declamandum esse quam suadendum), oder diejenige von Haase, der esset und quam transponiert: aiebat Cestius hoc genus suasoriarum aliter declamandum [sc. esse], quam esset suadendum. Da auch an anderen Stellen in der Überlieferung finite statt infinite Verbformen und umgekehrt von esse (und Komposita) überliefert sind (vgl. § 2: adesset; suas. 6,9: esse illi), übernehmen wir Bursians und Kiesslings Textkonstitution. Vgl. auch das überlieferte supervenisset (statt supervenisse) in § 13 und pervenisset (statt pervenisse) suas. 2,3. non eodem modo in libera civitate dicendam sententiam quo apud reges, quibus etiam quae prosunt ita tamen, ut delectent, suadenda sunt: Dieser Satz erklärt den vorigen (s. die vorige Anmerkung): Beim Halten einer Suasorie muss man die Staatsform bzw. den Adressaten berücksichtigen. Ratschläge, die man Herrschern wie Alexander erteilt, muss man mit einem Herrscherlob verknüpfen. Cestius empfiehlt also den Gebrauch der figurierten Redeweise; vgl. den ersten von drei bzw. sechs Typen des λόγος ἐσχηματισμένος nach Dionysius von Halikarnass (s. allg. Einleitung S. 57); Quintilians Typologie der oratio figurata (inst. 9,2,66): eius triplex usus est: unus si dicere palam parum tutum est, alter si non decet, tertius qui venustatis modo gratia adhibetur et ipsa novitate ac varietate magis quam si relatio sit recta delectat (der hier vorliegende Fall gehört wohl zu Typ 1 nach Quintilian, wie Cestius’ weitere Instruktionen zeigen). Cestius’ Hinweis zum Halten dieser Suasorie wird von den Deklamatoren befolgt, wie man daraus ersehen kann, dass viele Äußerungen, die Seneca d.Ä. zitiert, Herrscherlob zum Ausdruck bringen (vgl. Argentarius, Silo und Moschus in § 2, Albucius in § 3). Das Verb prodesse verweist hier auf das genus deliberativum. Denn innerhalb des genus deliberativum wird die Kategorie des utile bisweilen als die zentrale Kategorie neben dem honestum und dem δυνατόν (zu diesen drei klassischen Kategorien s. S. 63) angesehen, so dass sie stellvertretend für das ganze genus deliberativum steht; vgl. Cic. de orat. 1,141: in deliberationibus, quae omnes ad utilitatem dirigerentur eorum, quibus consilium daremus; Quint. inst. 3,8,42: suasoris enim finis est utilitas eius, cui quisque suadet. Das Verb delectare impliziert an dieser Stelle Herrscherlob, wie aus den späteren Stellen ersichtlich ist, an denen Cestius’ Vorschrift wiederholt wird; vgl. weiter unten: itaque nihil dicendum aiebat nisi cum summa veneratione regis; § 6: aiebat itaque apud Alexandrum esse dicendam sententiam, ut multa adulatione animus eius permulceretur; § 8: aiebat Cestius magnis cum laudibus Alexandri hanc suasoriam esse dicendam. Für den Adres-

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satenbezug als einer der drei Umstände, die beim genus deliberativum zu berücksichtigen sind, vgl. Quint. inst. 3,8,15: in suadendo ac dissuadendo tria primum spectanda erunt: quid sit, de quo deliberetur; qui sint, qui deliberent; qui sit, qui suadeat; 3,8,37 f.: multum interest, senatus sit an populus [sc. die überlegende Gruppe]; […] intuenda sexus dignitas aetas [sc. des Adressaten]; sed mores praecipue discrimen dabunt. et inter reges ipsos esse discrimen: quosdam minus aut magis [us] veritatem pati; Alexandrum ex iis esse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum elatos accepimus: Für das negative Alexanderbild, das Cestius hier zeichnet, vgl. Cic. Att. 13,28,3: quid? tu non vides ipsum illum Aristoteli discipulum, summo ingenio, summa modestia, postea quam rex appellatus sit, superbum, crudelem, immoderatum fuisse? Vor allem bei Seneca d.J. und Lukan finden sich zahlreiche Parallelen; vgl. Sen. epist. 91,17; 94,63; 119,7 f.; benef. 1,13; 5,6,1; 7,2,5 – 7,3,1; nat. 5,18,10; 6,23,2 f.; Lucan. 10,28 – 46; Hoffmann (1907) 50 – 58. Ab discrimen ist der Satz schlecht überliefert, so dass die genaue Unterteilung der Herrscher und Alexanders Beziehung zu diesen Untergruppen unklar bleibt. Verschiedene Emendationsvorschläge wurden unterbreitet: Bursian (1857) 3 liest mit Schott osos (statt us), transponiert und ändert facti zu fastu und liest am Ende inflatos accepimus: quosdam minus aut magis osos veritatem; Alexandrum fastu exisse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum inflatos accepimus. Kiessling (1872) 4 folgt Bursian, liest aber im Unterschied zu diesem facile Alexandrum (statt Alexandrum fastu): quosdam minus aut magis osos veritatem; facile Alexandrum exisse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum inflatos accepimus. Müller (1887) 523 liest mit Novák alios statt aut und mit Haase ex iis esse statt exisse: quosdam minus, alios magis osos veritatem; facile Alexandrum ex iis esse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum inflatos accepimus. Winterbottom (1974) II 490 liest mit Leo (1905) 300 pati statt facti und tilgt us bzw. verzichtet auf Schotts Konjektur osos: quosdam minus, alios magis veritatem pati; Alexandrum ex iis esse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum inflatos accepimus. Håkanson (1989) 333 unterscheidet sich von Winterbottom nur dadurch, dass er minus aut magis bewahrt: quosdam minus aut magis veritatem pati; Alexandrum ex iis esse, quos superbissimos et supra mortalis animi modum inflatos accepimus. Die Tilgung von us rechtfertigt er ad loc. damit, dass er die Genese von magisus dadurch erklärt, dass aus der trivialen Perseveration minus aut magus und einer über das -us von magus geschriebenen Korrektur -is die kombinierte Form resultierte. Die Tilgung von us erscheint in der Tat einfacher als die Annahme von osos (für dieses seltene PPP von odi, das aktive Bedeutung haben kann, vgl. ThLL IX 2,458,56 – 64). Für minus aut magis existieren Parallelen (Lucr. 1,240; Sen.

1.2 Kommentar

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epist. 82,14). Nováks (1915) 282 Konjektur alios (statt aut) ist unnötig und ergibt einen anderen Sinn. Die Junktur veritatem pati ist zwar nicht belegt, dafür aber das ähnliche veri patiens (Curt. 10,4,2; Sen. dial. 5,36,4). Im zweiten Teilsatz ist Haases einfache Konjektur ex iis esse dem überlieferten exisse vorzuziehen, da exire i.S.v. superare nur an einer weiteren Stelle der lateinischen Literatur belegt ist (vgl. ThLL V 2,1367,45 – 48), nämlich bei Anthimus (6. Jh. n.Chr.) (Anthim. 14 p.8,9). Während accepimus eine einfache Verbesserung von Bursian (s.o.) anstelle von acerrimus darstellt, ist seine Konjektur inflatos unnötig, da elatus (B2V) i.S.v. superbus ausreichend belegt ist (vgl. ThLL V 2,151,30 – 68). Für den Gedanken, der dieser Textstelle zugrunde liegt, verweist Håkanson ad loc. auf Liv. 31,18,3: [sc. Philippo] insueto vera audire ferocior oratio visa est, quam quae habenda apud regem esset. denique, ut alia dimittantur argumenta, ipsa suasoria insolentiam eius coarguit: orbis illum suus non capit: Seneca d.Ä. verlässt hier die indirekte Rede und wechselt in die direkte Rede (s. die Anmerkung zu §§ 5 – 10); Ottos (1885) 415 Konjektur coargui (in Ottos Veröffentlichung liegt mit argui wohl ein Druckfehler vor) ist daher unnötig. Dieser Satz ist eine Begründung für die vorige Aussage, dass Alexander hochmütig ist. Denique steht hier i.S.v. ut brevi dicam (vgl. ThLL V 1531,27– 532,10), wobei aus einer hypothetischen Reihe von Argumenten das letzte und stärkste genannt wird, wie aus dem folgenden ut alia dimittantur argumenta hervorgeht. Das Verb dimittere heißt hier soviel wie „absehen von“, „übergehen“ (vgl. ThLL V 1,1214,32– 1215,16) wie Cic. de orat. 2,160: quare istam artem totam dimittimus. Für non capere aliquem i.S.v. „nicht groß genug sein für jemanden“ (vgl. ThLL III 339, 9 – 74) vgl. Curt. 7,8,12: si di habitum corporis tui aviditati animi parem esse voluissent, orbis te non caperet und die weiteren bei Edward (1928) 90 f. verzeichneten Parallelen. itaque nihil dicendum aiebat … ille se ab hac urbanitate lancea vindicavit: Seneca d.Ä. wiederholt zunächst Cestius’ Ratschlag, bei dieser Art von Suasorien Herrscherlob einfließen zu lassen. Eine ähnliche Wiederholung dieses Ratschlages findet sich am Anfang von § 6 (aiebat itaque apud Alexandrum esse dicendam sententiam, ut multa adulatione animus eius permulceretur) und am Anfang von § 8 (aiebat Cestius magnis cum laudibus Alexandri hanc suasoriam esse dicendam). Dann wird der Ratschlag dadurch untermauert, dass ein Gegenbeispiel geschildert wird. Bei der Erzählung des Gegenbeispiels fällt auf, dass historische Personen miteinander vermengt werden. Cestius folgt nämlich einer Tradition, der zufolge der Philosoph Anaxarchos aus Abdera von Alexander wegen seiner spöttischen Bemerkungen getötet wurde (wenn Cestius diese Tradition nicht selbst begründet). Denn dass Anaxarchos nach Alexanders Verwundung das griechische Zitat geäußert haben soll, bezeugt auch Diogenes Laertios (9,60). In den historischen

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Quellen findet dieses Ereignis in dieser Form keinen Rückhalt. In ihnen wird allerdings mit Kleitos eine Person genannt, die wohl Einfluss auf das AnaxarchosBeispiel ausgeübt hat, wie es in derjenigen Tradition vorliegt, der Cestius folgt. Denn Kleitos wurde von Alexander aufgrund seiner spöttischen Äußerungen bei einem Gastmahl mit einer Lanze getötet (vgl. Arr. an. 4,8,9; Curt. 8,1,38 – 52). Der Philosoph Anaxarchos hingegen fungiert in den historischen Quellen als Freund und Begleiter von Alexander (vgl. Arr. an. 4,9,7). Er soll Alexanders Verehrung als Gott, die in der Proskynese (vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle) zum Ausdruck kommt,vorgeschlagen haben (vgl. Arr. an. 4,10,6; 4,11,1). Die Tatsache, dass mit der Tötung durch die Lanze infolge spöttischer Bemerkungen ein Element von Kleitos auf Anaxarchos übertragen wurde, lässt sich vielleicht durch eine Anekdote erklären, die bei Diogenes Laertios überliefert ist. Denn Anaxarchos soll bei einem Gastmahl des Alexander auf dessen Frage hin gesagt haben, dass es ihm gut gefalle, und zugleich den Wunsch geäußert haben, dass der Satrap Nikokreon hingerichtet wird. Später sei jedoch Anaxarchos von Nikokreon getötet worden (vgl. Diog. Laert. 9,58 f.). Auch in dieser Anekdote finden sich also eine Verbindung zu Alexander, ein Gastmahl und eine Tötung, so dass eine Verwechslung bzw. Vermischung mit Kleitos erleichtert wurde. Gegen die bisherige Forschungsmeinung muss festgestellt werden, dass die Person des Kallisthenes an dieser Stelle keine Rolle spielt (gegen Bursian [1869] 4; Müller [1887] 523; Edward [1928] 91 f.; Winterbottom [1976] II 492 f. Fußn. 2; Håkanson ad loc.; Adiego Lajara [et al.] [2005] 275 Fußn. 5; Migliario [2007] 69). quod praeceptori eius †autem Aristotelis† accidit: Unter der Annahme, dass hier Kallisthenes gemeint ist, lesen die modernen Herausgeber mit Bursian (1869) 4 amitino anstelle des überlieferten autem. Kallisthenes war ein Cousin des Aristoteles und hat Alexander auf dessen Expedition als Geschichtsschreiber begleitet. Er wurde getötet, da er angeblich Teilhaber einer Verschwörung gegen Alexander war (vgl. Curt. 8,8,21). In Wirklichkeit führten aber Meinungsverschiedenheiten v. a. bei der Einführung der Proskynese (s. die vorige Anmerkung) und die daraus resultierende Opposition zu seinem Tod (vgl. Curt. 8,5,13; Arr. an. 4,12,7). Bursians Konjektur führt jedoch zu dem Problem, dass von Kallisthenes nicht behauptet werden kann, dass er Alexanders Lehrer war. Vielmehr waren beide Schüler des Aristoteles (für Kallisthenes vgl. Arr. an. 4,10,1). Dieses Problem hat Bornecque (1902) II 291 und (1902a) 375 durch einen textkritischen Eingriff beseitigt, indem er praeceptori eius zu praeceptoris emendiert und das Wort hinter Aristotelis transponiert hat. Das überlieferte praeceptori kann aber dadurch gehalten und erklärt werden, dass man es auf den Philosophen Anaxarchos (s. die vorige Anmerkung) bezieht. Im Zusammenhang mit Alexander wird dessen Funktion als Lehrer an einer Stelle bei Arrian (an. 4,9,7) deutlich: Nachdem

1.2 Kommentar

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Alexander Kleitos getötet hatte, machte er sich schwere Vorwürfe. Anaxarchos besänftigte Alexander, indem er ihn darauf hinwies, dass er als König immer richtig handele. Die Worte autem Aristotelis können vielleicht am besten als Glosse erklärt werden, die dadurch entstanden ist, dass ein Kopist das Wort praeceptor kommentiert hat, indem er darauf hinwies, dass Aristoteles Alexanders Lehrer war: praeceptor autem Aristoteles fuit (aut sim.). Auffälligerweise ist Aristoteles’ Name der einzige Eigenname, der in diesem Beispiel genannt wird, obwohl es um Anaxarchos und nicht um Aristoteles geht. Überlegenswert ist auch der Vorschlag von Thorsten Burkard (mündlicher Hinweis), aemulo statt autem zu lesen. intempestivos liberos sales: Alle modernen Herausgeber außer Bursian (1857) 3 lesen in der Nachfolge der editio Frobeniana (1515) intempestive (vgl. Håkanson [1989] 333) anstelle des überlieferten intempestivos. Jedoch besteht kein Grund, die Überlieferung zu ändern, da das Substantiv sales zusammen mit dem Adjektiv liberi einen Begriff ausdrückt, der durch das Adjektiv intempestivus näher bestimmt wird.Vgl. für diesen Typ des einordnenden attributiven Adjektivs K.-St. II 1, S. 240; Cic. off. 2,71: cum consuleretur [sc. Themistocles], utrum bono viro pauperi an minus probato diviti filiam collocaret […]. nam cum se 〈deum〉 vellet videri: Alexanders Wunsch, als Gott zu erscheinen, kommt v. a. in der Proskynese zum Ausdruck (vgl. Arr. an. 4,10,5 – 7 und § 2 mit dem Kommentar zur Stelle). Für die Formulierung vgl. Diog. Laert. 9,60: τὸν […] Ἀλέξανδρον οἰόμενον εἶναι θεόν. Bei deum handelt es sich um eine notwendige Ergänzung der Recentiores. Bursian (1857) 3 ergänzt deum vor se (wohl um den Ausfall hinter cum plausibler zu machen). Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Lösungen ist kaum möglich. Der AcI nach velle kommt auch bei Cicero und Caesar bei Subjektsidentität vor, besonders wenn das Subjekt betont wird und der Infinitiv im Passiv steht (vgl. Burkard / Schauer, S. 691 f.); vgl. Cic. off. 1,65: sapiens principem se esse mavult quam videri; 3,71: malitia, quae vult videri se esse prudentiam. Besonders vergleichbar ist hier eine ähnliche Stelle aus § 6: nam cum Antonius vellet se Liberum patrem dici. dixerat: Das Plusquamperfekt steht vorzeitig zu vindicavit im nächsten Satz. ἰχώρ, οἷός πέρ τε ῥέει μακάρεσσι θεοῖσιν: Es handelt sich hierbei um einen Vers aus derjenigen Szene des fünften Buches der Ilias, in der Diomedes Aphrodite verwundet (Il. 5,340). Das Blut der Göttin wird dort als ἰχώρ spezifiziert im Gegensatz zum Blut der Menschen, dem αἷμα. Anaxarchos erlaubt sich also Alexander gegenüber den Scherz, dass aus dessen Wunde wider Erwarten αἷμα und

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nicht ἰχώρ fließt. An anderen Stellen wird das Zitat Alexander selbst in den Mund gelegt (vgl. Plut. Alexander 28; Sen. epist. 59,2; Dion Chrys. or. 64,21). ille se ab hac urbanitate lancea vindicavit: Cestius’ gedrängte Formulierung (ausführlicher müsste es etwa heißen ille se ab hac urbanitate vindicavit et eum lancea occidit) ist möglicherweise durch diejenige des Cassius timeo, ne ille nos gladio ἀντιμυκτηρίσῃ, die im Folgenden referiert wird, inspiriert. Eleganter in C. Cassi epistula quadam ad M. Ciceronem missa positum: multum iocatur de stultitia Cn. Pompei adulescentis, qui in Hispania contraxit exercitum et ad Mundam acie victus est. deinde ait: ‘nos quidem illum deridemus, sed timeo, ne ille nos gladio ἀντιμυκτηρίσῃ: Das zweite Beispiel, das der Korrespondenz zwischen Cassius und Cicero entstammt (Cic. fam. 15,19), führt den Gedanken (und teilweise auch die Formulierung ille se ab hac urbanitate lancea vindicavit) aus dem Anaxarchos-Beispiel weiter. Cestius’ deklamatorische Vorschrift, Herrscherlob in die Suasorie einfließen zu lassen, wird durch dieses Beispiel kaum untermauert, da Cassius in dem Brief über eine hypothetische Gefahr spricht, nicht aber über ein Ereignis, bei dem in Anwesenheit eines Alleinherrschers Spott statt Herrscherlob verwendet wurde. Im dritten Beispiel wird dann wieder explizit der Bezug zur Vorschrift hergestellt. In dem hier zitierten Brief aus dem Jahr 45 v.Chr. bittet Cassius Cicero, ihn über den Verlauf des Bürgerkrieges in Spanien zu informieren. Er äußert den Wunsch, dass Caesar den Sieg über den jüngeren Pompeius erringt. Über letzteren sagt er (15,19,4): scis Gnaeum quam fatuus sit, scis quo modo crudelitatem virtutem putet, scis quam se semper a nobis derisum putet; vereor ne nos rustice gladio velit ἀντιμυκτηρίσαι. Edward (1928) 92 nimmt Anstoß an multum iocatur und meint, dass es nicht gerechtfertigt sei, dies über den zitierten Brief zu behaupten. Ihm ist insofern zuzustimmen, als Pompeius’ Dummheit zwar schonungslos zur Sprache gebracht wird, aber nur kurz in den fünf Worten scis Gnaeum quam fatuus sit erwähnt wird. Ferner wird ungenau zitiert, da es in dem Brief heißt, dass sich Pompeius verlacht glaubt, nicht, dass Cicero und Cassius ihn verlachen; vereri wird durch timere ersetzt, das Adverb rustice wird ebenso wie das Hilfsverb velit ausgelassen und stattdessen das griechische Verb in den Konjunktiv gesetzt. Ciceros Briefsammlung wird an dieser Stelle zum ersten Mal zitiert; vgl. Degl’ Innocenti Pierini (2003) 20. Cn. Pompei adulescentis: Dieser Pompeius ist der älteste Sohn des Triumvirn (vgl. RE XXI 2 s.v. Pompeius 32, Sp. 2211– 2213). Bei Munda unterlag er am 17. März 45 v.Chr. Caesars Truppen. Er wird auch suas. 7,3 erwähnt (suas. 6,11; 14 und 19 wird auf den jüngeren Sohn des Triumvirn Bezug genommen).

1.2 Kommentar

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gladio ἀντιμυκτηρίσῃ: Vgl. Cestius’ Formulierung lancea vindicavit weiter oben. Das Verb ἀντιμυκτηρίζω („zurückspotten“) ist ein hapax legomenon (vgl. LSJ s.v. ἀντιμυκτηρίζω). Ob man mit Piacente (2009) 327 die Tatsache, dass das Simplex μυκτηρίζω in einem Brief des Augustus an Livia vorkommt, der von Sueton (Claud. 4,2) zitiert wird, als Argument dafür werten darf, dass eine Abhängigkeit von dem Brief von Cassius an Cicero vorliegt, erscheint äußerst fragwürdig. 6 Seneca d.Ä. wiederholt Cestius’ Ratschlag, vor Königen wie Alexander Herrscherlob in die Suasorie einfließen zu lassen, und ergänzt ihn durch dessen Anweisung, dass Maß gehalten werden muss. Dieser Zusatz ist für das dritte, nun folgende Beispiel relevant. Er trifft aber auch schon auf das Anaxarchosbeispiel zu, so dass Cestius’ Vorschrift hier nachträglich präzisiert wird. In diesem dritten Beispiel wird ein Ereignis aus Antonius’ Aufenthalt in Athen im Winter 39/38 v.Chr. (vgl. Dio 48,39,2) erzählt. Im Anschluss an dieses Beispiel werden zwei Witze auf Antonius’ Kosten referiert, die mit dem Beispiel zusammenhängen. In omnibus regibus haec urbanitas extimescenda est: Dies ist die Lehre, die für alle drei Beispiele (Anaxarchos-, Cassius- und das folgende Antoniusbeispiel) gilt. Wäre sie am Anfang von Cestius’ Instruktionen in § 5 formuliert worden, würde sich nicht das Problem ergeben, dass das Cassiusbeispiel nicht zu der anfangs referierten Anweisung passt, dass man Herrscherlob in Suasorien einfließen lassen muss, die vor Alleinherrschern gehalten werden. Dort hätte die Warnung in der Form, in der sie hier ausgesprochen wird, allerdings kaum stehen können, da sie zu allgemein gehalten ist. Sie ist vielmehr die Reaktion auf das soeben geschilderte Cassiusbeispiel und stellt zugleich einen Übergang zum nächsten Beispiel her. Daher ist es möglich, dass sowohl das Cassiusbeispiel als auch die Lehre an dieser Stelle von Seneca d.Ä. stammen. aiebat itaque apud Alexandrum esse dicendam sententiam, ut multa adulatione animus eius permulceretur, servandum tamen aliquem modum, ne non veneratio 〈videretur〉 et accideret tale aliquid, quale accidit Atheniensibus, cum publicae eorum blanditiae non tantum deprehensae sed castigatae sunt: Wie in der Mitte von § 5 wird auch hier anfangs Cestius’ Kerngedanke wiederholt und mit ne […] accideret ein Negativbeispiel eingeleitet: itaque nihil dicendum aiebat nisi cum summa veneratione regis, ne accideret idem, quod praeceptori eius […] accidit. Ergänzt wird der bereits am Anfang von § 5 formulierte Kerngedanke durch die Vorschrift, bei der Verwendung von Herrscherlob Maß zu halten. Das Beispiel der Athener zeigt, dass sie Antonius so sehr geschmeichelt haben, dass die Verehrung in Spott umgeschlagen ist, wofür sie Strafe zahlen mussten. Ein sic vor (Bornecque [1902] II 291) oder nach (Müller [1887] 524) esse im

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ersten Teil des Satzes zu ergänzen ist unnötig, da der Sinn „so … dass“ auch aus dem einfachen ut hervorgeht. Vgl. für diesen Gebrauch von ut OLD s.v. ut 30 und Liv. 22,5,7: et nova de integro exorta pugna est, non illa ordinata per principes hastatosque ac triarios nec, ut pro signis antesignani, post signa alia pugnaret acies. Ebenso unnötig ist Bursians (1857) 4 Konjektur ita quidem anstelle von itaque, da itaque auch in § 5 an entsprechender Stelle vorkommt (s.o.). Håkanson (1989) 334 ergänzt mit Haase videretur sed irrisio hinter veneratio, während alle anderen Herausgeber seit Müller (s.o.) mit Otto videretur sed adulatio supplieren. Bei videretur handelt es sich um eine einfache und notwendige Ergänzung, die dadurch berechtigt ist, dass das Wort leicht hinter veneratio ausgefallen sein kann. Eine weitere Ergänzung ist jedoch unnötig, da der Gedanke, dass Spott vermieden werden muss, auch so aus dem Kontext deutlich wird. Für die Verknüpfung von zwei negierten Finalsätzen durch ne … et vgl. Caes. Gall. 1,28,4: noluit eum locum, unde Helvetii discesserant, vacare, ne propter bonitatem agrorum Germani, qui trans Rhenum incolunt, e suis finibus in Helvetiorum fines transirent et finitimi Galliae provinciae Allobrogibusque essent. nam cum Antonius vellet se Liberum patrem dici et hoc nomen statuis subscribi iuberet, habitu quoque et comitatu Liberum imitaretur, occurrerunt venienti ei Athenienses cum coniugibus et liberis et Διόνυσον salutaverunt: Dass sich Antonius mit Bacchus identifizierte, bezeugen u. a. Cassius Dio und Plutarch (Antonius 24,3; 26,3; 60,3); vgl. Dio 48,39,2: Διόνυσον ἑαυτὸν νέον αὐτός τε ἐκάλει καὶ ὑπὸ τῶν ἄλλων ὀνομάζεσθαι ἠξίου. In welchem Sinne ein Gefolge (comitatus) des Antonius an der Bacchusimitation teilhatte, lässt sich nur vermuten. Denn Plutarch (Antonius 24,3) berichtet, dass Antonius beim Einzug in Ephesos (41 v.Chr.) als Bacchus gepriesen wurde und von Frauen, die wie Bacchantinnen, und Männern, die wie Satyrn oder Pan gekleidet waren, begleitet wurde. Da diese Bacchusverehrung ungefähr in dieselbe Zeit fällt wie das im Folgenden geschilderte Ereignis in Athen, ist es möglich, dass sich Cestius hier auf eben jenen Einzug in Ephesos bezieht. Alternativ müsste man davon ausgehen, dass Cestius auf eine ähnliche Bacchusverehrung in Athen anspielt, von der wir keine weitere Kenntnis haben. Håkanson (1989) 334 und Müller (1887) 524 ergänzen mit Gertz suis hinter statuis. Zwar wäre der Ausfall des Possessivpronomens hinter statuis leicht zu erklären, doch zwingt nichts zu seiner Supplierung, da man statuis ohnehin als „seine Statuen“ auffassen muss (vgl. Thomas [1900] 188). belle illis cesserat, si nasus Atticus ibi substitisset: Für die Nase als Metapher für Witz bzw. Spott vgl. Tondo (2004). Dies ist die erste Stelle, an der diese Metapher im Lateinischen vorliegt. Es lässt sich jedoch nicht sagen, ob Seneca d.Ä.

1.2 Kommentar

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selbst diese Metapher geprägt hat, wie Tondo annimmt, oder ob er sie von Cestius übernimmt. In der siebenten Suasorie bezeichnet Seneca d.Ä. Cestius als homo nasutissimus (suas. 7,12) und verleiht dem Adjektiv eine neue Bedeutung („spöttisch“). Motiviert ist die hier vorliegende Metapher vielleicht durch Cassius’ Verwendung von ἀντιμυκτηρίσῃ (§ 5), d. h. es handelt sich letztlich um eine Übernahme aus dem Griechischen, indem nasus die Bedeutung von μυκτήρ annimmt. Für den Scherz als typisches Merkmal der Griechen, speziell der Athener, vgl. Cic. de orat. 2,217; fam. 9,15,2; opt. gen. 11,7; Quint. inst. 6,3,1; Mart. 20,3,9. Der Indikativ in der Apodosis eines irrealen Satzgefüges kommt vereinzelt vor; vgl. contr. 7,5,9: nocueras, inquit, mihi, si amicae tuae nocere potuisses; 10,1,1: perieramus, si magistratus esset; K.-St. II 2, S. 401– 405, v. a. 403 f. Cedere heißt hier „ausgehen“.Vgl. die ähnliche Verwendung von cedere i.S.v. „gelingen“ (vgl. OLD s.v. cedo 7) contr. 7,1,27: at [sc. aiebat] Vergilio imitationem bene cessisse. dixerunt despondere ipsos in matrimonium illi Minervam suam et rogaverunt, ut duceret:Vgl. Cassius Dio 48,39,2: ἐπειδή τε οἱ Ἀθηναῖοι […] τὴν Ἀθηνᾶν αὐτῷ κατηγγύησαν, δέχεσθαι […] τὸν γάμον ἔφη. Für die kürzere Formulierung ducere (aliquam) anstelle von in matrimonium ducere vgl. ThLL V 1, 2143,12– 35. In der Deklamationssammlung des älteren Seneca ist bloßes ducere das übliche Verb für „heiraten“; vgl. z. B. das Thema der Kontroversie 1,6. Antonius ait ducturum sed dotis nomine imperare se illis mille talenta: Nach Cassius Dio (48,39,2) waren es 1 Million Drachmen. Die Summe, die Cestius nennt (1000 Talente), ist nach Edward (1928) 92 sechsmal so hoch. tum ex Graeculis quidam ait: κύριε, ὁ Ζεὺς τὴν μητέρα σου Σεμέλην ἄπροικον εἶχεν: Der Grieche bemerkt, dass sich Zeus, der Vater des Bacchus, ohne Mitgift (ἄπροικον) mit Semele, der Mutter des Bacchus, vereint hat (vgl. z. B. Ov. met. 3,253 – 315). Das Verb ἔχω kann sowohl eine Ehe als auch ein nicht-eheliches Verhältnis bezeichnen; vgl. LSJ s.v. ἔχω 4. Ob das Diminutiv Graeculus hier despektierlich gebraucht wird, wie es in den Übersetzungen von Winterbottom (1974) II 495 und O. & E. Schönberger (2004) 277 klingt, lässt sich wohl nicht angeben. Zwar äußert sich Seneca d.Ä. häufiger despektierlich über die Griechen (vgl. contr. 1 praef. 6; 1,6,12; 1,7,12), aber es ist nicht sicher, ob Seneca d.Ä. hier spricht oder Cestius’ Gedanken wiedergibt (s. die Anmerkung zu §§ 5 – 10). Zum anderen wird das Diminutiv nur an dieser Stelle im Werk des älteren Seneca verwendet. huic quidem impune fuit, sed Atheniensium sponsalia mille talentis aestimata sunt: Dass der Grieche keine Strafe erleiden musste, ist v. a. mit Bezug auf das erste Beispiel gesagt, d. h.: im Gegensatz zu Anaxarchos, der von Alexander

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getötet wurde (vgl. § 5), musste er nicht mit seinem Leben für den Witz büßen. Die Athener jedoch mussten für ihren Vorschlag, Antonius solle Minerva heiraten, in der Weise büßen, wie es schon zuvor gesagt wurde, dass sie ihm nämlich 1000 Talente zahlen. An dieser Stelle ist das mahnende Beispiel zu Ende. Trotzdem werden zwei Anekdoten angefügt, die ebenfalls mit Antonius’ Aufenthalt in Athen verknüpft sind, die aber nicht mehr die Funktion haben, vor Spott vor Machthabern zu warnen. Im Grunde genommen ist auch schon die Erzählung des Witzes des Graeculus unnötig, da er ja nicht bestraft wird. Daher endet Cestius’ drittes Beispiel mit den Worten mille talenta. Ihm folgen drei Anekdoten, von denen die erste der Witz des Graeculus ist. Möglicherweise erklärt sich die Tatsache, dass im Anschluss an das Athenerbeispiel drei Anekdoten erzählt werden, die Cestius’ deklamatorische Vorschrift nicht untermauern, dadurch, dass sie von Seneca d.Ä. hinzugefügt wurden (s. die Anmerkung zu §§ 5 – 10). Dass Seneca d.Ä. von seinem eigentlichen Anliegen abkommt, Cestius’ Instruktionen und divisio wiederzugeben, gibt er am Anfang von § 8 zu: longius me fabellarum dulcedo produxit; itaque ad propositum revertar. quae cum exigerentur, complures contumeliosi libelli proponebantur, quidam etiam ipsi Antonio tradebantur, sicut ille, qui subscriptus statuae eius fuit, cum eodem tempore et Octaviam uxorem haberet et Cleopatram: Antonius war seit 40 v.Chr. mit Oktavians Schwester Oktavia verheiratet (vgl. Appian 5,64; Plut. Antonius 31; Cassius Dio 48,31; Tac. ann. 1,10; Vell. 2,78). Mit Kleopatra war er de iure nie verheiratet, lebte aber bald nach der Schlacht von Philippi in einem eheähnlichen Verhältnis mit ihr, aus dem drei Kinder hervorgingen (vgl. Plut. Antonius 28 f.; Cassius Dio 48,24; Appian 5,9 – 11). Es lässt sich daher nicht entscheiden, ob sich Seneca d.Ä. bzw. Cestius ungenau ausdrückt, indem er Kleopatra als Antonius’ Frau bezeichnet, oder ob man uxorem nur auf Octaviam beziehen darf (habere kann wie ἔχω weiter oben sowohl eine Ehe als auch ein nicht-eheliches Verhältnis bezeichnen, wobei das Verb im ersten Fall durch uxorem ergänzt wird; vgl. OLD s.v. habeo 5b). Winterbottom (1974) II 495 und O. & E. Schönberger (2004) 277 entscheiden sich für die erste Möglichkeit. Zanon dal Bo (1988) 117 differenziert: „lui, che allora aveva due donne, nello stesso tempo, la moglie Ottavia e Cleopatra“. Mit libellus kann alles Handschriftliche bezeichnet werden – ganz gleich, wie umfangreich dies ist; vgl. Cic. Phil. 2,97: gladiatorum libelli („Einladungsschreiben“); Suet. Caes. 41,2: edere per libellos („Anschläge“, „Aushänge“). Das Adjektiv contumeliosus und der Zusammenhang machen deutlich, dass Schmähschriften gemeint sind (vgl. ThLL VII 1263,54– 77), die öffentlich aushingen (proponebantur); für proponere in diesem Sinne vgl. Suet. Caes. 80,2: libellus propositus est.

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Ὀκταουία καὶ Ἀθηνᾶ Ἀντωνίῳ· res tuas tibi habe: Der Urheber dieses Scherzes legt Oktavia und Athene die Worte für die Scheidung in den Mund. Abgesehen von der Tatsache, dass sich zwei Frauen zugleich von Antonius scheiden lassen, liegt der Witz darin, dass eine Scheidung die Rückzahlung der Mitgift (in diesem Fall also der 1000 Talente) impliziert; vgl. Adiego Lajara (et al.) (2005) 277 Fußn. 14 und den Kommentar zu et tamen dicito illos tibi annua, bienni, trienni die debere weiter unten. Raubitschek (1946), der zum ersten Mal eine athenische Inschrift veröffentlicht, auf der Antonius und Oktavia als Θεοὶ Εὐεργέται verehrt werden, gelangt durch einen Vergleich mit dieser Textstelle zu der Ansicht, dass sich die Vergöttlichung von Oktavia dadurch erklärt, dass sie mit Athene Polias identifiziert wurde (so wie Antonius als Bacchus gefeiert wurde). Jedoch sprechen das καί und der Witz des Atheners eindeutig gegen diese Auffassung: Athene und Oktavia müssen hier zwei verschiedene Personen sein, da der Witz darin besteht, dass sich zwei von Antonius’ drei Frauen von ihm scheiden lassen. Res tuas tibi habe bzw. habeto war die offizielle Scheidungsformel; vgl. Dig. 24,2,2,1: in repudiis autem, id est in renuntiatione, comprobata sunt haec verba: tuas res tibi habeto. Warum die römische Scheidungsformel benutzt und der Witz damit teils in griechischer, teils in lateinischer Sprache ausgedrückt wird, lässt sich nicht genau angeben. Möglicherweise liegt der Grund darin, dass dieser formelhafte Ausdruck in Antonius’ Muttersprache den Vorgang der Scheidung in besonders eindringlicher Weise evoziert. 7 In diesem Paragraphen wird der dritte Witz (nach dem Witz des Graeculus und dem Scheidungswitz) referiert, der mit dem Antoniusbeispiel zusammenhängt. Den Großteil dieses Paragraphen nimmt jedoch die Charakterisierung des Dellius ein, von dem der Witz stammt. Da Dellius als desultor bellorum civilium bezeichnet und diese Bezeichnung begründet wird, liegt noch ein weiterer Witz innerhalb des dritten Witzes vor. Bellissimam tamen rem Dellius dixit, quem Messala Corvinus desultorem bellorum civilium vocat, quia ab Dolabella ad Cassium transiturus salutem sibi pactus est, si Dolabellam occidisset, a Cassio deinde transit ad Antonium, novissime ab Antonio transfugit ad Caesarem: Ein desultor ist eigentlich ein Reiter, der von einem Pferd auf das andere springt, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Hier benutzt Messala das Wort metaphorisch i.S.v. „Überläufer“. Der uneigentliche Gebrauch des Wortes geht bis auf Homer zurück (Il. 15,679), der Ajax, als er von einem Schiff zum anderen springt, um die trojanischen Angreifer abzuwehren, mit einem solchen Kunstreiter vergleicht. Die – auch von der grammatischen Struktur – engste Parallele findet sich bei Ovid (am. 1,3,15), der desultor mit dem Genetiv amoris verknüpft; vgl. Barsby (1975) und Gagliardi (1984).

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Wie Barsby bemerkt, ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob Messalas oder Ovids metaphorischer Gebrauch von desultor zeitlich vorangeht. Da es aber wahrscheinlich ist, dass der hier vorliegende Gebrauch während oder bald nach der Schlacht bei Aktium aufgekommen ist, ist es wahrscheinlicher, dass Ovid durch Messalas Metapher beeinflusst ist. Vgl. auch Cic. Mur. 57, wo Cicero Postumus mit dem Adjektiv desultorius bezeichnet, weil dieser seine Kandidatur um eine Prätur in eine Kandidatur um das Konsulat geändert hat. Darüber, dass Dellius (vgl. RE IV 2 s.v. Dellius, Sp. 2447 f.) im Bürgerkrieg dreimal die Seiten gewechselt hat, informiert uns auch Velleius Paterculus (Vell. 2,84,2). Im Jahr 43 v.Chr. ist er von Dolabella zu Cassius übergelaufen,von diesem im folgenden Jahr zu Antonius und kurz vor der Schlacht bei Aktium von Antonius zu Oktavian. Dellius ist auch der Adressat der Horazischen Ode 2,3. Messala wird in den Suasorien außer an dieser Stelle auch noch suas. 2,17 und 20; 3,6 und 6,27 erwähnt. Aus welchem Werk Messalas Äußerung stammt, ist unklar. Möglicherweise war sie Teil einer der gegen Antonius gerichteten Pamphlete; über einige von deren Titeln informiert uns Charisius (GL 1,104,18 f.; 129,7 f.; 146,34 f. Keil): De Antonii statuis; Contra Antonii litteras; De vectigalium Asiae constitutione. Zu Messalas nicht erhaltenem Geschichtswerk und den Pamphleten vgl. die Fragmente bei Peter (1906) 65 – 67. hic est Dellius, cuius epistulae ad Cleopatram lascivae feruntur: Kiessling (vgl. Edward [1928] 93) ist der Meinung, dass es sich bei diesem Satz um eine Glosse handelt. Wie die übrigen Herausgeber teilen wir diese Meinung nicht, da nichts dagegen spricht, dass diese Information vom älteren Seneca stammt. Vgl. ferner suas. 2,21, wo eine Anekdote über den Rhetor Corvus mit denselben Worten eingeleitet wird: hic est Corvus, qui […]; contr. 2,5,20: Hic est L. Vinicius […]. Dass Dellius Briefe an Kleopatra geschickt hat, bezeugt auch Plutarch (Antonius 59), der aber keine genaueren Angaben macht. Über den genauen Inhalt der Briefe sind wir daher nicht informiert. cum Athenienses tempus peterent ad pecuniam conferendam nec exorarent, Dellius ait: ‘et tamen dicito illos tibi annua, bienni, trienni die debere’: „Und sag ihnen doch, dass sie dir [sc. die Mitgift] in drei Jahresraten schulden“. Die Auszahlung der Mitgift in drei Raten, beginnend am ersten Jahrestag der Hochzeit, war eine gängige Praxis (man denke an Ciceros Probleme mit der Mitgift für seine Tochter Tullia; vgl. Cic. Att. 11,2). Edward (1928) 93 und Winterbottom (1974) II 496 Fußn. 1 sehen den Witz in einer Analogie zur Scheidung. Denn bei Scheidungen war es möglich, dass der Mann der Frau ihre Mitgift in drei Raten zurückzahlt; vgl. Epit. Ulp. 6,8. Aber der Witz ist offenbar einfacher: Dellius’ Witz fußt auf der Vorstellung, dass Antonius den Athenern eine Ratenzahlung wie bei einer echten Hochzeit ermöglichen soll. Gertz’ Konjektur at anstelle von et vor tamen ist unnötig

1.2 Kommentar

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(vgl. Håkanson ad loc.). Für et tamen vgl. suas. 6,6: et tamen, si ad aetatem annorumque numquam observatum viris fortibus numerum respicimus, sexaginta supergressus es. 8 Hier beginnt die eigentliche divisio. Nach einem überleitenden Satz schildert Seneca d.Ä. Cestius’ zweigeteilte Strategie: Zunächst legt dieser dar, warum Alexander den Ozean nicht durchqueren soll, auch wenn er theoretisch durchquert werden könnte. Dies begründet er durch untergeordnete Argumente, die den Kategorien des honestum und des utile angehören. Dann verstärkt er seine Argumentation, indem er die Möglichkeit negiert, dass der Ozean überhaupt durchquert werden kann, d. h. er argumentiert mit der Kategorie des δυνατόν (zu den drei klassischen Kategorien honestum, utile und δυνατόν s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 63). Diese Vorgehensweise entspricht derjenigen, die Quintilian für Fälle dieser Art empfiehlt (s. S. 151), und wird auch von Fabianus angewandt (§§ 9 – 10). Longius me fabellarum dulcedo produxit; itaque ad propositum revertar: Seneca d.Ä. ist von seinem Vorhaben, Cestius’ Hinweise zum Halten dieser Suasorie und dessen divisio zu referieren, durch das Erzählen der Beispiele und Anekdoten abgekommen. Für das Eingeständnis, durch das Erzählen von Anekdoten vom eigentlichen Anliegen abgekommen zu sein, vgl. Sen. epist. 77,10: in fabellam excessi. aiebat Cestius magnis cum laudibus Alexandri hanc suasoriam esse dicendam, quam sic divisit, ut primum diceret, etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse: Der erste Teil des Satzes entspricht in seiner rekapitulierenden Funktion demjenigen in § 6: aiebat itaque apud Alexandrum esse dicendam sententiam, ut multa adulatione animus eius permulceretur. Für die Strategie s. die Anmerkung zu § 8 und vgl. Quint. inst. 3,8,16: ut prius dicamus, ne si possit quidem fieri esse faciendum. satis gloriae quaesitum: Dieses Argument, das dem Aspekt des honestum unterliegt, benutzt auch Moschus in § 2, auch wenn er das Stichwort gloria nicht gebraucht: quae tam ferae gentes fuerunt, quae non Alexandrum posito genu adorarent? qui tam horridi montes, quorum non iuga victor miles calcaverit? regenda esse et disponenda, quae in transitu vicisset: Für dieses strategische Argument, das Nützlichkeitserwägungen (utile) entstammt, vgl. Moschus in § 2: non quaerimus orbem, sed amittimus und Marullus in § 3: maria sequimur, terras cui tradimus?

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consulendum militi tot eius victoriis lasso: Dieses Argument ist insofern als ‘historisch’ zu bezeichnen, als das Aufbegehren der erschöpften Soldaten in der Tat der Grund dafür war, dass Alexander den Feldzug nicht weiter führte (s. S. 148). Der einzelne Soldat steht hier im generalisierenden Singular für Alexanders Heer; vgl. Fuscus in § 14: testor ante orbem tibi tuum deesse quam militem. Am Ende von § 13 und in § 14 werden Alexanders Soldaten von Deklamatoren als sprechende Gruppe eingeführt (Prosopopoiie). Tot eius ist eine überzeugende Emendation von Haase (vgl. Müller [1887] 526) anstelle des sinnlosen totius. Gegenüber Müllers (ib.) Erwägung, tot suis zu lesen, bzw. der Tilgung von -ius in der Editio Romana (1585 bzw. 1594) hat tot eius den Vorteil, dass es leichter aus totius zu rekonstruieren ist. de matre illi cogitandum: Das Argument, dass Alexander an seine Mutter denken soll, benutzt auch Fabianus; vgl. § 4 mit dem Kommentar zur Stelle: memento, Alexander, matrem in orbe victo adhuc magis quam pacato relinquis und § 10. Damas (§ 13) personifiziert sogar Alexanders Mutter. Vgl. auch Arr. an. 5,27,7. et alias causas complures subiecit: Für eine solche zusammenfassende Angabe vgl. z. B. contr. 1,6,8 und 9,2,14. Mit causa wird hier ein Grund in dem Sinne bezeichnet, dass Cestius’ erstes Argument, dass der Ozean nicht durchquert werden soll, gestützt wird. Causa befindet sich daher auf einer Ebene unterhalb der quaestio und wird hier genauso verwandt wie im folgenden Paragraphen ratio. Bardon (1940) verzeichnet diesen Gebrauch der beiden Termini nicht. In der hier vorliegenden Bedeutung werden causa und ratio im gesamten Werk des älteren Seneca sonst nirgends verwendet. Rein äußerlich lässt sich insofern eine Parallele zur Statuslehre feststellen, als ratio dort die Begründung der quaestio bezeichnet (vgl. Cic. inv. 1,18): So wird der wegen Muttermordes angeklagte Orestes auf die quaestio, ob er rechtens gehandelt hat (iurene fecerit?), mit der ratio antworten, dass er rechtens gehandelt hat, weil Klytaimnestra Agamemnon getötet hatte (iure feci; illa enim patrem meum occiderat). deinde illam quaestionem subiecit, ne navigari quidem Oceanum posse: Die Frage, ob der Ozean durchquert werden kann, die der Deklamator negativ beantwortet, gehört zur Kategorie des δυνατόν. Der Begriff quaestio wird hier (und an den anderen Suasorienstellen, an denen er vorkommt: §§ 9 – 10; suas. 4,4) anders als an den meisten Kontroversienstellen verwendet, wo quaestiones wirkliche Fragen sind, die durch die Fragepartikel an eingeleitet werden. Gegen Håkanson ad loc. ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Divergenz nicht durch den Unterschied zwischen Kontroversie und Suasorie zu erklären ist, da Seneca d.Ä. hier genauso gut Fragen hätte formulieren können. Auch in den Kontroversien findet sich ausnahmsweise der Gebrauch von quaestiones in Form von Aussagen;

1.2 Kommentar

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vgl. contr. 1,1,14: Gallio quaestionem primam Latronis duplicavit sic: licuit mihi alere etiam te vetante; deinde, non licuit non alere; contr. 1,5,4: Latro primam fecit quaestionem: non posse raptorem, qui ab rapta mori iussus esset, servari. Bardon (1940) 49 versucht, diesem Doppelcharakter der quaestio gerecht zu werden, indem er den Begriff mit „point à débattre“ übersetzt. Zur quaestio s. die allg. Einleitung (S. 38 – 43). Für die ungenaue Stellung von ne […] quidem (man erwartet eigentlich ne posse quidem navigari) vgl. contr. 7,5,13 und K.-St. II 2, S. 55. 9 – 10 Fabianus’ Strategie entspricht im Wesentlichen derjenigen des Cestius: zunächst stellt er die Frage, ob der Ozean durchquert werden soll. Dann (ab § 10) zeigt er, dass es unmöglich ist, ihn zu durchsegeln. Jedoch benutzt er größtenteils andere Argumente als Cestius, um die beiden genannten Thesen zu stützen. FABIANVS philosophus primam fecit quaestionem eandem: etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse: Dasselbe Argument findet sich in derselben Formulierung bei Cestius in § 8 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Für die Junktur quaestionem facere vgl. z. B. contr. 1,1,13; 1,6,8 und Bardon (1940) 50; vgl. auch rationem facere im nächsten Satz. Ob die Angabe, dass Fabianus ein Philosoph war (zur Biographie des Deklamators vgl. Bornecque [1902b] 185 f.; Echavarren [2007] 206 f.), an dieser Stelle relevant ist, d. h. ob Seneca d.Ä. hier andeutet, dass er ‘philosophische’ Argumente benutzt hat, lässt sich nicht sicher sagen. Es ist aber eher davon auszugehen, dass die Angabe hier irrelevant ist (teilweise gegen Bornecque [s.o.] 186, der meint, dass Fabianus’ Exzerpte generell einen philosophischen Einfluss zeigen). Dafür, dass sich das Epitheton philosophus hier nicht auf die im Folgenden referierten Argumente bezieht, spricht zum einen die Tatsache, dass Fabianus auch contr. 2,5,18 so apostrophiert wird, ohne dass ein erkennbarer Bezug zu seinen Äußerungen besteht. Zum anderen gehören die Gedanken, speziell die Loci communes, die Fabianus hier und anderswo (contr. 2,1,10 – 13 und 25; 2,4,3; 2,5,6 f.; 2,6,2) benutzt, zum Standardrepertoire eines Deklamators bzw. Redners. at rationem aliam primam fecit: modum imponendum esse rebus secundis: Fabianus’ erstes Argument zur Stützung der These, dass der Ozean nicht durchsegelt werden soll, unterscheidet sich von demjenigen des Cestius. Dieser hatte als erstes Argument zur Bekräftigung der quaestio angeführt, dass das Streben nach Ruhm weit genug getrieben worden sei (satis gloriae quaesitum). Das erste stützende Argument des Fabianus steht gedanklich dem Locus communis de varietate fortunae nahe, den er – wie wir im Folgenden erfahren – anschließend verwendet. Jedoch handelt es sich um zwei verschiedene Argumente, da Seneca d.Ä. hier von der prima ratio spricht, so dass durch deinde im Folgenden die altera ratio ein-

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geführt wird. Zunächst versucht Fabianus, Alexander dazu zu bewegen, von selbst Maß zu halten, ohne auf die schicksalhafte Abfolge von Glück und Unglück hinzuweisen. Vgl. für dieses Argument Albucius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: modum magnitudini facere debes […] magni pectoris est inter secunda moderatio. Dann fügt er durch den Locus communis de varietate fortunae das Argument an, dass sich das Schicksal gegen Alexander wenden könnte, wenn dieser auf den Ozean hinaussegelt. Für ratio vgl. causa in § 9 mit dem Kommentar zur Stelle; für rationem facere vgl. die analoge Formulierung quaestionem facere (s. vorige Anmerkung). hic dixit sententiam: illa demum est magna felicitas, quae arbitrio suo constitit: Mit hic dixit (und ähnlichen Ausdrücken) leitet Seneca d.Ä. auch an anderen Stellen innerhalb der divisio (sowohl der Suasorien als auch der Kontroversien) ein Zitat ein oder referiert, was der Deklamator an der entsprechenden Stelle gesagt hat; vgl. § 10; suas. 5,8; 6,8 – 10 und 13; contr. 7,1,19. Den Gedanken, den Fabianus in dieser gnomischen Sentenz äußert, hält Edward (1928) 93 (im Anschluss an Bornecque [1902] II 390) unter Verweis u. a. auf Cic. Tusc. 5,36 für eine Anlehnung an den stoischen αὐτάρκεια-Gedanken: Der Weise ist sich selbst genug und keinen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Jedoch legt diese Interpretation wohl zuviel Nachdruck auf die Tatsache, dass Fabianus zuvor als Philosoph bezeichnet wird (s.o. mit dem Kommentar zur Stelle). Es empfiehlt sich, etwas vorsichtiger von einer Affinität zwischen Rhetorik und Philosophie zu reden, da der Gedanke, den Fabianus hier äußert, auch bei Albucius in § 3 vorliegt (s. vorige Anmerkung) und den Loci communes de varietate fortunae, die die Deklamatoren häufig benutzen (s. folgende Anmerkung), ähnelt. dixit deinde locum de varietate fortunae, et, cum descripsisset nihil esse stabile, omnia fluitare et incertis motibus modo attolli, modo deprimi, absorberi terras et maria siccari, montes subsidere, deinde exempla regum ex fastigio suo devolutorum, adiecit: ‘sine potius rerum naturam quam fortunam tuam deficere’: Durch einen Locus communis de varietate fortunae gewinnt Fabianus sein zweites Argument (die altera ratio) zur Stützung der These, dass der Ozean nicht durchsegelt werden soll, nämlich dass dem bisherigen Erfolg ein künftiger Misserfolg folgen könnte. Loci communes de varietate fortunae werden häufiger in den von Seneca d.Ä. überlieferten Deklamationen verwandt; vgl. contr. 1,1,3; 5; 10 und 16; 1,8,16; 2,1,1; 7– 9; exc. 5,1; suas. 2,3; 5,8. Fabianus macht auch contr. 2,4,3 von einem solchen Locus communis Gebrauch. Für die Verwendung des Terminus technicus durch Seneca d.Ä. vgl. contr. 1,8,16: cum de fortunae varietate locum diceret. An dieser Stelle ist er dreigeteilt: Am Anfang steht eine allgemein gehaltene Beschreibung (nihil esse stabile, omnia fluitare et incertis

1.2 Kommentar

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motibus modo attolli, modo deprimi). Vgl. hierfür contr. 1,1,3: omnis instabilis et incerta felicitas est; 1,1,10: tollite vestras divitias, quas huc atque illuc incertae fortunae fluctus appellet; 2,1,1: fragilis et caduca felicitas est. Dann wird der Locus communis anhand von natürlichen Phänomenen beschrieben (absorberi terras et maria siccari, montes subsidere); für Parallelen vgl. Edward (1928) 94. Für subsidere mit Bezug auf natürliche Dinge vgl. Ov. am. 2,16,51: subsidite, montes und suas. 3,1: subsidit solum. Schließlich wird der Locus communis auf Könige übertragen und durch deren Beispiele bekräftigt (deinde exempla regum ex fastigio suo devolutorum). Hierbei dürfte Fabianus beispielsweise an Croesus gedacht haben, der auch contr. 2,1,7 als Beispiel in diesem Zusammenhang genannt wird, und – je nachdem, wie eng der Begriff reges zu fassen ist – an Crassus (vgl. ib.) oder Marius (vgl. contr. 1,1,3 und 5). In der abschließenden (speziellen) Sentenz wird die Schlussfolgerung aus dem Locus communis formuliert. Vor fastigio lesen wir mit Müller (1887) 526 ex, da das in den besten Handschriften überlieferte et wohl eine Verschreibung von ex ist. Die Herausgeber vor Müller lasen mit den jüngeren Handschriften e. 10 secundam quoque quaestionem aliter tractavit: Fabianus’ zweites Argument (quaestio) ist identisch mit Cestius’ zweitem Argument, nämlich dass der Ozean nicht durchsegelt werden kann. Aber auch hier führt er andere stützende Argumente an. Wie Cestius die Undurchquerbarkeit des Ozeans begründet hat, gibt Seneca d.Ä. in § 8 nicht an. Fabianus beruft sich auf drei Argumente, wie aus dem Folgenden hervorgeht (primum […] deinde […] novissime). Zunächst bestreitet er, dass es Land im oder jenseits des Ozeans gebe; dann behauptet er, dass man – angenommen, es gebe solches Land – es nicht erreichen könne; schließlich fügt er hinzu, dass es sich nicht lohne, die Durchquerung zu wagen. Auf ähnliche Weise leugnet Augustinus in De civitate dei (16,9) die Existenz der Antipoden, indem er zunächst bestreitet, dass es Land (und nicht nur Wasser) auf der gegenüberliegenden Seite der Erde gibt, und dann leugnet, dass Menschen durch die Weiten des Ozeans dorthin gelangen konnten (s. die folgenden Anmerkungen). Das Verb tractare verwendet Seneca d.Ä. in den divisiones häufig zur Beschreibung des Vorgehens von Deklamatoren. Zumeist bezieht es sich auf deren quaestiones; vgl. innerhalb der Suasoriensammlung suas. 2,16 und 19; 4,4; 5,4 und v. a. 3,3, wo ebenfalls beschrieben wird, wie ein Argument (quaestio) behandelt wird, d. h. welche untergeordneten Argumente (rationes bzw. causae; vgl. § 9 mit dem Kommentar zur Stelle) der Deklamator benutzt: hanc suasoriam sic divisit Fuscus, ut diceret, etiamsi aliter navigare non possent, non esse faciendum, et sic tractavit, ut negaret faciendum, quia homicidium esset, quia parricidium, quia plus impenderetur quam peteretur.

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divisit enim illam sic, ut primum negaret ullas in Oceano aut trans Oceanum esse terras habitabiles: Wie der Deklamator, der im ersten Paragraphen zitiert wird, leugnet Fabianus, dass es im Ozean oder jenseits von diesem bewohnbares Land gibt: aiunt fertiles in Oceano iacere terras ultraque Oceanum rursus alia litora, alium nasci orbem, nec usquam rerum naturam desinere sed semper inde, ubi desisse videatur, novam exsurgere. facile ista finguntur. Die untergeordnete Frage nach Land im oder jenseits des Ozeans gehört dem status coniecturalis an; vgl. Quint. inst. 3,8,16 (s. S. 151): an Alexander terras ultra Oceanum sit inventurus. deinde: si essent, perveniri tamen ad illas non posse: Vgl. wiederum § 1: Oceanus navigari non potest und Aug. civ. 16,9 (s.o.): nimis […] absurdum est, ut dicatur aliquos homines ex hac in illam partem Oceani inmensitate traiecta navigare ac pervenire potuisse. Zu deinde ist ein affirmatives Verbum dicendi wie dixit aus dem zuvor benutzten negare zu entlehnen (für diesen Typ der Brachylogie beim älteren Seneca vgl. Sander [1877] 16). Auf ähnliche Weise muss suas. 2,17 aus nolebat im Folgenden volebat gedanklich ergänzt werden (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). hic difficultatem navigationis, ignoti maris naturam non patientem navigationis: Fabianus begründet sein zuvor genanntes Argument (ratio) nicht dadurch, dass er sagt, dass der Ozean endlos ist, wie es der Deklamator in § 1 tut (nihil infinitum est nisi Oceanus), sondern durch die Gefahr, die von ihm ausgeht. An dieser Stelle der Deklamation hat Fabianus gewiss die Meeresungeheuer und Stürme, kurzum: all das beschrieben, was Seneca d.Ä. in § 4 zitiert (außer dem letzten Satz über Alexanders Mutter). Für hic in der hier vorliegenden Funktion vgl. § 9 mit dem Kommentar zur Stelle. Hier liegt ein elliptischer Satz vor, zu dem – genauso wie weiter unten bei hic matrem […] – ein Verb des Sagens ergänzt werden muss (vgl. Sander [1877] 15); vgl. ferner suas. 6,13: hic, quam multi rogassent C. Caesarem, hic et Ligarium; 7,10: et hic condiciones intolerabiles; contr. 1,6,8: hic de meritis puellae et moribus. novissime: ut posset perveniri, tanti tamen non esse: Dieses dritte Argument (ratio) zur Stützung der quaestio, dass der Ozean nicht durchquert werden kann, ist in Wirklichkeit ein Argument, warum der Ozean nicht durchquert werden soll. Es hätte also seinen eigentlichen Ort unterhalb der ersten, nicht der zweiten quaestio. Trotzdem ist die Verwendung des Arguments an dieser Stelle nachvollziehbar, da es den Abschluss einer gedanklichen Folge bildet: Zunächst heißt es, dass es keine Länder auf dem Ozean oder jenseits von ihm gibt. Dann wird bestritten, dass man sie erreichen kann, selbst wenn es sie gebe. Schließlich wird angefügt, dass es sich nicht lohnen würde, die fernen Länder zu erreichen, selbst

1.2 Kommentar

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wenn man sie erreichen könnte. In dem hier verwendeten Argument werden die beiden Optionen, entweder auf den Ozean hinaus zu segeln oder kehrt zu machen, unter dem Nützlichkeitsaspekt (utile) miteinander verglichen. Für den Vergleich von utilia untereinander vgl. Quint. inst. 3,8,33: nec tantum inutilibus comparantur utilia, sed inter se quoque ipsa, ut si ex duobus eligamus, in altero quid sit magis, in altero quid sit minus. Für novissime zur Kennzeichnung des letzten Arguments in einer Reihe vgl. suas. 2,11; 5,5. hic dixit incerta peti, certa deseri: descituras gentes, si Alexandrum rerum naturae terminos supergressum enotuisset: Diese strategischen Argumente finden sich nicht in Fabianus’ Exzerpt in § 4, zumindest nicht so deutlich wie bei anderen Deklamatoren (vgl. Moschus in § 2, Marullus in § 3, Cestius in § 8). Bei Fabianus klingt diese strategische Gefahr immerhin in dem abschließenden Satz aus § 4 an: memento, Alexander, matrem in orbe victo adhuc magis quam pacato relinquis. Dort werden zwei Argumente miteinander verknüpft, und zwar das hier beschriebene strategische Argument und das folgende Argument, dass Alexander an seine Mutter denken solle. Für das Überschreiten der Grenzen der Natur vgl. Albucius in § 3: o quantum magnitudo tua rerum quoque naturam supergressa est. Das Verb enotescere („bekannt werden“) begegnet im Werk des älteren Seneca zum ersten Mal in der lateinischen Literatur; vgl. contr. 1,2,4: in auctione nemo voluit liceri, ut enotuit servisse piratis und Sander (1877) 11. hic matrem, de qua dixit: ‘quomodo illa trepidavit, etiam quod Granicum transiturus esset!’: Für die Ellipse hic matrem (zu ergänzen wäre vielleicht sc. induxit) vgl. weiter oben hic difficultatem navigationis mit dem Kommentar zur Stelle. Der Granikos ist ein Fluss in der Troas, bei dem Alexander im Jahr 334 v.Chr. den ersten Erfolg gegen die Perser errungen hat (vgl. Arr. an. 1,12,6 – 1,16). Da sich die Perser am Ufer des Flusses aufgestellt hatten, mussten Alexanders Soldaten diesen durchqueren, um die Perser anzugreifen. Auf die Schlacht spielt der Deklamator jedoch nicht an, sondern er benutzt die Überquerung des Flusses als Argumentum a minori: Wenn Alexanders Mutter schon damals ängstlich war, dann wird sie erst recht bei der Durchquerung des Ozeans ängstlich sein. Für Alexanders Mutter Olympias im Kontext dieser Suasorie s. die vorige Anmerkung und vgl. § 4 mit dem Kommentar zur Stelle. Für quomodo i.S.v. „wie sehr“ bei einem Ausruf vgl. Cic. Att. 7,2,5: quomodo exspectabam epistulam, quam Philoxeno dedisses! Kiessling (1872) 7 und Håkanson (1989) 335 übernehmen C.F.W. Müllers Konjekturen quom anstelle von quod und esses anstelle von esset. Die Änderung der Verbalform ist wohl unnötig, da der Gebrauch der dritten Person mit Bezug auf Alexander auch in Cestius’ Sentenz am Ende von § 11 vorliegt: fremit Oceanus, quasi indignetur, quod terras relinquat. An dieser Stelle erklärt sich der Gebrauch

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der dritten Person vielleicht dadurch, dass der Deklamator zuvor mit einem Substantiv wie filius auf Alexander verwiesen hat. Die Änderung von quod zu cum ist zwar verlockend, aber da quod-Sätze nach den Verben des Fürchtens überliefert sind, halten wir zögernd das überlieferte quod; vgl. Cic. Tusc. 3,66: cum in illo ipso acerbissimo miserrimoque spectaculo sibi timerent, quod se classe hostium circumfusos viderent; Bell. Hisp. 29,5: nostri laetari nonnulli etiam timere, quod in eum locum res fortunaeque omnium deducerentur […].

Der dritte Teil (11 – 16) Der dritte Teil des Suasorienreferates erweckt den Eindruck eines Anhanges, da Seneca d.Ä. hier verschiedene Dinge, die in dieser Suasorie, aber auch außerhalb von ihr geäußert wurden, wiedergibt. Die colores, die innerhalb der Kontroversiensammlung i. d. R. die dritte Kategorie bilden, werden nicht referiert, da sie eine Eigenart der dem genus iudiciale zugehörigen Kontroversien sind (s. das Unterkapitel „Die colores“, S. 44– 59). Es gibt aber auch innerhalb der Kontroversiensammlung Fälle, in denen im dritten Abschnitt keine colores referiert werden, wie z. B. in der Kontroversie 7,5. Im dritten Teil dieser Suasorie ist eher ein assoziatives Vorgehen als eine stringente Anordnung zu beobachten. Es lassen sich jedoch zwei Themen nennen, die häufiger am Ende der Suasorien und Kontroversien behandelt werden, nämlich die Äußerungen der griechischen Deklamatoren und eine Diskussion von literarischen Vergleichstexten. Zu den griechischen Deklamatoren im Werk des älteren Seneca vgl. Citti (2007) und Echavarren (2007a). 11 GLYCONIS celebris sententia est: τοῦτο οὐκ ἔστι Σιμόεις οὐδὲ Γράνικος· τοῦτο εἰ μή τι κακὸν ἦν, οὐκ ἂν ἔσχατον ἔκειτο: Glykons Sentenz wird an dieser Stelle referiert, da sie an Fabianus’ Erwähnung des Flusses Granikos im vorigen Satz anschließt. Der Simoeis fließt genauso wie der Granikos (vgl. § 10 mit dem Kommentar zur Stelle) durch Kleinmysien, und zwar in der westlichen Troas. Zwar berichten weder Arrian noch Curtius Rufus explizit, dass Alexander den Simoeis überquert hat, aber es ist davon auszugehen, dass dies auf dem Weg von Troja nach Arisbe geschah (vgl. Arr. an. 1,12,6), vielleicht auch schon nach der Durchquerung der Dardanellen auf dem Weg nach Troja (vgl. ib. 1,11,6 f.). Die Vorstellung, dass der Ozean aufgrund seiner Randlage etwas Defizitäres darstellt, liegt wohl auch bei Fabianus in § 4 vor (s. den Kommentar zur Stelle): rudis et imperfecta natura penitus recessit; vgl. ferner Glykons Äußerung in § 16: ὑγίαινε, γῆ, ὑγίαινε, ἥλιε· Μακεδόνες ἄρα χάος εἰσᾴσσουσι. Für celebris mit Bezug auf die Äußerungen von Deklamatoren vgl. suas. 2,10 und 19.

1.2 Kommentar

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hoc omnes imitari voluerunt: Wie aus dem Zusammenhang deutlich wird, ist das, was die im Folgenden zitierten Deklamatoren nachahmen wollten, der Gedanke des besonderen Charakters des Ozeans im Vergleich zu Flüssen, der v. a. in dessen Randlage zum Ausdruck kommt. Das Hilfsverb velle lässt darauf schließen, dass die Imitationen im Urteil des älteren Seneca nicht geglückt sind; vgl. suas. 3,4 mit dem Kommentar zur Stelle. PLVTION dixit: καὶ διὰ τοῦτο μέγιστόν ἐστιν, ὅτι αὐτὸ μὲν μετὰ πάντα, μετὰ δὲ αὐτὸ οὐθέν: Auch der unbekannte Deklamator, aus dessen Suasorie Seneca d.Ä. als erstes exzerpiert (§ 1), hat den von Plution formulierten Gedanken verwendet, und zwar in der Form, dass die eine Version nahezu die wörtliche Übersetzung der anderen ist: post omnia Oceanus, post Oceanum nihil. Wahrscheinlich ist die lateinische Version nach derjenigen Plutions geformt, da diese wiederum, wie Seneca d.Ä. angibt, auf Glykon zurückgeht. Für die Größe des Ozeans vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: nihil infinitum est nisi Oceanus. ARTEMON dixit: βουλευόμεθα, εἰ χρὴ περαιοῦσθαι: Sc. Ὠκεανόν. Artemon vergegenwärtigt das Thema der Suasorie (deliberat Alexander, an Oceanum naviget). οὐ ταῖς Ἑλλησποντίαις ᾐόσιν ἐφεστῶτες οὐδʼ ἐπὶ τῷ Παμφυλίῳ πελάγει τὴν ἐμπρόθεσμον καραδοκοῦμεν ἄμπωσιν: Für die Erwähnung der Gezeiten vgl. Moschus in § 2 und Fabianus in § 4. Dadurch dass von der Ebbe des Pamphylischen Meeres und der Dardanellen gesagt wird, dass sie regelmäßig erfolgt, soll wohl das Gegenteil über den Ozean verstanden werden, nämlich dass sie unregelmäßig (oder gar nicht) erfolgt. Der nautische Hintergrund ist wohl, wie Edward (1928) 94 angibt, dass die Strömung bei Ebbe das Auslaufen vereinfacht. Die Überschreitung der Dardanellen im Jahr 334 v.Chr. war der Auftakt des Feldzuges gegen die Perser (vgl. Arr. an. 1,11,6). Das Pamphylische Meer wird genannt, weil Alexander im Winter 334/333 nur deshalb an seiner Küste entlang ziehen konnte, weil der Wind drehte und sich das Meer zurückzog. Dies wurde von Kallisthenes auf göttliches Einwirken zurückgeführt (vgl. FGrHist 124 F 31 Jacoby; Arr. an. 1,26,1 f.; Plut. Alexander 17,6). οὐδὲ Εὐφράτης τοῦτʼ ἔστιν οὐδὲ Ἰνδός, ἀλλʼ εἴτε γῆς τέρμα εἴτε φύσεως ὅρος εἴτε πρεσβύτατον στοχεῖον εἴτε γένεσις θεῶν, ἱερώτερόν ἐστιν ἢ κατὰ ναῦς ὕδωρ: Auch der Euphrat und der Indus waren Stationen auf Alexanders Feldzug. Den Euphrat überquerte sein Heer 331 v.Chr., nachdem es aus Ägypten aufgebrochen war. Den Indus überschritt Alexander im Frühjahr 326 v.Chr. Im Sommer 325 v.Chr. gelangte er mit einem Teil des Heeres vom Indusdelta bei Patala

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unter Schwierigkeiten in den Ozean (vgl. Diod. 17,104,3; Arr. an. 6,18 – 20; Strab. 15,1,17; Curt. 9,9). Für den Gedanken des Endes der Welt vgl. Glykon weiter oben und z. B. Albucius in § 3: eundem Fortuna victoriae tuae quem naturae finem facit: imperium tuum cludit Oceanus. Die Aussage, dass das Wasser das älteste Element und damit der Ursprung aller Dinge ist, geht auf Thales von Milet zurück; vgl. Arist. met. 1,3, 983b20 f.; Cic. nat. deor. 1,25 mit Pease ad loc.: Thales enim Milesius […] aquam dixit esse initium rerum. Auf Homer geht die Vorstellung vom Wasser als dem Ursprung der Götter zurück (Il. 14,201): Ὠκεανόν […] θεῶν γένεσιν. Für den Gedanken, dass der Ozean heilig ist, vgl. Fabianus in § 4 mit dem Kommentar zur Stelle: sacrum quidem terris natura circumfudit Oceanum. APATVRIVS dixit: ἔνθα μὲν ἡ ναῦς ἐκ μιᾶς φορᾶς 〈εἰς〉 ἀνατολάς, ἔνθα δὲ εἰς τὰς ἀοράτους δύσεις: Apaturius rekurriert auf Glykons Aussage über die Randlage des Ozeans (ἔσχατον). Seiner Aussage liegt wohl die Vorstellung zugrunde, dass der Ozean die Erde umfließt; vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: totius orbis vinculum terrarumque custodia. Unklar ist allerdings der genaue Sinn bzw. die Implikation der Worte ἐκ μιᾶς φορᾶς und ἀόρατος. Ferner ist nicht sicher, ob ἔνθα an beiden Stellen auf die Küste des Indischen Ozeans verweist (so Winterbottom [1974] II 499: „this way […] that way“) oder ob an der zweiten Stelle „von dort“ i.S.v. „vom Sonnenaufgang“ zu verstehen ist (vgl. Adiego Lajara [et al.] [2005] 279: „desde aquí […] desde allá). Zu der Angabe ἐκ μιᾶς φορᾶς bemerkt Edward (1928) 94: „if you submit yourself to it [sc. dem Ozean], you are bound to go from east to west“. Aber die Notwendigkeit, auf dem Ozean vom Osten in den Westen zu segeln, scheint nicht die Hauptimplikation dieses Satzes zu sein.Vielmehr scheint es dem Deklamator darum zu gehen, Alexander die Weiten des Ozeans vor Augen zu führen. Zanon dal Bo (1988) 219 zufolge könnte mit ἀόρατος gemeint sein, dass man denjenigen Teil der Welt erblicken kann, den die Sonne vom Untergang bis zum Aufgang zurücklegt und der normalerweise nicht sichtbar ist. Allerdings scheinen sprachliche Zweifel dieser Interpretation entgegen zu stehen, denn das Adjektiv ἀόρατος bezieht sich auf δύσις und nicht auf einen Teil der Erde zwischen Sonnenauf- und -untergang. Vermutlich bedeutet ἐκ μιᾶς φορᾶς, dass man im Osten zum Sonnenaufgang segelt, ohne auf Land zu stoßen, und im Westen die entsprechende Erfahrung macht (der Ausdruck ist also ἀπὸ κοινοῦ zu beziehen), d. h. der Ozean wird als ein Kontinuum betrachtet, wie Winterbottom (s.o.) Fußn. 2 bemerkt. Das Adjektiv ἀόρατος bedeutet wohl „ungesehen“ i.S.v. „unbekannt“ (so Winterbottom [s.o.]; vgl. Plat. Soph. 246a), nicht „unsichtbar“ (so O. & E. Schönberger [2004] 278), d. h. der Deklamator verweist auf die Tatsache, dass aufgrund der Ausmaße des Ozeans noch niemand bis zum Sonnenuntergang vorgedrungen ist. Die Korrelation ἔνθα […] ἔνθα scheint daher „in die eine Rich-

1.2 Kommentar

201

tung […] in die andere Richtung“ zu bedeuten. Für die Größe des Ozeans vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: nihil infinitum est nisi Oceanus. CESTIVS 〈dixit, cum saevitiam maris〉 descripsisset: fremit Oceanus, quasi indignetur, quod terras relinquat: Für die dritte Person in relinquat vgl. Fabianus in § 10 mit dem Kommentar zur Stelle: quomodo illa trepidavit, etiam quod Granicum transiturus esset! An dieser Stelle erklärt sich der Gebrauch der dritten Person möglicherweise dadurch, dass der Deklamator in einem vorigen Satz, den Seneca d.Ä. nicht exzerpiert hat, das Substantiv Alexander verwendet hat. Die Überlieferung descripsisset (V) bzw. describsisset (A) bzw. describisset (B) wurde auf zwei unterschiedliche Weisen emendiert. Bursian (1857) 6 emendiert zu describit sic (Håkanson [1989] 336 gibt fälschlicherweise descripsit sic als Bursians Konjektur an), während Kiessling (1872) 8 und Müller (1887) 527 nur im Tempus (descripsit sic) von ihm abweichen. Novák (1915) 282 f. wendet gegen diesen Eingriff ein, dass keine Beschreibung vorliegt, und ergänzt dixit, cum saevitiam maris vor descripsisset. Für die Supplierung verweist er auf Stellen wie contr. 7,5,9: Cestius dixit, cum descripsisset, quam leve vulnus esset […] und suas. 1,13. Håkanson (1989) 336 und ad loc. folgt Nováks Argumentation und übernimmt daher dessen Ergänzung. Nováks textkritischer Eingriff beruht allerdings auf einem Missverständnis, denn der Begriff describere hat im Werk des älteren Seneca ein breites Bedeutungsspektrum. Er ist nahezu synonym zu narrare oder dicere, wie u. a. aus den folgenden Stellen hervorgeht: § 9: dixit deinde locum de varietate fortunae, et, cum descripsisset nihil esse stabile, omnia fluitare […], deinde exempla regum ex fastigio suo devolutorum [sc. descripsisset oder dixisset], adiecit […]; contr. 7,5,14: cum descripsisset a puero demonstratum procuratorem; 1,3,12: Triarius indignantium voces descripsit et dicentium; vgl. auch Fuscus’ descriptiones suas. 2,1 f.; 3,1; 4,1– 3; 5,1– 3 sowie suas. 2,10 und 3,7 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. Hier kann sich die Beschreibung auf fremit Oceanus beziehen. Zu den genannten Emendationen ist Kiesslings Überlegung hinzuzufügen, descripsit. set zu lesen (vgl. Müller [s.o.]). Eine Entscheidung an dieser Stelle fällt äußerst schwer.Wie bei descripsit sic stellt sich bei descripsit. sed das Problem, dass die einzige Parallele für absolutes oder durch ein Adverb erweitertes describere im Werk des älteren Seneca in § 15 zu finden ist, wo eine Brachylogie vorliegt: Latini declamatores in descriptione Oceani non nimis viguerunt, nam aut minus descripserunt aut curiose. Als Brachylogien sind teilweise auch die vom Thesaurus angeführten Belege für absolutes describere zu erklären (ThLLV 1, 662,50 – 60): Cic. leg. 1,15: aestivo, quem ad modum describit, die; Quint. inst. 3,4,3; 5,8,2; Plin. epist. 5,6,44: non epistula, quae describit, sed villa, quae describitur, magna est. An dieser Stelle liegt allerdings keine Brachylogie vor, da der Ozean in § 11 zuvor nicht genannt wird. Relativ häufig liegt hingegen im Werk des älteren Seneca ein vorzeitiger Temporalsatz mit

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cum vor, wie ihn Novák herstellt. Daher und da die überlieferten Formen eine Lacuna nahelegen, übernehmen wir zögernd dessen Ergänzung. 12 – 13 Seneca d.Ä. spricht nun über nicht gelungene Äußerungen. Ausgangspunkt für dieses kritische Referat ist die allgemeine Meinung (putabant), dass Dorion die corruptissima res omnium gesagt habe, und zwar nicht nur aller Deklamatoren, sondern aller homines diserti. Am Anfang von § 13 gibt Seneca d.Ä. jedoch eine Aussage des Menestratus wieder, die seiner Meinung nach noch viel misslungener (multo corruptior sententia) war. Problematisch ist die Frage, bei welcher Gelegenheit Dorions Äußerung getroffen wurde. Aus der Angabe in metaphrasi geht wohl hervor, dass Dorions Äußerung nicht aus dieser Suasorie stammt, sondern im Kontext einer zu den Progymnasmata gehörenden Metaphrase getroffen wurde (s. den Kommentar zu in metaphrasi). Da Dorions Äußerung eine Metaphrase einer Homerstelle ist, eröffnet sich innerhalb des genannten Rahmens eine Diskussion über schlechte Homerimitation und die stilistische Leistung Vergils, aus dessen Aeneis Seneca d.Ä. in Anlehnung an Maecenas’ Urteil zwei gelungene Formulierungen zitiert. corruptissimam rem omnium, quae umquam dictae sunt, ex quo homines diserti insanire coeperunt, putabant DORIONIS esse in metaphrasi dictam Homeri, cum excaecatus Cyclops saxum in mare iecit: 〈*** ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται *** καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος ***〉: Dorion rekurriert auf diejenige Episode aus dem neunten Buch der Odyssee, in der der Zyklop, der von Odysseus und seinen Gefährten geblendet wurde, den Fliehenden einen Stein hinterherwirft; vgl. v. a. 9,481 f.: ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο / κὰδ δ’ ἔβαλε προπάροιθε νεὸς κυανοπρῴροιο. Die bisherigen Herausgeber hat die Frage beschäftigt, ob nach dem cum-Satz Dorions Metaphrase ausgefallen ist und daher eine Lacuna angezeigt werden muss bzw. worin die Metaphrase zu sehen ist (ein Überblick bei Costanza [1990]). Winterbottom (1974) II 500 nimmt keine Lacuna an, d. h. er glaubt nicht, dass Seneca d.Ä. zunächst Dorions ganze Metaphrase zitiert und anschließend zwei Sätze aus ihr herausgreift. Gegen Winterbottom spricht jedoch das folgende haec:Wenn keine Lacuna vorliegen würde,würde man einen Bezug auf Dorions Äußerung durch hanc [sc. rem] erwarten. Die Annahme einer Lacuna ist insofern nicht schwierig, als Graeca im Werk des älteren Seneca häufig ausgefallen sind (vgl. z. B. §§ 13 und 16; suas. 2,11; 14; 16; 21 f.). Demgegenüber ist Schotts Auffassung zurückzuweisen, der die griechischen Sätze für ein Fragment des verlorenen Cyclops des Philoxenos hält (so auch Bursian [1857] 6; Kiessling [1872] 8; Wilamowitz-Moellendorff [1879] 172 f.) und die Metaphrase in dem von ihm folgendermaßen hergestellten Hexameter erkennen will: tunc excaecatus Cyclops saxum in mare iecit (vgl. Müller [1887] 528). Denn dieser Satz

1.2 Kommentar

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kann, wie Edward (1928) 95 bemerkt, wohl kaum als corruptus bezeichnet werden, v. a. aber ist Dorion ein griechischsprachiger Deklamator (vgl. contr. 1,8,16), aus dessen griechischer Metaphrase im Folgenden zitiert wird (vgl. Håkanson ad loc.), wie aus dem Zusammenhang eindeutig hervorgeht (Spengel [1858] 29 sah zuerst in den griechischen Sätzen Dorions Metaphrase). Daher geht auch WilamowitzMoellendorffs (s.o.) Emendation der griechischen Sätze unter der Prämisse, dass sie Philoxenos’ dorische Verse enthalten, in die Irre: οὔρεος οὖρος ἀποσπᾶται καὶ χειρία / βάλλεται νᾶσος. Gertz meint, dass Dorions ganze Metaphrase aus dem Hexameter οὖρος ἀποσπᾶται καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος bestand (vgl. Müller [1887] 528). Jedoch scheint er die Überlieferung aus metrischen Gründen zu straffen, d. h. gerade die Konjektur οὖρος ist wenig überzeugend. Abgesehen von diesen textkritischen Schwierigkeiten ist es auch prinzipiell unwahrscheinlich, dass die Metaphrase in Versform verfasst ist (s.u. den Kommentar zu in metaphrasi). Aussagen zum Umfang der ausgefallenen Metaphrase und zur Frage, wie viele Homerverse Dorion umschrieben hat, lassen sich kaum treffen. Aus den im Folgenden zitierten Sätzen ist zu folgern, dass zumindest die Verse Od. 9,481 f. Gegenstand der Metaphrase waren. Möglicherweise ist zwischen den beiden Sätzen, die von Dorion überliefert sind, nichts weiter ausgefallen, da das logische Subjekt dasselbe ist. corruptissimam rem: Das Adjektiv corruptus (oder das Adverb corrupte) kommt als Terminus technicus der Stilkritik innerhalb der Suasoriensammlung nur in dieser Suasorie (§§ 12 f. und 16) vor. Innerhalb der Kontroversiensammlung werden Adjektiv und Adverb an mehreren Stellen verwendet: vgl. z. B. contr. 1,4,10; 2,1,26 und 35. Es handelt sich dabei um Oberbegriffe, die mehrere Arten von Fehlern im Bereich des Ausdrucks einschließen; vgl. contr. 9,2,21: ex altera parte multa bene dicta sunt, multa corrupte. Insofern entspricht das, was Seneca d.Ä. mit corruptus bezeichnet, demjenigen, was Quintilian (inst. 8,3,56 – 58) – und Seneca d.Ä. selbst vereinzelt (vgl. contr. 9,2,27 f.; suas. 2,16; 7,11) – mit cacozelon bzw. cacozelia benennt (vgl. Fairweather [1981] 214 f.). An dieser Stelle ist Schwulst gemeint, wie aus dem weiter unten verwendeten Adjektiv tumidus hervorgeht. Auch Cicero (Brut. 202 und 261), Quintilian (inst. 2,5,10; 8,3,18; 8,3,57) und Seneca d.J. (epist. 114,1) benutzen corruptus als einen Oberbegriff der Stilkritik (vgl. Bardon [1940] 23). Zu dem Anliegen des älteren Seneca, auch missglückte Äußerungen von Deklamatoren zu referieren, vgl. § 16 mit dem Kommentar zur Stelle und contr. 9,2,28. insanire: Das Wortfeld des Wahnsinns (insanire, insania, furor) verwendet Seneca d.Ä. häufig im Zusammenhang mit Fehlern im Ausdruck, d. h. an denjenigen Stellen, an denen er auch corruptus bzw. corrupte verwendet (vgl. Edward [1928]

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1 suas. 1

95; Fairweather [1981] 217). Vgl. contr. 10,4,22: Glycon corruptam dixit sententiam […]. sed nostri [sc. declamatores Latini] quoque bene insanierunt. Für den Sonderfall des Schwulstes vgl. contr. 9,2,26 f.: illi, qui tument, […] plus habent furoris, sed plus et corporis. […] sed ne hoc genus furoris protegere videar, in Flaminino tumidissime dixit Murredius. putabant: Das Subjekt dürften Rhetoren, vielleicht auch Rhetorikinteressierte im weiteren Sinne sein, die über Dorions Äußerung diskutiert haben; vgl. für derartige Diskussionen z. B. contr. 1,6,11; 2,3,8 und 9,2,23 – 25; Korenjak (2000) 120 – 124. Das Imperfekt erklärt sich daher als Verweis auf zumindest eine Debatte, die im Anschluss an Dorions Metaphrase stattgefunden hat. Gertz’ Konjektur putabam (vgl. Müller [1887] 528) scheint uns nicht gerechtfertigt zu sein, da putabant hier einen Kontrast zu multo corruptiorem sententiam […] nactus sum in hac ipsa suasoria am Anfang von § 13 vorbereitet: Dort korrigiert Seneca d.Ä. die etablierte Meinung, dass Dorion die geschmackloseste Äußerung aller Zeiten getätigt habe. Außerdem wird im Folgenden Maecenas erwähnt, der zu der diskutierenden Gruppe gehören dürfte. in metaphrasi: Die Forschung ging bisher davon aus, dass Dorion innerhalb der Alexandersuasorie eine Homerparaphrase verwendet hat (vgl. Fairweather [1981] 311; Berti [2007] 207– 209). Es ist aber kaum ersichtlich, in welchem argumentativen Zusammenhang Dorion in dieser Suasorie eine Homermetaphrase verwendet haben könnte. Es ließe sich nur darüber spekulieren, ob die Homermetaphrase z. B. der Darstellung der monstra diente.Vielmehr deutet die Angabe in metaphrasi darauf hin, dass Dorion in dem Progymnasma der Metaphrase Homerverse paraphrasiert hat, d. h.: In § 12 unterbricht Seneca d.Ä. das Referat der Äußerungen, die aus der ersten Suasorie stammen, und kehrt in § 13 mit den Worten multo corruptiorem sententiam […] nactus sum in hac ipsa suasoria zu seinem unterbrochenen Vorhaben zurück. Derartige Exkurse finden sich häufiger in der Suasoriensammlung; vgl. das epische Fragment des Albinovanus Pedo in § 15 und dasjenige des Cornelius Severus suas. 6,26; die Historikerfragmente ib. 14b-25a.Vor allem ist ein Passus aus der zweiten Suasorie heranzuziehen; dort heißt es zuerst (suas. 2,11): non quidem in hac suasoria, sed in hac materia disertissima illa fertur sententia Dorionis […]. Dann wird u. a. ein Fragment des Cornelius Severus referiert (ib. 12). Schließlich kehrt Seneca d.Ä. explizit zur zweiten Suasorie zurück (ib. 14): sed ut revertar ad Leonidam et trecentos […]. Der Exkurs an dieser Stelle ist wohl dadurch motiviert, dass schwülstige oder zumindest misslungene Äußerungen, die mit dem Ozean zusammenhängen, nebeneinander gestellt werden. Daher ist davon auszugehen, dass auch Cestius’ Äußerung am Ende von § 12 als misslungen angesehen wird. Soweit wir sehen, ist dies die einzige Stelle, aus der vielleicht

1.2 Kommentar

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hervorgeht, dass die Rhetorikschulen auch von Publikum besucht wurden, wenn die Schüler Progymnasmata hielten, und über deren Leistungen diskutiert wurde. Nicht auszuschließen, aber weniger wahrscheinlich ist, dass es analog zur Schaudeklamation eine öffentliche Darbietung von Progymnasmata durch erwachsene Männer gab, da uns hierüber keine Quellen zur Verfügung stehen. Eine Metaphrase ist die Umschreibung eines Textes mit eigenen Worten (dies ist der erste Beleg sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Literatur für dieses Substantiv; vgl. ThLL VIII 876,58 – 67; LSJ s.v. μετάφρασις; das Verb μεταφράζω findet sich aber schon bei Dionysius von Halikarnass, Thukydides 45). Ob dabei im Gegensatz zur Paraphrase bestimmte Anforderungen an die Form des Vorlagentextes und an diejenige des Zieltextes bestehen, d. h. ob eine Metaphrase z. B. eine Prosaübertragung eines dichterischen Vorlagentextes ist, ist aufgrund der wenigen Parallelstellen aus verschiedenen Epochen nicht definitiv zu entscheiden. Capperonnier bemerkt zu Fort. rhet. 3,3 p. 122,19 Halm: ut oratione prosa dicas, quae alii versibus exsecuti sunt, et contra. Andere Belege wiederum – auch für das Verb μεταφράζω – sprechen eher dafür, dass Metaphrase synonym zu Paraphrase ist, und zwar eine Stelle bei Dionysios von Halikarnass (Thukydides 45), eine in einer armenischen Übersetzung des verlorenen griechischen Textes erhaltene Definition Theons des Progymnasma der Paraphrase (p. 107 Patillon / Bolognesi [1997]) und eine Stelle in Plutarchs Demosthenesvita (8,2). An unserer Stelle ist die Frage nach dem Wechsel zwischen Dichtung und Prosa nicht von großer Tragweite, da in dem Fall, dass die Metaphrase einen solchen Wechsel impliziert, Dorion in Prosa sprechen muss, und in dem Fall, dass sie einen solchen Wechsel nicht impliziert, Dorion in Prosa sprechen wird, da dies die übliche Ausdrucksform ist. Die zwei Sätze, die uns aus Dorions Metaphrase überliefert sind, sprechen – sofern die schlechte Überlieferung ein Urteil erlaubt – eher dafür, dass sie in Prosa verfasst sind. Für das Progymnasma der Paraphrase (bzw. Metaphrase) vgl. Quint. inst. 1,9,2; Theon p. 107– 110 Patillon / Bolognesi (1997); Milazzo (2008); allgemein zu den Progymnasmata vgl. Kraus (2005). Für ein Verzeichnis der von Seneca d.Ä. benutzten griechischen Termini technici vgl. Fairweather (1981) 342 Fußn. 14. iecit: Das überlieferte reiecit hat Håkanson (1989) 336 zu deiecit emendiert, da das OLD nur zwei weitere Belege für reicere i.S.v. „als Vergeltung zurückwerfen“ verzeichnet (vgl. OLD s.v. reicio 1d: Hor. carm. 4,8,16; Caes. Gall. 1,46,2) und das Präfix re- aus dem vorhergehenden -re aus mare entstanden sein kann (vgl. Håkanson ad loc.). Zudem zeigen die beiden Belege (hinzuzufügen wäre Stat. Theb. 6,770), dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird. Davon kann aber an dieser Stelle keine Rede sein, da nur der Zyklop einen Felsen wirft. Neben Håkansons Konjektur ist aber auch diejenige von Schott zu erwägen, der iecit herstellt (vgl. Müller [1887] 528).

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Reiecit ließe sich dann als Dittographie nach mare erklären. Eine Entscheidung zwischen iecit und deiecit ist nahezu unmöglich. Im Homerischen Original steht das Kompositum (κὰδ δ’ ἔβαλε), Dorion verwendet aber das Simplex (βάλλεται). Außerdem sind beide Junkturen belegt (für in mare deicere vgl. z. B. Liv. 40,4,15; für in mare iacere z. B. Hyg. fab. 45,2). haec quomodo ex corruptis eo perveniant, ut et magna et tamen sana sint, aiebat Maecenas apud Vergilium intellegi posse: Vergil wird hier – wie auch an anderen Stellen des Werkes, besonders der Suasorien (suas. 2,20; 3,4 f.; 4,4 f.) – als (stilistisches) Vorbild eingeführt. Dabei gibt Seneca d.Ä. Maecenas’ Urteil wieder, so wie er in den Paragraphen 5 – 8 Cestius’ Instruktionen referiert. Die Frage aber, ob Vergil in Maecenas’ Augen an der entsprechenden Stelle Homer imitiert hat, muss offen bleiben (gegen den Titel von Costanzas [1990] Aufsatz). Costanza (1990) 53 äußert die Vermutung, dass es sich bei Maecenas’ Verweis auf Vergil um eine Verteidigung gegen Agrippas Vorwurf der κακοζηλία (s.o. zu corruptissimam rem) handelt, von dem wir aus der Sueton-Donat-Vita wissen (§ 44): M. Vipsanius a Maecenate eum suppositum appellabat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nec exilis, sed ex communibus verbis atque ideo latentis. Die Situation, die Seneca d.Ä. schildert, ist allerdings eine andere: Maecenas nimmt Vergil nicht in Schutz und verweist auf Dorion als Negativbeispiel, sondern zeigt im Gegenteil, wie Dorion bei seiner Metaphrase eine schlechte Homerübertragung vermieden hätte, indem er sich Vergil zum Vorbild genommen hätte. In beiden Diskussionen manifestiert sich aber dasselbe Urteil des Maecenas über Vergil. Für Maecenas’ Präsenz bei Deklamationen vgl. contr. 2,4,13. Sanus ist ein Oberbegriff, den Seneca d.Ä. hier und in § 16 als Gegenbegriff zu insanire und corruptus (s. S. 203 f.) verwendet. An dieser Stelle ist, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, das Vermeiden von Schwulst gemeint. Für Schwulst als Entartung des hohen Stils vgl. Hor. ars 27: professus grandia turget. tumidum est ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται: In diesem Satz paraphrasiert Dorion Hom. Od. 9,481: ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο. Der Grund dafür, dass dieser Satz als schwülstig angesehen wird, ist wohl die ungewöhnliche Vorstellung, dass ein Berg vom Berg abgerissen wird. Die vorliegende Diskussion über die κακοζηλία in Dorions Homermetaphrase hat eine Parallele in der Gestalt, dass gegen Homer selbst der Vorwurf erhoben wurde, dass er in den beiden Versen, die Dorion umschreibt (Od. 9,481 f.), den Fehler der κακοζηλία begeht. Gegen diesen Vorwurf nimmt ihn Hermogenes (inv. 4,12; RhG VI 202 f. Rabe) in Schutz; vgl. Fairweather (1981) 362 Fußn. 52; Costanza (1990) 69 f.; Berti (2007) 208 Fußn. 3. Bei ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται handelt es sich um Spengels (1858) 29 Emendation. Costanza (1990) 60 wendet gegen diese Wiederherstellung ein, dass ὄρους nicht dem überlieferten

1.2 Kommentar

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COPOT entspricht, v. a. weil der Ausfall des -υ- des Genetivs unverständlich sei, und schlägt unter Annahme von Dittographie vor, nur ὄρος ἀποσπᾶται zu lesen. Jedoch ist Spengels Lösung sinnvoll und einfach, wohingegen die Annahme einer Dittographie angesichts der schlechten Überlieferung fragwürdig erscheint. Eine Emendation, die der Überlieferung in höherem Maße als diejenige Spengels entspricht, schlägt Thorsten Burkard vor (mündlicher Hinweis): χώρου ὄρος ἀποσπᾶται. Gegen χώρου spricht jedoch, dass bei Homer ein entsprechender Ausdruck für die Landschaft nicht steht.Vielmehr zeigen der Homerische Prätext, die im Folgenden zitierte Vergilstelle und der zweite Teil von Dorions Metaphrase (insbesondere χειρία), dass es um die Dimension der Bergspitze geht, die in der Wahl des entsprechenden Substantivs und der Attribute zum Ausdruck kommt. Für die weiteren Emendationen s. den Kommentar zum Anfang von § 12, S. 202 f. Mit Blick auf Spengels Emendation ist noch zu erwägen, ob man wie Bursian (1857) 6 und Kiessling (1872) 8 den Genetiv ὄρεος oder wie Müller (1887) 528 und Håkanson (1989) 336 die kontrahierte Form ὄρους liest. Da ὄρους die gewöhnliche Genetivform ist, übernehmen wir Spengels wiederhergestellte Form. Vergilius quid ait? rapit haud partem exiguam montis: Vergil schildert im zehnten Buch der Aeneis, wie der Trojaner Acmon einen riesigen Stein trägt, um damit das Lager der Trojaner gegen die belagernden Rutuler zu verteidigen (Aen. 10,127 f.): fert ingens toto conixus corpore saxum, / haud partem exiguam montis, Lyrnesius Acmon. Vgl. auch die ähnlichen Formulierungen Ov. met. 12,341 f.; 13,882 f.; 14,182– 185. Es lässt sich kaum entscheiden, ob das Prädikat rapit von Seneca d.Ä. hinzugefügt wird, um das Vergilzitat einzuleiten, wie es die Herausgeber seit Kiessling (1872) 8 anzeigen, oder Teil des Zitates ist, wie Bursian (1857) 6 annimmt. Wir sind geneigt, es als Einleitung aufzufassen, auch wenn Seneca d.Ä. sonst nirgends ein Zitat um ein Prädikat ergänzt. Auf der anderen Seite ist die Annahme eines Zitationsfehlers (bei Vergil steht das Prädikat fert) nicht schwierig, da solche Fehler häufiger im Werk des älteren Seneca begegnen. So zitiert Seneca d.Ä. eine Beschreibung des Fuscus zweimal (suas. 3,1 und 4), ändert dabei aber ein Wort (§ 1: occurrente; § 4: occupata), und suas. 2,20 wird der Vers Verg. Aen. 11,288 falsch zitiert, da es bei Vergil apud durae, nicht ad adversae heißt („falsch“ und „Fehler“ sind im Sinne einer Divergenz zwischen Primär- und Sekundärtradition zu verstehen).Vgl. auch die Diskussion über das Vergilische plena deo suas. 3,5 – 7 mit dem Kommentar zur Stelle. ita magnitudini [scedat] studet, 〈ut〉 non imprudenter discedat a fide: Maecenas zufolge vermeidet Vergil den Schwulst, indem er bei der Verwendung der Hyperbel maßvoll vorgeht. Dieser Sachverhalt findet sich auch als Vorschrift formuliert bei Quintilian (inst. 8,6,73): quamvis enim est omnis hyperbole ultra

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fidem, non tamen esse debet ultra modum, nec alia via magis in cacozeliam itur. Man könnte geneigt sein, das Substantiv magnitudo aufgrund des stilkritischen Kontextes auf den Stil zu beziehen (so O. & E. Schönberger [2004] 278). Es ist jedoch zu bedenken, dass es nur wenige und spätere Belege für den Gebrauch von magnitudo im Sinne des erhabenen Stils gibt (z. B. Sen. dial. 11,11,6; vgl. ThLL VIII 120,6 – 9). Daher erscheint es einfacher, einen Bezug auf die Größe des Steines anzunehmen. Textkritisch wurde dieser Satz von Gertz (1879) 147 und Thomas (1880) 9 f. hergestellt: Das vor studet überlieferte scedat ist als partielle Antizipation von discedat aufzufassen und daher zu tilgen, während ut ergänzt werden muss. est inflatum καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος: Zum Prätext dieser Metaphrase s. den Kommentar zum Anfang von § 12, S. 202. Die Insel hat bei Homer nur insofern eine Entsprechung, als Dorion mit νῆσσος abermals den Felsen bezeichnet, der, nachdem er im Meer gelandet ist, die Gestalt einer Insel hat. Es handelt sich also um eine Prolepse. Das Adjektiv inflatus bezeichnet hier, wie Edward (1928) 95 bemerkt, denselben stilistischen Fehler wie tumidus, nämlich Schwulst; vgl. ThLL VII 1,1467,24– 36 und Cic. Brut. 202: [sc. cavendum est oratori] amplo […] inflatum et corruptum orationis genus. Auch an dieser Stelle liegt der Schwulst im Gedanken. Bei χειρία („handlich“) handelt es sich um eine gelungene Emendation von Wilamowitz-Moellendorff (1879) 173, die den geforderten Sinn ergibt. Die Emendation καίρια („tödlich“), die Bursian (1857) 7 und Kiessling (1872) 9 lesen, ist insofern problematisch, als Odysseus und seine Gefährten nicht vom Zyklop getroffen werden. Zudem müsste es καιρία heißen. Costanza (1990) 63 liest das überlieferte KEIPIa als Dativ (κειρίᾳ) und versteht es i.S.v. „Schleuder“. Jedoch ist auch dagegen einzuwenden, dass der Zyklop keine Schleuder benutzt, sondern den Felsen mit der Hand wirft. Vergilius quid ait [qui] de navibus? … credas innare revolsas / Cycladas: Im achten Buch der Aeneis vergleicht Vergil die auf Aeneas’ Schild abgebildeten Schiffe in der Schlacht bei Aktium mit den Kykladen (Verg. Aen. 8,691– 693): pelago credas innare revulsas / Cycladas aut montis concurrere montibus altos, / tanta mole viri turritis puppibus instant. Quintilian zitiert diese Stelle als Beispiel einer Hyperbel (Quint. inst. 8,6,67), jedoch ohne Vergil dafür zu kritisieren, dass sie maßlos ist, wie Costanza (1990) 58 behauptet. Das Partizip revolsus meint, dass die Inseln vom Meeresgrund, nicht – wie man aufgrund des Kontextes bei Seneca d.Ä. glauben könnte – von einem Berg losgerissen erscheinen. Das hinter ait überlieferte qui wird in den älteren Ausgaben zu Recht athetiert, da sonst nirgends im Werk des älteren Seneca hinter quid ait ein relativischer Anschluss mit qui (in dieser Form halten Bursian [1857] 7 und Kiessling [1872] 9 qui) überliefert ist.

1.2 Kommentar

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non dicit hoc fieri, sed videri. propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur, antequam dicitur: Zunächst begründet Seneca d.Ä. bzw. Maecenas, wie Vergil den Schwulst meidet, dann folgt die generelle Regel. Vergil sagt nicht, dass losgerissene Kykladen im Meer treiben, sondern dass man glauben könnte, dass es so ist. Er beugt also dadurch, dass er den generalisierenden Potentialis credas voranstellt, der Gefahr vor, in Schwulst zu verfallen. Bei der allgemeinen Regel, dass das, was entschuldigt wird, bevor es gesagt wird, geneigt aufgenommen wird, handelt es sich um die προδιόρθωσις (vgl. Edward [1928] 95). Die προδιόρθωσις ist eine Form der Correctio (vgl. Lausberg § 786,1), d. h. eine Form, einen Ausdruck oder einen Gedanken zu entschuldigen, um Kritik zu vermeiden. Auf der Ebene des Ausdrucks findet diese Technik v. a. bei Neologismen, Metaphern und Hyperbeln Verwendung (vgl. Quint. inst. 8,3,37; 9,2,16). Auf dieselbe Weise verteidigt Hermogenes Homer gegen den Vorwurf der κακοζηλία (s. den Kommentar zu tumidum est ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται): Homer stellt erst die ungeheure Kraft des Zyklopen dar, so dass der Wurf des Felsmassivs glaubwürdig erscheint. Seit Müller (1887) 528 lesen die Herausgeber mit C.F.W. Müller und Sander im quamvis-Satz den Konjunktiv sit anstelle des überlieferten est. Da quamvis hier „so sehr auch“ bedeutet (vgl. OLD s.v. quamvis 3), übernehmen auch wir die Konjektur sit. 13 Multo corruptiorem sententiam MENESTRATI cuiusdam, declamatoris non abiecti suis temporibus, nactus sum in hac ipsa suasoria, cum describeret beluarum in Oceano nascentium magnitudinem: ***: Menestratus kommt nur an dieser Stelle im Werk des älteren Seneca vor und ist ansonsten unbekannt (vgl. Bornecque [1902b] 180; Echavarren [2007] 185 f.). Seine wahrscheinlich griechische Sentenz ist hinter magnitudinem ausgefallen. Der Komparativ multo corruptiorem bezieht sich auf die allgemeine Meinung, die Seneca d.Ä. in § 12 referiert, dass Dorions Metaphrase die misslungenste Äußerung aller Zeiten war. Bornecque (s.o.) 29, Echavarren (s.o.) und Berti (2007) 35 sehen in dem Verb nancisci ein Indiz dafür, dass Seneca d.Ä. schriftliche Quellen zugrunde lagen. Diese These lässt sich aber kaum halten, da nancisci keine bestimmte Form der Informationsbeschaffung impliziert, sondern ganz allgemein „auf jdn. oder etw. stoßen“ (wie im Griechischen τυγχάνω) bedeutet. Vergleichbare Stellen, an denen das Verb entweder „zufällig hören“ oder „zufällig lesen“ bedeutet, scheint es nicht zu geben. Bei Seneca d.Ä. ist dieses Wort ein Hapax legomenon, und auch sonst wird es nirgends – soweit wir sehen – auf Literatur bezogen. Daher muss offen bleiben, ob Seneca d.Ä. Menestratus’ Sentenz gehört oder gelesen hat (auch O. & E. Schönbergers [2004] 278 Übersetzung mit „hören“ ist zu eindeutig). Für die Meeresungeheuer vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit.

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1 suas. 1

efficit haec sententia, ut ignoscam MVSAE, qui dixit ipsis Charybdi et Scylla maius portentum: Über Musa spricht Seneca d.Ä. ausführlich in der praefatio zum zehnten Buch der Kontroversien (contr. 10 praef. 9 f.). Das Bild, das er dort von ihm zeichnet, passt zu den Äußerungen, die er an dieser Stelle referiert, da er dort dessen Schwulst kritisiert: omnia usque ad ultimum tumorem perducta, ut non extra sanitatem, sed extra naturam essent (ib. 9). Die Metasprache des älteren Seneca ist durch Musas Referenz auf Charybdis in der folgenden Sentenz angeregt, d. h. portentum oszilliert zwischen der eigentlichen Bedeutung „Ungeheuer“ und der übertragenen Bedeutung „Schwulst“; vgl. ib. 10: multa donanda ingeniis puto, sed donanda vitia, non portenta sunt; ThLL X 2,20,75 – 21,3. Bei ignoscam Musae handelt es sich um eine überzeugende Emendation von Müller (1887) 529 anstelle des überlieferten ignoscamus ei, da der Ausfall der vorigen Sentenz wohl darauf zurückzuführen ist, dass Menestratus ein griechischer Deklamator ist, so dass die folgende Sentenz nicht von ihm stammen kann. Die Attribuierung der Sentenz an einen Anonymus durch ei kommt kaum in Frage, da Seneca d.Ä. dies nirgends macht. Folglich wird man von falscher Silbentrennung ausgehen. Der Singular ignoscam ist angemessener als der Plural ignoscamus, da Seneca d.Ä. sonst nicht den Plural der ersten Person anstelle des Singulars verwendet. Charybdis ipsius maris naufragium: Cicero (de orat. 3,163) warnt vor der Verwendung von Charybdis als weit hergeholter Metapher (vgl. Edward [1928] 95): deinde videndum est, ne longe simile sit ductum. […] „Charybdim“ bonorum „voraginem“ potius [sc. dixerim]. Für den Einsatz dieser Metapher vgl. Cic. Phil. 2,67. An dieser Stelle kritisiert Seneca d.Ä. wohl die übertriebene Vorstellung, dass Charybdis den Schiffbruch eines ganzen Meeres und nicht nur denjenigen von vorbeifahrenden Schiffen verursacht. quid ibi potest esse salvi, ubi ipsum mare perit?: Auch hier besteht der Schwulst in der Vorstellung, nicht in den Worten. DAMAS ethicos induxit matrem loquentem, cum describeret assidue prioribus periculis nova supervenisse: ***: Auch Damas’ griechisches Zitat (vgl. contr. 2,6,12; 10,5,21; suas. 2,14; Bornecque [1902b] 164 f.; Echavarren [2007] 123 f.) ist ausgefallen. Der Deklamator wählt die Form der Prosopopoiie, indem er Alexanders Mutter sprechen lässt. Auch Fabianus (§§ 4 und 10) verweist auf Alexanders Mutter, um diesen vor der Durchquerung des Ozeans zu warnen, personifiziert sie jedoch nicht. Das Adverb ethicos bedeutet „in einer Prosopopoiie“. Es findet sich zuerst bei Seneca d.Ä. (vgl. ThLL V 2,923,36 – 41; Sander [1877] 9), und zwar an dieser Stelle und contr. 2,3,23 und 2,4,8. Das Gleiche gilt für das Adjektiv ethicus (vgl. ThLL V 2,922,50 – 923,6; Sander [1877] 6), das an der

1.2 Kommentar

211

berühmten ‘Ovidstelle’ vorkommt (contr. 2,2,12). Für die griechischen Equivalente ἠθικῶς und ἠθικός in dieser Bedeutung lässt sich über den ThLG und das LSJ nur eine Parallele finden (Demetrios, De elocutione 216): [sc. Κτησίας] μάλα ἠθικῶς καὶ ἐναργῶς τόν τε ἄγγελον ἐμφήνας. Für inducere zur Einleitung einer Prosopopoiie vgl. Cic. Lael. 3; ThLL VII 1,1239,67– 1240,37. BARBARVS dixit, cum introduxisset excusantem se exercitum Macedonum, hunc sensum: ***: Barbarus setzt wohl wie Damas eine Prosopopoiie ein. Ob seine griechische Sentenz (vgl. contr. 2,6,13; Bornecque [1902b] 156; Echavarren [2007] 85) ein Teil der Prosopopoiie war oder diese lediglich kommentiert, lässt sich aufgrund des Textausfalls nicht angeben. Für letztere Möglichkeit spricht die Vorzeitigkeit in introduxisset im Vergleich zu dixit. Für die argumentative Verwendung der Soldaten vgl. Cestius’ divisio in § 8: consulendum militi tot victoriis lasso. Das in dieser Verwendungsweise mit inducere synonyme Verb introducere verwendet Seneca d.Ä. sonst nirgends mit Bezug auf eine Prosopopoiie, sondern meist in der Junktur colorem introducere (z. B. contr. 1,1,16; 7,8,10; 9,2,20); für die Einleitung einer Prosopopoiie vgl. ThLL VII 2,68,60 – 82. Das Substantiv sensus ist hier gleichbedeutend mit sententia; in dieser Bedeutung wird das Wort zuerst von Seneca d.Ä. verwendet (z. B. contr. 1,4,11; 1,5,1; suas. 2,12; 7,12), danach von Quintilian (inst. 12,10,46). Thorsten Burkard sieht in excusare einen Terminus technicus in Opposition zur defensio facti (vgl. contr. 9,2,20; Cic. inv. 1,15) und somit einen Bezug zum status qualitatis (mündlicher Hinweis).Wahrscheinlicher scheint jedoch ein untechnischer Gebrauch von excusare in dem Sinne zu sein, dass die Soldaten die Gründe für ihren Widerstand gegen die Fortführung des Feldzuges angeben. 14 FVSCVS ARELLIVS dixit: testor ante orbem tibi tuum deesse quam militem: Fuscus beteuert, dass die Soldaten Alexander nicht im Stich lassen werden. Da dies die einzige Stelle wäre, an der ein Deklamator Alexander zu der Durchquerung des Ozeans rät, ist es wahrscheinlich, dass Fuscus zwar die bedingungslose Gefolgschaft der Soldaten in Aussicht stellt, aber dennoch gegen die Durchquerung argumentiert. Der Grund dafür, dass Seneca d.Ä. diese Sentenz hier referiert, liegt wohl darin, dass Fuscus wie Barbarus zuvor (und Latro im Folgenden) eine Aussage über die Soldaten trifft. Für die Bezeichnung des Erdkreises als Alexanders Erdkreis (orbis tuus) vgl. Argentarius in § 2: resiste, orbis te tuus revocat; Pompeius Silo ib.: idem sunt termini et regni tui et mundi. LATRO †sedens hanc dixit† non excusavit militem, sed dixit: Mit den Worten non excusavit militem wird ein Bezug zu Barbarus’ Sentenz (§ 13) hergestellt. Wie Håkanson ad loc. (gegen Kiessling [1872] 9 und Müller [1887] 529) sind wir der

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1 suas. 1

Meinung, dass das überlieferte sedens hanc dixit keinen Sinn ergibt und daher in Cruces gesetzt werden muss. Allerdings ist sedens für sich genommen insofern nicht ausgeschlossen, als Seneca d.Ä. in der Praefatio zum ersten Buch der Kontroversien von Latros Angewohnheit berichtet, im Sitzen vor der eigentlichen Deklamation die quaestiones vorzustellen (contr. 1 praef. 21): antequam dicere inciperet, sedens quaestiones eius, quam dicturus erat, controversiae proponebat. Das folgende Zitat ist allerdings keine quaestio. Daher müsste man davon ausgehen, dass Seneca d.Ä. hier eine ergänzende Bemerkung macht, in der er darauf hinweist, dass Latro auch zumindest Teile der Deklamation im Sitzen vortrug. Dieser Brauch hat übrigens eine teilweise Entsprechung bei Cicero, der in den Tuskulanen davon berichtet (Tusc. 1,7), dass er die Erörterungen, die in diesem Werk referiert werden und die er als Deklamationen ansieht, teils im Sitzen und teils im Gehen gehalten hat. Hanc wurde von den Übersetzern als Brachylogie anstelle von hanc sententiam aufgefasst (vgl. z. B. Winterbottom [1974] II 502 f.). Zwar kommen Brachylogien des Wortes sententia im Werk des älteren Seneca vor, wenn dieses Substantiv im vorhergehenden Satz genannt ist (vgl. contr. 9,1,12 f.); aber an dieser Stelle wird nicht sententia, sondern das maskuline sensus zuvor benutzt. Für eine Ellipse hingegen des Typs hanc [sc. sententiam] dixit scheinen keine Parallelen vorzuliegen. Ferner ist gegen diese Erklärung einzuwenden, dass im Folgenden nicht eine, sondern mehrere Sentenzen zitiert werden. Daher lohnt sich die Überlegung, suasoriam zu supplieren (mündlicher Hinweis von Thorsten Burkard). Fraglich ist allerdings, ob der Satz Latro sedens hanc suasoriam dixit mitteilungswürdig erscheint. Gegen die meisten anderen vorgeschlagenen Konjekturen ist einzuwenden, dass sie den Text so herstellen, dass von einer Sentenz die Rede ist. Gegen Håkansons (1989) 337 Überlegung, secus hoc zu lesen, spricht die Tatsache, dass secus im Werk des älteren Seneca nirgends vorkommt. Möglich ist auch, dass sedens hanc dixit aus einer Glosse herrührt, in der Latros Eigentümlichkeit kommentiert wurde. Denn Latro wird an dieser Stelle zum ersten Mal in den Suasorien erwähnt. dum sequor, quis mihi promittit hostem, quis terram, quis diem, quis mare?: Wie in den folgenden Sentenzen dominiert formal Latros Streben nach anaphorischen Polykola, in diesem Fall das Tetrakolon (für ein Tetrakolon vgl. contr. 9,2,27). Die Frage nach einem Feind ist als Paradoxon anzusehen. Für die Nacht über dem Ozean vgl. Moschus in § 2: taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit. Håkanson (1989) 337 emendiert wie Otto (1888) 133 das überlieferte sequor zu sequar und begründet seine Entscheidung ad loc. damit, dass dum hier restriktive Bedeutung hat („wenn nur“; vgl. L.-H.-Sz. II, S. 616). Jedoch sehen wir keine Veranlassung zu diesem Eingriff. Zudem wird in dum sequor die prinzipielle Bereitschaft des Soldaten

1.2 Kommentar

213

deutlich, Alexander zu folgen, die Seneca d.Ä. mit den Worten non excusavit militem einleitet. Liest man dum sequar, dürfte Seneca d.Ä. diese Aussage kaum treffen. Gertz’ (1879) 148 Konjektur duc anstelle von dum, die Müller (1887) 529, Bornecque (1902) II 296 und Winterbottom (1974) II 502 übernehmen, ist gleichfalls unnötig. Müller (s.o.), Bornecque (s.o.) und Edward (1928) 6 lesen mit Wehle (1863) 165 aerem statt mare. Der Gedanke ist jedoch, wie Håkanson ad loc. kommentiert, dass auch das Meer begrenzt ist; vgl. Albucius in § 3: nihil infinitum est. […] maria intra terminos suos agitantur. Daher ist mare zu halten. da, ubi castra ponam, ubi signa ponam: Für die Form der Sentenz s. die vorige Anmerkung.Wie Bursian (1857) 7 und Kiessling (1872) 9 halten wir das überlieferte ponam auch hinter signa und lesen nicht wie die Herausgeber seit Müller (1887) 529 signa inferam. Zwar ist signa ponere im militärischen Kontext – soweit wir sehen – nirgends belegt (in einem anderen Kontext vgl. Hor. sat. 2,3,23; Plin. nat. 11,274). Aber man muss nicht davon ausgehen, dass der Deklamator sich militärisch korrekt ausdrückt. Zudem spricht die Form der Sentenz dafür, dass Latro hier nicht nur eine Anapher, sondern auch eine Epipher benutzt. reliqui parentes, reliqui liberos; commeatum peto. numquid immature ab Oceano?: Immature sc. commeatum peto. An dieser Stelle erklärt sich die einleitende Formulierung des älteren Seneca non excusavit militem sed dixit: Der Soldat ist zwar prinzipiell bereit, Alexander sogar auf den Ozean hinaus zu folgen, und protestiert nicht offen, wie es wohl das Heer in Barbarus’ Deklamation (§ 13) tut. Aber indirekt gibt er zu erkennen, dass er eine Fortsetzung des Feldzuges nicht für sinnvoll hält. Den Gedanken, dass die Soldaten Heimweh haben und Urlaub beantragen, drückt kein anderer Deklamator in dieser Suasorie aus. Für commeatum petere („Urlaub beantragen“) vgl. Vell. 2,99,2. 15 – 16 Seneca d.Ä. gibt eine abschließende Zusammenfassung der Leistungen der römischen und der griechischen Deklamatoren. Die römischen Deklamatoren werden danach beurteilt, wie gut ihnen die Beschreibung des Ozeans gelungen ist. Zum Vergleich zitiert Seneca d.Ä. ein episches Fragment des Albinovanus Pedo (§ 15). Ihre Leistungen werden also – ähnlich wie in § 12 – an dichterischen Leistungen gemessen. Die griechischen Deklamatoren werden gattungsspezifisch bewertet, indem Seneca d.Ä. Glykon hervorhebt, der diese Suasorie besonders gut deklamiert habe (§ 16). Innerhalb der Suasoriensammlung ist dies der einzige Vergleich zwischen den römischen und griechischen Deklamatoren. Latini declamatores in descriptione Oceani non nimis viguerunt, nam aut minus descripserunt aut curiose: Das Adverb curiose bedeutet hier „zu de-

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1 suas. 1

tailliert“. Die einzig vergleichbare Stelle, die sich über den Thesaurus ermitteln lässt (vgl. ThLL IV 1495,35 – 38), ist Quint. inst. 8,1,2, wo das Wort i.S.v. „zu gesucht“, „pedantisch“ verwendet wird: multos enim, quibus loquendi ratio non desit, invenias, quos curiose potius loqui dixeris quam Latine. Håkanson (1989) 337 emendiert das überlieferte minus zu tumide. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 10 ergänzen mit Haupt (1876) 412 nimis vor curiose und lesen aut minus descripserunt aut nimis curiose.Wir bewahren wie Bursian (1857) 7 das überlieferte minus, das ein Defizit ausdrückt (vgl.ThLL X 1,580,38 – 57; OLD s.v. minus 2 4a) und hier „zu wenig ausführlich“ bedeutet. nemo illorum potuit tanto spiritu dicere quanto PEDO, qui navigante Germanico dicit: In den Suasorien (und Kontroversien) werden häufiger Äußerungen von Deklamatoren mit denjenigen von Dichtern verglichen oder imitieren Deklamatoren dichterische Passagen; vgl. § 12; suas. 2,12 und 19 f.; 3,4 f.; 4,4 f.; 6,25 – 27. Der Vergleich, den Seneca d.Ä. hier zwischen der Beschreibung des Ozeans durch die Deklamatoren auf der einen und Albinovanus Pedo auf der anderen Seite vornimmt, ähnelt vor allem demjenigen aus der sechsten Suasorie. Dort zitiert Seneca d.Ä. ein Fragment des Cornelius Severus, dem es seiner Meinung nach besser gelungen ist als den Historikern, Ciceros Tod zu beklagen. Beide Dichterzitate sind nämlich nur mittelbar mit der Suasorie verbunden: sie werden referiert, weil in ihnen ein Element, das mit der Suasorie zusammenhängt (hier die Beschreibung des Ozeans, dort die Klage um Ciceros Tod), seinen besten Ausdruck erhält. In der sechsten Suasorie wird der Vergleich auch auf ähnliche Weise eingeleitet (suas. 6,25): nemo tamen ex tot disertissimis viris melius Ciceronis mortem deploravit quam Severus Cornelius. Das Substantiv spiritus setzt den Gedanken fort, der durch das Verb vigere im vorigen Satz ausgedrückt wird, und bedeutet soviel wie „Kraft“ (vgl. OLD s.v. spiritus 7c); für den Bezug auf Literatur im weiteren Sinne vgl. Cic. orat. 130: carent libri spiritu illo, propter quem maiora eadem illa, cum aguntur, quam cum leguntur videri solent. Seit Müller (1887) 529 supplieren die Herausgeber mit Thomas (1880) 21 in vor navigante Germanico. Wir halten diese Ergänzung für unnötig, da der Relativsatz so formuliert ist, dass ihn der Erzähler Albinovanus Pedo spricht. Diese Fiktion wird nebem dem Ablativus absolutus durch das Präsens dicit gestützt, das Håkanson ad loc. als Praesens auctoris bezeichnet.

Das epische Fragment des Albinovanus Pedo Albinovanus Pedo wird auch contr. 2,2,12 genannt. Das vorliegende Fragment (vgl. PLM IV p. 229 – 235 Wernsdorf; FPR p. 351 f. Baehrens; FPL p. 115 f. Morel; p. 147 f.

1.2 Kommentar

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Büchner; p. 287– 289 Blänsdorf; Courtney [1993] 315 – 319 und [2003] 522; Hollis [2007] 372– 381) wird von der communis opinio (vgl. z. B. Berti [2007] 352; Courtney [1993 und 2003] 316; Hollis [2007] 375) einem historischen Epos über Germanicus’ Nordsee-Expedition im Jahr 16 n.Chr. (vgl. Tac. ann. 2,23) zugeordnet, an der der Dichter möglicherweise selbst teilgenommen hat (vgl. Tac. ann. 1,60,2). Quintilian zählt Albinovanus Pedo zu den Epikern, ohne ein Werk von ihm anzugeben oder auf es anzuspielen (vgl. inst. 10,1,90). Ovid nennt ihn sidereus (Pont. 4,16,6) und erwähnt ein Gedicht über Theseus (vgl. Pont. 4,10,71). Martial (1 praef. 4; 2,77,5; 5,5,6) bezeugt, dass Albinovanus Pedo auch Epigramme gedichtet hat. Das vorliegende, textkritisch äußerst umstrittene Fragment ist bereits von Bongi (1949), Tandoi (1964 und 1967), Dahlmann (1975) 128 – 137, Cozzolino (1992), Courtney (1993 und 2003) 315 – 319, Mastandrea (2002) und Hollis (2007) 372– 381 kommentiert bzw. analysiert worden. Es gliedert sich in zwei Teile: Zunächst werden die Gefahren auf dem Ozean am Ende der Welt geschildert (V. 1– 11). Dann spricht nach einer Überleitung (V. 12– 15) ein Mitglied der Besatzung in einer Figurenrede die Ängste der Mannschaft aus (V. 16 – 23). V. 1– 11 Die Interpunktion und die Frage nach dem Prädikat sind in den ersten 11 Versen umstritten. Da sich die erste überlieferte finite Verbform des Hauptsatzes – wenn man von der Parenthese in Vers 8 absieht – in Vers 10 (credunt) findet, hat man an verschiedenen Stellen ein Prädikat postuliert bzw. durch einen textkritischen Eingriff hergestellt, um die Akkusative diem solemque relictum in Vers 1 syntaktisch anzubinden: Wernsdorf (PLM IV p. 229) ist der Meinung, dass ein Prädikat wie viderunt oder dixerunt am Anfang des Fragmentes ausgefallen ist. Haupt (1876) 413 emendiert das am Ende von Vers 1 überlieferte relictum zu relincunt.Withof (vgl. FPR p. 351 f. Baehrens) und Gertz (vgl. Müller [1887] 529) ändern das am Anfang von Vers 2 überlieferte iam quidem (BV) bzw. iam quidam (A) zu iamque vident. Diese textkritische Entscheidung wird von fast allen Herausgebern und Forschern zu Albinovanus Pedo übernommen. Kent (1903) 312 und Benario (1973) 167 wenden aber gegen diese Textkonstitution ein, dass das -que in iamque (V. 2) keine Funktion hat bzw. – sofern man erst hinter Vers 8 stark interpungiert – iamque und nunc (V. 5) auf derselben Zeitebene liegen, indem sie sich auf das Ansteigen des Meeres (V. 7) beziehen. Daher lesen sie die Konjektur iamque vident am Anfang von Vers 1 und mit den Recentiores iam pridem am Anfang von Vers 2. Die mit der Konjektur iamque vident (V. 2) (und ähnlichen Konjekturen; s. den Apparat) verbundene Problematik liegt allerdings eher darin, dass das -que verhindert, dass das Prädikat vident die Akkusative diem solemque relictum in Vers 1 regiert. Dieser Schwierigkeit müsste man dadurch begegnen, dass man entweder Haupts Konjektur relincunt übernimmt oder relicti herstellt (s. den Kommentar zu V. 1).

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1 suas. 1

Wir halten in dieser kaum zu entscheidenden Problematik Wernsdorfs (s.o.) Hypothese für die einfachste. Denn ein fehlender syntaktischer Anschluss eines Fragmentes lässt sich auch suas. 2,12 beobachten, wo Seneca d.Ä. Cornelius Severus zitiert (s. den Kommentar zur Stelle): stratique per herbam / ‘hic meus est’ dixisse ‘dies’; vgl. ferner Quint. inst. 1,5,17 f.: plus exigunt subtilitatis quae accidunt in dicendo vitia […] ut divisio […] et ei contrarium vitium, quod συναίρεσιν et ἐπισυναλοιφήν Graeci vocant, nos complexionem dicimus, qualis est apud P. Varronem: „tum te flagranti deiectum fulmine Phaethon“ (vgl. FPL p. 235 Blänsdorf); Macr. sat. 6,5,13 ad Verg. Aen. 8,293: „tu nubigenas, invicte, bimembres [sc. mactas]“; Georgius Valla ad Iuv. 4,94: Acilius Glabrionis filius consul sub Domitiano fuit, Papinii Statii carmine de bello Germanico […] probatus: „lumina: Nestorei mitis prudentia Crispi / et Fabius Veiento – potentem signat utrumque / purpura, ter memores implerunt nomine fastos – / et prope Caesareae confinis Acilius aulae“ (vgl. FPL p. 330 Blänsdorf). Daher gehen wir davon aus, dass das Prädikat, das die Akkusative diem solemque relictum in Vers 1 regiert, im ursprünglichen Gedicht unmittelbar zuvor gestanden hat und von Seneca d.Ä. nicht exzerpiert wurde. Aufgrund von credunt (V. 10) lässt sich vermuten, dass das Verb im Präsens gestanden hat (vielleicht vident). Sollte die These eines nicht exzerpierten Prädikats zu gewagt erscheinen, sollte eine Form wie vident vor Vers 1 ergänzt werden. Der Satz von Vers 5 bis Vers 11 wird vom Verb credunt (V. 10) regiert. Courtney (1993 und 2003) 315 und 317 macht von Withofs Konjektur iamque vident in Vers 2 die Konstruktion in den Versen 7– 9 abhängig. Wir sehen allerdings nicht, warum credunt (V. 10) – wie Courtney meint – ein „totally unsuitable verb“ sein soll, um die Infinitive in den Versen 7– 9 zu regieren. V. 1 iam pridem post terga diem solemque relictum: Vgl. Claud. carm. 5,245: mundum post terga relinquam. Für die Vorstellung, dass die Sonne auf dem Ozean nicht mehr scheint, vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: satis sit hactenus Alexandro vicisse, qua mundo lucere satis est; Moschus in § 2: tempus est Alexandrum cum orbe et cum sole desinere. […] taetra caligo fluctus premit, et nescio qui, quod humanis natura subduxit oculis, aeterna nox obruit. Zur Syntax und Textkritik s. im Wesentlichen die vorige Anmerkung. Eine neue Möglichkeit, die Rektion der Akkusative diem und solem zu erklären, schlägt Thorsten Burkard vor (mündlicher Hinweis), indem er relictum zu relicti emendiert. Für den Akkusativ der Beziehung vgl. L.-H.-Sz. II, S. 36 f. und Hor. sat. 1,6,74: suspensi loculos. V. 2 iam pridem notis extorres finibus orbis: Für die Vorstellung vom Ende der (bekannten) Welt vgl. mit dem Kommentar jeweils zur Stelle Albucius in § 3: terrae quoque suum finem habent et ipsius mundi aliquis occasus est. […] non magis quicquam ultra Alexandrum novimus quam ultra Oceanum; Marullus ib.: orbem,

1.2 Kommentar

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quem non novi, quaero, quem vici, relinquo?; Artemon in § 11. Zur Textkritik s. im Wesentlichen den Kommentar zu V. 1– 11. Am Anfang des Verses lesen wir mit den jüngeren Handschriften iam pridem, da dies eine leichte Verbesserung des unmetrischen iam quidem (BV) und des sinnlosen iam quidam (A) darstellt. Håkanson (1989) 337 übernimmt Baehrens’ (FPR p. 351) Konjektur noti se anstelle des überlieferten natis (α) bzw. notis (Recentiores). Bursian (1857) 7 ergänzt se hinter notis. Wir halten beide Eingriffe für überflüssig und lesen notis, das sich grammatikalisch auf finibus, inhaltlich aber auf orbis bezieht (Enallage). Extorres fassen wir (wie audaces im nächsten Vers) prädikativ zum im Verb vident enthaltenen Subjekt (die Matrosen) auf (für vident s. den Kommentar zu V. 1– 11). V. 3 per non concessas audaces ire tenebras: Dieser Vers hängt inhaltlich, vielleicht auch sprachlich, von Hor. carm. 1,3,21– 26, v. a. 25 f. ab: audax omnia perpeti / gens humana ruit per vetitum nefas. Inhaltlich besteht insofern eine Abhängigkeit, als hier wie dort das Befahren des Ozeans als Verbrechen bezeichnet wird.Vgl. für diesen Gedanken auch Fabianus in § 4 mit dem Kommentar zur Stelle: sacrum quidem terris natura circumfudit Oceanum. Für die Finsternis vgl.V. 1 mit dem Kommentar zur Stelle. Sprachlich ist die Abhängigkeit von Horaz nicht zwingend, aber möglich, da der Infinitiv wohl auch bei Albinovanus Pedo von audax regiert wird. Dies ist auch die Meinung von Courtney (1993 und 2003) 317, Hollis (2007) 376 und Håkanson ad loc., der auf Sen. Herc.f. 548 verweist: audax ire vias inremeabiles. Vgl. auch Prop. 4,5,13. V. 4 Hesperii metas extremaque litora mundi: Für den Gedanken vgl. V. 2 mit dem Kommentar zur Stelle. Die Akkusative metas und litora verstehen wir als Richtungsakkusative in Abhängigkeit von ire; vgl. Verg. ecl. 1,64 – 66: at nos hinc alii sitientis ibimus Afros, / pars Scythiam et rapidum cretae veniemus Oaxen / et penitus toto divisos orbe Britannos. Daher ist Schultings Ergänzung von ad hinter Hesperii unnötig (vgl. Wernsdorf [PLM IV p. 230]). Bis auf Wernsdorf (s.o.), Baehrens (FPR p. 351) und Håkanson (1989) 337 übernehmen alle Herausgeber Haupts (1876) 413 Konjektur ad rerum anstelle des in V überlieferten Hesperii. Jedoch ergibt Hesperii einen guten Sinn (und ein bemerkenswertes Hyperbaton Hesperii […] mundi), da die Vorstellung ist, dass die Mannschaft die Grenzen der westlichen Welt überschreitet. Außerdem ist die Verschreibung von esperii zu asperum leicht verständlich, wie Håkanson ad loc. bemerkt. Für den Ausdruck verweist er auf Ov. met. 2,142: Hesperio positas in litore metas. Vgl. auch Lucan. 3,359: quamvis Hesperium mundi properemus ad axem. Man mag zwar gegen Hesperii einwenden, dass die Mannschaft nicht die Grenzen der westlichen, sondern der nördlichen Welt überschreitet, aber da der Kurs von Germanicus’

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1 suas. 1

Flotte auf der Ems in Nord-West-Richtung verlief, dürfte der Einwand nicht schwer wiegen. V. 5 nunc illum, pigris immania monstra sub undis: Das Prädikat des Satzes, der hier beginnt, ist credunt in Vers 10. Für die pigrae undae vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: stat immotum mare et quasi deficientis in suo fine naturae pigra moles. Für die Meeresungeheuer vgl. die folgende Anmerkung. Pithous Konjektur hunc anstelle von nunc, die Courtney (1993 und 2003) 315 und 317 und Hollis (2007) 372 übernehmen, ist ebenso unnötig wie diejenige von Gertz, der unum vorschlägt (vgl. Müller [1887] 529). Nunc korreliert mit iam in Vers 8. Zwar scheinen für diese Korrelation keine Parallelen vorhanden zu sein, aber sie lässt sich als Vermischung von nunc […] nunc und iam […] iam erklären. Zudem gibt es ähnliche Variationen wie z. B. modo […] nunc (Ov. met. 8,290); vgl. L.-H.-Sz. II, S. 521. V. 5 – 7 immania monstra … aequoreosque canes: Für die Ungeheuer, die sich im Ozean tummeln, vgl. § 1: novae ac terribiles figurae, magna etiam Oceano portenta, quae profunda ista vastitas nutrit; Musa in § 2: foeda beluarum magnitudo; Fabianus in § 4: immanes propone beluas. Bei den aequorei canes liegt wohl die Vorstellung von Skylla zugrunde, wie die Parallelen deutlich machen, die Dahlmann (1975) 133 anführt: Verg. ecl. 6,77: [sc. fama est Scyllam] timidos nautas canibus lacerasse marinis; Ciris 61: [sc. legimus Scyllam] deprensos nautas canibus lacerasse marinis. Courtney (1993 und 2003) 318 sieht in den canes Haifische. Diese Bedeutung ist für canis marinus bzw. aequoreus aber angesichts weniger aussagekräftiger Belege nicht gesichert (vgl. ThLL III 257,32– 43). V. 7– 9 consurgere … sidere: Für die Gefahr, die mit den Gezeiten verbunden ist, vgl. Moschus in § 2: litora modo saeviente fluctu inquieta, modo fugiente deserta. Das Gegenspiel vom ansteigenden und sinkenden Meer kommt auch bei Vergil (Aen. 1,106 f.) vor. Dort ist aber ein Seesturm die Ursache. Das Verb sidere ist Terminus technicus für das Auflaufen eines Schiffes (vgl. OLD s.v. sido 2); vgl. Prop. 2,14,29 f.: nunc a te, mea lux, veniet mea litore navis / servato, an mediis sidat onusta vadis. Für das Auflaufen im Schlamm vgl. Ov. fast. 4,300: sedit limoso pressa carina vado. V. 8 accumulat fragor ipse metus: Mit Gertz (1879) 148 halten wir diesen kurzen Satz für eine Parenthese, die auch syntaktisch die Beschreibung der Gefahren des Ozeans kurz unterbricht. Für das Brausen des Meeres vgl. Fabianus in § 4: aspice, quibus procellis fluctibusque saeviat, quas ad litora undas agat. tantus ventorum

1.2 Kommentar

219

concursus, tanta convulsi funditus maris insania est. Für das Wort fragor in diesem Kontext vgl. Verg. Aen. 1,154. V. 10 – 11 seque feris credunt per inertia fata marinis / tam non felici laniandos sorte relinqui: Zwar nennen auch die Deklamatoren die Gefahren, die die Meeresungeheuer darstellen, aber sie malen die Gefahr nicht so drastisch aus wie Albinovanus Pedo. Mit per inertia fata ist, wie Bongi (1949) 35 f. und Hollis (2007) 378 angeben, gemeint, dass die Mannschaft dem Tod durch Meeresungeheuer ausgeliefert ist, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Das Adjektiv iners wird also kausativ verwendet („Passivität verursachend“, „in Lethargie versetzend“). Vgl. Sen. Ag. 518 (ebenfalls mit Bezug auf einen Tod auf See): ignava fortes fata consument viros?; Ov. met. 7,544: [sc. equus] gemit leto moriturus inerti. Alle modernen Herausgeber außer Bursian (1857) 8 und Kiessling (1872) 10 lesen mit Schott iam (oder mit Heinsius quam) anstelle von tam. Die Überlieferung ist jedoch unproblematisch. Für non felix i.S.v. infelix vgl. Verg. Aen. 11,196: [sc. coniciunt] ipsorum clipeos et non felicia tela. Für tam non mit Adjektiv vgl. Mart. 4,64,27: tam non invidus. V. 12 – 23 Auch die folgende Prosopopoiie hat eine Parallele bei den Deklamatoren, da diese ebenfalls Reden einführen, die – soweit wir dies erkennen können – auch durch die Gefahren, die mit der Durchquerung des Ozeans verbunden sind, motiviert sind. Die Deklamatoren thematisieren jedoch eine mögliche, d. h. zukünftige Gefahr.Vgl. Damas und Barbarus in § 13 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. V. 12 – 15 atque aliquis prora caecum sublimis ab alta / aera pugnaci luctatus rumpere visu, / ut nihil erepto valuit dinoscere mundo, / obstructo talis effundit pectore voces: Für die Finsternis vgl.V. 1 mit dem Kommentar zur Stelle. Zum in erepto […] mundo ausgedrückten Gedanken vgl. Verg. Aen. 1,88 f.: eripiunt subito nubes caelumque diemque / Teucrorum ex oculis. Statt des sinnlosen cedunt (V. 12) ist Haases und Haupts Konjektur caecum (vgl. Müller [1887] 530) zu übernehmen; für caecus aer vgl. Sen. nat. 3,16,5. In V. 15 lesen die bisherigen Herausgeber anstelle von obstructum („verstopft“) entweder mit Bursian (1857) 8 obstructa in […] pectora oder das in der jüngeren Handschrift D überlieferte obstructo. Oudendorps Konjektur adstricto, die Wernsdorf (PLM IV p. 233) referiert, erweist sich als unnötig. Gegen Bursian ist einzuwenden, dass nichts dazu zwingt, die verstopften Atemwege bei den Adressaten und nicht beim Sprecher zu sehen. Möglicherweise hat sich Bursian von dem Gedanken leiten lassen, dass die Atemwege des Sprechers nicht verstopft sein können, da der Matrose noch sprechen kann, wie im Folgenden deutlich wird. Aber der in obstruere ausgedrückte Gedanke lässt sich problemlos als Beschwernis verstehen und muss nicht als

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1 suas. 1

vollständige Blockierung der Atemwege interpretiert werden; vgl. Plin. epist. 6,16,19 (Plinius d.Ä. beim Vesuvausbruch): crassiore caligine spiritu obstructo; nat. 35,102. Bongi (1949) 36 bemerkt zu Recht, dass mit obstructum pectus „il cuore oppresso dall’ angoscia“ gemeint ist, d. h. obstructus bedeutet soviel wie oppressus. Für die Formel pectore effundere voces vgl. Verg. Aen. 5,482: talis effundit pectore voces. V. 16 – 17 fugit ipse dies orbemque relictum / ultima perpetuis claudit natura tenebris: Für den Gedanken, die bekannte Welt zu verlassen, vgl. V. 2 mit dem Kommentar zur Stelle. Für die Finsternis auf dem Ozean vgl. V. 3 und V. 1 mit dem Kommentar zur Stelle. Fugit ist eine einfache Verbesserung anstelle des überlieferten rugit; für dies fugit vgl. Verg. georg. 3,66 f. V. 18 – 19 anne alio positas ultra sub cardine gentes / atque alium †liberis† intactum quaerimus orbem?: Für den Gedanken, eine neue Welt zu betreten,vgl. V. 2, 4 und 16 f. mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. Die in V. 19 überlieferten Lesarten liberis (AB) bzw. libris (V) stellen ein textkritisches Problem dar, das Traina aufgrund der vielfältigen Emendationsvorschläge als die „berühmteste crux der lateinischen Literatur“ bezeichnet hat (vgl. Vitale [2002] 49). Liberis ist schon aus metrischen Gründen nicht haltbar. Libris ergibt keinen rechten Sinn (liber wird zwar i.S.v. „Bast“, aber nicht metonymisch i.S.v. „Schiff“ verwendet; vgl. ThLL VII 1271,53 – 1272,28). Für eine Übersicht über die unterbreiteten Emendationen vgl. Pianezzola (1984) 194– 196, der 24 Konjekturen aufzählt, und Vitale (2002) 50. Die meisten Herausgeber lesen entweder mit Haupt (1876) 414 flabris oder mit Meyer (1835; vgl. Pianezzola [s.o.] 195 und Vitale [s.o.] 50) und Tandoi (1964) 150 bellis. Für bellis intactum lassen sich zwar Parallelen anführen (Sall. hist. 4,69,15; Liv. 3,26,2; Tac. hist. 3,34,1). Aber der Gedanke, dass die unbekannte Welt von Kriegen bisher verschont wurde, ist durch den Kontext nicht motiviert. Flabris hat zwar in V. 9 einen Rückhalt, aber intactum flabris (aut sim.) ist erst bei Eugenius (Hexaemeron 1,479) belegt und scheint eine merkwürdige Formulierung für den Gedanken zu sein, dass in der unbekannten Welt kein Wind weht. Eine gute Lösung scheint nautis zu sein (mündlicher Hinweis von Thorsten Burkard), das vielleicht zu natis verschrieben und mit liberis glossiert wurde. Zum textkritischen Problem vgl. ferner Marchetta (1998), Soubiran (1988) und Büchner (1978). V. 20 – 23 di revocant rerumque vetant cognoscere finem / mortales oculos. aliena quid aequora remis / et sacras violamus aquas divumque quietas / turbamus sedes?: Für das Durchqueren des Ozeans als Freveltat gegen die Götter vgl.V. 3 mit dem Kommentar zur Stelle. Eine ähnliche Vorstellung referiert Tacitus mit Bezug auf die Fahrt des Drusus (Germ. 34,2): nec defuit audentia Druso Ger-

1.2 Kommentar

221

manico, sed obstitit Oceanus in se […] inquiri. mox nemo temptavit, sanctiusque ac reverentius visum de actis deorum credere quam scire. Die Vorstellung von dem ruhigen Wohnsitz der Götter wird von den Epikureern vertreten; vgl. Lucr. 3,18; Cic. nat. deor. 1,33 und 52. Allerdings leben die Götter der epikureischen Philosophie zufolge in Intermundien. Der Gedanke, dass die Götter am Ende des Ozeans wohnen, scheint sonst nicht vorzukommen. 16 Ex Graecis declamatoribus nulli melius haec suasoria processit quam GLYCONI, sed non minus multa corrupte dixit quam magnifice: Nach dem kritischen Referat über die Leistungen der römischen Deklamatoren (§ 15) folgt dasjenige über die griechischen Deklamatoren. In der Kontroversiensammlung werden die Äußerungen der griechischen Deklamatoren häufiger am Ende der Kontroversienzusammenfassung zitiert (vgl. z. B. contr. 1,6,12); in der Suasoriensammlung ist dies der einzige Fall. Das Gesamturteil über die griechischen Deklamatoren an dieser Stelle ist negativ, da Glykons Deklamation, die Stärken und Schwächen aufweist, als die beste bezeichnet wird. Das Urteil, das Seneca d.Ä. über Glykons Leistung in dieser Suasorie ausspricht, stimmt mit den anderen Aussagen über ihn überein, da Seneca d.Ä. ihn bald lobt (contr. 1,7,18), bald aber auch kritisiert (contr. 1,6,12); vgl. Bornecque (1902b) 169; Echavarren (2007) 143 f. Procedere bedeutet hier „gelingen“ (vgl. OLD s.v. procedo 13b). Magnifice wird auch von Cicero (Brut. 254; orat. 119) und Quintilian (inst. 4,2,62; 8,3,40) in diesem stilkritischen Sinne verwendet (vgl. Bardon [1940] 41). Für corrupte vgl. § 12 mit dem Kommentar zur Stelle. Thomas (1880) 14 (so auch Bornecque [1902] II 298 und Shackleton Bailey [1993] 51) nimmt Anstoß an der ‘unlogischen’ Struktur des überlieferten Satzes und vertauscht magnifice und corrupte. In der Tat ist es unerklärlich, warum die Aussage, dass Glykon mindestens genauso viel hervorragend (magnifice) wie fehlerhaft (corrupte) gesprochen hat, mit sed dem Lob entgegengestellt wird, dass er von allen Griechen am besten deklamiert hat. Zwar verweist Håkanson ad loc. wie Müller (1887) 530 auf Gertz (1874) 62 f., der Stellen bei Seneca d.J. sammelt, an denen in seinen Augen non minus quam ‘unlogisch’ verwendet wird. Doch an jenen Stellen (dial. 9,8,3; nat. 2,11,2; 3,29,3; epist. 18,15; 101,3) besteht kein Widerspruch zwischen einem Teilsatz, der die Verknüpfung non minus quam enthält, und einem vorangehenden Teilsatz; vgl. z. B. dial. 9,8,3: ait non minus molestum esse calvis quam comatis pilos velli; epist. 101,3: hic homo summae frugalitatis, non minus patrimonii quam corporis diligens. utrorumque faciam vobis potestatem: Seneca d.Ä. spricht wie in den Praefationes zu den Kontroversienbüchern seine Söhne an und legt Rechenschaft über die von ihm bei der Wiedergabe der Exzerpte verwendete Methode ab. Das pädagogische Konzept, das hinter dieser Methode steht, erläutert Seneca d.Ä.

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1 suas. 1

contr. 9,2,27: omnia autem genera corruptarum quoque sententiarum de industria pono, quia facilius et quid imitandum et quid vitandum sit docemur exemplo. Dieselbe Vorgehensweise verteidigt auch Quintilian (inst. 2,5,10): ne id quidem inutile, etiam corruptas aliquando et vitiosas orationes, quas tamen plerique iudiciorum pravitate mirentur, legi palam, ostendique in his quam multa inpropria obscura tumida humilia sordida lasciva effeminata sint. Bei utrorumque handelt es sich um eine leichte, aber notwendige Verbesserung. et volebam vos experiri non adiciendo iudicium meum nec separando a corruptis sana. potuisset etenim fieri, ut vos magis illa laudaretis, quae insaniunt. et nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim: In dieser Passage begründet Seneca d.Ä., warum er sich gegen seine eigene Überlegung entschieden hat, die Äußerungen des Glykon bzw. der Deklamatoren insgesamt unkommentiert wiederzugeben, d. h. warum er deren Äußerungen häufig kommentiert. Der Gedankengang ist folgender: Seneca d.Ä. hatte ursprünglich vor, nicht zwischen guten und schlechten Leistungen der Deklamatoren zu unterscheiden und das Urteil seinen Söhnen zu überlassen. Er hat sich jedoch anders entschieden. Der Grund für den Sinneswandel ist die Möglichkeit, dass seine Söhne eher das loben könnten, was fehlerhaft ist, d. h. der Vorbehalt, den Seneca d.Ä. hinsichtlich ihres Urteilsvermögens hat. Abschließend weist er darauf hin, dass er sich dessen bewusst ist, dass es auch trotz seiner Unterscheidung zwischen guten und schlechten Äußerungen der Deklamatoren zu einem abweichenden Urteil seiner Söhne kommen könnte. Für corruptus, sanus und insanire vgl. § 12 mit dem Kommentar zur Stelle. volebam: Für volebam i.S.v. „ich wollte etwas tun, habe es aber unterlassen“ vgl. Sen. benef. 4,24,2: volebam gratiam referre, sed timeo impensam, timeo periculum, vereor offensam; faciam potius, quod expedit [sc. neque gratiam referam] und OLD s.v. volo 4b. potuisset etenim fieri, ut vos magis illa laudaretis, quae insaniunt: Dieser Satz begründet, warum Seneca d.Ä. seine Idee verworfen hat, die Äußerungen der Deklamatoren nicht zu kommentieren. Für den seltenen Gebrauch von insanire nicht mit Bezug auf Deklamatoren, sondern auf res humanae vgl. ThLL VII 1,1830,79 – 81 und Cic. Tusc. 4,50: fortitudo, nisi insanire coepit. Das et vor enim wird im Anschluss an Kiessling (1872) 11 und Madvig (vgl. Müller [1887] 531) von den meisten Herausgebern getilgt.Wir halten es wie Bursian (1857) 8. Zwar steht etenim zumeist an erster Stelle; vgl. aber Sen. epist. 95,49: laedere etenim laedique coniunctum est.

1.2 Kommentar

223

et nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim: Das einleitende et wird unnötigerweise von Schenkl zu at und von Gertz zu sed emendiert (vgl. Müller [1887] 531). Denn zum einen besteht kein Grund, an dem leicht adversativen et Anstoß zu nehmen; vgl. Thomas (1900) 193, der auf contr. 10,4,12 verweist: si domum meam diruo, numquid dicis me rem publicam laedere? et poteras describere, quam inhumanum sit […]. Zum anderen darf die adversative Partikel auch nicht zu stark sein, da die Entscheidung des älteren Seneca, die Äußerungen der Deklamatoren zu kommentieren, sonst unvernünftig erscheinen würde. Die Häufung von et hat auch suas. 6,16 unnötigerweise zu Konjekturen geführt; vgl. mit dem Kommentar zur Stelle: nolo autem vos, iuvenes mei, contristari, quod a declamatoribus ad historicos transeo. satisfaciam vobis, et fortasse efficiam, ut his sententiis lectis solidis et verum habentibus recedatis. et quia hoc propositum recta via consequi non potero, decipere vos cogar, velut salutarem daturus pueris potionem, summa parte poculi. illa belle dixit: ***: Wie in den §§ 12 und 13 sind auch hier die griechischen Sentenzen ausgefallen. Die an dieser Stelle referierte Sentenz gehört zu derjenigen Gruppe von Äußerungen, die Seneca d.Ä. weiter oben mit dem Adverb magnifice umschreibt. sed fecit, quod solebat, ut sententiam adiectione supervacua atque tumida perderet; adiecit enim: ***: Die Sentenz, die hier ursprünglich gestanden hat, gehört zu der Gruppe von Glykons Äußerungen, für die Seneca d.Ä. weiter oben das Adverb corrupte verwendet.Wie schon in § 12 erscheint daher der Schwulst als eine Form der fehlerhaften Äußerungen (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Denselben Vorwurf, den Seneca d.Ä. hier macht, muss sich auch Murredius contr. 9,2,27 für sein Tetrakolon gefallen lassen: serviebat forum cubiculo, praetor meretrici, carcer convivio, dies nocti. novissima pars sine sensu dicta est, ut impleretur [sc. tetracolon]; quem enim sensum habet ‘serviebat dies nocti’? illud quosdam dubios iudicii sui habet; ego non dubito contra sententiam ferre: ὑγίαινε, γῆ, ὑγίαινε, ἥλιε· Μακεδόνες ἄρα χάος εἰσᾴσσουσι: Für den Gedanken des Deklamators vgl. Fabianus in § 4 mit dem Kommentar zur Stelle: rudis et imperfecta natura penitus recessit. Das Urteil des älteren Seneca ist insofern nicht eindeutig, als contra sowohl contra quosdam als auch contra illud dictum Glyconis bedeuten kann, d. h.: Es kann gemeint sein, dass einige an Glykons Äußerung zweifeln, Seneca d.Ä. sich aber gegen die Zweifler stellt und somit für Glykon eintritt. Contra kann aber auch bedeuten, dass Seneca d.Ä. die folgende Äußerung Glykons ohne Zweifel für ‘korrupt’ hält. Wahrscheinlich ist Letzteres gemeint (so versteht auch Bornecque [1902] II 298 die Stelle), d. h. Seneca d.Ä.

224

1 suas. 1

kritisiert die übertriebene Vorstellung vom Chaos am Ende der Welt. Für den Genetiv iudicii sui in Abhängigkeit von dubius vgl. Liv. 33,25,5: dubios sententiae patres fecerat;Verg. Aen. 3,289: animi dubius; Ov. fast. 6,572: [sc. causa] dubium me […] mentis habet.

2 suas. 2 2.1 Einleitung Die historische Situation Auch das Thema der zweiten Suasorie entstammt der griechischen Geschichte. Anlass zum Deklamieren bietet die Schlacht bei den Thermopylen (480 v.Chr.), in der der hellenische Bund unter Führung der Spartaner den Truppen des Xerxes unterlag.³⁰ Um den Vormarsch der von Norden eindringenden Perser zu stoppen, beschlossen die Griechen, sich ihnen bei den Thermopylen entgegenzustellen und zugleich ihre Flotte im nahe gelegenen Artemision aufzubieten. Da die Schlacht bei den Thermopylen in die Zeit religiöser Feste fiel, begnügte sich Sparta ebenso wie die übrigen Bundesgenossen damit, nur eine Vorhut gegen die Perser zu stellen. Nach Beendigung der Festlichkeiten sollte das vollständige Aufgebot gegen die Perser in die Schlacht geschickt werden, wozu es jedoch aufgrund des schnellen Schlachtverlaufes nicht mehr kam. Das Kommando über die hellenischen Truppen führte der Spartaner Leonidas, der dreihundert spartanische Hopliten und unterschiedlich große Kontingente aus dem übrigen Griechenland befehligte (s. Thema mit dem Kommentar zur Stelle). Die Debatte, die in dieser Suasorie nachgespielt wird, hat eine ungefähre Entsprechung bei Herodot. Denn der griechische Historiker berichtet, dass es eine Debatte unter den Griechen bei den Thermopylen gegeben habe, die dadurch veranlasst war, dass den Persern ein Fußpfad verraten wurde, der durch das Gebirge führte und ihnen die Möglichkeit bot, die Griechen zu umzingeln.Von der in dieser Situation erfolgten Beratung der Griechen berichtet Herodot zwei Versionen.³¹ Der einen zufolge seien sich die Griechen nicht einig geworden und ein Teil von ihnen kehrte heim, während der Rest sich entschloss, zu kämpfen. Der anderen zufolge – und diese Version hält Herodot für die richtige – habe Leonidas die restlichen Truppen, d. h. alle Kontingente außer dem seinigen, demjenigen der Thebaner und der Thespiaier, nach Hause geschickt, um sie vor dem Tode zu bewahren. Herodots Darstellung scheint jedoch kaum einen Einfluss auf das Thema dieser Suasorie und auf die Äußerungen der Deklamatoren ausgeübt zu haben.³²

30 Vgl. Herodot 7,175 – 233; Diodor 11,5 – 11; Val. Max. 3,2 ext. 3; Lombardo (2005). 31 Herodot 7,219 – 222. 32 Vgl. Migliario (2007) 96: „risulta evidente che la versione erodotea della vicenda non interessava ai declamatori“. Anders Bonner (1977) 286: „where students collected their material for

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2 suas. 2

Zumindest lässt sich keine Spur vom Wegschicken der restlichen Truppen (Version 2) finden. Auch entspricht es nicht der Darstellung Herodots, dass sich nur die Spartaner nach der Flucht der anderen Kontingente den Persern gestellt haben bzw. ebendies erwogen haben.

2.2 Kommentar Thema Trecenti Lacones contra Xersen missi, cum treceni ex omni Graecia missi fugissent, deliberant, an et ipsi fugiant: Die Deklamatoren halten sich nur vage an die Überlieferung, da zwar das Truppenaufgebot der Spartaner dreihundert Mann stark war, diejenigen der Bundesgenossen aber stark variierten, nämlich von 80 bis 1000 (vgl. Herodot 7,202 f.). Treceni (mit Bezug auf die ex omni Graecia missi) ist eine frühe Konjektur anstelle des überlieferten trecenti, die von allen modernen Herausgebern gelesen wird. Sie ist notwendig, weil in dieser Suasorie sonst immer von treceni [sc. ex omni Graecia missi] die Rede ist (nur in § 4 ist eine Form von trecenti überliefert, ohne dass sie dort einen Sinn ergibt). Für das Phänomen, dass historische Sachverhalte in den Deklamationen zugespitzt werden, vgl. Bursians (1857) 9 Bemerkung cum per totam suasoriam (excepta p. 11,14 [sc. § 4]) semper de trecenis sermo fiat […] rhetor finxisse statuendus est e singulis Graeciae urbibus quotquot viribus pollebant trecenos milites Spartanis auxilio missos fuisse, quod non magis contra historiae fidem peccat quam quae de Cimone, Phidia, Parrhasio, Popillio, aliis referuntur. Die Verschreibung von treceni zu trecenti ist wahrscheinlich durch das vorausgehende trecenti (Perseveration) verursacht. Für an in der einfachen indirekten Frage s. den Kommentar zum Thema der ersten Suasorie.

Erster Teil (1 – 9) Der erste Teil dieser Suasorie unterteilt sich in einen längeren Part, in dem diejenigen Deklamatoren zitiert werden, die sich für ein Verharren der Spartaner aussprechen (1– 8), und einen kürzeren, in dem diejenigen Deklamatoren zitiert werden, die zur Flucht raten (9).

Greek themes is much less certain; for the Persian Wars, one might expect that they would have consulted Herodotus“.

2.2 Kommentar

227

1– 2 ARELLI FVSCI patris: Wie wir in § 10 erfahren, ist der folgende Auszug aus Fuscus’ Deklamation der Grund dafür, dass Seneca d.Ä. diese Suasorie in seine Sammlung aufgenommen hat. Fuscus richtet zunächst (1) ironische Bemerkungen an die Spartaner und appelliert an deren Ehre (er argumentiert also mit der Kategorie des honestum). Dann (2) weist er das Gegenargument zurück, dass die persische Streitmacht zu stark ist, indem er auf den sicheren Ort verweist, an dem sich die Spartaner befinden, und als Gegenstück die Gefahren beschreibt, die die Küste für die Schiffe der Perser birgt (utile). In § 2 geht er auf (3) die Verachtung des Todes und (4) den Ruhm ein, den man sich durch einen heldenhaften Tod erwirbt (honestum). 1 At, puto, rudis lecta aetas, animus qui frangeretur metu insueto, armaque non passurae manus, hebetataque senio aut vulneribus corpora: Lecta sc. est. Der Deklamator verwendet Ironie im Umgang mit seinen Soldaten, indem er behauptet, dass sie entweder zu unerfahren im Krieg oder zu alt sind. Der Konjunktiv Imperfekt in frangeretur lässt sich auf zwei Weisen erklären, indem man entweder einen Irrealis annimmt (in diese Richtung geht Winterbottom [1974] II 507: „spirits liable to be shattered by fear“) oder ihn als von animus [sc. lectus est] abhängig erklärt (vgl. O. & E. Schönberger [2004] 280: „[sc. Krieger,] die der Furcht erliegen“). Da die Gefahr der Fiktion nach real ist und der Deklamator den Soldaten Angst unterstellt, ist die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher. Das Verb hebetare wird selten mit Bezug auf den Körper benutzt (vgl. ThLL VI 3, 2584,82– 2585,8); in dieser Verwendungsweise ist es zuerst hier und bei Valerius Maximus (3,8 ext. 6) überliefert. Textkritisch umstritten ist in diesem Satz die Verknüpfung innerhalb der Aufzählung. Håkanson (1989) 339 liest als einziger moderner Herausgeber kein et zwischen aetas und animus. Indem er den Teilsatz von animus bis manus als Apposition zu aetas auffässt, weist er ad loc. Nováks (1915) 283 Vorschlag zurück, insueta (anstelle von Bursians [1857] 9 insuetaque) zu lesen. Novák wiederum begründet seinen textkritischen Eingriff damit, dass dies die einzige Stelle bei Seneca d.Ä. ist, an der „von drei Gliedern nicht nur das dritte, sondern auch das zweite mit que angereiht wird“ (Novák sieht aetas et animus als ein Glied an). Wir gehen wie Håkanson (s. o.) und im Einklang mit den besten Handschriften von einem Asyndeton zwischen aetas und animus aus. Jedoch halten wir den Teilsatz von animus bis manus nicht für eine Apposition zu aetas, sondern sehen eine Zweiteilung in aetas und animus auf der einen und manus und corpora auf der anderen Seite. Während aetas und animus unverbunden nebeneinander stehen, sind manus und corpora jeweils durch ein -que verbunden. Für diese Koordinierung spricht auch der parallele Aufbau im zweiten Teil des Satzes. Ferner hat die etwas ungewöhnliche Verknüpfung Parallelen weiter unten: an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia? […] hoc mare quod

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2 suas. 2

tantum ex vasto patet urguetur in minimum, insidiosis excipitur angustiis vixque minimo aditus navigio est, et huius quoque remigium arcet inquietum omne quod circumfluit mare. Gegen alle modernen Herausgeber weisen wir jedoch Bursians (s.o.) Konjektur insuetaque arma zurück und lesen das in V überlieferte insueto armaque. Aufgrund der Ironie spricht nämlich nichts dagegen, dass der Deklamator die Angst der Soldaten als ungewöhnlich hinstellt. Die Ellipse von est ist so geläufig, dass diese Form nicht mit Gertz (1879) 148 hinter lecta aetas ergänzt werden muss. quid dicam: potissimos Graeciae an Lacedaemonios an Eleos?: Das letzte Glied steht in Antithese zu den ersten beiden Gliedern. Der Deklamator nennt die Eleer i.S.v. Feiglingen, da sie an den Perserkriegen kaum beteiligt waren: bei den Thermopylen, Artemision und Salamis waren sie nicht vertreten, bei Plataiai kamen sie zu spät (vgl. Herodot 9,77).Wie sonst nur Kiessling (1872) 12 und Bursian (1857) 9 lesen wir das in den besten Handschriften überlieferte Lacedaemonios an Eleos. Die übrigen Herausgeber lesen entweder mit Gertz (1879) 148 an Lacedaemoniorum electos oder mit Bursian (1869) 4 f. Lacedaemonios an electos. Auf diese Weise würde aber die Antithese mit den feigen Eleern verloren gehen. Eine andere Möglichkeit, die Überlieferung zu halten, schlägt Thorsten Burkard vor (mündlicher Hinweis): Bei potissimos Graeciae an Lacedaemonios an Eleos könnte es sich um einen explikativen AcI in Abhängigkeit von quid dicam handeln, der „dass die stärksten [sc. Soldaten] Griechenlands die Spartaner oder die Eleer sind?“ bedeutet. Der Vorteil bei dieser Auffassung besteht darin, dass zwei deutlich verschiedene Möglichkeiten gegenübergestellt werden. Wenn man von drei Möglichkeiten ausgeht, stellt sich das Problem, dass die „stärksten Soldaten Griechenlands“ und die „Spartaner“ nahezu gleichbedeutend sind. Dieser Einwand dürfte jedoch nicht schwer wiegen, wenn man bedenkt, dass das Wort für die Spartaner ein Schlagwort für militärische Stärke ist; vgl. weiter unten: hoc Lacedaemonii [sc. dicunt], et adversus barbaros?; Antonius Atticus in § 16: Othryades paene a sepulchro victor digitis vulnera pressit, ut tropaeo ‘Laconem’ inscriberet. an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia?: An welche militärischen Erfolge der Deklamator in dieser Praeteritio denkt, lässt sich schwer sagen, da Sparta vor den Perserkriegen – wenn man von den beiden Messenischen Kriegen im 8. und 7. Jahrhundert v.Chr. absieht – in keine nennenswerten Kriege verwickelt war (vgl. RE III A 2 s.v. Sparta, Sp. 1378 – 1380). Daher liegt die Vermutung nahe, dass Fuscus hier – wie suas. 5,1 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) – entweder einen Topos verwendet oder anachronistisch an Spartas spätere Hegemonialstellung denkt. Für das vage tot vgl. weiter unten: at cum tot milibus Xerses venit. Novák (1915) 283 nimmt auch an dieser Stelle

2.2 Kommentar

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Anstoß an der Aufzählung und schlägt zögernd vor, mit der jüngeren Handschrift D tot statt totque im zweiten Glied der Aufzählung zu lesen. Die etwas ungewöhnliche Aufzählung in diesem und im ersten Satz spricht jedoch dafür, von einem individuellen Sprachgebrauch des Fuscus auszugehen. Et nunc produntur condita sine moenibus templa?: Fuscus verbindet eine Tatsache, die den militärischen Stolz der Spartaner widerspiegelt und auch von anderen Deklamatoren erwähnt wird, nämlich dass Sparta über keine Stadtmauer verfügt, mit einem pathetischen Element, indem er nicht auf die Stadt, sondern auf die Tempel verweist. Sparta hat nämlich erst am Ende des vierten Jahrhunderts v.Chr. mit dem Bau von ersten Verteidigungswerken angefangen (vgl. Liv. 34,38,2; RE III A 2 s.v. Sparta, Sp. 1355 f.). Für die Nennung dieser Tatsache in dieser Suasorie vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: ne sit Sparta lapidibus circumdata: ibi muros habet ubi viros; Cestius in §§ 5f.; Damas in § 14; Crispus in § 16. Pudet consilii nostri; pudet, etiamsi non fugimus, deliberasse talia: Das Argumentum a minori, dass schon die Erwägung der Flucht eine Schande für die Spartaner darstellt, wird auch von anderen Deklamatoren verwendet, z. B. von Latro in § 4: vix illud victoria dedecus elui potest; ut omnia fortiter fiant, feliciter cadant, multum tamen nomini nostro detractum est: iam Lacones, an fugeremus, deliberavimus; Sabinus in § 5: turpe est cuilibet viro fugisse, Laconi etiam deliberasse. An dem wiederholten pudet wird deutlich, dass Fuscus wie die anderen Deklamatoren überwiegend mit der Kategorie des honestum argumentiert; vgl. weiter unten: pudet Lacedaemonios sic adhortari. ‘At cum tot milibus Xerses venit’: Der Deklamator geht auf einen imaginären Einwand (contradictio; vgl. § 17) der Soldaten ein, dass die Truppenstärke der Perser zu groß für sie sei. Nach Herodot (7,184 f.) betrug die Anzahl des persischen Landheeres eine Million und siebenhunderttausend Mann, diejenige der Reiterei achtzigtausend Mann. Die Summe aus Flotte und Landheer berechnete er auf über zwei Millionen sechshunderttausend Mann. Daher ist tot eine sehr vage Angabe der persischen Truppenstärke; vgl. weiter oben mit dem Kommentar zur Stelle: an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia? Weitere imaginäre Einwände liegen §§ 3, 4, 17 und 18 vor. Das Zahlwort milia wird hier elliptisch für „tausende“ oder „unzählige Soldaten“ benutzt (vgl. ThLL VIII 980,32– 55); vgl. suas. 5,1 f. hoc Lacedaemonii, et adversus barbaros?: Lacedaemonii sc. dicunt. Für et in der Bedeutung „und zwar“, „noch dazu“ vgl. weiter unten: pudet, inquam, Lacedae-

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2 suas. 2

monios et armatos quaerere, quemadmodum tuti sint. Håkanson ad loc. und (1976) 128 hat diese Stelle textkritisch überzeugend erklärt. Das Fehlen eines Verbum dicendi an dieser Stelle ist als ‘affektische Ellipse’ zu bezeichnen (vgl. L.-H.-Sz. II, S. 423 f.); vgl. Cic. nat. deor. 1,121: quanto Stoici melius [sc. dicunt], qui a vobis reprehenduntur! Bei hoc handelt es sich um eine leichte Konjektur von Gertz anstelle des überlieferten ho (AB) bzw. o (B2V). Anders als von Gertz intendiert, ist hoc als Akkusativobjekt aufzufassen (bei Gertz fungiert das Pronomen als Ablativ zu dem von ihm supplierten Verb moventur). non refero opera vestra, non animos, non patres, quorum [non] exemplo ab infantia surgit ingenium: Nachdem Fuscus zuvor die vorigen Ruhmestaten der Spartaner in einer Praeteritio in Form einer rhetorischen Frage ausgedrückt hat (an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia?), formuliert er hier eine Aussage.Wie in jenem Satz ist auch hier fraglich, an welche Errungenschaften der Deklamator denkt. Insofern ist die Wahl von opus (wie zuvor diejenige von tot) symptomatisch, da das Wort hier wohl ganz allgemein die Bedeutung „Tat“, „Errungenschaft“ trägt (vgl.ThLL IX 843,33 – 51; OLD s.v. opus 8; § 5: Hercule gloriamur de operibus caelum merito). Textkritisch ist dieser Satz an vielen Stellen umstritten. Bei refero handelt es sich um eine einfache Korrektur (B2) bzw. um eine Konjektur von Madvig (vgl. Müller [1887] 532) anstelle der sinnlosen Lesarten revero (AB) bzw. revera (V). Für refero i.S.v. „referieren“ in einer Praeteritio vgl. contr. 2,1,8. Wie sonst nur Bursian (1857) 9 lesen wir dessen Konjektur animos und nicht wie die übrigen Herausgeber avos, das in den jüngeren Handschriften steht, wohingegen die besten Handschriften animus überliefern. Denn avos scheint eine von reveremini, das sich ebenfalls in den Recentiores findet, beeinflusste Verschlimmbesserung zu sein. Im Relativsatz ist die Negation non wohl durch die vorige dreimalige Verwendung hierher eingedrungen (Perseveration) und daher zu tilgen (vgl. Rebling [1868] 30). Schwierig ist die Frage nach der Diathese von surgere, die zu vielen textkritischen Eingriffen geführt hat. Um die Überlieferung zu halten, müsste man von einem transitiven Gebrauch von surgere und damit von einer Ausnahme der Regel ausgehen, dass subrigere transitiv, die kontrahierte Form surgere hingegen intransitiv verwendet wird (vgl. OLD s.v. subrigo). Wir haben für diese Verwendungsweise von surgere nur zwei mögliche Parallelen ermitteln können, nämlich Plaut. Epid. 733 (textkritisch umstritten): lumbos surgite atque extollite und suas. 5,3, wo ebenfalls Fuscus spricht und die Rektion von surgere auf vielfältige Weise erklärt werden kann (s. den Kommentar zur Stelle): credite mihi, difficile est attritas opes recolligere et spes fractas novare et paenitenda acie in melioris eventus fiduciam surgere (der Parallelismus spricht vielleicht für transitiven Gebrauch von surgere). Wie schon die ungewöhnliche Art der Aufzählung (s. weiter oben) würde man wohl auch dieses Phänomen auf

2.2 Kommentar

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Fuscus’ außergewöhnlichen Sprachgebrauch zurückführen. Da jedoch keine sichere Parallele für transitives surgere vorliegt, übernehmen wir Bursians (s.o.) Konjektur exemplo anstelle von exemplum. Für die Verknüpfung von ingenium und surgere vgl. suas. 4,2: an melius alio pignore quam futuri scientia ingenia surrexerint? pudet Lacedaemonios sic adhortari: loco tuti sumus: Nachdem sich das Schämen zuvor auf die Tatsache bezog, dass die Spartaner überhaupt über die Flucht nachdenken, bezieht es sich hier auf das Erwägen der geographischen Lage, in der sich die Spartaner befinden. Der Deklamator meint, dass sich die Spartaner an einem sicheren Ort befinden, da sie nicht wie die Perser mit den Gefahren der Küste zu kämpfen haben, die in den folgenden Sätzen beschrieben werden. Unter historischen Gesichtspunkten ist diese Aussage erstaunlich, da die persische Flotte in der Schlacht bei den Thermopylen keine Rolle spielte. Unwahrscheinlich ist die Annahme von Müller (1887) 532 und Edward (1928) 102, dass Fuscus an die Seeschlacht bei Salamis denkt. Eher wird er an die Seeschlacht bei Artemision gedacht haben, die parallel zu derjenigen bei den Thermopylen stattgefunden hat. Das wird auch daran deutlich, dass sich die folgende Beschreibung teilweise an Herodots Beschreibung von Artemision anlehnt (s. die folgenden Anmerkungen). Wie weiter oben bei den angeblich unzähligen militärischen Erfolgen, die Sparta zuvor errungen habe, ist daher auch hier – und suas. 5,1 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) – eine Diskrepanz zur historischen Überlieferung festzustellen. Der Gedanke, dass es eine Schande ist, sich über die geographische Lage der Spartaner Gedanken zu machen, wird am Ende von § 1 mit Worten, die auf diese Stelle verweisen, abgeschlossen: pudet, inquam, Lacedaemonios et armatos quaerere, quemadmodum tuti sint. Das in den besten Handschriften überlieferte filico ist auf vielfältige Weise emendiert worden (vgl. Müller [1887] 532). Paläographisch gesehen stellt ilico (Studemund) eine einfache Konjektur dar. Jedoch kommt dieses Adverb, das hier als Ortsangabe dienen würde (Novák [1908] 262 fasst das Adverb unverständlicherweise temporal auf), nur selten und dichterisch vor (vgl. ThLL VII 1,330,41– 48). Daher scheint es geraten zu sein, wie Winterbottom (1974) II 508 mit Novák (1908) 262 loco zu lesen und das fiaus filico als Dittographie nach -ri aus adhortari anzusehen. Loco wird auch von einem Korrektor der jüngeren Handschrift T hergestellt, aber dort um vel ergänzt, das wohl die Genese von fi- erklären soll. licet totum classe Orientem trahat, licet metuentibus explicet inutilem numerum: Das Subjekt in trahat und explicet ist Xerxes. Für den Gedanken vgl. Pompeius Silo in § 7: nihil refert, quantas gentes in orbem nostrum Oriens effuderit, quantumque nationum secum Xerses trahat; Fuscus suas. 5,2: quantumcumque

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2 suas. 2

Oriens valuit, primo in Graeciam impetu effusum est; Sen. benef. 6,31,5;Val. Max. 3,2 ext. 3. Das Verb explicare ist militärischer Terminus technicus für das Aufstellen in Schlachtformation; vgl. ThLL V 2,1726,16 – 51 und Liv. 2,46,3: vix explicandi ordinis spatium Etruscis fuit. Bei trahere handelt es sich jedoch nicht um einen militärischen Terminus technicus, da das Verb nur selten auf Soldaten bezogen wird (vgl. Liv. 23,5,11).Wie Bursian (1857) 9 und Kiessling (1872) 12 nehmen wir keinen Anstoß an der Überlieferung. Die Herausgeber seit Müller (1887) 532 übernehmen C.F.W. Müllers und Madvigs Konjektur intuentibus anstelle des überlieferten metuentibus. Diesem textkritischen Eingriff liegt wohl die Vorstellung zugrunde, dass der Deklamator die Spartaner nicht als Feiglinge darstellt. Da es sich allerdings um eine mit licet eingeleitete Einräumung handelt, in der keine Tatsachen, sondern hypothetische bzw. zumindest übertriebene Annahmen zugestanden werden, wie der erste Teil des Satzes zeigt, dürfte metuentibus zu halten sein.Vor allem sind die Verbesserungsvorschläge von Thomas (1900) 262 f. und Novák (1915) 283 zurückzuweisen, die nicht nur an metuentibus, sondern auch an inutilem numerum Anstoß nehmen; Thomas liest licet metuendum intuentibus explicet navalem numerum, Novák licet metuendum intuentibus explicet numerum navium, geret rem inutilem. Schon Müller (s.o.) las mit Studemund explicet ingentem navium numerum. Jedoch lässt sich die Anzahl (numerus) problemlos als die Anzahl der Soldaten verstehen, die in totum […] Orientem impliziert sind. hoc mare quod tantum ex vasto patet urguetur in minimum, insidiosis excipitur angustiis vixque minimo aditus navigio est: Vor allem mit Blick auf den hier beginnenden Passus (bis: vota decipiunt) wird Seneca d.Ä. in § 10 von einer explicatio bzw. descriptiuncula des Fuscus sprechen. Die Konstruktion dieses Satzes hat Schwierigkeiten bereitet. Håkanson (1989) 339 und ad loc.versteht quod tantum ex vasto patet, womit die persische Flotte gemeint sei, als Subjekt des Satzes (diese Auffassung ist durch seine Deutung von excipere beeinflusst; s.u.). Daher ändert er das überlieferte mare zu mari und versteht hoc mari als instrumentalen Ablativ. Jedoch ist dieser Eingriff in den Text unnötig. Das Subjekt des Satzes ist das Meer (hoc mare). Dieses steht fern von der Küste weit offen und wird an dieser Stelle zusammengedrängt, so dass kaum einem Schiff die Landung ermöglicht wird. Diese Beschreibung scheint sich partiell an diejenige Herodots (7,176) anzulehnen, der jedoch die Meerenge bei Artemision beschreibt: τοῦτο μὲν τὸ Ἀρτεμίσιον ἐκ τοῦ πελάγεος τοῦ Θρηικίου ἐξ εὐρέος συνάγεται ἐς στεινόν ἐόντα τὸν πόρον τὸν μεταξὺ νήσου τε Σκιάθου καὶ ἠπείρου Μαγνησίης. Die Bedeutung von excipere ist nicht eindeutig. Winterbottom (1974) II 509 übersetzt insidiosis excipitur angustiis mit „treacherous are the straits that lead to it [sc. zu der schmalsten Stelle]“; O. & E. Schönberger (2004) 280 übersetzen „[sc. das Meer] strömt in eine gefährliche Meerenge ein“. Håkanson ad loc. verweist auf die im

2.2 Kommentar

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OLD s.v. excipio 13 verzeichnete Bedeutung „täuschen“, für die in seinen Augen das Adjektiv insidiosus spricht. Wir meinen jedoch, dass excipere hier i.S.v. accipere steht, wofür mit Bezug auf Örtlichkeiten nur wenige Parallelen vorliegen; vgl. ThLL V 2,1251,41– 49 und Cic. Mil. 101: et erit dignior locus in terris ullus, qui hanc virtutem excipiat […] ? Gertz’ Transposition von patet und ex vasto scheint uns ebensowenig wie Thomas (1900) 263, Edward (1928) 7 und Shackleton Bailey (1969) 320 notwendig zu sein, da ex vasto an der Stelle, an der es überliefert ist, einen guten Sinn ergibt (s. die folgende Anmerkung). ex vasto: Dieser Ausdruck, der in der gesamten lateinischen Literatur nur an dieser Stelle belegt ist, erfüllt wohl die Funktion eines Adverbs (vgl. Thomas [1900] 263) und entspricht somit late. et huius quoque remigium arcet et inquietat omne quod circumfluit mare, fallacia cursus vada altioribus internata, aspera scopulos et cetera, quae navigantium vota decipiunt: Die Schwierigkeit der Landung von Schiffen wird in Fuscus’ Darstellung noch verschärft: Die einzigen Schiffe, die die Meerenge passieren können, sind kleine Schiffe; aber auch diese können aufgrund der Strömung, Untiefen und Felsen kaum manövrieren. Das Verb arcere bezeichnet hier nicht das Abhalten, sondern bedeutet „schwierig gestalten“, „behindern“ (vgl. OLD s.v. arceo 6). Für inquietare mit Bezug auf das Meer vgl. Sen. nat. 5,18,8: quid maria inquietamus?; Tert. adv. Marc. 4,20 p. 484,21: ventis, quibus inquietabatur [sc. mare]. Altioribus ist insofern eine ungewöhnliche Bezeichnung für das Meer, als zwar auch der Neutrum Plural alta (neben dem häufigeren Singular altum) für das Meer steht (vgl. ThLL I 1782,81– 1783,4), nicht aber der Komparativ. Der substantivische Gebrauch des Komparativs findet sich an dieser Stelle zum ersten Mal (vgl. ib. 1781,56 – 61) und ist wohl durch den Kontrast mit vada zu erklären. Das Verb internasci kommt in der gesamten lateinischen Literatur nur selten vor und wird nur hier nicht mit Bezug auf Pflanzen oder Bäume verwendet (vgl. ThLL VII 1,2230,76 – 84). Anders als die bisherigen Herausgeber lesen wir das überlieferte fallacia und nicht mit Bursian (1857) 10 fallentia. Sowohl cursus als auch scopulos fassen wir als Akkusative der Beziehung auf. Aspera bezieht sich ebenso wie fallacia auf vada. Anstelle von scopulos (AB) lesen die vorigen Herausgeber entweder scopulis (V) oder mit Haupt (1874) 249 und Gertz (1879) 148 scopulorum. Der Akkusativ der Beziehung ist zwar überwiegend dichterisch und in der Prosa erst ab Tacitus sicher belegt (vgl. K.-St. II 1, S. 285 f.); vgl. Prop. 2,5,28: Cynthia, verba levis. Aber zum einen spricht die Überlieferung eindeutig für die Akkusative. Zum anderen stellt sich durch die Konjektur [sc. aspera] scopulorum das Problem, dass sich nicht partitive Genetive nach substantivierten Adjektiven nur bei Dichtern und in der Prosa seit Tacitus finden (vgl. K.-St. II 1, S. 230). Scopulorum stellt also

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unter sprachlichen Gesichtspunkten keine Verbesserung gegenüber scopulos dar. Aufgrund der Annahme eines Akkusativs der Beziehung ist auch Castiglionis (1928) 123 Vorschlag zurückzuweisen, asperata [sc. scopulis] anstelle von aspera zu lesen. Gegen Winterbottoms (1974) 34 Vorschlag, vada et zu lesen (fallentia cursus vada et altioribus internata aspera scopulorum et cetera […]) spricht die zuvor konstatierte Beobachtung, dass der Komparativ altiora wohl wegen vada gewählt wurde, weswegen kein neues Element ab altioribus angenommen werden muss. pudet, inquam, Lacedaemonios et armatos quaerere, quemadmodum tuti sint: Vgl. weiter oben: pudet Lacedaemonios sic adhortari: loco tuti sumus. Hier ist von pudet ein AcI abhängig. Für et in der Bedeutung „und zwar“, „noch dazu“ vgl. weiter oben: hoc Lacedaemonii, et adversus barbaros? Winterbottom (1974) 34 schlägt vor, apud hinter inquam zu ergänzen, damit hier wie dort der Sprecher die Schande empfindet. Es spricht jedoch nichts gegen die Annahme, dass an dieser Stelle die Schande bei der Gruppe der Spartaner liegt – v. a. wenn man bedenkt, dass der Sprecher ein Teil der beratenden Gruppe ist. 2 Non referam Persarum spolia; certe super spolia nudus cadam: Hier beginnt ein neuer Gedanke, nämlich die Verachtung des Todes. Der Sinn dieses Satzes ist nicht ganz klar. Gesichert scheint, dass der Deklamator die Spartaner auffordert, sich an ihm ein Beispiel zu nehmen. Referre bedeutet an dieser Stelle (anders als in § 1) „mit nach Hause nehmen“ (O. & E. Schönberger [2004] 280 übersetzen das Verb mit „reden“). Edward (1928) 102 f. zufolge bedeutet das Adjektiv nudus hier „ohne Schild“ und ist eine Anspielung auf die spartanische Vorschrift, aus dem Krieg entweder auf dem Schild (tot) oder mit dem Schild (siegreich) heimzukehren; vgl. Blandus in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: referam praecepta matrum, ‘aut in his aut cum his’? Für nudus in dieser speziellen Bedeutung verweist Edward auf folgende Philostratstelle (soph. 1,24): ἀνὴρ Λακεδαιμόνιος μέχρι γήρως φυλάξας τὴν ἀσπίδα ἡδέως μὲν ἂν τοὺς γυμνοὺς τούτους ἀπέκτεινα. Es scheint aber eher die etwas allgemeinere Bedeutung „unbewaffnet“, „entwaffnet“ (vgl. OLD s.v. nudus 4; contr. 9,6,2: gladiator, quem armatus fugerat, nudus insequitur) und folglich auch keine Anspielung auf die genannte spartanische Vorschrift vorzuliegen (auch an der Philostratstelle ist die Annahme der Bedeutung „ohne Schild“ nicht zwingend). Denn der Gedanke ist, dass der Sprecher zwar sterben, aber immerhin viele Feinde töten wird. Diesen Gedanken drückt Latro in § 19 mit den Worten si nihil aliud, erimus certe belli mora aus. Vgl. auch Sall. Catil. 58,21: quod si virtuti vostrae fortuna inviderit, cavete inulti animam amittatis neu capiti potius sicuti pecora trucidemini quam virorum more pugnantes cruentam atque luctuosam victoriam hostibus relinquatis! Unter den Persarum spolia sind dieje-

2.2 Kommentar

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nigen erbeuteten Rüstungen zu verstehen, die die Spartaner den im Kampf getöteten Persern abnehmen.Wie Håkanson (1989) 339 setzen wir kein Fragezeichen hinter spolia, wie es die vorigen Herausgeber taten, da uns eine Frage im ersten Teil des Satzes sinnlos erscheint. Jedoch teilen wir Håkansons ad loc. Auffassung nicht, dass der erste Teil des Satzes als Konditionalsatz i.S.v. si non zu verstehen ist (Watt ergänzt Håkanson zufolge sogar si vor non). Ebenso wenig glauben wir, dass mit Gertz (1879) 148 at vor certe ergänzt werden muss, da certe („zumindest“) den adversativen Gedanken hinreichend zum Ausdruck bringt. sciet et alios habere nos trecentos, qui sic non fugiant et sic cadant: Sciet sc. Xerses. Auch in diesem Satz werden die positiven Konsequenzen einer möglichen Niederlage in den Blick genommen. Schultings Konjektur sciat anstelle von sciet (vgl. Müller [1887] 533) ist unnötig, da das Futur hier wie im vorhergehenden Satz (referam, cadam) eine mögliche bzw. wahrscheinliche Aussage über die Zukunft ausdrückt (sog. prospektives Futur; vgl. K.-St. II 1, S. 142 f.). Hunc sumite animum: nescio an vincere possimus; vinci non possumus: In einer Sentenz drückt Fuscus den Gedanken aus, dass die Spartaner militärisch gesehen dem Gegner unterlegen sind, dass sie aber ‘moralisch’ gesehen nicht besiegt werden können, d. h. dass die einzige Niederlage die Flucht wäre. Dieser Gedanke ist eng mit dem folgenden verknüpft, der die Angst vor dem Tod nehmen soll. Animus bedeutet hier nicht „Mut“, worauf die Junktur animum sumere („Mut schöpfen“) hindeuten könnte, sondern „Einstellung“. Diese Bedeutung geht aus der kataphorischen Funktion von hunc hervor. Daher erweist sich Schultings Konjektur hinc anstelle von hunc (vgl. Müller [1887] 533) als unnötig. Haec non utique perituris refero, sed etsi cadendum est, erratis, si metuendam creditis mortem: Die von den Spartanern bei den Thermopylen geführte Schlacht nennt auch Seneca d.J. als ein Beispiel für die Verachtung des Todes (epist. 82,20): in aciem educturus exercitum pro coniugibus ac liberis mortem obiturum quomodo exhortabitur? […] Laconas tibi ostendo in ipsis Thermopylarum angustiis positos: nec victoriam sperant nec reditum; ille locus illis sepulchrum futurus est.Wie Håkanson (1989) 339 und Bursian (1857) 10 lesen wir mit V etsi und nicht si, wie es die Herausgeber seit Müller (1887) 533 im Anschluss an Schott taten (A und B überliefern et sic). Zwar ist etsi im Werk des älteren Seneca sonst nirgends sicher belegt (contr. 1,4,11 und 1,6,4 handelt es sich um eine Konjektur), weswegen Konitzer (1864) 20 Schotts Tilgung von et befürwortet, aber es ergibt hier einen vortrefflichen Sinn (so auch Otto [1885] 416). Ferner ist das in A und B überlieferte et sic wohl als Verschreibung zu deuten, die aus etsi resultiert. Schließlich ist

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etiamsi häufig im Werk des älteren Seneca überliefert (allein in dieser Suasorie in §§ 1; 6 und 10). nulli natura in aeternum spiritum dedit statutaque nascentibus in fine vitae dies est: Dass alle Menschen sterben müssen, ist ein in der antiken Literatur verbreiteter Topos, der sich häufig in der Konsolationsliteratur findet; vgl. z. B. Sen. dial. 11,1,4: maximum ergo solacium est cogitare id sibi accidisse, quod omnes ante se passi sunt omnesque passuri und die Stellensammlung von Lier (1903). Dass mit der Geburt der Tag des Todes festgesetzt worden ist, ist ein Gedanke, der bisweilen mit dem ersten verknüpft wird; vgl. Sen. dial. 1,5,7: fata nos ducunt et quantum cuique temporis restat prima nascentium hora disposuit; 6,21,4: fixus est cuique terminus; Verg. Aen. 10,467 f.: stat sua cuique dies, breve et inreparabile tempus / omnibus est vitae (da es suas. 3,5 heißt, dass Fuscus an vielen Stellen Vergil imitiert, ist es möglich, dass er auch hier den Dichter nachahmt). Während die Herausgeber seit Müller (1887) 533 mit Steigemann statque anstelle des überlieferten statatque (AB) bzw. statutaque (V) lesen, bevorzugen sogar alle modernen Herausgeber das in den jüngeren Handschriften überlieferte in finem. Wir sehen aber keine Veranlassung, an statutaque und in fine zu zweifeln. inbecilla enim nos materia deus orsus est; quippe minimis succidunt corpora: Durch eine Schlussfolgerung, die von einer physikalischen Prämisse ausgeht, bekräftigt Fuscus sein Argument, dass man keine Angst vor dem Tod haben soll. Die zufällige Nähe zur epikureischen Philosophie wird auch weiter unten in dem Satz adeo in securam quietem recessus ex vita est deutlich (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Sie ist insofern zufällig, als Fuscus hier Topoi verwendet, die seinem Argumentationsziel dienen, ohne darauf zu achten, ob sie von Epikur (wie hier) oder der Stoa (der Gedanke der Vorsehung im vorigen Satz) vertreten werden. Ordiri wird an unserer Stelle in auffälliger Weise verwendet, da es transitiv sonst immer mit dem Akkusativ einer Sache gebraucht wird (vgl. ThLL IX 948,72 f.). An der einzig vergleichbaren Stelle liegt ein metonymischer Gebrauch des Akkusativs der Person vor (Sen. Phaedr. 924 f.): a meo primum toro / et scelere tanto placuit ordiri virum (hier bedeutet virum soviel wie „Mannbarkeit“). Zum anderen wird ordiri hier im eigentlichen Sinne verwendet, wobei eine Webmetapher zugrunde zu liegen scheint; vgl. Plin. nat. 11,80: orditur telas [sc. araneus]; Lact. inst. 2,10,20: [sc. Parca] quae vitam hominis ordiatur. Die physikalisch-materialistische Sichtweise des Fuscus mag diese Verwendung von ordiri angeregt haben. Ob minimis Dativ oder Ablativ ist, lässt sich aufgrund der relativ wenigen Parallelen für succidere i.S.v. sub-cadere nicht entscheiden. Wie Bursian (1857) 10 und Kiessling (1872) 13 lesen wir nicht am Anfang dieses Satzes mit B2 ex, sondern am Ende des vorigen Satzes das überlieferte est. Die übrigen Herausgeber lesen die

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korrigierte Form, um den Ablativus materiae inbecilla […] materia von dieser Präposition abhängig zu machen. Für den präpositionslosen Ablativus materiae vgl. aber Cic. Tusc. 1,22: Democritum […] levibus et rotundis corpusculis efficientem animum […] omittamus und K.-St. II 1, S. 393 f. indenuntiata sorte rapimur; sub eodem pueritia fato est, eadem iuventus causa cadit: Der Tod kann uns sowohl in der Jugend als auch im Alter treffen. Das Adjektiv indenuntiatus kommt in der gesamten lateinischen Literatur nur an dieser Stelle und suas. 5,2 vor, wo wiederum Fuscus zitiert wird (vgl. ThLL VII 1,1136,69 – 71). Wie in vergleichbaren Fällen ist dies das Resultat der produktiven Präfixhäufung von in- und de-. So kommt z. B. das Wort indeploratus (vgl. ThLLVII 1,1136, 73 – 76) nur bei Ovid vor (met. 11,670; Ib. 164; trist. 3,3,46) und indepravatus (vgl. ThLL VII 1,1136, 77 f.) nur bei Seneca d.J. (epist. 76,19). Der Präpositionalausdruck sub fato kehrt erst bei den Kirchenvätern wieder; vgl. z. B. Aug. in evang. Ioh. 8,8: vides quia sub fato erat Christus. optamus quoque plerique mortem; adeo in securam quietem recessus ex vita est: Dies ist ein weiteres Argument dafür, dass man keine Angst vor dem Tod haben muss: Es gibt Situationen, in denen der Tod nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar gewünscht wird. Vgl. Sall. Catil. 51,20: de poena possum equidem dicere, id quod res habet, in luctu atque miseriis mortem aerumnarum requiem, non cruciatum esse; eam cuncta mortalium mala dissolvere. Auch Lukrez bezeichnet den Tod als quies secura (Lucr. 3,211 f.): simul atque hominem leti secura quies est / indepta. Wie Bursian (1857) 10 und Kiessling (1872) 13 lesen wir das überlieferte plerique und übernehmen nicht Gertz’ Konjektur plerumque. Für plerique mit dem Verb in der ersten Person Plural vgl. Liv. 23,13,3: plerique […] supersumus. at gloriae nullus finis est proximique deos sic agentes agunt: Für einen Überblick über die zahlreichen Emendationsvorschläge, die zum zweiten Teil dieses Satzes unterbreitet wurden, vgl. Pianezzola (1989); hinzuzufügen wären die Konjekturen von Novák (1908) 263 proximeque deos accedunt, qui sic agunt und von Walter (1918) 136 proximique deos sic agentes agunt. Überliefert ist proximique deos sica geses sagunt (AB) bzw. sicages satagunt (V). Håkanson (1989) 340 nimmt einen Bezug zu der berühmten „Wanderer kommst du nach Sparta“-Inschrift an (vgl. Herodot 7,228) und emendiert daher zu proximique deos hic acie caesi sacrum habebitis. Jedoch halten wir diese Konjektur nicht nur aus paläographischen, sondern auch aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen für schwierig, da sacrum ein unpassender Ausdruck für eine Inschrift ist. Ferner legt der Kontext eher nahe, dass sich Fuscus in allgemeinen Aussagen über den Nachruhm ergeht. Da Walters (s.o.) Verbesserung paläographisch die einfachste ist, übernehmen wir

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2 suas. 2

diese. Mit sic agentes ist das Phänomen gemeint, dass Menschen in Extremsituationen es vorziehen zu sterben oder ihren Tod billigend in Kauf nehmen. feminis quoque frequens hoc in mortem pro gloria iter est [illud]: Dass sich Frauen durch ihren Tod Ruhm erworben haben, ist ein in Deklamatorenkreisen häufig verwendeter Topos, wie die Parallelen zeigen, auf die Edward (1928) 103 verweist; vgl. contr. 2,2,1, wo ebenfalls Fuscus spricht: quaedam ardentibus rogis se maritorum immiserunt, quaedam vicaria maritorum salutem anima redemerunt; contr. 10,3,2: aliqua spiritum viri redemit suo, aliqua se super ardentis rogum misit; contr. 2,5,8: alia desiderio viri attonita in ardentem rogum se misisse. Zu Recht äußert Edward (s.o.) die Vermutung, dass mythologische Gestalten wie Evadne und Alkestis eine Anregung für diesen Topos gebildet haben dürften (zu Alkestis vgl. Plat. Symp. 179bc). Wie alle modernen Herausgeber – mit Ausnahme von Håkanson (1989) 340, der Cruces setzt – tilgen wir mit A2 das hinter iter est überlieferte illud. Möglicherweise ist illud durch die weite Sperrung von hoc […] iter und das folgende quid, das illud ähnelt, d. h. als Dittographie in den Text geraten. quid Lycurgum, quid interritos omni periculo, quos memoria sacravit viros, referam?: Der Deklamator nennt mit Lykurg ein konkretes Beispiel für jemanden, der durch Selbstmord Nachruhm erlangt hat, und verweist pauschal auf die Gruppe derjenigen Männer, die durch einen aufopferungsvollen Tod ebendies erreicht haben. Lykurg soll sich außerhalb von Sparta getötet haben, um seine Mitbürger für immer an seine Verfassung zu binden. Er hatte ihnen nämlich zuvor das Versprechen abgewonnen, dass sie sich so lange an seine Verfassung halten, bis er zurückkehrt; vgl. Plut. Lycurgus 29,2. Für die Praeteritio vgl. § 1: an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia? […] non refero opera vestra, non animos, non patres, quorum exemplo ab infantia surgit ingenium. ut unum Othryadem excitem, adnumerare trecentis exempla possum: „Obwohl ich nur Othryades von den Toten hervorrufe, könnte ich euch dreihundert Soldaten Beispiele hinzufügen.“ Nur Edward (1928) 47 und Adiego Lajara (et al.) (2005) 285 geben den konzessiven Sinn des ut-Satzes wieder. Der Sinn dieses Satzes liegt darin, dass der Deklamator zu verstehen gibt, dass er mit Othryades nur ein Beispiel nennt, obwohl er viele Beispiele aufzählen könnte. Dass neben Fuscus viele andere Deklamatoren Othryades als Beispiel für kriegerischen Mut verwendet haben, geht aus § 16 hervor. Wie Herodot (1,82) und Pausanias (2,38,5) berichten, war Othryades einer der dreihundert spartanischen Krieger, die gegen dreihundert Argiver um den Besitz von Thyreatis gekämpft haben (ca. 550 v.Chr.). Als am Ende der Schlacht zwei Argiver und Othryades übriggeblieben waren, verkündeten die beiden Argiver in ihrer Heimat den Sieg, während Othryades die

2.2 Kommentar

239

Rüstung der gefallenen Soldaten raubte und das Schlachtfeld behauptete. Da von beiden Seiten der Sieg beansprucht wurde, kam es zu einer zweiten Schlacht, in der die Spartaner den Sieg davontrugen. Über den Tod des Othryades kursierten verschiedene Versionen: Herodot zufolge nahm er sich das Leben, da er nicht als einziger Überlebender der dreihundert Spartaner nach Hause zurückkehren wollte. Dem Historiker Theseus zufolge starb Othryades an seinen Verwundungen (s. den Kommentar zu Gargonius in § 16). Hier erwähnt Fuscus Othryades als Beispiel für die im vorigen Satz genannte Gruppe derjenigen, die ihr Leben zum Wohl des Vaterlandes riskiert haben. Zur Bedeutung von adnumerare vgl. ThLL I 786,37– 787,15 und Cic. div. 2,3: his libris adnumerandi sunt sex de re publica. 3 Non pudet Laconas nec pugna quidem hostium sed fabula vinci?: Triarius macht Gebrauch von der Kategorie des honestum, indem er an das Schamgefühl der Spartaner appelliert, wie es auch Fuscus tut (§ 1): pudet consilii nostri; pudet, etiamsi non fugimus, deliberasse talia. […] pudet Lacedaemonios sic adhortari: loco tuti sumus. […] pudet, inquam, Lacedaemonios et armatos quaerere, quemadmodum tuti sint. Mit fabula bezeichnet Triarius wohl die sagenhafte Größe des persischen Heeres (vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit) und Xerxes’ sagenhafte Taten (vgl. weiter unten mit dem Kommentar zur Stelle: sed montes perforat, maria contegit); vgl. Latro in § 4: arma nobis fabulae excutiunt?; Cestius in § 6: ita ne bello quidem sed nuntio vincimur?; Sen. benef. 6,31,1: alius aiebat non laturos [sc. Graecos] nuntium belli et ad primam adventus famam terga versuros; Himerios, or. 5,4. Der Genetiv hostium bezieht sich ἀπὸ κοινοῦ auf pugna und fabula. Die Stellung des Wortes zwischen den beiden Elementen, auf die es sich bezieht, ist v. a. als Stilmerkmal des jüngeren Seneca bekannt (das sog. ‘Hammelrath-Gesetz’; vgl. Hammelrath [1895] 14). Im Gegensatz zu allen modernen Herausgebern lesen wir das überlieferte nec und nicht Schultings Konjektur ne. Denn die Korrelation nec […] quidem wird hier gleichbedeutend mit ne […] quidem verwendet (vgl. K.-St. II 2, S. 45 f., die diesen Gebrauch als „nachklassisch“ bezeichnen; an einigen Beispielstellen wird ne in den Text gesetzt); vgl. Vitruv. 6,8,8: ita quae nec solidi quidem putantur esse, quibus rationibus haec poterint esse firma et quemadmodum instituantur, exposui; Gell. 20,1,14: nonnulla autem in istis legibus nec consistere quidem […] visa sunt. Magnum aes alienum virtutis est nasci Laconem: Der übertragene Gebrauch von aes alienum ist selten (vgl. ThLL I 1077,28 – 31) und findet sich etwa bei Cicero (top. 1,5). Ebenfalls selten sind Genetive in Abhängigkeit von aes alienum belegt. Ein Genetivus definitivus liegt Sen. epist. 81,17 vor: qui se maximo aere alieno accepti beneficii exonerat. Hier ist von aes alienum ein Genetiv abhängig, der angibt, wem man etwas schuldet bzw. wozu man verpflichtet ist. Auch wenn wir

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2 suas. 2

für diesen Gebrauch von aes alienum mit dem Genetiv keine Parallele gefunden haben, sollte Bursians (1857) 10 Emendation aes anstelle des in den besten Handschriften überlieferten es gelesen werden. Die meisten anderen Herausgeber treffen wohl die schwierigeren textkritischen Entscheidungen, indem sie nicht das in den besten Handschriften überlieferte alienum halten: Müller (1887) 534, Edward (1928) 8 und Winterbottom (1974) II 510 lesen magnum est, alimentum virtutis est nasci Laconem. Kiessling (1872) 13 liest wie Schulting magnum est alumnum virtutis nasci et Laconem. Nováks (1915) 284 Vorschlag magnum est, non alienum virtuti est nasci Laconem entfernt sich noch weiter von der Überlieferung. Ad certam victoriam omnes remansissent, ad certam mortem tantum Lacones: Auch in diesem Satz appelliert der Deklamator an das Selbstverständnis der Spartaner. Aus remansissent ist remanent (oder remanebunt) als Prädikat des zweiten Satzes zu gewinnen. Für diese Form der Brachylogie vgl. z. B. Cic. Tusc. 1,65: fingebat haec Homerus et humana ad deos transferebat: divina mallem ad nos [sc. transtulisset]; K.-St. II 2, S. 557 f. Ne sit Sparta lapidibus circumdata: ibi muros habet ubi viros: Für den Gedanken, dass Spartas Männer die nicht vorhandene Stadtmauer ersetzen, vgl. Plut. Apoph. Lac. 210E, wo Agesilaos spricht: ἄλλου δʼ ἐπιζητοῦντος, διὰ τί ἀτείχιστος ἡ Σπάρτη, ἐπιδείξας τοὺς πολίτας ἐξωπλισμένους· „Ταῦτά ἐστιν, εἶπε, τὰ Λακεδαιμονίων τείχη.“ ἄλλου δὲ τὸ αὐτὸ ἐπιζητοῦντος· „οὐ λίθοις δεῖ καὶ ξύλοις τετειχίσθαι τὰς πόλεις“, ἔφη, „ταῖς δὲ τῶν ἐνοικούντων ἀρεταῖς.“ Für die Verwendung dieses Gedankens in dieser Suasorie vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle. Wir lesen wie die Herausgeber seit Müller (1887) 534 mit einer leichten Emendation von Schulting, Petschenig und Gertz ne sit Sparta anstelle des überlieferten nesi parta. Bursian (1857) 10 und Kiessling (1872) 13 lesen non est Sparta, das sich auch – dort um sic erweitert – in den jüngeren Handschriften findet. Aber der konzessive Konjunktiv gibt dem Satz einen besseren Sinn als der Indikativ, aus dem sich eine rein informierende Aussage ergibt. Novák (1908) 263 hält nesi für eine Dittographie, die aus der Endung von Lacones herrühre. Da negierte Konzessivsätze beim älteren Seneca ihm zufolge nirgends mit ne eingeleitet werden, tilgt er nesi und ergänzt stattdessen ut non sit (Sparta). Selbst wenn Novák mit seiner Behauptung Recht haben sollte, dass ne in dieser Funktion im Werk des älteren Seneca nirgends verwendet wird, folgen wir ihm nicht, da ne die gewöhnliche Negation eines konzessiven Konjunktives im Hauptsatz ist. Die Sentenz ibi muros habet ubi viros ist von Bursian (s.o.) hergestellt worden. In den Handschriften ist durch einen Perseverationsfehler ibi bzw. ubi muros wiederholt abgeschrieben worden. Viros ist nicht nur aus inhaltlichen Gründen (vgl. das Agesilaoszitat), sondern auch aus paläographischen Gründen eine gelungene

2.2 Kommentar

241

Emendation (die sich auch in der jüngeren Handschrift D findet), da der Wortkörper muros sehr ähnlich ist, wenngleich hinter ibi muros habet ubi infolge eines Perseverationsfehlers prinzipiell jedes Wort ausgefallen sein kann. Melius revocavimus fugientes trecenos quam sequimur: Diesen Gedanken drückt sonst kein Deklamator aus.Wenn die geflohenen griechischen Kontingente erwähnt werden, geschieht dies ansonsten in der Absicht, diese als Kontrastfolie für die Tapferkeit der Spartaner zu verwenden (vgl. Triarius’ Aussage weiter oben ad certam victoriam omnes remansissent, ad certam mortem tantum Lacones; Cestius in § 6: adhuc non sum ex ulla parte Atheniensium similis, non muris nec educatione; nihil prius illorum imitabor quam fugam?) oder deren Flucht zu begrüßen (vgl. Latro in § 4: nunc, nunc pugnemus; latuisset virtus inter trecenos). Die überlieferten Tempora revocavimus und sequimur haben den Herausgebern in der Form Schwierigkeiten bereitet, dass revocavimus durch revocabimus und sequimur durch sequemur ersetzt wurden (nur Bursian [1857] 10 hält sequimur). Es besteht jedoch kein Anlass zu diesen textkritischen Eingriffen, wenn man melius als Adverb des Urteils auffasst. Melius revocavimus bedeutet daher „es wäre besser gewesen, zurückzurufen“. Folglich ist das Präsens sequimur unproblematisch. Für das Adverb des Urteils vgl. K.-St. II 1, S. 795; L.-H.-Sz. II, S. 827. Hier liegt der Sonderfall eines hypothetischen bzw. irrealen Gedankens vor; vgl. Hor. ars 129: rectius Iliacum carmen deducis in actus. ‘Sed montes perforat, maria contegit’: Triarius geht – wie andere Deklamatoren auch; vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit – auf einen imaginären Einwand eines Soldaten ein, der in diesem Fall auf zwei Taten des Xerxes während seines Feldzuges gegen Griechenland rekurriert, um dessen Übermacht zu illustrieren. Die Worte montes perforat beziehen sich auf den Bau eines Kanals durch die Athos-Halbinsel, maria contegit [sc. navibus] auf die Errichtung einer Schiffsbrücke über die Dardanellen (vgl. Herodot 7,21– 37). Diese beiden Taten werden häufiger in dieser Suasorie genannt; vgl. Marcellus in § 9; Seneca Grandio in § 17; vgl. auch Blandus suas. 5,7. Dass es sich hierbei um beliebte Beispiele handelt, bezeugt ferner Lukian, indem er ironischerweise deren Verwendung generell empfiehlt (vgl. Edward [1928] 104 f.). Vgl. rhet. praec. 18 mit Zweimüller ad loc.: καὶ ἀεὶ ὁ Ἄθως πλείσθω καὶ ὁ Ἑλλήσποντος πεζευέσθω καὶ ὁ ἥλιος ὑπὸ τῶν Μηδικῶν βελῶν σκεπέσθω καὶ Χέρξης φευγέτω καὶ ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω καὶ τὰ Ὀθρυάδου γράμματα ἀναγιγνωσκέσθω, καὶ ἡ Σαλαμὶς καὶ τὸ Ἀρτεμίσιον καὶ αἱ Πλαταιαὶ πολλὰ ταῦτα καὶ πυκνά. Auch in Himerios’ Suasorien begegnen das Athos- und das Dardanellenbeispiel häufiger; vgl. or. 1,7; 2,7; 5,3 f.; 6,24 f. Im Gegensatz zu den anderen imaginären Einwänden in den Suasorien des älteren Seneca wird der hier vorliegende nicht mit at, sondern mit sed eingeleitet.

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2 suas. 2

Für den Bau des Kanals durch die Athos-Halbinsel vgl. Struck (1907), der auch auf Stellen, an denen die beiden legendären Taten außerhalb der Deklamation mit Xerxes in Verbindung gebracht werden (angefangen bei Platon und Isokrates), verweist (S. 119). numquam solido stetit superba felicitas, et ingentium imperiorum magna fastigia oblivione fragilitatis humanae conlapsa sunt: Um der im vorigen Satz ausgedrückten Angst zu begegnen, benutzt Triarius den Locus communis de varietate fortunae, dass Xerxes’ (militärisches) Glück nicht von Dauer sein kann. Derartige Loci communes werden häufiger in der Deklamationssammlung des älteren Seneca benutzt (vgl. den Index bei Winterbottom [1974] II 635); innerhalb der Suasoriensammlung vgl. suas. 1,9: dixit deinde locum de varietate fortunae; 5,8: timendam esse fortunae varietatem. Für fastigium im Sinne des Höhepunkts der Macht vgl. suas. 1,9: deinde [sc. dixit] exempla regum ex fastigio suo devolutorum. Håkanson (1989) 340 und Bursian (1857) 10 lesen mit der Editio Romana (1585) in vor solido. Håkanson ad loc. rechtfertigt seine Entscheidung paläographisch damit, dass die Präposition nach dem -m in numquam ausgefallen ist. Die Ergänzung stellt sich aber als nicht notwendig dar, wenn man bedenkt, dass der präpositionslose Ablativ nach stare auch andernorts überliefert ist (wenngleich er nur dichterisch belegt zu sein scheint); vgl. Prop. 4,4,12: stabant Romano pila Sabina Foro; Verg. Aen. 3,277: stant litore puppes. Ferner ist der präpositionslose Ablativ solido in einer anderen Verbindung auch in der Prosa belegt; vgl. Liv. 44,5,6: solido procedebat elephantus in pontem. scias licet ad finem non pervenisse quae ad invidiam perducta sunt: Auch dieser Satz gehört zum Locus communis de varietate fortunae und damit zur Widerlegung des zuvor zitierten Einwandes. Nachdem im vorhergehenden Satz die Tatsache, dass man die menschliche Schwäche vergisst, als Grund für den negativen Umschwung des Schicksals genannt wurde, wird hier der Neid angeführt. Um wessen Neid es sich dabei handelt, lässt sich kaum angeben. Edward (1928) 105 legt sich unserer Meinung nach zu sehr fest, indem er vom Neid der Götter ausgeht. Der Locus communis spricht eher dafür, dass der Neid der Fortuna gemeint ist. Denkbar wäre auch der Neid bzw. der Hass der Menschen. Die verschiedenen textkritischen Eingriffe an dieser Stelle scheinen uns nicht gerechtfertigt zu sein. Gegen Gertz’ (1879) 148 f. Ergänzung von bonum zu finem wendet Castiglioni (1928) 107 zu Recht ein, dass sie überflüssig ist, da sich finis als bonus finis verstehen lässt. Castiglioni schlägt jedoch nicht die Supplierung von suum vor finem vor, wie Håkanson (1989) 340 angibt, sondern macht darauf aufmerksam, dass man, wenn man wie Gertz finem näher bestimmen möchte, das Possessivpronomen hätte vorziehen sollen. Er selbst verwirft einen textkritischen Eingriff.

2.2 Kommentar

243

C.F.W. Müllers Änderung von scias zu sciat (vgl. Müller [1887] 534) geht von der falschen Annahme aus, dass Xerxes angesprochen wird. maria terrasque, rerum naturam statione mutavit sua: moriamur trecenti, ut hic primum invenerit, quod mutare non posset: Mit einer Sentenz beschließt der Deklamator die Refutatio, mit der er sich gegen den Einwand des Soldaten wendet. Für den Gedanken vgl. Sen. benef. 6,31,5: tota illos Asia non movebit loco. Für den Gedanken, dass Xerxes in die Natur eingreift,vgl. Marcellus in § 9: ante nos rerum natura victa est; Himerios, or. 1,7; 6,24 f. Für den Ablativus separativus nach mutare vgl. Cic. Balb. 31: ne quis invitus civitate mutetur. Das -m in stationem (AB) ist wohl durch das folgende mutavit entstanden (Dittographie). Daher und aufgrund des wiederholten Gebrauches des Verbes in diesem Satz ist die Änderung zu immutavit, wie sie bei Bursian (1857) 11 und Kiessling (1872) 13 vorliegt, unnötig. Håkanson (1989) 340 liest mit V possit und nicht – wie alle anderen Herausgeber – mit A und B posset und begründet seine Entscheidung ad loc. damit, dass er invenerit als Futur II auffasst. Jedoch ist die Annahme eines Futur II im Finalsatz nahezu ausgeschlossen. Das Perfekt erklärt sich wohl dadurch, dass das Aufeinandertreffen vom Standpunkt der Zukunft als abgeschlossen betrachtet wird; vgl. § 9: satis fecimus nomini, ultumi cessimus; § 18: Lacones, nisi succurritis, mundus captus est; K.-St. II 1, S. 126. Si tandem amens placiturum consilium erat, cur non potius in turba fugimus?: Der Deklamator fordert die Spartaner auf, konsequent zu bleiben: Der geeignete Zeitpunkt für eine Flucht wäre gewesen, als die anderen griechischen Kontingente geflohen sind. Für den Gedanken vgl. Latro in § 4: in hoc scilicet morati sumus, ut agmen fugientium cogeremus?; Marullus in § 5: in hoc restitimus, ne in turba fugientium lateremus? Die Coniugatio periphrastica in placiturum erat drückt Bestimmung aus (vgl. K.-St. II 1, S. 160 f.): „Wenn letztlich ohnehin ein verrückter Plan beschlossen werden sollte“. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 14 lesen mit C.F.W. Müller tam demens anstelle des überlieferten tandem amens. Wir sehen keinen Anlass zu diesem textkritischen Eingriff, da tandem („ohnehin“) neben der Coniugatio periphrastica einen hervorragenden Sinn ergibt. 4 In hoc scilicet morati sumus, ut agmen fugientium cogeremus?: Wie Triarius im vorigen Satz und Marullus in § 5 drückt Latro pointiert den Widersinn aus, gerade jetzt zu fliehen (s. die vorige Anmerkung). Dabei wendet der Deklamator die Junktur agmen cogere pointiert auf die Fliehenden an. Für den ‘normalen’ Gebrauch von agmen cogere vgl. Liv. 22,2,3 f.: Hispanos et Afros […] primos ire iussit […] sequi Gallos […] Magonem […] cogere agmen. Latros Pointe wird durch den ironischen Gebrauch von scilicet noch weiter unterstützt. Ob man diesen Satz als

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2 suas. 2

Frage (so Håkanson [1989] 340 und Bursian [1857] 11) oder Aussage auffassen muss, lässt sich nicht entscheiden. Für ironisches scilicet in einer Frage vgl. Verg. Aen. 2,577 f.: scilicet haec Spartam incolumis patriasque Mycenas / aspiciet? Hinter diesen Satz transponieren Müller (1887) 534, Bornecque (1902) II 302, Edward (1928) 8 und Zanon dal Bo (1988) 128 mit Gertz (1879) 149 eine Sentenz des Pompeius Silo aus § 7: erimus inter fortes fugacissimi, inter fugaces tardissimi (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Rumori terga vertitis?: Vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: non pudet Laconas nec pugna quidem hostium sed fabula vinci?; weiter unten arma nobis fabulae excutiunt?; Cestius in § 6: ita ne bello quidem sed nuntio vincimur? Wie alle modernen Herausgeber lesen wir mit Gronovius (1672) 15 rumori anstelle des überlieferten furori. Denn furori ergibt hier keinen Sinn, da das Wort, sofern es sich auf den Kampf beziehen würde („Kriegswut“), eine stark negative Konnotation trägt, wie die Einträge im Thesaurus und im OLD s.v. furor1 deutlich machen. Gronovius zufolge wurde auch die Konjektur furore vorgeschlagen („est qui legerit furore“), die soviel wie amentia oder nullo consilio bedeuten würde (vgl. für diesen Gedanken Triarius in § 3: si tandem amens placiturum consilium erat, cur non potius in turba fugimus?). Der folgende Satz und die Parallelen, die auch Gronovius anführt (s.o.), machen jedoch deutlich, dass rumori hier den besten Sinn ergibt. Ein Dativ in Abhängigkeit von terga vertere ist nicht häufig belegt; vgl. aber Aetna 65: illinc devictae verterunt terga ruinae. sciamus saltem, qualis sit iste, quem fugimus: Vgl. Cestius in § 6: videamus, quanta turba sit […]. si vincere Xersen non licet, videre liceat; volo scire, quem fugiam. Anstelle des in den besten Handschriften überlieferten quam lesen die Herausgeber entweder mit Bursian (1857) 11 qualis oder mit Müller (1887) 534 quam fortis. Castiglioni (1928) 123 schlägt vor, quam zu halten und timendus hinter iste zu ergänzen. Håkanson ad loc. spricht sich für Bursians Konjektur aus, da das -s aus qualis vor sit ausgefallen und -li in -m übergegangen sei. Dies scheint auch uns die einfachste Erklärung des textkritischen Problems zu sein. Gegen Müllers Ergänzung von fortis spricht zudem, dass sciamus saltem darauf hindeutet, dass Xerxes’ Heer zwar in Augenschein genommen werden soll, aber dessen Kampfmut nicht erprobt werden soll. Vix istud victoria dedecus elui potest; ut omnia fortiter fiant, feliciter cadant, multum tamen nomini nostro detractum est: iam Lacones, an fugeremus, deliberavimus: Der Gedanke, dass schon die Erwägung der Flucht eine Schande für die Spartaner ist, liegt auch bei anderen Deklamatoren vor; vgl. Fuscus in § 1: pudet consilii nostri; pudet, etiamsi non fugimus, deliberasse talia; Sabinus in § 5:

2.2 Kommentar

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turpe est cuilibet viro fugisse, Laconi etiam deliberasse. Am Anfang des Satzes lesen wir mit einem Vorschlag von Gertz (1879) 149 vix istud anstelle des überlieferten vixit ut (A) bzw. vixit in (B) bzw. vicit at (V), da uns dies die paläographisch und semantisch einfachste Lösung zu sein scheint. Für die Wortstellung vgl. Fuscus in § 2: inbecilla enim nos materia deus orsus est. Lindes Konjektur vix illud, die von Håkanson (1989) 340 übernommen wird, ist ein wenig schwieriger. Gegen Bursian (1857) 11, der mit B2 vix in liest, wendet Rebling (1868) 30 zu Recht ein, dass die Präposition wenig überzeugend ist, da victoria hier eher instrumentaler Ablativ ist. Er selbst schlägt vix vor, das von Kiessling (1872) 14 übernommen wird. Jedoch scheint er davon auszugehen, dass vix in in den besten Handschriften steht, da er in als Dittographie zwischen vix und victoria ansieht. Angesichts der Überlieferung stellt sich vix aber nicht als adäquate Lösung heraus. Castiglionis (1928) 123 Tilgung von iam im letzten Teilsatz ist uns unverständlich, da das Wort hier einen guten Sinn ergibt, wenn man bedenkt, dass es für die Spartaner schon eine Schande ist, über eine Flucht nachzudenken. Daher dürfte auch Håkansons (1989) 340 Überlegung, nam zu lesen, unnötig sein. ‘At enim moriemur’: Für das Phänomen, dass imaginäre Gegenargumente referiert und anschließend (in einer Refutatio) widerlegt werden, vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit und weiter unten ceteri quidem fugerunt. Die aussichtslose militärische Lage führen auch die Deklamatoren als Argumente an, die für die Flucht plädieren; vgl. Cornelius Hispanus in § 9: si quis aliud suadet, non fortes vos vult esse sed perditos; Marcellus ib.: non vincent nos sed obruent. Wie die Herausgeber seit Müller (1887) 534 lesen wir mit Otto (1885) 416 at enim moriemur, da dies eine geringfügige Verbesserung des sinnlosen ut enim moriemur ist. quantum ad me quidem pertinet, post hanc deliberationem nihil aliud timeo, quam ne revertar: Der Deklamator entkräftet das Gegenargument, indem er mit der Kategorie des honestum argumentiert und den Soldaten die Entehrung vor Augen führt, die sie in Sparta schon aufgrund der Tatsache erwarten würde, dass sie über eine Flucht nachgedacht haben. Der Ausdruck quantum (anstelle von quod) ad […] pertinet begegnet im Werk des älteren Seneca zum ersten Mal (hier und contr. 7,6,10); danach z. B. bei Curtius Rufus (8,7,4). Zögernd lesen wir das etwas besser überlieferte revertar (AB) und nicht revertamur (V). Zweifel sind insofern angebracht, als das einleitende quantum ad me quidem pertinet nur auf die Angst des Sprechers beschränkt sein kann, wohingegen die Rückkehr auf die gesamte Gruppe bezogen werden kann.

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2 suas. 2

Arma nobis fabulae excutiunt?: Vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: non pudet Laconas nec pugna quidem hostium sed fabula vinci? und Cestius in § 6: ita ne bello quidem sed nuntio vincimur? Nunc, nunc pugnemus; latuisset virtus inter trecenos: Die Soldaten sollen die Flucht der anderen Griechen als Gelegenheit begreifen, ihre Tugend unter Beweis zu stellen. Für den Gedanken vgl. Cornelius Hispanus in § 7: ego vero, quod discesserunt gaudeo: liberas nobis reliquere Thermopylas. nil erit, quod virtuti nostrae se opponat, quod inferat; non latebit in turba Laco; quocumque Xerses aspexerit, Spartanum videbit. Bei trecenos handelt es sich um eine notwendige Emendation von Bursian (1857) 11 anstelle des überlieferten trecentos, da im Zusammenhang mit den griechischen Kontingenten außer im Thema (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) immer eine Form von treceni überliefert ist (vgl. §§ 3; 5; 8). ‘Ceteri quidem fugerunt’: Innerhalb der Exzerpte aus Latros Deklamation ist dies der zweite Einwand der Soldaten (s. S. 245 mit dem Kommentar zur Stelle), der im Folgenden widerlegt wird. Wie Håkanson ad loc. kommentiert, hat Winterbottom (1974) II 512 diesen Satz zu Unrecht in § 7 (in die Exzerpte aus Cornelius Hispanus’ Deklamation) vor ego vero, quod discesserunt, gaudeo versetzt. Dabei folgte Winterbottom teilweise Gertz (1879) 149, der dort at ceteri fugere ergänzt, d. h. Winterbottom hielt eine Transposition für besser als eine Supplierung an der dortigen Stelle (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Wir halten diese Transposition aus prinzipiellen und speziellen Erwägungen für bedenklich. Denn abgesehen davon, dass innerhalb von Exzerpten der Zusammenhang immer nur in eingeschränktem Maße vorliegt, ergibt der an dieser Stelle überlieferte Einwand einen hervorragenden Sinn, da im Folgenden direkt auf ihn geantwortet wird: electi sumus, non relicti. Ferner sollte auch quidem, das am Anfang des nächsten Satzes wiederholt wird und zu mehreren textkritischen Eingriffen (möglicherweise auch zu Winterbottoms Transposition) geführt hat, in einer Exzerptsammlung nicht verdächtigt werden, wie Edward (1928) 105 zu Recht moniert. Quidem wird hier anstelle des üblichen at verwendet. si me quidem interrogatis, quid sentiam, ego in nostrum et in Graeciae patrocinium loquar: electi sumus, non relicti: Der Deklamator weist in der abschließenden Paronomasie das Gegenargument zurück, dass die Spartaner fliehen müssen, weil die anderen griechischen Kontingente geflohen sind, indem er aus der Not eine Tugend macht. Für den Gedanken vgl. Cornelius Hispanus in § 7: ego vero, quod discesserunt gaudeo: liberas nobis reliquere Thermopylas und Blandus in § 8: nunc me delectat quod fugerunt treceni; angustas mihi Thermopylas fecerunt. Für das Selbstverständnis, für ganz Griechenland zu kämpfen, vgl.

2.2 Kommentar

247

ebenfalls Cornelius Hispanus in § 7: pro Sparta venimus, pro Graecia stemus. Die Wendung in patrocinium alicuius loqui ist sonst nicht belegt. Möglicherweise bedeutet dieser Ausdruck, wie Edward (1928) 105 bemerkt, „als Anwalt für jemanden sprechen“. Der Deklamator scheint daher die Vorstellung eines Prozesses vor Gericht zu evozieren, in dem er sich gegen den erhobenen Einwand verteidigt. Für das finale in nach loqui vgl. immerhin Quint. decl. 252,6: longa ratio est, quoniam in argumentum tantummodo causae huius de iniuria parasiti loquor und Sen. epist. 83,12, wo das überlieferte locutus – wohl zu Unrecht – geändert worden ist. Wir lesen wie die übrigen Herausgeber mit Ausnahme von Bursian (1857) 11 mit A2 und V si me quidem interrogatis, quid sentiam, wohingegen in A und B ut hinter quid überliefert ist, so dass loquar das Prädikat des ut-Satzes ist. Denn interrogare ut bereitet in semantischer und grammatikalischer Hinsicht Schwierigkeiten, da interrogare nur selten „bitten“ bedeuten kann und einen ut-Satz regiert (vgl. ThLL VII 1,2272,53 – 63; sämtliche dort verzeichneten Stellen außer Varro ling. 6,74 entstammen christlichen Autoren). Aus inhaltlichen Gründen ist es ebenfalls etwas wahrscheinlicher, dass der Deklamator die Absicht, zur Verteidigung Spartas und Griechenlands zu sprechen, selbst bekundet und nicht als eine Bitte der Soldaten hinstellt. Anders als die vorigen Herausgeber lesen wir mit V ego (A und B überliefern ei) und nicht mit Haase et (vgl. Müller [1887] 535) vor in nostrum, da ego überliefert ist und in dem einleitenden si me quidem interrogatis Rückhalt findet. Das in A und B überlieferte ei ergibt keinen Sinn, da der Nominativ Plural aus syntaktischen Gründen ausgeschlossen ist und der Dativ nach loqui ungewöhnlich ist. 5 Turpe est cuilibet viro fugisse, Laconi etiam deliberasse: Für den Gedanken vgl. Fuscus in § 1: pudet consilii nostri; pudet, etiamsi non fugimus, deliberasse talia und Latro in § 4: multum […] nomini nostro detractum est: iam Lacones, an fugeremus, deliberavimus. Gertz ergänzt de fuga zwischen etiam und deliberasse (vgl. Müller [1887] 535). Müller (s.o.), Bornecque (1902) II 302 und Zanon dal Bo (1988) 128 übernehmen diese Supplierung, versetzen sie aber an das Ende des Satzes. Thomas (1900) 216 und Edward (1928) 105 f. wenden gegen die Ergänzung zu Recht ein, dass deliberasse leicht als deliberasse de fuga verstanden werden kann. Zudem würde eine derartige Ergänzung die Prägnanz beeinträchtigen. In hoc restitimus, ne in turba fugientium lateremus?: Vgl. die Sentenz seines Schülers (vgl. contr. 1 praef. 24) Latro in § 4: in hoc scilicet morati sumus, ut agmen fugientium cogeremus? Habent quemadmodum se excusent Graeciae treceni: ‘munitas Thermopylas putavimus, cum relinqueremus illic Lacona’: Der Deklamator appelliert auf

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2 suas. 2

ähnliche Weise an die exzeptionelle Tapferkeit der Spartaner wie Triarius in § 3: ad certam victoriam omnes remansissent, ad certam mortem tantum Lacones. Für die Junktur habere quemadmodum vgl. Cic. Verr. II 4,28: nunc […] quem ad modum te expedias non habes. Bei munitas handelt es sich um die Lesart der Recentiores, die deshalb in den Text zu übernehmen ist, weil das in den besten Handschriften überlieferte mutas keinen Sinn ergibt. Zwar wurde Bursians (1857) 11 Überlegung, tutas zu lesen, von allen Herausgebern außer Håkanson (1989) 341 übernommen. Aber da munitas ein militärischer Ausdruck ist, der einen hervorragenden Sinn ergibt, sollte dieses Adjektiv vorgezogen werden. Zudem kann -ni- in munitas leicht ausgefallen sein. Anders als alle bisherigen Herausgeber lesen wir mit den besten Handschriften den Singular Lacona und nicht den Plural Laconas (B2V2). Für den kollektiven Singular vgl. suas. 1,8: consulendum militi tot eius victoriis lasso; ib. 14: testor ante orbem tibi tuum deesse quam militem; ib.: Latro […] non excusavit militem. Der Akkusativ Lacona ist hier erstmalig belegt; später vgl. Sil. 4,361; Stat. Theb. 6,812. Quam turpe esset fugere, iudicastis, Lacones, tam diu non fugiendo: Der Deklamator versucht zu zeigen, dass auch die Soldaten eine mögliche Flucht als eine Schande ansehen, da sie so lange nicht geflohen sind. Die Tatsache, dass die Spartaner (noch) nicht geflohen sind, nutzen auch Latro in § 4 und Marullus in § 5 für ihre Argumentation aus. Diese beiden Deklamatoren betonen dabei aber nicht die mögliche Schande, sondern den Widersinn, den die verspätete Flucht darstellen würde. Omnibus sua decora sunt: Athenae eloquentia inclitae sunt, Thebae sacris, Sparta armis: Der in diesem Satz beginnende Gedanke reicht bis non aestimant! am Anfang von § 6 (s. die folgende Anmerkung) und hat den Zweck, die Spartaner aufgrund ihrer außergewöhnlichen militärischen Stärke zum Bleiben zu motivieren. Für die Aufzählung vgl. Manil. 4,687 f.: in regnum florentes oris Athenae; / Sparta manu, Thebae divis. Das Substantiv arma wird metonymisch gebraucht, wenngleich fast alle Übersetzer das Wort mit „Waffen“ wiedergeben: Adiego Lajara (et al.) (2005) 287; O. & E. Schönberger (2004) 281; Zanon dal Bo (1988) 129; Edward (1928) 48; Bornecque (1902) II 303. Unklar ist jedoch, in welchem Sinn arma metonymisch verwendet wird, d. h. ob „Kriege“ (vgl. ThLL II 599,11– 600,43) oder „Soldaten“ (vgl. ib. 600,44– 601,44) gemeint sind. Gegen Winterbottom (1974) II 515 sind wir der Meinung, dass eher die tapferen Soldaten gemeint sind, da Sparta vor den Perserkriegen in keine nennenswerte Kriege verwickelt war (s. den Kommentar zu § 1) und der nächste Satz die harte Ausbildung der spartanischen Jugend schildert. An welche mythischen Gestalten bei den Riten Thebens möglicherweise gedacht ist, hat Edward (s.o.) 106 skizziert: der Kadmus- und der

2.2 Kommentar

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Ödipusmythos sowie derjenige der Sieben gegen Theben spielen in Theben, und die Gottheiten Dionysos, Herkules und Teiresias sind dort geboren. Das Adjektiv inclitus (inclutus) ist seit Cato (hist. 83) in der lateinischen Prosa belegt; vgl. auch suas. 6,21. ideo hanc Eurotas amnis circumfluit, qui pueritiam indurat ad futurae militiae patientiam; ideo Taygeti nemoris difficilia nisi Laconibus iuga; ideo Hercule gloriamur de operibus caelum merito; ideo muri nostri arma sunt. o grave maiorum virtutis dedecus: Lacones se numerant, non aestimant!: Bursian (1857) 11 und Edward (1928) 9 lesen die mit ideo eingeleiteten (Teil‐)Sätze als rhetorische Fragen, während die übrigen Herausgeber seit Kiessling (1872) 14 f. Aussagen annehmen. Auch wir gehen davon aus, dass Aussagen vorliegen, die wir allerdings – anders als die Vorgänger – bis non aestimant! gehen lassen. Denn der vorige und dieser Satz ergeben einen besseren Sinn, wenn sie durch die Sentenz o grave maiorum virtutis dedecus: Lacones se numerant, non aestimant! abgeschlossen werden. Für den Zusammenhang dieser Sätze spricht auch das Wort maiorum in der abschließenden Sentenz, das auf die in diesem und im vorigen Satz entfaltete Tradition verweist. Die mit ideo eingeleiteten Sätze begründen den Gedanken „Sparta ist durch seine tapferen Krieger berühmt“. Mit Bezug auf den ersten Teilsatz ist die Verwendung von ideo auffällig, denn hier scheinen Ursache und Wirkung miteinander vertauscht zu sein (der Eurotas umfließt Sparta, weil Sparta über außergewöhnliche Krieger verfügt). Die kausale Verknüpfung wird verständlich, wenn man zu ideo einen nicht ausgesprochenen Finalsatz gedanklich ergänzt, der teilweise mit dem Inhalt des Relativsatzes identisch ist („deshalb umfließt der Eurotas Sparta [sc. damit Sparta über tapfere Krieger verfügt]“). ideo hanc Eurotas amnis circumfluit, qui pueritiam indurat ad futurae militiae patientiam: Hanc sc. Spartam. Der Fluss Eurotas durchfließt die nach ihm benannte Ebene, in der auch Sparta liegt. Der Gedanke, dass der Eurotas die spartanische Jugend abhärtet, ist – soweit wir sehen – auch außerhalb dieser Suasorie ohne Parallele. Bei Statius (Theb. 1,118 f.) erhält er das Attribut asper. ideo Taygeti nemoris difficilia nisi Laconibus iuga: Das Taygetosgebirge grenzt Sparta zum Westen hin ab. Als Prädikat dieses Teilsatzes sehen die Herausgeber und Übersetzer unterschiedliche Verben an. Edward (1928) 48 und Winterbottom (1974) II 515 gehen von einer Ellipse einer Form von esse aus (sunt); vgl. Winterbottom: „that is why the wooded ridges of Taygetus are so difficult to access – for all except Spartans“. Håkanson ad loc. sucht das Prädikat in dem Verb des vorigen Teilsatzes, d. h. in circumfluit. Da circumfluere zwar auch übertragen i.S.v. circumdare, aber nicht mit Bezug auf ein Gebirge belegt ist (vgl. ThLL III 1145,13 – 25),

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2 suas. 2

nimmt er ein ähnliches Verb wie cingere als zu ergänzendes Prädikat an, d. h. er geht von einem zeugmatischen Gebrauch von circumfluere aus. Gertz (1879) 149 schlug zuerst vor, ideo Taygeti enitimur (anstelle von nemoris) […] iuga zu lesen, da er nemus für ein unangemessenes Wort mit Bezug auf das Taygetosgebirge hielt, dann (1888) 297 ideo Taygeti enitimur nemoris […] iuga. Dessen Supplierung von enitimur hat Müller (1887) 535 übernommen, wobei er enitimur in vor Taygeti ergänzte. Ihm sind Bornecque (1902) II 303 und Zanon dal Bo (1988) 129 gefolgt.Wie Edward (s.o.) 106 sind wir der Meinung, dass die textkritischen Eingriffe unnötig sind. Die Frage, ob man eher mit Edward und Winterbottom eine Ellipse oder mit Håkanson ein Zeugma annehmen sollte, lässt sich kaum entscheiden. Etwas einfacher ist vielleicht die Annahme einer Ellipse. Für die Ellipse einer Form von esse in kurzen, mit Nachdruck ausgesprochenen Urteilen vgl. Cic. off. 1,84: atque haec quidem Lacedaemoniis plaga mediocris [sc. fuit]; K.-St. II 1, S. 11. Dass kein Grund besteht, an der Semantik und dem scheinbar pleonastischen Gebrauch von nemoris („Gehölz“) Anstoß zu nehmen, verdeutlichte schon Bursian (1857) 11, indem er auf Hor. sat. 2,6,90 f.: quid te iuvat […] / praerupti nemoris patientem vivere dorso? und Val. Fl. 1,664: nemora ardua Pisae verwies. ideo Hercule gloriamur de operibus caelum merito: Wie Håkanson ad loc. kommentiert, führen beide spartanischen Königshäuser (die Agiaden und die Eurypontiden) ihren Stammbaum auf Herkules zurück (vgl. RE Suppl. III s.v. Herakles, Sp. 910 – 1121, hier 912). Für die Junktur caelum merere bzw. mereri vgl. suas. 1,1: intra has terras caelum Hercules meruit. Das vor operibus überlieferte de hat nur Bursian (1857) 11 gehalten, während alle anderen Herausgeber mit Kiessling (1872) 15 deo lesen. Da der Ablativus instrumentalis häufig durch de mit Ablativ ersetzt wird (vgl. ThLL V 1,62,18 – 64,33; L.-H.-Sz. II, S. 126 und 262), ist ein textkritischer Eingriff wohl unnötig; vgl. das Sprichwort duo parietes de eadem fidelia dealbare (Curius Cic. fam. 7,29,2); Ov. met. 7,559 f.: nec fit / corpus humo gelidum, sed humus de corpore fervet. Für instrumentales de nach mereri vgl. Min. Fel. 13,2: merito ergo de oraculo testimonium meruit prudentiae singularis. ideo muri nostri arma sunt:Vgl. jeweils mit dem Kommentar zur Stelle: Fuscus in § 1: et nunc produntur condita sine moenibus templa?; Triarius in § 3: ne sit Sparta lapidibus circumdata: ibi muros habet ubi viros. Das Substantiv arma wird hier wie zuvor per Metonymie Spartas tapfere Krieger bezeichnen (s. S. 248 mit dem Kommentar zur Stelle), auch wenn die Übersetzer mit Ausnahme von Edward (1928) 48 die Bedeutung „Waffen“ annehmen. 6 o grave maiorum virtutis dedecus: Lacones se numerant, non aestimant!: Dieser Satz schließt den mit omnibus sua decora sunt eingeleiteten Gedanken ab.

2.2 Kommentar

251

Nachdem der Deklamator als besonderes Merkmal Spartas dessen tapfere Krieger genannt hat, kontrastiert er in einer Sentenz ihre augenblickliche Feigheit mit der spartanischen Tugend im Kampf. Für den Unterschied zwischen numerare, dem Zählen, und aestimare, der Wertschätzung, vgl. Sen. dial. 12,16,6: si numerare funera Corneliae velles, amiserat decem, si aestimare, amiserat Gracchos. Videamus, quanta turba sit, ut habeat certe Sparta etiamsi non fortes milites at nuntios veros: Sarkastisch sagt der Deklamator, dass Sparta zwar keine tapferen Soldaten hat, aber verlässliche Boten, die solange an ihrer Stelle verharren, bis sie Gewissheit über die Truppenstärke der Perser gewonnen haben, um diese dann nach ihrer Flucht in ihrer Heimat bekanntzugeben; vgl. Zanon dal Bo (1988) 221. Für einen ähnlichen Gedanken vgl. Blandus in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: revertamur ne nuntii quidem nisi novissimi? Ita ne bello quidem sed nuntio vincimur?: Für den Gedanken vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: non pudet Laconas nec pugna quidem hostium sed fabula vinci?; Latro in § 4: rumori terga vertitis? […] arma nobis fabulae excutiunt? merito, hercules, omnia contempsit, quem Lacones audire non sustinent: Contempsit sc. Xerses. Die Form hercules kann genauso wie hercle oder hercule als Interjektion dienen (vgl. OLD s.v. hercle und Hercules b; Cic. Brut. 62: et hercules eae [sc. laudationes] exstant). Mit omnia contempsit dürfte alles gemeint sein, was sich Xerxes in den Weg stellt. Dabei denkt der Deklamator sicherlich an den Bau des Kanals durch die Athos-Halbinsel und die Errichtung der Schiffsbrücke über die Dardanellen (vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle), aber auch an das Hindernis, das die Spartaner bei den Thermopylen darstellen. Audire non sustinent [sc. Xersen] bezieht sich inhaltlich auf den im vorigen Satz ausgedrückten Gedanken, dass die Spartaner schon vor der Nachricht von Xerxes’ Vormarsch fliehen. Fabers (1672) 16 Konjektur quae anstelle von quem geht von der falschen Voraussetzung aus, dass mit quem Herkules gemeint ist. Si vincere Xersen non licet, videre liceat; volo scire, quem fugiam: In einer spöttischen Bemerkung drängt der Deklamator darauf, die Truppenstärke der Perser mit eigenen Augen zu überprüfen. Für die Einräumung, dass Xerxes militärisch wohl nicht besiegt werden kann, vgl. Fuscus in § 2: nescio an vincere possimus; vinci non possumus. Für die Neugierde mit Blick auf die Truppenstärke der Perser vgl. Latro in § 4: sciamus saltem, qualis sit iste, quem fugimus und weiter oben: videamus, quanta turba sit […]. Anders als alle modernen Herausgeber lesen wir nicht mit Bursian (1857) 12 quid sondern quem vor fugiam, da quem in V

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überliefert ist (A und B überliefern qui) und mit Bezug auf Xerxes einen hervorragenden Sinn ergibt. Adhuc non sum ex ulla parte Atheniensium similis, non muris nec educatione; nihil prius illorum imitabor quam fugam?: Auch Cestius benutzt das Überlegenheitsgefühl der Spartaner über die anderen Griechen; vgl. Triarius in § 3: ad certam victoriam omnes remansissent, ad certam mortem tantum Lacones. Für den Bezug auf Spartas nicht vorhandene Stadtmauer vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: et nunc produntur condita sine moenibus templa? Da die Beratung in dieser Suasorie während der Schlacht bei den Thermopylen stattfindet, wird der Deklamator wahrscheinlich nicht auf die langen Mauern anspielen, die Athen und Piräus verbanden, da deren Bau nach den Perserkriegen auf Themistokles’ Initiative begonnen wurde. Bei der educatio schwebt dem Deklamator wohl ein ähnlicher Gegensatz vor Augen wie Crispus in § 16: nos sine deliciis educamur, sine muris vivimus, d. h. es geht um den Kontrast zwischen der militärischen Disziplin der Spartaner und der in ihren Augen verweichlichten Ausbildung der Athener. Der Anstoß, den Kiessling (1872) 15 an non […] nec nimmt (er ändert nec zu non), ist, wie auch Otto (1885) 416 meint, unberechtigt; vgl. contr. 1,2,21: dicendum est in puellam vehementer, non sordide nec obscene. 7 Xerses multos secum adducit, Thermopylae paucos recipiunt: Der Deklamator hält die numerische Überlegenheit der Perser angesichts der geographischen Lage für eine vermeintliche Überlegenheit. Auch Seneca d.J. äußert sich ähnlich über die für die Masse der Perser ungünstige Lage der Thermopylen (benef. 6,31,8): verum est, quod dicitur, maiorem belli adparatum esse, quam qui recipi ab his regionibus possit, quas obpugnare constituis [sc. Xerxes] […] ob hoc ipsum te Graecia vincet, quia non capit: uti toto te non potes. Das Argument wird auch von Fuscus in § 1 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) und von Blandus in § 8 verwendet; ferner kommt es in Haterius’ Sentenz in § 14 zum Vorschein. Für die Größe der persischen Streitmacht vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit. Erimus inter hostes fugacissimi, inter fugaces tardissimi: Der erste Teilsatz ist aus der Sicht der Perser gesprochen („wir werden unter den Feinden [sc. der Perser] die schnellsten Fliehenden sein“), der zweite aus der Sicht der Griechen: Durch eine Flucht würden sich die Spartaner dem doppelten Vorwurf aussetzen, dass sie aus Sicht der Perser die größten Feiglinge und aus Sicht der Griechen die langsamsten Fliehenden sind. Dieser Satz ist von den Herausgebern an unterschiedliche Stellen versetzt worden. C.F.W. Müller und Linde lassen ihn das Referat von Cestius am Ende von § 6 (hinter fugam) beschließen (vgl. Müller [1887] 536).

2.2 Kommentar

253

Müller (s.o.) 534, Bornecque (1902) II 302, Edward (1928) 8 und Zanon dal Bo (1988) 128 fügen ihn mit Gertz (1879) 149 den Exzerpten des Latro (§ 4) hinzu (hinter in hoc scilicet morati sumus, ut agmen fugientium cogeremus?).Winterbottom (1974) II 515 Fußn. 4 meint, dass er vielleicht zu Marullus (§ 5) gehört. Und während Bursian (1857) 12 und Kiessling (1872) 15 ihn an der Stelle belassen, an der er überliefert ist, versetzt Håkanson (1989) 342 ihn an das Ende von Pompeius Silos Referat (hinter locus ceperit). Wir halten wie Bursian und Kiessling eine Transposition für unberechtigt, da es sich um Exzerpte handelt, so dass der Zusammenhang nicht forciert werden darf, und da es häufiger vorkommt, dass ein Argument modifiziert an anderer Stelle wiederholt wird. So wiederholt z. B. Latro in § 4 den Gedanken, dass schon die Erwägung der Flucht eine Schande für die Spartaner darstellt, und den Gedanken, dass die Spartaner vor einem Gerücht (rumor, fabulae) und nicht vor Xerxes selbst fliehen; vgl. auch das Exzerpt aus Fuscus’ Deklamation suas. 5,1– 3. Fabers (1672) 16 Konjektur fortes anstelle von hostes wird von allen Herausgebern außer Bursian (s.o.) übernommen. Kiessling (s.o.) erwägt, nostros zu lesen. Wir bewahren den überlieferten Wortlaut, indem wir davon ausgehen, dass der erste Teilsatz aus der Sicht der Perser gesprochen ist (s.o.). Für fugacissimus hostis vgl. Liv. 5,28,8. nihil refert, quantas gentes in orbem nostrum Oriens effuderit quantumque nationum secum Xerses trahat; tot ad nos pertinent, quot locus ceperit: Die Wiederholung dieses Gedankens, die zu der Transposition des vorigen Satzes geführt hat, ist möglicherweise wie bei Latro in § 4 dadurch zu erklären, dass ein Einwand der Soldaten zurückgewiesen wird, da dort nach at enim moriemur zwei bereits formulierte Gedanken wiederholt werden (s. die vorige Anmerkung). Für die unterschiedlichen Völker aus dem Orient, die an dem Feldzug gegen Griechenland teilnahmen, vgl. Herodot 7,60 – 99. Håkanson ad loc. fasst (wie O. & E. Schönberger [2004] 282) quanti i.S.v. quot auf und kommentiert, dass dieser Gebrauch zuvor nur bei Properz (1,5,10) belegt ist; vgl. L.-H.-Sz. II, S. 207.Wir meinen jedoch wie Winterbottom (1974) II 515, dass quanti hier die Größe der Völker bezeichnet, während sich das folgende quantum […] nationum auf die Anzahl der Völker bezieht. Für (locus) capit („es ist Platz für“) vgl. Sen. benef. 6,31,8 (s. S. 252) und suas. 1,5: orbis illum [sc. Alexandrum] suus non capit. Wie die Herausgeber seit Müller (1887) 536 lesen wir quantumque (V) und nicht das in den Handschriften A und B überlieferte quantum, da der Ausfall von -que im Laufe der Überlieferung wahrscheinlicher ist, als dass die Verknüpfung fälschlicherweise in den Text geraten ist. Das -que, das in den Handschriften A und B hinter nationum überliefert ist, ist möglicherweise, wie Håkanson ad loc. kommentiert, Rand- oder Supralinearkorrektur.

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2 suas. 2

Pro Sparta venimus, pro Graecia stemus: Für die Überzeugung, für ganz Griechenland zu kämpfen, vgl. ebenfalls Cornelius Hispanus in § 9: habetis consilium meum; id est autem meum quod totius Graeciae; Latro in § 4: si me quidem interrogatis, quid sentiam, ego in nostrum et in Graeciae patrocinium loquar: electi sumus, non relicti. Vincamus hostes, socios iam vicimus: Das Verb vincere wird hier im Sinne einer Distinctio verwendet, da es mit Bezug auf die Feinde „besiegen“, mit Bezug auf die Bundesgenossen „übertreffen“ bedeutet. Für das Stilmittel der Distinctio vgl. suas. 1,3 mit dem Kommentar zur Stelle: non magis quicquam ultra Alexandrum novimus quam ultra Oceanum. Sciat iste insolens barbarus nihil esse difficilius quam Laconis armati latus fodere: Für das Vertrauen auf die Kriegstüchtigkeit der Spartaner vgl. Cestius in § 5. Für insolens barbarus mit Bezug auf Xerxes vgl. Tuscus in § 22 und Curt. 3,10,8: Xerxis insolentia. Das Verb fodere ist wohl als Anspielung auf den Bau des Kanals durch die Athos-Halbinsel zu verstehen; vgl.Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: sed montes perforat. Kiessling (1872) 15 erwägt, diesen Satz hinter locus ceperit zu versetzen. Ob er ihn damit noch Pompeius Silos Exzerpten hinzufügt oder an den Anfang von Cornelius Hispanus’ Referat stellt, wird aus der Angabe in seinem Apparat nicht deutlich. Aus den Gründen, die wir bereits zuvor gegen Transpositionen innerhalb von Exzerpten geltend gemacht haben, verwerfen wir diese Umstellung wie alle Herausgeber nach Kiessling. Gertz (1879) 149 ergänzt hinter diesem Satz at ceteri fugere, um einen Zusammenhang zwischen diesem und dem folgenden Satz herzustellen. Diese Supplierung ist von keinem Herausgeber übernommen worden, hat jedoch Einfluß auf Winterbottom (1974) II 516 ausgeübt, der den Satz ceteri quidem fugerunt aus § 4 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) an diese Stelle transponiert. Auch diese beiden textkritischen Eingriffe weisen wir aus denselben Gründen zurück. Ego vero, quod discesserunt, gaudeo: liberas nobis reliquere Thermopylas: Der Deklamator macht wie Latro in § 4 und Blandus in § 8 aus der Not eine Tugend, indem er die Flucht der übrigen griechischen Kontingente als Vorteil ansieht; vgl. Latro, der ebenfalls mit der Kategorie des honestum argumentiert: si me quidem interrogatis, quid sentiam, ego in nostrum et in Graeciae patrocinium loquar: electi sumus, non relicti; Blandus, der mit der Kategorie des utile argumentiert: nunc me delectat quod fugerunt treceni; angustas mihi Thermopylas fecerunt. Müller (1887) 536, Bornecque (1902) II 304, Edward (1928) 8 und Zanon dal Bo (1988) 130 lesen mit der jüngeren Handschrift D treceni vor discesserunt. Wir halten diese Supplierung genauso wie diejenige von Köhler, der treceni hinter discesserunt ergänzt

2.2 Kommentar

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(vgl. Müller [1887] 536), für unnötig, da eindeutig ist, dass die geflohenen griechischen Kontingente gemeint sind. nil erit, quod virtuti nostrae se opponat, quod inferat; non latebit in turba Laco; quocumque Xerses aspexerit, Spartanum videbit: In diesem Satz wird deutlich, wie das Adjektiv liber im vorigen Satz aufzufassen ist: Die Spartaner allein werden die Meriten aus der Schlacht davontragen.Vgl. für diesen Gedanken Latro in § 4: latuisset virtus inter trecenos. Wie Bursian (1857) 12, Winterbottom (1974) II 516 und Håkanson (1989) 342 bewahren wir das überlieferte opponat, das einen guten Sinn ergibt, wenn man das Verb als Übertreibung ansieht (die übrigen Herausgeber lesen mit Ribbeck apponat), und supplieren nicht mit Ribbeck (vgl. Müller [1887] 536) se vor inferat, da das Reflexivpronomen ἀπὸ κοινοῦ steht. Vgl. für diesen Gebrauch des Reflexivpronomens u. a. folgende Parallele, die Thomas (1900) 188 anführt: contr. 10 praef. 7: non finivit tantum se ipse sed etiam sepelivit. Ob man mit A und B inferat oder mit V inserat lesen sollte, lässt sich nicht entscheiden (die modernen Herausgeber entscheiden sich für inserat). Anders als alle modernen Herausgeber lesen wir mit V Spartanum und nicht mit B2 Spartanos, da der Singular besser überliefert ist und das in A und B überlieferte Spartano vielleicht aus abgekürztem Spartanum entstanden ist. Für den kollektiven Singular vgl. Laco in demselben Satz und Marullus in § 5 mit dem Kommentar zur Stelle: munitas Thermopylas putavimus, cum relinqueremus illic Lacona. 8 Referam praecepta matrum, ‘aut in his aut cum his’?: Die Spartaner sollen entweder tot auf den Schilden oder siegreich mit den Schilden heimkehren, aber nicht besiegt ohne Schilde.Vgl. für diese Maxime und den Stellenwert des Schildes Plut. Apoph. Lac. 241F: ἄλλη [sc. Λάκαινα] προσαναδιδοῦσα τῷ παιδὶ τὴν ἀσπίδα καὶ παρακελευομένη ῾τέκνον’, ἔφη, ῾ἢ ταύταν ἢ ἐπὶ ταύτας᾿. ἄλλη προϊόντι τῷ υἱῷ ἐπὶ πόλεμον ἀναδιδοῦσα τὴν ἀσπίδα ῾ταύτανʼ, ἔφη, ῾ὁ πατήρ σοι ἀεὶ ἔσωζε καὶ σὺ οὖν ταύταν σώζε, ἢ μὴ ἔσοʼ. Der Konjunktiv referam hat hier wie im Folgenden dubitative Funktion. Minus turpe est a bello inermem reverti quam armatum fugere: Die Flucht in Waffen wird als schimpflichste Option dargestellt. Der in diesem Satz ausgedrückte Gedanke verhält sich folgendermaßen zum im vorigen Satz ausgedrückten Gedanken: Idealerweise kehrt man als Sieger oder Gefallener aus der Schlacht heim. Wenn beides nicht eintrifft, ist es immer noch besser, entwaffnet zurückzukehren, als bewaffnet zu fliehen. Die Abwägung in diesem Satz ist eine Abwägung zwischen schimpflichen Handlungsweisen (turpia). Das in A und B überlieferte fuge (statt fugere) ist wohl aufgrund von Haplographie (der nächste Satz beginnt mit referam) entstanden.

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Referam captivorum verba? captus Laco ‘occide’ inquit, ‘non servio’: Der Deklamator bezieht sich auf die Geschichten über Spartaner, die es vorgezogen haben, zu sterben anstatt zu dienen. Bornecque (1902) II 391 verweist auf Sen. epist. 77,14: Lacon ille memoriae traditur inpubis adhuc, qui captus clamabat ‘non serviam’ sua illa Dorica lingua, et verbis fidem imposuit: ut primum iussus est servili fungi et contumelioso ministerio – afferre enim vas obscenum iubebatur – illisum parieti caput rupit; Schott (vgl. Edward [1928] 107) auf Plut. Apoph. Lac. 233 B21; 234 D40; 235 B53; 219 B9. non potuit non capi, si fugere voluisset?: Der Sinn und die Textkonstitution v. a. des Hauptsatzes sind umstritten. Wir lesen wie Bursian (1857) 12 das überlieferte non potuit non capi, si fugere voluisset als Frage („Hätte er nicht der Gefangenschaft entgehen können, wenn er den Wunsch gehabt hätte zu fliehen?“): Der Spartaner hätte nicht in Gefangenschaft geraten müssen. Er hat sich aber dem Feind gestellt und in Gefangenschaft den Heldenmut besessen, die zitierten Worte zu sprechen, d. h. die Tatsache, dass er nicht geflohen ist, war die Voraussetzung für seinen Heldenmut. Also müssen die Spartaner bei den Thermopylen auch kämpfen und ihm als Vorbild nacheifern. Kiessling (1872) 16 liest denselben Wortlaut als Aussage („Es wäre ihm nicht möglich gewesen, der Gefangenschaft zu entgehen, wenn er den Wunsch gehabt hätte zu fliehen“). Gegen diese Deutung wendet Gertz (1879) 149 zu Recht ein, dass der Satz keinen Sinn ergibt. Otto (1885) 416, Müller (1887) 536, Winterbottom (1974) II 516, Zanon dal Bo (1988) 130 und Håkanson (1989) 342 lesen mit B2 und V non potuit capi, si fugere voluisset („Er hätte nicht in Gefangenschaft geraten können, wenn er den Wunsch gehabt hätte zu fliehen“). Der Sinn dieser Aussage ist mit dem Sinn der Frage, die wir an dieser Stelle annehmen, identisch – allerdings folgen wir den besseren Handschriften. Bornecque (1902) II 304 und im Anschluss an ihn Edward (1928) 9 stellen folgenden Satz her, der fast denselben Sinn ergibt: potuit non capi, si fugere voluisset („Es wäre ihm möglich gewesen, der Gefangenschaft zu entgehen, wenn er den Wunsch gehabt hätte, zu fliehen“). Gertz (s.o.) sieht den Sinn des Satzes darin, dass der Spartaner dafür kritisiert wird, dass er geflohen ist und sich hat gefangen nehmen lassen. Er schlägt vor, non potuit capi, nisi fugere voluisset zu lesen. Dieser textkritische Eingriff ist jedoch auch deshalb fragwürdig, weil ihm die Überzeugung zugrunde liegt, dass man nur auf der Flucht gefangen werden kann. Describite terrores Persicos; omnia ista, cum mitteremur, audivimus: Der Deklamator weist ein Argument zurück, indem er darauf hinweist, dass der Schrecken, den die Perser einflößen, die Spartaner nun nicht mehr tangieren kann, da sie davon schon bei ihrer Entsendung aus Sparta gehört haben. Für die Aufforderung, eine Beschreibung zu liefern (describite), vgl. suas. 3,2: describe

2.2 Kommentar

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nunc tempestatem. Da sie die Funktion hat, ein Gegenargument zu benennen und anschließend zu widerlegen, ist sie mit den zitierten Einwänden vergleichbar, die beispielsweise Fuscus (§ 1) und Triarius (§ 3) in derselben Absicht benutzen; vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit. Videat trecentos Xerses et sciat, quanti bellum aestimatum sit, quanto aptus numero locus: Auch in diesem Satz werden Argumente benutzt, die in der Refutatio ihren Platz haben: Die numerische Überlegenheit der Perser ist nur scheinbar ein Vorteil, da die Spartaner qualitativ durch ihre Elitesoldaten bevorzugt sind und quantitativ deshalb nicht benachteiligt sind, weil die Thermopylen nur für wenige Soldaten Platz bieten. Für das Selbstverständnis der Spartaner vgl. Latro in § 4: electi sumus, non relicti. Für das geographische Argument vgl. Fuscus in § 1 und Pompeius Silo in § 7 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle: Xerses multos secum adducit, Thermopylae paucos recipiunt. Gertz (1879) 150 transponiert diesen Satz ohne Grund vor descriptio Thermopylarum weiter unten (vgl. unsere vorigen Einwände gegen Transpositionen innerhalb von Exzerpten S. 246 und 252 f.). Revertamur ne nuntii quidem nisi novissimi?: „Sollen wir nicht einmal als Boten zurückkehren außer als letzte?“ Gemeint ist mit dieser indignierten Frage, dass bereits die anderen Griechen als Boten in der Heimat fungieren und die Spartaner die letzten Boten wären, ohne dass sie mehr Informationen als die übrigen Kontingente mitteilen könnten. Daher ist Cestius’ sarkastische Bemerkung in § 6 nur insofern vergleichbar, als dort ebenfalls der Gedanke, dass die Spartaner in ihrer Heimat als Boten fungieren, vorliegt: videamus, quanta turba sit, ut habeat certe Sparta etiamsi non fortes milites at nuntios veros. Alle Übersetzer mit Ausnahme von Adiego Lajara (et al.) (2005) 289 fassen den Konjunktiv revertamur hortativ auf; vgl.Winterbottom (1974) II 517: „let us not return even to tell the tale – unless we are the last“. Unter dieser Prämisse erklärt Edward (1928) 107 den Sinn des Satzes durch die Worte „the point being that the latest news is best (as most reliable)“. Wie jedoch Håkanson ad loc. kommentiert, wäre eine derartige Aufforderung unsinnig, da die Spartaner schon die letzten Boten sind (die anderen Griechen sind bereits geflohen). Zudem widerspricht diese Aufforderung dem Argumentationsziel. Daher ist der Konjunktiv in revertamur als Coniunctivus indignationis (vgl. K.-St. II 1, S. 182) aufzufassen und – wie es unter den Herausgebern nur Håkanson (1989) 342 tut – ein Fragezeichen am Ende des Satzes zu setzen. Quis fugerit, nescio; hos mihi Sparta commilitones dedit: Wie im vorigen Satz videat trecentos Xerses et sciat, quanti bellum aestimatum sit, quanto aptus numero locus kommt auch in dieser Sentenz die Absicht zum Vorschein, die Flucht der

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anderen griechischen Kontingente nicht als Schwächung erscheinen zu lassen. Nescio bedeutet hier soviel wie nihil refert, da der Deklamator zwar weiß, welche griechischen Kontingente geflohen sind, deren Flucht aber für unerheblich erachtet. Genauso wie andere Deklamatoren auch vertraut Blandus auf die außergewöhnliche Kriegstüchtigkeit der Spartaner; vgl. z. B. Triarius in § 3: ad certam victoriam omnes remansissent, ad certam mortem tantum Lacones; Marullus und Cestius in § 5; Cornelius Hispanus in § 7. Descriptio Thermopylarum: Seneca d.Ä. informiert uns darüber, dass Blandus die Thermopylen beschrieben hat, ohne dass er diese Beschreibung wiedergibt. Wie Edward (1928) 107 bemerkt, liegt die Funktion dieser Angabe, die Schott irritiert hat, darin, dass der Kontext genannt wird, in dem die folgende Sentenz gesprochen wurde. In dieser Funktion benutzt Seneca d.Ä. auch contr. 1,4,2 eine derartig knappe Angabe: descriptio pugnantis viri fortis. Ansonsten finden sich solche Angaben vornehmlich in der divisio; vgl. suas. 1,10: hic difficultatem navigationis; […] hic matrem; 3,4: hic communem locum dixit in omnes qui hanc adfectarent scientiam; contr. 1,6,8: hic de meritis puellae et moribus. nunc me delectat, quod fugerunt treceni; angustas mihi Thermopylas fecerunt: Auch Cornelius Hispanus gibt in § 7 der Flucht der übrigen griechischen Kontingente eine positive Wendung, argumentiert jedoch mit der Kategorie des honestum, nicht des utile (s. Kommentar zur Stelle): ego vero, quod discesserunt gaudeo: liberas nobis reliquere Thermopylas. Für die Enge der Thermopylen vgl. Pompeius Silo in § 7 mit dem Kommentar zur Stelle und weiter oben: sciat [sc. Xerses] […] quanto aptus numero locus. Bursian (1857) 12, Kiessling (1872) 16, Bornecque (1902) II 304, Zanon dal Bo (1988) 130 und Håkanson (1989) 342 lesen mit der jüngeren Handschrift T fecerant anstelle des in den besten Handschriften überlieferten fecerunt. Diese Entscheidung ist entweder darauf zurückzuführen, dass die genannten Herausgeber bzw. Übersetzer einen irrealen Sinn annehmen (vgl. Bornecque [s.o.]; Håkanson ad loc. erklärt fecerant durch sc. si remansissent), oder darauf, dass sie eine Vorzeitigkeit zu fugerunt herstellen (vgl. Zanon dal Bo; O. & E. Schönberger [2004] 282). Wir halten die Bevorzugung des Plusquamperfektes aus dem einen wie aus dem anderen Grund für unberechtigt und lesen wie Müller (1887) 537 und Winterbottom (1974) II 516 das Perfekt. Die anderen griechischen Kontingente „haben die Thermopylen eng gemacht“, als sie noch da waren. 9 Contra: Hier beginnen die Exzerpte aus den Suasorien, in denen die Deklamatoren für eine Flucht der Spartaner plädieren. Innerhalb der Suasoriensammlung ist dies die einzige Stelle, an der auch Äußerungen der Gegenseite referiert werden. Dass Seneca d.Ä. sowohl das Pro als auch das Contra darstellt, ist

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jedoch in der Kontroversiensammlung das Übliche. Dort werden die Referate der Gegenseite i. d. R. durch die Worte pars altera (vgl. z. B. contr. 1,1,11) oder ex altera parte (vgl. z. B. contr. 1,3,7) eingeleitet. Contra kommt nur noch contr. 9,3,6 in dieser Verwendungsweise vor; dort handelt es sich um eine plausible Transposition von Müller (1887) 397. CORNELI HISPANI: Nachdem in § 7 Exzerpte aus einer Deklamation des Cornelius Hispanus wiedergegeben wurden, in der er gegen die Flucht der Spartaner gesprochen hat, wird nun aus einer Deklamation zitiert, in der er sich für die Flucht ausspricht. Dass Deklamatoren (wohl bei verschiedenen Anlässen) beide Seiten vertreten, ist ein häufiger vorkommendes Phänomen. So sind uns z. B. in der Kontroversie 1,6 Exzerpte aus Cestius’ Deklamationen sowohl für die eine als auch für die andere Seite überliefert (contr. 1,6,1 und 7). In der Suasoriensammlung vgl. suas. 6,11– 14, wo aus zwei Deklamationen des Varius Geminus zitiert bzw. über sie berichtet wird, in denen er beide Argumentationsziele verfolgt.Vgl. auch or. 5 und 6 des Aristides und decl. 1 und 2 des Chorikios (s. unseren Überblick über die antike Suasorie, S. 80 f. und 88 f.). At ego maximum 〈video〉 dedecus futurum rei publicae nostrae, si Xerses nihil prius in Graecia vicerit quam Laconas: Während andere Deklamatoren von der Kategorie des honestum Gebrauch machen, um die Spartaner zum Verbleiben zu überzeugen, tut Cornelius Hispanus dies, um eine Flucht zu begründen, indem er die wahrscheinliche Niederlage in den Blick nimmt. Das supplierte Prädikat video (B2) wird von allen modernen Herausgebern in den Text gesetzt. Auch in unseren Augen ist es dem in der jüngeren Handschrift D hinter nostrae ergänzten arbitror und Haases Konjektur puto anstelle von ego (vgl. Müller [1887] 537) vorzuziehen. Denn vi- kann nach dem -um aus maximum ebenso leicht ausgefallen sein wie -deo vor dem de- aus dedecus, wie Håkanson ad loc. kommentiert. Daher ist Watts (1984) 103 Ansicht zurückzuweisen, dass dieses oder ein anderes auf -o endendes Verb aus paläographischen Gründen hinter ego ergänzt werden muss. Ferner scheint uns Lindes (1925) 121 Konjektur iudico anstelle von video unnötig zu sein. Ne testem quidem virtutis nostrae habere possumus; id de nobis credetur, quod hostes narraverint: Für den Gedanken, dass man durch eine Niederlage zum Gegenstand der feindlichen Geschichtsschreibung wird,vgl. Himerios, or. 5,3: ἀλλʼ οὐδὲν ἐᾷς ἀκίνητον, ἵνα ἓν γένηται τῶν Μηδικῶν διηγημάτων ἡ πόλις ἡ Ἀθηναίων.

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Habetis consilium meum; id est autem meum, quod totius Graeciae: Vgl. die Äußerung desselben Deklamators in § 7: pro Sparta venimus, pro Graecia stemus und Latro in § 4: ego in nostrum et in Graeciae patrocinium loquar. Im Gegensatz zu jenen Äußerungen geht es hier jedoch nicht um die Ehre, für ganz Griechenland zu kämpfen, sondern darum, dass die übrigen griechischen Kontingente dieselbe Meinung vertreten wie der Deklamator. Ihre Meinung haben sie kundgetan, indem sie geflohen sind. si quis aliud suadet, non fortes vos vult esse sed perditos: Die den Äußerungen von vielen Deklamatoren unterliegende Vorstellung, dass es ein Zeichen der Tapferkeit ist, gegen die Perser zu kämpfen und wahrscheinlich den Tod zu finden, weist Cornelius Hispanus zurück. Die Korrektur vult (B2) wird von allen modernen Herausgebern in den Text gesetzt, da sie wahrscheinlich den ursprünglichen Wortlaut darstellt, der zu ut (AB) verschrieben wurde. Das in V hinter perditos überlieferte gaudet ist vermutlich als Ergänzung eines Verbs anzusehen. Non vincent nos, sed obruent: Der Deklamator meint, dass die Perser aufgrund ihrer militärischen Übermacht die Spartaner vernichtend schlagen werden. Vgl. den vorigen Satz von Cornelius Hispanus und v. a. Sen. benef. 6,31,2: nihil esse dubii quin illa mole non vinci solum Graecia sed obrui posset. satis fecimus nomini, ultumi cessimus: Diese Ansicht steht im Gegensatz zu Argumenten, die diejenigen Deklamatoren benutzen, die sich gegen die Flucht aussprechen. So behaupten Fuscus in § 1 und Latro in § 4, dass das Ansehen Spartas bereits durch die Erwägung der Flucht Schaden genommen hat; vgl. Latro: multum […] nomini nostro detractum est: iam Lacones, an fugeremus, deliberavimus. Und die Tatsache, dass die Spartaner als Letzte fliehen würden, wird von Blandus in § 8 so ausgelegt, dass sie schimpflicherweise als letzte Boten dienen würden: revertamur ne nuntii quidem nisi novissimi? Wie alle Herausgeber seit Kiessling (1872) 16 übernehmen wir dessen (1864) 40 einfache Konjektur cessimus anstelle von gessimus und lesen das in A überlieferte ultumi. Das Perfekt cessimus ist wohl so aufzufassen, dass die Spartaner in der Lage sein werden zu sagen „wir sind als Letzte gewichen“.Vgl. den ähnlichen Gebrauch des Perfekts invenerit in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: moriamur trecenti, ut hic primum invenerit, quod mutare non posset. Für die Verschreibung von cessimus vgl. das Vergilzitat in § 20, wo in A und B gessatum statt cessatum überliefert ist. ante nos rerum natura victa est: Auch dieser Deklamator verweist auf den Bau des Kanals durch die Athos-Halbinsel und die Überquerung der Dardanellen mittels einer Schiffsbrücke; vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: sed

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montes perforat, maria contegit. Für den Eingriff in die Natur vgl. ib.: rerum naturam statione mutavit sua [sc. Xerxes].

Die divisio (10 – 11a) Wie in der ersten Suasorie steht vor der eigentlichen divisio (hier ab § 11) eine Vorbemerkung. Diese hat hier jedoch einen anderen Charakter als dort (suas. 1,5 – 7), da dort Hinweise gegeben werden, wie die Suasorie zu halten ist, d. h. es werden rhetorische Instruktionen gegeben, die eng mit der divisio verknüpft sind. An dieser Stelle legt Seneca d.Ä. Rechenschaft darüber ab, warum er diese Suasorie in seine Sammlung aufgenommen hat. Da der Grund hierfür in dem besonderen Reiz von Fuscus’ Äußerungen und nicht – wie Seneca d.Ä. betont – in der Schwierigkeit der Suasorie liegt, hat diese Vorbemerkung kaum einen Berührungspunkt mit der divisio. Huius suasoriae feci mentionem, non quia in ea subtilitatis erat aliquid, quod vos excitare posset, 〈sed〉 ut sciretis, quam nitide Fuscus dixisset vel quam licenter: Seneca d.Ä. spielt in dieser Anrede an seine Söhne (und indirekt an einen weiteren Adressatenkreis) auf Fuscus’ Äußerungen an, die er in den ersten beiden Paragraphen wiedergibt. Der Indikativ im non quia-Satz spricht der Regelgrammatik zufolge dafür, dass nach Meinung des älteren Seneca diese Suasorie zwar subtilitas impliziert, die subtilitas aber nicht der Grund für die Aufnahme in die Suasoriensammlung war. Der Konjunktiv hingegen würde ausdrücken, dass diese Suasorie keine subtilitas enthält (vgl. K.-St. II 2, S. 385 – 387). Wir glauben jedoch, dass hier eine Ausnahme von der soeben formulierten Regel vorliegt, wie es auch an mehreren Stellen bei Livius der Fall ist, die Kühner und Stegmann anführen (ib. S. 386 f.; z. B. Liv. 8,19,3). Denn es ist eher davon auszugehen, dass Seneca d.Ä. meint, dass dieses Suasorienthema im Vergleich zu anderen Deklamationen keine subtilitas verlangt (so versteht auch Fairweather [1981] 154 die Stelle), wie sie in den Kontroversien, die generell als schwieriger galten (vgl. Tac. dial. 35,4), oder in der ersten Suasorie gefordert wird, in der der Adressat der Suasorie (Alexander) besonders berücksichtigt werden muss (vgl. suas. 1,5 – 7). Ferner spricht auch die Aussage in § 11 divisione autem in hac suasoria Fuscus usus est illa volgari […] dafür, dass diese Suasorie weniger schwierig ist, da man sie anhand eines Standardmusters deklamieren konnte. Schließlich kommt bei dieser Suasorie eine mögliche Schwierigkeit gar nicht in Betracht, nämlich dass man eine bestimmte überlegende Person verkörpert (s. S. 5 – 7). Für die Adressierung an die Söhne (vos) vgl. §§ 17; 22 f. und die Praefationes zu den Kontroversienbüchern. Das Substantiv subtilitas bezieht sich auf die Argumentation. Bardon (1940) 56 un-

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terscheidet zwischen zwei Bedeutungen von subtilitas im Werk des älteren Seneca, nämlich zwischen „Präzision“ (contr. 1 praef. 21) und „Finesse“ (an dieser Stelle). Wichtiger als der Bedeutungsunterschied ist jedoch der unterschiedliche Bezug des Wortes, da es sich in der Praefatio zum ersten Kontroversienbuch auf den Deklamator Latro bezieht, den Seneca d.Ä. gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, dass er die Tugend der subtilitas nicht besessen habe. Mit Bezug auf eine Person scheinen uns die beiden vorgeschlagenen Bedeutungen angemessen zu sein. Mit Bezug auf eine Deklamation, wie es hier der Fall ist, scheint uns „Schwierigkeit“ die beste Übersetzung zu sein. Das stilkritische Adverb nitide benutzt Seneca d.Ä. nur an dieser Stelle (das Adjektiv wird nirgends verwendet). Auffälligerweise gebraucht er auch das Verb nitere nur an einer Stelle (vgl. Bardon [1940] 43), und zwar dort, wo er Fuscus’ Stil beschreibt (contr. 2 praef. 1): in descriptionibus extra legem omnibus verbis, dummodo niterent, permissa libertas. Dass auch an dieser Stelle v. a. an Fuscus’ Beschreibungen gedacht ist, wird aus dem Begriff explicationes im nächsten Satz deutlich (s. die folgende Anmerkung). Und beide Male wird dasselbe Gegenspiel ausgedrückt: Fuscus verwendet zwar glanzvolle Beschreibungen, kennt aber kein Maß, d. h. licenter entspricht permissa libertas. Für dieses stilkritische Adverb vgl. contr. 2,2,7 und 12; Bardon (1940) 40. Bei sed handelt es sich um eine Ergänzung, die sich in den Recentiores findet und von allen Herausgebern übernommen wird, da der Gegensatz zu non quia sonst nicht ausgedrückt wäre (vgl. K.-St. II 2, S. 385). Hinter posset kann das Wort leicht ausgefallen sein (Haplographie). ipse sententiam feram: vestri arbitrii erit, utrum explicationes eius luxuriosas putetis an ut poet〈ic〉as: Das Substantiv explicatio übersetzt Bardon (1940) 31 behelfsmäßig mit „développement“ (vgl. Winterbottom [1974] II 519: „developments“; O. & E. Schönberger [2004] 283: „Darlegungen“). Wie jedoch aus dem folgenden descriptiunculas, suas. 3,7 und contr. 7,1,27 hervorgeht, handelt es sich um ein Synonym für descriptio. Der Satz enthält zwei textkritische Probleme, die seinen Sinn entscheidend beeinflussen. Zum einen ist fraglich, ob ipse sententiam feram gelesen werden kann oder ob mit Schulting (vgl. Müller [1887] 537) non ergänzt werden muss. Zum anderen ist der Schluss des Satzes korrupt überliefert. Mit Blick auf das erste Problem halten wir anders als die bisherigen Herausgeber eine Supplierung von non für unnötig, ja sogar problematisch. Denn es ist nicht so, dass nur durch die Ergänzung der Negation an dieser Stelle ein sinnvoller Gegensatz zwischen ipse sententiam feram und vestri arbitrii erit entsteht: Seneca d.Ä. hat sein Urteil über Fuscus’ explicationes gefällt und wird es in § 23 bekannt geben: quarum [sc. explicationum Fusci] nimius cultus et fracta compositio poterit vos offendere, cum ad meam aetatem veneritis. Die Söhne des älteren Seneca müssen noch entscheiden, ob sie sich dem Urteil ihres Vaters anschließen. Die

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Ergänzung von non würde einen Widerspruch zu § 23 erzeugen. Auch der Vorschlag, hinter feram ein Fragezeichen zu setzen, wie es Decker (1912) 12 vorschlägt, ist daher als unnötig zurückzuweisen. Das Ende des Satzes ist korrupt überliefert, da keine der Lesarten ut petas (A), ut poetas (B) und ut poeta (V) einen Sinn ergibt. Kiessling (1872) 16 liest mit Bursian (1869) 5 und Madvig ut luxuriosas vituperetis an ut vegetas laudetis. Müller (s.o.) folgt Gertz’ (1879) 150 Vorschlag, luxuriosas putetis an vegetas zu lesen. Bursian (1857) 13 und Håkanson (1989) 343, der in seinem Apparat erwägt, ut zu tilgen und locupletes zu lesen, setzen Cruces. Ad loc. macht Håkanson zwei Bemerkungen zu diesem Problem, nämlich dass man ein positives Gegenstück zu luxuriosas erwartet und dass die Lesarten wohl aufgrund von Dittographie von putetis entstanden sind. Jedoch scheint die einfache Konjektur ut poeticas einen sinnvollen Text herzustellen, so dass die Annahme einer Dittographie vielleicht nicht notwendig ist. Die Form poeticas war bereits Bestandteil von anderen Emendationen, die uns aber insgesamt schwieriger erscheinen: Gruter hat vorgeschlagen, poeticas, ut zu lesen (vgl. Müller [s.o.] 537 f.), wodurch er eine Verknüpfung zum nächsten Satz herstellt. Bursian (1869) 5, dem Kiessling teilweise gefolgt ist (s.o.), hat die Emendation ut luxuriosas vituperetis an ut poeticas laudetis (oder probetis) vorgeschlagen. Für ut, das einen Ausdruck entschuldigt („gleichsam“, „gewissermaßen“), vgl. OLD s.v. ut 8c; Varro ling. 8,45: primum genus est infinitum, secundum ut infinitum, tertium ut effinitum, quartum finitum; Curt. 5,4,24: rami alius alio inplicati et cohaerentes ut perpetuam obiecerant saepem. Die anstelle von poeticas überlieferten Formen sind wahrscheinlich aus einer Abkürzung des Wortes entstanden. Pollio Asinius aiebat hoc non esse suadere sed lascivire: Anstelle seines eigenen Urteils über Fuscus’ Deklamationsstil, das Seneca d.Ä. in § 23 äußert, zitiert er zunächst die Meinung des Asinius Pollio: Fuscus hält – zumindest, was die Beschreibungen betrifft – keine Suasorie, d. h. eine in Prosa verfasste Rede, sondern wählt eine Ausdrucksform, die die Grenzen zur Dichtung überschreitet. Das Ende des Satzes ist Gegenstand vielfältiger Heilungsversuche gewesen. In den besten Handschriften ist inscividere hinter suadere überliefert. Die Recentiores überliefern scividere (T) bzw. sed invidere (Dτ). Invidere scheint aber an dieser Stelle keinen Sinn zu ergeben, da es vielleicht ein mißgünstiges Urteil über Fuscus bezeichnet, sich aber nicht – wie suadere – auf dessen Deklamieren bezieht. Bursian (1857) 13 setzt zwar Cruces, schlägt aber (1869) 5 wie Schott (vgl. Müller [1887] 538) sed irridere vor, das wenig sinnvoll erscheint.Vahlen (1858) 546 bezieht den textkritisch umstrittenen Beginn des nächsten Satzes mit in die Überlegung ein und meint, dass inscividere (er liest wie alle Herausgeber vor Håkanson [1989] 343 iscividere) aus isci-, videre, das als Dittographie von suadere anzusehen und zu tilgen ist, und -ve besteht. Daher emendiert er iscive zu scire und liest als Anfang

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eines neuen Satzes scire vos volo. Kiessling (1872) 17 sieht das gesamte inscividere als Dittographie von suadere an und tilgt es. Müller (1887) 538 liest mit Gertz (1879) 150 sed ludere. Håkanson (1989) 343 liest mit Hoffa (1909) 30 sed lascivire. Dies scheint in der Tat der beste Emendationsvorschlag zu sein. Für lascivire als Fehler bei der Beschreibung innerhalb einer Rede vgl. Quint. inst. 2,4,3: [sc. admonere sat est, ne narratio] arcessitis descriptionibus, in quas plerique imitatione poeticae licentiae ducuntur, lasciviat. recolo nihil fuisse me iuvene tam notum quam has explicationes Fusci, quas nemo nostrum non alius alia inclinatione vocis velut sua quisque modulatione cantabat: Seneca d.Ä. bestätigt indirekt die Meinung des Asinius Pollio, dass Fuscus’ Beschreibungen die Schwelle zwischen Prosa und Dichtung verwischen, indem er darauf hinweist, dass sie durch ihre rhythmische Struktur zum Nachsingen einladen. Für das Phänomen, dass fremde Prosatexte gesungen wurden, vgl. Tac. dial. 26,2 f.: Neque enim oratorius iste, immo hercule ne virilis quidem cultus est, quo plerique temporum nostrorum actores ita utuntur, ut lascivia verborum et levitate sententiarum et licentia compositionis histrionalis modos exprimant. Quodque vix auditu fas esse debeat, laudis et gloriae et ingenii loco plerique iactant cantari saltarique commentarios suos. Für das Phänomen, dass man pathetische Teile der eigenen Rede im Sprechgesang vortrug, vgl. Quint. inst. 1,10,25: Atqui in orando quoque intentio vocis, remissio, flexus pertinet ad movendos audientium adfectus, aliaque et conlocationis et vocis, ut eodem utar verbo, modulatione concitationem iudicis, alia misericordiam petimus, cum etiam organis, quibus sermo exprimi non potest, adfici animos in diversum habitum sentiamus. Zum Sprechen von Versen und Prosatexten vgl. einen bald erscheinenden Aufsatz von Thorsten Burkard. Zur Musik in der Augusteischen Zeit generell (nicht zum Nachsingen von Prosapassagen) vgl. Wille (1977) 122– 147. Die inclinatio vocis bezeichnet das Steigen und Sinken der Tonhöhe; vgl. Cic. Brut. 158; Quint. inst. 11,3,168. Die modulatio bezieht sich auf den Rhythmus, der sich aus der Folge von unterschiedlichen Tonhöhen ergibt; das Wort wird an dieser Stelle und bei Vitruv (z. B. 5,4,3) zum ersten Mal in der lateinischen Literatur benutzt (vgl. Sander [1877] 4). Eine Vorstellung von Fuscus’ nahezu dichterischer Ausdrucksweise gewährt uns Schott, der deutlich macht, dass der Anfang von Fuscus’ Beschreibung in § 1 mit wenigen Modifizierungen einen Hexameter ergibt: armaque non passura manus hebetataque ferri / corpora vulneribus. Jedoch spricht diese Tatsache wohl nicht dafür, dass Fuscus einen alten Dichter imitiert, wie Schott annahm, sondern es handelt sich, wie Schulting richtig sah, um ein Beispiel für Fuscus’ außergewöhnliche Beschreibungen (vgl. Edward [1928] 101). Den Anfang des Satzes hat Bursian (1869) 5 hergestellt, indem er das sinnlose vevolo wie Madvig zu recolo und et iuvenet anno tam zu me iuvene tam notum emendierte. Das

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Verb recolere ist in der Bedeutung „sich erinnern“ seit Cicero (Phil. 13,45) und Ovid (epist. 5,113) belegt. Der nominale Ablativus absolutus me iuvene ist wohl auch in § 17 zu lesen (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Inhaltlich wird Bursians Emendation auch durch die Aussagen in § 23 gestützt. Wie alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Kiessling (1872) 17 lesen wir mit den Recentiores alius, da das in den besten Handschriften überlieferte alios keinen Sinn ergibt. Kiessling liest mit Haase alias. at quia semel in mentionem incidi Fusci, ex omnibus suasoriis celebres descriptiunculas subtexam, etiamsi nihil occurrerit, quod quisquam alius nisi suasor dilexerit: Seneca d.Ä. äußert hier seinen Plan, in den folgenden Suasorien vornehmlich Fuscus’ Beschreibungen zu zitieren. Diese Absicht wird er zumindest teilweise erfüllen, da er in den kurzen Suasorien 3, 4 und 5 jeweils am Anfang aus Fuscus’ Deklamationen zitiert (suas. 3,1; 4,1– 3; 5,1 f.). In der vierten Suasorie referiert er sogar fast ausschließlich Fuscus’ Beschreibung bzw. schildert in der divisio, wie dieser die Suasorie deklamiert hat, und fügt nur am Ende eine Sentenz eines anderen Deklamators an. Für den Ausdruck in mentionem incidere vgl. Cic. div. in Caec. 50. Das Diminutiv descriptiuncula findet sich in der gesamten lateinischen Literatur nur an dieser Stelle; vgl. ThLL V 1,667,42 f. und Sander (1877) 4. Für subtexere mit Bezug auf Literatur vgl. contr. 1 praef. 22: interponam itaque quibusdam locis quaestiones controversiarum […] nec his argumenta subtexam. Håkanson (1989) 343 und ad loc. ergänzte ordine zwischen ex und omnibus, da ihn die Bedeutung bzw. der Bezug von ex omnibus suasoriis irritierte. Edwards (1928) 50 Übersetzung „from all his suasoriae“ hielt er zu Recht für problematisch, da Fuscus sicherlich mehr Suasorien gehalten habe, als Seneca d.Ä. uns überliefert. Gegen einen Bezug auf die folgenden Suasorien spricht in Håkansons Augen der Sinn; vgl. Håkanson ad loc.: „Aus allen (diesen) werde ich Fuscus’ descriptiunculae gerade denselben Suasoriae zufügen“. Hier liegt unserer Meinung nach Håkansons Missverständnis, da subtexam nicht sc. omnibus suasoriis, sondern sc. huic suasoriae bedeutet: Seneca d.Ä. hat nicht vor, Fuscus’ Beschreibungen jeder Suasorie hinzuzufügen, der sie entstammen, sondern er möchte sie im Anschluss an diese Suasorie referieren (vgl. auch § 23: sed ne vos diutius infatuem, quia dixeram me Fusci Arelli explicationes subiecturum, finem suasoriae faciam). Gertz’ (1888) 297 Interpunktion hinter in mentionem incidi, das er als [sc. harum explicationum] versteht, und der Bezug von Fusci auf ex omnibus suasoriis ist aus dem oben genannten Grund zurückzuweisen, dass Fuscus sicherlich mehr Suasorien gehalten hat, als Seneca d.Ä. uns überliefert. Håkansons (1989) 343 Änderung des Satzendes (er liest – ähnlich wie Madvig – in his suasoriis dixerit statt nisi suasor dilexerit) ist ebenso unnötig, da das an dieser Stelle geäußerte kritische Urteil über Fuscus’ Beschreibungen mit seinem an anderen Stellen (§ 23;

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contr. 2 praef. 1) geäußerten Urteil übereinstimmt. Ferner sind die Begriffe diligere (statt amare, placere o. ä.) und suasor, an denen Håkanson ad loc. Anstoß nimmt, kein hinreichender Grund für einen textkritischen Eingriff, auch wenn wir für diligere mit Bezug auf Literatur keine zufriedenstellende Parallele gefunden haben (der Thesaurus verzeichnet mit Bezug auf Sachen [ThLL V 1,1180,27– 1181,8] nur eine annähernde Parallele, nämlich mit dem Objekt ingenia poetarum: Cic. Sest. 123). Das Substantiv suasor im technischen Sinne „Deklamator einer Suasorie“ ist zwar nur an dieser Stelle belegt; in der allgemeineren Bedeutung „Ratender“ wird es jedoch schon von Cicero verwendet (z. B. Phil. 1,8). Ähnlich wird contr. 2,5,15 der Begriff divisor erstmals technisch im Sinne eines Deklamators verwendet, der eine Kontroversie in ihre quaestiones unterteilt, wenngleich das Wort seit Cicero belegt ist (z. B. Phil. 5,20). 11 Divisione autem 〈in〉 hac suasoria FVSCVS usus est illa volgari, ut diceret non esse honestum fugere, etiam si tutum esset: Hier beginnt das Referat der eigentlichen divisio (s. Kommentar zu § 10). Die Bezeichnung volgaris deutet darauf hin, dass Fuscus eine Standardeinteilung benutzt, die häufig in Suasorien verwendet wird, in denen eine Flucht zur Debatte steht, und von der wohl mehrere Deklamatoren in dieser Suasorie Gebrauch gemacht haben. Sie besteht aus einer bestimmten Verknüpfung der Kategorien des honestum und des utile: Zunächst sagt der Deklamator, dass eine Flucht schimpflich ist – unabhängig davon, ob sie nützlich ist. Dann behauptet der Deklamator, dass vom Standpunkt des utile Flucht und Kampf in gleichem Maße ratsam sind. Schließlich gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass eine Flucht (vom Standpunkt des utile) sogar schlechter ist (s. die folgenden Anmerkungen). Was die ersten beiden Schritte betrifft, wird die Vorgehensweise, ein Argument zunächst unentschieden zurückzustellen und anschließend zur Stärkung der Argumentation zu benutzen, auch in anderen Suasorien deutlich (s. die allg. Einleitung: „Die Argumentation“, S. 64– 66). Dem ersten, d. h. dem honestum-Argument, dienen gewiss Fuscus’ Äußerungen, die Seneca d.Ä. in den ersten beiden Paragraphen wiedergibt und in denen wiederholt das Wort pudet fällt. Für tutum als Subkategorie des utile vgl. das entsprechende sine periculo Quint. inst. 3,8,27 und periculosum im folgenden Satz. Für volgaris zur Bezeichnung einer Standardvorgehensweise vgl. contr. 1,8,7: prima quaestio illa ab omnibus facta est vulgaris; vgl. auch calcatus in derselben Funktion 10,3,7: Latro usus est in hac controversia illa calcata quaestione […]. deinde, aeque periculosum esse fugere et pugnare: In einem zweiten Schritt wird die Kategorie des utile untersucht, die zunächst außer Acht gelassen wurde. Die Ansicht, dass es im gleichen Maße gefährlich ist, zu fliehen oder zu kämpfen, erklärt sich wohl dadurch, dass die Wahrscheinlichkeit, auf der Flucht getötet zu

2.2 Kommentar

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werden, genauso groß ist wie diejenige, in der Schlacht zu fallen. Håkanson (1989) 343 ist der einzige Herausgeber, der das überlieferte periculum liest. Ad loc. führt er Belege bei Plautus für periculum est mit dem Infinitiv an (Plaut. Aul. 235; Poen. 633 f.). Jedoch ist nicht nur die Konstruktion mit dem Infinitiv problematisch, sondern auch der Ausdruck aeque est, der bei dieser Textkonstitution soviel wie „es ist gleich groß“ bedeuten muss,wofür wir keine Belege gefunden haben. Daher lesen wir mit der Editio Hervageniana (1557) periculosum. Novák (1908) 264 hält es für einen „unerträglichen Widerspruch“, dass der Deklamator erst sagt, dass es im gleichen Maße gefährlich ist, zu fliehen und zu kämpfen, und dann anfügt, dass die Flucht gefährlicher ist. Daher schlägt er vor, deinde, utrumque periculosum esse, et fugere et pugnare zu lesen. Wohl aus demselben Grund hatte Gertz (1879) 150 certe vor aeque ergänzt. Es handelt sich aber nicht um einen Widerspruch, sondern um eine bewusste Steigerung der Argumentation (s. die vorige und die folgende Anmerkung). novissime, periculosius esse fugere: pugnantibus hostes timendos, fugientibus et hostes et suos: Das Adjektiv periculosus deutet darauf hin, dass wiederum mit der Kategorie des utile argumentiert wird: Das Argument, dass die Fliehenden auch ihre eigenen Leute fürchten müssen, ist entweder so aufzufassen, dass sie sich bei der Flucht gegenseitig behindern würden, eher aber so, dass sie in der Heimat bestraft werden würden. Bei periculosius handelt es sich um eine Konjektur von Schulting (vgl. Müller [1887] 538), die wir wie alle modernen Herausgeber übernehmen, da der Genetiv periculorum (AB) keinen Sinn ergibt und der Positiv periculosum (V) keinen neuen Gedanken einführen würde. CESTIVS primam partem sic transit, quasi nemo dubitaret, an turpe esset fugere: Cestius behandelt die von Fuscus zunächst gestellte Frage, ob die Flucht schimpflich ist, nur kursorisch, da dies für alle festzustehen scheint. Vgl. die Sentenz desselben Deklamators in § 5: quam turpe esset fugere, iudicastis, Lacones, tam diu non fugiendo. Dass transire hier „kursorisch behandeln“ (vgl. O. & E. Schönberger [2004] 283: „behandelte […] rasch“; OLD s.v. transeo 9b) und nicht – wie Winterbottom (1974) II 519 übersetzt – „übergehen“, „auslassen“ heißt, geht aus dem folgenden deinde illo transit hervor, wo das Verb „übergehen zu“ bedeutet. Für das Substantiv pars und das Verhältnis zu quaestio vgl. suas. 6,8 mit dem Kommentar zur Stelle. Die Verbindung eines negierten Ausdrucks des Zweifelns mit an (statt quin) ist selten und an dieser Stelle und contr. 7,3,5 zum ersten Mal belegt (vgl. ThLL V 1,2089,13 – 28). Bei transit handelt es sich hier wie im folgenden Satz um eine kontrahierte Perfektform.

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2 suas. 2

deinde illo transit, an non esset necesse: Esset necesse sc. fugere. Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass Cestius dafür argumentiert, dass die Flucht nicht vorteilhaft ist. Die Kategorie des necesse bzw. necessarium wird, wie auch Quintilian (inst. 3,8,22) bezeugt, von einigen Rhetoren als dritte Kategorie neben dem honestum und dem utile angenommen. Quintilian selbst (ib. 22– 25) hält die Annahme dieser deliberativen Kategorie für unsinnig, da eine Beratung nicht über etwas stattfinden kann, was mit Notwendigkeit geschehen muss. Das, was diese Rhetoren mit necesse meinen, ordnet er der Kategorie des utile zu. Er selbst hält es für vernünftiger, als dritte deliberative Kategorie das δυνατόν anzunehmen. Cestius ist der einzige Deklamator in der Suasoriensammlung des älteren Seneca, aus dessen divisio hervorgeht, dass er die Kategorie des necesse verwendet (hier und suas. 6,10). Die Fragepartikel an non scheint an dieser Stelle bzw. generell in einer indirekten Einzelfrage in der divisio gleichbedeutend mit an zu sein, d. h. die Negation impliziert weder die Bejahung noch die Verneinung der Frage (die Meinung des Fragenden wird nur aus dem Kontext deutlich); vgl. folgende Stellen: contr. 1,4,6; 2,5,17; 7,2,9; 7,4,5; 9,1,9; 9,4,9; 10,3,9 f. Zur Form und Bedeutung von transit s. die vorige Anmerkung. haec sunt, inquit, quae vos confundunt: hostes, sociorum paucitas: Mit sociorum paucitas bezieht sich der Deklamator auf die Flucht der griechischen Kontingente. Argumentativ besteht die Funktion des Satzes wohl darin, zwei Gegenargumente zu nennen und anschließend in der Refutatio zu widerlegen.Wie sonst nur Bursian (1857) 13 bewahren wir den überlieferten Text, während alle anderen modernen Herausgeber entweder mit Kiessling (1861) 50 fuga hinter sociorum oder mit Gertz (1879) 150 fuga, vestra ipsorum ergänzen. Bornecque (1902) II 306 liest mit Linde hostium copia, vestrorum paucitas (vgl. Müller [1887] 538). Håkanson (1989) 343 gibt noch zu bedenken, dass vielleicht mehr Worte ausgefallen sind, als Kiessling und Gertz ergänzen. Der Anstoß, den die genannten Herausgeber an dem überlieferten Wortlaut nehmen, liegt – wie zumindest bei Kiessling deutlich wird – darin, dass nirgends in dieser Suasorie die Rede davon ist, dass Verbündete bei den Thermopylen zurückgeblieben sind. Herodot zufolge sind aber nicht alle griechischen Kontingente geflohen (s. Einleitung), so dass sich der Deklamator historisch gesehen korrekt ausdrückt. Alternativ könnte man davon ausgehen, dass der Deklamator mit sociorum paucitas pointiert den Gedanken zum Ausdruck bringt, dass alle anderen griechischen Kontingente geflohen sind. Oder man versteht socius i.S.v. „Kamerad“, wodurch sich ein Bezug auf die Gruppe der Spartaner ergeben würde. Von diesen drei Möglichkeiten scheint die historische Erklärung am unwahrscheinlichsten zu sein, da der Deklamator gegen eine Angabe aus dem Thema verstoßen würde (für das Verbot, gegen das Thema zu verstoßen, vgl. contr. 7,5,10; Quint. decl. 316,3; Fairweather [1981] 174 f.).

2.2 Kommentar

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Da die Spartaner nur 300 Soldaten entsendet haben, kann die eigene Truppenstärke eher weniger Verwirrung stiften. Am wahrscheinlichsten ist daher, dass die Flucht der anderen griechischen Kontingente, durch die neue Fakten geschaffen wurden, die Spartaner verunsichert.

Der dritte Teil (11b-23) Non quidem in hac suasoria, sed in hac materia disertissima illa fertur sententia DORIONIS, cum posuisset hoc dixisse trecentis Leonidam, quod puto etiam apud Herodotum esse: 〈ἀριστοποιεῖσθε ὡς ἐν Ἅιδου δειπνησόμενοι. ***〉: Seneca d.Ä. leitet einen Passus ein, in dem er nicht aus den Suasorien der Deklamatoren, sondern Sentenzen zitiert, die zum Sujet dieser Suasorie (die Schlacht bei den Thermopylen) gehören. Sowohl das literarische Vorbild als auch die Äußerung des griechischsprachigen Deklamators Dorion sind ausgefallen. Da Asilius Sabinus (§ 12) jedoch auf dieselbe Sentenz rekurriert, die Leonidas an die Spartaner in der Schlacht bei den Thermopylen adressiert haben soll, und uns die Äußerung jenes Deklamators überliefert ist, lässt sich angeben, auf welche Äußerung die beiden Deklamatoren anspielen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Sentenz, die Herodot überliefert, wie Seneca d.Ä. vermutet, sondern die der griechische Universalhistoriker Diodor (1. Jh. v.Chr.) Leonidas in den Mund legt (11,9,4): Λεωνίδης δὲ τὴν ἑτοιμότητα τῶν στρατιωτῶν ἀποδεξάμενος, τούτοις παρήγγειλε ταχέως ἀριστοποιεῖσθαι, ὡς ἐν Ἅιδου δειπνησομένους. Vgl. auch Plut. Apoph. Lac. 225D; Val. Max. 3,2 ext. 3; Sen. epist. 82,21: at ille Leonidas quam fortiter illos adlocutus est! ‘Sic, inquit, commilitones, prandete tamquam apud inferos cenaturi.’ Die Tatsache, dass Seneca d.Ä. die Sentenz des Asilius Sabinus unmittelbar nach derjenigen des Dorion zitiert, lässt vermuten, dass beide Deklamatoren einen ähnlichen Gedanken ausgedrückt haben, möglicherweise sogar eine Imitation der griechischen Sentenz durch den lateinischen Deklamator vorliegt (zu der Imitation von griechischen Sentenzen durch lateinische Deklamatoren generell vgl. Berti [2007] 254– 262). In welchem Zusammenhang der Deklamator diese Sentenz gesprochen hat, lässt sich nicht spezifizieren. Obwohl Dorion diese Suasorie auch deklamiert hat (vgl. § 22), hat die Sentenz einen anderen Ursprung, wie Seneca d.Ä. explizit angibt. Möglicherweise wurde sie bei einer Diskussion über diese Suasorie oder in einem Progymnasma (vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle) geäußert.Von einer anderen Version des Suasorienthemas ist wohl nicht auszugehen, auch wenn ponere auf eine Themenangabe verweisen kann (vgl. contr. 7,5,10; 7,7,19), da das Aktiv und wohl auch das Attribut disertissimus darauf hinweisen, dass Dorion Leonidas selbst eingeführt hat. Was den Fehler bei der Zuordnung des Historikerzitates betrifft, ist

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2 suas. 2

dies kein Einzelfall, da Seneca d.Ä. einen ähnlichen Fehler contr. 9,1,13 begeht (vgl. Edward [1928] 109), wo er Thukydides eine Passage zuschreibt, die wohl PseudoDemosthenes zuzuordnen ist. Das Phänomen, dass Sentenzen von Deklamatoren im Umlauf sind, begegnet uns z. B. auch contr. 9,2,23 f. Den Wortlaut der Ergänzung übernehmen wir von Håkanson (1989) 343 und Müller (1887) 539, denen zufolge diese und ähnliche Ergänzungen in den alten Ausgaben zu finden sind und offensichtlich auf Diodor (oder Plutarch) zurückgehen. Die Lücke, in der Dorions Sentenz ausgefallen ist, hat zuerst Gertz angezeigt (vgl. Müller [s.o.]), wohingegen Bursian (1857) 14 und Kiessling (1872) 17 keine Lacuna anzeigen. Aus der Angabe cum posuisset hoc dixisse trecentis Leonidam […] geht jedoch hervor, dass Dorions Sentenz eine Reaktion auf diejenige von Leonidas ist. 12 SABINVS ASILIVS, venustissimus inter rhetoras scurra, cum hanc sententiam Leonidae rettulisset, ait: ego illi ad prandium promisissem, ad cenam renuntiassem: „Ich hätte ihm zum Frühstück zugesagt, zum Essen abgesagt“, d. h. er hätte sich nicht bereit erklärt, gegen die Perser zu kämpfen und zu sterben.Vgl. Sen. epist. 82,21 (ebenfalls über die Spartaner bei den Thermopylen): non in ore crevit cibus, non haesit in faucibus, non elapsus est manibus: alacres et ad prandium illi promiserunt et ad cenam. Zur Sentenz des Leonidas s. die vorige Anmerkung. Asilius Sabinus’ Sentenz ist wohl ebenso wenig wie diejenige von Dorion in dieser Suasorie geäußert worden. Eventuell ist sie als pointierte Empfehlung des Rhetors zu verstehen, die im sermo oder in einer Diskussion über diese Suasorie geäußert wurde. Für die Person Asilius Sabinus vgl. die Angabe, die Seneca d.Ä. contr. 9,4,17 über ihn macht: illud non probavi, quod multa in re severa temptavit salse dicere. erat autem urbanissimus homo, ut vobis saepe narravi, ut quidquid in eloquentia illi deerat urbanitate pensaret; vgl. auch Bornecque (1902b) 153 und Echavarren (2007) 75 – 77. Für promittere i.S.v. „zum Essen zusagen“ vgl. Cic. de orat. 2,27: ad fratrem promiserat. ATTALVS Stoicus, qui solum vertit a Seiano circumscriptus, magnae vir eloquentiae, ex his philosophis, quos vestra aetas vidit, longe et subtilissimus et facundissumus, cum tam magna et nobili sententia certavit et mihi dixisse videtur animosius quam prior: ***: Der Stoiker Attalus ist der Lehrer des jüngeren Seneca, der ihn mehrmals erwähnt (z. B. epist. 110,14– 20). Dass er als Opfer von Sejan ins Exil gehen musste, erfahren wir nur aus dieser Textstelle. In welchem Zusammenhang Attalus die verlorene Sentenz gesprochen hat, ist gänzlich unklar. Die Worte magnae vir eloquentiae kann man zwar so verstehen, dass er auch deklamiert hat, aber die Tatsache, dass wohl auch die Sentenzen von Dorion und Asilius Sabinus anderen Kontexten entstammen und dass Attalus im gesamten Werk nur an dieser Stelle erwähnt wird, machen unwahrscheinlich,

2.2 Kommentar

271

dass er diese Suasorie deklamiert hat. Der Ausdruck solum vertere (oder solum mutare; vgl. Cic. parad. 31) ist der Terminus technicus für die Flucht ins freiwillige Exil, um einer Strafe zu entgehen; vgl. Cic. Caec. 100: nam quia volunt poenam aliquam subterfugere aut calamitatem, eo solum vertunt, hoc est sedem ac locum mutant. Das Verb circumscribere bedeutet hier soviel wie decipere oder fallere (vgl. ThLL III 1162,35 – 1163,31; contr. exc. 6,3), d. h. circumscriptus heißt hier wohl „als Opfer einer Intrige“. Durch certare wird zum Ausdruck gebracht, dass Attalus’ Sentenz nach Meinung des älteren Seneca mit derjenigen des Asilius Sabinus vergleichbar, ja – wie der Kontext zeigt – ihr sogar überlegen ist. Ob damit eine (bewusste) Imitation oder sogar ein Deklamationswettbewerb bezeichnet wird, lässt sich aufgrund fehlender Parallelen nicht angeben. Im Werk des älteren Seneca wird das Verb nur an dieser Stelle zum Vergleich zweier Sentenzen benutzt. Suas. 6,25 bezeichnet das Verb eher die Vergleichbarkeit in den Augen eines Dritten (des älteren Seneca) als die Imitation, da es dort nicht um die Formulierung eines ähnlichen Gedankens geht: adfirmare vobis possum nihil esse in historiis eius hoc, quem retuli, loco disertius, ut mihi tunc non laudasse Ciceronem sed certasse cum Cicerone videatur. Mit animose ist, wie der Kommentar des älteren Seneca zu dem folgenden Fragment des Cornelius Severus deutlich macht, die magnitudo animi gemeint. Das Adjektiv subtilis wird auch von Cicero (Brut. 48) und Quintilian (inst. 1,4,25) zur literarischen Kritik verwendet, worauf Bardon (1940) 56 hinweist. Da es häufiger zusammen mit elegans verwendet wird, gerade auch mit Bezug auf Lysias, bezeichnet es wohl die schmucklose Einfachheit („ungekünstelt“); vgl. Cic. Brut. 35: tum fuit Lysias ipse quidem in causis forensibus non versatus, sed egregie subtilis scriptor atque elegans; Quint. inst. 10,1,78: his aetate Lysias maior [sc. fuit], subtilis atque elegans. Das Adjektiv facundus findet sich hingegen nicht bei Cicero, während es auch von Quintilian (inst. 6,1,39) gebraucht wird (vgl. Bardon [ib.] 32). In der Suasoriensammlung kommt es hier und in § 14 vor (dort als Adverb). Occurrit mihi sensus in eiusmodi materia a SEVERO CORNELIO dictus tamquam de Romanis nescio an parum fortiter: Welchem Werk dieses Fragment des Cornelius Severus entstammt, sagt Seneca d.Ä. leider nicht. Unter den Fragmentherausgebern und Cornelius Severus-Forschern (vgl. FPL p. 118 Morel; p. 150 Büchner; p. 293 Blänsdorf; Dahlmann [1975] 59 – 67; Courtney [1993] und [2003] 324; Hollis [2007] 345) ist die Werkzuordnung umstritten. Diese ordnen es entweder den Res romanae zu oder lassen die Zugehörigkeit offen. Zum Werk des Cornelius Severus s. den Kommentar zu suas. 6,26, wo sein längstes Fragment (eine Klage über Ciceros Tod) überliefert ist. Wir erfahren hier lediglich, dass Cornelius Severus die folgende Sentenz über die Römer (de Romanis) gesagt hat. Diese Information hat für die Werkzuordnung allerdings praktisch keinen Wert, da sie an dieser Stelle notwendig ist, um einen irrtümlichen Bezug auf die Spartaner

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2 suas. 2

zu vermeiden. Die Angabe in eiusmodi materia bedeutet im Unterschied zu in hac materia (§ 11), dass der Bereich, aus dem die Sentenz stammt, jetzt weiter gefasst wird und nicht mehr die Schlacht bei den Thermopylen, sondern generell eine scheinbar hoffnungslose Schlacht den Bezugspunkt bildet. Für Dichterzitate in den Suasorien vgl. suas. 1,15 mit dem Kommentar zur Stelle. Das Adverb fortiter bzw. das Adjektiv fortis verwendet Seneca d.Ä. auch an anderen Stellen seines Werkes, um die römischen von den griechischen Sentenzen zu unterscheiden; vgl. contr. 2,6,12: dicebat autem Agroitas arte inculta, ut scires illum inter Graecos non fuisse, sententiis fortibus, ut scires illum inter Romanos fuisse; 1,6,12. An dieser Stelle wird jedoch deutlich, dass sich Seneca d.Ä. zufolge die fortitudo der Römer nicht nur in den Formulierungen der Sentenzen erkennen lässt, sondern ein Fundament in deren Charakter hat. Für sensus i.S.v. „Sentenz“ vgl. suas. 1,13 mit dem Kommentar zur Stelle. Håkanson ad loc. zufolge wird tamquam hier im einschränkenden Sinn („zumindest“) gebraucht, der selten und umstritten ist (vgl. L.-H.-Sz. II, S. 597). Naheliegender ist jedoch ein kausaler Gebrauch (vgl. OLD s.v. tamquam 7b), da die Angabe tamquam de Romanis begründet, warum Cornelius Severus’ Sentenz nach Meinung des älteren Seneca Mutlosigkeit zum Ausdruck bringt. Es besteht zumindest kein Grund, quamquam zu lesen, wie es Kiessling (1872) 18 zögernd vorschlägt. edicta in posterum diem pugna epulantes milites inducit et ait: Das Motiv der Soldaten, die vor der Schlacht speisen, geht bis auf Homer (Od. 10,183 f.; Il. 8,545 – 550; 9,85 – 88) zurück und hat seine engste Parallele im neunten Buch der Aeneis (vgl. Dahlmann [1975] 62). Dort fordert Turnus die Rutuler nach erfolgreichem Kampf auf, sich auszuruhen und auf den folgenden Tag einzustellen (Aen. 9,156 – 158). Dann heißt es über einige der Soldaten (ib. 164 – 167): fusique per herbam / indulgent vino et vertunt crateras aenos. / conlucent ignes, noctem custodia ducit / insomnem ludo. stratique per herbam / ‘hic meus est’ dixisse ‘dies’: In dem Ausdruck „Das ist mein Tag“ spiegelt sich der Genuss wider, den die Soldaten aus der Speise und der Ruhe vor der Schlacht ziehen; vgl. Dahlmann (1975) 63 f. Dies ist der Punkt, in dem sich die Sentenz des Cornelius Severus und die zuvor zitierten Sentenzen berühren, da jene mit der Aufforderung zum Genuss der letzten Mahlzeit vor der Schlacht spielen. Das Sprichwort „Das ist mein Tag“ kommt auch in Senecas Medea vor, bezeichnet dort aber einen anderen Genuss, nämlich den Genuss der Rache (1016 f.): perfruere lento scelere, ne propera, dolor: / meus dies est. Für stratique per herbam vgl. das Vergilische fusique per herbam, das Vergil nicht nur an der zuvor zitierten Stelle (Aen. 9,164), sondern öfters verwendet (georg. 2,527; Aen. 1,214; 5,102); vgl. Dahlmann (s.o.) 61. Textkritisch birgt dieses Fragment die

2.2 Kommentar

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schwierige Frage, ob der in den besten Handschriften überlieferte Infinitiv dixisse gehalten werden kann oder mit der jüngeren Handschrift D dixere gelesen werden muss, wie es alle Fragmentherausgeber des Cornelius Severus und modernen Herausgeber des älteren Seneca tun. Wir halten die Überlieferung aus einem Grund, den auch Bursian (1857) 14 erwogen hat, nämlich dass vermutlich ein Verb des Typs feruntur in dem nicht überlieferten Teil des Gedichtes gestanden hat (vgl. Ov. am. 1,1,3 f.: risisse Cupido / dicitur atque unum surripuisse pedem). Für diese aus syntaktischer Sicht unvollständige Zitierung vgl. das Fragment des Albinovanus Pedo, das Seneca d.Ä. suas. 1,15 unter Auslassung eines Verbes wie vident einführt (s. den Kommentar zu dieser umstrittenen Stelle); Consentius (GL 5,400,22– 24 Keil): similis ratio in diaeresi et episynaliphe […] Lucanus ait: „dixisse Phoëbos“ (vgl. FPL p. 322 Blänsdorf); Macr. sat. 6,5,13 ad Verg. Aen. 8,293: „tu nubigenas, invicte, bimembres [sc. mactas]“. Cornificius in Glauco: „centauros foedare bimembres“ (vgl. FPL p. 227 Blänsdorf); Schol. Stat. Theb. 3,641: Lucanus Iliacon: „atque Helenae timuisse deos“ (vgl. FPL p. 320 Blänsdorf). elegantissime quidem adfectum animorum incerta sorte pendentium expressit, sed parum Romani animi servata est magnitudo: cenant enim tamquam crastinum desperent: Seneca d.Ä. begründet seine Meinung, dass die Römer in dem Zitat des Cornelius Severus als zu mutlos dargestellt werden, dadurch, dass sie Zweifel am Sieg haben. Daher lässt sich ihm zufolge aus dem Zitat nicht nur der Genuss des Mahls und der Ruhe, sondern auch – durch die Betonung des Hier und Jetzt – die Resignation angesichts der bevorstehenden Schlacht herauslesen. Ob die Kritik des älteren Seneca zutrifft, lässt sich nicht einschätzen, da uns der Kontext des Zitates verloren ist. Die beiden Schlussverse aus Schillers Siegesfest, die Dahlmann (1975) 65 zitiert („Morgen können wir’s nicht mehr, / Darum laßt uns heute leben!“), sind eher mit Horaz (carm. 1,11,8) im Sinne des carpe diem und damit nur in einem Aspekt mit dem vorliegenden Fragment zu vergleichen, da kein bestimmtes Unheil droht. Ferner kann kaum mit Dahlmann (s.o.) 64 behauptet werden, dass nach dem Urteil des älteren Seneca der Dichter im Mahl „Maß und Größe vermissen ließ“, denn die Kritik des älteren Seneca richtet sich gegen die Äußerung der Soldaten, die Mutlosigkeit erkennen lässt. Ob incerta sorte von pendere abhängt oder ein Ablativ der Begleitumstände ist, lässt sich nicht mit Sicherheit angeben. Etwas wahrscheinlicher ist vielleicht die zweite Möglichkeit; vgl. Cic. leg. agr. 2,66: nolo suspensam et incertam plebem Romanam obscura spe et caeca exspectatione pendere. quantus illis Laconibus animus erat, qui non poterant dicere ‘hic dies est meus’!: Mit den Spartanern bezieht sich Seneca d.Ä. wohl nicht nur auf deren Darstellung in der (ausgefallenen) Sentenz von Attalus, wie Håkanson ad loc.

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2 suas. 2

annimmt, sondern generell auf die Thermopylen-Kämpfer (die wirklichen und die dargestellten). Diese konnten nicht genussvoll sagen „Heute ist mein Tag“, da die Schlacht mit den Persern und damit ihr Tod (die Speise im Hades) unmittelbar bevorstanden. Am Anfang des Satzes lässt sich das in A und B überlieferte quantum illis Laconibus animis aeratis nicht halten. Das in V überlieferte quantus illis Laconibus animus erat iis ergibt einen guten Sinn, enthält aber zwei Demonstrativpronomina, die sich beide auf die Spartaner beziehen. Mit Ausnahme von Håkanson (1989) 344 lesen die modernen Herausgeber mit Bursian (1857) 14 quantum illis Laconibus animi erat. Håkanson, der einen Bezug auf die (ausgefallene) Sentenz von Attalus annimmt, emendiert die Überlieferung zu quanto melius Laconibus animus servatus und verweist auf die vorigen Worte sed parum Romani animi servata est magnitudo. Gertz schlägt quanto illis Laconibus elatior (oder alacrior) animus erat vor (vgl. Müller [1887] 539). Uns scheint es das Einfachste zu sein, V zwar zu folgen, aber iis zu tilgen, wie es auch im Elzevier-Druck (1672) 19 der Fall ist. 13 Illud PORCELLVS grammaticus arguebat in hoc versu quasi soloecismum, quod, cum plures [dicerent] induxisset, diceret: ‘hic meus [dies] est dies’, non ‘hic noster est’, et in sententia optima id accusabat, quod optimum: Der uns ansonsten unbekannte Grammatiker Porcellus kritisiert an dem Vers des Cornelius Severus, dass er einen Solözismus enthält: Dieser führt mehrere Soldaten ein (strati), verwendet aber das Possessivpronomen im Singular statt im Plural (meus statt noster). Damit begeht er einen Solözismus per numerum. Ein Solözismus ist ein Fehler bei der Verbindung von mehreren Worten (im Gegensatz zum Barbarismus, dem Fehler in einem Wort; vgl. Rhet. Her. 4,17; Quint. inst. 1,5,6; 16; 34). Für den hier gerügten Fehlertypus vgl. Quint. inst. 1,5,36, wo der Fehler geschildert wird, dass man zu mehreren Personen abi sagt. Solözismen rügte auch der Grammatiker M. Pomponius Marcellus, wie Sueton (gramm. 22) berichtet. Da der hier genannte Grammatiker Porcellus ansonsten unbekannt ist und der von Sueton erwähnte M. Pomponius Marcellus einen ähnlichen Namen hat, der auch bei Cassius Dio (57,17,2) in einem Codex zu Porcellos verschrieben worden ist, hat Mazzarino (1955) 24 vorgeschlagen, Porcellus zu Pomponius Marcellus zu emendieren. Dahlmann (1975) 60 f. pflichtet dessen Argumentation bei, möchte aber nur Marcellus anstelle von Porcellus lesen. Wir halten diese textkritischen Eingriffe für gefährliche Vereinheitlichungen und bewahren den überlieferten Namen, auch wenn er sonst nicht belegt ist, da im Werk des älteren Seneca mehrere Personen genannt werden, die uns ansonsten unbekannt sind (z. B. Catius Crispus in § 16; Seneca Grandio in § 17; Menestratus suas. 1,13). Ferner haben die überlieferten Formen von dicere in diesem Satz Schwierigkeiten bereitet. Überliefert ist quod, cum plures dicerent induxisset, diceret. Bursian (1857) 14 emendiert dicerent zu

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dicentes und liest quod, cum plures dicentes induxisset, diceret. Kiessling (1871) 11 schlägt vor, dicerent als Dittographie zu tilgen; später (1872) 18 tilgt er aber die erste Form von dicere und liest dicerent [sc. milites] vor dem Zitat: quod, cum plures induxisset, dicerent. Müller (1887) 540 und Håkanson (1989) 344 tilgen mit V2 dicerent und lesen: quod, cum plures induxisset, diceret. Auch wir schließen uns dieser Lösung an, da sie nur an einer Stelle die Überlieferung korrigiert. Gegen Bursian ist einzuwenden, dass wir nicht sagen können, dass der Dichter die Figurenrede bereits vor dem Sprichwort beginnen lässt. Aus § 12 geht nämlich hervor, dass Cornelius Severus zuvor beschreibt, wie die Soldaten speisen (epulantes). Die Figurenrede beginnt allem Anschein nach erst mit diceret [sc. Cornelius Severus]. Daher ist dicerent als Dittographie, die durch Antizipation in den Text geraten ist, zu tilgen. Da das erste überlieferte dies in der Sentenz hic meus [dies] est dies auch in einer Handschrift getilgt wird, nehmen wir wie alle modernen Herausgeber die Dittographie an der ersten Stelle an, wenngleich die Tatsache, dass Cornelius Severus’ Sentenz in immer variierender Reihenfolge der Worte wiedergegeben wird, es schwierig macht, den Ort der Verschreibung anzugeben. Möglich ist auch, dass dies aus dem folgenden hic noster est hierhin geraten ist und dort fehlt. Im Relativsatz quod optimum ergänzen alle modernen Herausgeber außer Bursian (s.o.) erat mit V2. Uns scheint die Annahme einer Ellipse unproblematisch zu sein; vgl. suas. 6,1 mit dem Kommentar zur Stelle: intrare autem tu senatum voles, in quo non Cn. Pompeium visurus [sc. es]; Cic. leg. 2,41: quid ego hic sceleratorum utar exemplis, quorum plenae tragoediae?; K.-St. II 1, S. 12. muta enim, ut ‘noster’ sit: peribit omnis versus elegantia, in quo hoc est decentissimum, quod ex communi sermone trahitur; nam quasi proverbii loco est ‘hic dies meus est’: Das erste Argument, das Seneca d.Ä. benutzt, um den Solözismus des Cornelius Severus zu verteidigen, ist die Tatsache, dass eine Änderung dem Vers die elegantia nehmen würde, da hic dies meus est ein Sprichwort ist, also dem Usus entspricht. Der Thesaurus unterscheidet zwischen zwei Bedeutungsfeldern von decens, da das Adjektiv zum einen soviel wie congruens und aptus (et sim.) (ThLL V 1,135,41– 136,11) und zum anderen soviel wie pulcher und elegans (et sim.) bedeutet (ib. 136,12– 52). Diese Stelle wird wohl zu Recht dem ersten Bedeutungsfeld zugeordnet, da es passend ist, dass die Soldaten sich in einer unmarkierten Alltagssprache ausdrücken. Mit elegantia wird daher die angemessene Wahl des sprachlichen Ausdrucks gemeint sein. Dass es sich bei hic dies est meus tatsächlich um ein Sprichwort handelt, bekräftigt die Parallele bei Seneca d.J. (s. den Kommentar zu § 12). Bemerkungen zum sprachlichen Register finden sich vereinzelt im Werk des älteren Seneca; vgl. z. B. contr. 4 praef. 9 und 7,5,9, wo Seneca d.Ä. die Alltagssprache mit den Worten ex cotidiano usu repetita bzw. cotidiano verbo uti umschreibt. Für die Bezeichnung sermo communis

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2 suas. 2

vgl. Cic. de orat. 1,243. Bei dem Satz muta enim, ut ‘noster’ sit handelt es sich formal um einen Hauptsatz; vom Sinn her handelt es sich jedoch um einen konditionalen Nebensatz (Parataxe statt Hypotaxe; vgl. K.-St. II 2, S. 164– 166, v. a. 165); vgl. suas. 6,25: concupiscite et poenas Ciceroni dabitis. et cum ad sensum rettuleris, ne grammaticorum quidem calumnia ab omnibus magnis ingeniis sum〈mov〉enda habebit locum; dixerunt enim non omnes semel tamquam in choro manum ducente grammatico, sed singuli ex iis ‘hic meus est dies’: Das zweite Argument verteidigt Cornelius Severus auf grammatikalischer Ebene, d. h. Seneca d.Ä. bestreitet, dass es sich um einen Solözismus handelt. Zugleich entzieht er den Grammatikern die Berechtigung, Dichtergenies wie Cornelius Severus zu kritisieren, d. h. dank ihrer Autorität hält er Kritik an ihnen für nicht gerechtfertigt. Dies erinnert an Quintilians (inst. 1,5,35) Verteidigung eines Solözismus per genus, der nach Ansicht einiger Grammatiker darin besteht, dass cortex mal maskulin und mal feminin verwendet wird, da Quintilian diese Kritik dadurch zurückweist, dass er auf Vergil verweist, der das Wort in beiden Genera verwendet (georg. 2,74; ecl. 6,62 f.). Abfällig ist die Bemerkung des älteren Seneca, dass der Grammatiker einen Chor anführt. Ob diese Bemerkung eine Entsprechung in der Realität in der Form hat, dass Grammatiker ihre Schüler anhielten, im Chor das zu wiederholen, was sie ihnen vorsprachen (vgl. Edward [1928] 111; Zanon dal Bo [1988] 222 Fußn. 19), lässt sich nicht sicher angeben, da uns keine derartige Nachricht bekannt ist. Diese Stelle legt eine derartige Praxis nahe, und es wäre durchaus vorstellbar, dass zumindest einzelne Grammatiker einige Inhalte wie z. B. Wörter, die anders geschrieben als ausgesprochen wurden (vgl. Quint. inst. 1,7,28 f.), ihren Schülern auf diese Weise vermittelten. Für referre ad („etw. bewerten durch Bezug auf“) vgl. Cic. inv. 1,105. Das Adverb semel scheinen Bursian (1857) 14, Kiessling (1872) 18 und Håkanson (1989) 344 zu Recht gehalten zu haben (Müller [1887] 540 liest das in den Recentiores überlieferte simul), da semel seit Manilius (1,228) auch in der Bedeutung von simul verwendet wird (vgl. OLD s.v. semel 5). 14 Sed ut revertar ad Leonidam et trecentos, pulcherrima illa fertur GLYCONIS sententia: ***: Der Kontext, in dem Glykons Sentenz gesprochen wurde, ist schwer anzugeben. Diese Frage ist der eine Teil des größeren Problems, dass Seneca d.Ä. im nächsten Satz angibt, nur die griechische Sentenz von Damas zu zitieren, obwohl er hier Glykons Sentenz und im Folgenden weitere griechische Sentenzen referiert, die alle ausgefallen sind (§§ 14; 16; 21; 22) (s. die folgende Anmerkung). Mit Blick auf den scheinbaren Widerspruch zwischen diesem und dem nächsten Satz meinen wir wie Håkanson ad loc., dass Seneca d.Ä. hier noch nicht zu den Äußerungen zurückkehrt, die die Deklamatoren in dieser Suasorie

2.2 Kommentar

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getroffen haben. Dies geschieht erst im nächsten Satz, der mit in hac ipsa suasoria eingeleitet ist. An dieser Stelle kehrt Seneca d.Ä. zu dem zurück, was er in § 11 mit den Worten in hac materia umschrieben hat, nämlich zu Äußerungen über die Schlacht bei den Thermopylen, die in anderen Kontexten getroffen wurden (vgl. Dorion, Asilius Sabinus und Attalus in den §§ 11 f. mit dem Kommentar jeweils zur Stelle). Die Tatsache, dass Seneca d.Ä. auch in § 21 eine ähnliche Überleitungsformel wie hier benutzt (sed ut ad Thermopylas revertar […]) und dort offensichtlich zu den Äußerungen zurückkehrt, die die Deklamatoren in dieser Suasorie getroffen haben, erklärt sich wohl dadurch, dass dort keine Missverständnisse auftreten können. In hac ipsa suasoria non sane refero memoria ullam sententiam Graeci cuiusquam nisi DAMAE: Wie sich die in diesem Satz getroffene Aussage zu der Tatsache verhält, dass Seneca d.Ä. zuvor Glykons Sentenz und im Folgenden weitere griechische Sentenzen zitiert, die alle ausgefallen sind (§§ 14; 16; 21; 22), ist unklar (für den scheinbaren Widerspruch zu Glykons Sentenz s. die vorige Anmerkung). Kiesslings Supplierung von dignam nach memoria, die alle Herausgeber seit Müller (1887) 540 übernehmen, löst den zweiten Teil des Widerspruchs nicht, da die Tatsache, dass die folgenden griechischen Sentenzen nicht von Seneca d.Ä. ad loc. kritisiert werden, dafür spricht, dass er zumindest einige von diesen für gelungen hält. Gerade das lange Referat in § 15, das Potamons verlorene Sentenz einleitet, macht es wahrscheinlich, dass er diese Sentenz für memoria digna erachtet. Wir halten zwei Erklärungen des überlieferten Satzes für möglich: Entweder geht man davon aus, dass sich Seneca d.Ä. in gewissem Maße widerspricht. Dieser Widerspruch wäre dadurch zu erklären, dass Seneca d.Ä. assoziativ vorgeht und ihm z. B. Nicetes’ Sentenz (§ 14) einfällt, weil sie sich wie Cestius’ Sentenz auf einen Schwur bezieht. Auf den Umstand, dass ihn sein Gedächtnis mal im Stich lässt und ihm mal, wenn er etwas anderes tut, Sentenzen einfallen, macht Seneca d.Ä. selbst in der Praefatio zum Werk aufmerksam (contr. 1 praef. 5). Das Substantiv memoria müsste man bei dieser Erklärung als redundanten Zusatz zu referre ansehen wie contr. 9,5,16 zu repetere. Die andere Möglichkeit wäre, dass man eine Betonung auf memoria und damit die Aussage annimmt, dass Seneca d.Ä. nur Damas’ Sentenz aus dem Gedächtnis wiedergibt, während er die folgenden griechischen Sentenzen schriftlichen Quellen entnimmt (dieses Argument ist in der Debatte um die Quellen des älteren Seneca – soweit wir sehen – nicht angeführt worden). Eine Parallele für memoria referre scheint es nicht zu geben. Der Gegensatz zu fertur im vorigen Satz macht aber deutlich, dass diese Formulierung bewusst gewählt wurde; vgl. auch Phaedr. 3,10,8: narrabo tibi memoria, quod factum est, mea.

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2 suas. 2

ποῖ φεύξεσθε, ὁπλῖται, τείχη: Die griechischen Worte sind hier wie anderswo in den Handschriften nahezu bis zur Unkenntlichkeit verschrieben worden und werden von den verschiedenen Herausgebern unterschiedlich emendiert. Bursian (1857) 15 liest ποῖ φεύξεσθε; ὅπλα τὰ τείχη. Kiessling (1872) 19 liest ποῖ φεύξεσθε; ὅπλα τείχη. Die Herausgeber seit Müller (1887) 540 mit Ausnahme von Håkanson (1989) 344 lesen ποῖ φεύξεσθε, ὁπλῖται, τείχη. Gertz (1888) 297 schlägt vor, τί οὖν φευξείετε; ὅπλα ὁπλίταις τείχη zu lesen. Håkanson ergänzt ἐπὶ τὰ vor τείχη (ποῖ φεύξεσθε, ὁπλῖται, ἐπὶ τὰ τείχη) und erklärt ad loc. den Sinn des Satzes als ironisch, da Sparta keine Mauern hatte. Wilamowitz schlägt dort, wo Müller ὁπλῖται liest, Σπάρτας vor (vgl. Müller [s.o.]). Wir halten Müllers Textkonstitution für die beste, da ὁπλῖται am ehesten der Überlieferung entspricht und die Identifizierung der Spartaner mit Spartas nicht existierender Stadtmauer einen guten Sinn ergibt. Håkansons Supplierung von ἐπὶ τὰ ist wenig gewinnbringend, da wir für den Gedanken, dass die Spartaner mit den fehlenden Stadtmauern identifiziert werden, Parallelen haben (s.u.), nicht jedoch für die ironische Frage, ob die Spartaner zu ihrer nicht vorhandenen Stadtmauer fliehen. Auch Wilamowitz’ und Gertz’ (s.o.) Emendationen entfernen sich weiter von der Überlieferung als diejenige von Müller, ohne dass sich der Sinn dadurch verbessert. Für die historische Tatsache, dass Sparta lange Zeit keine Stadtmauer hatte, s. den Kommentar zu Fuscus in § 1. Für die Identifizierung der Spartaner mit Spartas nicht existierender Stadtmauer vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: ne sit Sparta lapidibus circumdata: ibi muros habet ubi viros; Plut. Apoph. Lac. 210E (s. S. 240). De positione loci eleganter dixit HATERIVS, cum angustias loci facundissime descripsisset: natus trecentis locus: Haterius schließt die Beschreibung der Thermopylen mit einer Sentenz. Für das Argument, dass die geographische Lage die Spartaner begünstigt, vgl. Fuscus in § 1; Pompeius Silo in § 7 und Blandus in § 8 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. Das Substantiv positio i.S.v. „Beschaffenheit eines Ortes“ wird hier zum ersten Mal verwendet; später vgl. Sen. nat. 3,3,1: ut stet aqua aut fluat loci positio efficit. CESTIVS, cum descripsisset 〈honores〉, quos habituri essent, si pro patria cecidissent, adiecit: per sepulchra nostra iurabitur: Cestius verwendet wie Fuscus in § 2 das Argument des Nachruhmes, den sich die Soldaten durch ihren aufopferungsvollen Tod erwerben. Cestius’ Sentenz enthält jedoch ein relativ konkretes historisches Element, das sich in Fuscus’ Verwendung des Topos nicht findet, nämlich den Schwur, den spätere Generationen auf die in den Perserkriegen gefallenen Soldaten leisten werden. Edward (1928) 111 verweist mit Bezug auf diesen Satz auf den Schwur, den Demosthenes in der Kranzrede (§ 208) bei denjenigen, die in den Perserkriegen gefallen sind, leistet. Hierzu ist aber zu

2.2 Kommentar

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bemerken, dass er sicherlich für Nicetes’ folgende Sentenz relevant ist, nicht jedoch an dieser Stelle relevant sein muss, da Cestius auch ganz allgemein an einen Schwur der folgenden Generationen oder an anderswo überlieferte Schwüre auf jene gefallenen Soldaten wie z. B. in Platons Menexenos denken kann. Wie alle modernen Herausgeber ergänzen wir mit V2 und T honores, das aus inhaltlichen Gründen suppliert werden muss. Über die Stellung dieses Wortes sind sich die Herausgeber jedoch uneins (s. den Apparat). NICETES longe disertius hanc phantasiam movit et adiecit: ***: Wie der nächste Satz deutlich macht, spielt Nicetes wohl auf denjenigen Schwur an, den Demosthenes in der Kranzrede bei denjenigen leistet, die in den Perserkriegen gefallen sind (§ 208): ἀλλʼ οὐκ ἔστιν, οὐκ ἔστιν ὅπως ἡμάρτετʼ, ἄνδρες Ἀθηναῖοι, τὸν ὑπὲρ τῆς ἁπάντων ἐλευθερίας καὶ σωτηρίας κίνδυνον ἀράμενοι, μὰ τοὺς Μαραθῶνι προκινδυνεύσαντας τῶν προγόνων, καὶ τοὺς ἐν Πλαταιαῖς παραταξαμένους, καὶ τοὺς ἐν Σαλαμῖνι ναυμαχήσαντας καὶ τοὺς ἐπʼ Ἀρτεμισίῳ, καὶ πολλοὺς ἑτέρους τοὺς ἐν τοῖς δημοσίοις μνήμασιν κειμένους ἀγαθοὺς ἄνδρας, οὓς ἅπαντας ὁμοίως ἡ πόλις τῆς αὐτῆς ἀξιώσασα τιμῆς ἔθαψεν, Αἰσχίνη, οὐχὶ τοὺς κατορθώσαντας αὐτῶν οὐδὲ τοὺς κρατήσαντας μόνους. Dieser Schwur muss in den Rhetorikschulen beliebt gewesen sein, da auch Quintilian mehrfach auf ihn eingeht (inst. 9,2,62 und 98; 11,3,168; 12,10,24); vgl. Edward (1928) 111. Da wir über Nicetes’ literarisches Vorbild informiert sind, hat Gertz (1879) 151 versucht, dessen ausgefallene Äußerung zu rekonstruieren, indem er folgende Ergänzung erwägt: οὐχ ἁμαρτησόμεθα, ὦ ἄνδρες Λακεδαιμόνιοι, τὸν ὑπὲρ τῆς ἁπάντων σωτηρίας κίνδυνον ἀράμενοι, μὰ τοὺς ἀλλαχοῦ προκινδυνεύσαντας τῶν προγόνων καὶ τοὺς ἐν τοῖς δημοσίοις μνήμασιν κειμένους ἀγαθοὺς ἄνδρας, οὓς ἡ πόλις τῆς καλλίστης ἀξιώσασα τιμῆς ἔθαψεν. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass hinter adiecit nicht der ganze Schwur, sondern nur (wie bei Cestius) eine Sentenz gestanden hat, die ein Element aus dem Schwur aufgreift (einen ähnlichen Einwand formuliert Håkanson [1989] 345). Der Begriff phantasia wird hier nicht im technischen Sinn verwendet, d. h. er bezeichnet nicht das rhetorische Mittel, mit dem man versucht, das Publikum in eine fingierte Augenzeugenschaft zu versetzen, um Affekte zu erregen (vgl. Quint. inst. 6,2,29 und Lausberg § 811), sondern wird ganz allgemein in der Bedeutung „Vorstellung“ verwendet. Das Lehnwort phantasia wird in der lateinischen Literatur zuerst an dieser Stelle verwendet (vgl. Sander [1877] 3). In griechischer Schrift kommt dieses Wort schon bei Cicero vor (z. B. Att. 9,6,5), dort allerdings als Zitat. Die Junktur phantasiam movere ist ebenfalls zuerst hier belegt; contr. 1,6,12 verbindet Seneca d.Ä. das lateinische Äquivalent imago mit demselben Verb: Q. Haterius a parte patris pulcherrimam imaginem movit.

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2 suas. 2

nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, ὅρκον ei dicere 〈liceret〉: Seneca d.Ä. kritisiert Nicetes’ Demostheneszitat als Anachronismus, da der Schwur bei denjenigen geleistet wird, die in den Perserkriegen gefallen sind, und damit u. a. auf die Thermopylenkämpfer zurückblickt. Als Anachronismus wird auch in § 22 Tuscus’ Gebrauch von Caesars Ausspruch veni, vidi, vici in dieser Suasorie kritisiert. Zu den Anachronismen s. das entsprechende Kapitel in unserer allg. Einleitung (S. 61– 63). Für Nicetes’ Verwendung von literarischen Zitaten vgl. contr. 10,2,18,wo er Homer zitiert. Am Anfang dieses Satzes ergänzt Gertz (1879) 151 nitide als elliptischen Hauptsatz. Da Seneca d.Ä. das Adverb nitide und das Verb nitere nur mit Bezug auf Fuscus verwendet (vgl. § 10 mit dem Kommentar zur Stelle), scheint uns dies allerdings eine fragwürdige Supplierung zu sein. Am Ende des Satzes schlägt Gertz (s.o.) vor, quam ut Demosthenis ὅρκον hic dicere liceret anstelle des überlieferten Demosthenes CIPTOY cui dicere zu lesen, das die Herausgeber seit Kiessling (1872) 19 mit Ausnahme von Håkanson (1989) 345 in Cruces setzen. Bornecque (1902) II 308 und (1902a) 376 folgt Gertz (s.o.), ergänzt aber zusätzlich illum. Bursian (1857) 15 nimmt unverständlicherweise keine Lacuna an und liest folgende lateinische Sentenz des Nicetes: nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, epitaphium diceret. Gronovius (1672) 20 liest nisi antiquior fuisset Xerses quam Demosthenes, potuisset dicere hanc sententiam. Schulting liest unter Verknüpfung mit dem nächsten Satz nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, pro Ctesiphonte cum diceret, hanc suam dixisset sententiam aut certe non irreprehensam. tum descripsit (vgl. Thomas [1900] 289). Müller (1887) 541 erwägt, nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, non male subreptum huic diceres zu lesen. Håkanson (s.o.) liest mit Gertz (s.o.) und Schulting folgenden unvollständigen Satz: nisi antiquior Xerses fuisset quam ut Demosthenis ὅρκον hic diceret. In unseren Augen ist ὅρκον eine gelungene Emendation von Gertz. Aber der Satz kann vielleicht einfacher rekonstruiert werden, als es die bisherigen Herausgeber getan haben. Wir lesen nisi antiquior Xerses fuisset quam Demosthenes, ὅρκον ei [sc. Niceti] dicere liceret. Damit ändern wir – abgesehen von ὅρκον – nur cui zu ei (alternativ wäre eius [sc. Demostheni] zu erwägen) und ergänzen liceret hinter dicere, wo es leicht ausgefallen sein kann (dicere liceret liest auch Gertz, der sich aber insgesamt weiter von der Überlieferung entfernt). hanc suam dixit sententiam aut certe non deprehensam, cum descripsisset oportunitatem loci et tuta undique pugnantium latera et angustias a tergo positas sed adversas hostibus: ***: Auch am Ende dieses Satzes ist eine Sentenz ausgefallen (diese Lacuna wird zum ersten Mal von Bursian [1869] 5 angezeigt). Der Kontext, den Seneca d.Ä. angibt und in dem der Deklamator die Sentenz verwendet hat, macht deutlich, dass Seneca d.Ä. vom Sujet her zu Haterius’ Sentenz weiter oben zurückkehrt (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Die

2.2 Kommentar

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Tatsache, dass Deklamatoren fremde Sentenzen als ihre eigenen ausgeben, kritisiert Seneca d.Ä. in der Praefatio zum Werk und ist ein Grund für die Abfassung des Werkes (vgl. contr. 1 praef. 10). Bornecque (1902) II 308; (1902) 376 und Håkanson (1989) 345 nehmen mit Otto (1888) 133 an, dass vor hanc der Name des Deklamators ausgefallen ist, der diese Sentenz gesprochen hat. Wir sehen jedoch keinen Anlass für diese Annahme. Zudem spricht die Tatsache, dass die Sentenz ausgefallen ist, dafür, dass es sich um eine griechische Sentenz gehandelt hat, weswegen sie von Nicetes stammen kann. Ottos (1885) 416 Meinung, dass suam wegen aut certe non deprehensam in sanam zu ändern sei, geht in die Irre, da der Gegensatz nicht aus gelungen vs. nicht beanstandet, sondern aus eigene Sentenz vs. Plagiat besteht. Ferner ist Edwards (1928) 112 Meinung zurückzuweisen, dass vor hanc die Lacuna anzunehmen ist, in der Nicetes’ Sentenz ausgefallen ist, da es sonst illam heißen müsse. Für den kataphorischen Gebrauch des Pronomens vgl. suas. 7,3: si hanc tibi pactionem ferret: ‘vives, sed eruentur oculi tibi’ […]. 15 POTAMON magnus declamator fuit Mytilenis, qui eodem tempore viguit quo LESBOCLES, magni nominis et nomini respondentis ingenii: Die beiden griechischsprachigen Deklamatoren Potamon und Lesbokles standen nicht nur zu derselben Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, sondern kamen auch beide aus Mytilene (vgl. Strabo 13,2,3; Buschmann [1878] 17 f.; Bornecque [1902b] 178 und 192; Echavarren [2007] 174 f. und 228 f.). Die Übersetzer beziehen wohl zu Recht den Genetivus qualitatis magni nominis et nomini respondentis ingenii auf Lesbokles, obwohl man ein Wort wie vir, das das Attribut einleitet, vermisst; vgl. Bornecque (1902) II 308; Winterbottom (1974) II 525; O. & E. Schönberger (2004) 284; Adiego Lajara (et al.) (2005) 293; ambivalent Zanon dal Bo (1988) 137. Vgl. für den hier vorliegenden Gebrauch des Genetivus qualitatis denjenigen des Ablativus qualitatis Cic. Mur. 36: L. Philippum summo ingenio; K.-St. II 1, S. 226 f. Ein Bezug auf Lesbokles liegt näher, da Potamon schon am Anfang des Satzes als magnus charakterisiert wird. Zudem macht die folgende Anekdote wahrscheinlich, dass Seneca d.Ä. zuerst beide Deklamatoren kurz charakterisiert. in quibus quanta fuerit animorum diversitas in simili fortuna, puto vobis indicandum, multo magis quia ad vitam pertinet quam si ad eloquentiam pertineret: Seneca d.Ä. erzählt in einer Anekdote, inwiefern die beiden Deklamatoren Potamon und Lesbokles ein ähnliches Schicksal, nämlich den Tod ihres Sohnes, unterschiedlich ertragen haben. Dieselbe Thematik enthält ein Bericht aus der Praefatio zum vierten Buch der Kontroversien, wo geschildert wird, wie unterschiedlich Asinius Pollio und Haterius auf den Tod ihres Sohnes reagiert haben (contr. exc. 4 praef. 4– 6). Hier lässt die Formulierung des älteren Seneca den Leser darüber im Unklaren, ob er meint, dass die folgende Anekdote eher oder

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2 suas. 2

ausschließlich einen Bezug zum Leben der Deklamatoren hat, da er einerseits einen komparativischen Ausdruck (multo magis), andererseits aber einen Irrealis (pertineret) benutzt. Diese etwas unpräzise Formulierung verdankt sich wohl der Tatsache, dass im Folgenden eine (ausgefallene) Sentenz von Potamon referiert wird, die er zwar in dieser Suasorie verwendet hat, die aber wohl nicht eine Reaktion auf den Tod seines Sohnes zum Ausdruck gebracht hat. Die Anekdote dient also dazu, die Person Potamon vorzustellen, nicht aber dazu, den Kontext für die Sentenz anzugeben. utrique filius eisdem diebus decessit: Lesbocles scholam solvit, nemo umquam amplius animo recessit. Potamon a funere filii contulit se in scholam et declamavit: Über Asinius Pollio und Haterius (s. die vorige Anmerkung) heißt es contr. exc. 4 praef. 6, dass der erste Deklamator drei Tage nach dem Tod seines Sohnes wieder deklamiert habe, während Haterius zwar nicht seine Rhetorikschule schloss, aber den Tod des Sohnes nie überwand. Für solvere i.S.v. „auflösen“, „schließen“ vgl. Liv. 40,14,11: convivio soluto cum comissator ego discessissem; OLD s.v. solvo 12b. Mit Ausnahme von Bursian (1857) 15 nehmen alle modernen Herausgeber einen Ausfall von Worten in diesem Satz an. Kiessling (1872) 19 liest mit Ribbeck und Wagner: Lesbocles scholam solvit; nemo umquam amplius 〈declamantem audivit; aequo〉 animo recessit Potamon a funere filii. Müller (1887) 541 liest: Lesbocles scholam solvit; nemo umquam 〈postea declamantem audivit;〉 ampliore animo se gessit Potamon. Zuvor hatte Madvig vorgeschlagen, Lesbocles scholam solvit neque umquam amplius 〈declamavit; maiore〉 animo se gessit Potamon zu lesen (vgl. Müller [s.o.]). Håkanson (1989) 345 liest wie Winterbottom (1974) II 524 in Anlehnung an Madvig und Müller Lesbocles scholam solvit; nemo umquam amplius declamantem audivit; maiore animo se gessit Potamon. Wir schließen uns Bursians (s.o.) Auffassung an, dass der überlieferte Text vollständig und eine Supplierung unnötig ist. Der einzige Eingriff in den Text besteht in der Emendation recessit anstelle der überlieferten Formen regressit (A) bzw. regessitur (B) bzw. se gessit (V). Damit ist diese Lösung deutlich einfacher als die anderen vorgeschlagenen Texteingriffe. Zwar haben wir für animo recedere („sich innerlich zurückziehen“) keinen Beleg gefunden, aber für das Simplex liegen in dieser Junktur Parallelen vor; vgl. Cic. Caec. 42: saucii saepe homines cum corpore debilitantur, animo tamen non cedunt neque eum relinquunt locum, quem statuerunt defendere. Für den freien Gebrauch von animo vgl. auch horrere animo Cic. dom. 140. Möglich ist auch, dass es sich bei regressit (A) um eine aktive Perfektform von regredi handelt, da regredere immerhin bei Ennius (scen. 14) belegt ist (mündlicher Hinweis von Thorsten Burkard); vgl. auch hortavit suas. 5,8 mit dem Kommentar zur Stelle.

2.2 Kommentar

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utriusque tamen adfectum temperandum puto: hic durius tulit fortunam quam patrem decebat, ille mollius 〈quam〉 virum: Lesbokles hat nach Meinung des älteren Seneca mit der Schließung der Schule überreagiert, während Potamon dadurch falsch reagiert habe, dass er sich nichts anmerken ließ. Dieses Urteil steht in einem Gegensatz zu demjenigen über Asinius Pollio und Haterius (s. die vorletzte Anmerkung). Denn Haterius’ Trauer wird von Seneca d.Ä. mit den Worten imbecillo animo mortem […] tulisse [sc. scio] kritisiert, während Asinius Pollios Stärke überschwänglich gelobt wird (contr. exc. 4 praef. 6): o magnos viros, qui fortunae succumbere nesciunt et adversas res suae virtutis experimenta faciunt! declamavit Pollio Asinius intra quartum diem, quam filium amiserat; praeconium illud ingentis animi fuit malis suis insultantis. Möglicherweise stehen hinter dem unterschiedlichen Urteil über die Reaktionen der griechischen und römischen Deklamatoren die häufiger begegnenden Vorurteile des älteren Seneca gegenüber den griechischen Deklamatoren, wie Edward (1928) 112 vermutet. Wahrscheinlicher ist aber, dass das unterschiedliche Urteil in der angemessenen Dauer der Trauer seine Erklärung findet, worauf das Verb temperare hindeutet: Der von Seneca d.Ä. gelobte Asinius Pollio hat sich drei Tage Trauer auferlegt, wohingegen Potamon schon am Tag der Bestattung deklamiert hat. 16 Potamon, cum suasoriam de trecentis diceret, tractabat, quam turpiter fecissent Lacones hoc ipsum quod deliberassent de fuga, et sic novissime clausit: ***: Für den Gedanken, dass es schimpflich ist, dass die Spartaner über eine Flucht nachdenken, vgl. Latro in § 4; Sabinus in § 5: turpe est cuilibet viro fugisse, Laconi etiam deliberasse. Insanierunt in hac suasoria multi circa Othryadem: Hier beginnt ein Abschnitt, der bis zum Ende von § 16 reicht und in dem Sentenzen, die sich auf Othryades (vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle) beziehen, referiert werden. Für die häufige Verwendung des Beispiels Othryades in Deklamationen generell vgl. Lukian (rhet. praec. 18; s. den Kommentar zu sed montes perforat, maria contegit in § 3, S. 241). Dass es in dieser Suasorie häufig Verwendung findet, liegt gewiss daran, dass die Geschichte um Othryades Parallelen zu der Schlacht bei den Thermopylen unter Leonidas’ Kommando aufweist: in beiden Fällen kämpfen dreihundert Spartaner und sterben einen heldenhaften Tod. Daher kann es nicht verwundern, dass auch andernorts in der Literatur die Schicksale von Othryades und den Thermopylenkämpfern parallelisiert wurden; vgl. neben der genannten Lukianstelle die von Kohlmann (1874) 473 – 478 angeführten Textzeugnisse. Für das Verb insanire, das Fehler im Inhalt und im Ausdruck bezeichnet, vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle.

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2 suas. 2

MVRREDIVS, qui dixit: fugerunt Athenienses; non enim Othryadis nostri litteras didicerant: Der Deklamator spielt auf eine Sagentradition an, der zufolge der sterbende Othryades nach der Schlacht von Thyreatis (s. den Kommentar zu § 2, S. 238 f.) mit seinem eigenen Blut eine Inschrift auf eine von ihm errichtete Trophäe geschrieben hat. Vgl. für diese Sagentradition die folgende Anmerkung und Val. Max. 3,2, ext. 4: qui sanguine suo scriptis litteris direptam hostibus victoriam tantum non post fata sua in sinum patriae cruento tropaei titulo rettulit. Hier ist also gemeint, dass die Athener nicht geflohen wären, wenn sie von Othryades’ und damit auch generell von Spartas Heldenmut gewusst hätten. Dass diese Sentenz durch die Begriffe insanire (s. die vorige Anmerkung) kritisiert wird, liegt wohl an der doppeldeutigen Verwendung von litterae, da dieses Wort zum einen i.S.v. „Inschrift“ verwendet wird (vgl. Cic. Verr. II 4,79; Val. Max. 3,2, ext. 4 [s.o.]), zum anderen in der Junktur litteras discere soviel wie „Elementarkenntnisse“ bedeutet. In der zweiten Bedeutung von litterae liest sich dieser Satz wie ein Vorwurf an einen Schüler, der etwas nicht gelernt hat. Den Anstoß, den Gertz und Müller an dem Relativpronomen qui genommen haben (vgl. Müller [1887] 541), können wir nicht teilen. Denn sowohl Gertz’ Konjektur quippe als auch Müllers Erwägung, qui zu tilgen, sind unnötig, da Murredius nach dem vorigen Satz als Beispiel eingeführt wird, d. h. Murredius steht als Apposition zu multi i.S.v. Murredius [sc. insanit]. Vgl. auch im Folgenden Licinius Nepos. GARGONIVS dixit: Othryades, qui perit, ut falleret, revixit, ut vinceret: Gargonius und die im Folgenden zitierten Deklamatoren folgen einer Sagentradition, die sich auch bei späteren griechischen Historikern (Chrysermus: FGrHist III A 287,2 Jacoby; Theseus: ib. B 453,2) findet; vgl. Kohlmann (1874) 470 – 473. Im Gegensatz zu Herodot (1,82), der überliefert, dass es Nacht wurde, als nur noch zwei Argiver und Othryades am Leben waren, behauptet diese Sagentradition, dass Othryades verwundet unter den Gefallenen lag, als die Argiver in Argos den Sieg verkündeten. Vgl. die Version bei Theseus: Ὀθρυάδης Λακεδαιμόνιος στρατιώτης πολλοὺς ἀποκτείνας καὶ πολλὰ τετρωμένος ἔκειτο μεταξὺ τῶν ἀνῃρημένων Λακεδαιμονίων μόνος περιλειφθείς. […] πολλοὺς σκυλεύσας τῶν πολεμίων τρόπαιον ἔστησε, καὶ χρησάμενος τῷ τῶν τραυμάτων αἵματι, ἐπέγραψεν ‘Λακεδαιμονίων κατʼ Ἀργείων’ καὶ τοῦτο πράξας ἀπέθανεν. Der Kritikpunkt an dieser Sentenz liegt wohl in der Übertreibung, dass Othryades gestorben und wiederauferstanden ist. Wie in § 11 darf auch hier nicht an der kontrahierten Perfektform perit (dort transit) Anstoß genommen und stattdessen mit der jüngeren Handschrift D periit gelesen werden. LICINIVS NEPOS: cum exemplo vobis etiam mortuis vincendum fuit: Der Deklamator bezieht sich auf dieselbe sagenhafte Situation, auf die sich auch

2.2 Kommentar

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Gargonius bezieht, in der sich nämlich der verwundete Othryades vom Boden erhob und eine Trophäe errichtete. Indem der Deklamator die Thermopylenkämpfer in die Schlacht von Thyreatis projiziert, sagt er „mit dem Vorbild hättet ihr sogar als Tote siegen müssen“. Unter pragmatischen Gesichtspunkten, d. h. mit Blick auf die der Fiktion nach bevorstehende Schlacht bei den Thermopylen, ist es jedoch schwierig, den Sinn des Satzes anzugeben. Möglicherweise impliziert diese Aussage, dass die Spartaner lebend erst recht siegen müssen. Kritisiert wird diese paradoxe Sentenz wohl wegen der Übertreibung, dass die Spartaner als Tote hätten siegen müssen. Die Änderung von cum (s. den Apparat) scheint uns unnötig zu sein, da exemplum hier konkret eine Person (Othryades) bezeichnet, an deren Seite man kämpft. Darauf wies schon Thomas (1900) 178 unter Verweis auf contr. 10,2,2 hin: multum est pugnare cum exemplo. In der Handschrift V ist das auslautende -o von exemplo fett geschrieben, so dass sich kaum sagen lässt, ob es sich um eine Korrektur erster oder zweiter Hand handelt. ANTONIVS ATTICVS inter has pueriles sententias videtur palmam meruisse: Bei pueriles handelt es sich um Bursians (1857) 16 Konjektur anstelle von plura res (AB) bzw. plures (V). Für puerilis als stilkritischen Begriff vgl. contr. 1,7,10: haec sententia deridebatur a Latrone tamquam puerilis […]; Cic. de orat. 1,20: inanem quandam habet elocutionem et paene puerilem. dixit enim: Othryades paene a sepulchro victor digitis vulnera pressit, ut tropaeo ‘Laconem’ inscriberet: Auch dieser Deklamator rekurriert auf die sagenhafte Inschrift auf der Siegestrophäe, für die Othryades das Blut aus den Wunden gepresst und die Laco („Spartaner“) gelautet habe. Laco ist dabei wohl i.S.v. ἐνίκησεν ὁ Λάκων zu verstehen (vgl. Watt [1984] 103). Der Wortlaut der Inschrift, die Herodot (1,82) noch nicht erwähnt, wird in den verschiedenen Versionen der Othryadessage unterschiedlich überliefert; vgl. Kohlmann (1874) 471– 479. Bei dem Historiker Theseus (FGrHist III B 453,2 Jacoby) heißt sie Λακεδαιμονίων κατʼ Ἀργείων; bei Chrysermus (ib. A 287,2) Διὶ τροπαιούχῳ; in einem Epigramm der Anthologia Palatina (VII 431) ist sie in folgender Form wiedergegeben: Θυρέα, Ζεῦ, Λακεδαιμονίων. Der Deklamator Antonius Atticus steht damit (stellvertretend für andere Deklamatoren) in einer Tradition, in der Othryades’ Inschrift frei erfunden wurde, ja – soweit uns die Überlieferung ein Urteil zulässt – begründet vielleicht sogar diese Tradition. Neben der Inschrift trägt auch die Übertreibung in a sepulchro zu der Sentenz bei. Für die Konstruktion a sepulchro victor vgl. Flor. 1,5,12: ille dictator ab aratro [sc. Cincinnatus]. Für die syntaktische Angleichung des zitierten Wortes (Laconem statt ‘Laco’) vgl. Cic. fam. 15,20,1: ‘oratorem’ meum – sic enim inscripsi – Sabino tuo commendavi.Wir halten daher an dem überlieferten Laconem fest, das zwar von allen modernen Herausgebern

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2 suas. 2

gelesen wird, vielen Übersetzern jedoch Schwierigkeiten bereitet: Winterbottom (1974) II 526 setzt Cruces; Bornecque (1902) II 309 und Zanon dal Bo (1988) 136 lesen die korrigierte Form Laconum (V2); O. & E. Schönberger (2004) 285 übersetzen „um auf das Siegesmal ‘Sparta’ (?) zu schreiben“. Als unnötig erachten wir die Supplierungen hinter Laconem, die der Inschrift ihre Prägnanz nehmen würden: Watt (1984) 103 ergänzt dort victorem; Håkanson (1989) 346 erwägt, Laconum nomen zu lesen. deo dignum in Spartano sacramento virum, cuius ne litterae quidem fuere sine sanguine!: Dieser Satz ist textkritisch höchst umstritten. Bursian (1857) 16 liest am Anfang des Satzes mit Gronovius (1672) 21 o statt deo und tilgt das in vor Spartano mit der Editio Romana (1585): o dignum Spartano sacramento virum cuius ne litterae quidem fuere sine sanguine! Zusätzlich ergänzen die Herausgeber seit Kiessling (1872) 20 mit B2 o vor virum und übernehmen Bernays’ Konjektur atramentum („Tinte“): o dignum Spartano atramentum! o virum, cuius ne litterae quidem fuere sine sanguine! Wir sehen keine zwingende Veranlassung, den überlieferten Wortlaut zu ändern, und halten zwei Erklärungen für möglich: Entweder bedeutet der Ausruf „ein Mann, der des Gottes im spartanischen Diensteid würdig ist“, wobei mit dem Gott Herkules gemeint ist. Zwar ist uns nicht bekannt, dass Herkules in einem spartanischen Diensteid genannt wurde, aber hierbei kann es sich um eine Fiktion des Deklamators handeln. Außerdem liegt dieser Gedanke nicht fern von jenem Gedanken, in dem Herkules als Vorbild für die Spartaner mit Bezug auf den Kampfesmut dient; vgl. Cestius in § 5: ideo Hercule gloriamur de operibus caelum merito; Tyrtaeus fr. 8 Gentili / Prato (1979) 27, wo die Spartaner im Messenischen Krieg angesprochen werden: ἀλλ’, Ἡρακλῆος γὰρ ἀνικήτου γένος ἐστέ, / θαρσεῖτ’ οὔπω Ζεὺς αὐχένα λοξὸν ἔχει / μηδ’ ἀνδρῶν πληθὺν δειμαίνετε μηδὲ φοβεῖσθε, / ἰθὺς δ’ ἐς προμάχους ἀσπίδ’ ἀνὴρ ἐχέτω. Alternativ ist zu überlegen, ob man den Ausruf i.S.v. „ein Mann, der verdient hätte, als Gott im spartanischen Diensteid genannt zu werden“ verstehen darf. CATIVS CRISPVS †municipalis† cacozelos dixit post relatum exemplum Othryadis: aliud ceteros, aliud Laconas decet; nos sine deliciis educamur, sine muris vivimus, sine vita vincimus: Der Deklamator begeht einen ähnlichen Fehler wie Murredius contr. 9,2,27 und Glykon suas. 1,16, indem er in einem Polykolon (in diesem Fall Trikolon) durch Ergänzung eines unsinnigen letzten Gliedes in Schwulst verfällt. Für den stilistischen Fehler der Kakozelie vgl. Quint. inst. 8,3,56 – 58 und s. den Kommentar zu suas. 1,12. Für die Referenz auf Spartas fehlende Stadtmauer vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle. Der Deklamator Catius Crispus (vgl. RE III 2 s.v. Catius 8, Sp. 1793) ist uns ansonsten unbekannt. Zu municipalis ergänzen die modernen Herausgeber seit Müller (1887)

2.2 Kommentar

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542 ein Substantiv, indem sie entweder mit Müller orator oder mit Edward (1928) 112 rhetor supplieren. Gertz (1879) 151 schlägt vor, declamator zu ergänzen, während Schott das Wort tilgt (vgl. Müller [s.o.]). Ein textkritischer Eingriff an dieser Stelle ist wohl notwendig, da die Information, dass Catius Crispus aus einem Munizipium stammt, nicht mitteilungswürdig erscheint. In § 18 und suas. 6,27 wird immerhin deutlich, dass die betreffenden Personen aus demselben Munizipium stammen wie Seneca d.Ä. (Corduba). Da allerdings fraglich ist, welches Wort ergänzt werden muss, setzen wir municipalis in Cruces. Das Adverb cacozelos (möglich wäre hier auch die Auffassung als Nominativ) begegnet in der gesamten lateinischen Literatur nur an dieser Stelle (vgl. ThLL III 10,22– 24). Im Griechischen kommt das Adverb erst Gal. 18,180 vor. Hier handelt es sich um eine Emendation von Gronovius (1672) 21 und Haase (1851) 174, die sie in griechischer Schrift vorschlagen. Angesichts der überlieferten Formen lässt sich kaum entscheiden, ob das Adverb in lateinischer oder griechischer Schrift wiedergegeben werden muss. Aber aufgrund der Tatsache, dass cacozelia im Werk des älteren Seneca ansonsten lateinisch geschrieben wird (contr. 9,1,15; 9,2,28; suas. 7,11), geben auch wir das Adverb in lateinischer Schrift wieder. 17 Seneca d.Ä. stellt den Sentenzen des Seneca Grandio eine kurze Schilderung über den Grund seines Cognomens voran. An dieser Stelle erfüllt die Anekdote – wohl im Gegensatz zu derjenigen über Potamon und Lesbokles in § 15 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) – den Zweck, dem Leser Informationen zum besseren Verständnis der Sentenzen zu geben. SENECA fuit, cuius nomen ad vos potuit pervenisse, ingenii confusi ac turbulenti, qui cupiebat grandia dicere, adeo ut novissime morbo huius rei et teneretur et rideretur; nam et servos nolebat habere nisi grandes et argentea vasa non nisi grandia: Der hier genannte Seneca Grandio (vgl. RE II A 2 s.v. Seneca 2, Sp. 1456; Echavarren [2007] 241 f.) ist uns ansonsten unbekannt. Die Bewertung des ingenium einer Person als confusum und turbulentum (vgl. O. & E. Schönberger [2004] 285: „ein konfuser Wirrkopf“) ist ohne Parallelen. Zu diesem Ergebnis gelangt zum Teil auch Bardon (1940) 21 und 59, der darauf hinweist, dass es für turbulentus in diesem Zusammenhang keine Parallele bei Cicero oder Quintilian gibt. Die Parallelstellen, die sich seiner Meinung nach für confusus bei Cicero (de orat. 3,137; confuse Brut. 153) und Quintilian (inst. 8,6,67) finden, sind aus dem Grund Scheinparallelen, weil sich die Adjektive dort nicht auf das ingenium einer Person oder eine Person selbst beziehen. Gertz’ (1879) 151 Tilgung von dicere mit dem Argument, dass Seneca Grandio nicht nur Großes sagt, wurde nur und wohl zu Unrecht von Winterbottom (1974) II 526 übernommen, da dieser Paragraph darauf hinausläuft, dass dessen Sentenzen referiert werden. Novák

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2 suas. 2

(1915) 284 tilgt das non vor nisi grandia, da es ihm zufolge nach nolebat habere nicht stehen kann und möglicherweise aus dem folgenden non iocanti antizipiert wurde. Wir weisen diesen textkritischen Eingriff zurück, da hier der Fall der Brachylogie vorliegt, in dem aus einem negativen Wort (nolebat) ein affirmatives Wort (volebat) entlehnt werden muss (vgl. K.-St. II 2, S. 563); vgl. Cic. nat. deor. 1,17: nolo existimes me adiutorem huic venisse, sed [sc. velim existimes] auditorem; Tusc. 5,116: nostri Graece fere nesciunt nec Graeci Latine [sc. sciunt]. Auf ähnliche Weise muss suas. 1,10 aus negare anschließend ein positives Verbum dicendi wie dixit gedanklich ergänzt werden (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). credatis mihi velim non iocanti: eo pervenit insania eius, ut calceos quoque maiores sumeret, ficus non esset nisi mariscas; concubinam ingentis staturae habebat: Dass Seneca Grandio nur männliche Feigen isst, liegt daran, dass diese größer sind; vgl. Cato agr. 8,1;Varro rust. 1,6,4; 1,9,5. Horaz (sat. 2,2,122) nennt diese Feigenart duplex ficus. Alle Herausgeber seit Kiessling (1872) 20 lesen am Ende des Satzes dessen Konjektur haberet anstelle des überlieferten habebat. Auch wenn diese Angleichung an die vorigen Verben im ut-Satz verlockend ist, meinen wir, dass dieser Grund nicht ausreicht, um einen textkritischen Eingriff vorzunehmen. Wir lesen daher wie Bursian (1857) 16 einen Hauptsatz mit dem Prädikat habebat. Für das zweigliedrige Asyndeton vgl. Cic. fam. 15,12,2: magno opere a te peto, ut operam des efficias […]. Für quoque i.S.v. „sogar“ vgl. suas. 1,3 mit dem Kommentar zur Stelle. omnia grandia probanti impositum est cognomen vel, ut Messala ait, cognomentum, et vocari coepit Seneca Grandio: Die Angabe, dass Messala nicht cognomen, sondern cognomentum sagt, wird von Edward (1928) 113 und Winterbottom (1974) II 528 Fußn. 1 so verstanden, dass der Purist Messala (vgl. contr. 2,4,8) das ältere Wort cognomentum bevorzugt. Zanon dal Bo (1988) 222 Fußn. 25 macht darauf aufmerksam, dass ebenso gemeint sein könnte, dass Messala sich einen Scherz daraus macht, mit Bezug auf Seneca Grandio das längere Wort zu benutzen. Wir meinen, dass ein Scherz vorliegt, da eine linguistische Information über Messala hier fehl am Platze wäre. Obendrein bedeutet die Tatsache, dass Messala ein Purist war, nicht, dass er archaische Formen bevorzugt hat.Vgl. suas. 1,7, wo Messala Dellius als desultor bellorum civilium bezeichnet. Für Messalas Auftreten generell im Werk des älteren Seneca vgl. außerdem § 20; contr. 2,4,8 und 10; 3 praef. 14; suas. 3,6; 6,27. Semantisch gesehen besteht zwischen cognomen und cognomentum kein Unterschied (Substantive auf -men und -mentum sind gleichermaßen nomina rei actae; vgl. L.-H.-Sz. I, S. 370), d. h. cognomentum ist nicht die Augmentativ-, sondern die ältere Form zu cognomen (vgl. ThLL III 1494,16 f.). Die aktiven Formen von coepi neben einem Infinitiv Passiv mit

2.2 Kommentar

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rein passiver Bedeutung werden ab Livius immer häufiger verwendet (vgl. K.-St. II 1, S. 678). aliquando iuvene me is in hac suasoria, cum posuisset contradictionem ‘at omnes qui missi erant a Graecia fugerunt’, sublatis manibus insistens summis digitis – sic enim solebat, quo grandior fieret – exclamat: gaudeo, gaudeo! mirantibus nobis, qui tantum illi bonum contigisset, adiecit: totus Xerses meus erit: Seneca Grandio geht wie Latro in § 4 auf den imaginären Einwand ein, dass alle anderen griechischen Kontingente geflohen sind, und gibt dieser Tatsache wie Cornelius Hispanus in § 7 eine positive Wendung. Das Substantiv contradictio wird hier in seiner nicht-logischen Verwendungsweise gebraucht und bedeutet „Einwand“ (vgl. ThLL IV 755,47– 756,23). Das Wort findet sich zuerst bei Seneca d.Ä. (hier, in § 18 und contr. 4 praef. 11; vgl. Sander [1877] 4) und scheint seinen Ursprung in den Rhetorikschulen zu haben, da es auch häufig von Quintilian verwendet wird (z. B. inst. 5,13,42; decl. 338,5 f.). Wie alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Håkanson (1989) 346 lesen wir das überlieferte exclamat und nicht mit Otto (1885) 416 exclamavit, da exclamat hier Praesens historicum ist. Für das Phänomen, dass dann im Nebensatz diejenige Form steht (posuisset), die nach einer Perfektform im Hauptsatz stünde,vgl. Liv. 1,30,1: Caelius additur urbi mons, et quo frequentius habitaretur, eam sedem Tullus regiae capit ibique habitavit. Für den Wechsel zwischen Praesens historicum und Perfekt (adiecit) vgl. K.-St. II 1, S. 115. Am Anfang des Satzes lesen wir mit Jonas iuvene me (vgl. Müller [1887] 543) anstelle des überlieferten invenire, da das Verb hier keinen Sinn ergibt und die Verbesserung einfach und sinnvoll ist. Das Präfix bzw. die Verschreibung in vor posuisset tilgen wir wie alle modernen Herausgeber mit V2, da nirgends die Junktur contradictionem imponere verwendet wird und das in möglicherweise aus doppelt abgeschriebenem -m nach cum entstanden ist. Das Simplex ponere ist hingegen (neben sumere) das gewöhnliche Verb in dieser Junktur (vgl. contr. 4 praef. 11; Quint. inst. 2,17,36 u. ö.). Gegen Gertz’ Konjektur interposuisset (vgl. Müller [s.o.]) spricht, dass die Junktur contradictionem interponere erst ab Augustinus (coll. c. Don. 3,15) belegt ist. Hinter mirantibus nobis lesen die Herausgeber seit Kiessling (1872) 21 mit C.F.W. Müller quod anstelle von quid (AV) bzw. qui (B). Da quid neben tantum […] bonum nicht stehen kann, lesen wir wie Bursian (1857) 16 qui. Für qui in der indirekten Frage vgl. Cic. Verr. II 5,45: noli metuere, Hortensi, ne quaeram qui licuerit aedificare navem senatori. item dixit: iste, qui classibus suis maria subripuit, qui terras circumscripsit, dilatavit profundum, novam rerum naturae faciem imperat, ponat sane contra caelum castra: commilitones habebo deos: Mit der Formulierung classibus suis maria subripuit bezieht sich der Deklamator auf Xerxes’ Errichtung

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2 suas. 2

einer Schiffsbrücke über die Dardanellen, mit den Worten dilatavit profundum beschreibt er den Bau des Kanals durch die Athos-Halbinsel (vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle). Die Angabe terras circumscripsit verweist auf die Zählung des persischen Heeres, bei der 10.000 Soldaten zusammengetrieben und ein Kreis um sie gezogen wurde. Anschließend ließ man die Soldaten heraustreten und errichtete eine Mauer um den Kreis. Dadurch, dass der Rest des Heeres sukzessive in den ummauerten Bezirk schritt, konnte die Gesamtzahl ermittelt werden (vgl. Herodot 7,60). Mit den Worten ponat sane contra caelum castra bezeichnet der Deklamator die Möglichkeit, dass Xerxes auch noch die Himmelsgötter angreift. Die Götter stehen aber nach Xerxes’ übermütigen Angriffen gegen Land und Meer auf der Seite der Spartaner (commilitones habebo deos). Auch suas. 5,2 und 4 wird Xerxes’ Kampf gegen die Griechen als Kampf gegen die Götter dargestellt. Die Syntax des Satzes ist nicht eindeutig. Håkanson (1989) 346 setzt vor ponat ein Semikolon und scheint – wie auch aus einer Anmerkung ad loc. hervorgeht – davon auszugehen, dass mit dilatavit profundum der Hauptsatz beginnt. Wir halten es wie die vorigen Herausgeber für wahrscheinlicher, dass mit dem konzessiven Konjunktiv ponat der Hauptsatz beginnt, da der Moduswechsel der größte Einschnitt in diesem Satz ist und das Präsens in imperat als zusammenfassende Feststellung anzusehen ist. Daher ist die handschriftliche Korrektur importat ebenso wie Ribbecks Konjektur imperavit anstelle von imperat (vgl. Müller [1887] 543) zurückzuweisen. Auch Madvigs Vorschlag, hinter profundum einen Punkt zu setzen und imperet statt imperat zu lesen (vgl. Müller [s.o.]), ist unnötig. 18 SAENIANVS multo potentius dixit: terras armis obsidet, caelum sagittis, maria vinculis; Lacones, nisi succurritis, mundus captus est: Auch die hier genannten Taten dürfen laut Lukian in einer Deklamation nicht fehlen (vgl. § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: sed montes perforat, maria contegit): Herodot (7,34 f.) berichtet, dass Xerxes den Hellespont auspeitschen und Fußfesseln in ihm versenken ließ, um ihn dafür zu bestrafen, dass ein Sturm die über ihn errichtete Brücke zerstört hatte: ὡς δὲ ἐπύθετο Ξέρξης, δεινὰ ποιεύμενος τὸν Ἑλλήσποντον ἐκέλευσε τριηκοσίας ἐπικέσθαι μάστιγι πληγὰς καὶ κατεῖναι ἐς τὸ πέλαγος πεδέων ζεῦγος. Das Pfeilschießen in die Luft bezieht sich nicht auf Dareios (so Winterbottom [1974] II 529 Fußn. 3), der sich auf diese Weise darüber erbost haben soll, dass Sardes von den Athenern und Ioniern in Brand gesteckt worden war (vgl. Herodot 5,105). Vielmehr liegt ebenfalls ein Bezug auf die Schlacht bei den Thermopylen vor, da der Spartaner Dienekes, nachdem er erfahren hatte, dass die Perser durch die Menge ihrer Pfeile die Sonne verdunkeln würden, gesagt haben soll, dass man dann im Schatten gegen sie kämpfen werde (vgl. Herodot 7,226,2); vgl. Cic. Tusc. 1,101: e quibus [sc. Lacedaemoniis] unus, cum Perses hostis in con-

2.2 Kommentar

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loquio dixisset glorians: ‘solem prae iaculorum multitudine et sagittarum non videbitis’, ‘in umbra igitur’ inquit ‘pugnabimus’. Auch bei Valerius Maximus (3,2 ext. 3) und Seneca d.J. (dial. 2,4,2) werden diese beiden Taten zusammen erwähnt; vgl. ferner Iuv. 10,182 mit Mayor ad loc. Das Substantiv arma bezieht sich – wie suas. 5,1 – metonymisch auf die Soldaten bzw. auf das Heer (vgl. ThLL II 600,44– 601,44). Das Adverb potentius bzw. potenter wird im Werk des älteren Seneca sonst nirgends mit Bezug auf den Stil verwendet. Diese Verwendungsweise des Adverbs findet sich nicht bei Cicero, aber bei Quintilian (inst. 6,3,83). Für das Perfekt captus est vgl. invenerit in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle. Decentissimi generis stultam sententiam referam VICTORIS STATORI, municipis mei, cuius fabulis memoria dignissimis aliquis †suasoria occasione† sumpsit contradictionem: Der Satz birgt einige Probleme v. a. textkritischer Art. Den Gegensatz zwischen dem decentissimum genus und der stulta sententia hat Shackleton Bailey (1969) 320 dadurch behoben, dass er decentissimi zu licentissimi emendiert hat. Ihm ist Winterbottom (1974) II 528 gefolgt. Watt (1988) 857 schlägt aus demselben Grund vor, indecentissimi zu lesen. Håkanson ad loc. wehrt sich jedoch zu Recht mit Fairweather (1981) 364 Fußn. 81 gegen Shackleton Baileys Konjektur, da Seneca d.Ä. auch an anderen Stellen ähnliche, scheinbar widersprüchliche Formulierungen benutzt: contr. 7,5,11: nihil est autem amabilius quam diligens stultitia; 10,5,25: non minus stulte Aemilianus quidam, Graecus rhetor, quod genus stultorum amabilissimum est, ex arido fatuus, dixit […]. Das Adjektiv decens bedeutet hier soviel wie amabilis oder pulcher; vgl. § 13 mit dem Kommentar zur Stelle. Die Angabe municipis mei verweist darauf, dass Statorius Victor ebenso wie der ältere Seneca aus Corduba stammt. Da uns über Statorius Victor und dessen fabulae ansonsten nichts bekannt ist (vgl. RE III A 2 s.v. Statorius 4, Sp. 2230; Echavarren [2007] 249), lässt sich nicht angeben, was mit den fabulae gemeint ist. In Frage kommen u. a. Dramen (vgl. ThLL VI 1,28,18 – 79), wie Winterbottom (s.o.) 529 das Wort übersetzt, Fabeln (vgl. ThLL ib. 27,30 – 37) oder Erzählungen. Die Junktur sumere contradictionem bedeutet „einen Einwand vorwegnehmen“, d. h. sumere steht für anticipare (vgl. ThLL IV 755,50 f.); vgl. contr. 9,3,10; Quint. inst. 11,3,163; decl. 338,6. Für contradictio vgl. § 17 mit dem Kommentar zur Stelle. Da der Satz offenkundig korrupt überliefert ist, wird er von Bursian (1857) 16 und Kiessling (1872) 21 in Cruces gesetzt und von den Herausgebern seit Müller (1887) 543 durch delectetur. is huius ergänzt: cuius fabulis memoria dignissimis aliquis delectetur. is huius suasoriae occasione sumpsit contradictionem. Da der auf diese Weise hergestellte Text zwar den richtigen Sinn auszudrücken scheint, aber sprachlich insofern fragwürdig ist, als dies die erste Stelle wäre, an der der präpositionslose Ablativus temporis occasione gebraucht wird (vgl. ThLL IX 336,23 – 55), setzen wir Cruces.

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‘at’ inquit ‘trecenti sumus’ et ita respondit: trecenti, sed viri, sed armati, sed Lacones, sed ad Thermopylas. numquam vidi plures trecentos: Statorius Victor meint, dass er niemals dreihundert Soldaten gesehen hat, die mehr ausrichten können. Edward (1928) 113 zufolge erklärt sich die widersprüchliche Formulierung decentissimi generis stultam sententiam dadurch, dass Seneca d.Ä. zwar die Form des Satzes, d. h. die Wiederholung von sed, gutheißt, aber den Gedanken kritisiert. Jedoch zeigen uns die beiden Parallelen contr. 7,5,11 und 10,5,25 (s. vorige Anmerkung), dass die Trennlinie nicht zwischen dem Gedanken und dem Ausdruck verläuft. Daher vermuten wir, dass sich das etwas widersprüchliche Urteil nur auf den Nachsatz numquam vidi plures trecentos bezieht und diese Sentenz einerseits kritisiert wird, ihr aber andererseits etwas Sympathie zugesprochen wird. Für die Wiederholung des korrigierenden sed vergleicht Edward (s.o.) Sen. dial. 2,13,5: habes sub te Parthos, Medos et Bactrianos, sed quos metu contines, sed propter quos remittere arcum tibi non contigit, sed postremos, sed venales, sed novum aucupantes dominium. Für die Verwendung eines imaginären Einwandes der Soldaten vgl. Triarius in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle. 19 LATRO in hac suasoria, cum tractasset omnia, quae materia capiebat, posse ipsos et vincere, posse certe invictos reverti et beneficio loci, tum illam sententiam: si nihil aliud, erimus certe belli mora: An die Formulierung belli mora knüpft Seneca d.Ä. im Folgenden eine kurze Geschichte dieser Junktur an. Sofern wir seinen Angaben trauen können, ist Latro der Urheber dieser Sentenz. Komplementär zu dieser Stelle ist contr. 2,2,8 zu lesen, wo Seneca d.Ä. behauptet, dass Ovid Sentenzen von Latro in seine Dichtung übernommen hat, und Beispiele dafür bietet. Dass die Formulierung belli mora großen Einfluss ausgeübt hat, wird nicht nur an dieser Suasorienstelle (§§ 19 f.), sondern auch aus anderen Parallelen deutlich; vgl. ThLL VIII 1467,67– 1468,10; Edward (1928) 114; Echavarren (2006) 46. Ohne direkten Bezug auf eine Person liegt sie bei Livius (perioch. 113) vor: Pharnaces, Mithridatis filius, rex Ponti, sine ulla belli mora victus est. Mit Bezug auf eine Person findet sich die Junktur belli mora (aut sim.) außer bei dem im Folgenden zitierten Silo bei Vergil und mehreren nachvergilischen Dichtern; vgl.Verg. Aen. 10,427 f.: primus Abantem / […] interimit, pugnae nodumque moramque; Ov. met. 8,175; 12,20; Sen. Tro. 124; Ag. 211; Pho. 458; Lucan. 1,100; Sil. 1,479. Als ein Vorbild für diese Formulierung im weiteren Sinne ist sicherlich auch das homerische ἕρκος πολέμοιο zu sehen, das u. a. auf Achill bezogen wird (Il. 1,284); vgl. Dahlmann (1975) 142. Die Verwendung der Sentenz erimus certe belli mora durch Latro bietet sich in diesem Zusammenhang auch deshalb an, weil die dreihundert Spartaner als Vorhut in die Schlacht bei den Thermopylen geschickt wurden und in der Tat die Aufgabe hatten, den Krieg hinauszuzögern (s. Einleitung).

2.2 Kommentar

293

Der argumentative Zusammenhang, in dem Latro diese Sentenz benutzt, lässt sich aus den Angaben, die Seneca d.Ä. hier macht und die an Angaben aus der divisio erinnern, in etwa folgendermaßen rekonstruieren: Das erste Argument des Deklamators ist, dass die Spartaner sogar siegen können (für et i.S.v. „sogar“ vgl. OLD s.v. et 6). Anschließend führt er das Argument an, dass sie unbesiegt heimkehren können. Damit ist die Möglichkeit gemeint, dass die Schlacht unentschieden ausgeht. In diesem Zusammenhang schildert er die für die Spartaner günstige geographische Lage (vgl. Fuscus in § 1). Schließlich versucht er, die Spartaner durch das Argument vom Kampf zu überzeugen, dass selbst die Niederlage für die Griechen nützlich ist, da sie so die Perser zumindest aufhalten, und äußert die hier referierte Sentenz. Textkritisch ist der Anschluss des stützenden Argumentes der geographischen Lage umstritten. Schulting liest die elliptische Aussage hic beneficia loci (vgl. Müller [1887] 544). Bursian (1857) 17 liest mit V et beneficia loci hinter reverti. Kiessling (1872) 21 tilgt das et vor dem in A und B überlieferten beneficio. Müller (s. o.) emendiert et zu ait und liest beneficio. Håkanson (1989) 347 ergänzt virtute vor et und liest beneficio. Auch wenn Håkanson ad loc. zuzustimmen ist, dass virtute nach reverti leicht ausgefallen sein kann, meinen wir, dass eine Ergänzung nicht nötig ist und das in A und B überlieferte beneficio gehalten werden kann. Die Angabe et beneficio loci bedeutet „auch aufgrund der vorteilhaften geographischen Lage“, d. h. hierbei handelt es sich um eines der stützenden Argumente, durch die Latro den in invictus ausgedrückten Gedanken erhärtet. Für et i.S.v. „auch“ vgl. OLD s.v. et 5 und contr. 9,2,26: illi qui tument […] plus habent furoris sed plus et corporis. Schultings Supplierung von adiecit hinter sententiam, die Kiessling (s.o.) übernimmt, halten wir wie die übrigen Herausgeber für unnötig, da die Ellipse eines Verbum dicendi im Werk des älteren Seneca häufig vorkommt; vgl. Sander (1877) 15. postea memini auditorem Latronis †ARBRONVM† SILONEM, patrem huius Silonis, qui pantomimis fabulas scripsit et ingenium grande non tantum deseruit sed polluit, recitare carmen, in quo agnovimus sensum Latronis in his versibus: Die Formulierung des älteren Seneca legt nahe, dass Silo die Sentenz seines Lehrers Latro übernommen hat. Dahlmann (1975) 142 zieht diese literarische Abhängigkeit in Zweifel und macht auf die Möglichkeit aufmerksam, dass Silo mit belli mora die homerische Wendung ἕρκος πολέμοιο wiedergibt (s. die vorige Anmerkung). Wir sehen jedoch keinen Anlass, an der Aussage des älteren Seneca zu zweifeln, da Silo ein Schüler Latros war und beide denselben Gedanken mit denselben Worten ausdrücken, wohingegen die homerische Wendung etwas anderes bedeutet. Über Silo und seinen Sohn, den Pantomimendichter, ist uns ansonsten nichts bekannt (vgl. RE I 1 s.v. Abronius, Sp. 115; Echavarren [2007] 31 f.); sogar sein Name ist umstritten (s.u.). Die starke Kritik an dem Pantomimendichter

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2 suas. 2

erklärt sich wohl nicht aus der schlechten Qualität seiner Stücke, sondern aus der Tatsache, dass er dieser Betätigung nachgeht. Vgl. für dieses vernichtende Urteil über den Pantomimus contr. 9,2,8; Cic. off. 1,150; Catil. 2,23; Deiot. 28; Ov. rem. 753; Sen. epist. 90,19; Quint. inst. 9,4,142. Die erste Person Plural in agnovimus referiert wohl auf Seneca d.Ä. und die anderen Zuhörer der Rezitation; vgl. quod nos delectavit suas. 4,4 mit dem Kommentar zur Stelle. Das Verb agnoscere wird auch suas. 3,7 verwendet, wo eine Imitation thematisiert wird. Für auditor i.S.v. „Schüler“ vgl. die Begriffsgeschichte, die Seneca d.Ä. contr. 9,2,23 skizziert. Für sensus i.S.v. „Sentenz“ vgl. §§ 12; 20 und suas. 1,13 mit dem Kommentar zur Stelle. Der Name des Dichters ist in den Handschriften als Arbronus (AB) bzw. Abronus (V) überliefert. Da Eigennamen im Werk des älteren Seneca häufig verschrieben worden sind und die beiden überlieferten Namensformen – nicht nur mit Bezug auf Silo, sondern generell – sonst nirgends existieren, lässt sich nicht entscheiden, welche Form zu lesen ist bzw. ob die überlieferten Formen zu emendieren sind, wie es vielfältig getan wurde; vgl. Bursian (1857) 17; Knoche (1928) 691; Echavarren (s.o.) und die bei Müller (1887) 544 und Håkanson (1989) 347 verzeichneten Konjekturen. Daher setzen wir den in den besten Handschriften überlieferten Namen in Cruces. ite agite, 〈o〉 Danai, magnum paeana canentes, / ite triumphantes: belli mora concidit Hector: Wie bei Homer (s.u.) spricht wohl Achill die Griechen nach der Tötung Hektors an. Für das hier vorliegende hexametrische Fragment vgl. FPL p. 120 Morel; p. 153 Büchner; p. 297 f. Blänsdorf; Dahlmann (1975) 140 – 144; Courtney (1993) und (2003) 331; Echavarren (2006) 44– 49; Hollis (2007) 330 f. Der erste Teil des Zitats zeigt eine starke Homerimitation (Il. 22,391– 393): νῦν δʼ ἄγʼ ἀείδοντες παιήονα κοῦροι Ἀχαιῶν / νηυσὶν ἔπι γλαφυρῆισι νεώμεθα, τόνδε δʼ ἄγωμεν. / ἠράμεθα μέγα κῦδος· ἐπέφνομεν Ἕκτορα δῖον. Vgl. auch Verg. Aen. 6,656 f.: conspicit, ecce, alios dextra laevaque per herbam / vescentis laetumque choro paeana canentis und Prop. 3,4,7– 10. Seneca d.Ä. richtet sein Augenmerk jedoch ausschließlich auf die Formulierung belli mora und die Abhängigkeit zwischen Latro und dessen Schüler Silo. Laut Russell apud Courtney (s.o.) 331 ist der Bezug von belli mora auf Hektor insofern signifikant, als der Name Hektor „he who stays the battle“ bedeute. Aber zum einen ist dies nicht ganz korrekt, da der Name Hektor sich von ἔχω ableitet, aber keinen bestimmten Bezug zum Krieg hat (vgl. LSJ s.v. ἕκτωρ). Zum anderen scheint uns diese Tatsache für die hier vorliegende Stelle irrelevant zu sein. Wie alle modernen Herausgebern ergänzen wir mit der Editio Romana (1585) o vor Danai, da der Vers sonst metrisch unvollständig wäre. tam diligentes tunc auditores erant, ne dicam tam maligni, ut unum verbum surripi non posset; at nunc cuilibet orationes in Verrem tuto 〈dicere〉 licet

2.2 Kommentar

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pro suo: McGill (2005) hat sich zu Recht gegen die Forschungsmeinung (vgl. Edward [1928] 114; Bonner [1949] 136; Sussman [1972] 204) gestellt, der zufolge aus dieser Stelle hervorgeht, dass Ciceros Verrinen in den 30er Jahren n.Chr. kaum noch bekannt waren. Das, was Seneca d.Ä. hier feststellt, ist ein Verfall der Sensibilität für Imitationen bzw. Plagiate (vgl. Bornecque [1902b] 111). Ciceros Verrinen dienen als ein prominentes Beispiel und tragen zu der Übertreibung bei, dass früher (zu Zeiten von Silos Rezitation) kein Wort Gegenstand eines Plagiates sein konnte, während jetzt sogar Ciceros längstes oratorisches Werk unbemerkt benutzt werden kann. Da die übertriebene Kritik auf den Kenntnisstand der Zuhörer zielt, ist komplementär zu dieser Stelle die Praefatio zum Werk zu lesen, in der Seneca d.Ä. den Verfall der eloquentia beklagt und die Plagiatsproblematik als ein Symptom des Verfalls darstellt (contr. 1 praef. 6 – 10). Die Plagiatsproblematik erscheint dort auch als einer der Gründe für die Abfassung des Werkes. Da das Verb surripere negative Konnotationen trägt und das Plagiat im Gegensatz zur Imitation bezeichnet (vgl. suas. 3,7 mit dem Kommentar zur Stelle), stellt sich die Frage, von wem der Vorwurf des Plagiats stammt. McGill (2010) 121– 123 zufolge haben die Zuhörer bei Silos Rezitation den Vorwurf des Plagiats erhoben. Seneca d.Ä. hingegen bewerte denselben Sachverhalt (die Übernahme von Latros Junktur belli mora durch Silo) als Imitation, da er Silo nicht kritisiert und dessen Verse am Anfang von § 20 sogar lobt (bene dictum). Diese Unterscheidung lässt sich unseres Erachtens nicht treffen, da der Schwerpunkt der Aussage des älteren Seneca auf dem Verfall der Sensibilität für Imitationen bzw. Plagiate liegt und nicht auf der Frage, ob im speziellen Fall von Silo eine Imitation oder ein Plagiat vorliegt. Die allgemein gehaltene Aussage tam diligentes tunc auditores erant, ne dicam tam maligni, ut unum verbum surripi non posset muss man wohl so verstehen, dass damalige Zuhörer einer Rezitation oder einer Deklamation Imitationen sofort erkannt und teilweise als Plagiate kritisiert haben. Der Bezug zur speziellen Rezitation des Silo und das Verhältnis von Seneca d.Ä. zur speziellen Zuhörergruppe, was die Bewertung der Imitation betrifft, sind jedoch unklar. Denn ob surripere der Meinung der anderen Zuhörer oder derjenigen des älteren Seneca entspricht, lässt sich nicht angeben. Gegen McGill ist jedenfalls einzuwenden, dass das Verb auch der Meinung des älteren Seneca im konkreten Fall des Silo entsprechen könnte und die Tatsache, dass im Folgendem von einem bene dictum die Rede ist, irrelevant für die Plagiatsproblematik ist. unum verbum: Da das in den besten Handschriften überlieferte unus verba ungrammatisch ist und unius verba (Recentiores) problematisch ist, lesen wir mit Spengel unum verbum (vgl. Müller [1887] 544). Die Lesart der Recentiores ist insofern problematisch, als unus i.S.v. „jemand“ nur selten und dichterisch belegt ist (vgl. OLD s.v. unus 11) und die Recentiores durch den Plural possent von posset

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2 suas. 2

abweichen (müssen). Unus versus, die Konjektur von Madvig und C.F.W. Müller (vgl. Müller [s.o.]), ist schlechter als diejenige von Spengel, da es in diesem Fall nicht um das Entwenden eines Verses, sondern von zwei Worten (belli mora) geht. Zudem muss man die Übertreibung des älteren Seneca berücksichtigen, so dass unum verbum hier und die orationes in Verrem im folgenden Teilsatz gut harmonieren (gegen Müller [s.o.], der orationem herstellt, und Gertz [1888] 297, der quidlibet ex oratione in Verrem adferre tuto licet lesen will). Daher kann auch Gertz’ zögernder Vorschlag, unum vel duo verba oder una II verba (vgl. Müller [s.o.]) zu lesen, nicht überzeugen. Håkansons (1989) 347 Konjektur una syllaba ist inhaltlich eine grobe Übertreibung und paläographisch gesehen deutlich schwieriger; daher wird sie auch von McGill (2005) 339 zurückgewiesen. tuto 〈dicere〉 licet pro suo: Kiesslings (1872) 22 Ergänzung von dicere vor licet scheint uns die einfachste syntaktische Verbesserung des zweiten Teilsatzes zu sein, auch wenn dann mit den Recentiores cuilibet gelesen werden muss (in den besten Handschriften ist quilibet überliefert). Müllers (1887) 544 Transposition dieser Supplierung hinter licet und diejenige von Winterbottom (1974) II 530 hinter suo bzw. suis (s.u.) stellt keine weitere Verbesserung dar. Gegen Vahlens Ergänzung von habere vor tuto (vgl. Müller [s.o.]) und Gertz’ (1888) 297 Supplierung von adferre spricht, dass dicere vor licet leicht ausgefallen sein kann und Seneca d.Ä. in der Praefatio zum Werk das Verb dicere in diesem Zusammenhang benutzt; vgl. contr. 1 praef. 10: sententias a disertissimis viris factas facile in tanta hominum desidia pro suis dicunt. Am Ende des Satzes lesen wir mit B und V suo, auch wenn man geneigt sein könnte, aufgrund der eben zitierten Stelle aus der praefatio mit der jüngeren Handschrift D suis zu lesen (so Winterbottom [s.o.]). Für das substantivische suum im Singular („sein Eigentum“) vgl. Caes. Gall. 1,43,8: populi Romani hanc esse consuetudinem, ut socios […] sui nihil deperdere […] velit. 20 sed ut sciatis sensum bene dictum dici tamen posse melius, notate prae ceteris, quanto decentius Vergilius dixerit hoc, quod valde erat celebre, ‘belli mora concidit Hector’: Wie suas. 1,12 zitiert Seneca d.Ä. Vergil als Vorbild, diesmal jedoch, um zu zeigen, inwiefern man eine bereits gute Leistung noch steigern kann (dort wird Vergil im Kontrast zu einer misslungenen Äußerung eines Deklamators zitiert). In der Forschung ist die Frage kontrovers diskutiert worden, ob das folgende Vergilzitat von Silo abhängt. Dabei muss man die beiden Unterfragen unterscheiden, ob Seneca d.Ä. eine solche Abhängigkeit sieht und ob eine solche Abhängigkeit tatsächlich vorhanden bzw. wahrscheinlich ist. Dahlmann (1975) 143 meint, dass der Text nahe legt, dass Vergil Silo imitiert und übertroffen hat, wohingegen diese Abhängigkeit in Wirklichkeit nicht angenommen werden könne. Hollis (2007) 330 f. scheint ebenfalls davon auszugehen, dass

2.2 Kommentar

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nach Meinung des älteren Seneca Vergil seinen Vorgänger übertroffen hat; in seinen Augen ist aber eher Vergil das Vorbild für Silo. Berti (2007) 280 zufolge geht aus dieser Suasorienstelle hervor, dass Silo Vergil imitiert; dieser ersetze aber Vergils Formulierung durch die pointiertere von Latro. Chronologisch gesehen kommen beide Abhängigkeitsverhältnisse in Betracht, da Latro diese Suasorie in den 20-er Jahren v.Chr. deklamiert und Silo dann seine Rezitation gehalten haben kann. Jedoch ist zu fragen, was Silo von Vergil imitiert haben soll, da er die Sentenz ja von Latro übernommen hat. Die Frage, ob nach Meinung des älteren Seneca Vergil Silo imitiert hat, muss wohl mit „ja“ beantwortet werden. Denn aus der Angabe quod valde erat celebre geht hervor, dass Silos Sentenz bereits berühmt war, als Vergil sie imitiert hat. Daher wird man Seneca d.Ä. dahingehend zustimmen, dass Vergil den Gedanken, der in der Sentenz belli mora concidit Hector ausgedrückt ist, imitiert hat. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wird vielleicht durch eine weitere Beobachtung gestützt. Denn bei der Beantwortung der Frage, welcher Dichter tatsächlich von wem abhängt, scheint uns die Tatsache, dass Vergil selbst die Formulierung pugnae mora benutzt (Aen. 10,428) und Seneca d.Ä. dies hier verschweigt, nicht oder nur unzureichend erklärt worden zu sein. Dahlmann (s.o.) 144 bietet zwei Erklärungen, nämlich dass Vergil diese Formulierung nach dem homerischen Vorbild ἕρκος πολέμοιο geformt hat und nicht auf Hektor bezieht. Der fehlende Bezug auf Hektor erklärt in unseren Augen zumindest teilweise, warum hier nicht auf Aen. 10,428 verwiesen wird. Jedoch spricht die Tatsache, dass Vergil diese Junktur benutzt, unseres Erachtens dafür, dass er sie von Silo und damit letztlich von Latro übernommen hat. Denn die homerische Wendung ἕρκος πολέμοιο trägt einen anderen Sinn als belli mora. Und wenn Vergil der Urheber der Formulierung pugnae mora wäre, hätte Seneca d.Ä. dies wohl deutlich gemacht und diese Meriten nicht Latros Sentenz belli mora zugeschrieben. Zu imitatio und aemulatio generell im Werk des älteren Seneca vgl. Berti (2007) 251– 264. Für sensus i.S.v. „Sentenz“ vgl. §§ 12 und 19 und suas. 1,13 mit dem Kommentar zur Stelle. Das Adverb decentius heißt hier soviel wie melius oder elegantius (vgl. § 13 mit dem Kommentar zur Stelle). Zögernd übernehmen wir wie alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Håkanson (1989) 347 das in den Recentiores überlieferte notate prae ceteris (in den besten Handschriften ist non statt notate überliefert), da es den hier geforderten Sinn ergibt. Håkanson setzt prae ceteris in Cruces und begründet seine Entscheidung ad loc. damit, dass Parallelen für diese Junktur fehlen. Diese Aussage ist jedoch insofern zu korrigieren, als prae ceteris immerhin ab Gellius (z. B. 12,5,7) belegt ist (vgl. ThLL X 2,376,18 – 37). Ferner findet sich prae iis bei Livius (34,32,9). Daher verwerfen wir auch Håkansons (s.o.) Konjekturen, die er im Apparat anführt, nämlich comparate his und non prae-

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2 suas. 2

teribo. Für den indirekten Fragesatz nach notare vgl. Cic. div. 1,126: ita fit, ut et observatione notari possit, quae res quamque causam plerumque consequatur. quidquid ad adversae cessatum est moenia Troiae, / Hectoris Aeneaeque manu victoria Graium / haesit: Diese Verse (Aen. 11,288 – 290) entstammen dem Bericht, den der Gesandte Venulus vor Latinus abstattet und in dem er Diomedes’ Auskunft referiert. Mit manu […] haesit umschreibt Vergil Latros bzw. Silos Ausdruck belli mora. In Vers 288 zitiert Seneca d.Ä. Vergil ‘falsch’, da in den Vergilhandschriften apud durae und nicht ad adversae überliefert ist. In der Handschrift V sind die Worte apud durae an den Rand geschrieben worden. Dabei lässt sich kaum entscheiden, ob es sich um eine Anmerkung der ersten (V) oder zweiten Hand (V2) handelt. Für die abweichende Überlieferung vgl. suas. 1,12 und die Diskussion über das Vergilische plena deo suas. 3,5 – 7 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. Vgl. ferner suas. 3,1 und 4 mit dem Kommentar zur Stelle, wo dasselbe Exzerpt eines Deklamators unterschiedlich zitiert wird. Man denke auch an die Verse aus Ovids Arachne-Geschichte (Ov. met. 6,55 – 58), die Seneca d.J. ‘falsch’ zitiert (epist. 90,20). Messala aiebat hic Vergilium debuisse desinere; quod sequitur ‘et in decimum vestigia rettulit annum’ explementum esse: Messalas Kritikpunkt bezieht sich auf eine Eigenart der Vergilischen Dichtung, die Berti (2007) 282 dicolon abundans nennt, nämlich dass ein Gedanke doppelt ausgedrückt wird; vgl. Horsfall (2003) 195 (ad Aen. 11,290). Wie Berti (s.o.) Fußn. 1 sind wir der Meinung, dass diese Stelle nichts mit der Halbversproblematik zu tun hat, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass das explementum einen Einschub von fremder Hand bezeichnet, wie Geymonat (1995) 296 behauptet. Denn die Formulierung Messala aiebat hic Vergilium debuisse desinere macht deutlich, dass ein ästhetisches Urteil derart vorliegt, dass Vergils Wiederholung des Gedankens kritisiert wird. Daher lässt sich dieser Textstelle auch nicht entnehmen, dass Messalas Kritik zum „Abbrechen des Gedankens in der Zäsur“ und damit indirekt zum Herstellen von Halbversen (durch einen Überarbeiter der Aeneis) auffordert (gegen Zwierlein [1999] 188). So wie Messala hier einen Teil des Vergilverses für überflüssig hält, tut dies Ovid mit Bezug auf einen Vers von Varro contr. 7,1,27: ‘desierant latrare canes urbesque silebant; / omnia noctis erant placida composta quiete.’ solebat Ovidius de his versibus dicere potuisse longe meliores, si secundi versus ultima pars abscideretur et sic desineret: ‘omnia noctis erant’. Zwierleins (s.o.) 134 Meinung, dass die in diesem und im nächsten Satz geschilderte Debatte zwischen Messala und Maecenas „unhistorisch“ ist, scheint uns nicht hinreichend begründet zu sein. Für Messalas Auftreten im Werk des älteren Seneca s. den Kommentar zu § 17. Das Substantiv explementum wird in der lateinischen Literatur äußerst selten benutzt. Vor dieser

2.2 Kommentar

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Stelle kommt es nur einmal bei Plautus (Stich. 173) vor. In dieser Verwendungsweise (mit Bezug auf Literatur) findet es sich nur an dieser Stelle (vgl. ThLL V 2,1714,11– 14). Für die Substantive auf -mentum vgl. das ebenfalls von Messala gebrauchte cognomentum in § 17 mit dem Kommentar zur Stelle. Maecenas hoc etiam priori comparabat: Maecenas tritt hier wie suas. 1,12 zugunsten von Vergil auf – mit dem Unterschied, dass Vergil dort einer misslungenen Äußerung eines Deklamators entgegen gestellt wird, ohne selbst Ziel der Kritik zu werden. Maecenas tritt im Werk des älteren Seneca auch noch an folgenden Stellen auf: contr. 2,4,13; 9,3,14; 10 praef. 8; suas. 1,12; 3,5. Mit Bezug auf Vergil wird Maecenas signifikanterweise nur an den Suasorienstellen eingeführt. Für comparare mit dem Dativ i.S.v. „für ebenbürtig halten“ vgl. Liv. 45,35,5: cui ipsi quoque se conparare erubuissent. 21 Sed ut ad Thermopylas revertar, DIOCLES CARYSTIVS dixit: *** APATVRIVS dixit ***: Seneca d.Ä. kehrt hier zu den in dieser Suasorie geäußerten Sentenzen der Deklamatoren zurück, nachdem er in § 19 einen Exkurs über die Junktur belli mora begonnen hatte. Die Sentenzen der griechischsprachigen Deklamatoren Diocles Carystius und Apaturius sind – wie die meisten griechischen Sentenzen in § 14 – ausgefallen. Für die Überleitungsformel sed ut ad Thermopylas revertar vgl. diejenige in § 14, die jedoch zu der Materie und noch nicht zu dieser Suasorie überleitet (s. den Kommentar zur Stelle): sed ut revertar ad Leonidam et trecentos. CORVO rhetori testimonium stuporis reddendum est, qui dixit: Das Urteil des älteren Seneca ist wohl, wie Bornecque (1902) II 392 bemerkt, dadurch begründet, dass er auf die Dummheit des Raben aus der Fabel anspielt; vgl. Phaedr. 1,13,12: tunc demum ingemuit corvi deceptus stupor. Auch wenn Bornecque selbst zu bedenken gibt, dass Phaedrus’ Fabeln damals vielleicht noch nicht veröffentlicht waren, ist doch wahrscheinlich, dass Seneca d.Ä. wenn auch nicht auf Phaedrus’ Fabelversion, so doch zumindest auf den Stoff anspielt, der sicherlich Gemeingut war (vgl. Hor. sat. 2,5,55 f.). Bei rhetori handelt es sich um eine Emendation von Gronovius (1672) 24 anstelle des überlieferten thore (AV) bzw. hore (B). Wir übernehmen diese Emendation wie alle anderen modernen Herausgeber, da Corvus in der Tat eine Schule leitete, wie im Folgenden gesagt wird. Außerdem findet sich der Zusatz rhetor bisweilen im Zusammenhang mit Namen von Deklamatoren; vgl. z. B. contr. 1,2,21: Murredius rhetor. Hier ist die Angabe der Berufsbezeichnung wahrscheinlich durch den Gegensatz zu § 22 motiviert: sed si vultis, historicum quoque vobis fatuum dabo. Echavarren (2007) 118 hingegen äußert die Vermutung, dass sich in den überlieferten Formen das nomen gentile des Deklamators verbirgt.

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quid? si iam Xerses ad nos suo mari navigat, fugiamus, antequam nobis terra subripiatur?: Die Kritik an Corvus’ Sentenz richtet sich wohl gegen den übertriebenen Gedanken, dass den Spartanern das Land entrissen wird. Leider ist die Sentenz des Deklamators derart dem Kontext entrissen, dass es nicht möglich ist, die argumentative Absicht seiner Aussage mit Sicherheit anzugeben. Es lässt sich nämlich kaum entscheiden, ob der Deklamator für die Flucht plädiert (dann wäre fugiamus hortativ aufzufassen) oder ob er gegen die Flucht argumentiert (fugiamus wäre dann als indignierender Konjunktiv aufzufassen). Da quid? zumeist eine zweite Frage einleitet, ist es etwas wahrscheinlicher, fugiamus als indignierenden Konjunktiv anzusehen (für den indignierenden Konjunktiv vgl. revertamur in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle). Anders entscheiden sich die bisherigen Herausgeber: Bursian (1857) 18 und Kiessling (1872) 22 lesen quid? am Anfang des Satzes und setzen am Ende des Satzes einen Punkt. Müller (1887) 545 und Håkanson (1989) 348 lesen mit Gertz (1879) 152 quidni anstelle von quid und setzen am Ende des Satzes ein Fragezeichen. hic est Corvus, qui, cum temptaret scholam Romae, Sosio illi, qui Iudaeos subegerat, declamavit controversiam de ea, quae apud matronas disserebat liberos non esse tollendos et ob hoc accusatur rei publicae laesae: Corvus ist eine uns ansonsten unbekannte Persönlichkeit (vgl. RE IV 2 s.v. Corvus 2, Sp. 1665; Bornecque [1902b] 164; Echavarren [2007] 118). Bei Sosius handelt es sich um einen Feldherrn des Antonius, der im Jahr 37 v.Chr. in einer Phase innerjüdischer Machtkämpfe Jerusalem eroberte und Herodes wieder in seine Herrschaft einsetzte (vgl. Tac. hist. 5,9 mit Heubner ad loc.; RE III A 1 s.v. Sosius 2, Sp. 1176 – 1180, hier 1178; Echavarren [s.o.] 247 f.). Fast gleichlautend zu Seneca d.Ä. sagt Tacitus (hist. 5,9,1) über Sosius: Iudaeos C. Sosius subegit. Für die Anwesenheit von hochgestellten Persönlichkeiten bei Deklamationen vgl. contr. 2,4,12 f.,wo wir über die Anwesenheit von Augustus und Agrippa informiert werden. Das Thema der hier genannten Kontroversie ist uns – von dieser Stelle abgesehen – aus keiner der überlieferten Deklamationssammlungen bekannt. Eine Anklage wegen Schädigung des Staates (rei publicae laesae) ist jedoch ein typisches Element in den Kontroversien: vgl. Sen. contr. 5,7; 10,4; 10,5; Quint. decl. 260; 326; Ps.Quint. decl. 12; Calp. decl. 5; Bonner (1949) 97. Für declamare mit dem Dativ vgl. populo declamare (contr. 10 praef. 4). Anstelle des überlieferten temptaret übernehmen die Herausgeber seit Müller (1887) 545 Gertz’ (1879) 152 Konjektur temperaret. Schott emendierte temptaret zu ostentaret (vgl. Müller [s.o.]). Der Grund für die Konjekturen liegt wohl darin, dass keine Parallelen für temptare scholam (aut sim.) vorliegen. Jedoch macht Håkanson (1989) 348, der Gertz’ Konjektur zögernd übernimmt, ad loc. zu Recht darauf aufmerksam, dass auch das Verb temperare nicht unproblematisch ist, da wir über keine sicheren Parallelen für temperare

2.2 Kommentar

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i.S.v. „leiten“ verfügen („eine Schule leiten“ wird im Werk des älteren Seneca nur einmal ausgedrückt, und zwar als scholam habere contr. 10 praef. 11). Daher und weil temptare aliquid ganz allgemein „sich in etwas versuchen“ bedeuten kann (vgl. OLD s.v. tempto 5 und 7), bewahren wir zögernd die Überlieferung,wie es auch Shackleton Bailey (1993) 51 empfiehlt. Wenn temptare carmina (vgl. Prop. 2,3,19) „versuchen, Lieder zu spielen“ bedeuten kann, dann sollte es auch möglich sein, dass temptare scholam „versuchen, eine Schule zu leiten“ bedeutet. Möglicherweise ist Corvus’ Versuch, in Rom eine Schule zu leiten, wie auch Shackleton Bailey spekuliert, fehlgeschlagen. in hac controversia sententia eius haec ridebatur: inter pyxides et redolentis animae medicamina constitit mirata contio: „Zwischen Salbbüchschen und Mitteln gegen Mundgeruch blieb die verwunderte Gruppe stehen.“ Wie Håkanson ad loc. erklärt, beschreibt der Deklamator anschaulich den Gegensatz zwischen den Matronen und der Frau, die keine Kinder bekommen möchte, indem er annimmt, dass sich die Matronen in dem Haus dieser Frau befinden, und sie als verwöhnt darstellt (es handelt sich um einen color; s. das Unterkapitel „Die colores“, S. 44– 59). Das Substantiv pyxis bezeichnet eine Büchse, in der verschiedene Gegenstände aufbewahrt werden können; für kosmetischen Gebrauch vgl. Ov. ars 3,209 f. Das Substantiv medicamen wird in der Prosa nur selten verwendet und i. d. R. durch medicamentum ersetzt (vgl. die Übersicht ThLL VIII 529,40 – 55); vor dieser Stelle findet es sich nur Cic. Pis. 13. Zur Bezeichnung eines Mittels gegen Mundgeruch wird das Wort nur hier verwendet (vgl. ThLL ib. 531,65 – 67). Contio bezieht sich auf die Matronen und wird hier erstmals in derjenigen Verwendungsweise benutzt, in der es jedwede Menschengruppe bezeichnen kann (vgl. ThLL IV 733,30 – 36; dort wird Sen. clem. 2,1,3 als erste Stelle angegeben). Zu Recht hat Håkanson (1989) 348 an der Überlieferung festgehalten und mirata bewahrt, während alle anderen modernen Herausgeber die Konjektur mitrata übernehmen, die ein Anonymus bei Schott (vgl. Müller [1887] 545) getätigt hat. Denn mitrata würde den Gegensatz zwischen den Matronen und der verwöhnten Frau verwischen. 22 sed si vultis, historicum quoque vobis fatuum dabo: Der im Folgenden zitierte Historiker Tuscus wird deshalb als „dumm“ (fatuus) bezeichnet, weil er einen Anachronismus verwendet. Güngerich erwägt in dem RE-Artikel zu Tuscus (vgl. RE VII A 2 s.v. Tuscus 2, Sp. 1492 f.) die Möglichkeit, dass Seneca d.Ä. in einem ironischen Ton sagt, dass er einen „Historiker“ zu Wort kommen lässt. In Wirklichkeit habe Tuscus vielleicht gar kein Geschichtswerk verfasst, da wir keine anderen Informationen über ein solches Werk verfügen. Auch wenn sich diese Frage prinzipiell nicht beantworten lässt, sollte man mit der Information des äl-

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teren Seneca nicht zu skeptisch sein. Denn gerade die Historiographie dient Seneca d.Ä. dazu, qualitative Unterschiede zwischen der Deklamation und anderen literarischen Gattungen deutlich zu machen (vgl. suas. 6,14– 25). Daher liegt an dieser Stelle in gewisser Weise das Eingeständnis vor, dass auch die vom älteren Seneca höher geschätzten Historiker schlechte Sentenzen äußern. Das Adjektiv fatuus verwendet Seneca d.Ä. auch contr. 7,5,15 (dort mit Bezug auf sententia). TVSCVS ille, qui Scaurum Mamercum, in quo Scaurorum familia extincta est, maiestatis reum fecerat, homo quam improbi animi, tam infelicis ingenii, cum hanc suasoriam declamaret, dixit: Die Angaben, dass Mamercus Aemilius Scaurus (vgl. RE I 1 s.v. Aemilius 139, Sp. 583 f.) als letzter Spross der Familie verstarb und dass er wegen Hochverrats (maiestas) angeklagt wurde, sind voneinander zu trennen: Im Jahr 32 n.Chr. wurde er wegen Hochverrats angeklagt, aber die Aburteilung wurde verschoben (vgl. Tac. ann. 6,9,3 f.). Im Jahr 34 n.Chr. wurde Scaurus wegen Ehebruchs angeklagt, was zur Folge hatte, dass er einer Strafe durch Selbstmord zuvorkam (vgl. ib. 6,29,3 f.). Von dem Ankläger Tuscus berichtet uns Tacitus nicht. Möglicherweise ist er der Ankläger des Jahres 32 n.Chr. Unverständlich ist der Versuch, in einem der beiden Ankläger aus dem Jahr 34 n.Chr. Tuscus zu sehen (vgl. die von Güngerich RE VII A 2 s.v. Tuscus 2, Sp. 1492 f. referierte Meinung), da die Anklage eine andere war. Der Grund für diesen Versuch ist vielleicht ein Missverständnis: in quo heißt hier in Scauro, nicht „darin“, d. h. quo ist nicht Neutrum und bezieht sich nicht sinngemäß auf den Prozess wegen Hochverrats (bei dieser falschen Deutung müsste man ferner eine Vermischung der beiden Prozesse durch Seneca d.Ä. annehmen). Als reine Spekulation ist Echavarrens (2006) 50 und (2007) 244 Hypothese anzusehen, dass der hier genannte Tuscus mit dem Dichter Tuscus identisch ist, den Ovid Pont. 4,16,20 nennt. Für die Wendung [sc. homo] infelicis ingenii vgl. die gegenteilige Behauptung über Ciceros literarische Leistung suas. 6,22: ingenium et operibus et praemiis operum felix. Für quam […] tam anstelle des üblichen tam […] quam vgl. Cic.Verr. 1,5: quodsi quam audax est ad conandum, tam esset obscurus in agendo, fortasse aliqua in re nos aliquando fefellisset. expectemus, si nihil aliud, hoc effecturi, ne insolens barbarus dicat: ‘veni, vidi, vici’, cum hoc post multos annos divus Iulius victo Pharnace dixerit: Der Deklamator möchte verhindern, dass die Perser einen schnellen Sieg feiern, und bedient sich der Worte, mit denen Caesar 47 v.Chr. nach dem Sieg über Pharnaces II., den König von Pontus, den Feldzug zusammenfasste und die hier zuerst belegt sind; vgl. Suet. Iul. 37,4: Pontico triumpho inter pompae fercula trium verborum praetulit titulum ‘veni vidi vici’ non acta belli significantem sicut ceteris, sed celeriter confecti notam; Plut. Caesar 50,2 („ἦλθον, εἶδον, ἐνίκησα“); Appian, civ. 2,91. Für

2.2 Kommentar

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das Phänomen des Anachronismus vgl. Nicetes in § 14 mit dem Kommentar zur Stelle und das entsprechende Kapitel in unserer allg. Einleitung (S. 61– 63). In der Aussage und teilweise auch in der Form entspricht diese Sentenz derjenigen von Latro in § 19: si nihil aliud, erimus certe belli mora. Für insolens barbarus mit Bezug auf Xerxes vgl. Cornelius Hispanus in § 7. DORION dixit: ἄνδρες *** aiebat NICOCRATES Lacedaemonius insignem hanc sententiam futuram fuisse, si media intercideretur: Auch Dorions Sentenz ist ausgefallen. Der Spartaner Nicocrates (Bornecque [1902b] 182 f. nennt ihn Rhetor, aber weder aus dieser Stelle noch aus contr. 7,5,15, wo er declamator genannt wird, geht hervor, dass er ein Redelehrer ist) vertritt eine ähnliche Meinung wie Messala in § 20 mit Bezug auf Vergil (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle), nämlich dass Dorion seine Sentenz nicht hätte vervollständigen sollen. Bei Lacedaemonius handelt es sich um eine Verbesserung von Bursian (1857) 18. Auch an der anderen Stelle, an der der Deklamator zitiert wird (contr. 7,5,15), wird er als Spartaner apostrophiert. 23 Sed ne vos diutius infatuem, quia dixeram me Fusci Arelli explicationes subiecturum, finem suasoriae faciam: Seneca d.Ä. bezieht sich hier auf seine Aussage in § 10, dass er aus allen Suasorien Fuscus’ Beschreibungen zitieren wird (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Diese Ankündigung löst er dadurch ein, dass er in den drei folgenden Suasorien vornehmlich aus Fuscus’ Deklamationen zitiert (nicht jedoch in den Suasorien 6 und 7). Mit vos sind zunächst die Söhne des älteren Seneca, in einem weiteren Sinne aber auch generell die Leser des Werkes gemeint (vgl. ebenfalls § 10 mit dem Kommentar zur Stelle). Das Verb infatuare wird in der lateinischen Literatur vor den Kirchenvätern selten benutzt (zuvor nur Bell. Afr. 16,1; Cic. Phil. 3,22; Flacc. 46). Hier geht der Gebrauch des Verbs wohl auf die Verwendung des Adjektivs fatuus im vorigen Paragraphen zurück. Für das Plusquamperfekt in dixeram anstelle des Perfekts vgl. contr. 2,3,19 (dixerat statt dixit); 7,5,10 (dixerant statt dixerunt); 9,3,11 (dixerat statt dixit); 9,6,18 (dixerat statt dixit); Sander (1877) 17. Bei finem handelt es sich um die Lesart der jüngeren Handschrift D, während die besten Handschriften sic überliefern. Die Herausgeber seit Müller (1887) 546 lesen mit Kiessling (1872) 23 hic anstelle von sic und ergänzen finem hinter hic (Kiessling ergänzt finem vor faciam). Dadurch greifen sie aber an zwei Stellen in die Überlieferung ein. Bursian (1857) 18 liest mit Haase finem suasoriae facient. Der Sinn und der Vorteil dieser Textkonstitution sind uns jedoch unklar. Da sic möglicherweise aus finem entstanden ist, lesen wir finem. Für die Junktur finem facere vgl. suas. 1,3.

304

2 suas. 2

quarum nimius cultus et fracta compositio poterit vos offendere, cum ad meam aetatem veneritis: Seneca d.Ä. löst seine Ankündigung aus § 10 ein (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) und äußert seine Meinung über den Stil von Fuscus’ Beschreibungen. Die an dieser Stelle referierte Meinung stimmt mit derjenigen, die er in der Praefatio zum zweiten Kontroversienbuch über Fuscus äußert, überein, da hier wie dort der Einsatz von Redeschmuck als zu stark und der Rhythmus als anstößig beschrieben wird (contr. 2 praef. 1): erat explicatio Fusci Arelli splendida quidem sed operosa et implicata, cultus nimis acquisitus, compositio verborum mollior quam ut illam tam sanctis fortibusque praeceptis praeparans se animus pati posset. Das Substantiv cultus wird hier zum ersten Mal mit Bezug auf den Redeschmuck verwendet; vgl. ThLL IV 1338,46 – 1339,12. interim 〈non〉 dubito, quin nunc vos ipsa quae offensura sunt vitia delectent: Die Einschätzung des älteren Seneca, dass seine Söhne Freude an Fuscus’ Beschreibungen haben werden, leitet sich wohl aus der eigenen Erfahrung ab, da er in § 10 erwähnt, dass in seiner Jugend nichts so bekannt war wie Fuscus’ Beschreibungen. Håkansons (1989) 348 Emendation von nunc zu haec ist überflüssig, da nunc den Gegensatz zwischen der Jugend der Söhne des älteren Seneca und ihrem späteren Alter betont.

3 suas. 3 3.1 Einleitung Die mythologische Situation Diese Suasorie ist die einzige aus der Sammlung des älteren Seneca, in der eine (im modernen Verständnis) mythologische Situation Anlass zum Deklamieren gibt. Dieser Befund scheint insofern nicht zufällig zu sein, als auch die Themen der römischen Suasorien, auf die in den lateinischen Rhetorikhandbüchern angespielt wird und die von Bornecque zusammengestellt worden sind, ein deutliches Übergewicht der Geschichte gegenüber dem Mythos erkennen lassen.³³ Im Gegensatz dazu halten sich bei den Griechen mythologische (v. a. homerische) und historische Themen die Waage.³⁴ Der Mythos von Iphigenies Opferung ist uns seit den Kyprien in schriftlichen Quellen überliefert und stellt ein beliebtes Sujet bei den attischen Tragikern dar:³⁵ Die Griechen werden bei ihrem Auszug nach Troja von widrigem Wetter³⁶ in Aulis aufgehalten. Agamemnon ist durch Kalchas’ Weissagung vor die Wahl gestellt, ob er seine Tochter Iphigenie opfert, damit Artemis ihnen einen günstigen Wind

33 Vgl. Bornecque (1934), v. a. 7. 34 S. unseren Überblick über die antike Suasorie (S. 78 – 93). 35 Vgl. Proklos’ Exzerpt aus den Kyprien PEG I p. 41 Bernabé; Aischyl. Ag. 104– 249; Euripides’ Iphigenie in Aulis (v. a. 49 – 114) und bei den Taurern (v. a. 1– 66); Lucr. 1,84– 101; Ov. met. 12,1– 38; Apollod. epit. 3,21; Hyg. fab. 98. 36 In den Quellen werden zwei unterschiedliche Gründe für die verhinderte Überfahrt genannt (vgl. Aretz [1999] 47 f. Fußn. 126). Die einen Quellen machen stürmische Winde hierfür verantwortlich (vgl. Proklos’ Exzerpt aus den Kyprien PEG I p. 41 Bernabé; Hes. erg. 652; Aischyl. Ag. 192; 199; 214; Verg. Aen. 2,116; Ov. met. 12,8 – 10; Hyg. fab. 98; Paus. 8,28,4). Anderen Quellen zufolge herrschte Flaute (vgl. Eurip. Iph. A. 9 – 11; 352; 1596 f.; Soph. El. 564). Der Begriff ἄπλοια, der in einigen Quellen den Grund bezeichnet (Aischyl. Ag. 188; Eurip. Iph. A. 88; Iph. T. 15; Apollod. epit. 3,21), ist doppeldeutig (gegen Aretz [s.o.], die ἄπλοια grundsätzlich als Bezeichnung für Windstille anzusehen scheint). In Aischylos’ Agamemnon geht aus dem Kontext eindeutig hervor, dass ἄπλοια ein Unwetter bezeichnet (vgl. Ag. 188; 192; 199; 214). An den anderen Stellen (Eurip. Iph. T. 15; Apollod. epit. 3,21) lässt sich nicht angeben, ob stürmische Winde oder Windstille gemeint ist (Eurip. Iph. T. 15 ist zudem textkritisch umstritten). Aufgrund der Stellen in Euripides’ Iphigenie in Aulis, an denen Windstille als das Problem der Griechen herausgestellt wird (s.o.), wird man meinen, dass sich derselbe Grund hinter ἄπλοια (Eurip. Iph. A. 88) verbirgt. Aber an einer Stelle des Stückes werden – im Widerspruch zu den übrigen Stellen – Gegenwinde für das Festsitzen in Aulis verantwortlich gemacht (vgl. Iph. A. 1323 – 1329). Auf ähnliche Weise nennt Ovid an einer Stelle der Metamorphosen beide Wetterphänomene (met. 13,183 f.): nulla aut contraria classi / flamina erant. Die Deklamatoren, die in dieser Suasorie zitiert werden, gehen einhellig von Stürmen aus.

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3 suas. 3

gewährt, oder ob er das Risiko eingeht, dass das Heer verhungert. Er hatte den Zorn der Göttin auf sich gezogen, indem er einen Hirsch bzw. eine Hindin tötete und mit seiner Jagdkunst prahlte. Im Mythos entscheidet sich Agamemnon in dieser Situation, seine Tochter zu opfern. Iphigenie, die unter dem Vorwand einer Heirat mit Achill nach Aulis gelockt wird, wird jedoch durch Artemis gerettet und zu den Taurern gebracht, wo sie ihr als Priesterin dient.³⁷

Prosopopoiie Im Gegensatz zu allen anderen Suasorien, die Seneca d.Ä. überliefert, verkörpern die meisten Deklamatoren, die in dieser Suasorie zitiert werden, die überlegende Person selbst (zur Suasorien-Prosopopoiie s. S. 5 – 7), d. h. sie sprechen in Agamemnons Rolle (vgl. Fuscus in § 1; Cornelius Hispanus und Argentarius in § 2).³⁸ Ebenso wie bei dem mythologischen Thema (s. die vorige Anmerkung) wird es sich jedoch auch bei diesem Befund um Zufall handeln, d. h. es lässt sich kaum angeben, ob die Deklamatoren bestimmte Suasorien lieber in Form der Prosopopoiie deklamiert haben bzw. ob die Römer generell bevorzugt haben, aus der Perspektive eines neutralen Beraters zu deklamieren. Vielmehr wird es sich bei der Wahl der Rolle um eine für uns nicht nachvollziehbare persönliche Entscheidung gehandelt haben.

Aufbau der Suasorie Die Exzerpte aus den Beratungsreden der Deklamatoren sowie die Angaben aus der divisio nehmen den ersten und zweiten Teil dieser Suasorie ein (§§ 1– 4a). Wie in der ersten Suasorie werden auch hier nur Exzerpte der einen Seite (in diesem Fall derjenigen, die gegen Iphigenies Opferung plädieren) zitiert bzw. deren divisio referiert. Daher darf wohl angenommen werden, dass es beliebter war, gegen Iphigenies Opferung zu deklamieren, auch wenn diese Suasorie vergleichsweise kurz ist und nur sechs Deklamatoren zitiert werden. Im dritten Teil der Suasorie (§§ 4b-7) werden Fuscus’ Vergilimitation und das Vergilische plena deo diskutiert.

37 Bei Aischylos bricht die Erzählung unmittelbar vor der vorbereiteten Opferung ab (Ag. 249). In Lukrez’ Lehrgedicht wird die Tötung als vollzogen dargestellt; vgl. Lucr. 1,84– 86: Aulide quo pacto Triviai virginis aram / Iphianassai turparunt sanguine foede / ductores Danaum delecti. 38 Vgl. Migliario (2007) 105.

3.1 Einleitung

307

Das Vergilische plena deo In den Paragraphen 5 – 7 berichtet Seneca d.Ä., dass der Deklamator Fuscus nach eigener Aussage das Vergilische plena deo imitiert habe. Die Forschung hat das Problem beschäftigt, dass die Junktur plena deo in Vergils überliefertem Werk nicht vorkommt. Zur Lösung dieses Problems hat es mehrere Vorschläge gegeben. All diesen Lösungsvorschlägen ist gemeinsam, dass sie davon ausgehen, dass sich plena deo auf die weissagende Sibylle am Anfang des sechsten Buches der Aeneis bezieht. Diese Auffassung ist insofern naheliegend, als der Serviuskommentar zu zwei Stellen der Aeneis diesbezügliche Erläuterungen macht.Wir zitieren zunächst den Zusammenhang aus der Aeneis, auf den sich Servius’ Bemerkungen beziehen (Aen. 6,45 – 51): ventum erat ad limen, cum virgo ‘poscere fata tempus’ ait; ‘deus ecce deus!’ cui talia fanti ante fores subito non vultus, non color unus, non comptae mansere comae; sed pectus anhelum, et rabie fera corda tument, maiorque videri nec mortale sonans, adflata est numine quando iam propiore dei.

Zu den Worten deus ecce deus (Aen. 6,46) kommentiert Servius: vicinitate templi iam adflata est numine: nam furentis verba sunt deum velle ostendere, qui ipsi tantum videtur. sane cauti satis esse debemus, quando plena sit numine et quando deum deponat. Zu den Worten adflata est numine (Aen. 6,50) bemerkt er: nondum plena deo, sed adflata vicinitate numinis. Servius unterscheidet also bei Vergil zwei verschiedene Stadien, in denen die Sibylle von dem Weissagungsgott Apoll besessen ist: anfangs ist sie nur „angehaucht“ (adflata), später ist sie von ihm „erfüllt“ (plena deo). Der letztere Zustand wird von Vergil in den Versen 77– 82 beschrieben: at Phoebi nondum patiens immanis in antro bacchatur vates, magnum si pectore possit excussisse deum; tanto magis ille fatigat os rabidum, fera corda domans, fingitque premendo. ostia iamque domus patuere ingentia centum sponte sua vatisque ferunt responsa per auras.

Während die grobe Referenz der Worte plena deo daher aus Servius’ Kommentar hervorzugehen scheint, ist in der modernen Forschung schon die Frage strittig, ob plena [sc. deo] weiblich ist und sich auf die Sibylle bezieht oder ob es im Neutrum

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3 suas. 3

Plural ein anderes Bezugswort hat.³⁹ Kontrovers wird v. a. die Frage diskutiert, wie man sich die Tatsache zu erklären hat, dass uns der entsprechende Vers an keiner Stelle des Vergilischen Werkes vorliegt. Hierzu hat es mehrere Lösungsansätze gegeben. Norden hat die Überzeugung geäußert, dass ursprünglich in der Aeneis (wohl in einem der beiden Verse 6,78 f.) die Junktur plena deo stand, dass Vergil aber nach Rezitationen diese Junktur zugunsten der uns überlieferten Version herausgenommen hat.⁴⁰ Scarcia meinte zunächst, dass es einen unvollendeten Halbvers gegeben hat, der hinter dem Vers Aen. 6,13 gestanden und et loca plena deo gelautet hat (= Aen. 6,13b).⁴¹ Später modifizierte er seine Meinung dahingehend, dass der ganze Vers Aen. 6,13b et loca plena deo, quae sacra silentia norunt lautete, wobei dieser Vers zu Zeiten des älteren Seneca noch bekannt war, aber im Laufe des ersten Jahrhunderts n.Chr. von den Herausgebern der Aeneis entfernt wurde.⁴² Auch Edward und Borthwick gehen von verschiedenen Versionen der Aeneis aus.⁴³ Während Edward meint, dass plena deo ursprünglich in einem der beiden Verse Aen. 6,51 oder 77 gestanden habe, hält Borthwick die Worte iam propiore dei aus Vers 51 für den Konkurrenzausdruck, der sich gegenüber nondum plena deo durchgesetzt habe. Einen anderen Ansatz verfolgt della Corte.⁴⁴ Er geht bei der Klärung der Frage, warum plena deo bei Vergil nirgends überliefert ist, von einer Möglichkeit aus, die schon Norden zwar in Betracht gezogen, aber verworfen hat, nämlich dass es sich bei den Worten plena deo um eine „Mystifikation“ in den Rhetorikschulen handelt.⁴⁵ Damit ist gemeint, dass die Worte plena deo niemals ein Produkt der Vergilischen Dichtung waren, sondern auf einen bestimmten Vergilvers verweisen, der bei den Anhängern der Deklamation evoziert wurde, wenn sie plena deo

39 Norden (1893) und (1927) 144 f., Edward (1928) 121, della Corte (1971), Borthwick (1972) und Balbo (2001) 214 beziehen plena deo auf die Sibylle. Scarcia (1996) und Comparelli (2003) beziehen plena hingegen auf loca unter der Annahme, dass Silius Italicus (3,673) Vergil hierin gefolgt sei. Wie wir im Folgenden zeigen, hat sich plena deo bei Vergil wohl auf die Sibylle bezogen. 40 Vgl. Norden (1893) 508 f.; Migliario (2007) 92 schließt sich Nordens These in der Annahme an, dass diese besagt, dass die Verse Aen. 6,45 – 51 der Ort sind, an dem früher plena deo gestanden habe. Norden (1893) 508 sagt nicht explizit, in welchem Vers das genannte Syntagma zu lesen war. Er zitiert Aen. 6,45 – 54 und 77– 82. Seine Bemerkung „v. 78 f. ist sie von ihm besessen, d. h. sie ist plena deo“ legt jedoch nahe, dass Norden zufolge die Worte plena deo ursprünglich in den Versen 78 f. gestanden haben. 41 Vgl. Scarcia (1996). 42 Vgl. Comparelli (2003) 75. 43 Vgl. Edward (1928) 121; Borthwick (1972). 44 Vgl. della Corte (1971). 45 Vgl. Norden (1927) 145 f.

3.1 Einleitung

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hörten. Dieser Meinung hat sich Berti angeschlossen, der die Entwicklung der Junktur folgendermaßen skizziert:⁴⁶ Ovid imitiert Vergil (vermutlich Aen. 6,48 – 51) und prägt dabei die Junktur plena deo. Gallio greift diese Junktur auf und verbreitet sie unter den Anhängern der Deklamation, so dass sie schließlich die Vergilverse, auf die sie anspielt, vergessen lässt. Der letztgenannte Ansatz sieht sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass aus dem Text eindeutig hervorgeht, dass die Worte plena deo von Vergil stammen. Der Vergilische Ursprung wird an drei Stellen deutlich: (1) Fuscus behauptet, dass er das Vergilische plena deo imitiert habe (§ 5 Ende). (2) Gallio hat nach Aussage des älteren Seneca den entsprechenden Vergilvers Tiberius vorgetragen (§ 7). (3) Ovid hat nach Gallios Aussage Vergil zitiert und dabei die Junktur plena deo benutzt (ib.). Eher auszuschließen ist auch die Möglichkeit, dass die Junktur fälschlicherweise Vergil zugeschrieben wird und damit ein ähnlicher Befund wie contr. 1,2,22 vorliegt, wo die Junktur inepta loci auf Ovid zurückgeführt wird, obwohl sie nicht in seinem Werk, sondern in den Priapeen (3,8) überliefert ist. Denn da die Junktur plena deo als Vergilische Schöpfung berühmt geworden ist und der entsprechende Vers vor Tiberius zitiert wurde, wäre es erstaunlich, wenn niemand gemerkt hätte, dass sie in Wirklichkeit nicht von Vergil stammt. Unwahrscheinlich ist ferner, dass sich die Junktur plena deo auf Verg. ecl. 3,60: Iovis omnia plena bezieht,⁴⁷ da die Eklogenstelle inhaltlich nichts mit dem hier vorliegenden Kontext zu tun hat. Die Genese der Worte plena deo und das Abhängigkeitsverhältnis lassen sich daher vorläufig folgendermaßen angeben: Vergil prägt an einer Stelle seines Werkes, die wir nur erahnen können, die neue Junktur.⁴⁸ Von Vergil hängen drei Personen(gruppen) ab: (1) Fuscus imitiert Vergil, indem er aus plena deo den Verbalausdruck numine implere formt und auf Kalchas bezieht. (2) Gallio zitiert die Vergilische Neuschöpfung wörtlich und überträgt sie auf Deklamatoren. (3a) Ovid zitiert die Vergilische Neuschöpfung ebenfalls wörtlich und überträgt sie auf eine Protagonistin seiner Tragödie – wahrscheinlich auf Medea (s. den Kommentar zu § 7).⁴⁹ (3b) Auch die in der Forschungsliteratur häufig angeführten Parallelen zu

46 Vgl. Berti (2007) 282– 290. 47 Kiessling (1872) 26 verweist zögernd auf die Eklogenstelle. 48 Wahrscheinlich ist das Syntagma plena deo eine Übersetzung des griechischen ἔνθεος; vgl. § 5 mit dem Kommentar zur Stelle. 49 Es ist denkbar, dass zusätzlich zwischen den drei Personen Fuscus, Gallio und Ovid ein Abhängigkeitsverhältnis in der Form bestanden hat, dass die Vergilimitation des einen Imitators diejenige des anderen Imitators angeregt hat. Es ist aber nicht möglich anzugeben, wer der erste Vergilimitator war.

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3 suas. 3

plena deo bei Lukan (9,564), Valerius Flaccus (1,230), Statius (Theb. 10,624) und Silius Italicus (3,673) hängen von Vergil ab. Da alle Vergilimitatoren mit Ausnahme von Silius Italicus das Adjektiv plenus mit Bezug auf eine Person verwenden, ist davon auszugehen, dass sich plena deo bei Vergil auf die Sibylle bezogen hat. Gerade Fuscus’ Vergilimitation ist das schlagende Argument in dieser Frage, da diese nur dann verständlich wird, wenn mit plena deo schon bei Vergil eine weissagende Person charakterisiert wurde.⁵⁰ Die Fragen, wo die Worte plena deo in Vergils Werk gestanden haben und warum sie nicht überliefert sind, können nicht definitiv beantwortet werden. Als sicher darf die Annahme gelten, dass es mehrere Versionen der Aeneis gegeben hat. Dies ist insofern kein singulärer Befund, als auch an anderen Stellen des Epos die Sekundär- von der Primärtradition abweicht.⁵¹ Fraglich ist bei solchen Abweichungen natürlich immer, inwiefern man von verschiedenen Versionen sprechen darf, d. h. ob in der Tat unterschiedliche schriftliche Versionen der Aeneis kursierten oder ob Vergil falsch aus dem Gedächtnis zitiert wurde. Mit Blick auf die Suasoriensammlung ist insbesondere eine Stelle aus der zweiten Suasorie vergleichbar. Dort wird der Vers Aen. 11,288 mit den Worten ad adversae zitiert, obwohl in den Vergilhandschriften apud durae überliefert ist.⁵² Ein augenfälliges Beispiel liegt in den Naturales quaestiones des jüngeren Seneca vor. Dort werden an einer Stelle (nat. 6,30,1) sechs Vergilverse zitiert (Aen. 3,414– 419), wobei das Zitat an vier Stellen von der uns überlieferten Aeneis-Version abweicht.⁵³ Möglicherweise spricht ein Indiz für Nordens Ansicht, dass das Syntagma plena deo ursprünglich in einem der beiden Verse Aen. 6,78 f. gestanden hat, nämlich der Infinitiv Perfekt excussisse. Der Infinitiv Perfekt anstelle des Infinitivs Präsens wird von den Augusteischen Dichtern wohl nach griechischem Vorbild auch auf die Verben des Könnens und Strebens übertragen.⁵⁴ In der Aeneis scheint

50 Vgl. Norden (1893) 507 f. 51 Vgl. Gamberale (1985). 52 Vgl. suas. 2,20 mit dem Kommentar zur Stelle. Gamberale (1985) 297 meint, dass Vergil hier falsch aus dem Gedächtnis zitiert wurde. 53 Vgl. Aen. 3,417– 419: una foret: venit medio vi pontus et undis / Hesperium Siculo latus abscidit, arvaque et urbes / litore diductas […] mit Sen. nat. 6,30,1: una foret: vĕnit ingenti vi pontus et ingens / Hesperium Siculo latus abscidit arvaque et urbes / aequore diductas […]. Gamberale (1985) 297 zufolge liegt auch hier eine falsche Zitierung aus dem Gedächtnis vor. Ein eindeutiges Beispiel für unterschiedliche schriftliche Versionen liegt wohl Sen. epist. 94,28 vor. Dort wird der Halbvers Aen. 10,284 (audentis Fortuna iuvat) vervollständigt: audentis fortuna iuvat, piger ipse sibi opstat. In diesem Fall handelt es sich wohl um eine Interpolation in demjenigen Text, den Seneca d.J. gelesen hat; vgl. Gamberale (1985) 296. 54 Vgl. K.-St. II 1, S. 134.

3.2 Kommentar

311

es nur einen weiteren derartigen Fall zu geben.⁵⁵ Deshalb lässt sich vermuten, dass Vergil an dieser Stelle eine griechische Vorlage nachgeahmt hat.⁵⁶ Da wahrscheinlich auch die Schöpfung der Junktur plena deo auf einer griechischen Vorlage beruhte,wenngleich wir diese nicht angeben können,⁵⁷ darf man vielleicht annehmen, dass an der Stelle Aen. 6,78 f. der eine Gräzismus dem anderen gewichen ist. Über die Frage, ob und inwiefern die Alternativversionen der Aeneis auf Vergil selbst zurückgehen oder nach seinem Tod von den Herausgebern der Aeneis hergestellt wurden, lässt sich nur spekulieren. Ebenso fraglich ist, warum plena deo aus einer früheren Version der Aeneis entfernt wurde,wenn man bedenkt, dass es sich um eine Vergilische Schöpfung gehandelt hat, die häufig rezipiert wurde.⁵⁸

3.2 Kommentar Thema Deliberat Agamemnon, an Iphigeniam immolet negante Calchante aliter navigari posse: Zur mythologischen Situation s. die Einleitung. Für an in der einfachen indirekten Frage s. den Kommentar zum Thema der ersten Suasorie. Anders als alle modernen Herausgeber lesen wir mit der Editio Romana (1585) posse anstelle des ungrammatischen fuisse. Die vorigen Herausgeber übernahmen Bursians (1857) 19 Konjektur fas esse. Hiergegen ist einzuwenden, dass das Substantiv fas in dieser Suasorie nicht verwendet wird. Das Hilfsverb posse hingegen, das laut Müller (1887) 546 vulgo gelesen wurde, wird u. a. am Anfang der divisio (§ 3) in Verbindung mit navigari benutzt, wo am ehesten Formulierungen aus dem Thema aufgegriffen werden: hanc suasoriam sic divisit Fuscus, ut diceret, etiamsi aliter navigari non posset, non esse faciendum. Außerdem ist die Annahme einer Verschreibung von posse zu fuisse nicht schwierig.

55 Aen. 10,14: tum certare odiis, tum res rapuisse licebit. 56 Eine andere Schlussfolgerung zieht Norden (1893) 511 aus dem Gebrauch von excussisse. Ihm zufolge übernimmt Vergil diese sprachliche Auffälligkeit von Tibull. Diese Beobachtung spricht in seinen Augen dafür, dass plena deo die frühere Formulierung ist, die der uns überlieferten Version gewichen ist, als auch Vergil „sich dieser Neuerung nicht mehr glaubte entziehen zu müssen“. 57 Vgl. § 5 mit dem Kommentar zur Stelle: aiebat se imitatum esse Vergilium: ‘plena deo’. 58 Nordens (1893) 509 f. Überlegung, dass das Syntagma plena deo ebenso wie die Verben pati, domare und premere (Aen. 6,77 und 80) sexuelle Konnotationen trägt, erscheint wenig überzeugend. Auch Austin (1977) ad Aen. 6,77 bezweifelt Nordens Meinung.

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Erster Teil (1 – 2) 1 ARELLI FVSCI patris: Der Deklamator spricht sich in der Rolle Agamemnons gegen Iphigenies Opferung aus (zur Prosopopoiie s. Einleitung). Seneca d.Ä. löst hier seine Ankündigung ein, Fuscus’ Beschreibungen zu zitieren (vgl. suas. 2,10 und 23 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle). Daher enthält der Großteil dieses Exzerpts eine Beschreibung des Wetters. Argumentativ erfüllt diese Beschreibung den Zweck, das Wetter als ein natürliches Phänomen darzustellen, das die Götter nicht lenken, und somit den Einfluss der Götter auf die Seefahrt zu bestreiten. Letztlich wird also Kalchas’ Prophezeiung aus dem Thema widerlegt. Winterbottom (1980) 99 meint, dass die Prosopopoiie nur aus einer Passage am Ende dieses Paragraphen (ab ne quid huius virginitati timerem) besteht, die in die Rede eines neutralen Ratgebers integriert ist. Wir halten diese Auffassung nicht für überzeugend, da sie die abwegige Annahme impliziert, der Deklamator würde während der Deklamation die Rollen tauschen. Eine stilistische Analyse der folgenden Beschreibung liefert Fairweather (1981) 246 – 251, die u. a. die Verwendung von isocola heraushebt. Vgl. ferner Huelsenbecks (2009) 239 – 262 ausführliche Beobachtungen v. a. zu Fuscus’ Stil und zu intertextuellen Bezügen. Bei patris handelt es sich um eine gelungene Konjektur von Kiessling (1872) 23 anstelle des sinnlosen pii. Der Zusatz pater findet sich öfter bei dem Deklamator Arellius Fuscus (vgl. z. B. suas. 2,1). Non in aliam condicionem deus fudit aequora, quam ne omnis ex voto iret dies: Der Deklamator meint nicht nur, dass Iphigenies Opferung keinen Einfluss auf das Wetter hat, sondern dass sie keinen Einfluss haben kann, da durch die Erschaffung des Meeres ausgeschlossen wurde, dass den Menschen alles nach Wunsch verläuft. Das Meer wird dabei als willkürliches Element gedacht, das die Menschen bald begünstigt und bald benachteiligt – unabhängig davon, ob sie sich gut oder schlecht verhalten. Auch wenn der Deklamator hier davon spricht, dass ein Gott die Meere geschaffen hat, liegt kein Widerspruch zu seinem Argument vor, das am Ende des Paragraphen deutlich wird, nämlich dass die Götter keinen Einfluss auf die Seefahrt nehmen. Denn die Vorstellung ist, dass ein Gott ursprünglich die Elemente geschaffen hat, diese aber seitdem selbständig die Menschen mal begünstigen und mal benachteiligen. Für ire in der Bedeutung „vonstatten gehen“, „verlaufen“ vgl. Cic. Att. 14,15,2: incipit res melius ire quam putaram; Ov. trist. 1,8,5: omnia naturae praepostera legibus ibunt; Sen. dial. 1,3,1: fato ire. nec ea sors mari tantum est, ceterum ipsa non sub eadem condicione sidera sunt?: Genauso wie für die Meere gilt auch für die Gestirne (gemeint sind – wie

3.2 Kommentar

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später deutlich wird – v. a. Sonne und Mond), dass sie unabhängig von den Göttern ihren Einfluss auf die Menschen ausüben. Bursian (1857) 19 und Håkanson (1989) 348 halten unserer Meinung nach zu Recht an der Überlieferung von ceterum ipsa non fest und verwerfen Haases (1851) 174 Konjektur caelum specta; nonne, die die übrigen Herausgeber partiell übernehmen, da sie das überlieferte non bewahren. Wie Håkanson ad loc. kommentiert, wird ceterum hier adversativ nach einer Negation verwendet (vgl. ThLL III 971,82– 972,14) und bedeutet daher soviel wie sed; vgl. Liv. 9,21,1: consules exitu anni non consulibus ab se creatis […], ceterum dictatori L. Aemilio legiones tradiderant. Als unnötig ist ebenso Madvigs textkritischer Eingriff anzusehen, der non tilgt und den Satz als Aussage liest (vgl. Müller [1887] 546), da sich der Sinn des Satzes dadurch nicht ändert. alias negatis imbribus … sed flatus qui occupavere annum tenent: In einem längeren Abschnitt beschreibt der Deklamator verschiedene Wetterverhältnisse, um sein Argument zu stützen, dass die Götter keinen Einfluss auf das Wetter nehmen, sondern dieses mal schlecht und mal gut ist.Vgl. für diese Beschreibung contr. 2,5,8; Sen. Oed. 37– 50; epist. 107,8. Sprachlich ist die Anapher und der parallele Aufbau der Glieder vorherrschend: alias […] alias […] alias […] quidquid […] quidquid […] sive […] sive […] sive […] sive […] sive […]. alias negatis imbribus exurunt solum, et miseri cremata agricolae legunt semina, et hoc interdum anno lex est: Subjekt dieses Satzes sind die sidera aus dem vorigen Satz: Manchmal dörren die Gestirne den Boden aus. Die Beschreibung einer Mißernte liegt auch Ps.Quint. decl. 12,4 vor. Für das Ausbleiben der Kongruenz zwischen pronominalem Subjekt und substantivischem Prädikativum (hoc […] lex est statt haec […] lex est) vgl. L.-H.-Sz. II, S. 442: „In der Sprache der Kaiserzeit ist die Kongruenz eine Ausnahme“. Gegen alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Håkanson (1989) 349 ist daher darauf zu insistieren, dass das in den Recentiores überlieferte haec nicht zu bevorzugen ist. Zum Hyperbaton miseri cremata agricolae legunt semina vgl. eine bald erscheinende Studie von Thorsten Burkard. Wie Bursian (1857) 19, Winterbottom (1974) II 534 und Håkanson (1989) 349 lesen wir das überlieferte legunt und nicht Haases Konjektur lugent (vgl. Müller [1887] 546). Zwar könnte man, wie Håkanson ad loc. kommentiert, eher ein Wort wie arista oder spica statt semen erwarten, wodurch die Wahl des Verbs legere besser begründet wäre. Aber der Deklamator drückt sich auch im Folgenden unter geologisch-meteorologischen Gesichtspunkten unpräzise aus (vgl. omnis dies caelum nubilo gravat), so dass eine derartige Ungenauigkeit kein Grund für eine textkritische ‘Korrektur’ sein darf. Wie alle modernen Herausgeber seit Kiessling (1872) 24 lesen wir mit Schott alias anstelle des überlieferten alia, da alia (als Subjekt) hier keinen Sinn ergibt und auch im Folgenden alias überliefert ist bzw.

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3 suas. 3

gelesen werden muss. Watts Überlegung, toto hinter anno zu ergänzen (vgl. Håkanson [1989] 349), halten wir für unnötig, da aus dem Kontext hervorgeht, dass das ganze Jahr gemeint ist. alias serena clauduntur, et omnis dies caelum nubilo gravat; subsidit solum, et creditum sibi terra non retinet: Nachdem im vorigen Satz die übermäßige Trockenheit genannt wurde, wird hier die Überschwemmung des Bodens beschrieben. Serena ist ein Substantiv, das sowohl im Singular als auch im Plural den wolkenlosen Himmel bezeichnet (vgl. OLD s.v. serenum; für den Plural vgl. Verg. georg. 1,393); Edward (1928) 118 hält das Wort fälschlicherweise für ein Adjektiv zu sidera. Das Verb subsidere bringt den Gedanken zum Ausdruck, dass der Boden vom Regen überschwemmt wird und untergeht (vgl. OLD s.v. subsidere 4). Die Folge dessen ist, dass die Erde die Samen verliert, die sich in ihr befinden (creditum sibi terra non retinet). alias incertus sideribus cursus est et variantur tempora, neque soles nimis urguent neque ultra debitum imbres cadunt: Während in den beiden vorigen Sätzen extreme Wetterverhältnisse geschildert wurden, beschreibt der Deklamator nun das ‘normale’ Wetter, bei dem sich mäßiger Regen und Sonnenschein abwechseln. Wenn tempus eine Phase bestimmten Wetters bezeichnet, handelt es sich zumeist um Jahreszeiten (vgl. Cic. nat. deor. 1,52: mutationes temporum); vgl. aber Varro rust. 1,1,5: Solem et Lunam [sc. invocabo], quorum tempora observantur, cum quaedam seruntur. Der Plural soles wird häufiger verwendet, wenn damit die Sonnenwärme oder der Sonnenschein bezeichnet wird; vgl. OLD s.v. sol 4. Für debitum i.S.v. modus vgl. ThLL V 1,107,8 – 20 (der Thesaurus gibt etwas ungenau die Bedeutung necessitas an). Die Junktur ultra debitum findet sich hier zuerst; später ist sie z. B. bei Cels. 2,4,2 überliefert. Vgl. auch das Horazische praeter solitum (carm. 1,6,20). quidquid asperatum aestu est, quidquid nimio diffluxit imbre, invicem temperatur altero: Der Deklamator fasst den im vorigen Satz ausgedrückten Gedanken in dem Begriff der temperantia zusammen: die Agrarprodukte gedeihen dadurch, dass ein Ausgleich durch den Wechsel von Sonne und Regen gegeben ist. Denselben Gedanken des Ausgleichs von Sonne und Regen formuliert auch Seneca d.J. als Vorbild für die innere Ausgeglichenheit des Menschen (epist. 107,8): natura autem hoc quod vides regnum mutationibus temperat: nubilo serena succedunt. sive ita natura disposuit, sive, ut ferunt, luna cursu gerit…: In einem langen Satz stellt der Deklamator mehrere mögliche Gründe für das schwankende Wetter

3.2 Kommentar

315

nebeneinander. Zunächst benutzt der Deklamator eine sehr allgemein gehaltene Formulierung (sive ita natura disposuit) und stellt dann speziell die Rolle des Mondes dar, wobei er die anderen Gestirne, die er zuvor erwähnt hat (sidera), außer Acht lässt. Vgl. für den Zusammenhang zwischen Mond und Wetter Plin. nat. 18,347: proxima sint iure lunae praesagia. quartam eam maxime observat Aegyptus. si splendens exorta puro nitore fulsit, serenitatem; si rubicunda, ventos; si nigra, pluvias portendere creditur in XV. cornua eius obtunsa pluviam, erecta et infesta ventos semper significant. Für gerere i.S.v. dirigere, gubernare („lenken“, „beeinflussen“) vgl. ThLL VI 2,1940,63 – 73 und Cic. nat. deor. 2,75: docet omnes res subiectas esse naturae sentienti ab eaque omnia pulcherrume geri. Wie Bursian (1857) 19, Kiessling (1872) 24 und Håkanson (1989) 349 bewahren wir das überlieferte (wenn auch teilweise verschriebene) ita und verwerfen Gertz’ Konjektur ista (vgl. Müller [1887] 547), da der Teilsatz verständlich ist und ein Objekt, wie Håkanson ad loc. kommentiert, leicht aus dem Zusammenhang ergänzt werden kann. quae sive plena lucis suae est splendensque pariter adsurgit in cornua, imbres prohibet, sive occurrente nubilo sordidiorem ostendit orbem suum, non ante finit quam †in lucem reddit†: Finit sc. imbres. Wie in den §§ 4f. diskutiert wird, ist eine Stelle aus Vergils Georgica das Vorbild für diesen Teil des Satzes (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Während mit plena lucis suae est sicherlich der Vollmond gemeint ist, besteht Ungewissheit, welche Mondphase adsurgit in cornua bezeichnet. Es hat den Anschein, als würde bildlich die Phase des zunehmenden Mondes beschrieben, wie Edward (1928) 118 und Zanon dal Bo (1988) 223 Fußn. 5 meinen. Eine ähnliche Formulierung bei Arat (799 f.) hingegen legt nahe, dass Fuscus den abnehmenden Mond meint (s. den Kommentar zu § 5). O. & E. Schönbergers (2004) 287 Übersetzung wiederum deutet eher auf eine zweite Bezeichnung des Vollmondes hin: „[sc. der Mond] geht ebenso hell im Glanz seiner Hörner auf“. Die Vergilstelle vermag die Zweifel kaum zu lösen, da der Dichter die Phase unmittelbar nach Neumond beschreibt (vgl. § 5 mit dem Kommentar zur Stelle). Wir tendieren dazu, wie O. & E. Schönberger von einer Mondphase, nämlich dem Vollmond, auszugehen, da der Deklamator das Wetter nicht auf verschiedene Mondphasen zurückführt, sondern das Kriterium, ob bei Vollmond Wolken den Mond verdunkeln, für das Wetter verantwortlich macht. Das nachgeordnete Bemühen um meteorologische Exaktheit zeigt sich auch darin, dass der Deklamator vom Eigenlicht des Mondes spricht. Es war nämlich bereits in der Antike bekannt, dass es sich um das Licht der Sonne handelt; vgl. Hyg. astr. 4,14. Textkritisch birgt dieser Teilsatz große Probleme, die daraus resultieren, dass dieser Satz in abweichender Form in § 4 zitiert wird. So ist hier mit Gertz und Novák occurrente (vgl. Müller [1887] 547) zu lesen, da das überlieferte occurret (‐it

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3 suas. 3

V) de auf diesen Wortlaut hindeutet, während in § 4 occupata [sc. luna nubilo] überliefert ist. Für Zitationsfehler vgl. suas. 2,20 mit dem Kommentar zur Stelle. Am Ende dieses Teilsatzes ist in lucem reddit (AB) bzw. redit (B2V) überliefert, während die Handschriften in § 4 vicem reddit bieten. Håkanson (1989) 349 f. liest an dieser Stelle und in § 4 in lucem redit, während die übrigen Herausgeber seit Kiessling (1872) 24 und 26 lucem reddit lesen. Bursian (1857) 19 und 21 liest an beiden Stellen vicem reddit. Möglicherweise muss man auch in diesem Fall von einem Zitierungsfehler des älteren Seneca ausgehen und hier einen anderen Text als dort lesen. Andererseits scheint uns die Junktur vicem reddere („Wiedergutmachung leisten“), die seit Ovid (am. 1,6,23) belegt ist, in diesem Kontext keinen Sinn zu ergeben – selbst wenn man in § 4 von einem Zitierungsfehler des älteren Seneca ausgeht. Angesichts der verwickelten Überlieferungslage lässt sich aber kaum entscheiden, ob in lucem reddit [sc. orbem suum] oder in lucem redit oder lucem reddit zu lesen ist. Daher setzen wir Cruces. Den erforderlichen Sinn, dass der Mond nicht mehr bewölkt ist, erfüllen alle drei letztgenannten Lesarten bzw. Konjekturen. sive ne lunae quidem ipsa potentia est, sed flatus, qui occupavere, annum tenent: Das Objekt zu occupavere ist wohl der Mond [sc. lunam]. Für annus mit Bezug auf das Wetter vgl. Cato agr. ind.: materies quid anni tempestiva est; Ov. fast. 4,643: siccus erat gelidis Aquilonibus annus; ThLL II 120,3 – 11. Gegen alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass das überlieferte ipsa gehalten werden kann und nicht mit Haase zu ista emendiert werden muss, da das Pronomen zusammen mit ne […] quidem dazu beiträgt, den Gegensatz zwischen dem Einfluss des Mondes und der Winde zu betonen. quidquid horum est, extra iussum dei tutum fuit adultero mare: An dieser Stelle wird deutlich, worauf die Beschreibung des Deklamators hinausläuft: Das Meer unterliegt ebensowenig wie die anderen Wetterphänomene dem Einfluss der Götter, da Paris’ Beispiel zeigt, dass sogar einem Ehebrecher eine sichere Durchquerung des Meeres möglich war. Daher würde Iphigenies Opferung keine Verbesserung des Wetters verursachen. Für den Gedanken vgl. Cornelius Hispanus in § 2: ista maria, si numine suo deus regeret, adulteris clauderentur. Der Ausdruck extra iussum dei heißt „unabhängig von einem Befehl eines Gottes“, d. h. es wird behauptet, dass kein Gott Einfluss auf das Wetter genommen hat. Für extra in dieser Bedeutung vgl. Cic. div. in Caec. 37: hoc extra hanc contentionem certamenque nostrum familiariter tecum loquar; orat. 195: nec numerosa esse […] neque extra numerum […] esse debet oratio.

3.2 Kommentar

317

‘At non potero vindicare adulteram’: Der Deklamator geht auf den imaginären Einwand ein, dass er das Ziel der Reise, nämlich Helenas Bestrafung, nicht erreichen kann, wenn er Iphigenie nicht opfert, da er ja nach Kalchas’ Worten sonst nicht nach Troja gelangen kann. Ein solcher Einwand müsste nach den vorigen Darlegungen abgewiesen werden, indem der Deklamator sagt, dass er durchaus noch Helena bestrafen kann und nur auf besseres Wetter warten muss. In den uns überlieferten Exzerpten findet sich dieses Argument nicht. Jedoch wird aus der divisio (§ 3) und daraus, dass der Deklamator weiter unten von Trojas Eroberung spricht (victa Troia), deutlich, dass er dieses Argument verwendet hat. Für die Zitierung und Widerlegung imaginärer Einwände, die häufig mit at eingeleitet werden, vgl. suas. 2,1; 3; 4; 17; 18. O. & E. Schönberger (2004) 287 und Adiego Lajara (et al.) (2005) 299 Fußn. 53 sind der Meinung, dass dieser Einwand Menelaus in den Mund gelegt wird. Es wäre aber zu fragen, wie man sich diesen Vorgang vorzustellen hat, denn ein Sprecherwechsel kann vernünftigerweise nicht angenommen werden. Zudem wird Menelaus in dieser Suasorie sonst nirgends personifiziert oder zitiert. Daher ist davon auszugehen, dass der Deklamator auch in dem Einwand in Agamemnons Rolle spricht. Gertz’ (1879) 152 Ergänzung von aliter vor vindicare, die Müller (1887) 547 übernimmt, halten wir wie Thomas (1900) 196 für überflüssig, da aus dem Kontext hervorgeht, dass Iphigenies Tötung die Bedingung für Helenas Bestrafung ist. Aus demselben Grund ist die identische Supplierung von Gertz in § 2 in dem Satz si non datur nobis ad bellum iter, revertamur ad liberos zu verwerfen. prior est salus pudicae: Durch eine Abwägung zwischen dem Wohlergehen seiner keuschen Tochter Iphigenie und der möglichen Bestrafung der Ehebrecherin Helena gelangt der Deklamator zu dem Ergebnis, dass Iphigenies Wohlergehen Vorrang hat. Für diese Abwägung vgl. Fuscus’ divisio in § 3 und folgendes Fragment aus Ennius’ Iphigenie-Tragödie (scen. fr. 225, p. 157 Vahlen): pro malefactis Helena redeat, virgo pereat innocens? / tua reconcilietur uxor, mea necetur filia? ne quid huius virginitati timerem, persequebar adulterum: Der Zweck von Paris’ Verfolgung ist obsolet geworden: Agamemnon verfolgte nämlich Paris, um ein Zeichen zu setzen und somit sicherzustellen, dass dieser nicht auch noch andere griechische Frauen, v. a. die eigene Tochter, raubt. Nun steht nicht trotz, sondern gerade wegen der Verfolgung ihr Wohlergehen auf dem Spiel. victa Troia virginibus hostium parcam: Dies ist ein Argumentum a minori: Wenn Agamemnon beabsichtigt, die Jungfrauen des eroberten Troja zu verschonen, um wieviel mehr muss er dann für das Wohlergehen seiner eigenen Tochter

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3 suas. 3

sorgen! Was mit parcere konkret gemeint ist, lässt sich schwer angeben. In jedem Fall wird die Tötung einer Trojanerin ausgeschlossen (vgl. Cestius in § 2: ne Priami quidem liberos immolaturus es). Ob gemeint ist, dass Agamemnon den Trojanerinnen nichts antun wird, ist hingegen fraglich (s. die folgende Anmerkung). nihil adhuc virgo Priami timet: Kassandra (virgo Priami) wird eigens erwähnt, um den Kontrast zu betonen, dass Priamus’ Tochter im Gegensatz zur eigenen Tochter (Iphigenie) nichts befürchten muss, obwohl ihr Bruder Helena entführt hat. Dieser Satz hängt nicht unmittelbar mit dem vorigen Satz zusammen, wie es die leichte Interpunktion der vorigen Herausgeber suggeriert. Denn nachdem der Deklamator im vorigen Satz seine Absicht bekundet hat, Trojas Jungfrauen zu verschonen, muss er in demjenigen Teil der Deklamation, der zwischen dem vorigen und diesem Satz lag, auf die einzige Ausnahme zu sprechen gekommen sein: Kassandra. Diese wird nämlich nach Trojas Eroberung von Ajax geschändet und durch Agamemnon versklavt werden. Der Gedankengang ist folgender: Trojas Jungfrauen werden verschont werden. Die einzige Ausnahme ist Kassandra. Aber selbst diese hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts zu befürchten, wohingegen Iphigenie um ihr Leben fürchten muss. In adhuc offenbart sich daher das mythologische Hintergrundwissen des Deklamators. Für ein weiteres ‘anachronistisches’ Argument innerhalb dieser Suasorie vgl. Cestius in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: libentius hanc sacerdotem habebit quam victimam; s. das Kapitel „Anachronismen“ (S. 61– 63). 2 CESTI PII: Wie aus dem zweiten Satz ne Priami quidem liberos immolaturus es hervorgeht, spricht Cestius diese Suasorie aus der Sicht eines Ratgebers. Vos ergo adhuc, di immortales, invoco: sic reclusuri estis maria? obstate potius: Der Deklamator Cestius stellt den Einfluss der Götter auf das Wetter nicht in Frage. Er zeigt sich empört darüber, dass sie nur dann den Griechen die Überfahrt gewähren, wenn Iphigenie geopfert wird. Daher bevorzugt, ja fordert er, dass die Überfahrt nicht ermöglicht wird. Der Anfang des Satzes beinhaltet ein schwieriges textkritisches Problem. In den besten Handschriften ist vos ergo adhunc diemmortales invoco überliefert. Die Recentiores überliefern diem inmortales statt diemmortales. Bursian (1857) 19 liest mit den Recentiores vos ergo ad hunc diem, inmortales, invoco; Kiessling (1872) 24 vos ego adhuc, di inmortales, invoco. Müller (1887) 547 und Winterbottom (1974) II 536 tilgen mit Ribbeck adhunc und lesen vos ergo, di immortales, invoco. Auf ähnliche Weise liest Håkanson (1989) 349 vos ego, di immortales, invoco. Gegen die Überlieferung der Recentiores spricht, dass die Angabe ad hunc diem unter grammatikalischen und semantischen Gesichtspunkten fragwürdig ist. Zudem ist das substantivische bzw. elliptische im-

3.2 Kommentar

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mortalis nur selten belegt (vgl. ThLL VII 1,492,61– 67). Daher scheint uns von den vorgeschlagenen Lösungen diejenige von Kiessling die beste zu sein – mit der Einschränkung, dass die Änderung von ergo zu ego unnötig ist, da die Funktion von ergo aufgrund der Tatsache, dass der Satz exzerpiert wurde, nicht mehr ersichtlich sein kann (vielleicht schloss sich dieser Satz an eine Beschreibung der Stürme an). Adhuc bedeutet in dieser Textkonstitution „noch immer“ und bringt die Fassungslosigkeit des Sprechers zum Ausdruck, nachdem er vielleicht schon zuvor gegen den Wunsch der Götter nach Iphigenies Opferung protestiert hat. Ne Priami quidem liberos immolaturus es: Genauso wie Fuscus in § 1 benutzt Cestius das Argumentum a minori, dass Agamemnon, wenn er nicht beabsichtigt, Priamus’ Kinder zu töten, erst recht nicht seine eigene Tochter opfern sollte: victa Troia virginibus hostium parcam. Describe nunc tempestatem. omnia ista patimur, nec parricidium fecimus: Das Argument des Deklamators scheint zu sein, dass Iphigenies Opferung das widrige Wetter nicht ändern wird. Anders als bei Fuscus begründet sich diese Skepsis aber nicht dadurch, dass der Einfluss der Götter auf das Wetter bezweifelt wird, sondern dadurch, dass die Götter die Überfahrt der Griechen behindern und die Tötung der eigenen Tochter deren Zorn nur vergrößern würde. Die Aufforderung an Agamemnon describe nunc tempestatem hat die Funktion, einen Einwand zu referieren, der anschließend widerlegt wird, und entspricht somit dem fiktiven Zitat at non potero vindicare adulteram in § 1. Vgl. für diese Form des Gegenarguments suas. 2,8 mit dem Kommentar zur Stelle: describite terrores Persicos; omnia ista, cum mitteremur, audivimus. Winterbottom (1974) II 537 Fußn. 5 und (1980) 99 spricht hier von einer „stage direction“. Dieser Begriff ist aber zumindest irreführend, da er suggeriert, dass eine am Geschehen unbeteiligte Person eine Anweisung gibt. In Wirklichkeit ist es jedoch der Ratgebende, der Agamemnon auffordert, das Unwetter zu beschreiben. Die Funktion von nunc besteht wohl entweder darin, den Imperativ zu betonen (vgl. OLD s.v. nunc 6), oder darin, zu einem neuen Punkt überzuleiten (vgl. OLD s.v. nunc 9). Für den ersten Fall vgl. Plaut. Poen. 252: amo te. sed hoc nunc responde; für den zweiten Fall vgl. Cic. Att. 10,15,1: adhuc non satis faciebat; debet autem mihi multos nummos nec habetur locuples. nunc ait se daturum. Das Substantiv parricidium bezeichnet den Mord an Nahestehenden bzw. generell einen Mord und nicht speziell den Mord am Vater, wie antike Schriftsteller (und moderne Philologen; vgl. Edward [1928] 119 und 137) aufgrund falscher etymologischer Herleitung des Wortes glaubten (vgl. Walde [1954] 253 f. s.v. paricida).

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3 suas. 3

Quod hoc sacrum est, virginis deae templo virginem occidere?: Der Deklamator drückt in einer paradoxen Formulierung den Gedanken aus, dass es widersinnig ist, die Jungfrau Iphigenie der Jungfrau Diana zu opfern. Für das Polyptoton virginis […] virginem in diesem Zusammenhang vgl. Ov. met. 12,27– 29: [sc. Calchas] nec […] nescitve tacetve / sanguine virgineo placandam virginis iram / esse deae. Das Substantiv templo wird von allen Übersetzern (Bornecque [1902] II 315; Edward [1928] 56; Winterbottom [1974] II 537; Zanon dal Bo [1988] 145; O. & E. Schönberger [2004] 287; Adiego Lajara [et al.] [2005] 299) mit „im Tempel“ wiedergegeben. Da die Opfer allerdings nicht im Tempel, sondern am Altar vorgenommen wurden, liegt die Erklärung von templo als Dativus commodi näher. Kiesslings (1872) 24 Erwägung, virgini deae extemplo herzustellen, ist wohl unnötig. libentius hanc sacerdotem habebit quam victimam: Der Deklamator benutzt sein Wissen um das Ende des Iphigenie-Mythos (s. Einleitung), um sein zuvor ausgedrücktes Argument zu stützen. Wie u. a. in Euripides’ Taurischer Iphigenie (1462– 1466) erzählt wird, rettet Artemis Iphigenie vor der Opferung und bringt sie zu den Taurern, wo diese ihr als Priesterin dient. Interessanterweise wird der Deklamator nicht dafür kritisiert, dass er in gewisser Weise einen Anachronismus verwendet. Anachronismen scheinen daher nur dann beanstandet zu werden, wenn sie Formulierungen betreffen (s. das Kapitel „Anachronismen“, S. 61– 63), nicht jedoch, wenn das Wissen um spätere Ereignisse verwendet wird. Für ein anderes anachronistisches Argument vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: nihil adhuc virgo Priami timet. CORNELI HISPANI: Wie Fuscus in § 1 spricht auch der Deklamator Cornelius Hispanus aus Agamemnons Sicht (zur Prosopopoiie s. Einleitung). Infestae sunt, inquit, tempestates et saeviunt maria; neque adhuc parricidium feci. ista maria, si numine suo deus regeret, adulteris clauderentur: Der Deklamator benutzt dasselbe Argument wie Fuscus in § 1 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle): Wenn die Götter die Meere lenken würden, würden sie Ehebrechern die Durchquerung unmöglich machen. Paris konnte aber ungehindert die Meere durchsegeln. Also lenken die Götter die Meere nicht, und diese wüten unabhängig davon, ob Agamemnon einen Mord begeht oder nicht. Für das pleonastische inquit vgl. contr. 9,5,9: Cestius dixit, cum descripsisset, quam leve vulnus esset: nocueras, inquit, mihi, si amicae tuae nocere potuisses.

3.2 Kommentar

321

MARVLLI: Beim Deklamator Marullus lässt sich nicht entscheiden, ob er die Suasorie in Form einer Prosopopoiie deklamiert hat (zur Prosopopoiie s. Einleitung). Si non datur nobis ad bellum iter, revertamur ad liberos: Die Sentenz des Deklamators beruht zum einen auf dem Gegensatz zwischen ad bellum und ad liberos. Zum anderen ist ad liberos bewusst gewählt, da Agamemnon erwägt, seine Tochter zu opfern. ARGENTARI: Wie Fuscus in § 1 und Cornelius Hispanus weiter oben spricht auch der Deklamator Argentarius aus Agamemnons Sicht (zur Prosopopoiie s. Einleitung). Iterum in malum familiae nostrae fatale revolvimur: propter adulteram fratris liberi pereunt: Der Deklamator spielt pathetisch auf den Geschlechterfluch der Atriden an: Atreus’ Frau Aerope beging mit dessen Bruder Thyestes Ehebruch und ermöglichte diesem den Raub des goldenen Flieses. Daraufhin ließ Atreus Thyestes’ Söhne töten und setzte sie ihm als Mahl vor (vgl. z. B. Senecas Tragödie Thyestes). Wegen Aeropes Ehebruches sind daher (aus Atreus’ Sicht) die Kinder des Bruders gestorben. Nun hat sich zwischen Atreus’ Söhnen, Agamemnon und Menelaos, eine ähnliche Situation ergeben: wegen des Ehebruchs von Menelaos’ Frau (Helena) muss vielleicht die Tochter seines Bruders Agamemnon (Iphigenie) sterben. Ista mercede nollem reverti: Da dieser Satz Kiessling und Müller in der überlieferten Form sinnlos zu sein schien, wurde er auf zweierlei Weise emendiert: Kiessling (1872) 25 hat eam hinter nollem ergänzt und somit die Rückkehr auf Helena bezogen. Ähnlich emendiert Müller (1887) 548 nollem zu nolo illam; diese Konjektur wird von Bornecque (1902) II 316, Edward (1928) 16,Winterbottom (1974) II 538 und Zanon dal Bo (1988) 144 übernommen. Jedoch hat Håkanson (1989) 349 und ad loc. den Sinn des überlieferten Satzes erklärt und zu Recht die textkritischen Eingriffe abgelehnt. Gemeint ist nämlich, dass Agamemnon für den Preis, den Iphigenies Opferung darstellt, nicht einmal als Sieger des Trojanischen Krieges nach Hause zurückkehren möchte. Und wenn nicht einmal der möglicherweise gewonnene Krieg den Verlust seiner Tochter kompensieren könnte, ist er erst recht nicht bereit, in den Krieg zu ziehen. At Priamus bellum pro adultero filio gerat: Dieser Satz hat den meisten Herausgebern und Übersetzern Schwierigkeiten bereitet, die scheinbar dadurch behoben wurden, dass Gronovius’ (1672) 26 Konjektur gerit anstelle des überlieferten

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gerat in den Text gesetzt wurde. Gronovius zufolge wird der Gedanke ausgedrückt, dass in Troja die Väter ihre Söhne so sehr lieben, dass sie sogar Krieg führen, wenn diese Ehebruch begangen haben. Die Schlussfolgerung wäre wohl demnach, dass Agamemnon aus Vaterliebe seine Tochter verschonen soll. Es ist jedoch fragwürdig, ob Priamus’ Verhalten als Vorbild für Agamemnons Verhalten dienen soll. Winterbottom (1974) II 539 Fußn. 3 und (1980) 99, der Gronovius’ Konjektur übernimmt, sieht den Sinn des Satzes darin, dass Agamemnon seine unschuldige Tochter verschonen soll. Er scheint daher von dem Kontrast auszugehen, dass Priamus wegen eines Ehebrechers Krieg führt, wohingegen Agamemnon seine unschuldige Tochter nicht opfern soll. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, dass es sich nicht um einen Einwand wie z. B. in § 1 (at non potero vindicare adulteram) handeln kann, da keine Erwiderung vorliegt. Håkanson (1989) 349, der ebenfalls Gronovius’ Konjektur übernimmt, ist der Meinung, dass Seneca d.Ä. etwas ausgelassen hat, was zum Verständnis der Sentenz notwendig ist, und vermutet, dass Argentarius zuvor einen Gedanken wie vis me innocentem filiam necare? ausgedrückt hat. Seine Interpretation des Satzes deckt sich daher in etwa mit derjenigen von Winterbottom. Zwar meinen auch wir, dass ein Kontrast vorliegt, aber wir sehen keinen Grund, die Überlieferung zu verwerfen, wie es alle Herausgeber außer Kiessling (1872) 25 tun. Der Konjunktiv in gerat ist wohl als Potentialis aufzufassen: „Priamus hingegen führt wohl einen Krieg für seinen ehebrecherischen Sohn“. Der Kontrast ist ein doppelter: Zum einen stehen sich Priamus’ Bereitschaft, einen Krieg zu führen, und Agamemnons Abneigung angesichts des Opfers gegenüber. Zum anderen stehen sich die Motive gegenüber: auf der einen Seite der ehebrecherische Sohn, auf der anderen Seite die unschuldige Tochter.

Die divisio (3 – 4a) 3 Hanc suasoriam … non intellegi: Zu Fuscus’ Argumentation s. das Kapitel „Die Argumentation“ (S. 63 – 67, v. a. 65). Hanc suasoriam sic divisit FVSCVS, ut diceret, etiamsi aliter navigare non possent, non esse faciendum, et sic tractavit, ut negaret faciendum, quia homicidium esset, quia parricidium, quia plus impenderetur quam peteretur: peti 〈adulteram〉, impendi Iphigeniam; vindicari adulterium, committi parricidium: Mit faciendum ist Iphigenies Opferung gemeint. Ob Fuscus’ erstes Argument durch zwei oder drei untergeordnete Argumente gestützt wird, ist textkritisch umstritten. Håkanson (1989) 350 hält als einziger moderner Herausgeber das überlieferte quo, während alle anderen modernen Herausgeber ein drittes quia lesen und Gertz quod vorschlägt (vgl. Müller [1887] 548). Der Zweck der

3.2 Kommentar

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Emendationen liegt offensichtlich darin, eine dreigeteilte Begründung herzustellen: Fuscus verwendet zunächst zwei honestum-Argumente, die sich auf der Ebene der These bewegen (s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 63 – 67, v. a. 66), wobei das zweite Argument eine Steigerung gegenüber dem ersten Argument darstellt (Iphigenies Opferung ist ein Mord, ja sogar ein Mord an einem Nahestehenden; für parricidium vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle). Dann argumentiert er mit der Kategorie des utile und vergleicht die Vor- und Nachteile der möglichen Opferung von Iphigenie (vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle). Es ist jedoch zu überlegen, ob sich das überlieferte quo unter derselben Annahme halten lässt, nämlich dass durch das Relativpronomen ein drittes Argument eingeleitet wird. Leider scheint im Werk des älteren Seneca kein vergleichbarer Fall vorzuliegen, den man für die eine oder andere textkritische Entscheidung heranziehen könnte. Eher auszuschließen ist die Überlegung, dass der Deklamator die Kategorien des honestum und des utile in einem Argument miteinander verknüpft, da dies in der Suasoriensammlung nirgends vorkommt. Daher und da quo zumindest missverständlich zu sein scheint, übernehmen auch wir die Konjektur quia. Müllers (1887) 548 Konjektur hoc anstelle von et, die Bornecque (1902) II 316, Edward (1928) 16, Winterbottom (1974) II 538 und Zanon dal Bo (1988) 144 übernehmen, weisen wir ebenso zurück wie diejenige von Gertz (1879) 152, der id vorschlägt. Zwar stimmt es, dass das Objekt zu tractavit nicht hanc suasoriam ist, da dieses Verb auf eine andere Argumentationsebene verweist als divisit. Aber die Ergänzung eines Objektes ist unnötig (sinngemäß ist tractavit primam quaestionem zu verstehen; vgl. suas. 1,10), da tractare öfter absolut gebraucht wird; vgl. z. B. contr. 1,2,16; 1,5,8. Hinter peti ergänzen wir mit der Editio Romana (1585) adulteram (vgl. Müller [s.o.]), während die Herausgeber seit Kiessling (1872) 25 mit Wehle (1863) 165 Helenam supplieren. Den Ausschlag zwischen den beiden Ergänzungen gibt die Tatsache, dass adulteram vielleicht wegen des folgenden adulterium ausgefallen ist. Gegen Wehle ist also die Wiederholung nahezu desselben Wortes kein Grund gegen, sondern für diese Supplierung; ferner wird auch parricidium auf engstem Raum wiederholt. deinde dixit, etiamsi non immolasset, navigaturum; illam enim moram naturae, maris et ventorum: Diesem Argumentationszusammenhang wird Fuscus’ Exzerpt aus dem ersten Paragraphen entnommen sein: Das Unwetter, das die Griechen von der Fahrt nach Troja abhält, ist ein natürliches Phänomen, das durch das Zusammenspiel von Meer und Winden verursacht wird. Also müssen die Griechen nur warten, bis sich das Wetter bessert. Gertz (1879) 152, der deberi hinter ventorum ergänzt, nimmt in unseren Augen zu Unrecht Anstoß an der präzisierenden Apposition maris et ventorum („nämlich des Meeres und der Winde“). Ebenso unbegründet scheint uns Müllers (1887) 548 Entscheidung zu sein, mit der

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jüngeren Handschrift D esse hinter ventorum zu lesen, der die Herausgeber und Übersetzer bis Zanon dal Bo (1988) 144 gefolgt sind. Denn die Ellipse einer Form von esse (in diesem Fall der Infinitiv) begegnet – gerade in der divisio – häufig im Werk des älteren Seneca; vgl. suas. 5,5, wo nicht entschieden werden kann, ob sc. sunt oder esse zu verstehen ist: numquam magna imperia otiosa. deorum voluntatem ab hominibus non intellegi: Dieses Argument stützt die These, dass die Griechen nach Troja segeln können, auch wenn sie Iphigenie nicht töten. Es richtet sich gegen Kalchas’ Prophezeiung, die im Thema formuliert wird, dass nämlich Iphigenies Opferung die Bedingung für die Überfahrt ist. Vgl. die folgende Argumentation des Deklamators Cestius. Hoc CESTIVS diligenter divisit: dixit enim deos rebus humanis non interponere arbitrium suum: Cestius hat das Problem der Weissagung argumentativ sorgfältig aufgegliedert. Seine Argumentation bewegt sich – um mit Quintilian zu sprechen – auf der Ebene der These (s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 63 – 67, v. a. 66) bzw. der allgemeinen Ebene, auf der mit den Epikureern bestritten wird, dass sich die Götter um die Menschen kümmern; vgl. Quint. inst. 5,7,35 f.: duplicem sciat esse eorum [sc. divinorum testimoniorum] tractatum: generalem alterum, in quo inter Stoicos et Epicuri sectam secutos pugna perpetua est regaturne providentia mundus. specialem alterum circa partis divinationum, ut quaeque in quaestionem cadet. aliter enim oraculorum, aliter haruspicum augurum coniectorum mathematicorum fides confirmari aut refelli potest, cum sit rerum ipsarum ratio diversa. Für die Argumentation auf der speziellen Ebene vgl. Pompeius Silo in § 4. si interponant, voluntatem eorum ab homine non intellegi: Vgl. Fuscus weiter oben: deorum voluntatem ab hominibus non intellegi. Am Anfang des Satzes ergänzen alle modernen Herausgeber mit Bursian (1857) 20 ut, da die Handschriften A und B keine Subjunktion überliefern. In V ist hingegen si überliefert, während B2 et si ergänzt. Zu erwägen wäre allerdings zuerst, ob eine Subjunktion notwendig ist oder interponant als konzessiver Konjunktiv allein stehen kann. Da wir in der divisio sonst nirgends einen konzessiven Konjunktiv haben finden können, muss wohl eine Subjunktion gelesen werden. Jedoch bevorzugen wir das überlieferte si, das auch im Folgenden zweimal einen potentialen Konjunktiv einleitet. Bursians Ergänzung von ut ist wohl darauf zurückzuführen, dass er die Handschrift V nicht kannte. ut intellegatur, non posse fata revocari: Cestius behauptet, dass, wenn das Schicksal die Griechen daran hindert, nach Troja zu segeln, dies unwiderruflich feststeht. Iphigenies Opferung würde keine Änderung bewirken. Für das kon-

3.2 Kommentar

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zessive ut, das einen strittigen Punkt der Argumentation zuliebe zugesteht („selbst wenn“), vgl. OLD s.v. ut 35b; suas. 5,5: novissime, ut veniat, cum quibus veniet?; Cic. nat. deor. 3,41: sed ut haec concedantur, reliqua qui […] intellegi possunt? si non sint fata, nesciri futura. si sint, non posse mutari: In einem letzten Schritt versucht der Deklamator, sich gegen die Einwände derjenigen abzusichern, die nicht an das Schicksal glauben. Denn wenn es kein Schicksal gibt, kann es kein Wissen um die Zukunft geben, d. h. dann besitzt Kalchas als Seher keinerlei Autorität. Wenn es aber das Schicksal gibt – und dies war die Voraussetzung für das vorige Argument –, dann steht bereits fest, was geschehen wird, und kann nicht verändert werden. Bei nesciri (B2) handelt es sich um eine Korrektur des in den besten Handschriften überlieferten sacri (AB), die wir wie alle modernen Herausgeber in den Text setzen, da sacri keinen Sinn ergibt und die Korrektur semantisch überzeugt und paläographisch nahe liegt. Das in V überlieferte sacra lesen wir nicht, da es keinen Sinn ergibt. In dieser Handschrift wurde ein schwer zu entzifferndes pro oder ri über futura geschrieben, so dass sich die beiden Korrekturen sacrari und sacra profutura (V2) ergeben. Diese beiden Formen finden sich in den Recentiores und zeigen besonders deutlich deren Abhängigkeit von V (vgl. Håkanson [1989] 350 und ad loc.). Aus semantischen und paläographischen Gründen halten wir jedoch nesciri für besser als diese beiden Korrekturen. Dasselbe gilt für ignorari (τ) und Nováks Konjektur obserari (vgl. Müller [1887] 548). 4 SILO POMPEIVS: Pompeius Silo hält die Suasorie in der Rolle eines Ratgebers. Auch seine Argumentation dreht sich um Kalchas’ Weissagung. Im Gegensatz zu Cestius in § 3 ficht er diese jedoch nicht auf der allgemeinen, sondern auf der speziellen Ebene an (vgl. Quint. inst. 5,7,35 f.; s. S. 324). Zudem greift er Kalchas persönlich an. SILO POMPEIVS, etiamsi quod esset divinandi genus certum, auguriis negavit credendum: Seit Homer wird der Vogelflug mit Kalchas verbunden; vgl. Hom. Il. 1,69: Κάλχας Θεστορίδης, οἰωνοπόλων ὄχʼ ἄριστος; Cic. div. 1,87; nat. deor. 2,7; Ov. met. 12,18 f.; Sen. Tro. 533 f. In Aulis veranlassen zwei Adler, die eine trächtige Häsin verschlingen, Kalchas zu der Prophezeiung, dass Iphigenie geopfert werden muss (vgl. Aischyl. Ag. 104– 157). Für die verschiedenen Arten der Weissagung und deren unterschiedliche Widerlegung vgl. Quint. inst. 5,7,36 (s. S. 324). Die Skepsis bzw. Kritik speziell an der Vogelschau hat eine Parallele bei Euripides (Iph. A. 879 und 955 – 958). quare ergo, si nescit, Calchas adfirmat? primum [et] scire se putat: Der Deklamator widerlegt zunächst Kalchas’ Anmaßung, die darin besteht, dass er be-

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hauptet, etwas zu wissen, was er in Wirklichkeit nicht weiß. Seit Müller (1887) 548 beginnen die Herausgeber mit primum einen neuen Satz und tilgen das überlieferte et. Bursian überlegt, et si scire se putat, nescit zu lesen; Gertz suppliert et und transponiert einen weiter unten überlieferten Satz hierher (vgl. Müller [s.o.]): et scire se putat et quaerit sibi tam magno testimonio apud omnes gentes fidem. Das Ziel der textkritischen Eingriffe besteht darin, durch primum und deinde die beiden Hauptargumente des Deklamators einzuleiten. Da primum im Satzinneren keinen Sinn ergibt, halten auch wir die Annahme von zwei Sätzen an dieser Stelle für notwendig. Dann ist wiederum die Tilgung von et erforderlich, das sich weder als Verknüpfung noch i.S.v. etiam halten lässt. Alternativ müsste man über eine Lacuna nachdenken. hic communem locum dixit in omnes, qui hanc adfectarent scientiam: Ein Locus communis über das angebliche Zukunftswissen der Weissager wird suas. 4,1– 3 von Fuscus verwendet. Für die metaoratorische Aussage des älteren Seneca, dass ein Locus communis verwendet wird,vgl. suas. 1,9: dixit deinde locum de varietate fortunae. deinde: irascitur tibi: invitus militat. quaerit sibi tam magno testimonio apud omnes gentes fidem: Die zweite Begründung dafür, dass Kalchas kein Glaube geschenkt werden soll, liegt in den Motiven, die Pompeius Silo ihm unterstellt. Die Tatsache, dass Deklamatoren Motive erfinden, ist Teil eines weiter gefassten Phänomens, das mit dem Begriff color bezeichnet wird (s. das Unterkapitel in unserer allg. Einleitung: „Die colores“, S. 44– 59). Innerhalb der Suasoriensammlung vgl. suas. 2,21; 6,13 und 7,11 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle.

Dritter Teil (4b-7) In ea descriptione, 〈quam〉 primam in hac suasoria posui, FVSCVS ARELLIVS Vergilii versus voluit imitari: Nachdem Vergil suas. 1,12 und 2,20 als stilistisches Vorbild vorgestellt wurde, an dem man sich schulen soll, wird er nun erstmals als Objekt der Nachahmung in dem Sinne eingeführt, dass er tatsächlich imitiert wurde. Die Beschreibung, die Fuscus in Anlehnung an Vergil vorgenommen hat, hat Seneca d.Ä. im ersten Paragraphen zitiert. Die Vergilverse, die die Vorlage für diese Imitation bilden, entstammen den Georgica (1,427– 429 und 432 f.). Das Hilfsverb velle macht deutlich, dass Fuscus’ Imitationsversuch in den Augen des älteren Seneca nicht geglückt ist, wie auch aus dem nächsten Satz deutlich wird. Für diese Verwendungsweise von velle im Werk des älteren Seneca vgl. suas. 1,11

3.2 Kommentar

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und contr. 7,1,27, wo eine andere Vergilimitation geschildert wird: Montanus Iulius […] aiebat illum [sc. Cestium] imitari voluisse Vergili descriptionem. Zu der Vergilimitation hier und dort vgl. Berti (2007) 273 – 278. valde autem longe petit et paene repugnante materia, certe non desiderante, inseruit: Petit et […] inseruit sc. descriptionem. Für den Vorwurf, etwas „weit herzuholen“, und die Formulierung longe petere vgl. das gleichbedeutende longe arcessere contr. 1,6,9 (mit Bezug auf einen color) und 7,5,13 (mit Bezug auf ein exemplum). Bei petit handelt es sich um eine kontrahierte Perfektform wie transit (statt transiit) suas. 1,7. Die Ablativi absoluti repugnante materia, certe non desiderante sind in den Handschriften verschrieben worden. Wie Novák (1908) 264 bemerkt, wurde wohl materia durch Angleichung an repugnatae, das durch Verschreibung aus repugnante entstand, zu materiae verschrieben. Da materies beim älteren Seneca nirgends vorkommt, ist nicht mit V materie zu lesen, wie es Müller (1887) 549 und Edward (1928) 16 tun, sondern materia, eine Konjektur von Haase (vgl. Müller [s.o.]). quae sive plena lucis suae est splendensque pariter assurgit in cornua, imbres prohibet, sive occupata nubilo sordidiorem ostendit orbem suum, non ante finit quam †vicem reddit†: Wie wir zu § 1 kommentiert haben, sollte hier zum einen occupata [sc. luna nubilo] und nicht – wie in § 1 – occurrente, wie es Gronovius (1672) 27 vorschlägt, gelesen werden. Zum anderen lässt sich nicht entscheiden, welche Konjektur anstelle des sinnlosen vicem reddit zu lesen ist. 5 at Vergilius haec quanto et simplicius et beatius dixit: ‘luna revertentes cum primum colligit ignes, / si nigrum obscuro comprenderit aera cornu, / maximus agricolis pelagoque parabitur imber.’ et rursus: ‘si … / pura nec obtunsis per caelum cornibus ibit’: Die Wetterphänomene werden bei Fuscus und bei Vergil (georg. 1,427– 429 und 432 f.) in unterschiedlicher Reihenfolge ausgedrückt. Wie Mynors ad Verg. georg. 1,427 kommentiert, beschreibt Vergil in dem ersten Zitat in Anlehnung an Arat (785 – 787) das Phänomen, dass, wenn kurz nach Neumond die Hörner abgedunkelt sind und die Rückstrahlung der Erde absorbiert wird, Regen verkündet wird. Das zweite Vergilzitat ist aus seinem Zusammenhang gerissen; dieser lautet (georg. 1,432– 435): sin ortu quarto (namque is certissimus auctor) / pura neque obtunsis per caelum cornibus ibit / totus et ille dies et qui nascentur ab illo / exactum ad mensem pluvia ventisque carebunt. Wenn die Hörner des Mondes am vierten Tag nach Neumond nicht abgedunkelt sind, steht ein Monat ohne Regen und Winde bevor. Seneca d.Ä. misst Fuscus’ Beschreibung nicht daran, inwiefern er die beiden Gedanken, die Vergil ausdrückt, übernimmt oder wie exakt er die Himmelsphänomene beschreibt (vgl. Huelsenbeck [2009]

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3 suas. 3

245: „If Fuscus is imitating Georgics 1.427– 435, it is difficult to see in what particulars he is doing so.“). Denn der Deklamator erklärt das Wetter auf eine andere Weise als Vergil, da er das Gewölk zum entscheidenden Faktor macht (vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle). Seneca d.Ä. vergleicht Fuscus und Vergil auf rein stilistischer Ebene und meint, dass Vergils Beschreibung besser ist. Die größte Nähe zwischen den beiden Beschreibungen liegt in Vers 433 vor, der bei Fuscus seine Entsprechung in den Worten sive plena lucis suae est splendensque pariter assurgit in cornua hat. Andererseits scheint die Formulierung assurgit in cornua auf Arat (800) zurückzugehen (vgl. Huelsenbeck [s.o.]), der den abnehmenden Mond auf folgende Weise beschreibt: [sc. σκέπτεο τὴν σελήνην] ἐς κέρας αὖθις ἰοῦσαν. Eine spätere Imitation liegt bei Lukan (5,546 – 550) vor; vgl. Morford (1967) 34 f. Zum Zusammenhang zwischen den Mondphasen und dem Wetter vgl. auch Plin. nat. 18,347 f. (s. S. 315). Für das Adverb beate („erfolgreich“, „gekonnt“) vgl. contr. 7 praef. 3: locum beate implebat.Wie Bursian (1857) 21 und Kiessling (1872) 26 lesen wir das in den besten Handschriften überlieferte si am Anfang von Vers 432. Müller (1887) 549 und Håkanson (1989) 350 lesen mit den Recentiores sin, das bei Vergil überliefert ist. Diese geringfügige Ungenauigkeit beim Zitieren sollte nämlich nicht allzu sehr ins Gewicht fallen,wenn man berücksichtigt, dass Seneca d.Ä. suas. 2,20 ad adversae statt apud durae (Verg. Aen. 11,288) schreibt (s. den Kommentar zur Stelle). Ferner halten wir Müllers (s.o.) Vervollständigung des Verses 432 durch die bei Vergil überlieferten Worte ortu quarto, namque is certissimus auctor, für nicht gerechtfertigt, da diese Worte nicht Gegenstand des Vergleichs sind. solebat autem Fuscus ex Vergilio multa trahere, ut Maecenati imputaret: Eine Vergilimitation durch Fuscus liegt möglicherweise suas. 2,2 vor (s. den Kommentar zur Stelle): nulli natura in aeternum spiritum dedit statutaque nascentibus in fine vitae dies est; vgl. Berti (2007) 274 Fußn. 3. In der vierten Suasorie zitiert Fuscus aus der Aeneis; vgl. suas. 4,4 f. mit dem Kommentar zur Stelle. Für Maecenas’ Präsenz in den Suasorien vgl. suas. 2,20 mit dem Kommentar zur Stelle. Das Verb imputare bedeutet soviel wie iactari (vgl. ThLL VII 1,729,68 – 730,82). In den Kontroversien kommt das Verb häufiger in diesem Sinne vor (vgl. Edward [1928] 121); vgl. auch suas. 6,20: at ille [sc. Popillius] victoribus id ipsum imputaturus occupat facinus caputque decisum [sc. Ciceronis] […] Antonio portat. totiens enim pro beneficio narrabat in aliqua se Vergiliana descriptione placuisse, sicut in hac ipsa suasoria dixit: Für die im Folgenden referierte Vergilimitation s. die Einleitung. Wie Fuscus bzw. Seneca d.Ä. selbst angibt, handelt es sich bei den folgenden Sätzen um eine „Vergilische Beschreibung“ (Vergiliana descriptio). Daher und aus den anderen dort genannten Gründen ist

3.2 Kommentar

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davon auszugehen, dass Fuscus eine Beschreibung Vergils, nämlich diejenige der von dem Weissagungsgott besessenen Sibylle, imitiert, indem er Kalchas als von dem Weissagungsgott besessen bezeichnet. Zu placuisse ist das Dativobjekt Maecenati aus dem vorigen Satz hinzuzudenken. Aus Maecenas’ Tod ist das Jahr 8 v.Chr. als Terminus ante quem für Fuscus’ Deklamation zu schließen. cur iste in eius ministerium placuit? cur hoc os deus elegit?: Argumentativ gesehen gehören diese Äußerungen zu dem letzten Argument des Deklamators, das in der divisio (§ 3) genannt ist: deorum voluntatem ab hominibus non intellegi. Ähnlich wie bei Pompeius Silo in § 4 richtet sich dieser Teil der Argumentation speziell gegen Kalchas. Für den Gedanken, dass der Mensch als Hülse für den weissagenden Gott dient, vgl. contr. 1 praef. 9: quid enim est oraculum? nempe voluntas divina hominis ore enuntiata. Die erste Frage ist textkritisch höchst umstritten (vgl. Müllers [1887] 549 Apparat). Bursian (1857) 21 und Kiessling (1872) 26 lesen das überlieferte cur iste inter eius ministerium placuit? Schott liest cur ista in eius ministerium placuit?; Schulting cur triste inter nos eius ministerium placuit? Bursian (1869) 5 schlägt unter Verweis auf Verg. Aen. 6,223 und 7,619 vor, cur iste in triste ministerium placuit? oder cur iste in foedius ministerium placuit? zu lesen. Gertz (1879) 152 meint, dass cur iste vates et eius ministerium placuit? gelesen werden muss. Thomas (1880) 21 zieht vor, cur iste in interius ministerium placuit? zu lesen. Madvig schlägt vor, cur iste interpres et eius ministerium placuit? zu lesen. Linde zufolge muss cur iste inter eiusmodi ministerium placuit? gelesen werden. Müller (s.o.) und Winterbottom (1974) II 542 lesen mit Leo cur iste in interpretis ministerium placuit? Håkanson (1989) 351 liest cur iste in Tiresiae ministerium placuit? Wir meinen, dass die Überlieferung nicht gehalten werden kann, da inter […] ministerium keinen Sinn ergibt. Zwar ist ministerium auch i.S.v. „Dienerschaft“ belegt (vgl. OLD s.v. ministerium 5a), aber inter […] ministerium würde bedeuten, dass Kalchas bereits in Apolls Diensten steht, was dem Prozess des Auswählens (placere, eligere) widerspricht (gegen Norden [1893] 507 Fußn. 1). Die einfachste Verbesserung scheint uns aber darin zu liegen, dass man in statt inter liest (ohne eine weitere Änderung) und die Verschreibung auf das vorhergehende iste zurückführt: cur iste in eius [sc. dei] ministerium placuit? Diese Emendation lehnt sich teilweise an diejenige von Schott (s.o.) an, verzichtet aber auf eine Änderung von iste (Schotts Konjektur ista verweist wohl auf Iphigenie). Finales in nach placere ist bei Seneca d.J. belegt (Ag. 100: placet in vulnus maxima cervix) und dürfte daher Fuscus’ Sprachgebrauch (vgl. suas. 2,10 mit dem Kommentar zur Stelle) zuzutrauen sein. Gegen Håkansons Konjektur in Tiresiae spricht, dass man eher die Nennung des Weissagungsgottes, also Apolls, erwarten würde, dessen Dienst Kalchas wahrnimmt. Für ministerium in Verbindung mit dem Genetiv der Person,

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3 suas. 3

in dessen Diensten man steht, vgl. Liv. 45,6,7: principum liberi ad ministerium electi regis; Plin. epist. 10,27: in ministerio eius relinquendos existimavi. cur hoc sortitur potissimum pectus, quod tanto numine impleat?: Diese Frage scheint uns von Madvig, Diels und Müller (1887) 549 textkritisch richtig hergestellt worden zu sein. Denn Madvigs Konjektur pectus ist eine einfache Verbesserung des in den besten Handschriften überlieferten poetis, das hier ebenso wenig wie poesis (D), das Bursian (1857) 21 liest (s. die folgende Anmerkung), einen Sinn ergibt. Gronovius’ (1672) 28 und Kiesslings (1872) 26 Konjekturen Phoebus bzw. Pythius sind schlechter als diejenige von Madvig, da sich hoc in ihrer Textkonstitution auf os zurückbezieht und somit derselbe Gedanke zweimal ausgedrückt wird. Ferner passt das Verb implere, das wohl gelesen werden muss, besser auf pectus als auf os. Die Konjektur impleat anstelle des überlieferten impie stammt von Müller (s.o.), dem Leo vorausging, indem er vorschlug, cur hoc sortitur potissimum pectus quod impleat? zu lesen und den nächsten Satz – wie Kiessling (s.o.) – mit quo tantum non impie aiebat beginnen ließ. Wir übernehmen Müllers Konjektur, da der nächste Satz dafür spricht, dass hier das Verb implere gelesen werden muss (s. die folgende Anmerkung). aiebat se imitatum esse Vergilium: ‘plena deo’: Zum Syntagma plena deo, das uns in Vergils Werk nicht überliefert ist, s. die Einleitung. Die Imitation besteht in der Umformung von plena deo zu numine implere, wobei in beiden Fällen eine weissagende Person charakterisiert wird (bei Vergil: die Sibylle; bei Fuscus: Kalchas). Aus der Tatsache, dass die Junktur plena deo auf Vergil zurückgeführt wird, ist zu schließen, dass sie eine Neuerung dargestellt hat. Fraglich ist allerdings, worin genau die Neuerung besteht. Aufgrund der Eklogenstelle Iovis omnia plena (ecl. 3,60) lässt sich vermuten, dass die Innovation darin liegt, dass in plena deo erstmals eine von einem Gott besessene Person mit dem Adjektiv plenus bezeichnet wird. Hiergegen spricht allerdings Hor. carm. 3,25,1 f.: Quo me, Bacche, rapis tui / plenum? Wenn man keine Abhängigkeit von einer teilweise aus Rezitationen bekannten Aeneis annimmt, spricht diese Horazstelle dafür, dass Vergil in plena deo keine neue Vorstellung ausgedrückt, sondern eine neue Junktur formuliert hat. Eventuell stellt lediglich die Valenz von plenus, d. h. die Tatsache, dass die Gottheit, von der die betreffende Person erfüllt ist, im Ablativ angegeben wird, die entscheidende Neuerung dar. Die Konstruktion mit dem Ablativ liegt auch bei den Vergilimitatoren Lukan (9,564),Valerius Flaccus (1,230), Statius (Theb. 10,624) und Silius Italicus (3,673) vor. Ovid hingegen benutzt plenus in diesem Sinne sowohl mit dem Ablativ als auch mit dem Genetiv (vgl. § 7 mit dem Kommentar zur Stelle). Möglicherweise hat Vergil mit der Formulierung plena deo und dem Bezug auf eine Person erstmalig das griechische ἔνθεος wiedergegeben. Das griechische

3.2 Kommentar

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Adjektiv kann auf unterschiedliche Weise konstruiert werden. Bei Sophokles (Ant. 963 f.) liegt ein absoluter Gebrauch vor (dort werden Bacchantinnen als ἔνθεοι γυναῖκες bezeichnet); vgl. auch Plat. Ion 533e4 über inspirierte Dichter. Aischylos erweitert das Wort mit dem Dativ (Sept. 497): ἔνθεος Ἄρει; Euripides mit ἐκ (Hipp. 141): ἐκ Πανός. Das Lehnwort entheus ist zuerst bei Seneca d.J. belegt, der es u. a. in seiner Medea (382) benutzt; vgl. ferner Ag. 588; Oed. 628; Tro. 674. Die Stelle in der Medea-Tragödie (382 f.) erhärtet den Verdacht, dass plena deo eine Übersetzung von ἔνθεος ist, da der in dieser Junktur ausgedrückte Gedanke mit den Worten recepto […] deo umschrieben wird: incerta qualis entheos gressus tulit / cum iam recepto maenas insanit deo […]. Die griechische Junktur πλήρης θεοῦ scheint hingegen erst spät belegt zu sein, nämlich beim Grammatiker Pollux (1,15). Die Vorstellung, dass eine Sibylle vom Weissagungsgott besessen ist, geht bis auf Heraklit zurück (vgl. fr. 92 Diels / Kranz: Σίβυλλα […] μαινομένῳ στόματι […] ἀγέλαστα καὶ ἀκαλλώπιστα καὶ ἀμύριστα φθεγγομένη χιλίων ἐτῶν ἐξικνεῖται τῇ φωνῇ διὰ τὸν θεόν). Fuscus’ Aussage, dass er Vergil imitiert hat, entstammt wohl einer Diskussion im Anschluss an die Deklamation. Zu Diskussionen in Rhetorikschulen vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 26 übernehmen Gronovius’ (1672) 28 Konjektur Vergilianum anstelle des überlieferten Vergilium. Bursian (1857) 21 hält als einziger Herausgeber die Überlieferung, indem er folgenden, für uns unverständlichen Text liest: ‘cur hoc sortitur potissimum poesis’ – quo tantum non impie aiebat se imitatum esse Vergilium – ‘plena deo’? Auch wir meinen, dass Vergilium gehalten werden kann, aber aufgrund eines anderen Textverständnisses, indem man nämlich einen Doppelpunkt vor dem Zitat setzt. 6 Solet autem Gallio noster hoc aptissime ponere: Mit hoc ist die Verwendung der Junktur plena deo gemeint, die Gallio von Vergil übernimmt. Ob Fuscus’ Vergilimitation Gallio zu der Übernahme des Vergilischen Syntagmas angeregt hat oder ob Gallio es unabhängig von Fuscus aus Vergil übernommen hat, lässt sich nicht sicher angeben (Migliario [2007] 92 geht von einer Vermittlung durch Fuscus aus). Das Verb ponere bedeutet hier „verwenden“ i.S.v. „zitieren“ (vgl. OLD s.v. pono 18); vgl. Cic. de orat. 2,271: multa rettulit, ex quibus a me exempli causa complura ponuntur; suas. 4,5. Das Possessivpronomen noster verweist auf die Freundschaft zwischen Gallio und der Familie des älteren Seneca (vgl. Bornecque [1902b] 173). Auf ähnliche Weise wird auch Ovid in § 7 als suus, d. h. als Gallios Freund, bezeichnet. Gertz’ Konjektur solebat (vgl. Müller [1887] 549) anstelle von solet übernehmen wir ebenso wenig wie die übrigen Herausgeber. Fraglich ist allerdings,wie das Präsens aufzufassen ist. Es wäre möglich, dass sich Seneca d.Ä. zum Zeitpunkt der Abfassung des Werkes auf die Gegenwart bezieht. Dann müsste Gallio das Syntagma plena deo zumindest seit 8 n.Chr. (s. die folgende Anmer-

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kung), also zumindest seit 30 Jahren, zitieren. Die Lebensdaten des Deklamators lassen diese Möglichkeit zu, denn Gallio hat wahrscheinlich sogar länger als Seneca d.Ä. gelebt, da er dessen Sohn Novatus adoptiert hat (vgl. Bornecque [s.o.] 174; Echavarren [2007] 167 f.). Möglicherweise ist das Präsens aber nur der Tatsache geschuldet, dass Gallio – anders als Fuscus, über den es in § 5 solebat […] trahere heißt – zum Zeitpunkt der Abfassung des Werkes noch lebt (zu Fuscus’ Biographie vgl. Echavarren [2007] 66 – 68). memini una nos ab auditione Nicetis ad Messalam venisse: Messala zeigt sich hier wie auch an anderen Stellen am Deklamationsbetrieb interessiert. Für seine Präsenz im Werk des älteren Seneca vgl. suas. 2,17 mit dem Kommentar zur Stelle. Echavarrens (2007) 195 Angabe, dass Niketes im Hause Messalas deklamiert hat, trifft nicht zu. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass Niketes’ Deklamation in einer Rhetorikschule und die sich daran anschließende Diskussion im Haus von Messala stattgefunden hat. Aus Messalas Tod ergibt sich das Jahr 8 n.Chr. als Terminus ante quem für die Deklamation und die Diskussion; vgl. Migliario (2007) 92 Fußn. 36. Zu Diskussionen in Rhetorikschulen vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle. Niketes ist ein griechischer Deklamator, der auf Griechisch deklamiert (vgl. suas. 2,14 und die bei Echavarren [s.o.] verzeichneten Stellen). Nicetes suo impetu valde Graecis placuerat: Die Information, dass ein leidenschaftlicher Vortrag den Griechen gefällt, findet sich nur hier im Werk des älteren Seneca. Wenn Seneca d.Ä. an anderen Stellen Griechen nennt, begegnen v. a. zwei Urteile: Zum einen werden deren sententiae leves den römischen sententiae fortes gegenübergestellt (vgl. z. B. contr. 1,6,12; 1,8,15; 2,6,12); zum anderen wird deren Überheblichkeit kritisiert (vgl. z. B. contr. 1 praef. 6; 1,2,22). Im Folgenden wird Niketes’ Deklamation als übertrieben leidenschaftlich verspottet. quaerebat a Gallione Messala, quid illi visus esset Nicetes; Gallio ait: ‘plena deo’: Gallio bezeichnet Niketes’ leidenschaftliches Auftreten mit den Worten plena deo, um zum Ausdruck zu bringen, dass dieser deklamiert hat, als wäre er von einem Gott besessen. Messala scheint – anders als Tiberius in § 7 – Gallios Verwendung von plena deo sofort verstanden zu haben, da Seneca d.Ä. nicht davon berichtet, dass Gallio diese Worte erklären musste. In Gallios Verwendungsweise ist das Syntagma plena deo wohl nicht auf ein weibliches Substantiv wie declamatio oder actio, sondern auf Niketes selbst zu beziehen, da es auch im Folgenden auf Deklamatoren bezogen wird. Bei Vergil und Fuscus wurde durch die Junktur plena deo eine weissagende Person charakterisiert (bei Vergil: die Sibylle; bei Fuscus: Kalchas). Der betroffene Deklamator wird die Bezeichnung als plena deo als Erniedrigung empfunden haben. Dies wird auch daran deutlich, dass die

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Genusinkongruenz ein Merkmal der Invektive ist; vgl. das homerische Ἀχαιίδες οὐκέτʼ Ἀχαιοί (Il. 2,235; 7,96); Verg. Aen. 9,617: o vere Phrygiae, neque enim Phryges; vgl. den Index bei Koster (1980) 365 s.v. „Frauenvergleich“. quotiens audierat aliquem ex his declamatoribus, quos scholastici caldos vocant, statim dicebat: ‘plena deo’: Die Junktur plena deo gewinnt – wie sich zuvor abzeichnete – die Bedeutung von caldus und bezeichnet hitzige Deklamatoren. Das Adjektiv cal(i)dus (für die unterschiedliche Schreibung von caldus mit und ohne -i- vgl. Quint. inst. 1,6,19) ist sonst nicht mit Bezug auf Deklamatoren oder allgemeiner auf Redende belegt, ist aber, wie Håkanson ad loc. bemerkt, i.S.v. ardore dicendi concitatus (vgl. ThLL III 153,70 f.) leicht verständlich. Mit Bezug auf ein Pferd ist es bei Vergil (georg. 3,119) und mit Bezug auf die Jugend bei Horaz (carm. 3,14,27) überliefert. Daher ist unverständlich, warum Håkanson (1989) 351 erwägt, validos zu lesen. Bei scholastici (B2) handelt es sich um eine notwendige Korrektur der in den besten Handschriften überlieferten Form scholasti. Das Substantiv scholasticus, das jede mit der Schule verbundene Person bezeichnen kann, begegnet häufiger im Werk des älteren Seneca (vgl. z. B. contr. 1,6,10). ipse Messala numquam aliter illum ab ignoti hominis auditione venientem interrogabat, quam ut diceret: ‘numquid plena deo?’: Anstelle des überlieferten agnovit, das aus syntaktischen Gründen nicht haltbar ist, lesen die Herausgeber entweder mit Bursian (1857) 21 ab novi oder mit Haase ab ignoti (vgl. Müller [1887] 550). Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Konjekturen fällt schwer. Wir tendieren zu ab ignoti, da die Junktur homo novus Implikationen hat, die hier nicht gemeint sind. Håkansons (1989) 351 Überlegung, a novicii zu lesen, ist aus paläographischen Gründen weniger überzeugend. Da das überlieferte Präsens interrogat aufgrund des Imperfekts diceret nicht gehalten werden kann, ist zwischen Kiesslings (1872) 27 Konjektur interrogavit und interrogabat zu entscheiden. Der iterative Aspekt spricht für das Imperfekt. itaque hoc ipsi iam tam familiare erat, ut invito quoque excideret: Hoc bezeichnet hier zwar auch noch wie am Anfang des Paragraphen die Verwendung der Junktur plena deo, jetzt aber in der speziellen Form der genusindifferenten Verwendung mit Bezug auf Deklamatoren. 7 apud Caesarem cum mentio esset de ingenio Hateri, consuetudine prolapsus dixit: ‘et ille erat plena deo’: Mit Caesar ist Tiberius gemeint, wie weiter unten deutlich wird. Die Angabe apud Caesarem zeigt, dass die Diskussion über Haterius in Tiberius’ Residenz stattgefunden hat (gegen Winterbottom [1974] II 543, dessen Übersetzung „when the emperor was present“ eine Diskussion in einer

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3 suas. 3

Rhetorikschule nahe legt; apud bezeichnet aber immer den Hauptadressaten; vgl. OLD s.v. apud 4 und 8). Zugleich weist der Verbalausdruck mentio est darauf hin, dass dieses Thema nur beiläufig besprochen wurde. Migliario (2007) 92 Fußn. 37 überlegt, ob Haterius’ Tod 24 oder 26 n.Chr. als Terminus post quem für das Gespräch gelten darf (Echavarren [2007] 146 gibt 26 n.Chr. als Haterius’ Todesjahr an). Diese Überlegung ist zurückzuweisen, da über die Leistungen der Deklamatoren noch zu deren Lebzeiten, ja häufig im Anschluss an die Deklamation diskutiert wurde, wie u. a. das Gespräch bei Messala (vgl. § 6) zeigt. Zudem ist nirgends gesagt, dass Haterius’ Tod das Hauptthema der Diskussion war. Contr. 2,4,12 wird geschildert, dass Augustus bei einer Deklamation in einer Rhetorikschule anwesend ist. Zu Diskussionen in Rhetorikschulen vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle. Für die Formulierung mentio est vgl. contr. exc. 3,8 und Liv. 3,23,7: nulla apud vetustiores scriptores eius rei mentio est. quaerenti deinde, quid hoc esse vellet, versum Vergilii retulit et quomodo hoc semel sibi apud Messalam excidisset et numquam 〈non〉 postea potuisset excidere: Für die Angabe, dass Gallio den (einen) entsprechenden Vergilvers vor Tiberius vorgetragen hat, s. die Einleitung. Bei non handelt es sich um eine Ergänzung von Schulting (vgl. Müller [1887] 550), die alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Bursian (1857) 21 übernehmen. Gertz (1888) 297 stellt die Negation vor potuisset, da es seiner Meinung nach sonst soleret excidere heißen müsste. Wir schließen uns der Mehrheit der Herausgeber an, da der Satz ohne die Negation keinen Sinn ergibt. Gertz’ Argument für die Umstellung der Negation erscheint uns nicht plausibel. Schotts Konjektur sibi (vgl. Müller [s.o.]) anstelle von esse ist wohl aus der Überlegung entstanden, dass „bedeuten“ durch bloßes velle oder velle sibi ausgedrückt wird (vgl. OLD s.v. volo1 17). Aber da der Fragesatz quid hoc esse vellet verständlich ist, bewahren wir wie alle modernen Herausgeber die Überlieferung. Zu retulit vgl. retulissent suas. 6,17 mit dem Kommentar zur Stelle. Tiberius, ipse Theodoreus, offendebatur Nicetis ingenio; itaque delectatus est fabula Gallionis: Tiberius hat die Tatsache erheitert, dass sich Gallio bei Messala über Niketes lustig gemacht hatte,weil er Anstoß an Niketes’ Talent nahm. Die Angabe, dass Tiberius ein Anhänger der Schule des Theodorus war, kann hier nicht (zusätzlich) begründen, warum er über Niketes’ Charakterisierung als plena deo durch Gallio erfreut war. Denn der Hauptunterschied zwischen den Apollodoreern und den Theodoreern lag in der unterschiedlichen Antwort auf die Frage, ob eine Rede immer aus den vier Teilen prooemium, narratio, argumentatio und peroratio bestehen muss oder ob sie bisweilen auf einen oder mehrere dieser Teile verzichten kann. Während die Apollodoreer recht dogmatisch behaupteten, dass eine Rede immer alle diese vier Teile aufweisen muss, vertraten die Theodoreer

3.2 Kommentar

335

den Standpunkt, dass in einer Rede nur die argumentatio immer vorhanden sein muss (vgl. contr. 2,1,36; Schanz [1890] 45). Eine Positionierung bezüglich des Gegensatzes Attizismus – Asianismus liegt nur insofern vor, als wohl angenommen werden kann, dass die Apollodoreer Attizisten waren (vgl. Forte [1973] 83 f.). Daher wäre eher das Gegenteil zu erwarten, nämlich dass Tiberius Niketes in Schutz nimmt, wenn die Angabe Tiberius, ipse Theodoreus hier „Tiberius, weil er selbst ein Theodoreer war“ bedeuten und auf den Stil verweisen würde. Vielmehr muss ein konzessiver Sinn vorliegen: „Tiberius, obwohl er selbst auch ein Theodoreer war“. Daraus ist zu schließen, dass Niketes ein Anhänger derselben Rhetorikschule war (so auch Edward [1928] 122 f.; gegen Bornecque [1902b] 182, Berti [2007] 286 Fußn. 1, Migliario [2007] 23 Fußn. 64 und Echavarren [2007] 195, die Niketes für einen Apollodoreer halten). Dass Tiberius Schüler des Theodorus war, bezeugen auch Quintilian (inst. 3,1,17) und Sueton (Tib. 57,1). Griffin (1972) 4 ist der Meinung, dass Tiberius’ Tod 37 n.Chr. als Terminus post quem für die Abfassung des Werkes und für den Tod des älteren Seneca gelten darf, da hier in der Vergangenheit über den Kaiser gesprochen wird. Die Vergangenheitstempora müssen jedoch stehen, da das Ereignis, das geschildert wird, in der Vergangenheit stattgefunden hat. Ferner ist die Angabe über Tiberius kein Urteil, das nur nach dessen Tod formuliert werden kann. hoc autem dicebat Gallio Nasoni suo valde placuisse; itaque fecisse illum, quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non subripiendi causa sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci: Ein Explikativsatz zu fecisse illum, quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat fehlt, ist aber aus dem Kontext leicht zu ergänzen (Ovid hat das Vergilische plena deo wörtlich übernommen). Die Aussage, dass Ovid Gefallen an dem Syntagma plena deo gefunden hat, trifft Gallio wohl noch während der Diskussion bei Tiberius. Ob Ovid durch Gallios häufige Verwendung von plena deo mit Bezug auf Deklamatoren angeregt wurde, lässt sich nicht sicher sagen (Migliario [2007] 92 f. nimmt einen solchen Einfluss an). Diese Stelle bildet den Ausgangspunkt für Döpps (1968) Untersuchung des Vergilischen Einflusses auf Ovid. Gallio unterscheidet zwei Formen der Imitation, die durch die unterschiedliche Intention des Imitators gekennzeichnet sind: Bei der ersten Form bezweckt der Imitator, dass die Vorlage nicht erkannt wird. Hierbei handelt es sich um eine unzulässige Imitation, die dem entspricht, was wir als Plagiat bezeichnen (für subripere als Terminus technicus zur Bezeichnung des Plagiats vgl. suas. 2,19; contr. 9,1,13; Cic. Brut. 76 [s.u.]). Die zweite, zulässige Form der Imitation unterscheidet sich dadurch, dass der Imitator den Wiedererkennungseffekt sucht (für mutuari zur Bezeichnung der legitimen Imitation vgl. contr. 2,2,8). Dieses zweiteilige Imitations-Konzept findet sich schon in Ciceros Brutus; vgl. Brut. 76 (über Ennius): nec vero tibi aliter videri debet, qui a Naevio vel sumpsisti multa, si fateris,

336

3 suas. 3

vel, si negas, surripuisti. Vor diesem Hintergrund ist auch contr. 2,2,8 zu lesen, wo geschildert wird, dass Ovid Sentenzen seines Lehrers Latro in seine Dichtung übernommen hat. Da es kein sicheres Kriterium dafür gibt, ob ein Autor den gewünschten Wiedererkennungseffekt sucht oder nicht, scheint die Unterscheidung zwischen den beiden Formen der Imitation äußerst subjektiv zu sein, und es entsteht der Eindruck, dass Gallio und Seneca d.Ä. die hier vorliegende Imitation aufgrund der Autorität des Dichters Ovid als zulässig ansehen. Eine andere theoretische Betrachtung der Imitation liegt contr. 9,1,13 vor, wo die unterschiedliche Qualität der Imitation das ausschlaggebende Kriterium ist, d. h. das Prinzip der aemulatio die entscheidende Rolle spielt. Zur Imitation im Werk des älteren Seneca vgl. Berti (2007) 251– 254, der diese beiden Konzepte nicht deutlich genug voneinander trennt. Mit hoc ist die Vergilische Junktur plena deo gemeint. Das Possessivpronomen suus bedeutet hier „sein Freund“ wie noster in § 6 „unser Freund“ (Döpp [1992] 72 geht irrtümlicherweise von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Gallio und Ovid aus). Zur Freundschaft zwischen Gallio und Ovid vgl. Ov. Pont. 4,11; Bornecque (1902b) 173 f.; Echavarren (2007) 168. esse autem in tragoedia eius: Bei diesem Vers handelt es sich wahrscheinlich um ein Fragment aus der Medea, von der nur noch ein weiterer Vers bei Quintilian überliefert ist (inst. 8,5,6): servare potui: perdere an possim rogas? (ein drittes Fragment sieht Faider [1922] an einer Stelle aus Senecas De ira [1,1,4]: magnasque ira minas agens). Ovid selbst nennt nirgends den Titel seiner Tragödie, sondern spricht lediglich – wie hier – von seiner Tragödie (tragoedia nostra; am. 2,18,13) oder umschreibt die Gattung (trist. 2,553: et dedimus tragicis scriptum regale coturnis). Explizit wird der Titel der Tragödie nur von Quintilian (inst. 10,1,98) und Tacitus (dial. 12,6) genannt; vgl. Heinze (1997) 245. Die Fragmente aus Ovids Medea finden sich in den Ausgaben von Ribbeck (1897) 267; Owen (1915) und Lenz (1956) 52– 55. Literatur zu den Fragmenten und/oder zur Tragödie: Berti (2007) 282– 290; Comparelli (2003); Balbo (2001); Heinze (1997) 223 – 252; Scarcia (1996); Döpp (1992) 71– 74; Arcellaschi (1990) 247– 267; Nikolaidis (1985); Heldmann (1974) 164– 177; Liebermann (1974) 203 – 207; Borthwick (1972); della Corte (1971); Fränkel (1945) 46 f.; Leo (1878) 166 – 170; weitere, ältere Literatur ist in Lenz’ Ausgabe (1956) 54 f. angegeben. feror huc illuc, vae, plena deo: Die Mehrheit der Forscher geht davon aus, dass Medea diesen anapästischen Dimeter in einem Monolog spricht – vielleicht, nachdem sie aus Korinth verwiesen wurde (am deutlichsten äußert diese Meinung Heinze [1997] 247; vgl. auch Berti [2007] 287 Fußn. 2; Arcellaschi [1990] 257; Leo [1878] 167). Als unwahrscheinlich darf hingegen Ribbecks (1875) Meinung gelten, dass dieser Vers von der sterbenden Glauke gesprochen wird. In jedem Fall ist

3.2 Kommentar

337

davon auszugehen, dass plena deo – anders als bei Gallio – im Genus mit der Bezugsperson kongruiert. Sofern Medea den Vers spricht, hat Seneca d.J. Ovid hierin nachgeahmt (Med. 123 f.): incerta vecors mente vesana feror / partes in omnes. Der Gott, von dem die tragische Person besessen ist, ist wahrscheinlich Dionysos, d. h. sie wird als Maenade dargestellt. Insofern sind Sen. Med. 382– 386 und 806 zu vergleichen, wo sich Medea als maenas bezeichnet, v. a. aber die anschließende Chorpartie (849 – 878), in der Medea mit einer maenas (849) und ihr Hin- und Herschreiten mit dem einer Tigerin verglichen wird (862– 865): huc fert pedes et illuc, / ut tigris orba natis / cursu furente lustrat / Gangeticum nemus; vgl. Heinze (1997) 248. Eine Abhängigkeit Senecas d.J. von Ovid ist damit zwar noch nicht bewiesen, da Seneca d.J. häufiger eine Protagonistin als Maenade darstellt (Tro. 672– 677; Agam. 719; Herc.O 241– 245) und das Motiv alt ist (vgl. Hom. Il. 22,460;Verg. Aen. 4,300 – 303); vgl. Jakobi (1988) 46. Aber sie ist wahrscheinlich. In den Fasten (6,538) benutzt Ovid die Verbindung von plenus mit dem Genetiv zur Bezeichnung einer inspirierten Person (der Prophetin Carmenta): fit […] sui toto pectore plena dei. Iam vultis ad Fuscum revertar et descriptionibus eius vos satiem?: Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 27 übernehmen Schultings Ergänzung si vor vultis (vgl. Müller [1887] 550). Gertz (1888) 297 ergänzt dort ut. Müller (s.o.) erwägt, das durch Schulting hergestellte si vultis als sultis zu lesen. Wir halten wie Bursian (1857) 22 eine Supplierung für unnötig und fassen revertar als bloßen Konjunktiv nach velle auf. Ebenso übernehmen wir dessen Konjektur satiem anstelle des überlieferten satium (AB) und trennen diesen Satz vom nächsten ab. satiabo ac potissimum eis, quas in simili huius tractatione posuit, cum diceret omnino non concessam futurorum scientiam: Concessam sc. generi humano. Seneca d.Ä. kündigt für den Beginn des Referates der vierten Suasorie an, dass er Fuscus’ Beschreibungen wiedergeben wird, mit deren Hilfe dieser dargelegt hat, dass die Menschen über kein Zukunftswissen verfügen. Und in der Tat folgt am Anfang der vierten Suasorie ein locus communis, den Seneca d.Ä. in § 4 dieser Suasorie mit den Worten [sc. locus communis] in omnes, qui hanc adfectarent scientiam umschrieben hat. Damit bleibt er seinem Vorhaben treu, das er suas. 2,10 angekündigt hat, und zwar vornehmlich Fuscus’ Beschreibungen wiederzugeben. Mit [sc. descriptiones] quas in simili huius tractatione posuit ist gemeint, dass Fuscus eine Beschreibung zu demselben argumentativen Zweck verwendet, nämlich um zu zeigen, dass wir kein Wissen um die Zukunft besitzen. Der Begriff tractatio verweist auf die Argumentation. Er kommt zwar in den Suasorien nur an dieser Stelle vor, aber das Verb tractare findet sich häufiger in dieser Funktion (vgl. suas. 1,10; 2,16; 5,4). Das überlieferte similitudinis ist mehr-

338

3 suas. 3

fach verbessert worden (s. den Apparat). Wie Winterbottom (1974) II 544 und Håkanson (1989) 352 übernehmen wir Vahlens (1858) 548 Konjektur simili huius, da sie paläographisch am überzeugendsten ist und den geforderten Sinn herstellt.

4 suas. 4 4.1 Einleitung Die historische Situation Wie auch der ersten Suasorie unterliegt der vierten Suasorie ein Thema, das mit Alexander dem Großen verknüpft ist. Es wird diejenige historische Situation aus dem Jahr 323 v.Chr. zugrunde gelegt, in der Alexander mit seinem Heer nach einer Expedition auf dem Indus nach Babylon zurückkehrt. Damals warnten Chaldäische Weissager ihn davor, die Stadt zu betreten, da sie seinen Tod vorhersahen. Diodor zufolge hatten die Chaldäischen Weissager damals Angst, mit Alexander selbst zu sprechen, und wandten sich deshalb an seinen Freund Nearchos, der dem König die Warnung übermittelte. Alexander habe daraufhin den Einzug in die Stadt vermieden und in einem Abstand von 200 Stadien sein Lager aufgeschlagen. Nachdem aber Philosophen aus Alexanders Gefolge die Wahrsagekunst der Chaldäer zurückgewiesen und den König umgestimmt hatten, zog dieser mit seinem Heer in Babylon ein.⁵⁹ Etwas abweichend hiervon berichtet Arrian,⁶⁰ dass die Chaldäer Alexander, der nicht willens war, von seinem Kurs abzuweichen, gebeten haben, wenigstens vom Westen her in die Stadt einzuziehen. Diesen Rat wollte Alexander befolgen, aber der Einzug vom Westen her stellte sich aufgrund des Geländes als unmöglich heraus, so dass Alexander diesen Plan letztlich fallen ließ. Zudem vermutete er, dass die Chaldäer seinen Einzug verhindern wollten, damit er nicht die geplante Wiedererrichtung des Tempels des Gottes Bel durchführt und ihnen die Gelder zu dessen Instandhaltung entzieht. In Babylon starb Alexander noch in demselben Jahr.

Der Aufbau der Suasorie In dieser Suasorie wird mit Ausnahme jeweils eines Satzes eines Schülers des Fuscus und des Deklamators Hybreas (§ 5) ausschließlich das wiedergegeben, was Fuscus bei der Deklamation dieser Suasorie (und einer in § 4 genannten Kontroversie) gesagt hat. Auch wenn Fuscus in der Suasoriensammlung des älteren Seneca eine exponierte Stellung einnimmt, ist diese fast ausschließliche Be-

59 Diod. 17,112,2– 5. 60 Arr. an. 7,16,5 – 17,6; vgl. auch Plut. Alexander 73,1. Bei Curtius Rufus wird die Episode nicht erwähnt; vgl. Migliario (2007) 72 Fußn. 91.

340

4 suas. 4

schränkung auf die Aussagen eines Deklamators exzeptionell. Den Grund hierfür nennt Seneca d.Ä. in der zweiten (suas. 2,10) und v. a. am Ende der dritten Suasorie: Er möchte seinen Söhnen von den Beschreibungen berichten, die Fuscus in einem Locus communis über das angebliche Zukunftswissen von Sehern (vgl. suas. 3,7 mit dem Kommentar zur Stelle) verwendet hat. Diese Beschreibungen bilden den Anfang dieser Suasorie (§§ 1– 3). Die divisio (§ 4a) fällt äußerst knapp aus, ja wird im Grunde genommen ersetzt durch eine Anekdote, in der die Verwendung eines Vergilzitates durch Fuscus und einen seiner Schüler referiert wird (§§ 4b-5).

4.2 Kommentar Thema Deliberat Alexander Magnus, an Babyloniam intret, cum denuntiatum esset illi responso auguris periculum: Das Substantiv augur wird hier in seiner allgemeineren Bedeutung „Weissager“ verwendet (vgl. ThLL II 1366,64– 1367,72). Die historischen Quellen geben keinen eindeutigen Aufschluss über die spezielle Art der Chaldäischen Weissagung (s. Einleitung). Nach Diodor (17,112,2) waren es Sterndeuter, die Alexander vor dem Einmarsch in Babylon warnten, während Arrian (an. 7,16,5) berichtet, dass die Chaldäer die Weissagung vom Gott Bel erhielten, ohne genauere Angaben zu machen. Der Deklamator Fuscus versteht unter augur, wie v. a. aus § 2 deutlich wird, einen Sterndeuter. Als Ungenauigkeit ist hingegen die Verwendung des Singulars auguris im Thema anzusehen, denn sowohl Diodor als auch Arrian zufolge wurde Alexander durch mehrere Chaldäische Weissager gewarnt (s. Einleitung). Als Einzelperson könnte allenfalls Belephantes gemeint sein, der nach Diodor (17,112,3) der Anführer der Chaldäer war. Für diese Ungenauigkeit vgl. das Thema der zweiten Suasorie mit dem Kommentar zur Stelle. Für den überdeutlichen Ausdruck der Vergangenheit (denuntiatum esset statt sit) vgl. das Thema der zweiten (fugissent statt fugerint) und siebenten (fecisset statt faceret) Suasorie. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 28 lesen Babylona anstelle des überlieferten Babylonia (AB) bzw. Babyloniam (B2V). Da Babylonia sowohl die Stadt als auch das Land Babylon bezeichnen kann (vgl. OLD s.v. Babylonia 1 und 2), lesen wir wie Bursian (1857) 22 dieses Substantiv. Babylonia sollte auch in § 3 gelesen werden (textkritisch umstritten).

4.2 Kommentar

341

Erster Teil (1 – 3) 1 ARELLI FVSCI: Ähnlich wie suas. 3,1 leugnet Fuscus die seherischen Fähigkeiten derjenigen Person, die im Thema genannt ist. Hier liegt eine Kritik an den Sehern generell vor (also eine Argumentation auf der Ebene der These; s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 63 – 67, v. a. 66), die sich allerdings auch auf denjenigen Weissager beziehen lässt, der Alexander vor dem Betreten Babylons warnt. Bieler (1935) 87 meint, dass Fuscus „dem Idealbild eines gottbegeisterten Sehers das übliche Treiben der schwindelhaften […] ‘Propheten’“ entgegenstellt. Doch dies ist wohl nicht der Fall, denn ein positives Bild von einem oder mehreren Propheten wird an keiner Stelle gezeichnet. Wie am Ende von § 3 deutlich wird, spricht der Deklamator in der Rolle eines Ratgebers des Alexander (gegen Bieler [s.o.], dem zufolge Alexander selbst versucht, die Bedenken zu zerstreuen, Babylon zu betreten). Eine Parallele hat Fuscus’ Suasorie zum einen in den Reden, die Diodor zufolge die Philosophen gehalten haben, um Alexanders Bedenken gegen einen Einzug nach Babylon zu zerstreuen (s. Einleitung). Zum anderen ist die Kritik speziell der Chaldäischen Weissagung Cic. div. 2,87– 99 zu vergleichen (vgl. Migliario [2007] 75 f.). Zu Fuscus’ Exzerpt vgl. Huelsenbeck (2009) 262– 291. Quis est, qui futurorum scientiam sibi vindicet?: Mit einer indignierten Frage beginnt die Beschreibung der Abstammung und Tätigkeiten des Sehers. Auf ähnliche Weise wird durch die Frage futura nuntiant? am Beginn von § 3 ein Abschnitt eingeleitet, in dem ebendiese Fähigkeit abgestritten wird. Im Folgenden werden Anforderungen aufgezählt, die ein wahrer Seher erfüllen muss. novae oportet sortis is sit, qui iubente deo canat, non eodem contentus utero, quo imprudentes nascimur: Die Polemik gegen den Augur schlägt sich auch sprachlich nieder. Für den Genetivus qualitatis novae sortis („von ungewöhnlicher Art“) vgl. Sen. epist. 117,8: concedo ista alia esse, sed non sortis alterius. In imprudentes schwingt vielleicht noch, wie Edward (1928) 124 behauptet, Bieler (1935) 88 Fußn. 6 jedoch bestreitet, die ursprüngliche Bedeutung mit (in-providentes). Für canere mit Bezug auf eine Prophezeiung vgl. ThLL III 271,12– 272,63; für den absoluten Gebrauch vgl. Cic. div. 1,115. Durch die Worte non eodem contentus utero drückt der Deklamator aus, dass der Augur keine menschliche Mutter hat. Möglicherweise denkt Fuscus dabei an Teiresias, den Sohn der Nymphe Chariklo (vgl. Apollod. bibl. 3,6,7; Nonn. Dionys. 7,159; 44,82; RE III 2 s.v. Chariklo 2, Sp. 2141). Zugleich wird bildlich die Lage des Fötus in der Gebärmutter beschrieben, von der er umschlossen ist, d. h. die eigentliche Bedeutung von continere ist hier präsent (vgl. Edward [s.o.]); vgl. Cic. div. 1,39: Dionysi mater […] cum praegnans hunc ipsum Dionysium alvo contineret […].Warum Håkanson ad loc.

342

4 suas. 4

überlegt, contentus mit Schulting als retentus aufzufassen, ist uns unverständlich. Das Pronomen is, das V nicht überliefert, hat Novák (1915) 285 als Dittographie verworfen. Jedoch bereitet es keine Schwierigkeiten und sollte daher beibehalten werden; für is […] qui in verallgemeinender Funktion vgl. contr. 7,4,4: is fructus percipiet, qui praesens est; für die Verwendung von is und ille im Werk des älteren Seneca allgemein vgl. Pinkster (2005). quandam imaginem dei praeferat, qui iussa exhibeat dei: Mit quandam imaginem dei praeferat ist wohl gemeint, dass der Weissager ein gottähnliches Aussehen haben soll; vgl. Winterbottom (1974) II 545: „there must be some overt sign of divinity in a man […]“. Der Gott ist wohl der Gott der Weissagung, also Apoll. Für imago im Sinne physischer Ähnlichkeit vgl. Cic. ad Q. fr. 1,3,3: tuum filium, imaginem tuam. Für imaginem […] praeferre vgl. imaginem ferre Plaut. Amph. 141; Capt. 39; mil. 151, wenngleich die Junktur dort „das Abbild von jemandem tragen“ i.S.v. „sich für jemanden ausgeben“ bedeutet. sic est: tantum enim regem tantique rectorem orbis in metum cogit: Die Funktion dieses Satzes ist unklar. Die Übersetzer (vgl. z. B. Winterbottom [1974] II 545 – 547) scheinen diesen Satz als Affirmation und Begründung der zuvor ausgedrückten Gedanken anzusehen: der Seher erfüllt die genannten Anforderungen, denn er versetzt Alexander in Schrecken; er ist also ein wahrer Seher. Dann würde dieser Satz aber Fuscus’ Argumentationsziel widersprechen, dem Seher das Zukunftswissen abzusprechen. Dieser Widerspruch ließe sich allenfalls dadurch vermeiden, dass man einen Rückbezug auf novae oportet sortis is sit annimmt: Der Seher gehört zu der seltenen Art von Menschen, die sich erdreisten, Alexander zu erschrecken. Die Alternative besteht darin, dass man davon ausgeht, dass enim hier keine begründende Funktion hat, sondern die Worte sic est wieder aufgreift; vgl. Cic. Cato 65: sic se res habet: ut enim non omne vinum, sic non omnis natura vetustate coacescit. Dann würde dieser Satz einen neuen Gedanken einleiten, nämlich die Prämisse, dass der Seher Alexander in Schrecken versetzt. Im nächsten Satz findet sich die weitere Prämisse, dass derjenige, der Alexander in Schrecken versetzt, nicht nur irgendein Seher, sondern ein großer Seher sein muss. Die unausgesprochene Schlussfolgerung ist, dass der Seher die an ihn gestellten Anforderungen nicht erfüllt und folglich nicht das Recht hat, Alexander in Schrecken zu versetzen. Für die Verwendung von Herrscherlob gegenüber Königen wie Alexander vgl. die Empfehlungen, die Cestius suas. 1,5 – 8 gibt. Zwar nicht als rector orbis, aber als domitor generis humani wird Alexander suas. 1,4 bezeichnet. Für cogere in vgl. ThLL III 1529,14– 53; Liv. 36,3,5; suas. 6,7: iam intelleges Ciceronem in mortem cogi posse, in preces non posse.

4.2 Kommentar

343

magnus iste et supra humanae sortis habitum sit, cui liceat terrere Alexandrum: Die Verwendung des Attributs magnus ist wohl als Anspielung anzusehen, da dies Alexanders Epitheton war (vgl. suas. 1,3 f.). Für habitus i.S.v. „Beschaffenheit“ vgl. Cic. Arch. 15: homines […] naturae ipsius habitu prope divino. Für den etwas umständlichen Nominalausdruck supra humanae sortis habitum esse vgl. im Folgenden extra omnem futurorum necessitatem caput sit. ponat iste suos inter sidera patres et originem caelo trahat; agnoscat suum vatem deus: Während die Anforderungen, die im ersten Teilsatz genannt werden, bereits zuvor erhoben wurden, ist die Forderung, dass ein Gott den Seher anerkennt, eine Erweiterung. Vgl. Ov. met. 3,336 – 338 (über Teiresias): pater omnipotens […] pro lumine adempto / scire futura dedit. Die Junktur originem trahere wird zumeist mit der Präposition ab und dem Ablativ der Person (vgl. z. B. Plin. nat. 5,86,1) oder mit der Präposition ex (vgl. Tac. ann. 11,18,3) verbunden. Für die Konstruktion mit bloßem Ablativ liegt nur eine Parallele vor, wo es sich um einen Städtenamen handelt (Liv. 8,22,5): Cumani Chalcide Euboica originem trahunt. non eodem vitae fine, aetate magna, extra omnem futurorum necessitatem caput sit, quod gentibus futura praecipiat: Eodem sc. atque imprudentes. Nachdem im vorigen Satz von der ungewöhnlichen Abstammung des Sehers und damit von dem Anfang seines Lebens die Rede war, wird nun das (vermeintliche) Ende seines Lebens beleuchtet. Mit aetate magna ist wohl – ebenso wie mit non eodem vitae fine – gemeint, dass ein Seher ein langes Leben genießt; vgl. Hyg. fab. 75 (über Teiresias): Iovis […] fecit, ut septem aetates viveret vatesque praeter ceteros mortales esset. Für caput i.S.v. „Mensch“, „Person“ vgl. ThLL III 404,3 – 408,7.Vor allem der erste Teil dieses Satzes, in dem zwei präpositionslose Ablative überliefert sind (eodem vitae fine und aetate magna), ist textkritisch umstritten. Walter (1935) 516 hat aus dem zweiten Ablativ aetatem agat hergestellt. Diese Konjektur haben Winterbottom (1974) II 546 und Håkanson (1989) 352 übernommen. Fraglich ist bei dieser Textkonstitution allerdings die Funktion des ersten Ablativs. Winterbottom (s.o.) und O. & E. Schönberger (2004) 289 übersetzen diesen Teil des Satzes bezeichnenderweise relativ frei; vgl.Winterbottom: „[sc. he] cannot have the same bounds to his life“. Bieler (1935) 85 schlägt eine Ergänzung vor und liest non eodem vitae fine aetate magna caelestia tollatur ad signa. Reitzenstein (1927) 238 emendiert die Überlieferung zu aetate plus quam humana; diesen Ausdruck zieht er noch zum vorigen Satz und setzt dahinter einen Punkt. Gertz (1888) 297 und – ihm folgend – Bornecque (1902) II 320 supplieren bzw. emendieren aetate magna zu non aetate maligna. Müller (1887) 551, Edward (1928) 18 und Zanon dal Bo (1988) 150 tilgen mit Haase (1851) 174 und Konitzer (1864) 25 aetate magna, während Kiessling (1872) 28 die Überlieferung beibehält. Auch wir

344

4 suas. 4

sind der Meinung, dass der überlieferte Text gehalten werden kann. Bei eodem vitae fine und aetate magna handelt es sich um zwei Ablativi qualitatis, die zusammen mit dem durch extra eingeleiteten Präpositionalausdruck ein Asyndeton ergeben und den Seher charakterisieren. Anstelle des überlieferten futurorum übernehmen alle modernen Herausgeber Schultings Konjektur fatorum (vgl. Müller [s.o.]). Nur Bieler (s.o.) hält futurorum mit dem Hinweis (ib. 88), dass futuri oder futurorum necessitas bei Boethius mehrmals fatum bedeutet (vgl. cons. 5,3 f.). Da zudem necessitas schon bei Cicero „Unvermeidlichkeit“, „Schicksal“ bedeutet (vgl. z. B. div. 2,17: ea praedicunt enim, quae naturae necessitas perfectura est), halten wir die Überlieferung. Huelsenbecks (2009) 265 Konjektur regentibus statt gentibus stellt einen Bezug zu cui liceat terrere Alexandrum her und ermöglicht das Textverständnis, dass der Seher vor dem Tod gewarnt werden soll für den Fall, dass er dem Adressaten (einem rex) zu wenig Respekt zollt (vgl. suas. 1,5 – 8; 4,4 f.). Trotzdem ist diese Konjektur wohl unnötig, da durch gentibus ein Adressatenkreis genannt wird, der so groß ist, dass die Anmaßung des Sehers hinreichend zum Ausdruck kommt. si vera sunt ista, quid ita non huic studio servit omnis aetas?: Mit ista ist die Prophezeiung aus dem Thema gemeint. Der Gedanke ist, dass viele Menschen sich als Wahrsager betätigen würden und man ihren Aussagen glauben müsste, wenn das Prophezeien einfach wäre. Die Tatsache aber, dass sich nicht viele Menschen als Wahrsager betätigen, spricht dafür, dass die Worte des Augurs falsch sind. Das Substantiv aetas wird hier wie im Vorsatz caput metonymisch verwendet und bezeichnet den Menschen selbst (vgl. ThLL I 1135,7– 37), so dass omnis aetas „Menschen jeden Alters“ bedeutet; vgl. Cic. off. 1,123: luxuria […] omni aetati turpis […] est. cur non ab infantia rerum naturam deosque qua licet visimus, cum pateant nobis sidera et interesse numinibus liceat?: Der zugrunde liegende Gedanke ist noch derjenige aus dem vorigen Satz: für die Kunst der Wahrsagung sind besondere Voraussetzungen erforderlich. Anstelle der überlieferten Formen visuimus (A und – auch wenn das -i- der Mittelsilbe dort über das -u- geschrieben wurde – B) bzw. visimus (V) sind einige Konjekturen vorgeschlagen worden (s. den Apparat). Wir halten einen textkritischen Eingriff für unnötig und lesen wie alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Håkanson (1989) 352 visimus, da das Verb den geforderten Sinn ergibt. Für visere i.S.v. „untersuchen“ vgl. OLD s.v. viso 2c und Liv. 42,17,1: legatus ad visendum statum regionis eius speculandaque consilia Persei regis ierat; mit abstraktem Objekt vgl. Tac. ann. 6,26: quanto propius mala rei publicae viseret.

4.2 Kommentar

345

quid ita inutili desidemus facundia aut periculosis atteritur armis manus?: Auch hier werden die absurden Konsequenzen beleuchtet, die sich ergeben, wenn man die Kunst der Wahrsagung für allgemein zugänglich hält. Dem Deklamator zufolge wäre die politisch-militärische Laufbahn unnötig, wenn das Wahrsagen so einfach wäre. Kiessling (1864) 40 hat das in den besten Handschriften überlieferte desidemus zu desudamus emendiert, worin ihm die späteren Herausgeber gefolgt sind (nur Bieler [1935] 85 und 89 Fußn. 9 liest desidemus; Huelsenbeck [2009] 270 f. Fußn. 90 schlägt desidet animus vor; s.u.). Allerdings ist die unter semantischen Gesichtspunkten beachtliche Konjektur desudamus wohl unnötig (obendrein ist das von Kiessling angeführte Argument, dass es sich bei desidemus um ein Futur handelt, falsch). Huelsenbeck (2009) 270 f. Fußn. 90 schlägt die Konjektur desidet animus vor, um eine Symmetrie zwischen Subjekten in der dritten Person (animus […] manus) herzustellen. Außerdem eröffne sich somit eine moralische Dimension, die Huelsenbeck in diesem Exzerpt unter Verweis auf das folgende surrexerint und unter Vergleich mit Sen. nat. 7,25,4 (quid, quod tam paucos annos inter studia ac vitia non aequa portione dividimus?) für zentral hält. Der Verweis auf das folgende surrexerint ist wohl neben dem Attribut inutilis in diesem Satz das entscheidende Argument, warum das Verb desidere hier gehalten werden kann, auch wenn Parallelen für desidere mit bloßem Ablativ zu fehlen scheinen (das Wort muss hier soviel wie „die Zeit vergeuden“ bedeuten). Allerdings ist es wohl unnötig, animus zum Subjekt zu machen und an der ersten Person Plural zu zweifeln. at melius alio pignore quam futuri scientia ingenia surrexerint?: Der Deklamator meint, dass die Wahrsagung der geeignetste Gegenstand ist, an dem man sein Talent unter Beweis stellen kann. Wenn die Kunst der Weissagung daher vielen Menschen gegeben wäre,würden sie sich um sie und um keine andere Kunst bemühen. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, darf man selbsternannten Wahrsagern keinen Glauben schenken. Pignus ist hier wohl als „Kennzeichen“, „Beweis“ (nämlich des eigenen Könnens) zu verstehen; vgl. Cic. Cael. 78: pignora voluntatis; Phil. 13,6: pignora iniuriae. Der Konjunktiv in surrexerint ist potential aufzufassen. Gegen alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass am Anfang des Satzes at stehen muss (A und B überliefern ad,V at) und nicht an, eine Verbesserung in der Handschrift V. Für at, das eine indignierte Frage einleitet, vgl. suas. 6,6, wo sich dasselbe textkritische Problem stellt: quid indignamur in Cicerone Antonio licere? in Pompeio Alexandrino licuit. at non sic occiduntur, qui ad indignos confugiunt? 2 qui vero in media se, ut praedicant, fatorum misere pignora, natales inquirunt et primam aevi horam omnium annorum habent nuntiam: Natales sc. dies. Es folgt eine längere Beschreibung, in der der Gedanke entfaltet wird, dass

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4 suas. 4

die Astrologen an der Sternkonstellation zur Zeit der Geburt das Schicksal des Geborenen bemessen. Für diesen Gedanken vgl. die Kritik Cic. div. 2,87– 99, v. a. 87: [sc. Eudoxus opinatur] Chaldaeis in praedictione et in notatione cuiusque vitae ex natali die minime esse credendum; 89: [sc. Chaldaei dicunt] utcumque temperatus sit aer, ita pueros orientis animari atque formari, ex eoque ingenia, mores, animum, corpus, actionem vitae, casus cuiusque eventusque fingi; Ps.Quint. decl. 4,16: omnes […] animae proprietates et futuras mentium corporumque formas ex […] siderum qualitate […] accipiunt. Wie alle modernen Herausgeber lesen wir anstelle des unhaltbaren prima melioram mit Haase primam aevi horam (vgl. Müller [1887] 552). Novák (1915) 285, dem sich Bieler (1935) 86 und 89 Fußn. 10 anschließt, wendet gegen aevi ein, dass das Wort im Werk des älteren Seneca nicht vorkommt, und liest stattdessen vitae. Novák ist aber nur insofern Recht zu geben, als aevum von keinem Deklamator verwendet wird; vgl. aber suas. 6,24 und 26. Daher und weil aevi eine leichte Verbesserung ist, sollte das Substantiv gelesen werden. Das überlieferte pignora emendiert Håkanson (1989) 352 unnötigerweise zu signa, da er pignora für einen Perseverationsfehler hält. Pignus kann aber soviel wie signum bedeuten (s. die vorige Anmerkung). quo ierint … aestimant: Es wird der Reihe nach der spezifische Einfluss der sieben Planeten auf den Menschen erwogen, nämlich derjenige der Sonne, des Mondes und der fünf stellae errantes (vgl. z. B. Cic. nat. deor. 1,87 und rep. 6,17), d. h. Saturn, Mars, Merkur, Venus und Juppiter. In einem etwas anderen Zusammenhang werden die sieben Planeten Cic. div. 2,91 erwähnt; dort wird den Chaldäischen Weissagern vorgehalten, dass ihnen die Distanz zwischen den Planeten nicht bewusst ist und der Einfluss speziell des Mondes auf den Menschen überbewertet wird. Die indirekten Fragesätze sind, wie Thomas (1880) 33 bemerkt, von dem Prädikat aestimant abhängig, das ganz am Ende des Satzes steht.Vor dem ersten indirekten Fragesatz wird im Anschluss an Thomas seit Müller (1887) 552 stark interpungiert. Die vorigen Herausgeber sahen den vorangehenden Satz als einen langen Relativsatz an. quo ierint motu sidera, in quas discucurrerint partes: contrane deus steterit an placidus adfulserit Sol: Für die reduplizierte Perfektform von discurrere vgl. Suet. Cal. 32,2; vgl. auch percurrere suas. 6,11; für das Simplex currere und andere Verben vgl. die Diskussion bei Gellius (6,9,1). Anstelle des überlieferten deus lesen die Herausgeber seit Müller (1887) 552 entweder mit Thomas (1880) 34 durus oder mit Gertz (1888) 298 und Linde (1925) 121 dirus. Bieler (1935) 86 und 90 ist hingegen der Meinung, dass deus gehalten werden kann, indem man unter deus den dominus geniturae versteht (Bieler verweist hierfür auf Firm. math. 4,19,31 f.). Diesem Argument können wir nicht zustimmen, da der Kontext zeigt, dass die Astrologen

4.2 Kommentar

347

nach Ansicht des Deklamators die Planetenkonstellation (sidera) für das Horoskop des Menschen verantwortlich machen. Gerade der folgende Teilsatz über den Mond macht wahrscheinlich, dass hier sowohl der begünstigende als auch der benachteiligende Einfluss der Sonne betrachtet wird. Daher ist davon auszugehen, dass an der fraglichen Stelle auf Sol verwiesen wird. Zu erörtern ist allerdings, ob deus unter der Annahme gehalten werden kann, dass ein Hyperbaton vorliegt (zum Hyperbaton vgl. eine bald erscheinende Studie von Thorsten Burkard). Da die benachteiligende Wirkung der Sonne durch contra stare hinreichend ausgedrückt ist, sind die Konjekturen durus und dirus wohl nicht notwendig. Für die Apposition deus […] Sol vgl. deus […] Apollo (Verg. Aen. 8,336). Huelsenbeck (2009) 282– 284 schlägt die Konjektur contrane radiis restiterit („did the sun, in opposition, resist with its rays?“) vor und verweist für den teilweise hemmenden Einfluss der Sonnenstrahlen auf andere Planeten auf Lucan. 10,202 f.: [sc. Sol] radiis […] potentibus astra / ire vetat cursusque vagos statione moratur; Vitr. 9,1,12; Plin. nat. 2,59 f. und 69 f. Da es aber an dieser Stelle nicht um den Einfluss der Sonne auf andere Planeten, sondern auf den neugeborenen Menschen geht (was Huelsenbeck mit Blick auf an placidus adfulserit Sol anerkennt), ist diese umfangreiche Konjektur zurückzuweisen. in plenam lucem initia surgentis acceperit an abdiderit in noctem obscurum caput Luna: Für den Einfluss des Mondes auf den Neugeborenen vgl. Varro, ling. 5,69. Die Stelle ist inhaltlich und textkritisch umstritten. Die entscheidende Frage dabei ist, ob mit surgentis der zunehmende Mond gemeint ist, wie alle modernen Herausgeber mit Ausnahme von Håkanson (1989) 352 annehmen, oder das neugeborene Kind, wie Håkanson ad loc. meint. Unter der Annahme, dass der zunehmende Mond gemeint ist, lesen Müller (1887) 552, Bornecque (1902) II 321, Edward (1928) 18, Winterbottom (1974) II 546 und Zanon dal Bo (1988) 150 plenam lucem an initia surgentis. Bursian (1857) 23 und Kiessling (1872) 29 lesen sowohl vor plenam als auch vor initia die Partikel an. Winterbottom (s.o.) 546 f. Fußn. 1 macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Verwendung von surgere mit Bezug auf den zunehmenden Mond exzeptionell ist. Håkanson ad loc. fasst initia surgentis als die Geburt oder sogar die Empfängnis auf. Da Håkansons Textverständnis dazu führt, dass auf fast alle textkritischen Eingriffe verzichtet werden kann, scheint er uns die beste Lösung zu bieten. Denn es muss nur mit Aurelius (vgl. Müller [s.o.]) acceperit statt acceperint gelesen werden. Für surgere i.S.v. „geboren werden“, „heranwachsen“ mit Bezug auf Menschen vgl. Verg. Aen. 4,274 (Ascanius surgens) und 10,524 (surgens Iulus). Die Stelle bleibt aber unsicher, und man sollte überlegen, sugentis statt surgentis zu lesen (mündlicher Hinweis von Thorsten Burkard). Aus obscurum caput lässt sich leider kaum ein Rückschluss auf initia surgentis ziehen, da obscurum caput sich sowohl auf den Mond (so Winterbottom

348

4 suas. 4

[s.o.] 547) als auch auf den Neugeborenen beziehen könnte (so Bieler [1935] 90 f.). Etwas wahrscheinlicher ist vielleicht der Bezug auf den Menschen (vgl. caput weiter unten und in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle) und damit auch der Bezug von initia surgentis auf den Neugeborenen. Hierfür spricht auch das parallele nascentem […] exceperit im folgenden Teilsatz. Eine alternative Erklärung der Stelle bietet Huelsenbeck (2009) 284– 286, der folgenden zweigliedrigen Text liest: an plena lucis in vitia surgentis acceperit, an abdiderit in noctis obscurum caput Luna („did the Moon receive [sc. the native], when full of light that was rising into her blemishes. Or, did she hide her head in the darkness of night“). Diese Textkonstitution beruht aber auf vielen Eingriffen und enthält mit vitia eine zweifelhafte Konjektur, da vitium i.S.v. „schwarzer Fleck“ (vgl. Huelsenbeck [s.o.] 285 Fußn. 126) nicht belegt zu sein scheint. Saturnus nascentem an ad bella Mars militem, an negotiosum in quaestus Mercurius exceperit; an blanda adnuerit nascenti Venus, an ex humili in sublime Iuppiter tulerit, aestimant: Es folgen abschließend die Voraussagen der Astrologen mit Bezug auf die „bürgerliche Laufbahn des Menschen“ (Bieler [1935] 91): Entsprechend dem Funktionsbereich der Gottheiten macht Saturn den Neugeborenen zum Bauern, Mars zum Krieger, Merkur zum Kaufmann, Venus verspricht Erfolg in der Liebe und Jupiter gesellschaftlichen bzw. politischen Aufstieg. Um die Wirkung Saturns auf den Neugeborenen zum Ausdruck zu bringen, ergänzen die Herausgeber seit Müller (1887) 552 mit Konitzer ad cultum agrorum hinter nascentem; für ähnliche Supplierungen s. den Apparat. Zu diesem Zweck würde es sich aber eher anbieten, satorem hinter Saturnus zu ergänzen, da dieses Wort leicht ausgefallen sein kann und ausreicht, um den geforderten Sinn herzustellen. Satorem ist auch Teil von Gertz’ (1888) 298 Supplierung (Gertz ergänzt satorem ad cultum agrorum vor Saturnus). Andererseits stellt sich die Frage, ob eine Supplierung gerechtfertigt ist. Da Fuscus’ Ausdruck nicht einförmig ist und vielleicht vorausgesetzt werden kann, dass der Rezipient Saturnus’ Funktionsbereich kannte, verzichten wir zögernd auf eine Ergänzung. tot circa unum caput tumultuantis deos!: In einem Epiphonem verspottet der Deklamator die Astrologen. Da tumultuantis einen guten Sinn ergibt, halten wir wie alle modernen Herausgeber Schultings Konjektur nuntiantes (vgl. Müller [1887] 552) für unnötig. Für den Akkusativ Plural auf -is vgl. metuentis in § 3. 3 futura nuntiant?: Diese Frage leitet eine Kette von Gegenbeispielen ein, die falsche Prognosen der Seher beinhalten und somit zeigen, dass sie über kein Zukunftswissen verfügen. Håkanson (1989) 353 ist der erste moderne Herausgeber, der hinter nuntiant ein Fragezeichen setzt, während die vorigen Herausgeber einen

4.2 Kommentar

349

Doppelpunkt gesetzt haben. Wenn man diesen Satz als Aussage liest, müsste man ihn – wie Edward (1928) 125 – ironisch verstehen. Aufgrund der Tatsache, dass dieser Satz Gegenbeispiele einleitet, scheint uns aber eine Frage dem Satz einen besseren Sinn zu geben (anders als im vorigen Satz, der als Epiphonem eine Beschreibung abschließt). Eine ähnlich kurze Frage benutzt Fuscus suas. 5,1: Xerses veniet? plerosque dixere victuros, et nihil metuentis oppressit dies: Auch ohne Attribut bedeutet dies hier „der Schicksalstag“ wie suas. 2,2. Um den Irrtum der Seher noch deutlicher herauszustellen, ergänzen Müller (1887) 552, Bornecque (1902) II 321, Edward (1928) 18,Winterbottom (1974) II 548 und Zanon dal Bo (1988) 150 mit Gertz diu vor dixere. Bornecque ergänzt zusätzlich mox nach metuentis. Der Gegensatz ergibt sich aber schon aus den Verbalausdrücken für „leben“ und „sterben“. Außerdem zeigt die Tatsache, dass das attributlose dies hier den Todestag bezeichnet, dass der Deklamator sich sehr prägnant ausdrückt. aliis dedere finem propincum, at illi superfuere egentes inutili animae: Dies ist die Antithese zum vorigen Satz. Während der Sinn des Satzes klar ist, ist er textkritisch umstritten. Håkanson (1989) 353 emendiert das überlieferte egentes zu ingementes, gerät aber in die Schwierigkeit, dass ingemere nur an einer Stelle (bei Hegesipp) zweifelsfrei mit dem Dativ belegt ist (vgl. ThLL VII 1,1518,74– 76; ansonsten lässt sich nicht entscheiden, ob ein Dativ oder Ablativ vorliegt). Kiessling (1872) 29, Müller (1887) 552 und Winterbottom (1974) II 548 f. lesen mit Haase und Ribbeck agentes inutilis animas. Bursian (1857) 23 liest mit einem anderen Emendationsvorschlag von Haase non egentes inutilis animae. Wir meinen, dass sich die Überlieferung halten lässt: at illi superfuere egentes [sc. fine propinco] inutili animae („jedoch haben jene für ein nutzloses Leben überlebt, ohne dass der baldige Tod eingetreten ist“). Dem in egentes ausgedrückten Gedanken entspricht nihil metuentis im vorigen Satz, da beide Partizipialausdrücke einen adversativen Sinn mit Bezug auf den Verbalausdruck des jeweiligen Satzes tragen: dort gibt der Partizipialausdruck an, dass Menschen gestorben sind, obwohl sie den Tod nicht erwartet haben; hier heißt es, dass sie weitergelebt haben, obwohl ihnen der Tod lieber gewesen wäre. Egentes erfordert als Ergänzung fine propinco aus der ersten Satzhälfte. Für diese – äußerst kühne – Brachylogie vgl. K.-St. II 2, S. 565;Varro, res 1,2,14: in eam [sc. villam] convehuntur fructus et evehuntur [sc. ex ea]; Cic. de orat. 2,25: id me non modo non hortatur ad disputandum, sed etiam deterret [sc. a disputando]. Der Gedanke ist, dass das Weiterleben für diejenigen, denen ein baldiges Ende vorhergesagt wurde, nutzlos ist, da sie sich auf den Tod eingestellt haben. Dieser Gedanke korrespondiert mit demjenigen aus dem vorigen Satz, dass diejenigen, die zu leben glauben, nichts fürchten und sich daher nicht auf den Tod

350

4 suas. 4

einstellen. Das in den besten Handschriften überlieferte propincum ist die Alternativform zu propinquum so wie contr. 1,6,5 aecum die Alternativform zu aequum ist; die in V überlieferte Form propinquum dürfte eine Verbesserung sein. felices nascentibus annos spoponderunt, at Fortuna in omnem properavit iniuriam: Nachdem in den vorigen beiden Beispielen falsche Todesprophezeiungen thematisiert wurden, geht es hier um die falsche Vorhersage des Lebensglückes. Mit einem abstrakten Begriff wie iniuria wird properare in mit dem Akkusativ zuvor nirgends verwendet; später vgl. Sen. epist. 95,26: properans in damnum suum. Vgl. auch properare ad gaudia Hor. carm. 4,12,21. incertae sortis vivimus enim: In einer Sentenz formuliert der Deklamator die Schlußfolgerung, die für das ganze Referat gilt: Wir leben, ohne unser Los zu kennen bzw. – und das gilt auch für selbsternannte Wahrsager – es vorhersehen zu können. Bei incertae sortis handelt es sich um einen Genetivus qualitatis, der in diesem Fall die Besonderheit hat, dass er sich auf das im Verb liegende Subjekt bezieht; vgl. suas. 6,10: mori tibi […] necesse est, ut liber et illibatae dignitatis consummes vitam; Nep. Ages. 8,2: cum annorum LXXX […] in Aegyptum isset; Hor. sat. 2,8,84: redis mutatae frontis; K.-St. II 1, S. 457. Seit Kiessling (1872) 29 transponiert man enim mit V2 und den Recentiores an die zweite Stelle des Satzes. Eine Sichtung derjenigen Stellen, an denen enim, igitur und autem nicht an zweiter Stelle stehen (vgl. K.-St. II 2, S. 133 – 135), macht jedoch deutlich, wie fragwürdig diese Transposition ist.Vgl. Cic. Cluent. 167: cur non de integro autem datum?;Verg. Aen. 8,84 f.: quam pius Aeneas tibi enim, tibi, maxima Iuno / mactat. Daher folgen wir wie Bursian (1857) 23 der besten Überlieferung und lesen enim am Ende des kurzen Satzes. Castiglionis (1928) 119 und Watts Tilgung von enim (vgl. Håkanson [1989] 353), das Watt zufolge aus dem folgenden uni- in unicuique entstanden ist (vgl. Håkanson ad loc.), ist zurückzuweisen. unicuique ista pro ingenio finguntur, non ex fide: Das Pronomen ista bezieht sich wie in § 1 auf die Prophezeiung aus dem Thema bzw. allgemein auf Prophezeiungen. Für ingenium i.S.v. „Phantasie“ vgl. ThLL VII 1,1533,32– 84. Die Bedeutung von fides kann nicht genau angegeben werden. Es lässt sich zum einen annehmen, dass das Wort hier „Zuverlässigkeit“, „Gewissheit“ (vgl. OLD s.v. fides1 4b) bedeutet. Dann würde der Deklamator weiterhin den Wahrheitsgehalt der Prophezeiung in Abrede stellen. Auf der anderen Seite kann man für fides die Bedeutung „Glaube“, „Überzeugung“ voraussetzen (so Winterbottom [1974] II 549), wodurch sich ergeben würde, dass der Deklamator sogar bestreitet, dass der Augur an seine eigene Prophezeiung glaubt. Die Junktur ex fide tritt in der Kaiserzeit neben cum fide und findet sich beispielsweise bei Tacitus (hist. 2,9,2) und

4.2 Kommentar

351

Plinius (epist. 9,14,1). Kiessling (1872) 29, Müller (1887) 552 und Håkanson (1989) 353 ergänzen mit V2 scientiae vor (Håkanson) bzw. hinter (Kiessling, Müller) fide (scientiae ist in V über dem, was fide entspricht, geschrieben). Bornecque (1902) II 321 f. und (1902a) 376 liest statt fide mit Opitz siderum scientia. Madvig lässt diesen Satz mit ex scientia enden und den nächsten mit vide beginnen (vgl. Müller [s.o.]). Wir halten die Supplierung einer Form von scientia für unnötig. Als Prädikat des zweiten Teiles des Satzes hat Gertz eruuntur ergänzt, das Müller (s.o.) übernimmt. Novák (1915) 285 schlägt proferuntur vor. Wir übernehmen kein suppliertes Prädikat, denn das Prädikat ergibt sich aus finguntur aus dem ersten Teil des Satzes. Dabei handelt es sich nicht um ein Zeugma, wie Thomas (1900) 216 und Edward (1928) 125 angeben, sondern um eine Brachylogie, bei der aus einem negativen Wort (in diesem Fall finguntur) ein affirmatives (z. B. dicuntur) entlehnt werden muss; vgl. K.-St. II 2, S. 563 f. und suas. 2,17 mit dem Kommentar zur Stelle. Erit aliquis orbe toto locus, qui te victorem non viderit? Babylonia cluditur, cui patuit Oceanus?: Diese beiden Sätze gehören nicht mehr zu Fuscus’ Beschreibung, sondern zu einem anderen Argument, nämlich dass das Betreten von Babylon für den Welteneroberer Alexander keine Gefahr darstellen kann.Wie in § 1 (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) verknüpft der Deklamator sein Argumentationsziel mit einem Herrscherlob. Ähnliche Fragen, die Alexander zum Betreten der Stadt bewegen und schmeicheln sollen, stellt der Deklamator Moschus suas. 1,2: quae tam ferae gentes fuerunt, quae non Alexandrum posito genu adorarent? qui tam horridi montes, quorum non iuga victor miles calcaverit? Die Angabe cui patuit Oceanus verweist wohl auf die Situation, die in der ersten Suasorie vorausgesetzt wird, nämlich dass sich Alexander in Indien an den Grenzen der bekannten Welt befindet (s. die Einleitung zur ersten Suasorie). Anstelle des in den besten Handschriften überlieferten Babyloni lesen alle modernen Herausgeber mit Freinsheim Babylon ei (vgl. Müller [1887] 552). Überliefert sind ferner die Korrekturen Babylonia (B2), Babylone (V2D) und e Babylonia (τ). Haase (1851) 174 schlägt Babylonne vor. Da claudere nicht in der Bedeutung „ausschließen“ belegt zu sein scheint, muss eine Form für Babylon das Subjekt von cluditur sein. Folglich sollte mit B2 Babylonia gelesen werden, da diese Form unserer Meinung nach auch im Thema dieser Suasorie gelesen werden sollte (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle).

Die divisio (4a) 4 In hac suasoria nihil aliud tractasse FVSCVM scio quam easdem quas supra retuli quaestiones ad scientiam futuri pertinentis: Das Referat der divisio fällt

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4 suas. 4

hier so kurz aus wie in keiner anderen Suasorie, da Seneca d.Ä. außer Fuscus nur einen Satz des Deklamators Hybreas zitiert und Fuscus nur die Argumente verwendet, die sich dessen Exzerpt aus den §§ 1– 3 entnehmen lassen. Im Folgenden wird eine Anekdote über die Verwendung eines Vergilzitates durch einen Schüler des Fuscus und die schlagfertige Erwiderung seines Lehrers erzählt. Anekdoten referiert Seneca d.Ä. beispielsweise auch in der ersten und dritten Suasorie (vgl. suas. 1,6; 3,5 – 7). An dieser Stelle ist die Anekdote dadurch mit dieser Deklamation verknüpft, dass der Fuscusschüler in dieser Suasorie Vergil zitiert. Da der Perfektstamm von referre sowohl mit einfachem als auch mit doppeltem -t- belegt ist, sollte die überlieferte Form retuli bewahrt und nicht zu rettuli geändert werden,wie es Müller (1887) 553 und Håkanson (1989) 353 tun. Vgl. retulissent suas. 6,17 mit dem Kommentar zur Stelle.

Dritter Teil (4b-5) illud, quod nos delectavit, praeterire non possum: Diese Überleitungsformel begegnet in den Suasorien nur hier und macht deutlich, dass es sich bei der im Folgenden referierten Anekdote um einen Anhang handelt. Mit nos bezeichnet Seneca d.Ä. die Zuhörer der Deklamationen des Fuscus und seines Schülers. Vgl. das ähnlich unbestimmte agnovimus suas. 2,19 mit dem Kommentar zur Stelle. Kiesslings (1872) 29 zögernder Vorschlag, vos delectabit anstelle von nos delectavit zu lesen, ist daher zurückzuweisen. declamitabat Fuscus Arellius controversiam de illa, quae, postquam ter mortuos pepererat, somniasse se dixit, ut in luco pareret: Das Thema dieser Kontroversie ist – wie dasjenige, das suas. 2,21 genannt wird – in keiner der überlieferten Deklamationssammlungen enthalten. Aus den Angaben, die hier gegeben werden, rekonstruiert Håkanson ad loc. den Wortlaut des Themas in Anlehnung an Faber (1672) 31 folgendermaßen: Quae ter mortuos pepererat somniasse se dixit vivum parituram, si in luco pareret. in lucum profecta remotis arbitris peperit. avus puerum agnoscere non vult. Zum Thema vgl. auch den Aufsatz von Antonio Stramaglia (s. die folgende Anmerkung). Das Verb declamitare ist gleichbedeutend mit declamare und wird schon von Cicero benutzt (Brut. 310); vgl. ferner contr. 2 praef. 4; suas. 6,14. Auffällig ist der Gebrauch des Plusquamperfektes pepererat im postquam-Satz. Entweder handelt es sich hierbei um den Sprachgebrauch des älteren Seneca, was sich nicht überprüfen lässt, da uns nur dieser postquam-Satz überliefert ist, in dem sich möglicherweise Seneca d.Ä. selbst äußert. Oder es liegt ein überdeutlicher Ausdruck der Vorzeitigkeit vor, der typisch für Deklamationsthemen ist (vgl. das Thema dieser Suasorie mit dem

4.2 Kommentar

353

Kommentar zur Stelle). Im Werk des älteren Seneca ist dies die einzige Stelle, an der ein Plusquamperfekt im postquam-Satz begegnet. Für das Plusquamperfekt im postquam-Satz ohne Angabe der Zwischenzeit vgl. K.-St. II 2, S. 355 f.; Cic. Verr. II 4,54: posteaquam tantam multitudinem collegerat emblematum […], instituit officinam. Seit Müller (1887) 553 lesen alle Herausgeber und Übersetzer das von ihm hergestellte Plusquamperfekt declamitarat, während die Handschriften declamitabat überliefern. Zuvor hatte bereits Schulting declamitaverat vorgeschlagen. Nur Bieler (1935) 86 liest declamitabat. Die Annahme des Plusquamperfektes rührt wohl daher, dass in § 5 das Perfekt benutzt wird, um einen Vorgang zu bezeichnen, der später stattgefunden hat, nämlich die Nachahmung der Vergilzitierung durch einen Schüler des Fuscus. Wir halten einerseits die Annahme des Plusquamperfektes für unnötig, da die Vorzeitigkeit auch so deutlich wird. Andererseits ist das Imperfekt in unseren Augen das erforderliche Tempus, aber nicht – wie Bieler (s.o.) annimmt – als iteratives Imperfekt. Das Imperfekt ist hier das richtige Tempus, da die Hintergrundhandlung geschildert wird, vor der Fuscus’ Vergilzitierung stattgefunden hat. Daher heißt es dort im Perfekt dixit. valde in vos contumeliosus fuero, si totam controversiam, quam ego intellego me dicere ***: In der Lacuna wird der Gedanke, dass Seneca d.Ä. nicht die ganze Kontroversie referiert, zu Ende geführt worden sein. Faber (1672) 30 ergänzt posuero hinter controversiam. Dann ist aber unverständlich, was quam intellego me dicere bedeutet. Novák (1915) 285 meint, dass Seneca d.Ä. hier darauf hinweist, dass er sich an die ganze Kontroversie erinnert, und ergänzt tenere voluero zwischen me und dicere: [sc. si controversiam] quam ego intellego me [sc. memoria] tenere, voluero dicere. Auf ähnliche Weise haben vor ihm Schulting und Gertz dicere zu scire emendiert und das Satzende ergänzt (vgl. Müller [1887] 553): quam ego intellego me scire, dixero (Schulting) bzw. quam ego intellego me scire, fusius exposuero (Gertz). Abgesehen davon, dass in diesem Kontext der Hinweis darauf, dass Seneca d.Ä. die ganze Kontroversie kennt, irrelevant und banal ist, ist die Doppelung der Verben des Wissens befremdend. Dasselbe gilt für den bei Müller (s.o.) verzeichneten Emendationsvorschlag quam ego intellego me dicere posse, exposuero, der teilweise auf Schenkl, teilweise auf Müller selbst zurückzugehen scheint. Edward (1928) 126 f., Bieler (1935) 86 und 92 f., Winterbottom (1974) II 549 und Zanon dal Bo (1988) 153 vermuten, dass hier gestanden hat, dass den Söhnen des älteren Seneca die Kontroversie bekannt ist. Daher liest Edward quam ego intellego vos scire, fusius exposuero. Bieler schlägt eine umfangreiche Ergänzung und Verknüpfung dieses und des nächsten Satzes vor: [sc. si controversiam] quam ego intellego memoria vos tenere, cantavero. hanc cum a religione orsus, ut solebat saepissime dicere, Fuscus declamaret […]. Winterbottom und Zanon dal Bo belassen es bei einer Ergänzung in der Übersetzung, nicht im lateinischen Text.

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4 suas. 4

Jedoch ist die besagte Annahme der vier Forscher aufgrund der Bedeutung von controversia unwahrscheinlich. Denn wegen totam kann controversiam hier nicht „Kontroversienthema“, sondern muss „Kontroversie“ im Sinne einer vollständigen Deklamation bedeuten. Und Fuscus’ vollständige Deklamation wird den Söhnen des älteren Seneca schwerlich bekannt sein. Eine neue Interpretation der vorliegenden Textstelle bereitet Antonio Stramaglia in einem Aufsatz über verlorengegangene Deklamationsthemen vor, der demnächst erscheinen wird. Freundlicherweise hat mir Antonio Stramaglia Einblick in die laufende Arbeit gewährt, in der er die Supplierung von vos nolle vorschlägt: quam ego intellego me dicere vos nolle, exposuero. Wie alle modernen Herausgeber zeigen wir eine Lacuna an, da kaum entscheidbar ist, welche Worte ausgefallen sind, und inhaltlich klar ist, welcher Gedanke hier in etwa gestanden hat (das Referat von Fuscus’ ganzer Deklamation würde ermüden). 〈quam cum〉 Fuscus declamaret et a parte avi non agnoscentis puerum tractaret locum contra somnia et deorum providentiam, et male de magnitudine eorum dixisset mereri eum, qui illos circa puerperas mitteret, summis clamoribus illum dixit Vergili versum: Ähnlich wie in dieser Suasorie, in der Fuscus einen Locus communis über das angebliche Zukunftswissen der Seher gebraucht (§§ 1– 3), hat er in der genannten Kontroversie einen Locus communis benutzt, durch den er bestritt, dass sich die Götter um die Menschen kümmern und sich ihnen etwa in Träumen offenbaren. Dabei hat er zumindest – mit Quintilian (inst. 5,7,35 f.) gesprochen – auf der speziellen Ebene bestritten, dass die Voraussicht der Götter in Träumen zum Ausdruck kommt. Ob er auch auf der allgemeinen Ebene gegen die Vorhersehung argumentiert hat, lässt sich nicht angeben (vgl. suas. 3,3 mit dem Kommentar zur Stelle [S. 324]). Obwohl Fuscus zwei Verse bzw. einen ganzen Vers und ein Wort aus einem zweiten Vers aus der Aeneis zitiert, sagt Seneca d.Ä. etwas ungenau, dass Fuscus einen Vers zitiert habe. Diese Ungenauigkeit wiederholt sich in § 5. Für den Applaus für eine gelungene Äußerung vgl. z. B. contr. 1,1,23; 2,1,37; suas. 5,6. Der Anfang des Satzes ist auf vielfältige Weise wiederhergestellt worden (s. den Apparat). Wir lesen mit Schenkl und Faber quam cum am Anfang des Satzes, da uns dies die einfachste Ergänzung zu sein scheint. Bei a parte avi handelt es sich um eine gelungene Emendation von Faber (1672) 30 anstelle des überlieferten aperte aut, da a parte alicuius eine der in den Kontroversien üblichen Bezeichnungen der Rolle ist, in der die Deklamatoren sprechen; vgl. z. B. contr. 1,6,12. Gertz’ Emendation a parte viri (vgl. Müller [1887] 553) ist paläographisch etwas schwieriger. Warum der Großvater und nicht der Vater spricht, ist zwar nicht ersichtlich, dürfte aber einen Grund haben, über den das vollständige Thema Aufschluss gäbe, wenn es überliefert wäre.

4.2 Kommentar

355

scilicet is superis labor est, ea cura quietos / sollicitat: Das Zitat entstammt dem vierten Buch der Aeneis (Aen. 4,379 f.). Dido spricht dort zu Aeneas, der ihr berichtet hat, dass er durch Merkur dazu aufgefordert worden war, aus Karthago aufzubrechen. Mit diesen Worten kommentiert sie ironisch den Anlass seines Aufbruchs, d. h. sie bestreitet, dass er sie auf göttliche Weisung hin verlässt. Daher eignet sich diese Textstelle hervorragend für Fuscus’ Zwecke, der in einem Locus communis die Position einnimmt, die von den Epikureern vertreten wird, nämlich dass die Götter die Welt nicht durch ihre Voraussicht lenken. 5 auditor Fusci quidam, cuius pudori parco, cum hanc suasoriam de Alexandro ante Fuscum diceret, putavit aeque belle poni eundem versum et dixit: ‘scilicet is superis labor est, ea cura quietos / sollicitat’: Um Fuscus’ Schüler nicht bloßzustellen (cuius pudori parco), möchte Seneca d.Ä. dessen Namen nicht nennen. Das Phänomen, dass eine nicht gelungene Äußerung zitiert, aber der Urheber nicht genannt wird, begegnet auch bei Quintilian (inst. 6,3,64). Für auditor i.S.v. „Schüler“ vgl. suas. 2,19 mit dem Kommentar zur Stelle. Das Verb ponere bedeutet hier wie suas. 3,6 „zitieren“ (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Die numerische Ungenauigkeit, die in versum (statt versus) in § 4 zum Ausdruck kommt, setzt sich hier in eundem versum (statt eosdem versus) fort. Fuscus illi ait: si hoc dixisses audiente Alexandro, scisses apud Vergilium et illum versum esse: ‘capulo tenus abdidit ensem’: Dieser Vers entstammt derjenigen Stelle des zweiten Buchs der Aeneis (Aen. 2,553), an der Aeneas die Tötung des Priamus durch Pyrrhus schildert. Fuscus meint offenbar, dass sein Schüler das Vergilzitat vor Alexander nicht hätte verwenden können und von diesem getötet worden wäre, wenn er sich diesen Affront geleistet hätte. Bielers (1935) 92 Ansicht, dass der Schüler das Zitat an unpassender Stelle eingeflochten hat, ist nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Denn von einer bestimmten Situation, in der dieser das Zitat verwendet, ist keine Rede. Der Fuscus-Schüler beherzigt nicht den Ratschlag, den Cestius suas. 1,5 – 8 gibt, dass man nämlich bei Suasorien vor Königen Herrscherlob einfließen lassen muss (vgl. Fuscus in § 3 dieser Suasorie), und der impliziert, dass man sie erst recht nicht beleidigen darf. Denn wenn man die Didoworte auf Alexander bezieht, dann ergibt sich die Aussage, dass sich die Götter um Alexanders Leben nicht kümmern. et quia soletis mihi molesti esse de Fusco, quid fuerit, quare nemo videretur dixisse cultius, ingeram vobis Fuscinas explicationes: Zu molesti ist gedanklich ein Begriff des Fragens zu ergänzen. Nachdem Seneca d.Ä. in dieser Suasorie vornehmlich Fuscus’ Beschreibungen referiert hat, will er dies auch in der nächsten Suasorie tun. Zu diesem Anliegen und dem Wort explicatio vgl. suas. 2,10

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4 suas. 4

mit dem Kommentar zur Stelle. Dieser Satz hat somit dieselbe überleitende Funktion wie diejenigen am Ende der dritten Suasorie (suas. 3,7): iam vultis ad Fuscum revertar et descriptionibus eius vos satiem? satiabo ac potissimum eis, quas in simili huius tractatione posuit, cum diceret omnino non concessam futurorum scientiam. dicebat autem suasorias libentissime et frequentius Graecas quam Latinas: Dadurch, dass Seneca d.Ä. ab der dritten Suasorie diejenigen Suasorien referiert, in denen sich Fuscus’ Beschreibungen finden, und der Deklamator, wie wir hier erfahren, eine Vorliebe für griechische Suasorienthemen hat, erklärt sich teilweise die Vielzahl an griechischen Suasorienthemen in der Sammlung des älteren Seneca. Mit dem Adjektiv Graecus ist nicht gemeint, dass Fuscus lieber auf Griechisch deklamiert hat, wie Echavarren (2007) 67 annimmt. Dass ein Deklamator lieber Suasorien als Kontroversien deklamiert, ist auch bei Fuscus’ Schüler Ovid der Fall; vgl. contr. 2,2,12: declamabat autem Naso raro controversias et non nisi ethicas. libentius dicebat suasorias. Über Fabianus, einen weiteren Deklamator aus der ‘Fuscusschule’, sagt Seneca d.Ä. contr. 2 praef. 3: suasoriis aptior erat. HYBREAS in hac suasoria dixit: οἷον ἔσχηκε Βαβυλὼν μάντιν ὀχύρωμα: Gewissermaßen als Anhang zitiert Seneca d.Ä. Hybreas’ Sentenz. Dieser Anhang ist insofern exzeptionell, als dieser Deklamator – abgesehen von dem Fuscusschüler – der einzige ist, der neben Fuscus zitiert wird, und Seneca d.Ä. soeben die Überleitung zur nächsten Suasorie hergestellt hat. Der Satz hat den Erklärern Schwierigkeiten bereitet. Edward (1928) 127 bemerkt zu dieser Stelle „this implies that Hybreas assumes that Alexander was warned before entering Babylon for the first time“ und bezweifelt, dass Seneca d.Ä. diesen Satz in diesem Kontext geschrieben hat. Wenn wir Edward richtig verstehen, verweist Hybreas auf Alexanders Einmarsch in Babylon im Jahr 331 v.Chr. in dem Sinne, dass Alexander angeblich schon damals gewarnt wurde. Diese Interpretation, die Hybreas einen Irrtum unterstellt, halten wir nicht für überzeugend. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Hybreas auf Alexanders Rückkehr nach Babylon im Jahr 323 v.Chr. bezieht. Das Perfekt ἔσχηκε ist daher mit Winterbottom (1974) II 551 als „has found“ zu übersetzen. Der Deklamator äußert den absurd erscheinenden Gedanken, dass ein Seher Alexander vom Einmarsch nach Babylon abhalten soll.

5 suas. 5 5.1 Einleitung Die historische Situation Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Xerxes den Athenern gedroht hat, zurückzukehren, falls diese die Siegestrophäen nicht beseitigen. Insofern handelt es sich wohl bei dem Thema dieser Suasorie in der Form, in der es sich uns präsentiert, um eine Zuspitzung der historischen Tatsachen. Jedoch ist das Thema nicht bloße Fiktion, wie es die bisherige Forschung behauptet.⁶¹ Denn zum einen lässt sich eine bestimmte historische Situation angeben, die durch das Thema evoziert wird, nämlich die Phase nach der Seeschlacht vor der Insel Salamis im September 480 v.Chr., in der die Griechen unter Themistokles’ Führung den Sieg über die Perser errungen haben. Die im Thema genannten Trophäen sind daher diejenigen, die die Griechen nach den Siegen bei Marathon (490 v.Chr.) und vor Salamis aufgestellt haben.⁶² Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass es auch möglich ist, dass die Situation nach den Schlachten bei Plataiai und Mykale (479 v.Chr.) gemeint ist.⁶³ Die Annahme, dass die fiktive Debatte nach der Schlacht vor Salamis stattfindet, ergibt sich daraus, dass in den Exzerpten der Deklamatoren keine spätere Schlacht genannt wird.⁶⁴ Sie ist insofern wahrscheinlich, als das Argument des Deklamators Fuscus, dass Xerxes’ Streitmacht so geschwächt ist, dass er nicht zurückschlagen wird, durch die Schlachten bei Marathon und vor Salamis und nicht durch diejenige bei Plataiai untermauert wird.⁶⁵

61 Edward (1928) 128, Winterbottom (1974) II 551 Fußn. 4, Zanon dal Bo (1988) 155, Håkanson ad loc., Adiego Lajara (et al.) (2005) 307 Fußn. 70 und Migliario (2007) 98 bezeichnen das Thema dieser Suasorie als „rein fiktiv“. Wie unsere folgenden Bemerkungen zeigen, kann es nicht darum gehen, ein Thema als fiktiv (im Sinne bloßer Fiktion) oder nicht fiktiv zu bezeichnen, da sich alle historischen Suasorienthemen zwischen Realität und Fiktion bewegen. Es kann höchstens der Grad der Fiktionalisierung bewertet werden. 62 Für die Trophäen bei Marathon vgl. Plat. Mx. 240d; Aristoph. Vesp. 711; Cic. Tusc. 4,44; Val. Max. 8,14 ext. 1; Paus. 1,32,5; Plut. Themistocles 3,4; für die Trophäen auf Salamis vgl. Paus. 1,36,1; Cic. Tusc. 1,110; Migliario (2007) 98 Fußn. 71. 63 Vgl. die Situation in Himerios’ or. 5 (s. S. 87 f.). 64 Migliario (2007) 98 ist – soweit wir sehen – die einzige Forscherin, die sich Gedanken über den Zeitpunkt der fiktiven Debatte macht, und ist ebenfalls der Meinung, dass sie zwischen den Schlachten vor Salamis und bei Plataiai anzusetzen ist. 65 Vgl. Fuscus §§ 1f. In den uns überlieferten Exzerpten nennt nur dieser Deklamator Schlachten zwischen den Griechen und Persern.

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5 suas. 5

Ferner sind die Rachegelüste der Perser nicht nur – aus der Situation nach der Schlacht vor Salamis heraus betrachtet – wahrscheinlich, sondern sie entsprechen insofern historischen Tatsachen, als die Perser im Frühjahr 479 v.Chr. erneut in Attika einfielen, aber schließlich bei Plataiai vernichtend geschlagen wurden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass in dieser Suasorie die Situation nach der Schlacht bei Plataiai evoziert wird, lassen sich die Rachegelüste der Perser insofern belegen, als es auch nach den Perserkriegen militärische Auseinandersetzungen zwischen den Griechen und Persern gab.⁶⁶ Daher lässt sich im Fiktionalisierungsgrad dieser Suasorie kein nennenswerter Unterschied zu den anderen Suasorienthemen feststellen. Innerhalb der Suasoriensammlung des älteren Seneca dürfte man allenfalls die sechste und siebente Suasorie als bloße Fiktion bezeichnen und darin dem Urteil des älteren Seneca folgen.⁶⁷

Ähnliche Deklamationen In der Sammlung des älteren Seneca ist auch das Thema der zweiten Suasorie den Perserkriegen entlehnt, nämlich der Schlacht bei den Thermopylen, die unmittelbar vor der Seeschlacht vor Salamis stattgefunden hat. In Himerios’ fünfter Deklamation wird eine Situation hergestellt, die insofern mit diesem Suasorienthema vergleichbar ist, als ebenfalls zwischen den Athenern und den Persern über mögliche militärische Auseinandersetzungen verhandelt wird.⁶⁸ Die Trophäen wiederum lassen an zwei andere Deklamationen denken,⁶⁹ und zwar zum einen an ein Suasorienthema, das bei Apsines (219,16 H.) überliefert ist: ἔδοξε τοῖς Ἕλλησι καταλῦσαι τὸν Πελοποννησιακὸν πόλεμον· γράφει τις καὶ τὰ τρόπαια ἀναιρεῖν. Zum anderen entbrennt laut einem Kontroversienthema, das in De inventione (2,69) überliefert ist, Streit über die Trophäen, die die Thebaner nach dem Sieg über die Spartaner in der Schlacht bei Leuktra (371 v.Chr.) aufgestellt haben: cum Thebani Lacedaemonios bello superavissent et fere mos esset Graiis, cum inter se bellum gessissent, ut ii, qui vicissent, tropaeum aliquod in finibus statuerunt victoriae modo in praesentiam declarandae causa, non ut in perpetuum belli memoria maneret, aeneum statuerunt tropaeum. accusantur apud Amphictyonas.

66 Ab 470 v.Chr. fanden unter Kimon wieder Kriegshandlungen gegen die Perser statt; vgl. Plut. Kimon 12– 14. 67 Vgl. suas. 6,14 f. mit dem Kommentar zur Stelle. 68 S. unseren Überblick über die antike Suasorie (S. 87 f.). 69 Vgl. Kohl (1915) 44.

5.2 Kommentar

359

Aufbau der Suasorie Auch in dieser Suasorie ist die eine Seite deutlich stärker vertreten als die andere, denn nur ein Deklamator plädiert dafür, die Trophäen zu beseitigen (vgl. § 8). Der Grund dafür, dass die Deklamatoren bevorzugen, für die Bewahrung der Trophäen zu sprechen, liegt wohl in deren ideelen Wert und damit letztlich darin, dass diese Position einfacher zu vertreten ist.

5.2 Kommentar Thema Deliberant Athenienses, an tropaea Persica tollant Xerse minante rediturum se, nisi tollerentur: Für die historische Situation s. die Einleitung. Das Adjektiv Persica [sc. tropaea] bezeichnet hier das Volk, das besiegt wurde und insofern den Anlass zur Errichtung der Trophäen lieferte. Für diesen Gebrauch eines Adjektivs, das einen Eigennamen enthält, mit Bezug auf Trophäen haben wir keine Parallele gefunden. Normalerweise gibt das Adjektiv in diesem Kontext entweder den Sieger (vgl. Partha tropaea Prop. 3,4,6) oder den Ort der Schlacht (vgl. Marathonium tropaeum Nep. Them. 5,3; Salaminium tropaeum Cic. Tusc. 1,110) an. Die Angabe des besiegten Volkes erfolgt i. d. R. durch einen Präpositionalausdruck; vgl. Sall. hist. fr. 89: de victis Hispanis tropaea in Pyrenaei iugis constituit. Den ungewöhnlichen Gebrauch des Adjektives Persica [sc. tropaea] muss man wohl auf die brevitas zurückführen, die charakteristisch für die Themenangabe ist. Die Orthographie von tropaea ist insofern unsicher, als in den Handschriften zu dieser Suasorie teilweise auch die Formen tropea, trophaea und trophea überliefert sind. Wie Håkanson (1989) 354 bevorzugen wir durchgehend die nicht-aspirierte, diphthongierte Form, ohne dies im Apparat zu jeder Stelle zu bemerken. Xerxes’ Name wird in den Handschriften zu dieser Suasorie teils mit -s- und teils mit -x- in der Endsilbe geschrieben. Da die Form Xerses auch bei Cicero (Ausnahme: Tusc. 5,20) in den besten Handschriften steht (vgl. Müllers Cicero-Ausgabe IV 2 [1878] VII), bevorzugen wir wie Håkanson (s.o.) diese Lesart hier (Xerse) und in der gesamten Suasorie.

Erster Teil (1 – 3) 1– 3 ARELLI FVSCI: Wie in der zweiten, dritten und vierten Suasorie steht ein Exzerpt aus Fuscus’ Deklamation am Anfang. Damit bleibt Seneca d.Ä. seiner

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5 suas. 5

Ankündigung aus suas. 2,10 treu, vornehmlich dessen Beschreibungen zu referieren (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Diese Ankündigung wiederholt er ferner am Ende der zweiten, dritten und vierten Suasorie. Zu Fuscus’ Exzerpt vgl. Huelsenbeck (2009) 308 – 325. Pudet me victoriae vestrae, si fugatum creditis Xersem, ut reverti possit: Zunächst argumentiert Fuscus wie suas. 2,1 mit der Kategorie des honestum. Innerhalb dieser Kategorie bezieht er sich jedoch nicht – wie man annehmen könnte – auf eine mögliche zukünftige Schlacht („es wäre feige, einer möglichen Schlacht aus dem Weg zu gehen“), sondern auf die vorigen Auseinandersetzungen mit den Persern (vgl. den übernächsten Satz).Wie Bursian (1857) 24 und Kiessling (1872) 30 lesen wir mit den besten Handschriften si vor fugatum. Eine Ergänzung von sic, die C.F.W. Müller, Gertz und Otto (1885) 416 vorschlagen und Håkanson (1989) 354 und Müller (1887) 554 übernehmen, oder ita, die Bursian (s.o.) erwägt, halten wir für unnötig. Fraglich ist nur, ob ut einen Konsekutiv- oder einen Finalsatz einleitet (konsekutives ut erfordert nicht zwingend ein Wort für „so“, mit dem es korreliert; vgl. Cato agr. 151,4: siquando non pluet, uti terra sitiat; Liv. 5,43,3: strage ac ruina fudere Gallos, ut nunquam postea […] temptaverint tale pugnae genus). Etwas pointierter ist wohl die Auffassung als Finalsatz. Zur Orthographie von Xerses s. den Kommentar zum Thema. Da die besten Handschriften den Akkusativ Xersem überliefern, lesen wir diese Form, wenngleich der Akkusativ in §§ 6 – 8 auf -en gebildet wird und die Recentiores hier Xersen überliefern. Der Akkusativ Xersem ist auch Cic. off. 3,48 und Curt. 5,6,1 überliefert. In den Handschriften zu Val. Max. 8,7,15 finden sich beide Akkusativformen. Das Possessivpronomen vester drückt hier wohl Distanzierung aus. Daher dürfte Lucarinis (2008) 145 Änderung von vestrae zu nostrae unnötig sein. tot caesa milia, nihil ex tanta acie relictum minanti, nisi quod vix fugientem sequi possit; totiens mersa classis: Wie in dem Exzerpt des unbekannten Deklamators suas. 1,1 beinhaltet diese Beschreibung eine stichwortartige Aufzählung. Der Deklamator bezieht sich zunächst pauschal auf die Verluste der Perser in den Schlachten, die zu Lande und zur See gegen die Griechen ausgetragen wurden. Wie aus dem nächsten Satz deutlich wird, hat er dabei die Schlachten bei Marathon und Salamis im Hinterkopf. In § 2 wird der Gedanke, dass Xerxes vernichtend geschlagen ist, wiederholt: extincta tot ante Xersem milia, tot sub ipso iacuerunt; nulli nisi qui fugerunt supersunt. Die Angaben des Deklamators sind stark übertrieben (um nicht zu sagen, dass sie – historisch betrachtet – falsch sind), denn während Xerxes mit der persischen Flotte nach der Seeschlacht vor Salamis in die Heimat zurückkehrte, blieb der Großteil des Heeres in Griechenland (vgl. Herodot 8,100 und 107 f.; Migliario [2007] 99). Und davon, dass die persische

5.2 Kommentar

361

Flotte unzählige Male vernichtet wurde, kann keine Rede sein, da die Griechen zwar in der Seeschlacht vor Salamis gegen die Perser gesiegt haben, aber keine andere Seeschlacht von dem Deklamator genannt werden kann. Denn die Schlacht von Mykale fand etwa gleichzeitig zu der Schlacht bei Plataiai statt (und liegt damit – im Vergleich zu der Situation dieser Suasorie – später) und die Schlacht bei Artemision, die zeitgleich zu derjenigen bei den Thermopylen stattfand, wurde von den Griechen nicht gewonnen. Daher erinnert diese Stelle an diejenige aus der zweiten Suasorie (suas. 2,1), wo Fuscus in einer Praeteritio die angeblich zahllosen Erfolge der Spartaner vor der Schlacht bei den Thermopylen hervorscheinen lässt (man beachte auch die Wiederholung von tot): an repetam tot acies patrum totque excidia urbium, tot victarum gentium spolia? Mit acies ist wohl die gesamte Streitmacht der Perser gemeint. Das Zahlwort milia wird hier (wie in § 2) elliptisch für „tausende“ oder „unzählige Soldaten“ benutzt; vgl. suas. 2,1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit. Quid Marathona, quid Salamina referam?: Vgl. § 2: quid dicam Salamina? In einer praeteritio nennt Fuscus die beiden Schlachten, in denen die Griechen die Perser zuvor bezwungen haben, nämlich zum einen die Schlacht bei Marathon (490 v.Chr.), in der die Perser unter König Dareios geschlagen wurden, und zum anderen die Seeschlacht bei Salamis (s. Einleitung). Für die Praeteritio vgl. suas. 2,1 (s. die vorige Anmerkung). Für den Ruhm, der für die Griechen mit der Schlacht vor Salamis verbunden ist, vgl. Cic. Tusc. 1,110: ante enim Salamina ipsam Neptunus obruet, quam Salaminii tropaei memoriam. pudet dicere: dubitamus adhuc, an vicerimus: Vgl. weiter oben: pudet me victoriae vestrae, si fugatum creditis Xersem, ut reverti possit. Hier handelt es sich wohl um eine Sentenz, die das Argument, dass Xerxes vernichtend geschlagen ist, abschließt. Auf ähnliche Weise klammert pudet in Fuscus’ Beschreibung suas. 2,1 das Argument ein, dass die Spartaner gegenüber den Persern in einer geostrategisch günstigeren Position sind (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Xerses veniet?: Der Deklamator bestreitet im Folgenden, dass Xerxes zurückkehren wird. Eine ähnlich kurze Frage, die die Position der Gegenseite ausdrückt und anschließend zurückgewiesen wird, benutzt Fuscus suas. 4,3: futura nuntiant? nescio quomodo languet circa memoriam iacturae animus et disturbata arma non repetit: Der Deklamator meint, dass Xerxes nach der Niederlage in der Schlacht vor Salamis den Mut verloren hat, einen neuerlichen Angriff auf Griechenland zu starten. Håkanson ad loc. macht zu Recht auf den Doppelcharakter dieses Satzes aufmerksam, denn ob dieser Satz wie die folgenden einen allge-

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5 suas. 5

meinen Sinn hat, der auch für Xerxes gilt, oder sich noch konkret auf Xerxes bezieht, lässt sich nicht entscheiden. Man beschreibt seine Funktion wohl am besten als Überleitung zu allgemeinen Erwägungen. Die Junktur languere circa begegnet hier zum ersten Mal in der lateinischen Literatur und findet sich erst bei Tertullian wieder (adv. Marc. 1,2,2). Die Präposition circa bedeutet hier „angesichts“; vgl. Quint. inst. 1 praef. 4: nullam ingenii sperantes gratiam circa res […] procul […] ab ostentatione positas; Tac. hist. 1,13,1: circa consilium eligendi successoris in duas factiones scindebantur. In arma scheinen die beiden Bedeutungen „Waffen“ und „Soldaten“ bzw. „Heer“ (vgl. § 2 und suas. 2,18 mit dem Kommentar zur Stelle) präsent zu sein, da das Attribut disturbata die zweite Bedeutung, das Verb repetere hingegen die erste Bedeutung nahe legt. Daher ist die Junktur disturbata arma zwar ungewöhnlich, aber wohl möglich und muss nicht emendiert werden. Håkanson ad loc. erwägt aufgrund fehlender Parallelen, bis turbata zu lesen, verwirft aber selbst den Gedanken. prior enim metus futuri pignus est, et amissa, ne audeat, amissurum monent: Futuri sc. metus: „Vorige Furcht ist nämlich eine Garantie für zukünftige Furcht“, d. h. „wenn jemand zuvor Angst hatte, wird er auch in der Zukunft Angst haben“. Zugunsten einer gnomischen Sentenz leidet die Klarheit der Aussage, denn es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welche Entsprechung die vorige Angst bei Xerxes hat. Auf die Situation vor der Schlacht vor Salamis wird sich der Deklamator kaum beziehen, da es keinen Grund gibt anzunehmen, dass Xerxes damals Angst vor den Griechen hatte. Wahrscheinlich meint er, dass Xerxes nach der Niederlage vor Salamis geängstigt ist und dies auch in Zukunft sein wird. Diesen Sinn unterstützt auch der zweite Teil des Satzes. Für absolutes audere vgl. ThLL II 1255,64– 1256,30; Cic. de orat. 3,94: hos vero novos magistros nihil intellegebam posse docere, nisi ut auderent. Ein ähnliches Polyptoton wie amissa […] amissurum benutzt Fuscus suas. 6,5: ab armis ad arma discurritur. Schotts Konjektur pignus statt regnus scheint uns sinnvoller und einfacher zu sein als Huelsenbecks (2009) 309 Konjektur augur, durch die zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Xerxes’ Furcht ihn vor der Zukunft warnt. ut interdum in gaudia surgit animus et spem ex praesenti metitur, ita adversis frangitur: Edward (1928) 128 meint, dass die Aussage dieses Satzes nicht allgemein ist, und bezieht die guten Zeiten auf Xerxes’ gegenwärtige Stärke, während die schlechten Zeiten für Xerxes’ Niederlagen in der Vergangenheit stünden. Diese Auffassung weist Håkanson ad loc. zu Recht zurück. Denn zu sagen, dass Xerxes erfreut über seine gegenwärtige Macht ist, würde Fuscus’ Argumentation widersprechen, denn er meint ja, dass Xerxes nicht zurückkehren wird, und führt als einen Grund dafür dessen momentane militärische Schwäche

5.2 Kommentar

363

und Niedergeschlagenheit an. Für die Allgemeingültigkeit dieses Satzes spricht ferner der topische Gegensatz zwischen guten und schlechten Zeiten. Auf der anderen Seite bedeutet die Tatsache, dass eine allgemeingültige Aussage vorliegt, natürlich nicht, dass sie nicht auch auf Xerxes zu beziehen ist. Dieser Bezug kann aber nur so gemeint sein, dass Xerxes derzeit niedergeschlagen ist, während er zuvor erfolgreich und glücklich war. In gewisser Weise widerspricht dieser Gedanke demjenigen, der im vorigen Satz formuliert wurde, da es dort heißt, dass Angst andauert. Jahns Konjektur in gaudio anstelle des überlieferten in gaudia wird zwar noch von Bursian (1857) 24, Kiessling (1872) 31, Müller (1887) 554, Bornecque (1902) II 324, Edward (1928) 20 und Zanon dal Bo (1988) 154 gelesen, aber von Winterbottom (1974) II 552 und Håkanson (1989) 354 zu Recht verworfen. Wie Thomas (1886) 55 bemerkt, ist diese Konjektur überflüssig, da surgere hier wie in § 3 mit in und Akkusativ konstruiert wird (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle): difficile est […] in melioris eventus fiduciam surgere. Außerdem geht der Gegensatz zwischen guten und schlechten Zeiten auch so aus dem Satz hervor, ohne dass in gaudio als Gegenstück zu adversis [sc. rebus] hergestellt werden muss. omnis sistit animum dies, ubi ignominia spem premit, ubi nullam meminit aciem, nisi qua fugerit: In der Textkonstitution, der wir folgen, beschreibt der Deklamator eindringlich die Frustration des Feldherrn, der in der Schlacht geschlagen wurde. Wie der Gedanke aus dem vorigen Satz fortgesetzt wird, ist allerdings umstritten. Håkanson (1989) 354 ändert die unhaltbare Überlieferung omnis est sit animum dies zu omne excitat animum decus und stellt damit einen Bezug zu den guten Zeiten aus dem ersten Teil des vorigen Satzes her (hinter decus interpungiert er stark). Diese Konjektur ist jedoch im Vergleich zu anderen (s.u.) schwierig, da sie außer animum alle Elemente betrifft. Auch ist fraglich, ob – wie im vorigen Satz – sowohl die guten als auch die schlechten Zeiten genannt werden oder ob gleich der in ita adversis frangitur ausgedrückte Gedanke fortgesetzt wird, wie alle anderen Forscher annehmen (vgl. Müller [1887] 554): Schott liest omnis destituit animum spes; Linde omnis deficit animum vis (das Prädikat deficit wurde auch von Gertz vorgeschlagen); Bursian (1857) 24 omnis destruit animum dies; Thomas (1886) 55 omnis sistit animum dies. Novák emendierte zuerst est sit zu deserit, dann (1908) 264 f. schlug er omnis compescit animum dies vor. Ferner wurde von Eussner fides anstelle von dies vorgeschlagen, ohne dass klar ist, welches Prädikat er liest (möglicherweise deficit, da Müller eine Kombination dieser beiden Emendationen liest). Huelsenbeck (2009) 309 schließlich verknüpft Eussners und Schotts Konjekturen: omnis destituit animum fides. Da Thomas’ Konjektur sistit paläographisch die einfachste ist, übernehmen wir diese, auch wenn wir für die Junktur sistere animum i.S.v. „den Mut hemmen“ oder „lähmen“ keine Parallele gefunden haben. Dafür sind z. B. sistere aciem (Liv. 2,65,2), sistere

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5 suas. 5

equos (Verg. Aen. 12,355) und sistere fugam (Sen. epist. 69,1) belegt, wo sistere „zum Stillstand bringen“ bedeutet, und der übertragene Gebrauch liegt z. B. bei Seneca d.J.vor (epist. 110,9): nec intra haec humani ingenii sagacitas sistitur. Das Subjekt zu meminit ist wohl animus. Das Substantiv acies bedeutet hier – anders als zuvor – „Schlacht“ (vgl. ThLL I 409,41– 412,15; suas. 1,5; 2,1; 6,6). Für die Wiederholungsfigur vgl. tot […] tanta […] totiens weiter oben mit dem Kommentar zur Stelle. errat circa damna sua, et quae male expertus est vota deponit: Errat sc. animus. Die Herausgeber seit Müller (1887) 554 lesen mit Cornelissen (1878) 311 haeret anstelle des überlieferten errat. Da das Subjekt des Satzes immer noch animus zu sein scheint, halten wir die Überlieferung für unproblematisch. Für den übertragenen Gebrauch von errare vgl. Fuscus contr. 7,7,18: Fuscus Arellius dixit alienatum iam suppliciis animum et errantem has voces effudisse. Für die Konstruktion mit circa vgl. Prop. 4,9,35; contr. 10,4,7. Si venturus esset, non minaretur: Xerxes würde den Überraschungseffekt ausnutzen. Derselbe Gedanke findet sich fast in derselben Formulierung am Anfang von § 2: non denuntiaret, si venturus esset. Eine ähnliche Wiederholung ist bei der Verwendung des Salamis-Beispiels in den §§ 1 und 2 und bei dem Gedanken aus § 1 festzustellen, dass es eine Schande ist, nicht an den eigenen Sieg zu glauben. Historisch gesehen ist es plausibel, dass Xerxes den Athenern seine Rückkehr nicht ankündigen würde, da er zwar vor der Invasion 480 v.Chr. Herolde zu den griechischen Stadtstaaten ausgeschickt hat, um Erde und Wasser als Symbole der Unterwerfung einzufordern. Aber Athen und Sparta hat er ausgenommen, da diese beiden Städte die Gesandten des Dareios im vorigen Feldzug getötet hatten (vgl. Herodot 6,48; 7,32 und 133). suis ira ardet ignibus et in pacta non solvitur: Die Aussage ist allgemein gehalten, lässt sich aber auch auf Xerxes beziehen: Der Deklamator meint, dass dieser so sehr erzürnt ist, dass er sich keine Gedanken um Vereinbarungen macht. Mit diesen Vereinbarungen (pacta) ist offenbar die Angabe aus dem Thema gemeint, die im vorigen und im nächsten Satz thematisiert wird, dass nämlich Xerxes zurückkehrt, es sei denn, dass die Trophäen beseitigt werden. Damit bezweifelt er wie in der dritten und vierten Suasorie den Wahrheitsgehalt einer Angabe aus dem Thema: suas. 3,1 bestreitet er, dass die Griechen nur dann nach Troja segeln können, wenn sie Iphigenie opfern; suas. 4,1– 3 bezweifelt er, dass Prophezeiungen wahr sind. Schultings Konjektur saevis anstelle von suis, die Kiessling (1872) 31 übernimmt, weisen wir zurück, da das Possessivpronomen unproblematisch ist und auch zuvor verwendet wird (damna sua). Hier drückt es wohl aus, dass Xerxes über sich selbst erzürnt und mit sich selbst beschäftigt ist.

5.2 Kommentar

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2 Non denuntiaret, si venturus esset, neque armaret nos nuntio nec instigaret victricem Graeciam nec sollicitaret arma felicia: Der schon in § 1 geäußerte Gedanke, dass Xerxes den Überraschungseffekt zum Angriff ausnützen würde, wird hier entfaltet; vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: si venturus esset, non minaretur. Für armare nuntio (oder nuntiis) haben wir nirgends eine Parallele finden können. Das Substantiv arma bedeutet hier „Heer“; vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: disturbata arma non repetit. Die Junktur arma felicia findet sich in der Prosa zuvor bei Livius (31,7,14): experti iam sumus foris nobis quam domi feliciora potentioraque arma esse. magis superveniret improvidis iam et arma indenuntiata moveret: Magis nach einer Negation bedeutet hier – wie ceterum suas. 3,1 – soviel wie sed (vgl. ThLL VIII 60,22– 44). Das Adjektiv indenuntiatus kommt in der gesamten lateinischen Literatur nur hier und suas. 2,2 vor, wo es ebenfalls von Fuscus gebraucht wird (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Da im zweiten Teil dieses Satzes das überlieferte nam et insofern keinen Sinn ergibt, als zweimal derselbe Gedanke ausgedrückt ist, lesen wir mit Bursian (1857) 25 iam et; für weitere Konjekturen s. den Apparat. Edward (1928) 128 und Winterbottom (1974) II 552 Fußn. 1, die mit einer Überlegung von Bursian (s.o.), die er im Apparat äußert, nam et antea arma indenuntiata moverat lesen, monieren, dass die Aussage des Deklamators historisch gesehen falsch ist. Dieser Vorwurf ist zurückzuweisen, da Xerxes vor der Invasion 480 v.Chr. keine Gesandten nach Athen geschickt hat, um Erde und Land als Symbole der Unterwerfung einzufordern (s. den Kommentar zu si venturus esset, non minaretur in § 1), und klar ist, dass der Deklamator aus der Sicht der Athener spricht (so auch Håkanson ad loc.). Håkanson (1989) 354 emendiert moveret zu admoveret. Aber angesichts der Tatsache, dass arma movere phraseologisch ist (vgl. Liv. 1,3,4; Verg. Aen. 8,565), ist diese Konjektur unnötig. Håkansons Begründung ad loc., dass man Fuscus kaum eine clausula heroica zutrauen kann, darf wohl nicht als Argument gelten. Quantumcumque Oriens valuit, primo in Graeciam impetu effusum est: Den Gedanken, dass die Perser vernichtend geschlagen sind,verwendet Fuscus auch in § 1. Für die übertriebene Ansicht, dass die Streitmacht der Perser den ganzen Orient darstellt, vgl. Fuscus suas. 2,1 mit dem Kommentar zur Stelle: licet totum classe Orientem trahat. Mit dem ersten Ansturm meint der Deklamator wohl die beiden Schlachten aus dem Jahr 480 v.Chr. (bei den Thermopylen und vor Salamis). Gertz ist der Meinung, dass die Exzerpte ab hier nicht mehr zu Fuscus, sondern zu einem anderen Deklamator (möglicherweise Cestius) gehören (vgl. Müller [1887] 555). Da der Grund für Gertz’ Meinung wohl darin liegt, dass sich

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Gedanken wiederholen, die schon zuvor ausgedrückt worden sind, ist ihm nicht zuzustimmen. Denn auch bis hierher haben sich schon Gedanken wiederholt. hoc ille numero ferox et in deos arma tulerat: Als einen Angriff auf die Götter wird Xerxes’ Feldzug auch von Seneca Grandio suas. 2,17 dargestellt (s. den Kommentar zur Stelle): ponat sane contra caelum castra: commilitones habebo deos. Fuscus bezieht sich wohl auf die beiden Angriffe, die der Deklamator Saenianus suas. 2,18 nennt (s. den Kommentar zur Stelle): [sc. obsidet] caelum sagittis, maria vinculis; vgl. auch Cestius in § 4: illos [sc. deos] Xerses vinculis, illos sagittis persequebatur. Mit hic numerus bezieht sich Fuscus auf die sagenhafte Größe, über die die persische Streitmacht in seinen Augen einst verfügte (vgl. suas. 2,1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit), wohingegen diese nun dezimiert sei. extincta tot ante Xersem milia, tot sub ipso iacuerunt: Auch hier wird ein Argument wiederholt bzw. weiter entfaltet, das der Deklamator bereits in § 1 verwendet hat: tot caesa milia, nihil ex tanta acie relictum minanti, nisi quod vix fugientem sequi possit; totiens mersa classis. Die Bedeutung der Präpositionen ante und sub ist nicht klar. Die Übersetzer (vgl. z. B. Winterbottom [1974] II 553) gehen von zeitlichen Bedeutungen der Präpositionen und somit von einem Bezug auf die Schlacht bei Marathon im ersten Teil des Satzes aus (für sub i.S.v. „unter der Herrschaft von“ vgl. Sall. Iug. 19,7: Numidae usque ad flumen Muluccham sub Iugurtha erant). Es ist aber auch möglich, dass eine räumliche Bedeutung vorliegt und gemeint ist, dass viele Perser im Ansturm auf die Griechen bei den Thermopylen getötet oder von den eigenen Leuten zu Boden getreten wurden (vgl. Herodot 7,223,3). Die Tatsache, dass Xerxes sich den Kampf von einem Stuhl (θρόνος) aus angesehen hat (vgl. Herodot 7,212,1), und das Verb iacere scheinen eher die zweite Möglichkeit nahezulegen, da iacere sub aliquo eine ungewöhnliche Formulierung für den Gedanken wäre, dass viele Soldaten unter Xerxes’ Herrschaft gestorben sind. Das Zahlwort milia wird wie in § 1 elliptisch mit Bezug auf die Soldaten verwendet; s. dort mit dem Kommentar zur Stelle. Für die Wiederholung von tot vgl. ebenfalls die zitierte Stelle aus § 1 mit dem Kommentar zur Stelle. nulli nisi qui fugerunt supersunt: Dieses Argument findet sich beinahe gleichlautend in § 1 (s. die vorige Anmerkung). quid dicam Salamina?: Vgl. ebenfalls § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: quid Salamina referam?

5.2 Kommentar

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quid Cynaegiron referam et te, Polyzele?: Kynaigiros und Polyzelos sind zwei Griechen, die in der Schlacht bei Marathon gegen die Perser heldenhaft gekämpft haben (für Fuscus’ Erwähnung von Marathon vgl. § 1). Kynaigiros, ein Bruder des Aischylos, soll sich an einem Schiff der Perser festgehalten haben, woraufhin ihm die Hand bzw. die Hände abgeschlagen wurde(n) und er sein Leben verlor (vgl. Herodot 6,114; Plut. Parall. 305 B-C). Polyzelos ist wohl derjenige Soldat, den Herodot Epizelos nennt und von dem er berichtet, dass er nach eigener Aussage das Augenlicht verlor, als er in der Schlacht einem riesigen Hopliten begegnete (Herodot 6,117,2 f.; vgl. Plut. ib.). Der Deklamator folgt wohl, wie aus dem nächsten Satz hervorgeht und von Clausen (1976) 2 bemerkt wird, der ‘rhetorischen’ Version, die sich auch bei Pseudo-Plutarch findet und der zufolge zumindest Polyzelos Stratege und kein einfacher Soldat in der Schlacht bei Marathon war. Für Kynaigiros vgl. auch Val. Max. 3,2,22. Für die Praeteritio, in der Vorbilder genannt werden, vgl. Fuscus suas. 2,2: quid Lycurgum, quid interritos omni periculo, quos memoria sacravit viros, referam? et hoc agitur, an viceris!: Der Gedanke ist derselbe wie in § 1: die Athener sollen sich sicher sein, dass sie Xerxes endgültig vernichtet haben: pudet dicere: dubitamus adhuc, an vicerimus. Allerdings liegt hier ein konkreter Bezug auf eine Person und eine Schlacht vor. Denn es handelt sich um eine Apostrophe an Polyzelos, den der Deklamator schon im vorigen Satz mit te anspricht, weshalb das überlieferte viceris gehalten werden muss (vgl. Clausen [1976] 1). Haec ego tropaea dis posui, haec in totius conspectu Graeciae statui, ne quis timeret Xersen minantem: Den ideellen Wert der Trophäen benutzt auch Cestius als Argument, wie aus dessen divisio hervorgeht (§ 4): [sc. dixit] non licere Atheniensibus tropaea tollere: commune in illis ius totius Graeciae esse, commune bellum fuisse, communem victoriam. Der Gebrauch der ersten Person Singular könnte darauf hindeuten, dass Fuscus von der Prosopopoiie Gebrauch macht und sich in die Rolle des Themistokles versetzt, unter dessen Führung der Sieg vor Salamis errungen wurde (zur Suasorien-Prosopopoiie s. S. 5 – 7). Allerdings würde sich der Deklamator in Themistokles’ Rolle Meriten zuschreiben, die ihm nicht alleine zustehen, denn man darf zwar sagen, dass Themistokles die Trophäen auf Salamis aufgestellt hat (die dortige Trophäe wurde auch als τὸ Θεμιστοκλέους τρόπαιον κατὰ Περσῶν bezeichnet; vgl. IG2 II-III 1035,33). Aber die Trophäen bei Marathon hat Miltiades aufstellen lassen. Daher ist davon auszugehen, dass der Deklamator hier stellvertretend für die Gruppe der Athener spricht. Da es nur wenige und spätantike Belege für deponere mit Bezug auf die Errichtung von Monumenten gibt (vgl.ThLLV 1,577,7– 12), übernehmen wir wie die Herausgeber seit Müller (1887) 555 C.F.W. Müllers Konjektur dis posui anstelle des überlieferten deposui [sc. tropaea].

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me miserum! pugnante Xerse tropaea posui; fugiente tollam?: Trotz der Gleichzeitigkeit der Partizipien wird in diesem Paradoxon wohl der Gedanke ausgedrückt, dass es widersinnig wäre, nach Xerxes’ Flucht die Trophäen zu beseitigen, nachdem sie im Anschluss an den Sieg über ihn aufgestellt worden sind. nunc Athenae vincimur: non tantum credetur redisse sed vicisse Xerses: Der Deklamator meint, dass die Beseitigung der Trophäen deren symbolischen Wert, nämlich den Sieg der Griechen über die Perser, in das Gegenteil verkehren würde, so dass es so aussieht, als hätte Xerxes nicht nur seine angedrohte Rückkehr wahrgemacht, sondern sogar die Griechen bei Marathon und vor Salamis besiegt. Für den metonymischen Gebrauch von Athenae i.S.v. „Bürger aus Athen“ vgl. Ov. met. 7,507: ne petite auxilium, sed sumite, […] Athenae; Val. Max. 8,11 ext. 1. non potest Xerses nisi per nos tropaea tollere: Nur die Athener können die Trophäen beseitigen, da Xerxes militärisch gesehen nicht in der Lage ist, die Athener zu besiegen und die Trophäen zu zerstören. Für das zugrundeliegende Argument, dass die Griechen die Perser besiegen würden, wenn es erneut zur Schlacht käme, vgl. die divisio (§ 4). 3 credite mihi, difficile est attritas opes recolligere et spes fractas novare et paenitenda acie in melioris eventus fiduciam surgere: Auch das Argument, dass es nach einer Niederlage bzw. in schlechten Zeiten schwierig ist, neuen Mut zu schöpfen, hat Fuscus bereits vorher benutzt; vgl. § 1: nescio quomodo languet circa memoriam iacturae animus et disturbata arma non repetit. prior enim metus futuri pignus est, et amissa, ne audeat, amissurum monent. Für die Beteuerungsformel crede bzw. credite mihi vgl. innerhalb der Suasoriensammlung suas. 2,17; 6,1; 7,8. Die Rektion von surgere, einem Lieblingswort des Deklamators (vgl. § 1; suas. 2,1; assurgere suas. 3,1 und 4), bereitet Schwierigkeiten. Der Präpositionalausdruck in melioris eventus fiduciam lässt sich entweder so interpretieren, dass fiduciam von der Präposition in abhängt und melioris eventus Genetiv ist, oder so, dass fiduciam von surgere abhängt und melioris eventus Akkusativ Plural in Abhängigkeit von fiduciam surgere in ist. Die sprachlichen Belege sprechen gegen die zweite Interpretation (wir verfügen über keine Parallelen für die Verknüpfung von surgere und fiducia): Erstens verzeichnet die Standardgrammatik keinen Akkusativ Plural auf -is vom Komparativ (vgl. L.-H.-Sz. I, S. 440 f.); vgl. aber Hartmann (1920) 254. Zweitens ist transitives surgere nur zweifelhaft belegt; vgl. suas. 2,1 mit dem Kommentar zur Stelle. Andererseits spricht der vorliegende Parallelismus für die zweite Möglichkeit (fiduciam surgere müsste soviel wie „Zuversicht schöpfen“ heißen). Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 31 ergänzen mit Schulting ex vor

5.2 Kommentar

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paenitenda. Jedoch ist diese Supplierung wohl unnötig, da sich paenitenda acie als bloßer Ablativus separativus erklären lässt, wie er nach surgere dichterisch belegt ist; vgl. Prop. 2,22,31: ferus Andromachae lecto cum surgeret Hector; Ov. met. 9,702: laeta toro surgit. CESTI PII: Gertz erwägt, den Namen des Deklamators vor den Satz quantumcumque Oriens valuit primo in Graeciam impetu effusum est in § 2 zu stellen (vgl. Müller [1887] 555).Wie wir jedoch zu jener Stelle kommentiert haben, sind die sich wiederholenden Argumente des Fuscus kein Grund für die Annahme, dass die Exzerpte von zwei Deklamatoren vermischt wurden. ‘Inferam’ inquit ‘bellum’; alia mihi tropaea promittit: Cestius zitiert sinngemäß Xerxes’ Drohung aus dem Thema und meint, dass eine weitere Schlacht dazu führen würde, dass die siegreichen Griechen zusätzliche Trophäen aufstellen.Vgl. Pompeius Silo in § 7: ‘nisi tollitis’ inquit ‘tropaea, ego veniam’; hoc ait Xerses: nisi haec tropaea tollitis, alia ponetis. Potest maior venire quam victus est?: Der Deklamator weist darauf hin, dass Xerxes nicht mit einem größeren Aufgebot angreifen kann als mit demjenigen, mit dem er in der Schlacht vor Salamis besiegt wurde. Vgl. die Angaben über Cestius’ divisio (§ 5): ut veniat, cum quibus veniet? reliquias victoriae nostrae colliget. Thomas (1900) 209 und Winterbottom (1974) 26 haben Lindes Supplierung quom hinter quam ebenso wie diejenige von Schenkl, der antequam ergänzt (vgl. Müller [1887] 555), zu Recht zurückgewiesen. Denn die Frage potest maior venire quam victus est? ist als Brachylogie statt potest maior venire quam tum fuit, cum victus est? zu verstehen. Non pudet vos? pluris tropaea vestra Xerses aestumat quam vos: Für pudet und die Kategorie des honestum vgl. Fuscus in § 1. Diese Sentenz ist zweideutig, da vos Nominativ oder Akkusativ sein kann (vgl. Edward [1928] 129). Daher kann sowohl gemeint sein, dass Xerxes den Trophäen größeren Wert beimisst, als die Athener ihnen beimessen (vos ist Nominativ), nämlich weil sie darüber nachdenken, sie zu beseitigen. Die Aussage, dass Xerxes den Trophäen größeren Wert beimisst als den Athenern (vos ist Akkusativ), wäre so zu verstehen, dass Xerxes’ Anlass zurückzukehren in den Trophäen besteht (wie aus dem Thema hervorgeht).

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Die divisio (4 – 6) FVSCVS sic divisit: Fuscus benutzt dasselbe Argumentationsschema, das er in der dritten Suasorie verwendet und in anderen Suasorien verwendet wird (s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 63 – 67, v. a. 65 f.): Zunächst argumentiert er gegen die Beseitigung der Trophäen unter der Prämisse, dass Xerxes zurückkehrt, wenn die Athener sie nicht beseitigen. Dann bestreitet er die Prämisse, d. h. er legt dar, dass Xerxes nicht zurückkehren wird. etiamsi venturus est Xerses, nisi tollimus, non sunt tropaea tollenda: Für die Form des Arguments s. die vorige Anmerkung und suas. 1,8: [sc. dixit] etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse. confessio servitutis est iussa facere: Zu diesem Argument, das zur Kategorie des honestum gehört, lassen sich keine Äußerungen aus Fuscus’ Exzerpt (§§ 1– 3) oder Parallelen bei einem anderen Deklamator zuordnen. si venerit, vincemus: Dieses Argument gehört noch zum ersten Teil der Argumentation: Sollte Xerxes zurückkehren, weil die Athener die Trophäen nicht beseitigen, werden sie ihn besiegen. Dieser Gedanke findet sich in § 2: extincta tot ante Xersem milia, tot sub ipso iacuerunt. hoc non est diu colligendum: de eo dico ‘vincemus’ quem vicimus: Fuscus meint, dass die Athener Xerxes besiegen werden, weil sie ihn schon zuvor besiegt haben. Eine ähnliche Schlussfolgerung verwendet der Deklamator in § 1, wo er den Gedanken äußert, dass Xerxes weiterhin Angst haben wird, weil er bereits jetzt Angst hat: prior enim metus futuri pignus est, et amissa, ne audeat, amissurum monent. sed ne veniet quidem: Mit diesen Worten wird der zweite Teil von Fuscus’ Argumentation zusammengefasst, in dem er bestreitet, dass Xerxes zurückkehren wird. Gerade dieser Teil der Argumentation liegt in dem Exzerpt, das sich in den §§ 1– 3 findet, vor. si venturus esset, non denuntiaret: Das Argument des Überraschungsangriffes stützt Fuscus’ These, dass Xerxes nicht zurückkommen wird. Vgl. § 1: si venturus esset, non minaretur; § 2: non denuntiaret, si venturus esset. fractus est et viribus et animo: Diesem stützenden Argument gelten die meisten Äußerungen, die sich in dem Exzerpt (§§ 1– 3) finden: Xerxes’ Heer ist zu stark

5.2 Kommentar

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dezimiert (viribus bezieht sich auf die militärische Streitmacht; vgl. § 8), und er selbst ist niedergeschlagen. Für die Niedergeschlagenheit vgl. z. B. § 1: nescio quomodo languet circa memoriam iacturae animus et disturbata arma non repetit; § 3: credite mihi, difficile est attritas opes recolligere et spes fractas novare et paenitenda acie in melioris eventus fiduciam surgere. CESTIVS: Cestius’ Strategie entspricht in den ersten beiden Schritten derjenigen des Fuscus, wenngleich er seine Argumente teilweise anders begründet: Zunächst spricht er sich generell gegen die Beseitigung der Trophäen aus. Dann bestreitet er, dass es einen Krieg geben wird, und unterstreicht dieses Argument durch den Hinweis darauf, dass Xerxes Angst vor einer weiteren Schlacht hat. Anders als Fuscus fügt jedoch Cestius ein drittes Argument hinzu, indem er feststellt, dass Xerxes mit einem dezimierten Aufgebot anrücken würde, wenn es erneut zur Schlacht käme. Bei Fuscus waren die dezimierten Truppen der Perser ein untergeordnetes Argument zur Bekräftigung der These, dass es keinen Krieg geben wird. CESTIVS et illud adiecit, quod in prima parte tractavit, non licere Atheniensibus tropaea tollere: commune in illis ius totius Graeciae esse, commune bellum fuisse, communem victoriam: Der erste AcI (non licere Atheniensibus tropaea tollere) zeigt, dass Cestius dasselbe übergeordnete Argument verwendet wie Fuscus. Die restlichen AcIs geben die untergeordneten Argumente an: Um die Meinung zu begründen, dass die Trophäen nicht beseitigt werden dürfen, verweist Cestius darauf, dass sie ein Symbol des Kampfes und Sieges ganz Griechenlands gegen Xerxes sind. Damit impliziert er, dass die Athener nicht allein über ihre Beseitigung entscheiden dürfen.Wie die Herausgeber seit Kiessling (1872) 32 lesen wir adiecit anstelle des überlieferten dicit, das Schulting zu dixit emendiert hat (vgl. Müller [1887] 556). Das Präsens dicit ist aufgrund des folgenden tractavit problematisch und angesichts der Tatsache, dass das Perfekt in der divisio das übliche Tempus ist, das Seneca d.Ä. benutzt, wenn er sich auf die Argumente der Deklamatoren bezieht. Gegenüber dixit ist adiecit besser, da adicere häufiger benutzt wird, um ein Argument zu bezeichnen, das der zuvor genannte Deklamator nicht verwendet hat; vgl. contr. 2,3,14: Gallio et superiore usus est quaestione et illam adiecit; 9,1,10; 9,2,17; suas. 6,11. Das Verb dicere wird – soweit wir sehen – in diesem Zusammenhang (et illud dixit) nicht verwendet. deinde, ne fas quidem esse: numquam factum, ut quisquam consecratis virtutis suae operibus manus adferret: Soweit wir wissen, hat der Deklamator historisch gesehen Recht mit der Aussage, dass noch nie jemand seine eigenen Trophäen beseitigt hat. Der ideelle Wert der Trophäen ist uns historisch aber in der Form überliefert, dass die Rhodier die Trophäe der feindlichen Königin Artemisia

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in ihrer Stadt auf Grund von Skrupeln nicht zerstörten, sondern überbauten, als sie die Herrschaft zurückerobert hatten (vgl.Vitr. 2,8,15). Ähnlich berichtet Cassius Dio (42,48,2), dass Caesar nach dem Sieg über Pharnakes bei Zela (vgl. suas. 2,22) eine alte Trophäe des Mithridates verschonte. Alle modernen Herausgeber lesen mit einer Konjektur, die sich zuerst in der Editio Frobeniana (1515) findet, manus adferret. In den Handschriften A und B ist munus ferret überliefert, in V munus auferret. Jahn schlägt die Konjektur inferret vor (vgl. Müller [1887] 556). Bursian (1857) 25 erwägt in seinem Apparat, consecratum virtutis suae operibus munus auferret zu lesen. Da wir für ferre i.S.v. auferre keine überzeugenden Parallelen gefunden haben, sollte zwischen der Lesart V und der Konjektur aus der Editio Frobeniana entschieden werden. Folgt man V, wäre consecratis […] operibus als Ablativus absolutus aufzufassen. Allerdings scheint die Formulierung dann etwas umständlich zu sein, da mit opus und munus im Grunde genommen zweimal derselbe Gegenstand bezeichnet wird. Daher lesen auch wir das phraseologische manus adferret (vgl. z. B. Cic. Verr. II 1,47). ista tropaea non sunt Atheniensium, deorum sunt: illorum bellum fuit, illos Xerses vinculis, illos sagittis persequebatur: Nachdem der Deklamator zuvor darauf hinwies, dass die Trophäen ganz Griechenland gehören, weist er ihren Besitz jetzt den Göttern zu. Für die Angriffe gegen die Götter mit Ketten und Pfeilen vgl. Fuscus in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: hoc ille numero ferox et in deos arma tulerat. haec omnia ad impiam et superbam Xersis militiam pertinent: Für Xerxes’ Hochmut s. die vorige Anmerkung und vgl. suas. 2,7 und 22 mit dem Kommentar zur Stelle, wo Xerxes als insolens barbarus bezeichnet wird. Wie Bursian (1857) 26 folgen wir der Handschrift V und lesen haec […] pertinent in diesem und ecquid am Anfang des nächsten Satzes. Anstelle von pertinent ecquid ist in den Handschriften A und B pertinent ea quid überliefert. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 32 lesen hic am Satzanfang, pertinentia am Satzende und lassen den nächsten Satz mit quid beginnen. Die Konjekturen scheinen uns unnötig zu sein, da die Lesart der Handschrift V einen guten Sinn ergibt und die Handschriften A und B nur in einem Buchstaben abweichen, indem sie ea quid statt ecquid überliefern. Für ecquid ergo vgl. Cic. Tusc. 1,15: ecquid ergo intellegis, quantum mali de humana condicione deieceris? 5 ecquid ergo bellum habebimus? habuimus, et si Xersem removebis, invenietur alius hostis: Cestius spielt die Gefahr einer möglichen kriegerischen Auseinandersetzung herunter, indem er darauf hinweist, dass ständig Kriege gegen große Reiche geführt werden müssen. Wie Håkanson ad loc. kommentiert,

5.2 Kommentar

373

lesen Müller (1887) 556, Bornecque (1902) II 326 und Edward (1928) 21 unnötigerweise mit Diels habuimus et habebimus, da der auf die Zukunft gerichtete Gedanke auch so deutlich genug zum Ausdruck kommt. Gegen alle Herausgeber seit Kiessling (1872) 32 halten wir das überlieferte Futur I removebis und übernehmen nicht Schultings Konjektur removeris (vgl. Müller [s.o.]). Der Gebrauch des einfachen Futurs erklärt sich dadurch, dass in hypothetischen Sätzen und verallgemeinernden Relativsätzen der Ausdruck der Vorzeitigkeit bisweilen unterbleibt (vgl. K.-St. II 1, S. 154) und hier ein hypothetischer Nebensatz mit generalisierendem Subjekt (der zweiten Person in removebis) vorliegt. Vgl. Cic. fin. 3,38: quid dici poterit, si […] statuemus; Phil. 12,28: omnia ad senatum […] reiciam, quaecumque postulabit Antonius. Für den textkritisch umstrittenen Satzanfang ecquid ergo s. die vorige Anmerkung. numquam magna imperia otiosa: Diesen Gedanken, der sich hier als Sentenz präsentiert, hat der Deklamator wohl in einem Locus communis entfaltet, um zu bekräftigen, dass ständig Kriegsgefahr lauert. Für die Sentenz vgl. Liv. 30,44,8: nulla magna civitas diu quiescere potest. enumeratio bellorum prospere ab Atheniensibus gestorum: Zu den von Cestius aufgezählten Kriegen gehören vermutlich die Schlachten bei Marathon und vor Salamis (s. Einleitung); vgl. Fuscus §§ 1– 2. Für die verkürzende, metaoratorische Aussage des älteren Seneca vgl. suas. 2,8 mit dem Kommentar zur Stelle: descriptio Thermopylarum. Für prospere im militärischen Sinn vgl. z. B. Liv. 7,19,1: duo bella eo anno prospere gesta. Bei enumeratio handelt es sich um eine überzeugende Konjektur von Kiessling (1872) 32 und Haase (vgl. Müller [1887] 556) anstelle der überlieferten Formen enim (A) bzw. omnium (BV). Novák (1915) 286 meint, dass eine Konjektur an dieser Stelle von der Form omnium auszugehen hat, da diese in zwei Handschriften bezeugt ist; er selbst schlägt hic mentio omnium vor. Jedoch halten wir die Annahme einer Verschreibung von enumeratio zu enim und omnium für einfacher als die Ergänzung von hic mentio. Håkansons (1989) 355 Erwägung, enumeratio omnium zu lesen, ist daher ebenfalls zurückzuweisen. deinde, non erit bellum; Xerses enim non veniet. multo timidiores esse, qui superbissimi fuerint: Wie Fuscus bestreitet Cestius im zweiten Teil der Argumentation, dass es einen Krieg mit Xerxes geben wird. Der Gedanke ist, dass die Perser vor der Schlacht vor Salamis hochmütig waren (vgl. § 4). Durch die Niederlage vor Salamis ist ihnen Angst vor den Griechen eingeflößt worden. Nun ist ihre Angst größer als ihr voriger Hochmut. Diese Begründung des Arguments, dass Xerxes nicht zurückkehren wird, entspricht derjenigen des Fuscus, die in den Worten fractus est […] animo in § 4 zusammengefasst ist. Hinter multo timidiores

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esse setzen die modernen Herausgeber anstelle des überlieferten quam entweder qui in den Text (Bursian [1857] 26; Håkanson (1989) 355) oder übernehmen Ribbecks Konjektur quom (Kiessling [1872] 32; Müller [1887] 556). Gertz (1879) 153 schlägt qui ante vor. Da wohl eine allgemeine Aussage vorliegt und der Satz ein Subjekt benötigt, lesen wir qui. Das überlieferte quam ist wohl dadurch zu erklären, dass nach multo timidiores esse die Vergleichspartikel erwartet wurde. novissime, ut veniat, cum quibus veniet? reliquias victoriae nostrae colliget: Hier beginnt die Zusammenfassung des dritten Arguments: Wenn die Perser doch angreifen würden, wären sie aufgrund ihrer dezimierten Truppenstärke keine ernsthafte Gefahr. In Fuscus’ divisio in § 4 wird dieses Argument, das dort einen anderen Stellenwert hat (s. den Kommentar zum Beginn von Cestius’ divisio) mit den Worten fractus est […] viribus zusammengefasst. Für novissime als letztes Glied einer Aufzählung nach deinde vgl. suas. 1,10. Für das hier vorliegende konzessive ut vgl. suas. 3,3 mit dem Kommentar zur Stelle: ut intellegatur, non posse fata revocari. Als reliquiae werden besiegte Soldaten auch Verg. Aen. 1,30 bezeichnet: reliquias Danaum atque immitis Achilli. illos adducet, quos priore bello quasi inutiles reliquias novit, si qui ex fuga consecuti sunt: In diesem Satz wurden sehr viele Konjekturen vorgeschlagen (s. den Apparat), obwohl die Überlieferung wohl gehalten werden kann, wie es Bursian (1857) 26 in seinem Text tut: „er wird jene herführen, die er durch den vorigen Krieg sozusagen als unnütze Überreste kennt, wenn ihm irgendwelche von den Fliehenden gefolgt sind“). Für dieses unter historischen Gesichtspunkten bedenkliche Herunterspielen der persischen Streitmacht vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: tot caesa milia, nihil ex tanta acie relictum minanti, nisi quod vix fugientem sequi possit; totiens mersa classis. Das Substantiv fuga steht hier metonymisch für die Fliehenden; vgl. ThLL VI 1,1466,82– 1467,7; Liv. 3,69,2: et agrestium fuga spoliatique in agris et volnerati […] totam urbem ira implevere. nullum habet militem nisi aut fastiditum aut victum: Mit fastiditus wird wohl diejenige Gruppe von potentiellen Soldaten bezeichnet, die Xerxes vor der Schlacht vor Salamis zu Hause gelassen hatte. 6 ARGENTARIVS his duobus contentus fuit: aut non venturum Xersen aut non esse metuendum, si venerit: Argentarius benutzt eine andere Strategie als Fuscus und Cestius, wenngleich sich einige Elemente decken: Er beginnt nicht mit dem Argument, dass Trophäen unter keinen Umständen beseitigt werden dürfen. Seine Argumentation basiert auf den Argumenten, dass Xerxes nicht zurückkehren wird und dass er, selbst wenn er erneut angreifen sollte, keine Gefahr

5.2 Kommentar

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darstellen würde. Damit benutzt er den zweiten und den dritten Argumentationsschritt aus Cestius’ divisio. Die Formulierung contentus fuit (aut sim.) benutzt Seneca d.Ä. sonst nicht in der divisio. his solis institit et illud dixit, quod exceptum est: ‘tollite’ inquit ‘tropaea’; si vicisti, quid erubescis? si victus es, quid imperas?: Argentarius zitiert Xerxes’ Forderung aus dem Thema und zeigt ihre Unangemessenheit auf. Die Angabe aus dem Thema zitieren auch Cestius (§ 3) und Pompeius Silo (§ 7) mit eigenen Worten und benutzen sie für eine Sentenz. Für das Phänomen, dass Äußerungen von Deklamatoren mit Applaus aufgenommen werden, vgl. suas. 4,4 mit dem Kommentar zur Stelle. Das Verb insistere gebraucht Seneca d.Ä. auch contr. 1,7,14 in diesem Zusammenhang: huic loco vehementer institit. Für excipere i.S.v. „applaudieren“ vgl. ThLL V 1252,83 – 1253,9. Bei Seneca d.Ä. kommt das Wort in dieser Bedeutung auch noch an folgenden Stellen vor, wo es bisweilen durch valde verstärkt wird: contr. 2,1,28; 2,2,9; 7,6,19; 10,2,10; suas. 6,9. locum movit non inutiliter: iudicare quidem se neque Xersen neque iam quemquam Persarum ausurum in Graeciam effundi, sed eo magis tropaea ipsis tuenda, si quis umquam illinc venturus hostis esset, ut conspectu tropaeorum animi militum accenderentur, hostium frangerentur: Aus dieser Angabe geht hervor, dass Argentarius ebenso wie Fuscus und Cestius das Argument verwendet, dass die Trophäen nicht beseitigt werden dürfen. Aber während dieses Argument bei den beiden anderen Deklamatoren einen eigenen Argumentationsschritt darstellt, ist es bei Argentarius mit dessen erstem Argumentationsschritt verwoben, dass Xerxes nicht zurückkehren wird. Für den Gedanken, dass die Trophäen erbauend auf die eigenen Soldaten wirken sollen, vgl. Fuscus in § 2: haec ego tropaea dis posui, haec in totius conspectu Graeciae statui, ne quis timeret Xersen minantem. Die Junktur locum movere haben wir sonst nirgends gefunden. Das Verb movere benutzt Seneca d.Ä. aber öfters im Zusammenhang mit rhetorischen Termini technici; vgl. suas. 2,14: Nicetes longe disertius hanc phantasiam movit; contr. 1,6,12 imaginem movit; contr. 7. praef. 3: adfectus […] movit und contr. 1,1,15: Fuscus Arellius pater hoc movit in ultimo tamquam quaestionem. Für locus i.S.v. „Punkt“ vgl. contr. 1,7,14 (s. die vorige Anmerkung) und Cic. fin. 5,95. Bei effundi, sed eo handelt es sich um eine inhaltlich notwendige und paläographisch leichte Emendation, die sich aus der Kombination der Korrektur τ (effundi se ideo) und einer Konjektur von Schott (effundere; sed eo) ergibt und von allen modernen Herausgebern gelesen wird. Diese Emendation ist insofern notwendig, als das in den besten Handschriften überlieferte effundisse deo (ideo V) keinen Sinn ergibt. Für effundere im militärischen Kontext vgl. § 2: quantumcumque Oriens valuit, primo in Graeciam impetu effusum est. Nováks (1915) 286 Bedenken gegen den

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Gebrauch des medialen effundi (er selbst schlägt effundere copias; sed eo vor) hat Håkanson ad loc. unter Verweis auf Val. Max. 7,6,6 zu Recht zurückgewiesen: effusurus se in nostras provincias Parthorum rex Phraates.

Dritter Teil (7 – 8) 7 BLANDVS dixit: repleat ipse prius Atho et maria in antiquam faciem reducat: Der Deklamator gibt zwei Bedingungen an, die Xerxes zunächst erfüllen muss, damit die Athener die Trophäen beseitigen: Zum einen soll er den Kanal, der vor der Schlacht bei den Thermopylen durch die Athos-Halbinsel gebaut wurde, zuschütten. Zum anderen spielt der Deklamator mit dem Iussiv maria in antiquam faciem reducat wohl auf die Errichtung einer Schiffsbrücke über die Dardanellen an und fordert deren Beseitigung (alternativ müsste man auch diese Worte auf den Kanal beziehen). Beide legendären Taten des Xerxes dürfen laut Lukian in einer Deklamation nicht fehlen; vgl. suas. 2,3 mit dem Kommentar zur Stelle: sed montes perforat, maria contegit. Speziell für den zweiten Teil des Satzes vgl. suas. 2,17: iste, qui classibus suis maria subripuit, […] dilatavit profundum, novam rerum naturae faciem imperat […]. apparere vult posteris quemadmodum venerit: appareat quemadmodum redierit: Der Deklamator bezieht sich auf die beiden im vorigen Satz erwähnten legendären Taten des Xerxes, d. h. auf den Bau des Kanals durch die AthosHalbinsel und die Errichtung einer Schiffsbrücke über die Dardanellen. Er meint, dass diese Eingriffe in die Natur von Xerxes beabsichtigt waren, damit sie fortwährend mit Xerxes verknüpft werden – was zutrifft, wie die häufige Erwähnung dieser Taten und Lukians Hinweis (s. die vorige Anmerkung) zeigen. Nun soll durch die Beseitigung dieser Maßnahmen dessen Niederlage und Flucht in der Erinnerung der Nachwelt haften bleiben. TRIARIVS omni dimissa divisione tantum exultavit, quod Xersen audiret venire ad se: ipsis novam victoriam, nova tropaea: Mit der divisio ist hier der argumentative Aufbau der Deklamation gemeint. Durch seinen Verzicht auf eine Argumentation entspricht Triarius dem Bild des Deklamators, das Votienus Montanus in der praefatio zum neunten Buch der Kontroversien zeichnet und kritisiert (contr. 9 praef. 1): qui declamationem parat, […] argumentationes, quia molestae sunt et minimum habent floris, relinquit. Für die Freude über Xerxes’ Angriff vgl. Seneca Grandio suas. 2,17: gaudeo, gaudeo! […] totus Xerses meus erit. Für den Gedanken, dass eine erneute Schlacht die Errichtung neuer Trophäen bedeutet, vgl. Cestius in § 3 und Pompeius Silo im Folgenden. Während Bursian

5.2 Kommentar

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(1857) 26 das überlieferte ad se hält, lesen die Herausgeber seit Kiessling (1872) 33 mit Haase adesse. Wir sehen keine Veranlassung zu dieser Konjektur und gehen von einer Ellipse von esse am Ende des Satzes aus. SILO POMPEIVS venusto genere sententiae usus est: ‘nisi tollitis’ inquit ‘tropaea, ego veniam’; hoc ait Xerses: nisi haec tropaea tollitis, alia ponetis: Mit Bezug auf Äußerungen von Deklamatoren benutzt Seneca d.Ä. das Adjektiv venustus in den Suasorien nur hier, in den Kontroversien aber häufiger: contr. 1,1,20; 1,7,18; 7,5,11; 9,3,14; 10,5,22. Ein expliziter Bezug auf eine Sentenz liegt nur hier vor. Für den Inhalt der Sentenz vgl. Triarius im vorigen Satz mit dem Kommentar zur Stelle. Für die Zitierung einer Angabe aus dem Thema vgl. Cestius in § 3 und Argentarius in § 6. 8 Nachdem in der dritten und vierten Suasorie die Gegenseite nicht vertreten war, wird hier erstmals wieder (nach suas. 2,9) über diese berichtet. Die Position des Referates über die Gegenseite ist jedoch etwas verwunderlich, da wir uns im dritten Teil der Deklamationszusammenfassung des älteren Seneca befinden. Da Seneca d.Ä. hier die divisio des Deklamators Gallio referiert, würde man diese eher im zweiten Teil erwarten. Für das Abweichen vom Standardplan vgl. suas. 6,12 mit dem Kommentar zur Stelle. Alteram partem solus GALLIO declamavit et hortavit ad tollenda tropaea: Für die Angabe über die Anzahl derjenigen Deklamatoren, die eine bestimmte Seite vertreten haben, vgl. suas. 6,12: alteram partem pauci declamaverunt und 7,10: huius suasoriae alteram partem neminem scio declamasse. Die Angabe, dass nur Gallio in dieser Suasorie die Gegenseite vertritt, ist wohl so zu verstehen, dass Seneca d.Ä. in seinem langen Leben nicht erlebt hat, dass weitere Deklamatoren das Contra übernommen haben. Wie Bursian (1857) 26 und Kiessling (1872) 33 halten wir das überlieferte hortavit und verwerfen Gertz’ Konjektur hortatus, die Müller (1887) 557 und Håkanson (1989) 356 übernehmen. Dass die Alternativform zum Deponens zu halten ist, meinen auch Rebling (1883) 36 f. und Thomas (1900) 170 Fußn. 34. Eine aktive Perfektform von hortare ist auch Cic. Arch. 28 überliefert (hortavit). Eine passive Form mit passiver Bedeutung wird bell. Hisp. 1,4 wohl zu Unrecht in Cruces gesetzt (überliefert ist der Ablativus absolutus hoste hortato). Ferner wird bei Petron in der cena Trimalchionis (76,10) die aktive Form exhortavit benutzt (vgl. Schmeling [et al.] ad loc.). Die Verwendung von Formen des Typs horto anstelle von hortor bespricht auch Priscian als Beispiel für Verben, bei denen ein auffälliger Diathesengebrauch vorliegt und die sich ihm zufolge bei den alten Schriftstellern (apud vetustissimos) finden (vgl. GL 2,392,21 Keil).

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5 suas. 5

dixit gloriae nihil detrahi: mansuram enim memoriam victoriae, quae perpetua esset: Der Deklamator trennt in einem honestum-Argument den Nachruhm, den sich die Griechen durch den Sieg gegen die Perser in der Schlacht vor Salamis erworben haben, von dem Gegenstand, der diesen Sieg symbolisiert, nämlich den Trophäen. Der Nachruhm hält in seinen Augen ewig an. ipsa tropaea et tempestatibus et aetate consumi: Gallio meint, dass die Trophäen beseitigt werden sollen, da ihre Physis im Laufe der Zeit ohnehin Schaden nähme. Letztlich geht dieser Gedanke auf Horaz und Ovid zurück, auf deren Aussagen über ihren Nachruhm am Ende des dritten Odenbuches bzw. der Metamorphosen der Deklamator rekurriert. Vgl. Hor. carm. 3,30,1– 5: exegi monumentum aere perennius / regalique situ pyramidum altius, / quod non imber edax, non Aquilo inpotens / possit diruere aut innumerabilis / annorum series et fuga temporum. Ov. met. 15,871 f.: iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis / nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. Auf ähnliche Weise trennt Fuscus suas. 2,2 und 6,6 zwischen der physischen Existenz (der Spartaner bzw. Ciceros) und dem Nachruhm. bellum suscipiendum fuisse pro libertate, pro coniugibus, pro liberis; pro re supervacua et nihil nocitura, si fieret, non esse suscipiendum: Gallios zweites Argument ist, dass es sich nicht lohnt, wegen der Trophäen einen erneuten Krieg gegen Xerxes zu riskieren (utile). Gallios Referenz auf die Freiheit, die Ehefrauen und die Kinder verdankt sich Winterbottoms (1974) II 559 Fußn. 2 Ansicht nach möglicherweise Aischylos (Pers. 402– 405): ὦ παῖδες Ἑλλήνων, ἴτε, / ἐλευθεροῦτε πατρίδ’, ἐλευθεροῦτε δέ / παῖδας γυναῖκας θεῶν τε πατρώιων ἕδη / θήκας τε προγόνων. Wir halten die Aischylos-Stelle hingegen nur für eine Parallele und die genannte Referenz für einen naheliegenden Gedanken. Nur Håkanson (1989) 356 und Bursian (1857) 27 halten das überlieferte fieret, während alle anderen Herausgeber und Übersetzer mit Sauppe defieret lesen, wodurch sie die Vergänglichkeit der Trophäen zum Ausdruck bringen. Wir sind der Meinung, dass fieret gehalten werden kann, führen aber einen etwas anderen Grund als Håkanson ad loc. an. Dieser Forscher bezieht die Angabe pro re supervacua et nihil nocitura, si fieret nicht auf die Trophäen selbst, sondern auf deren Beseitigung. Bei diesem Textverständnis bereiten die Präposition pro und das Adjektiv supervacuus Schwierigkeiten, da es laut OLD nicht in der Bedeutung „gleichgültig“, „bedeutungslos“ belegt ist. Allerdings führt Håkanson ad loc. eine Parallele an, die diese Bedeutung von supervacuus möglicherweise nahelegt (Sen. dial. 10,6,4): [sc. vitam] abire ut rem supervacuam ac reparabilem sinitis. Unserer Meinung nach bezieht sich pro re supervacua auf die Trophäen selbst, während der zweite Teil, et

5.2 Kommentar

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nihil nocitura, si fieret, deren Beseitigung bezeichnet: die Trophäen an sich sind überflüssig, und die abgetragenen Trophäen würden keinen Schaden anrichten. hic dixit utique venturum Xersen et descripsit adversus ipsos deos tumentem: Auch dieser Deklamator geht auf Xerxes’ Angriff gegen die Götter ein; vgl. Fuscus in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: hoc ille numero ferox et in deos arma tulerat; Cestius in § 4. Gallio benutzt ihn aber zu einem anderen argumentativen Zweck als die beiden anderen Deklamatoren: Für ihn zeigen sich darin Xerxes’ Übermut und Rastlosigkeit, die darauf schließen lassen, dass Xerxes auf jeden Fall zurückkehrt. deinde, habere illum magnas vires: neque omnes illum copias in Graeciam perduxisse nec omnes in Graecia perdidisse: Im zweiten Argumentationsschritt stellt Gallio einen Umstand, den Fuscus (§§ 1– 2) und Cestius (§ 5) herunterspielen, als bedrohlich dar: Xerxes hat nicht alle Streitkräfte in der Schlacht vor Salamis verloren und noch Reserven in der Heimat (δυνατόν). Unter historischen Gesichtspunkten ist Gallios Aussage, dass die persische Streitmacht in der Schlacht vor Salamis nicht gänzlich vernichtet wurde, zutreffend. Die entgegengesetzte Meinung ist eine rhetorische Übertreibung (und unter historischen Gesichtspunkten als falsch anzusehen); vgl. Fuscus in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: tot caesa milia, nihil ex tanta acie relictum minanti, nisi quod vix fugientem sequi possit; totiens mersa classis. Mit vires werden die „Streitkräfte“ bezeichnet; vgl. § 4: fractus est et viribus et animo und weiter unten. timendam esse fortunae varietatem: Einen Locus communis de fortunae varietate verwenden auch Fabianus in der ersten Suasorie, wie aus dessen divisio hervorgeht (suas. 1,9: dixit deinde locum de varietate fortunae) und Triarius suas. 2,3: numquam solido stetit superba felicitas, et ingentium imperiorum magna fastigia oblivione fragilitatis humanae conlapsa sunt. Fuscus benutzt zwar in § 1 streng genommen keinen Locus communis de fortunae varietate, aber da er das Schwanken der Stimmung aus dem schwankenden Geschick herleitet, steht dieser Locus communis jenem nahe: ut interdum in gaudia surgit animus et spem ex praesenti metitur, ita adversis frangitur. Der argumentative Zweck ist jedoch bei Fuscus bzw. bei Gallio ein anderer: Während Fuscus meint, dass Xerxes gerade eine Phase des Unglücks erlebt und deren Folge, nämlich die Verzweiflung, beschreibt, glaubt Gallio, dass Xerxes nach einer Phase des Unglücks nun wieder Erfolg haben wird. Für die Häufigkeit dieses Locus communis in den von Seneca d.Ä. überlieferten Deklamationen vgl. den Index bei Winterbottom (1974) II 635.

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5 suas. 5

exhaustas esse Graeciae vires nec posse iam pati alterum bellum; illi esse immensam multitudinem hominum: Wahrscheinlich denkt der Deklamator bei den Truppenstärken an die Zahlen, die Herodot überliefert; vgl. suas. 2,1 mit dem Kommentar zur Stelle: at cum tot milibus Xerses venit. hoc loco disertissimam sententiam dixit, quae vel in oratione vel in historia ponitur: diutius illi perire possunt quam nos vincere: Die Sentenz „jene können länger untergehen, als wir siegen können“ bezieht sich auf die im vorigen Satz genannte Truppenstärke der Perser bzw. der Griechen. Wie sonst nur Bursian (1857) 27 halten wir die überlieferte Verbform ponitur und lesen nicht mit Schulting ponatur. Auch die anderen vorgeschlagenen textkritischen Eingriffe halten wir für unnötig (s. den Apparat). Diese textkritischen Eingriffe beruhen allesamt auf demselben Mißverständnis. Seneca d.Ä. sagt nicht, dass Gallios Sentenz es verdienen würde, in einer Rede oder in einem Geschichtswerk zitiert zu werden, sondern dass diese Sentenz dort Verwendung findet. Fraglich ist dabei, ob Gallio die Sentenz als erster formuliert oder aus der Vorlage übernommen hat. In jedem Fall ist die Tatsache, dass uns diese Sentenz an anderer Stelle nicht überliefert zu sein scheint, kein Grund für einen textkritischen Eingriff. Die Singulare oratio und historia lassen sich durch den Bezug entweder auf jeweils ein uns unbekanntes Werk oder auf die entsprechenden Gattungen erklären (für oratio im Sinne der Gattung vgl. Cic. Att. 13,19,5: nitorem orationis nostrum). Der von uns angenommene Sinn wird auch durch das Attribut disertissima gestützt, denn an der einzigen anderen Stelle, an der Seneca d.Ä. die Junktur disertissima sententia verwendet, begründet er diese Wertung dadurch, dass die Sentenz seines Wissens auf Herodot rekurriert (suas. 2,11): in hac materia disertissima illa fertur sententia Dorionis, cum posuisset hoc dixisse trecentis Leonidam, quod puto etiam apud Herodotum esse. Dass Seneca d.Ä. nicht genau weiß, ob die Sentenz einer Rede oder der Geschichtsschreibung entstammt bzw. welcher Rede oder welchem historischen Werk sie entstammt, darf angesichts der Tatsache, dass er suas. 2,11 behauptet, jene Sentenz rekurriere auf Herodot, während es in Wirklichkeit Diodor ist (s. den Kommentar zur Stelle), nicht verwundern. In gewisser Weise bereitet diese Stelle auf die sechste Suasorie vor, wie Sussman (1977) 310 gesehen hat, da Seneca d.Ä. dort den Aussagen der Deklamatoren diejenigen der Historiker gegenüberstellt (suas. 6,14– 25).

6 suas. 6 6.1 Einleitung Die historische Situation Die Situation, die in dieser Suasorie vorausgesetzt wird, ist diejenige vor Ciceros Tod am 7. Dezember 43 v.Chr., als er den Proskriptionen der Triumvirn zum Opfer fiel. Ciceros Tod ist von mehreren Historikern überliefert worden, von denen einige in dieser Suasorie zitiert werden (§§ 14– 21). Wenn man die Darstellungen der Historiker vergleicht, scheint trotz einiger Diskrepanzen Folgendes festzustehen:⁷⁰ Als die Verfolgung der Proskribierten begann, beschloss Cicero, in Griechenland bei Brutus Zuflucht zu suchen. Im Formianum, einer Villa, die zwischen Formiae und Caieta lag, verbrachte er die Nacht vor der geplanten Überfahrt.⁷¹ Als seine Gefährten merkten, dass die von Antonius entsandten Mörder in der Nähe waren, ließen sie Cicero in einer Sänfte zur Einschiffung nach Caieta bringen. Auf dem Weg dorthin wurde die Gruppe eingeholt und Cicero ermordet. Als Mörder nennen Livius, Bruttedius Niger,Valerius Maximus und Appian diejenige Person, die auch in der Kontroversie 7,2 genannt wird, nämlich Popillius Laenas (s.u.: „Fakten und Fiktion in der Überlieferung über Ciceros Tod“).⁷² Ciceros Kopf und seine Hände⁷³ wurden Antonius übergeben und an der Rednertribüne angebracht.⁷⁴ Hinsichtlich des Fiktionalisierungsgrades der Suasorie darf man wohl dem Urteil des älteren Seneca folgen (vgl. §§ 14 f. mit dem Kommentar zur Stelle) und diese ebenso wie die nächste Suasorie als starke Fiktion ansehen.

70 Vgl. Wright (2001) 452. 71 Valerius Maximus’ Angaben über Ciceros Aufenthaltsort sind widersprüchlich: An einer Stelle (1,4,6) gibt er die Villa Caletana als Aufenthaltsort an; an einer anderen Stelle (5,3,4) sagt er, dass sich Ciceros Mörder nach Caieta begeben hat. Die übrigen Quellen (Liv. perioch. 120; App. civ. 4,19; Plut. Cicero 47,7) nennen das Landhaus in der Nähe von Caieta als Aufenthaltsort. 72 Liv. perioch. 120; Bruttedius Niger in § 20 dieser Suasorie; Val. Max. 5,3,4; App. civ. 4,19 f. Nach Plutarch (Cicero 48,1 und 4) war Herennius der Mörder und Popillius sein Gehilfe. Andere Historiker, die in dieser Suasorie zitiert werden, geben den Namen des Mörders nicht an. 73 Nach Plut. Antonius 20,3, Cassius Dio 47,8,3, App. civ. 4,20, Liv. perioch. 120 und Cremutius Cordus (§ 19) waren es sein Kopf und seine rechte Hand. Vgl. auch Val. Max. 5,3,4 und Iuv. 10,120. 74 Cassius Dio (47,8,4) zufolge soll Fulvia zuvor den Kopf bespuckt und die Zunge durchstochen haben.

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6 suas. 6

Fakten und Fiktion in der Überlieferung über Ciceros Tod Die in den Quellen verschieden dargestellte Rolle des Popillius Laenas im Zusammenhang mit Ciceros Tod hat Roller zum Anlass genommen, die Abhängigkeit der Quellen zu untersuchen und zugleich die Grenze zwischen deklamatorischer Fiktion und historiographischer Wahrheit zu problematisieren.⁷⁵ Dabei wendet sich Roller gegen Homeyer, die die literarische Tradition über Ciceros Tod auf drei Hauptquellen zurückführt, die uns verloren sind, nämlich die Ciceroviten von Tiro und Nepos und Asinius Pollios Geschichtswerk.⁷⁶ Den Wert der Cicerodeklamationen und der Historikerfragmente bespricht Homeyer nur am Rande und impliziert, dass die Äußerungen der Deklamatoren von Cicero-freundlichen Quellen abhängen.⁷⁷ Roller hingegen misst der Deklamation einen größeren Einfluss in der Entwicklung der literarischen Tradition über Ciceros Tod bei. Ein Ausgangspunkt für seine Untersuchung ist eine Äußerung des älteren Seneca über Ciceros angeblichen Mörder Popillius:⁷⁸ Popillium pauci ex historicis tradiderunt interfectorem Ciceronis et hi quoque non parricidi reum a Cicerone defensum sed in privato iudicio; declamatoribus placuit parricidi reum fuisse.

Aus dieser Angabe geht eindeutig hervor, dass Cicero Popillius nicht in einem Mordprozess verteidigt hat, sondern dass es sich bei diesem Detail um eine Erfindung der Deklamatoren handelt, die den Zweck hat, dem Thema mehr Brisanz zu verleihen. Möglicherweise ist, wie Roller bemerkt, dieses Detail in der Form erfunden worden, dass das Deklamationsthema zunächst offen ließ, in welcher Art von Prozess Cicero Popillius verteidigt hat, und ein Deklamator, der Popillius wegen des Mordes an Cicero anklagte, ihm eine frühere Anklage wegen Mordes unterstellt hat, um die Schuld des Angeklagten größer erscheinen zu lassen.⁷⁹ Dann würde es sich um einen color handeln.⁸⁰ Roller geht sogar so weit, dass er bestreitet, dass Cicero Popillius jemals verteidigt hat, da es sich hierbei ebenso um eine Erfindung der Deklamatoren handeln kann und keine verlässlichen Quellen diesen Prozess bezeugen.⁸¹ Schließlich macht er auf die Möglichkeit aufmerksam,

75 Vgl. Roller (1997). 76 Vgl. Homeyer (1964). 77 Vgl. Homeyer (1964) 25 f.; 35 f.; Roller (1997) 115. 78 Contr. 7,2,8. 79 Vgl. Roller (1997) 124 f. 80 S. das Unterkapitel „Die colores“ in der allg. Einleitung, S. 44– 59. 81 Vgl. Roller (1997) 125. Die Quellen, die diesen Prozess bezeugen, erwähnen ihn im Zusammenhang mit Ciceros Tod und geben ihm somit eine besondere Brisanz: contr. 7,2; Bruttedius

6.1 Einleitung

383

dass sogar Popillius selbst eine Erfindung der Deklamatoren sein könnte, da seine Existenz außerhalb der literarischen Tradition über Ciceros Tod nicht gesichert ist.⁸² Auffälligerweise ist der einzige gleichnamige Zeitgenosse einer der Mörder Caesars.⁸³ Daher kommt Roller zu dem überzeugenden Schluss, dass, wenn es den Ciceromörder Popillius gab, keine gesicherten biographischen Informationen über ihn vorliegen, da sie durch die Erfindungen der Deklamatoren auf für uns undurchdringliche Weise verzerrt wurden und in die spätere Historiographie eingeflossen sind.⁸⁴

Rhetorisch-technische Anweisungen zum Halten dieser Deklamation Wie Seneca d.Ä. in § 12 angibt, raten die meisten Deklamatoren Cicero, Antonius nicht um Gnade zu bitten, sondern lieber zu sterben. Dies bietet ihnen die Möglichkeit, den nach Quintilian leichtesten Typus der Beratungsrede auszuführen: honesta quidem honestis suadere facillimum est. ⁸⁵ Jedoch stellt die antike Rhetorik auch für den schwierigeren Fall, einer ehrenwerten Person etwas Unmoralisches zu raten,Vorgehensweisen zur Verfügung. In diesem Kontext gibt Quintilian nicht nur wichtige technische Anweisungen zum Halten derartiger Suasorien, sondern er zeigt auch seine Vertrautheit mit den Themen dieser und der nächsten Suasorie:⁸⁶ Interim si quis bono inhonesta suadebit, meminerit non suadere tamquam inhonesta […] sed dandus illis deformibus color […] Quare et cum Ciceroni dabimus consilium ut Antonium roget, vel etiam ut Philippicas, ita vitam pollicente eo, exurat, non cupiditatem lucis adlegabimus (haec enim si valet in animo eius, tacentibus quoque nobis valet), sed ut se rei publicae servet hortabimur – hac illi opus est occasione, ne eum talium precum pudeat.

Diejenigen Deklamatoren, die Cicero raten, Antonius um Gnade zu bitten, sollen also ein vertretbares Motiv finden, das sein Weiterleben begründet, und ein solches kann die Sorge um den Staat sein, nicht aber die Tatsache, dass er an seinem

Niger (§ 20); Val. Max. 5,3,4; Plut. Cicero 48,1; App. civ. 4,20; Cassius Dio 47,11,1 f. Valerius Maximus spitzt die Geschichte von Ciceros Tod noch weiter zu, indem er behauptet, dass Popillius Antonius darum gebeten haben soll, den proskribierten Cicero zu töten. Auch dies ist vielleicht ein color. 82 Vgl. Roller (1997) 127. 83 Vgl. RE XXII 1 s.v. Popillius 15, Sp. 54. 84 Vgl. Roller (1997) 127 f. Unabhängig von Roller gelangt Wright (2001) in einer Auswertung der historischen Quellen zu ähnlichen Ergebnissen. 85 Quint. inst. 3,8,38. 86 Quint. inst. 3,8,44– 47.

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6 suas. 6

Leben hängt. Ziel dieser Argumentation ist, den Eindruck zu erwecken, dass dasjenige, was geraten wird, nicht unehrenhaft ist.

Cicero als Deklamationsfigur Dass Cicero eine beliebte Deklamationsfigur war, geht aus den Themen hervor, in denen er die Hauptperson ist und die von Kohl zusammengestellt worden sind (abgesehen von den bei Seneca d.Ä. überlieferten Exzerpten sind nur die Themen überliefert).⁸⁷ In der Deklamationssammlung des älteren Seneca gibt es noch zwei weitere Cicerodeklamationen, nämlich die siebente Suasorie und die Kontroversie 7,2. In der genannten Kontroversie wird Popillius de moribus angeklagt, weil er angeblich von Cicero erfolgreich verteidigt worden war (die Anklage lautete auf Mord) und diesen, nachdem die Triumvirn ihn proskribiert hatten, auf Befehl von Antonius tötete.⁸⁸ Fortunatian berichtet uns,⁸⁹ dass es eine Kontroversie mit folgendem Titel gegeben hat: reus est Q. Hortensius, quod in consulatu suo supplicium de indemnatis civibus sumpserit. Da diese Deklamation durch Ciceros Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung inspiriert ist, ist es denkbar, dass mal Hortensius und mal Cicero im Thema genannt wurde.⁹⁰ Ebenfalls bei den Rhetores Latini minores sind folgende Cicero-Deklamationsthemen überliefert: deliberat Cicero an post consulatum eat in provinciam;⁹¹ damnato Milone exclamavit M. Tullius Romam sedem bonis viris esse non posse et reus est laesae rei publicae. ⁹² Indirekt mit Cicero ist auch die Nachahmung des Miloprozesses verbunden; dass dieser Fall deklamiert wurde, geht aus einer Stelle aus der praefatio zum dritten Kontroversienbuch hervor: memini me intrare scholam eius [sc. Cestii], cum recitaturus esset in Milonem. ⁹³

87 Kohl (1915) 105 – 107. 88 S. S. 381– 383 zur historischen Situation und zu „Fakten und Fiktion in der Überlieferung über Ciceros Tod“. 89 RLM 84,15 Helm. 90 Vgl. Kohl (1915) 105. 91 Sulp. Vict. RLM 314,16 Helm. 92 Iul. Vict. RLM 380,24 Helm; vgl. Fortunat. ib. 92,17. 93 Contr. 3 praef. 16; vgl. Quint. inst. 3,6,93; 10,1,23; 10,5,20.

6.2 Kommentar

385

Aufbau der Suasorie In dieser Suasorie lässt sich wieder eine deutliche Dreiteilung feststellen: Zunächst werden die aus der Sicht des älteren Seneca interessantesten Äußerungen der Deklamatoren zitiert (1– 7). Dann wird die divisio einiger Deklamatoren skizziert (8 – 14a). Schließlich werden in einem dritten Teil (14b-27) nur hier überlieferte Historikerberichte über Ciceros Tod referiert. Da in diesen Ciceros Tod auch beklagt wird, schließt sich ein längeres Fragment des Cornelius Severus an, in dem der Dichter seine Trauer über Ciceros Tod zum Ausdruck bringt. Eine Diskussion über die literarische Abhängigkeit eines Verses bildet den Abschluss des dritten, in sich wiederum etwas disparaten Teils. Ein Unterscheidungskriterium, das im ersten Teil der zweiten Suasorie (und regelmäßig in den Kontroversien) eine Rolle spielt, nämlich die Unterscheidung zwischen Pro und Contra, wird im ersten Teil dieser Suasorie nicht angewendet. Der Grund hierfür liegt wohl darin, dass fast alle Deklamatoren dieselbe Seite vertreten, indem sie Cicero davon abraten, Antonius um Gnade zu bitten. Im Unterschied zu den anderen Suasorien lässt sich auch ein Motiv für die Bevorzugung dieser Position angeben, das nicht in dem Schwierigkeitsgrad der zu vertretenden Seite liegt: Die Deklamatoren wagen es nicht, Cicero etwas Unehrenhaftes zu raten, wie Seneca d.Ä. in § 12 selbst angibt.

6.2 Kommentar Thema Deliberat Cicero, an Antonium deprecetur: Zur historischen Situation s. die Einleitung. Die Tatsache, dass in den Handschriften A und B die Fragepartikel an nicht überliefert ist, ist wohl auf Haplographie angesichts des folgenden an- in Antonium zurückzuführen. Zur Fragepartikel an s. den Kommentar zum Thema der ersten Suasorie.

Erster Teil (1 – 7) 1 Q. HATERI: Während Seneca d.Ä. in den Suasorien 2– 5 zunächst aus Fuscus’ Deklamationen zitiert, bildet ein längeres Exzerpt aus Haterius’ Deklamation den Anfang der sechsten und siebenten Suasorie. Ob man diesen Befund dahingehend bewerten darf, dass Seneca d.Ä. Haterius’ Äußerungen für exzellent hält, wie Migliario (2007) 122 und (2008) 81 meint, ist fraglich. Denn Fuscus’ Exzerpte, die den Anfang der Suasorien 2– 5 bilden, schätzt Seneca d.Ä. nicht so ein (vgl.

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6 suas. 6

suas. 2,10 und 23 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle). Müller (1887) 558 hat den überlieferten Nominativ Haterius zum Genetiv Hateri emendiert. Ebenso hat er zu Beginn der siebenten Suasorie Hateri aus dem überlieferten alterius hergestellt (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle) und liest contr. 1,7,6 den Namen des Deklamators im Genetiv (Blandi; überliefert ist blandus). Auch wir übernehmen diese Konjektur, da der Name des Deklamators, dessen Exzerpte referiert werden, sonst immer im Genetiv steht oder im Nominativ Subjekt eines Hauptsatzes ist (vgl. z. B. suas. 5,7). Suas. 7,1 und contr. 1,7,6 sind keine Parallelen, die den Nominativ Haterius stützen, da in beiden Fällen die überlieferten Formen wohl nicht als Namen der Deklamatoren, sondern als andere Wortarten identifiziert wurden. Sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem: Der Gedanke, dass das Bitten um Antonius’ Gnade bedeuten würde, sich zum Sklaven zu machen, taucht in dieser Suasorie öfter auf. Vgl. weiter unten: si intellegis, Cicero, non dicit ‘roga, ut vivas’ sed ‘roga, ut servias’; die Angabe über Latro in § 8: hic omnem acerbitatem servitutis futurae descripsit; Albucius in § 9: roga, Cicero, exora unum, ut tribus servias. Sogar Varius Geminus (§ 12), der die Gegenseite vertritt, gibt zu, dass sich Cicero in die Sklaverei begeben würde. Laudandus erit tibi Antonius; in hac causa etiam Ciceronem verba deficiunt: Dies ist eine von vielen Anspielungen auf Ciceros Schriften, die in dieser Suasorie zu beobachten sind. Haterius spielt auf zwei Briefe Ciceros an, in denen dieser seine Überzeugung ausdrückt, dass ihm die Worte nicht ausgehen: fam. 2,11,1: putaresne umquam accidere posse, ut mihi verba deessent?; 13,63,1: non putavi fieri, ut mihi verba deessent. Gegen alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass das in den besten Handschriften überlieferte Präsens deficiunt gehalten werden kann und nicht deficient mit den Recentiores gelesen werden muss. Denn zum einen wissen wir nicht, ob etwas ausgelassen wurde, was in der ursprünglichen Deklamation zwischen diesen beiden Sätzen gestanden hat und den Gebrauch des Präsens erklären würde. Und zum anderen ist das Präsens trotz eines Bezugs auf eine hypothetische Situation in der Zukunft nichts Ungewöhnliches; vgl. Latro in § 3: ergo loquitur umquam Cicero, ut non timeat Antonius, loquitur umquam Antonius, ut Cicero timeat?; suas. 7,1: remittere ait se tibi, ut vivas. Crede mihi: cum diligenter te custodieris, faciet tamen Antonius, quod Cicero tacere non possit: Das Einvernehmen zwischen Cicero und Antonius würde nur kurzfristig anhalten, da Cicero früher oder später Antonius wieder – wie in den Philippischen Reden – kritisieren würde. Der Nebensatz cum diligenter te custodieris drückt den hypothetischen Gedanken aus, dass Cicero sich in Acht nimmt und seine Kritik an Antonius unterdrückt. Für die Beteuerungsformel crede mihi

6.2 Kommentar

387

vgl. suas. 5,3 mit dem Kommentar zur Stelle. Für konzessives cum i.S.v. „wenn auch“ vgl. Sall. Cat. 20,12: quom tabulas […] emunt […], tamen […] divitias suas vincere nequeunt. Für se custodire i.S.v. „für den Schutz seiner eigenen Person sorgen“ vgl. Cic. fam. 9,14,8 (= Att. 14,17a,8): fac, ut diligentissime te ipsum, mi Dolabella, custodias. Si intellegis, Cicero, non dicit ‘roga, ut vivas’ sed ‘roga, ut servias’: Der Gedanke entspricht demjenigen aus dem ersten Satz, nämlich dass die Gewährung der Gnade durch Antonius bedeuten würde, dessen Sklave zu sein (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Bei si intellegis handelt es sich um einen parenthetischen Kondizionalsatz in Analogie zu Sätzen wie si quaeris (vgl. K.-St. II 2, S. 430; Burkard / Schauer, S. 888 f.). An dieser Stelle liegt der erste Beleg vor; später vgl. Sen. epist. 52,13: non laudatur ille nunc, si intellegis, sed conclamatur. Quemadmodum autem hunc senatum intrare poteris, exhaustum crudeliter, repletum turpiter?: Cicero könne es nicht über sich bringen, den Senat zu betreten, da dieser während der Bürgerkriege und Proskriptionen dezimiert und anschließend von Caesar und Antonius mit ihren Parteigängern besetzt wurde. Für diese historischen Vorgänge vgl. Cassius Dio 42,51,5; 43,20,2; 43,27,1; 47,3; 48,22,3; Suet. Iul. 76,3 und 80,2; Cic. fam. 6,18,1; div. 2,23; off. 2,29; Phil. 11,12 und 13,27; Macr. 2,3,11. Auch in einer Kontroversie wird die Aufstockung des Senats durch Caesars Parteigänger erwähnt (contr. 7,3,9): multos tunc in senatum legerat Caesar, et ut repleret exhaustum bello civili ordinem et ut eis, qui bene de partibus meruerant, gratiam referret. Migliario (2007) 125 und (2008) 82 sieht in der Frage des Deklamators eine Anspielung auf die Säuberungen und Aufstockungen des Senats ab 42 v.Chr., von welchen Haterius möglicherweise selbst profitiert habe; s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75). intrare autem tu senatum voles, in quo non Cn. Pompeium visurus, non M. Catonem, non Lucullos, non Hortensium, non Lentulum atque Marcellum, non tuos, inquam, consules Hirtium ac Pansam?: Der Gedanke aus dem vorigen Satz wird durch Beispiele entfaltet, in denen einige prominente (politische) Freunde Ciceros genannt werden, die kurz vor oder in den Bürgerkriegen gestorben sind. Pompeius, der nach der Schlacht bei Pharsalos in Alexandria ermordet wurde (vgl. § 6 mit dem Kommentar zur Stelle), wird genannt, da Cicero genauso wie Cato Uticensis auf seiner Seite im Bürgerkrieg gekämpft hat (zu Cato vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle). Die beiden Luculli, L. Licinius Lucullus († 56 v.Chr.), der Mithridates besiegt hat, und M. Licinius Lucullus († 49 v.Chr.), erwähnt Cicero in der zweiten Philippischen Rede, da sie sein Konsulat gelobt haben (Phil. 2,12). Hortensius, der erste Redner Roms bis zu dem Zeitpunkt, als Cicero seine Verrinen

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6 suas. 6

hielt und veröffentlichte,wird von Cicero in einem Nachruf auf dessen Tod im Jahre 50 v.Chr. gewürdigt (Brut. 1– 5). Lentulus erwirkte als Konsul des Jahres 57 v.Chr. Ciceros Rückberufung aus dem Exil (vgl. Cic. p. red. in sen. 8) und starb nach der Schlacht bei Pharsalos, in der er auf Pompeius’ Seite gekämpft hatte (aus Ciceros Lob Brut. 268 geht hervor, dass er 46 v.Chr. tot war). Marcellus hatte im Bürgerkrieg auf Pompeius’ Seite gestanden, erlangte jedoch Caesars Vergebung, wofür ihm Cicero im Senat dankte (Pro Marcello). Er starb aber auf dem Weg nach Rom im Jahr 46 v.Chr. Hirtius und Pansa, die Konsuln des Jahres 43 v.Chr., waren Ciceros Schüler und haben mit ihm deklamiert; vgl. Suet. rhet. 25,3; Cic. fam. 9,16,7; 7,33; Att. 14,12,2; contr. 1 praef. 11 (s. S. 29 Fußn. 145). Sie starben in ihrem Konsulatsjahr in der Schlacht bei Mutina. Die Funktion von inquam ist nicht eindeutig. Es hat den Eindruck, als würde das Wort soviel wie ut ita dicam bedeuten und die Wahl des Ausdrucks tui consules entschuldigen. Diese Bedeutung scheint aber nicht belegt zu sein (der Thesaurus [VII 1, 1787,43 – 73] verzeichnet nur eine allgemeine „explikative“ Bedeutung i.S.v. id est). Für die Stellung von inquam innerhalb des Ausdrucks, der entschuldigt bzw. erklärt werden soll, vgl. aber Cic. Att. 8,3,5: age iam, has compedes, fascis, inquam, hos laureatos ecferre ex Italia quam molestum est! Einen emphatischen Charakter hat inquam hier eher nicht, da das Wort hinter tuos steht und das Possessivpronomen i.S.v. „dein Freund“ zu allen Namen ergänzt werden könnte. Wenn inquam hinter non stehen würde, könnte man mit Håkanson ad loc. von einer Emphase i.S.v. non [sc. visurus es] ausgehen. Da diese nicht vorzuliegen scheint, sollte auch nicht mit Gertz ein weiteres tuos hinter tuos ergänzt werden, wie Winterbottom (1974) II 560 es tut. Anders als alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass hinter visurus nicht es ergänzt werden muss; für diesen Typ der Ellipse vgl. suas. 2,13 mit dem Kommentar zur Stelle: in sententia optima id accusabat, quod optimum; Cic. leg. 2,41: quid ego hic sceleratorum utar exemplis, quorum plenae tragoediae?; suas 6,8: inutilis illi vita futura; Plaut. Men. 118: nunc adeo, ut facturus, dicam; K.-St. II 1, S. 12. Cicero, quid in alieno saeculo tibi? iam nostra peracta sunt: Der Deklamator benutzt ein Argument, das von Cicero selbst stammt. Denn dieser spricht in einem Brief an Brutus (ad Brut. 8,2), in dem er aus Plautus (Trin. 319) zitiert, davon, dass sein Leben fast vorbei ist: de me possum idem quod Plautinus pater in Trinummo [sc. dicere]: ‘mihi quidem aetas acta ferme est; tua istuc refert maxime’. In quid in alieno saeculo tibi? liegt wohl eine Ellipse von est nach dem Typus quid [sc. negotii aut sim.] tibi est vor; vgl. Plaut. Am. 350: quid apud hasce aedis negoti est tibi?; Cic. Cael. 34: mulier, quid tibi cum Caelio, quid cum homine adulescentulo, quid cum alieno?; vgl. teilweise K.-St. II 2, S. 552. Zu nostra ist wohl saecula sinngemäß zu ergänzen. Der Plural erklärt sich wohl i.S.v. „unser Zeitalter und diejenigen von anständigen Menschen“.

6.2 Kommentar

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2 M. Cato, solus maximum vivendi moriendique exemplum, mori maluit quam rogare (nec erat Antonium rogaturus), et illas usque ad ultimum diem puras a civili sanguine manus in pectus sacerrimum armavit: Cato Uticensis, den Haterius zuvor als politischen Freund Ciceros genannt hat, wird nun als Vorbild für das Sterben angeführt, da er der Bitte um Gnade den Tod vorzog. Cato leistete nach der Schlacht bei Pharsalos als Stadtkommandant von Utica in Afrika Widerstand gegen Caesar. Nachdem die republikanischen Truppen im nahen Thapsus geschlagen worden waren und Caesar nach Utica vorrückte (46 v.Chr.), traf er Vorkehrungen, um die Senatoren und ihre Familien, die sich in Utica befanden, zu retten. Anstatt Caesar um Gnade zu bitten, las er zurückgezogen Platons Phaidon und stieß sich daraufhin das Schwert in den Unterleib. Den Rettungsversuch des Arztes machte er zunichte, indem er angeblich den ihm umgelegten Verband beseitigte und seine Gedärme herausriss; vgl. Plut. Cato 70; App. civ. 2,98 f.; Cassius Dio 43,10 f. Daher und da er in der Schlacht bei Pharsalos nicht anwesend war, kann von Cato zu Recht gesagt werden, dass er im Bürgerkrieg kein Blut vergossen hat. Für diesen Gedanken vgl. Sen. dial. 1,2,10: ferrum istud, etiam civili bello purum et innoxium; epist. 24,7: stricto gladio quem usque in illum diem ab omni caede purum servaverat. Die Parenthese nec erat Antonium rogaturus ist ein Argumentum a minori: Wenn Cato Caesar nicht um Gnade gebeten hat, dann darf Cicero erst recht nicht (den schlimmeren) Antonius um Gnade bitten. Für das Ausschlagen der möglichen Gnade Caesars vgl. contr. 10,3,5: M. Cato, quo viro nihil speciosius civilis tempestas abstulit, potuit beneficio Caesaris vivere, si tamen ullius voluisset. Als Beispiel wird Cato Uticensis in den Cicerosuasorien noch in § 1, von Marcellus in §§ 4 und 10, von Cestius in § 10 und von Asprenas suas. 7,4 verwendet; für die Verwendung in anderen Deklamationen vgl. den Index bei van der Poel (2009) 350. Für absolutes rogare, das hier soviel wie deprecari bedeutet, vgl. OLD s.v. rogo 2d. In dieser prägnanten Bedeutung scheint das Verb in dieser Suasorie (hier und §§ 6; 8; 11; 12; 13; 14) erstmals verwendet zu sein. Bei in pectus sacerrimum handelt es sich um eine überzeugende Emendation von Bursian (1857) 27 anstelle des überlieferten insectus acerrimem (AB) bzw. infectus acerrime (V). Für das Attribut sacer in diesem Kontext vgl. sanctus contr. 1 praef. 9; im Zusammenhang mit Cato spricht Seneca d.Ä. auch von der sacerrima eloquentia (ib. 10). Seneca d.J. benutzt mit Bezug auf Cato Uticensis die Formulierungen sacrum caput (dial. 2,2,3), sacrum pectus (dial. 1,2,11; epist. 67,13) und sanctissima anima (dial. 1,2,11). Scipio, cum gladium penitus abdidisset, quaerentibus qui in navem transiverant militibus imperatorem ‘imperator’ inquit ‘bene se habet’; victus vocem victoriae misit: Nach Cato Uticensis folgt das zweite Beispiel: Durch Scipios vorbildhaften Tod könne Cicero lernen, aus einer Niederlage einen Sieg zu

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6 suas. 6

machen. Q. Caecilius Metellus Pius Scipio (vgl. RE III 1 s.v. Caecilius 99, Sp. 1224– 1228) führte das Oberkommando der Pompejaner in der Schlacht bei Thapsus, die mit seiner vollständigen Niederlage endete. Als er daraufhin nach Spanien flüchten wollte und sein Schiff von Caesaranhängern umzingelt wurde, stieß er sich das Schwert in die Brust und sprach die Worte, die der Deklamator zitiert; vgl. Liv. perioch. 114: P. Scipio in nave circumventus honestae morti vocem quoque adiecit. quaerentibus enim imperatorem hostibus dixit: ‘imperator se bene habet’; Val. Max. 3,2,13; Quint. decl. 377,9 und Sen. epist. 24,6 – 10, wo Seneca d.J. wie der Deklamator sowohl Catos als auch Scipios Tod als exempla verwendet. Scipios Tod wird auch suas. 7,8 beispielshalber erwähnt; vgl. auch Quint. decl. 377,9 und van der Poel (2009) 351. Håkanson ad loc. erklärt die Genese des überlieferten ponitus (wir lesen mit Bursian [1857] 27 penitus, Håkanson [1989] 357 in pectus) dadurch, dass in vor in pectus nach -ium ausgefallen ist. Anschließend wurde es über pectus bzw. poectus geschrieben und als ni gelesen in das Wort gesetzt. Jedoch scheint die Annahme einer Verschreibung von penitus zu ponitus (bzw. ponitur) deutlich einfacher zu sein. Für gladium (aut sim.) penitus abdere ohne Richtungsangabe vgl. Sen.Tro. 1155: ut dextra ferrum penitus exactum abdidit. Da es auch Formen von transire gibt, die vom Perfektstamm transivi gebildet werden (vgl. z. B. Curt. 9,6,21), lesen wir die überlieferte Form transiverant und verzichten auf eine Änderung zu transierant. Analog bewahren wir in § 3 die in den besten Handschriften überlieferte Form transiverunt. Vgl. auch die Formen vom Simplex ire, die vom Perfektstamm ivi gebildet werden (ThLLV 2,626,78 – 627,10). Am Ende des Satzes lesen die Herausgeber seit Kiessling (1872) 35 mit einer Korrektur (B2) vocem victoris emisit (überliefert ist vocem victoriae misit). Bursian (s.o.) 28 liest eine Kombination aus der Lesart und der Korrektur: vocem victoriae emisit. Wir halten die Überlieferung für unproblematisch. Für vocem mittere vgl. Cic. Sest. 42: [sc. vidi] vocem pro me ac pro re publica neminem mittere. Die Verbindung von vox mit einem abstrakten Substantiv liegt auch Cic. Flacc. 6 vor: iracundiae vox aut doloris. ‘Vetat’ inquit ‘Milo rogare iudices’; i nunc et Antonium roga: Der Deklamator spielt auf Ciceros Aussagen aus der Peroratio der Miloniana an, dass Milo ihm verbiete, für ihn um Gnade zu flehen. Daher fordert Haterius Cicero ironischerweise auf, nun Antonius um Gnade zu bitten, d. h. er verwendet das Argumentum a minori, dass, wenn Milo nicht um Gnade flehen ließ, Cicero erst recht nicht um Gnade flehen darf.Vgl. Cic. Mil. 92: quid restat nisi ut orem obtesterque vos, iudices, ut eam misericordiam tribuatis fortissimo viro quam ipse non implorat, ego etiam repugnante hoc et imploro et exposco?; ib. 105: neque enim prae lacrimis iam loqui possumus, et hic se lacrimis defendi vetat. Ob iudices Akkusativobjekt zu rogare oder Vokativ ist, ist bei den Herausgebern und Übersetzern umstritten und lässt sich nicht entscheiden. Die Herausgeber seit Müller (1887) 559 lesen mit Otto (1885)

6.2 Kommentar

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417 inquis anstelle des überlieferten inquit. Die Frage, ob man die überlieferte dritte Person zur zweiten Person ändert, ist gleichbedeutend mit der Frage, ob man eine Apostrophe annehmen darf, d. h. ob der Deklamator ein Publikum wie den Senat fingiert. Wie Bursian (1857) 28 und Kiessling (1872) 35 bewahren wir die überlieferte Form, da uns eine derartige Annahme gerechtfertigt zu sein scheint; vgl. Varius Geminus in § 12: quod grandia loquitur et dicit: ‘mors nec immatura consulari nec misera sapienti’, non movet me. Studemunds Ergänzung von me vor Milo, die von den Herausgebern seit Müller (s.o.) übernommen wird, halten wir ebenfalls für einen unnötigen textkritischen Eingriff; für vetare mit bloßem Infinitiv vgl. Cic. Tusc. 3,33: vetat […] ratio intueri molestias. Die Interjektion i wurde von Schott (vgl. Müller [s.o.]) anstelle des überlieferten u hergestellt; für i nunc et, das ironischen Charakter hat, vgl. contr. 7,2,2: i nunc et nega te parricidam. 3 Ergo loquitur umquam Cicero, ut non timeat Antonius, loquitur umquam Antonius, ut Cicero timeat?: Die Antwort ist natürlich „nein“: Ein Gnadengesuch würde langfristig nichts ändern, da Cicero weiterhin öffentlich gegen Antonius polemisieren würde und keine Angst vor diesem hätte. Civilis sanguinis Sulla〈na〉 sitis in civitatem redit, et ad triumviralem hastam pro vectigalibus civium Romanorum mortes locantur: Um die schrecklichen Zeitumstände zum Ausdruck zu bringen, vergleicht der Deklamator die gegenwärtige Proskription mit derjenigen unter Sulla (82 v.Chr.). Die Analogie der beiden Proskriptionen wurde auch von den Triumvirn selbst bemerkt, die Cassius Dio (47,13,4) zufolge öffentlich den Unterschied zu den grausamen Proskriptionen unter Marius und Sulla betont haben. Für die Erinnerung an die Sullanische Proskription vgl. auch Appian (civ. 4,16) und Cassius Dio 47,3 (s. die folgende Anmerkung). Sulla wird auch contr. 2,4,4 und 9,2,19 als Beispiel verwendet; vgl. van der Poel (2009) 352. Die Lanze ist das Symbol einer öffentlichen Auktion (vgl. Cic. Phil. 2,64). Bei dieser wurden die Rechte, die Abgaben (in diesem Fall auf konfiszierten und anschließend verkauften Eigentum von Opfern von Proskriptionen) einzutreiben, verpachtet; dieser Vorgang hieß vectigalia locare (vgl. Cic. leg. agr. 1,7). Das Adjektiv triumviralis bezieht sich entweder auf die drei Triumvirn Antonius, Oktavian und Lepidus (so Zanon dal Bo [1988] 163 und O. & E. Schönberger [2004] 293), die sich im November 43 v.Chr., also kurz vor Ciceros Tod, zusammengeschlossen haben, oder konkret auf Antonius, der im vorigen Satz genannt ist. Da Latro – wie viele Deklamatoren – die Verantwortung der Triumvirn auf Antonius reduziert (Migliario [2007] 129 spricht allgemein von einer reductio ad unum), ist die zweite Möglichkeit vielleicht etwas wahrscheinlicher. Redit ist wohl, wie Håkanson ad loc. kommentiert, Präsens und muss nicht als kontrahierte Perfektform aufgefasst werden (so Winterbottom [1974] II 563). Cives Romani, die

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6 suas. 6

Lesart der besten Handschriften, ist vielleicht, wie ebenfalls Håkanson ad loc. bemerkt, durch die falsche Auflösung der Abkürzung CR entstanden. Die Recentiores überliefern die richtigen Formen civium Romanorum. unius tabellae albo Pharsalica ac Mundensis Mutinensisque ruina vincitur: Die übertrieben wirkende Behauptung des Deklamators, dass der Verlust, der durch die Proskriptionen der Triumvirn bedingt ist, größer ist als derjenige, den die Römer in den Schlachten bei Pharsalos, Munda und Mutina erlitten haben, erklärt sich dadurch, dass es um die Qualität und nicht um die Quantität geht, wie aus dem nächsten Satz deutlich wird. Nach Appian (civ. 4,5) wurden nämlich 300 Senatoren von den Triumvirn proskribiert; Cassius Dio (47,13,1) gibt dezidiert keine genaue Zahl an, da einige Namen ergänzt und andere entfernt wurden. Bei Pharsalos (48 v.Chr.) konnte Caesar die entscheidende Schlacht des Bürgerkrieges gegen Pompeius gewinnen. An dem spanischen Ort Munda wurde die letzte Schlacht des caesarisch-pompeianischen Bürgerkrieges ausgetragen, in der Caesar die Söhne des Pompeius besiegte (45 v.Chr.). In Mutina belagerte Antonius D. Brutus letztlich vergeblich (Dez. 44 – April 43 v.Chr.). Hirtius, der in der abschließenden Schlacht starb (vgl. § 1 mit dem Kommentar zur Stelle), und Oktavian konnten den Sieg der Republikaner sicherstellen. Die Tatsache, dass Latro als einziger Deklamator in der sechsten und siebenten Suasorie die Schlacht bei Munda erwähnt, ist kaum biographisch in dem Sinne motiviert, dass Latro aus Corduba stammt und seine Kindheit von den Konflikten zwischen Caesarianern und Pompejanern überschattet war, wie Migliario (2007) 126 und (2008) 85 meint. Denn die Schlacht bei Mutina wird ebenfalls nur von Latro genannt. Ferner wird auf die Schlacht bei Munda immerhin an einer Stelle indirekt verwiesen, an der der älteste Sohn des Triumvirn Pompeius genannt wird (vgl. suas. 7,3 mit dem Kommentar zur Stelle), – und zwar von dem Griechen Cestius Pius. Auf die Tafel mit den Namen der Proskribierten verweisen auch Cornelius Hispanus in § 7 und Haterius suas. 7,1; vgl. auch contr. exc. 4,8. Historisch gesehen ist der Singular (Tafel) auffällig, da die Triumvirn nach Cassius Dio zwei Listen aushängen ließen; vgl. Cassius Dio 47,3,2: τά τε ἄλλα ὅσα ἐπὶ τοῦ Σύλλου πρότερον ἐπέπρακτο, καὶ τότε συνεφέρετο, πλὴν ὅτι δύο μόνα λευκώματα, χωρὶς μὲν τῶν βουλευτῶν χωρὶς δὲ τῶν ἄλλων, ἐξετέθη. Auch Appian (civ. 4,7) benutzt im Zusammenhang mit der Proskriptionsliste den Plural (πίνακες), aber die Wahl des Numerus erklärt sich bei ihm wohl dadurch, dass die Liste an mehreren Punkten der Stadt ausgehängt wurde. Die Deklamatoren hingegen, deren Aussagen chronologisch gesehen die erste Quelle für Fragen nach den Proskriptionslisten darstellen, verwenden immer den Singular. Zu den Proskriptionslisten vgl. Migliario (2009b). Mit album wird eine weiße Tafel bezeichnet, die zu verschiedenen öffentlichen Bekanntmachungen diente, z. B. für das Edikt des Prätors (vgl. ThLL I 1507,49 – 1509,9). Mit

6.2 Kommentar

393

Bezug auf Proskriptionen ist das Substantiv sonst nicht belegt; vgl. aber λευκώματα bei Cassius Dio (s.o.). Für vincere i.S.v. „übertreffen“ vgl. Cic. Verr. II 5,11: exspectate facinus quam vultis improbum; vincam tamen exspectationem omnium. consularia capita auro rependentur: Der Deklamator spielt auf die Tatsache an, dass die Mörder der (ehemaligen) Konsuln belohnt werden; vgl. App. civ. 4,11: ἀναφερόντων δὲ τὰς κεφαλὰς οἱ κτείναντες ἐφʼ ἡμᾶς, ὁ μὲν ἐλεύθερος ἐπὶ δισμυρίαις δραχμαῖς Ἀττικαῖς καὶ πεντακισχιλίαις ὑπὲρ ἑκάστης, ὁ δὲ δοῦλος ἐπʼ ἐλευθερίᾳ τοῦ σώματος καὶ μυρίαις Ἀττικαῖς καὶ τῇ τοῦ δεσπότου πολιτείᾳ. Popillius soll für den Mord an Cicero zusätzlich 250.000 Drachmen erhalten haben (vgl. ib. 20). Seit Müller (1887) 559 lesen die Herausgeber mit der Editio Veneta (1490) das Präsens rependuntur (vgl. Håkanson [1989] 357). Wir sehen jedoch keinen Anlass, an dem Futur rependentur Anstoß zu nehmen. Das Futur bezieht sich nämlich auf den Moment, zu dem der Mörder seine Belohnung erhält, nicht auf den Moment der Proskription. tuis verbis, Cicero, utendum est: ‘o tempora, o mores!’: Um die Beschreibung der schrecklichen Zeit pointiert abzuschließen, zitiert Latro in einer Sentenz Ciceros berühmtes Sprichwort; vgl. Cic. Catil. 1,2; dom. 137; Verr. II 4,56; Deiot. 31. Auch Martial greift dieses Zitat auf (9,70,1 f.): dixerat ‘O mores! O tempora!’ Tullius olim, / sacrilegum strueret cum Catilina nefas. Quintilian (inst. 9,2,26) zitiert es als ein Beispiel für die simulatio. Für tuis verbis, Cicero, utendum est vgl. suas. 7,5: tuis utar, Cicero, verbis. Videbis ardentes crudelitate simul ac superbia oculos; videbis illum non hominis, sed belli civilis vultum; videbis illas fauces, per quas bona Cn. Pompei transiverunt, illa latera, illam totius corporis gladiatoriam firmitatem; videbis illum pro tribunali locum, quem magister equitum, cui ructare turpe erat, vomitu foedaverat: Der Deklamator beschreibt Antonius unter Zuhilfenahme zahlreicher Elemente aus einer der Verrinen und der zweiten Philippischen Rede (s. die folgenden Anmerkungen). Dabei ist vor allem eine Passage aus der zweiten Philippika das Vorbild für diese Stelle. Dort schildert Cicero, wie sich Antonius auf dem Tribunal übergeben, als einziger für Pompeius’ Güter geboten und diese anschließend verschwendet hat (Phil. 2,63 – 67). ardentes crudelitate simul ac superbia oculos: Auf diese Weise beschreibt Cicero Verres (Verr. II 5,161): ipse inflammatus scelere et furore in forum venit; ardebant oculi, toto ex ore crudelitas eminebat. Drechslers Ergänzung von illos vor ardentes (vgl. Håkanson [1989] 357) ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Deklamator im Folgenden die Anapher immer mit einer Form von ille bildet.

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6 suas. 6

Trotzdem ist die Supplierung zurückzuweisen, auch deshalb, weil Latro nicht immer videbis wiederholt. belli civilis vultum: Die Personifizierung mit dem Bürgerkrieg geht allem Anschein nach auf den Deklamator selbst zurück. Cicero betont zwar in den Philippiken, dass Antonius der Urheber des Bürgerkrieges war, aber eine derartige Personifizierung nimmt er nicht vor (sie scheint an dieser Stelle singulär vorzuliegen). Vom Gedanken her ist am ehesten folgende Stelle zu vergleichen (Phil. 2,70): ad ipsas tuas partis redeo, id est ad civile bellum, quod natum, conflatum, susceptum opera tua est. illas fauces, per quas bona Cn. Pompei transiverunt, illa latera, illam totius corporis gladiatoriam firmitatem; videbis illum pro tribunali locum, quem magister equitum, cui ructare turpe erat, vomitu foedaverat: Vgl. Cic. Phil. 2,63 – 67: tu istis faucibus, istis lateribus, ista gladiatoria totius corporis firmitate tantum vini in Hippiae nuptiis exhauseras, ut tibi necesse esset in populi Romani conspectu vomere postridie. […] in coetu […] populi Romani negotium publicum gerens, magister equitum, cui ructare turpe esset, is vomens frustis esculentis vinum redolentibus gremium suum et totum tribunal implevit. Quintilian hat Ciceros Darstellung, wie sich Antonius übergeben hat, geschätzt, da er sie mehrfach als Beispiel zitiert, nämlich für die amplificatio, die damit verbundene Übertreibung, das Asyndeton und das Hyperbaton (inst. 8,4,8 und 16; 8,6,68; 9,4,23 und 29). transiverunt: Vgl. transiverant in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle. totius corporis gladiatoriam firmitatem: Die Betonung der körperlichen Kraft eines Gladiators suggeriert, dass Antonius den Konsum von viel Alkohol vertragen kann. Wenn er sich trotzdem übergeben hat, bedeutet dies, dass er Unmengen davon konsumiert hat. quem magister equitum: Antonius bekleidete dieses Amt in den Jahren 48 – 47 v.Chr.; vgl. Cassius Dio 42,21 und Cic. Phil. 2,62. Textkritisch ist die Frage zu stellen, ob das nur in der Handschrift B vor magister equitum überlieferte modo gelesen werden sollte, wie es alle modernen Herausgeber tun. Seine Entsprechung an der Cicerostelle hätte modo in postridie (s. weiter oben). Auf der anderen Seite ist die Entstehung von modo zwischen den überlieferten Formen quo (statt quem ist quo überliefert) und magister nachvollziehbar, da quo ma- leicht quo modo ergeben konnte (Håkanson ad loc. erwägt diese Entstehung). Da A und V gegen B stehen, lesen wir das Wort nicht.

6.2 Kommentar

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foedaverat: Håkanson ad loc. erklärt den Gebrauch des Plusquamperfektes als vorzeitig zu dem zu ergänzenden Gedanken cum secundam in Antonium orationem habuisti. Diese Meinung ist alleine schon deshalb zurückzuweisen, weil Cicero die zweite Philippische Rede nie gehalten hat, sondern als Pamphlet kursieren ließ. Die Wahl des Plusquamperfektes lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass der Deklamator aus einer zukünftigen Perspektive spricht. Daher ist der Zeitpunkt der Beratung für ihn Vergangenheit und das geschilderte Ereignis Vorvergangenheit. supplex accadens genibus deprecaberis et ore, cui se debet salus publica, humilia in adulatione verba summittes?: Für die Geste des Bittflehenden vgl. Ter. Hec. 378: ad genua accidit; Cic. Att. 1,14,5; Sen. Tro. 691 f.: ad genua accido / supplex; Suet. Iul. 20,4. Der Gedanke, dass sich das Wohlergehen Cicero verdankt, liegt auch bei Cornelius Severus vor; vgl.V. 12 in § 26: unica sollicitis quondam tutela salusque. Für accadere mit Dativ vgl. das ähnliche succidere mit Dat. suas. 2,2 mit dem Kommentar zur Stelle: minimis succidunt corpora. Die Form accadens (als Nebenform zu accidens) ist in der gesamten lateinischen Literatur offenbar nur an dieser Stelle überliefert (vgl. ThLL I 290,27). Daher lesen Bursian (1857) 28 und Håkanson (1989) 358 die emendierte Form accidens (Håkansons Angabe, dass diese Emendation von Watt und ihm selbst stammt, trifft nicht zu; da Bursian sie nicht als eigene Verbesserung markiert, gehen wir davon aus, dass sie älter ist). Da aber die Lesarten der drei besten Handschriften accadens überliefern oder darauf deuten (accades A, accadar B), lesen wir wie die übrigen Herausgeber accadens. Das überlieferte et ore ist von Haase zu eo ore und von Otto zu et eo ore emendiert worden (vgl. Håkanson [s.o.]). Wie Bursian (s.o.) und Håkanson (s.o.) bewahren wir die Überlieferung, da eine Konjektur unnötig ist. Gegen alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass der in den besten Handschriften überlieferte ablativische Präpositionalausdruck in adulatione gehalten werden kann und nicht mit einer Korrektur (V2) in den Akkusativ gesetzt werden muss. Für diese freie Angabe im Zusammenhang mit summittere vgl. Cic. Lael. 72: ii, qui superiores sunt, submittere se debent in amicitia. pudeat Verrem quoque: proscriptus fortius perit: Textkritisch ist dieser Satz umstritten. In den besten Handschriften ist er folgendermaßen überliefert: pudeat Verrem quodque proscriptus fortius perit. Da quodque keinen Sinn ergibt, lesen alle modernen Herausgeber mit der Editio Romana (1585) quoque (vgl. Håkanson [1989] 358). In unseren Augen ist diese Verbesserung ausreichend: „Sogar Verres würde sich schämen: er ging als Proskribierter tapferer zugrunde“. Es handelt sich daher um ein Argumentum a minori: Wenn nicht einmal Verres um Gnade gefleht hat, darf Cicero dies erst recht nicht tun. Für den Gedanken, dass Verres tapferer starb als Cicero, vgl. die Aussage über den Historiker Asinius Pollio in § 24: Pollio

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6 suas. 6

quoque Asinius, qui Verrem, Ciceronis reum, fortissime morientem tradidit. Zwar handelt es sich bei der Aussage des Deklamators um einen Anachronismus, da Verres zwar in derselben Proskription (vgl. Plin. nat. 34,6), aber nach Cicero starb; vgl. Lact. inst. 2,4,37: felix [sc. Verres] in eo ipso fuit, quod ante suam mortem crudelissimum exitum sui accusatoris [sc. Ciceronis] audivit. Aber da Anachronismen bisweilen vorkommen (s. das Kapitel in der allg. Einleitung, S. 61– 63) und der hier vorliegende geringfügig ist, berechtigt er nicht zu einem textkritischen Eingriff. Bei perit handelt es sich um eine kontrahierte Perfektform, die auch suas. 7,9 verwendet wird; vgl. ferner transit suas. 1,7. 4 Occurrat tibi Cato tuus, cuius a te laudata mors est: Wie Haterius in § 2 benutzt Marcellus Cato als Beispiel für einen ruhmreichen Tod. Cicero hat nach Catos Tod (vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle) ein Enkomion auf ihn geschrieben.Wahrscheinlich spielt der Deklamator auf dieses Werk an, wenn er sagt, dass Cicero Catos Tod gelobt hat. Das Werk ist uns nicht erhalten; vgl. Cic. Att. 13,50,1; Tac. ann. 4,34,4; Plut. Caesar 54,5 f.: ἔγραψε Κικέρων ἐγκώμιον Κάτωνος, ὄνομα τῷ λόγῳ θέμενος Κάτωνα· τοῦτʼ ἠνία Καίσαρα, κατηγορίαν αὑτοῦ νομίζοντα τὸν τοῦ τεθνηκότος διʼ αὐτὸν ἔπαινον. Quicquam ergo tanti putas, ut vitam Antonio debeas?: Für die Verachtung gegenüber Antonius vgl. Haterius’ Argumentum a minori in § 2, dass Cato ‘nur’ Caesar und nicht Antonius um Gnade hätte bitten müssen. Vgl. ferner Pompeius Silo weiter unten und Triarius in § 5. Si ad desiderium populi respicis, Cicero, quando perieris, parum vixisti; si ad res gestas, satis vixisti; si ad iniurias Fortunae et praesentem rei publicae statum, nimium diu vixisti; si ad memoriam operum tuorum, semper victurus es: Cestius spielt pathetisch auf eine enkomiastische Stelle aus Ciceros Rede Pro Marcello an, an der dieser Caesar preist (§ 25): itaque illam tuam praeclarissimam et sapientissimam vocem invitus audivi: ‘satis diu vel naturae vixi vel gloriae’. satis, si ita vis, fortasse naturae, addam etiam, si placet, gloriae: at, quod maximum est, patriae certe parum; vgl. auch Phil. 1,38; fam. 10,1,1. Im Gegensatz zu Ciceros Caesarlob mündet Cestius’ Cicerolob verständlicherweise in die Aussage, dass Cicero lange genug, ja sogar schon zu lange gelebt hat und durch seine Schriften ewig weiterleben wird. Für den durch die literarischen Leistungen erworbenen Nachruhm vgl. u. a. Enn. epigr. 2, p. 215 Vahlen: nemo me lacrimis decoret nec funera fletu / faxit. cur? volito vivos per ora virum; Hor. carm. 3,30 und Ov. met. 15,871– 879. Für die Aussage, dass Cicero lange genug gelebt hat, und die Anklänge an Pro Marcello vgl. Fuscus in § 6: et tamen, si ad aetatem annorumque numquam observatum viris fortibus numerum respicimus, sexaginta supergressus

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es, nec potes videri non nimis vixisse, qui moreris rei publicae superstes. Migliario (2007) 134– 136; (2008) 87– 89 und (2009) 519 – 521 kontrastiert Cestius’ Äußerungen hier und suas. 7,2 und 10 mit den Informationen, die wir über die historische Person Cestius suas. 7,13 erfahren, und gelangt zu der wenig überzeugenden Schlussfolgerung, dass der Grieche nach der Übersiedlung nach Rom die Vorstellungen seiner römischen Kollegen übernommen hat; s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 73 f.). Das Perfekt vixisti erklärt sich wohl dadurch, dass Ciceros Leben vom Standpunkt der Zukunft als abgeschlossen betrachtet wird; vgl. suas. 2,3 mit dem Kommentar zur Stelle: moriamur trecenti, ut hic primum invenerit, quod mutare non posset. Seit Kiessling (1872) 36 lesen die Herausgeber mit Schott quandoque anstelle des überlieferten quanto (AB) bzw. quando (B2V). Novák (1908) 265 schlägt quandocumque vor. Der Grund für diese Konjekturen liegt wohl darin, dass an dieser Stelle ein Bezug auf einen unbestimmten Moment in der Zukunft hergestellt wird. Jedoch kann quando ebenfalls mit unbestimmtem Bezug auf die Zukunft verwendet werden; vgl. Plaut. Amph. 1097; Liv. 22,10,4: qui faciet, quando volet quaque lege volet facito; Cic. Att. 6,4,2: quando Romam salvus ut spero venisti, videbis […] omnia. Scias licet tibi non expedire vivere, si Antonius permittit, ut vivas: Auch dieser Deklamator argumentiert mit der Person des Antonius gegen ein Flehen um Gnade. Vgl. Marcellus weiter oben: quicquam ergo tanti putas, ut vitam Antonio debeas? Tacebis ergo proscribente Antonio et rem publicam laniante, et ne gemitus quidem tuus liber erit?: Pompeius Silo spielt auf eine Aussage Ciceros aus der zweiten Philippischen Rede an und spitzt die dort geschilderte Situation zu. Über den Verkauf von Pompeius’ Gütern sagt Cicero dort (§ 64): una in illa re servitutis oblita civitas ingemuit servientibusque animis, cum omnia metu tenerentur, gemitus tamen populi Romani liber fuit. Während das römische Volk die Versteigerung von Pompeius’ Gütern noch beklagen konnte, sei Cicero ein Klagen angesichts der Proskriptionen und der Zerstörung der res publica nicht möglich. Für den Gedanken, dass Cicero nach der Erlangung von Antonius’ Gnade Kritik an diesem unterbinden müsste, vgl. Haterius in § 1: crede mihi: cum diligenter te custodieris, faciet tamen Antonius, quod Cicero tacere non possit. malo populus Romanus mortuum Ciceronem quam vivum desideret: In dieser Sentenz formuliert der Deklamator seine Schlussfolgerung, dass das römische Volk angesichts der Umstände lieber Ciceros Tod als dessen Weiterleben wünschen solle. Andererseits scheint Pompeius Silo auf die von Cestius vorher

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zitierte Aussage zu rekurrieren, dass Cicero nach dem Wunsch des Volkes zu kurz gelebt hat: si ad desiderium populi respicis, Cicero, quando perieris, parum vixisti. 5 ‘Quae Charybdis est tam vorax? Charybdim dixi? quae, si fuit, animal unum fuit. vix me dius fidius Oceanus tot res tamque diversas uno tempore absorbere potuisset.’ huic tu saevienti putas Ciceronem posse subduci?: Wie Marcellus und Pompeius Silo (§ 4) argumentiert auch dieser Deklamator mit der Person des Antonius gegen ein Flehen um Gnade und zitiert aus Ciceros zweiter Philippischen Rede (§ 67): Quae Charybdis tam vorax? Charybdin dico? quae si fuit, animal unum fuit: Oceanus, me dius fidius, vix videtur tot res tam dissipatas, tam distantibus in locis positas tam cito absorbere potuisse. Während Cicero jedoch Antonius’ Verschwendung der Güter des Pompeius brandmarkt, dient Triarius’ Vergleich zwischen Antonius und Charybdis bzw. dem Ozean der Illustration von Antonius’ mörderischem Wüten (saevienti). Wie suas. 1,5 ein Brief an Cicero und 2,20 ein Vergilvers ungenau zitiert werden (s. dort mit dem Kommentar jeweils zur Stelle), zitiert auch Triarius hier etwas ungenau aus Ciceros Rede. Charybdis wird auch suas. 1,13 genannt, allerdings in einem anderen Zusammenhang. ARELLI FVSCI patris: Auch dieses Exzerpt aus Fuscus’ Deklamation beinhaltet überwiegend beschreibende Elemente. Fuscus’ beinahe poetische Beschreibungen bewogen Seneca d.Ä. dazu, ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weswegen er mit ihnen das Referat der zweiten, dritten, vierten und fünften Suasorie beginnt (vgl. suas. 2,1 f.; 2,10; 2,23; 3,1; 3,5; 3,7 Ende; 4,1– 3; 4,5 Ende; 5,1– 3). Zu Fuscus’ Exzerpten in der sechsten und siebenten Suasorie vgl. Huelsenbeck (2009) 291– 307. Ab armis ad arma discurritur; foris victores domi trucidamur, dum in sanguine intestinus hostis incubat: Der Deklamator beschreibt hier – wie Latro in § 3 – die schrecklichen Zeitumstände. Der Gedanke ist, dass das in Kriegen mit auswärtigen Völkern siegreiche römische Volk im Inneren unter einem Bürgerkrieg leidet; vgl. Hor. epod. 16,3 – 10: quam [sc. Romam] neque finitimi valuerunt perdere Marsi […] inpia perdemus devoti sanguinis aetas […]. Für das Polyptoton ab armis ad arma vgl. Fuscus suas. 5,1: amissa, ne audeat, amissurum monent. Das Adjektiv intestinus wird seit der Herennius-Rhetorik (4,38) in der Prosa gebraucht. Sowohl vor als auch nach trucidamur ist dum überliefert. Sämtliche modernen Herausgeber lesen stattdessen domi an beiden Stellen. Da domi durch den Gegensatz zwischen foris und domi dem Satz einen Sinn verleiht, muss wohl an der ersten Stelle domi gelesen werden. Allerdings erscheint es unnötig, auch an der zweiten Stelle in die Überlieferung einzugreifen. An der ersten Stelle liegt also ein Antizipationsfehler vor. Zwar wird das Verb incubare meistens mit dem Dativ (bzw.

6.2 Kommentar

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einer Form, die als Dativ oder Ablativ gedeutet werden kann) konstruiert, weswegen die Herausgeber seit Müller (1887) 560 mit Gertz (1879) 153 nostro sanguini anstelle des überlieferten in sanguine lesen und Castiglioni (1928) 123 domestico sanguini vorschlägt. Vgl. aber Sen. dial. 7,25,2, wo incubare mit super konstruiert wird. quis non hoc populi Romani statu Ciceronem, ut vivat, cogi putat?: Die Überlieferung kann gehalten werden, indem man eine Betonung auf cogi annimmt (vgl. Bonnet [1889] 140): Cicero würde nur gezwungenermaßen weiterleben. Dieses Textverständnis liegt auch bei Bornecque (1902) II 332 und Winterbottom (1974) II 565 Fußn. 5 vor; vgl. Bornecque: „quand telle est la situation du peuple romain, qui peut croire que Cicéron consente à vivre, à moins d’y ètre forcé?“. Daher erübrigen sich die textkritischen Eingriffe von Thomas (1886) 45 f., Müller (1887) 560 und Van der Vliet (1895) 39 (s. den Apparat). Rogabis, Cicero, turpiter Antonium, frustra: Der Deklamator behauptet das Gegenteil von dem, was Geminus, der für die Gegenseite plädiert, behauptet; vgl. § 13: [sc. Geminus dixit] non turpiter rogaturum, non frustra rogaturum. Aufgrund dieser Parallele hat Thomas (1886) 46 rogabis vor frustra ergänzt. Diese Supplierung übernehmen alle Herausgeber seit Müller (1887) 561. Kiessling (1872) 36 ergänzt mit Schulting et vor frustra. Wir halten wie Bursian (1857) 29 eine Supplierung für unnötig. Für das Asyndeton vgl. § 12: ego belle mores hominis novi: faciet, rogabit. Gegen Thomas’ Supplierung ist einzuwenden, dass rogabis ἀπὸ κοινοῦ steht. Non te ignobilis tumulus abscondet; idem virtuti tuae, qui finis est immortalium; humanorum operum custos memoria, quae magni viri vita perpetua est, in omnia te saecula sacratum dabit: Wie Cestius benutzt auch Fuscus das Argument, dass Cicero durch seine Werke in der Erinnerung weiterleben wird; vgl. § 4: si ad memoriam operum tuorum [sc. respicis], semper victurus es. Für den Gedanken vgl. ferner Cic. Cato 82: an censes […] me tantos labores […] suscepturum fuisse, si eisdem finibus gloriam meam quibus vitam essem terminaturus? Vell. 2,66,5 (über Cicero): vivit vivetque per omnem saeculorum memoriam. Eine Trennung zwischen der physischen Existenz und dem Nachruhm nimmt Fuscus auch suas. 2,2 vor (mit Bezug auf die Spartaner bei den Thermopylen). Gallio trennt suas. 5,8 zwischen dem Nachruhm und der physischen Existenz der Trophäen, die nach den Siegen der Griechen über die Perser in den Schlachten bei Marathon (490 v.Chr.) und vor Salamis (480 v.Chr.) aufgestellt wurden. Zu den Vorbildern bei Horaz und Ovid vgl. den Kommentar zu suas. 5,8. Textkritisch ist der hier vorliegende Abschnitt höchst umstritten (s. die folgenden Anmerkungen).

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idem virtuti tuae, qui finis est immortalium: Für finis est alicui rei vgl. Liv. 1,50,8: is finis orationi fuit; Ov. met. 4,389: finis erat dictis. Bursian (1857) 29 liest den Genetiv virtutis anstelle des Dativs virtuti. Kiessling (1872) 36 liest außerdem mit Gronovius (1672) 37 mortalium statt immortalium. Thomas (1880) 14 f. nimmt Anstoß am Adjektiv humanorum im nächsten Teilsatz, da seiner Meinung nach die memoria nicht als humanorum operum custos bezeichnet werden könne. Daher liest er Romanorum statt humanorum, wobei Romanorum diesen Teilsatz beendet und immortalium operum custos den nächsten Teilsatz beginnt. Müller (1887) 561 liest mit einer Kombination von textkritischen Eingriffen u. a. von Gertz (1879) 153 nec idem virtutis tuae qui vitae finis est. immortalis […]. Håkanson (1989) 358 bewahrt den Dativ virtuti und liest nec idem virtuti tuae vitaeque finis est. immortalis […]. Für weitere Kombinationen von Konjekturen und Lesarten und Madvigs textkritische Eingriffe vgl. Müller (s.o.). Wir halten sämtliche textkritischen Eingriffe für unnötig, da die Überlieferung einen hervorragenden Sinn ergibt, indem man von einer Brachylogie ausgeht (qui finis est [sc. virtuti] immortalium): „Deine Tugend hat dasselbe Ende wie diejenige der Unsterblichen.“ Gemeint ist natürlich, dass Ciceros Tugend für immer in Erinnerung bleiben wird. quae magni viri vita perpetua est: Anders als alle anderen modernen Herausgeber lesen wir die von der Korrektur τ überlieferten Worte. Das in den besten Handschriften überlieferte que manus viri vita perpetua est wird einhellig zurückgewiesen, da weder que noch manus in diesem Zusammenhang einen Sinn ergibt. Die von der Korrektur τ hergestellten Worte stellen in unseren Augen die einfachste Emendation dar, da que als quae gedeutet werden kann und nur manus zu magni geändert wird. in omnia te saecula sacratum dabit: Für dare i.S.v. reddere vgl. ThLL V 1,1697,27– 64; Sall. Iug. 59,3: hostis paene victos dare; Liv. 8,6,6: stratas legiones Latinorum dabo. Es dürfte kein Grund bestehen, mit Madvig an der Überlieferung zu zweifeln und servatum statt sacratum herzustellen. Für sacratus bzw. sacrare mit Bezug auf den Nachruhm vgl. Liv. 39,40,5: vivit immo vigetque eloquentia eius [sc. Catonis] sacrata scriptis omnis generis. 6 nihil aliud intercidet quam corpus fragilitatis caducae, morbis obnoxium, casibus expositum, proscriptionibus obiectum: Ähnlich wie suas. 2,2 verharmlost der Deklamator den Tod, indem er darlegt, dass nur der schwache Körper betroffen ist; vgl. dort: inbecilla enim nos materia deus orsus est; quippe minimis succidunt corpora. Für den Gedanken und die Begriffe fragilitas und caducus mit Bezug auf den Körper vgl. suas. 7,7 mit dem Kommentar zur Stelle: corpus, quod

6.2 Kommentar

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fragile et caducum est; für caducus vgl. auch Ps. Quint. decl. 10,17 (s. die folgende Anmerkung). animus vero divina origine haustus, cui nec senectus ulla nec mors, onerosi corporis vinculis exsolutus ad sedes suas et cognata sidera recurrit: Der Deklamator verknüpft hier zwei Gedanken, die ihren Ursprung in der Philosophie haben, nämlich dass die Seele göttlichen Ursprungs ist und zu den Gestirnen zurückkehrt und dass der Körper ein Gefängnis für sie ist. Diese Gedanken, die maßgeblich von Platon geprägt wurden (vgl. Men. 86b; Gorg. 493a; Phaid. 62b4; 82e2; 92a1; Crat. 400c), finden sich auch bei Cicero; vgl. div. 1,110: ad naturam deorum, a qua […] haustos animos et libatos habemus; rep. 6,18: immo vero […] hi vivunt, qui e corporum vinclis tamquam e carcere evolaverunt; Cato 77: sumus inclusi in his compagibus corporis […]. est enim animus caelestis; Tusc. 1,43. Für die rhetorische Verwertung dieser Gedanken vgl. Quint. inst. 12,2,28: nam quae potest materia reperiri ad graviter copioseque dicendum magis abundans quam […] de origine animorum […]? Ps. Quint. decl. 10,17: [sc. sapientes dixerunt] corpus caducum [sc. esse] […] animam […] inde venire, unde rerum omnium auctorem parentemque spiritum ducimus, nec interire […] sed, quotiens humani pectoris carcerem effregerit […] petere sedes inter astra. Für haurire mit Bezug auf die Seele vgl. Cic. div. 1,70: animos hominum quadam ex parte extrinsecus esse tractos et haustos; 110 (s.o.); 2,26; Stat. Theb. 5,23 f.: dic […] animam quibus hauseris astris. Anders als alle modernen Herausgeber lesen wir das Präsens recurrit, da es besser bezeugt ist als das Futur recurret. Das Präsens erklärt sich wohl durch die allgemein gehaltene Aussage. Et tamen, si ad aetatem annorumque numquam observatum viris fortibus numerum respicimus, sexaginta supergressus es, nec potes videri non nimis vixisse, qui moreris rei publicae superstes: Komplementär zu dem Argument, dass Ciceros Nachruhm ewig dauern wird, weist der Deklamator darauf hin, dass Cicero auch nach ‘irdischen’ Maßstäben lange genug gelebt hat; vgl. Livius in § 22: vixit tres et sexaginta annos, ut, si vis afuisset, ne immatura quidem mors videri possit. Zu dem Zeitpunkt der Proskriptionen war Cicero 63 Jahre alt. Für den Gedanken, dass die Anzahl der Jahre bei der Frage, ob Helden lange genug gelebt haben, irrelevant ist (dieser Gedanke wird in diesem Satz vordergründig zurückgewiesen), vgl. Quint. decl. 253,6: quid? ego non satis vixi? non enim annorum numero nec spatio aetatis terminari certum est fortium virorum vitam, sed laude et fama et perpetuae posteritatis immortalitate; Ps. Quint. decl. 4,11. Die Formulierung si ad […] respicimus übernimmt der Deklamator von Cicero; vgl. Cestius in § 4 mit dem Kommentar zur Stelle. Für den Dativus auctoris viris fortibus in Abhängigkeit von observatus vgl. Plin. nat. 2,220: observatum id multis; 7,171: quaeque alia

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Hippocrati principi medicinae observata sunt; Ov. met. 15,373: res observata colonis. Die Tatsache, dass non nimis normalerweise „nicht allzu sehr“ bedeutet, hat Kiessling (1872) 37 und Müller (1887) 561 dazu veranlasst, mit Schulting non vor videri zu stellen. Håkanson (1989) 359 ergänzt diu hinter non nimis und begründet seine Supplierung ad loc. mit dem Argument, dass nimis nach Ausweis des OLD nicht „zu lange (Zeit)“ bedeuten kann; vgl. Cestius in § 4: nimium diu vixisti. Die entscheidende Frage ist, ob sich non nimis i.S.v. parum halten lässt, denn zu parum braucht diu, wie u. a. § 4 zeigt, nicht ergänzt zu werden. Zwar haben wir für diese Verwendungsweise von non nimis keinen Beleg finden können, aber wir sind wie Bursian (1857) 29 geneigt, dieses Phänomen Fuscus’ Sprachgebrauch zuzutrauen (vgl. suas. 2,10 mit dem Kommentar zur Stelle). Vidimus furentia toto orbe civilia arma et post Italicas Pharsaliasque acies Romanum sanguinem hausit Aegyptus: Der Deklamator beschreibt die schrecklichen Ereignisse der Jahre 49 und 48 v.Chr.; vgl. den Beginn des Exzerptes, wo die schreckliche gegenwärtige Lage geschildert wird. Mit Italien, Pharsalos und Ägypten werden die Hauptschauplätze des römischen Bürgerkrieges genannt. Zum ähnlichen Fall, dass dasjenige, was jemand durch einen früheren Tod nicht gesehen hätte oder hat, geschildert wird, vgl. die Stellen, die Edward (1928) 136 anführt (z. B. Cic. de orat. 3,8). Für furor mit Bezug auf den Bürgerkrieg vgl. contr. 1 praef. 11: ne Ciceronem quidem aetas mihi eripuerat sed bellorum civilium furor, qui tunc orbem totum pervagabatur, intra coloniam meam me continuit; Hor. epod. 7,13. Für acies i.S.v. „Schlacht“ vgl. suas. 5,1 mit dem Kommentar zur Stelle. Ob mit V2 Pharsaliasque oder mit den Recentiores Pharsalicasque gelesen werden sollte, lässt sich schwer sagen. Die Verschreibung in den besten Handschriften deutet aber eher auf Pharsaliasque hin. quid indignamur in Cicerone Antonio licere? in Pompeio Alexandrino licuit. at non sic occiduntur, qui ad indignos confugiunt?: In indignierten Fragen entlarvt der Deklamator die Möglichkeit, Antonius um Gnade zu bitten, als Risiko: Pompeius’ Beispiel hat gezeigt, dass der Versuch, bei einer unwürdigen Person Zuflucht zu finden, tödlich enden kann. Pompeius wurde 48 v.Chr. getötet, als er bei Ptolemäus in Ägypten Schutz suchen wollte. Im letzten Satz des Deklamators liegt möglicherweise eine Anspielung auf zwei Verse aus einer verlorenen Sophoklestragödie vor, wie Migliario (2008) 89 Fußn. 50 gesehen hat. Diese beiden Verse soll Pompeius unmittelbar vor seiner Ermordung an seine Frau und Kinder gerichtet haben (vgl. Plut. Pompeius 78,7; App. civ. 2,85; Cassius Dio 42,4,3; TGrFr 873 Radt): ὅστις δὲ πρὸς τύραννον ἐμπορεύεται, / κείνου ‘στὶ δοῦλος, κἂν ἐλεύθερος μόλῃ. Textkritisch birgt dieser Passus einige Probleme. Wir sind der Meinung, dass – von zwei Stellen abgesehen – die beste Überlieferung gehalten

6.2 Kommentar

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werden kann: „Warum empören wir uns darüber, dass es Antonius im Fall von Cicero erlaubt ist [sc. ihn zu töten]? Im Fall von Pompeius war es einem Alexandriner erlaubt. Oder sterben so nicht diejenigen, die bei Unwürdigen Zuflucht suchen?“ Am Anfang lesen wir quid (V) und nicht quin (AB), da quin sinnlos ist. Håkansons Einwand ad loc., dass es ein Affront gegenüber Cicero und eine Respektsbezeugung gegenüber Antonius wäre, wenn man quid liest (Håkanson liest mit C.F.W. Müller quod), können wir nicht teilen, da der Deklamator Ciceros Lage verallgemeinert. Die letzte Frage muss in unseren Augen mit at (V) eingeleitet werden, wohingegen A und B ein sinnloses ad überliefern. Den von uns edierten Text liest auch Bursian (1857) 29 – mit dem Unterschied, dass er die letzte Frage mit an (V2) beginnen lässt. Für at, das eine indignierte Frage einleitet, vgl. Fuscus suas. 4,1 mit dem Kommentar zur Stelle: quid ita inutili desidemus facundia aut periculosis atteritur armis manus? at melius alio pignore quam futuri scientia ingenia surrexerint? Hinter licere muss nicht mit B2 quod ergänzt werden, wie es Kiessling (1872) 37 und Müller (1887) 561 tun, da dort stark interpungiert werden kann. Für licet mit der Besonderheit, dass das, was erlaubt ist, aus dem Kontext erschlossen werden muss, vgl. ThLL VII 1359,46 – 76; Plaut. Stich. 446 – 448: atque id ne vos miremini, hominis servolos / potare, amare atque ad cenam condicere: / licet haec Athenis nobis; Cic. leg. 1,56 f.: ‘quapropter hoc diiudicari nescio an numquam, sed hoc sermone certe non potest, si quidem id quod suscepimus perfecturi sumus.’ ‘At ego huc declinabam nec invitus.’ ‘Licebit alias. Nunc id agamus quod coepimus […].’; Att. 10,4,9: ‘cur […] sex [sc. fasces]?’ ‘quia duodecim nolui; nam licebat’. An dieser Stelle dürfte die Annahme eines unbestimmten licere (gemeint ist, dass es erlaubt ist zu töten) aufgrund des Exzerptcharakters des Werkes nicht ungerechtfertigt erscheinen. Gertz’ beachtenswerte Konjektur spadoni anstelle von ad non (AB) bzw. at non (V) wurde von Müller (s.o.) und den folgenden Herausgebern übernommen. Das Wort verweist auf den Eunuchen Pothinus, einen der Mörder des Pompeius (vgl. Liv. perioch. 112; Mart. 5,69,1). Aber auch diese Konjektur ist unnötig, da at non gelesen werden kann (s.o.). Die Entscheidung der Herausgeber seit Kiessling (s.o.), den schlechter bezeugten Akkusativ Ciceronem und die Konjektur Pompeium zu lesen, können wir nicht nachvollziehen, da die Ablative einen guten Sinn ergeben („im Fall von Cicero bzw. Pompeius“); vgl. facere in aliquo bei Cornelius Severus in § 26 (V. 22) mit dem Kommentar zur Stelle. 7 Proscriptus est ille, qui tuam sententiam secutus est: Ille sc. senatus. Um Cicero die Ausweglosigkeit der Situation vor Augen zu führen, verweist dieser Deklamator in einer Übertreibung darauf, dass nicht nur Cicero selbst, sondern der Senat proskribiert worden ist. In dem Relativsatz bezieht sich Cornelius Hispanus wohl auf die Senatssitzung vom 26. April 43 v.Chr., also kurz nach der Schlacht von Mutina (vgl. § 3 mit dem Kommentar zur Stelle), in der Antonius und

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6 suas. 6

seine Anhänger auf Ciceros Initiative hin zu Staatsfeinden erklärt wurden (vgl. Cic. ad Brut. 10). Daher ist in diesem Satz der radikale Wandel der politischen Lage zu Ciceros Ungunsten ausgedrückt: Nachdem Cicero die Ächtung von Antonius und seinen Anhängern erwirkt hat, sind nun er selbst und seine Anhänger proskribiert. Vgl. suas. 7,6: Antonius hostis a re publica iudicatus nunc hostem rem publicam iudicat. Håkanson (1989) 359 ergänzt mit Shackleton Bailey (1969) 320 senatus hinter proscriptus. Zwar meinen auch wir, dass ille auf den Senat verweist, aber eine Supplierung dieses Wortes ist vielleicht nicht nötig, da es sicherlich in der ursprünglichen Deklamation vor diesem Satz gestanden hat.Vgl. suas. 7,8 mit dem Kommentar zur Stelle: pateris perire [sc. ingenium], ut, quod Cicero optimum habet, ante se efferat? Daher sind auch die aus demselben Grund vorgeschlagenen textkritischen Eingriffe anderer Forscher zurückzuweisen (s. den Apparat). Edward (1928) 136 f. versteht unter ille L. Caesar, Antonius’ Onkel, der Cicero bei der Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung unterstützt hat und auf den Cornelius Hispanus im übernächsten Satz anspielt. Jedoch ist die Nennung des L. Caesar an dieser Stelle nicht so effektiv wie diejenige des Senats, und der Kontext, d. h. tota tabula im nächsten Satz und sententiam in diesem Satz, legt nahe, dass der Senat gemeint ist. Für die Übertreibung, dass der (ganze) Senat proskribiert worden ist, vgl. Haterius in § 1: quemadmodum autem hunc senatum intrare poteris, exhaustum crudeliter, repletum turpiter? tota tabula tuae morti proluditur: Für diesen Deklamator ist die Proskriptionsliste ein Vorspiel für Ciceros Tod; zur Proskriptionsliste vgl. Latro in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: unius tabellae albo Pharsalica ac Mundensis Mutinensisque ruina vincitur. Für das Verb proludere im übertragenen Gebrauch (hier mit Bezug auf den Tod) lassen sich nur spätere Parallelen ermitteln (vgl. OLD s.v. proludo b); für den Bezug auf den Tod vgl. Sen. epist. 102,23: per has mortalis aevi moras illi meliori vitae longiorique proluditur. alter fratrem proscribi, alter avunculum patitur: Um die Hoffnungslosigkeit der Situation herauszustreichen, erinnert Cornelius Hispanus daran, dass Lepidus seinen Bruder Paulus und Antonius seinen Onkel L. Caesar proskribieren ließ; vgl. Vell. 2,67,3: ne quid ulli sanctum relinqueretur, velut indicium invitamentumque sceleris Antonius L. Caesarem avunculum, Lepidus Paulum fratrem proscripserant; Flor. 4,6,4. Wie Plutarch (Cicero 46) berichtet, hat Oktavian letztlich zugelassen, dass der lange von ihm protegierte Cicero getötet wird, als Lepidus seinen Bruder und Antonius seinen Onkel preisgab. quid habes spei? ut Cicero periret, tot parricidia facta sunt: Der Gedanke ist derselbe wie in dem Satz tota tabula tuae morti proluditur: Ciceros Tod ist, wie die

6.2 Kommentar

405

Proskription der Senatoren, des Paulus und des L. Caesar zeigen, unausweichlich. Edwards (1928) 137 Angabe, dass das Wort parricidium auf Ciceros Titel pater patriae anspielt, ist nicht überzeugend. Offensichtlich geht diese Meinung auf die falsche etymologische Herleitung von parricidium zurück; vgl. suas. 3,2 mit dem Kommentar zur Stelle. Repete agedum tot patrocinia, tot clientelas et maximum beneficiorum tuorum, ipsum: iam intelleges Ciceronem in mortem cogi posse, in preces non posse: Der Deklamator benutzt hier dasselbe Argument wie Cestius in § 4 und Fuscus in § 6, nämlich dass Cicero lange genug gelebt hat. Zur Untermauerung dieses Argumentes verweist er – wie Cestius ebendort – auf Ciceros Leistungen (hier sind es die beneficia, dort die res gestae). Für cogere in aliquid vgl. suas. 4,1 mit dem Kommentar zur Stelle. Worum es sich bei der größten Wohltat handelt, die Cornelius Hispanus hier nennt, ist textkritisch umstritten. Überliefert ist [sc. repete] ipsum. Diese Lesart wird von Sander verteidigt (vgl. Müller [1887] 562), obwohl es nach Ausweis der Grammatiken den Gebrauch von ipsum i.S.v. te ipsum nicht gibt, sondern ipse das fehlende Personalpronomen der dritten Person ersetzen und als Reflexivpronomen der dritten Person fungieren kann (vgl. K.-St. II 1, S. 628 – 632). Vgl. aber folgende Stelle (Verg. ecl. 1,9 f.): ille [sc. deus] meas errare boves, ut cernis, et ipsum / ludere quae vellem calamo permisit agresti. Wenn ipsum dort i.S.v. me ipsum stehen kann und diese Bedeutung aus dem Possessivpronomen meas und der Verbalform vellem hervorgeht, dann sollte analog ipsum i.S.v. te ipsum möglich sein, da diese Bedeutung ebenfalls aus dem Possessivpronomen (tuorum) und den Verbalformen (repete, intelleges) hervorgeht. Die verschiedenen Supplierungen, die die modernen Herausgeber tätigen bzw. übernehmen (s. den Apparat), erweisen sich also als unnötig. Anstelle des überlieferten agecum lesen wir agedum; für nachgestelltes agedum vgl. z. B. Liv. 9,33,6: dic agedum. ARGENTARI: Der Deklamator beschreibt, wie Antonius betrunken im Luxus schwelgt, während er die Köpfe der Proskribierten erblickt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Deklamator ein hypothetisches Bittgesuch Ciceros imaginiert. Vielmehr scheint die Beschreibung die gegenwärtige Situation vor Augen zu führen, in der sich Antonius’ Grausamkeit zeigt. Teilweise hat die Beschreibung ein Vorbild in Ciceros Philippischen Reden. Vgl. aber v. a. Sen. epist. 83,25 (vgl. Migliario [2007] 131 Fußn. 61): M. Antonium, magnum virum et ingeni nobilis, quae alia res perdidit et in externos mores ac vitia non Romana traiecit quam ebrietas nec minor vino Cleopatrae amor? Haec illum res hostem rei publicae, haec hostibus suis inparem reddidit; haec crudelem fecit, cum capita principum civitatis cenanti referrentur, cum inter apparatissimas epulas luxusque regales ora ac manus proscriptorum recognosceret, cum vino gravis sitiret tamen sanguinem. Als Beschreibung eines

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Gastmahls, bei dem gemordet wird, bestehen auch Parallelen zu der Beschreibung von Flamininus’ Bankett, zu der das Thema der Kontroversie 9,2 einlädt (zu den Beschreibungen von Flamininus’ Gastmahl durch die Deklamatoren vgl. Berti [2007] 332– 337). Explicantur triumviralis regni delicata convivia, et popina tributo gentium instruitur: In dem Gastmahl werden Köstlichkeiten aus der ganzen Welt und auf Kosten der ganzen Welt serviert. Auch Cicero brandmarkt Antonius’ Schwelgerei in den Philippiken; vgl. 2,69: huius in sedibus pro cubiculis stabula, pro conclavibus popinae sunt; 3,20: vino atque epulis retentus, si illae epulae potius quam popinae nominandae sunt. Für das Motiv vgl. contr. 9,2,6: instituuntur ab isto in provincia epulae et magnifico apparatu exstruitur convivium; distinguuntur argenteis poculis aurea. Durch regnum wird gegen Antonius der Vorwurf erhoben, ein König bzw. Tyrann zu sein. Auch hierfür bietet Cicero selbst die Vorlage; vgl. Phil. 3,9: quid Tarquinius tale, qualia innumerabilia et facit et fecit Antonius? senatum etiam reges habebant: nec tamen, ut Antonio senatum habente, in consilio regis versabantur barbari armati; 5,44: illius [sc. Pompeius] opibus Sulla regnavit, huius [sc. Oktavian] praesidio Antoni dominatus oppressus est; ad Brut. 1,15,4: instrumentum regni delatum ad Lepidum et Antonium. Für explicare mit Bezug auf ein Gastmahl bzw. auf die Zurschaustellung des Reichtums vgl. Lucan. 10,109 f.: explicuitque suos magno Cleopatra tumultu / […] luxus. ipse vino et somno marcidus deficientes oculos ad capita proscriptorum levat: Diese Beschreibung hat ihr Fundamentum in re in Ciceros Schilderung von Antonius’ unmäßigem Alkoholgenuß (vgl. Phil. 2,63 – 67).Vgl. ferner Triarius in § 5: quae Charybdis est tam vorax? Charybdim dixi? quae, si fuit, animal unum fuit. vix me dius fidius Oceanus tot res tamque diversas uno tempore absorbere potuisset. Die Angabe, dass Antonius im Angesicht der abgeschlagenen Köpfe der Proskribierten speist, ist eine Imagination des Deklamators; vgl. aber Sen. epist. 83,25 (s. S. 405) und App. civ. 4,20: λέγεται δὲ καὶ ἐπὶ τῆς διαίτης ὁ Ἀντώνιος τὴν κεφαλὴν τοῦ Κικέρωνος θέσθαι πρὸ τῆς τραπέζης, μέχρι κόρον ἔσχε τῆς θέας τοῦ κακοῦ. Für das Motiv vgl. contr. 9,2,4 (über Flamininus): inter temulentas reliquias sumptuosissimae cenae et fastidiosos ob ebrietatem cibos modo excisum humanum caput fertur; inter purgamenta et iactus cenantium et sparsam in convivio scobem humanus sanguis everritur. Für die deficientes oculi vgl. contr. 9,2,7, wo Flamininus’ Augen als languentes bezeichnet werden. iam ad ista non satis est dicere: ‘hominem nequam!’: Argentarius meint, dass Ciceros Vorwurf an Antonius, dass dieser ein homo nequam ist, zu schwach

6.2 Kommentar

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ausfällt. So nennt Cicero nämlich Antonius wiederholt in der zweiten Philippischen Rede (Phil. 2,61 und 77 f.).

Die divisio (8 – 14a) 8 LATRO: Latros Argumentation untergliedert sich in zwei größere Abschnitte: Zunächst legt er anhand der Kategorien des honestum und des utile dar, dass Cicero Antonius nicht um Gnade bitten sollte, um am Leben zu bleiben. Dann versucht er, Cicero davon zu überzeugen, dass er keinen Erfolg bei diesem Versuch haben wird; er benutzt also die Kategorie des δυνατόν (für die Kategorien honestum, utile und δυνατόν s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 63). Die Argumente, die der Deklamator im ersten Argumentationsschritt verwendet, gibt Seneca d.Ä. an.Wie Latro seine These stützt, dass Cicero bei dem Versuch, Antonius um Gnade zu bitten, keinen Erfolg haben wird, erfahren wir nicht. Latros Strategie entspricht einem Standardplan der Suasorien (s. das Kapitel „Die Argumentation“, S. 64– 66, v. a. 64 f.): Erst wird unter der Prämisse, dass es möglich ist, Antonius um Gnade zu bitten, gegen ein solches Bitten argumentiert; dann wird die Prämisse bestritten und somit eine noch stärkere Position erlangt. LATRO sic hanc divisit suasoriam: etiamsi impetrare vitam ab Antonio [non] potes, 〈non est〉 tanti rogare: Mit diesen Worten wird der erste Teil von Latros Argumentation umschrieben (s. die vorige Anmerkung). Für die Formulierung dieses Argumentationsschrittes mit etiamsi vgl. Albucius in § 9: primam partem fecit moriendum esse Ciceroni, etiamsi nemo proscriberet eum; suas. 1,8: [sc. dixit] etiamsi navigari posset Oceanus, navigandum non esse. Für rogare i.S.v. „um Gnade bitten“ vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: M. Cato […] mori maluit quam rogare. Wie alle Herausgeber seit Kiessling (1872) 37 lesen wir mit einer Korrektur divisit (τ) anstelle des in den besten Handschriften überlieferten divisionem, das wohl durch Angleichung an das vorhergehende hanc entstand. Gegen die von Bursian (1857) 30 übernommene Lesart divisit omnem (D) ist einzuwenden, dass Seneca d.Ä. nirgends davon spricht, dass ein Deklamator die „ganze“ Suasorie oder Kontroversie unterteilt. Die Tilgung von non vor potes und die Ergänzung von non est vor tanti sind textkritische Eingriffe von Bursian (s.o.), die durch den Zusammenhang gerechtfertigt und teilweise in den Handschriften vorgezeichnet sind (s. den Apparat). Das non vor potes erklärt sich wohl als Antizipationsfehler aus dem nächsten Satz.

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deinde, impetrare non potes: Mit diesen Worten wird der zweite Teil von Latros Argumentation geschildert, in dem der Deklamator die dem ersten Argument unterliegende Prämisse bestreitet (s. die vorletzte Anmerkung). in priore illa parte posuit, turpe esse cuilibet Romano, nedum Ciceroni, vitam rogare: Das erste Argument wird zunächst unter dem Gesichtspunkt des honestum betrachtet: Es ist schimpflich, Antonius um Gnade zu bitten. Hierzu werden die Äußerungen gehören, die uns in Latros Exzerpt vorliegen (§ 3). Das Substantiv pars entspricht in gewisser Weise der quaestio, da eine quaestio in einem Teil der Argumentation behandelt wird. In dieser Suasorie kommt das Substantiv quaestio nicht vor. Pars verwendet Seneca d.Ä. auch suas. 2,11. Für die metaoratorische Angabe in priore […] parte vgl. § 13 und contr. 1,1,14. Zwar heißt es in § 13 in priore parte illud posuit […], aber das dürfte kein Grund sein, an dieser Stelle illud statt illa zu lesen, wie Håkanson ad loc. überlegt. Vielmehr spricht die Tatsache, dass ansonsten illud und nicht illa einen explikativen AcI einleitet (vgl. ferner suas. 5,4; contr. 9,1,12), dafür, dass illa hier Ablativ Singular ist. Für nedum in der Bedeutung „erst recht“ vgl. Cic. fam. 7,28,1: erat […] domicilium huius urbis […] aptius humanitati et suavitati tuae quam tota Peloponnesus, nedum Patrae. hoc loco omnium, qui ultro mortem adprehendissent, exempla posuit: In Latros Exzerpt wird Verres erwähnt, aber in einem anderen Zusammenhang: Verres flehte nicht um Gnade (vgl. § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: pudeat Verrem quoque: proscriptus fortius perit). Als Beispiele für einen tapferen Selbstmord hat Latro möglicherweise Cato Uticensis und Scipio genannt (vgl. Haterius in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle). Die Junktur mortem adprehendere wird an dieser Stelle singulär verwendet (vgl. ThLL II 307,29 f.). Håkanson (1989) 359 hat sich unserer Meinung nach zu Recht für die Beibehaltung des überlieferten Genetivus totius omnium entschieden, während alle anderen Herausgeber und Übersetzer seit Müller (1887) 562 mit Gertz (1879) 153 hominum lesen. deinde, inutilis illi vita futura et morte gravior detracta libertate: Die zweite Begründung des Arguments, dass Cicero Antonius nicht um Gnade bitten soll, erfolgt anhand der Kategorie des utile. Bei inutilis handelt es sich um die Lesart der Handschrift V, während A und B utilis überliefern.Wie Bursian (1857) 30, Kiessling (1872) 38 und Håkanson (1989) 359 übernehmen wir die Lesart inutilis, da der Kontext eindeutig für sie spricht. In den Handschriften A und B ist die Silbe inmöglicherweise aufgrund des vorhergehenden deinde ausgefallen. C.F.W. Müllers Konjektur vilis, die von Müller (1887) 562, Bornecque (1902) II 333, Edward (1928) 25, Winterbottom (1974) II 568 und Zanon dal Bo (1988) 166 übernommen wird, ist der schwierigere textkritische Eingriff. Schwieriger ist die Frage, wie mit dem in

6.2 Kommentar

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den besten Handschriften überlieferten illis umzugehen ist. Während der Plural illis sinnlos ist, ergibt die Lesart der Recentiores (illi) durch den Bezug auf Cicero einen guten Sinn. Die Verschreibung in den besten Handschriften könnte man auf das vorhergehende inutilis zurückführen. Haase hingegen tilgt illis (vgl. Müller [s.o.]) – vermutlich unter Annahme einer Dittographie angesichts des vorhergehenden Wortes. Bursian (s.o.) liest zwar mit den Recentiores illi, erwägt aber im Apparat tibi. Gertz liest zum einen wie eine jüngere Handschrift illa [sc. vita] (vgl. Müller [s.o.]), zum anderen (1879) 153 schlägt er vilis tibi salus futura est vor. Wir halten es für das Einfachste, der Lesart der Recentiores aus dem oben genannten Grund zu folgen. Gertz’ (s.o.) Ergänzung des Prädikates est halten wir wie Bursian (s.o.) und Kiessling (s.o.) für unnötig, da Ellipsen von Formen von esse häufiger begegnen; vgl. Sander (1877) 15. hic omnem acerbitatem servitutis futurae descripsit: Für den Gedanken, dass Cicero in Knechtschaft leben würde, vgl. Haterius in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem. deinde, non futurum fidei impetratae beneficium: Auch dieses Argument stützt Latros These, dass Cicero Antonius nicht um Gnade bitten sollte.Textkritisch ist dieser Satz äußerst umstritten (s. den Apparat).Wir halten wie Bursian (1857) 30 und Winterbottom (1974) II 569 die Überlieferung. Für den Genetivus epexegeticus nach beneficium vgl. Lent. Cic. fam. 12,14,6: Ego me de re publica puto esse meritum, ut non provinciae istius beneficium exspectare debeam („die Wohltat, diese Provinz zu verwalten“). Analog bedeutet non futurum fidei impetratae beneficium: „es werde kein Vorzug sein, sein Vertrauen erlangt zu haben“, „er werde nicht davon profitieren, sein Vertrauen erlangt zu haben“. hic cum dixisset: ‘aliquid erit quod Antonium offendat, aut factum tuum aut dictum aut silentium aut vultus’, adiecit sententiam: ‘aut erit: placiturus es.’: Um den Gedanken zu bekräftigen, dass die Begnadigung durch Antonius keine Wohltat sein wird, spielt der Deklamator auf einen Cicero-Brief an, in dem jener über Antonius sagt (fam. 10,1,1): cuius tanta est non insolentia (nam id quidem vulgare vitium est) sed immanitas, non modo ut vocem sed ne vultum quidem liberum possit ferre cuiusquam. Der Sinn und Wortlaut der Sentenz sind textkritisch umstritten. Bursian (1857) 30 und Kiessling (1872) 38 lesen mit V haud enim placiturus es. Aber hierbei dürfte es sich kaum um eine Sentenz handeln. Müllers (1887) 562 Konjektur aude perire, placiturus es ergibt einen guten Sinn, da der Gedanke wäre, dass es angesichts von Antonius’ Charakter das Schlimmste wäre, ihm zu gefallen, entfernt sich aber relativ weit von der Überlieferung. Dasselbe gilt

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6 suas. 6

für Shackleton Baileys (1969) 320 f. Konjektur aut etiam placiturus es und für Håkansons (1989) 360 Supplierung: aut, si non erit, placiturus es. Winterbottom (1974) 38 f. tilgt aut und erit und schlägt vor, stattdessen sic oder ita zu ergänzen: sic placiturus es. Der Sinn wäre seiner Meinung nach, dass Cicero Antonius dadurch gefallen würde, dass er ihm einen Vorwand gibt, ihn zu beseitigen. Watts (1983) 83 f. Konjekturvorschlag tantum morte placiturus es trifft zwar den Sinn, entfernt sich jedoch gänzlich von der Überlieferung. Für weitere textkritische Eingriffe, die an dieser Stelle getätigt wurden, s. den Apparat. Wir tendieren dazu, die beste Überlieferung zu halten, indem wir aut erit: placiturus es i.S.v. „oder es wird so sein: du wirst ihm gefallen“ verstehen. Für esse i.S.v. „so sein“, „der Fall sein“ vgl. OLD s.v. sum1 8; Cic. Att. 10,16,3: o, si id fuerit, turpem Catonem!; Cael. Cic. fam. 8,3,1: Estne? vici et tibi saepe, quod me negaras discedens curaturum, litteras mitto? Est, si quidem perferuntur, quas do. Sollte dieses Textverständnis zu kühn erscheinen, müsste man non vor erit ergänzen. Der Gedanke ist derselbe wie in den Textkonstitutionen von Müller, Shackleton Bailey und Håkanson: Noch schlimmer, als Anstoß bei Antonius zu erregen, wäre es, ihm zu gefallen. Für das Dilemma, dass zwei entgegengesetzte Alternativen gegen jemanden verwendet werden, vgl. die Sentenz, die Latro contr. 9,2,24 äußert: in socium nostrum praetor populi Romani animadvertit in privato, nocte, tumultuario tribunali, ebrius fortasse, ne calceatus quidem – nisi si, ut omnia spectaret meretrix, diligenter exegit. 9 ALBVCIVS aliter divisit: Während Seneca d.Ä. die metaoratorische Angabe sic divisit häufiger benutzt (vgl. §§ 8 und 10 f.), findet sich aliter divisit nur hier. Auf der anderen Seite ist es typisch, dass Seneca d.Ä. die Differenzen zwischen den Deklamatoren herausstellt: nirgends referiert er zweimal dieselbe divisio. Daher liegt der Unterschied zwischen sic und aliter divisit nur in der Formulierung. Aliter allein benutzt Seneca d.Ä. auch in anderen Kontexten; vgl. z. B. suas. 1,10 mit dem Kommentar zur Stelle: secundam quoque quaestionem aliter tractavit. primam partem fecit moriendum esse Ciceroni, etiamsi nemo proscriberet eum: Auch in Albucius’ erstem Argument ist eine Prämisse enthalten, die der Deklamator im Folgenden bestreitet; vgl. Latro in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: etiamsi impetrare vitam ab Antonio potes, non est tanti rogare. Wie aus dem nächsten Satz hervorgeht, ist der Grund für Ciceros angeblich feststehenden Tod das Wüten des Bürgerkrieges und nicht etwa der Topos, dass alle Menschen irgendwann sterben müssen. Für pars vgl. § 8 mit dem Kommentar zur Stelle. Die Konstruktion primam partem fecit + AcI ist bei Seneca d.Ä. ohne Parallele. Am Ende des Satzes lesen wir mit Schulting eum anstelle des überlieferten cum, das weder dort noch am Anfang des nächsten Satzes einen Sinn ergibt (Håkanson [1989] 360 führt die Konjektur eum auf Bursian zurück; laut Kiessling [1872] 38 und

6.2 Kommentar

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Müller [1887] 563 stammt sie aber von Schulting). Diesen textkritischen Eingriff halten wir für einfacher als die Tilgung von cum, die Håkanson (s.o.) mit Novák (1908) 248 f. vornimmt. Nováks Meinung, dass cum interpoliert wurde, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist Håkansons Begründung der Tilgung ad loc., dass cum „Randkorrektur des bald folgenden quom (quam die Hss.) ist, die eine Zeile zu früh in den Text geraten ist“ nicht überzeugend, da die Tatsache, dass quam überliefert ist, gegen eine Randkorrektur spricht. haec insectatio temporum fuit: Für die Darstellung der schrecklichen Zeitumstände vgl. Latro in § 3 und Fuscus in § 5. Für den Genetivus obiectivus in insectatio temporum vgl. dieselbe Verknüpfung Tac. ann. 14,11,2 und insectatio patris contr. 9,5,6. Textkritisch ist sowohl der Anfang als auch das Ende des Satzes umstritten. Wir sind wie Bursian (1857) 30 der Meinung, dass die Überlieferung gehalten werden kann: „das [sc. die Entfaltung des Arguments, dass Cicero ohnehin sterben muss] war eine Verunglimpfung der Zeiten“. Daher muss haec nicht mit Schulting zu hic geändert werden, wie es die Herausgeber seit Kiessling (1872) 38 tun. Ferner ist Gertz’ Konjektur in hac (vgl. Müller [1887] 563) unbegründet (in hac bedeutet wohl in prima parte). Zum anderen ist Håkansons (1989) 360 Entscheidung, fuit mit Novák (1908) 248 f. zu tilgen, als unnötig zurückzuweisen. deinde, moriendum esse illi [se] sua sponte, quia moriendum esset, etiamsi mori noluisset: Hier beginnt der zweite Teil der Argumentation des Deklamators. In dem Rat, lieber freiwillig zu sterben, kommt die Kategorie des honestum zum Vorschein. Für den Konjunktiv Plusquamperfekt (noluisset statt nollet) vgl. das Thema der zweiten (fugissent statt fugerint), vierten (denuntiatum esset statt sit) und der siebenten (fecisset statt fecerit) Suasorie. Wie Håkanson ad loc. bemerkt, ist das überlieferte se möglicherweise eine an den falschen Ort geratene Korrektur des überlieferten est. graves odiorum causas esse; maximam causam proscriptionis ipsum esse Ciceronem: Das hier vorliegende (stützende) Argument ist, dass nicht eine Tat, die rückgängig gemacht werden kann, den Haß zwischen Cicero und Antonius begründet, sondern Ciceros Person. et solus 〈ex〉 declamatoribus temptavit dicere non unum illi esse Antonium infestum: Albucius konkretisiert den Gedanken der Ausweglosigkeit, indem er sagt, dass Cicero nicht nur Antonius verhasst ist. Dass Albucius der einzige Deklamator war, der nicht nur Antonius als Ciceros Widersacher hingestellt hat, kann nicht verwundern, wenn man mit Edward (1928) 138 bedenkt, dass die Aussage, dass alle drei Triumvirn Cicero hassen, Oktavian (Augustus) einschließt.Von daher

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erklärt sich auch das Verb temptare, das darauf hindeutet, dass der Deklamator Oktavians Namen nicht nennt, wie auch aus der im Folgenden zitierten Sentenz deutlich wird. Albucius macht also von der figurierten Redeweise Gebrauch; vgl. Pernot (2007) 221 f. Zur figurierten Redeweise s. auch die allg. Einleitung, S. 57. Aus der Suasoriensammlung sind uns politische Kommentare des älteren Seneca ansonsten unbekannt; vgl. aber contr. 2,4,12 f. Zur politischen Deutung der Äußerungen des Deklamators s. die allg. Einleitung: „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 73). hoc loco dixit illam sententiam: si cui ex triumviris non es invisus, gravis es: S. die vorige Anmerkung. Die beiden anderen Triumvirn neben Antonius sind Lepidus und Oktavian. et illam sententiam, quae valde excepta est: roga, Cicero, exora unum, ut tribus servias: Für den Gedanken, dass Cicero nach dem Gnadengesuch ein Sklave wäre, vgl. Haterius in § 1: sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem. […] si intellegis, Cicero, non dicit ‘roga, ut vivas’ sed ‘roga, ut servias’. Für das Phänomen, dass eine Sentenz Beifall findet, und das Verb excipere in diesem Zusammenhang vgl. suas. 4,4 und 5,6 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. 10 CESTIVS sic divisit: mori tibi utile est, honestum est, necesse est, ut liber et illibatae dignitatis consummes vitam: Cestius meint, dass die Betrachtung der Situation unter den drei deliberativen Gesichtspunkten utile – honestum – necesse dafür spricht, dass Cicero sterben muss. Für die Kategorie des necesse vgl. suas. 2,11 mit dem Kommentar zur Stelle: [sc. Cestius] deinde illo transit, an non esset necesse. Bei illibatae dignitatis handelt es sich um einen Genetivus qualitatis, dessen Bezugswort nicht eigens ausgedrückt ist, sondern im Prädikat steckt; vgl. suas. 4,3 mit dem Kommentar zur Stelle: incertae sortis vivimus enim. Die Junktur consummare vitam begegnet an dieser Stelle zuerst; später vgl. Sen. epist. 12,8: itaque sic ordinandus est dies omnis, tamquam cogat agmen et consummet atque expleat vitam. hic illam sententiam dixit audacem: ut numereris cum Catone, qui servire Antonio quidem nondum domino potuit: Eine sententia audax zitiert Seneca d.Ä. nur an dieser Stelle. Ebenso ist dies die einzige Stelle in der Suasoriensammlung, an der eine Sentenz ohne Hauptsatz referiert wird. In den Kontroversien finden sich aber mehrere derartige Fälle, auf die Håkanson ad loc. verweist; z. B. contr. 10,1,2: cum subito pater meus in media civitate […] subductus est. Daher ist Köhlers Konjektur utinam morereris anstelle von ut numereris (vgl. Müller

6.2 Kommentar

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[1887] 563) zurückzuweisen. Der Relativsatz ist textkritisch höchst umstritten (s. den Apparat). Die Überlieferung qui servire Antonio quidem nondum domino potuit wird von allen modernen Herausgebern verworfen, da sie sinnlos zu sein scheint. Denn es hat die historische Konstellation, dass Cato Uticensis sich eventuell zum Sklaven von Antonius macht, nie gegeben (Cato zog es vor, sich zu töten, anstatt Caesar um Gnade zu bitten; s. den Kommentar zu § 2). Die Lösung dieses Problems besteht darin, dass man Antonio quidem nondum domino als nominalen Ablativus absolutus und potuit irreal auffasst: „damit du in einer Reihe mit Cato genannt wirst, der Sklave hätte sein können, wenngleich Antonius noch nicht der Machthaber war“. Der Gedanke ist, dass es Cato zwar möglich, er aber nicht bereit war, vor Caesar zu kapitulieren. Umso eher muss Cicero vor dem schlimmeren Antonius den Tod vorziehen. Vgl. für dieses Argumentum a minori Haterius in § 2: M. Cato, solus maximum vivendi moriendique exemplum, mori maluit quam rogare (nec erat Antonium rogaturus). Der absolute Gebrauch von servire liegt auch in § 1 vor: si intellegis, Cicero, non dicit ‘roga, ut vivas’ sed ‘roga, ut servias’. Als audax wird diese Sentenz wahrscheinlich bezeichnet, weil schon die hypothetische Möglichkeit, dass Cato ein Sklave hätte sein können, ein kühner Gedankengang ist. MARCELLVS hunc sensum de Catone melius: usque eone omnia cum fortuna populi Romani conversa sunt, ut aliquis deliberet, utrum satius sit vivere cum Antonio an mori cum Catone?: Vgl. Cestius’ zuvor zitierte Sentenz und diejenige, die er suas. 7,3 äußert: si occidetur Cicero, iacebit inter Pompeium patrem filiumque et Afranium, Petreium, Q. Catulum, M. Antonium illum indignum hoc successore generis. si servatur, vivet inter Ventidios et Canidios et Saxas. ita dubium est, utrum satius sit cum illis iacere an cum his vivere? sed ad divisionem Cesti revertamur: Für diese Formel vgl. suas. 1,8: longius me fabellarum dulcedo produxit; itaque ad propositum revertar. dixit utile esse, ne etiam cruciatus corporis pateretur: non simplici illum modo periturum, si in Antonii manus incidisset: Utile esse sc. mori. Seneca d.Ä. geht nun näher auf die Argumentation anhand der Kategorie des utile ein, die Cestius zuerst benutzt. Für den Gedanken, dass Cicero möglicherweise von Antonius (oder einem Handlanger) gefoltert wird, vgl. contr. 7,2,13 (der Angeklagte Popillius verteidigt sich in der Cicerokontroversie): cum imperasset mihi Antonius, passus sum, ne aliquis P. Clodi cliens mitteretur, qui contumeliis adficeret, antequam occideret, qui vivum laniaret. Bei manus handelt es sich um eine frühe Emendation anstelle des überlieferten manibus, die sich zuerst in der Editio Frobeniana (1515) findet (vgl. Håkanson [1989] 360). Auch wir übernehmen diese Emendation, da in

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manus incidere die gewöhnliche Konstruktion ist (vgl. OLD s.v. incido1 3b) und in manibus incidere keinen Sinn ergibt. Bursian (1857) 30 f. hält daher wohl zu Unrecht die Überlieferung, auch wenn in § 14 die Handschriften sowohl den Ablativ als auch den Akkusativ in Abhängigkeit von incidere überliefern (quoniam in hanc suasoriam incidimus). Gegen Kiessling (1872) 39, der die Präposition in tilgt und manibus incidisset liest, ist einzuwenden, dass manibus incidere nur einmal, und zwar dichterisch (Hor. epist. 1,16,24), belegt ist. et in hac parte cum descripsisset contumelias insultantium Ciceroni et verbera et tormenta, dixit illam multum laudatam sententiam: tu mehercules, Cicero, cum veneris ad Antonium, mortem rogabis: Der Nebensatz cum veneris ad Antonium stellt die hypothetische Situation dar, dass sich Cicero an Antonius wendet, um um Gnade zu flehen: Angesichts der drohenden Folterung würde er aber um den Tod bitten. Für das Phänomen, dass Sentenzen von Deklamatoren gelobt werden,vgl. § 9 mit dem Kommentar zur Stelle: et [sc. dixit] illam sententiam, quae valde excepta est. Für den Ausruf mehercules vgl. hercules suas. 2,6 und 7,1.Wie Håkanson (1989) 360 sehen wir keinen Anlass, an dem in den besten Handschriften überlieferten et am Anfang des Satzes Anstoß zu nehmen. 11 VARIVS GEMINVS sic divisit: hortarer te, si nunc alterutrum utique faciendum esset, aut moriendum aut rogandum, ut morereris potius quam rogares: Wie die anderen bisher zitierten Deklamatoren ist auch Geminus der Meinung, dass Cicero lieber sterben als Antonius um Gnade bitten sollte. Diese Empfehlung steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass nur die beiden Möglichkeiten betrachtet werden, dass Cicero entweder Antonius um Gnade bittet oder den Tod wählt (daher benutzt der Deklamator den Irrealis hortarer). Wie weiter unten deutlich wird, spricht sich Geminus aber für eine dritte Option aus, nämlich die Flucht. Mit Kiessling (1872) 39 lesen wir nunc anstelle des sinnlosen non, da uns dies der einfachste textkritische Eingriff zu sein scheint. Schott tilgt non (vgl. Müller [1887] 563). Bursian (1857) 31 liest iam statt non. et omnia complexus est, quae a ceteris dicta erant, sed aliquid et tertium: adhortatus est illum ad fugam: Aus der Angabe et omnia complexus est, quae a ceteris dicta erant lässt sich schließen, dass Geminus dieselben Argumente verwendet hat wie die zuvor zitierten Deklamatoren, d. h. dass er sowohl von der Kategorie des honestum (Cicero würde Antonius’ Sklave sein) als auch von derjenigen des utile (Cicero stirbt ohnehin) Gebrauch gemacht hat. Migliario (2008) 83 und (2007) 140 f. deutet diese Stelle (und v. a. § 12) als Zeugnis für Geminus’ anticiceronianische Haltung in dem Sinne, dass der Deklamator Cicero eine unehrenhafte Handlung vorschlägt. Aber die Aufforderung zur Flucht ist keineswegs

6.2 Kommentar

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der Rat zu einer schimpflichen Handlung, sondern – wie im Folgenden deutlich wird – mit einem Enkomion auf Ciceros Leistungen verbunden, die er an den Orten vollbracht hat, die für ihn als Fluchtorte in Frage kommen; s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 71 f.). Das Verb complecti kann zwar auch „zusammenfassen“ bedeuten, wie O. & E. Schönberger (2004) 295 übersetzen (vgl. OLD s.v. complector 9). Hier wird aber eher die Bedeutung „einbeziehen“, „behandeln“ vorliegen (vgl. ib. 8 und Winterbottom [1974] II 573). Für das substantivisch gebrauchte Zahlwort tertium vgl. duo suas. 5,6 mit dem Kommentar zur Stelle: Argentarius his duobus contentus fuit […]. his solis institit. Das überlieferte aliquid ist von mehreren Herausgebern und Forschern angezweifelt worden. Kiessling (1872) 39 und Müller (1887) 564 lesen addidit. Gertz schlägt vor, datur, inquit anstelle von aliquid zu lesen; Haase liest est anstelle von et (vgl. Müller [s.o.]). Novák (1908) 266 bezieht das folgende adhortatus in seine Überlegungen mit ein und liest sed aliquid et tertium adiecit: hortatus est […]. Håkanson (1989) 360 liest adiecit statt aliquid und weist ad loc. darauf hin, dass Seneca d.Ä. in der divisio nirgends das Verb addere verwendet, korrigiert aber Novák dahingehend, dass das Verb immerhin von Deklamatoren verwendet wird, die Seneca d.Ä. zitiert (z. B. contr. 2,1,3). Wir sind wie Bursian (1857) 31 der Meinung, dass die Überlieferung gehalten werden kann. Das Objekt aliquid et tertium wird von complexus est regiert. illic esse M. Brutum, illic C. Cassium, illic Sextum Pompeium: Illic verweist auf die unterschiedlichen Aufenthaltsorte von Brutus, Cassius und Sextus Pompeius, die allesamt außerhalb von Rom militärischen Widerstand gegen Antonius leisteten. Der Caesarmörder M. Iunius Brutus (RE X 1 s.v. Iunius 53, Sp. 973 – 1020) befand sich 43 v.Chr. in Griechenland und hatte die Provinzen Illyrien und Makedonien unter seine Kontrolle gebracht. Der andere Caesarmörder Cassius (RE III 2 s.v. Cassius 59, Sp. 1727– 1736) bekämpfte u. a. in Asien die Anhänger der Triumvirn (vgl. App. civ. 4,65; Cassius Dio 47,32). Mit Sextus Pompeius ist der jüngere Sohn des Triumvirn gemeint (RE XXI 2 s.v. Pompeius 33, Sp. 2213 – 2250), der mit der Flotte im Herbst 43 Sizilien eroberte und anschließend einen langjährigen Blockadekrieg gegen Italien führte. Er wird hier und in den §§ 14 und 19 erwähnt. et adiecit illam sententiam, quam Cassius Severus unice mirabatur: quid deficiemus? et res publica suos triumviros habet: Die republikanischen Triumvirn sind die eben erwähnten Brutus, Cassius und Sextus Pompeius. Migliario (2007) 140 f. und (2008) 83 zufolge handelt es sich um eine boshafte Titulierung. Jedoch besteht kein Anlass für diese Deutung. Die Äußerung des Deklamators ist insofern (rhetorisch, nicht politisch) ernst zu nehmen, als sie ein Argument darstellt, das Cicero überzeugen soll; s. das Kapitel „Die politische Dimension der

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Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 71 f.). Das Adverb unice wird nur noch an einer anderen Stelle im Werk des älteren Seneca verwendet; auch dort drückt es Anerkennung aus (contr. 10,1,13): consectari autem solebat res sordidas et inveniebat, qui illas unice suspicerent. Für absolutes deficere i.S.v. „den Mut verlieren“ vgl. ThLL V 1, 328,8 – 46 und z. B. Cic. Att. 1,16,9. Die textkritischen Eingriffe, die dieses Verb betreffen (s. den Apparat), sind daher unnötig. deinde etiam, quas petere posset regiones, percucurrit: Siciliam dixit vindicatam esse ab illo, Ciliciam a proconsule egregie administratam, familiares studiis eius et Achaiam et Asiam, Deiotari regnum obligatum beneficiis, Aegyptum et habere beneficii memoriam et agere perfidiae paenitentiam: Nachdem Cicero 75 v.Chr. seine Quästur auf Sizilien ausgeübt hatte, übernahm er auf Betreiben sizilischer Gesandter die Anklage in dem Repetundenprozess gegen Verres (70 v.Chr.). In der Provinz Kilikien übte Cicero im Jahr 51 v.Chr. das Prokonsulat aus. Athen (die Provinz Achaia umfaßt Mittel- und Südgriechenland) und Kleinasien waren Stationen seiner Bildungsreise in den Jahren 79 – 77 v.Chr. (vgl. Cic. Brut. 315). Den Galaterkönig Deiotarus, dem vorgeworfen wurde, ein Attentat auf Caesar geplant zu haben, verteidigte Cicero 45 v.Chr. in seiner Rede Pro rege Deiotaro. Ägypten wird zum einen genannt, da Cicero im Jahr 56 v.Chr. in die Debatte um die Reinthronisierung des Königs Ptolemaios XII. (Auletes) eingriff, indem er sich dafür einsetzte, dass – wie ursprünglich vorgesehen – Lentulus (s. den Kommentar zu § 1) und nicht Pompeius mit dessen Rückführung beauftragt wird (vgl. Cic. fam. 1,1 mit Shackleton Bailey ad loc.). Da jedoch nie Zweifel darüber herrschte, dass Ptolemaios XII. reinthronisiert werden sollte, übertreibt Geminus hier etwas, wenn er in diesem Zusammenhang von Ciceros Wohltat spricht. Ägyptens Reue bezieht sich auf Pompeius’ Ermordung (s. den Kommentar zu § 6). Das Verb percurrere wird nur hier im Werk des älteren Seneca benutzt und lässt darauf schließen, dass der Deklamator rasch die einzelnen Stationen abgehandelt hat. Den Gedanken des kursorischen Behandelns drückt Seneca d.Ä. andernorts durch das Kompositum transcurrere aus (contr. 1,2,19; 1,3,10; 1,6,10; 2,6,13; 7,1,21; 7,4,7; 9,6,15). Zum Reduplikationsperfekt vgl. suas. 4,2 mit dem Kommentar zur Stelle: discucurrerint. Die Junktur paenitentiam agere begegnet hier und suas. 7,10 zum ersten Mal in der lateinischen Literatur; später vgl. Curt. 8,6,23; Val. Max. 3,4,2. sed maxime illum in Asiam et in Macedoniam hortatus est, in Cassi et in Bruti castra: Zu den Aufenthaltsorten von Brutus und Cassius s.o. mit dem Kommentar zur Stelle: illic esse M. Brutum, illic C. Cassium. Novák (1908) 267 hat sich zu Recht gegen Drechsler gestellt, der ire vor in Asiam ergänzt. Für die hier vorliegende Konstruktion verweist er auf contr. 1,8,2 (ego vero te etiam hortari

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possum in voluptates) und 10,3,2, wo wohl zu Recht quae ergänzt wird: adeo tibi vetera exempla exciderunt bonarum coniugum, in 〈quae〉 filiam tuam solebas sanus hortari.Vgl. auch Verg. Aen. 11,520 f.: paribus Messapum in proelia dictis / hortatur. itaque Cassius Severus aiebat alios declamasse, Varium Geminum vivum consilium dedisse: Der Historiker Cremutius Cordus berichtet (§ 19), dass Cicero vor seinem Tod zwar in Erwägung gezogen hat, zu Brutus, Cassius oder Sextus Pompeius zu fliehen, die Fluchtpläne aber hat fallen lassen. Daher könnte man den Unterschied zwischen Geminus’ und den anderen Deklamationen so formulieren, dass Geminus eine Überlegung einbezieht, die sich nicht aus dem Thema ergibt, die aber Cicero wahrscheinlich selbst angestellt hat (bzw. die – Cremutius Cordus zufolge – Cicero tatsächlich durchdacht hat). Das Adjektiv vivum ist in unseren Augen zu Unrecht angezweifelt worden, da es einen hervorragenden Sinn ergibt: Schott sprach sich dafür aus, dass die Korrektur unum (τ) in den Text gesetzt wird (vgl. Müller [1887] 564). Dieser Meinung ist auch van der Vliet (1895) 40. Bornecque (1902) II 335 entscheidet sich zu der Übernahme von unum, das auf Varius Geminus zu beziehen wäre („einzig Varius Geminus“). Watt (1984) 103 f. schlägt die Konjektur verum vor. Håkanson (1989) 361 und ad loc. erwägt aufgrund fehlender Parallelen, vivum zu tilgen, da das Adjektiv möglicherweise aus Geminum entstanden sei. Für vivus mit Bezug auf Literatur vgl. aber Hor. ars 317 f.: respicere exemplar vitae morumque iubebo / doctum imitatorem et vivas hinc ducere voces. 12 Alteram partem pauci declamaverunt; nemo 〈paene〉 ausus est Ciceronem ad deprecandum Antonium hortari; bene de Ciceronis animo iudicaverunt: Über die Anzahl der Deklamatoren, die die Gegenseite vertreten haben, macht Seneca d.Ä. auch contr. 10,4,15; suas. 5,8 und 7,10 Angaben. Während aber in der fünften Suasorie rhetorische Gesichtspunkte für die Entscheidung verantwortlich sein dürften, welche Seite die Deklamatoren vertreten (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle), liegt in den beiden Cicerosuasorien eine moralische Entscheidung vor, wie Seneca d.Ä. selbst angibt: Die Deklamatoren wagen es nicht, Cicero etwas Unehrenhaftes zu raten. Vgl. suas. 7,10: huius suasoriae alteram partem neminem scio declamasse. omnes pro libris Ciceronis solliciti fuerunt, nemo pro ipso, cum adeo illa pars non sit mala, ut Cicero, si haec condicio lata ei fuisset, deliberaturus non fuerit. Während die grobe Aussage dieses Satzes klar ist (die meisten Deklamatoren haben Cicero geraten, Antonius nicht um Gnade zu bitten), ist unklar, wie sich die Aussage, dass wenige Deklamatoren die Gegenseite vertreten haben, zu der anderen Aussage verhält, dass niemand Cicero dazu aufgefordert hat, Antonius um Gnade zu bitten. Die Widersprüchlichkeit dieser beiden Aussagen hat zu Gertz’ Supplierung von paene hinter nemo, die Winterbottom (1974) II 572 über-

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nimmt, und zu derjenigen von Håkanson (1989) 361 geführt, der fere vor nemo ergänzt. Bursian (1857) 31, Kiessling (1872) 39 und Müller (1887) 564 halten die Überlieferung. Dies tut Edward (1928) 26 und 139 zwar auch, aber er gibt zu, dass der überlieferte Text widersprüchlich ist, und äußert den Verdacht, dass paene oder fere ausgefallen ist. In unseren Augen ließe sich die Überlieferung wahren, wenn man zeigen könnte, dass die Angabe, dass niemand Cicero dazu aufgefordert hat, Antonius um Gnade zu bitten, nicht identisch ist mit dem Vertreten der Gegenseite, d. h.: wenn ein Deklamator Cicero dazu aufruft, etwa zum Wohl des Staates weiterzuleben, also sozusagen Etikettenschwindel betreibt (s. das Kapitel „Rhetorisch-technische Anweisungen zum Halten dieser Deklamation“ in der Einleitung, S, 383 f.). Dieser Nachweis wird aber wohl nicht gelingen, da die Formulierung deprecari Antonium aus dem Thema herrührt und damit eindeutig ein Ziel angibt. Zum anderen versucht Geminus in der Tat, Cicero davon zu überzeugen, Antonius um Gnade zu bitten, wie im Folgenden deutlich wird. Daher halten wir eine Supplierung von paene oder fere für notwendig. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Wörtern muss ihre Stellung berücksichtigen. Paene kann vor oder nach nemo stehen (vgl. suas. 7,1; contr. 9,2,16). Fere hingegen muss hinter nemo stehen (vgl. z. B. Cic. de orat. 1,10). Daher übernehmen wir Gertz’ Ergänzung. GEMINVS VARIVS: Der einzige Vertreter der Gegenseite, den Seneca d.Ä. zitiert, hat sowohl eine Deklamation für das Gnadengesuch als auch dagegen gehalten (vgl. § 11). Für das Phänomen, dass Deklamatoren beide Seiten einer Deklamation vertreten, vgl. suas. 2,9 mit dem Kommentar zur Stelle. Migliario (2008) 83 f. und (2007) 141 f. zufolge ist Geminus’ Deklamation ein Ausdruck seiner anticiceronianischen Haltung. Aber da der Deklamator in verschiedenen Suasorien sowohl für das Gnadengesuch als auch dagegen argumentiert, darf man seine Äußerungen nicht politisch deuten, sondern muss sie rhetorisch im Sinne des in utramque partem disserere lesen; s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 72). Das Referat über Geminus’ Deklamation (§§ 12– 14) ist insofern eher untypisch, als Seneca d.Ä. sowohl Äußerungen von ihm zitiert als auch dessen divisio skizziert (ab § 13). Würde Seneca d.Ä. seinem Standardplan folgen, der zumindest in den Kontroversien deutlich wird, hätten die Zitate im ersten (oder dritten) Teil der Suasorienzusammenfassung einen gesonderten Platz. Dieser Standardplan wird in der zweiten Suasorie eingehalten, da dort in § 9 vor der divisio Äußerungen von Deklamatoren zitiert werden, die die Gegenseite vertreten haben (wenngleich im Folgenden nicht deren divisio, sondern diejenige von anderen Deklamatoren geschildert wird). In der fünften Suasorie lässt sich – ähnlich wie hier – ein Abweichen vom Standardplan feststellen, da am Ende der Suasorienzusammenfassung die divisio eines Deklamators skizziert wird, der die Gegenseite vertritt (vgl. suas. 5,8 mit dem Kommentar zur Stelle).

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GEMINVS VARIVS declamavit alteram quoque partem et ait: spero me Ciceroni meo persuasurum, ut velit vivere: Dass der Deklamator das Ziel so formuliert, dass Cicero weiterleben will, ergibt sich daraus, dass er im Folgenden Ciceros Todesverachtung als vordergründig hinstellt. quod grandia loquitur et dicit: ‘mors nec immatura consulari nec misera sapienti’, non movet me; idiotam petit: Geminus widerlegt das Gegenargument, dass der Tod für Cicero kein Übel wäre. Dass Cicero den Tod als Übel ansah, behauptet auch der Historiker Asinius Pollio (vgl. §§ 14 f. und 24 f. mit dem Kommentar jeweils zur Stelle); vgl. v. a. § 24: atque ego ne miserandi quidem exitus eum fuisse iudicarem, nisi ipse tam miseram mortem putasset. Das Gegenargument stammt von Cicero selbst; vgl. Catil. 4,3: nam neque turpis mors forti viro potest accidere neque immatura consulari nec misera sapienti. Am Ende der zweiten Philippischen Rede wird dieses Argument von Cicero wieder aufgegriffen (Phil. 2,119): etenim, si abhinc annos prope viginti hoc ipso in templo negavi posse mortem immaturam esse consulari, quanto verius non negabo seni! mihi vero, patres conscripti, iam etiam optanda mors est. In der Cicerokontroversie wird das Zitat ebenfalls von einem Deklamator verwendet (contr. 7,2,10): scit mortem nec immaturam esse consulari nec miseram sapienti. Das überlieferte idiotam (ideo tam B) perit ist auf vielfältige Weise emendiert worden. Bursian (1857) 31 liest idiotam petit, wobei er sich teilweise Schulting anschließt, der nec enim idiotam petit oder idiotam petat vorschlägt (vgl. Müller [1887] 564). Kiessling (1872) 40 zufolge hat Schulting auch ne ideo vitam petat vorgeschlagen; er selbst liest ideo tamen non peribit. Müller (s.o.) liest in Anlehnung an Gertz (1879) 154, der idiotam iam geret vorgeschlagen hat, idiotam gerit. Walter (1918) 240 liest idiotam deceperit und übersetzt „mit ihnen [sc. diesen Worten] mag er jemand, dem der Einblick fehlt, getäuscht haben“. Håkanson (1989) 361 liest in Anlehnung an Morgenstern, der nec ideo iam perit vorgeschlagen hat, ideo iam perit? Usener schlägt ideo tamen supererit vor (vgl. Müller [s.o.]). Die entscheidende Frage ist, wer in welchem Sinn der idiota sein könnte. Müllers Konjektur idiotam gerit, die Bornecque (1902) II 335 f., Edward (1928) 26 und 69, Winterbottom (1974) II 572– 575 und Zanon dal Bo (1988) 168 f. übernehmen, ist wenig sinnvoll, da der Deklamator von Cicero kaum behaupten dürfte, dass er „sich wie ein Laie aufführt“. Denn dadurch, dass Cicero sagt, dass der Tod für den Weisen kein Übel ist, führt er sich wie ein Weiser auf. Die gräzisierende Bedeutung „Privatperson“, die Edward und Winterbottom für idiota annehmen, ist nach Ausweis des Thesaurus nur einmal in der Spätantike belegt (Oribas. syn. 1,27) und hilft ebenso wenig weiter, da der Deklamator kaum behaupten kann, dass für Cicero der Tod nun als Privatperson ein Übel ist. Im Gegenteil: Wie auch aus Phil. 2,119 (s.o.) hervorgeht, wäre der Tod für Cicero jetzt erst recht kein Übel. Wir sind der Überzeugung, dass der Deklamator einen Gegensatz

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zwischen sich und einem Laien herstellt. Deswegen heißt es am Anfang des nächsten Satzes betont ego belle mores hominis novi, und deswegen bezeichnet Seneca d.Ä. diese und ähnliche Äußerungen weiter unten als scurrilia. Zwar trifft Walters Konjektur idiotam deceperit den richtigen Sinn, aber diejenige von Bursian (idiotam petit: „er wendet sich an einen Idioten“) ist paläographisch deutlich einfacher. ego belle mores hominis novi: faciet, rogabit: Der Deklamator meint, dass es Ciceros Charakter entspricht, um Gnade zu bitten. Für das Asyndeton faciet, rogabit vgl. contr. exc. 4,8: faciam, remittam. Auch aufgrund dieser Parallele halten wir wie sämtliche modernen Herausgeber Gertz’ (1879) 154 Supplierung 〈satis〉 faciet für unnötig. nam quod ad servitutem pertinet, non recusabit; iam collum tritum habet: Das Bild des vom Joch beschwerten Halses ist ein konventionelles Bild zum Ausdruck der Untergebenheit; vgl. (für collum) ThLL III 1662,77– 1663,4; Prop. 2,5,14: iniusto subtrahe colla iugo; Hor. carm. 2,12,11 f.: ducta […] per vias / regum colla minacium. Für collum etwas allgemeiner als Körperteil, dem eine Last auferlegt ist,vgl. Cic.Verr. II 5,108. Für die Junktur collum tritum vgl. Iuv. 8,66 f.: trito ducunt epiraedia collo / segnipedes. et Pompeius illum et Caesar subiecerunt. veteranum mancipium videtis: Um sein Argument zu stützen, benutzt Geminus Pompeius und Caesar als Beispiele. Edward (1928) 139 sieht die Funktion der Beispiele darin begründet, dass Pompeius und Caesar, zwei der drei Mitglieder des ersten Triumvirats, Cicero im Jahr 58 v.Chr. im Stich gelassen haben, als er auf Initiative von Clodius ins Exil gehen musste. Dies halten wir für unwahrscheinlich, da doch eher das Gegenteil, nämlich das Eintreten von Pompeius und Caesar auf Ciceros Bitte hin, eine Unterjochung bedeutet hätte. Vielmehr scheint der Deklamator auf frühere Reden anzuspielen, in denen Cicero für Pompeius und Caesar das Wort ergriffen hat. Im Zusammenhang mit Pompeius wäre v. a. die Rede über dessen Oberbefehl (Pro lege Manilia, 66 v.Chr.) zu nennen. Pompeius wird aber vielleicht auch wegen seines Einflusses auf Cicero in den Auseinandersetzungen mit Vatinius und Gabinius genannt (vgl. § 13 mit dem Kommentar zur Stelle: ipsum exoratum a Vatinio Gabinioque reis adfuisse). Außerdem werden Pompeius und Caesar wohl auch als die beiden Anführer im Bürgerkrieg genannt: Nachdem Cicero im Bürgerkrieg auf Pompeius’ Seite gestanden hatte, ist er von Caesar begnadigt worden. Ciceros Dankbarkeit gegenüber Caesar zeigt sich in einigen panegyrischen Passagen aus den sog. Caesarischen Reden (Pro Marcello, Pro Ligario [beide 46 v.Chr.], Pro rege Deiotaro [45 v.Chr.]). Seit Müller (1887) 564 wird subegerunt anstelle von sub-

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iecerunt gelesen (die in A überlieferte Form subierunt ergibt hier keinen Sinn). Für subicere vgl. aber Liv. 28,21,9: ut alter alterius imperio subiceretur. et complura alia dixit scurrilia, ut illi mos erat: Das Adjektiv scurrilis bedeutet hier wohl soviel wie „unsinnig“. Es wird zuvor nur von Cicero in dessen rhetorischen Schriften verwendet (z. B. de orat. 2,244– 246; Brut. 143; orat. 88). Im Werk des älteren Seneca kommt das Wort nur hier vor; vgl. aber scurra suas. 2,12. 13 divisit sic, ut diceret non turpiter rogaturum, non frustra rogaturum: In diesem Satz fasst Seneca d.Ä. die gesamte Strategie des Geminus zusammen: Zunächst benutzt er die Kategorie des honestum, dann diejenige des δυνατόν, um Cicero zum Gnadengesuch zu überreden (vgl. für diese Kategorien Latro in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle). Der hier genannten Zweiteilung entspricht die folgende in in priore parte und in sequenti parte. O. & E. Schönberger (2004) 296 gehen fälschlicherweise davon aus, dass der zweite Teil von Geminus’ Strategie schon mit den Worten deinde ne iniquum quidem beginnt, da sie deinde mit „zum zweiten Punkt“ übersetzen. Denn deinde dient hier wie so häufig der Unterteilung eines Arguments, während durch das Substantiv pars die verschiedenen (übergeordneten) Argumente (quaestiones) getrennt werden (s. die folgende Anmerkung). Fuscus behauptet in § 5 das Gegenteil von dem, was Geminus sagt: rogabis, Cicero, turpiter Antonium, frustra. in priore parte illud posuit, non esse turpe civem victorem rogari a victo: Das erste Argument, dass es für Cicero nicht unehrenhaft ist, Antonius um Gnade zu bitten, begründet Geminus mit der Verallgemeinerung, dass es nach einem Bürgerkrieg nicht unehrenhaft ist, dass die Besiegten die Sieger um Gnade bitten. Für pars, das in dieser Suasorie anstelle von quaestio verwendet wird, vgl. § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: in priore illa parte posuit […]. hic, quam multi rogassent C. Caesarem, hic et Ligarium: Hic sc. dixit. Um zu untermauern, dass es normal in dieser Situation ist, den Herrschenden um Gnade zu bitten, nennt Geminus die Gruppe von Personen, die Caesar nach dem Bürgerkrieg um Gnade gebeten haben, z. B. Ligarius. Ligarius hatte im Bürgerkrieg auf Pompeius’ Seite gekämpft und war zwar von Caesar begnadigt worden, musste aber in der Verbannung bleiben, da er noch nach Pompeius’ Tod in der Schlacht von Thapsus aktiv war (vgl. Cic. fam. 6,13,3). Seine Verwandten und Cicero setzten sich bei Caesar für dessen Rückkehr ein (vgl. Cic. fam. 6,13 und 14) und hatten Aussicht auf Erfolg, als eine Anklage von Tubero wegen perduellio ihr Anliegen zu durchkreuzen schien. Jedoch gelang Pansa und Cicero die erfolgreiche Verteidigung des Ligarius (46 v.Chr.), der nach Rom zurückkehren durfte. Ciceros Ver-

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teidigungsrede ist unter dem Titel Pro Ligario überliefert. Für Caesars Begnadigung von ehemaligen Pompejanern vgl. suas. 7,1 mit dem Kommentar zur Stelle,wo Ciceros eigene Begnadigung thematisiert wird: merito hercules illo tempore vixisti, quo Caesar ultro te rogavit, ut viveres, sine ulla pactione, quo tempore non quidem stabat res publica sed in boni principis sinum ceciderat. Für die metaoratorische Angabe mit hic und ohne Prädikat vgl. suas. 1,10: hic difficultatem navigationis, ignoti maris naturam non patientem navigationis. deinde, ne iniquum quidem esse Ciceronem satisfacere, qui prior illum proscripsisset: Mit der Behauptung, dass Cicero zuerst Antonius proskribiert hat, spielt der Deklamator auf die Senatssitzung vom 26. April 43 v.Chr. an, in der Antonius und seine Anhänger auf Ciceros Initiative hin zu Feinden des Vaterlandes erklärt wurden; vgl. Cornelius Hispanus in § 7 mit dem Kommentar zur Stelle: proscriptus est ille, qui tuam sententiam secutus est. Hinsichtlich des aequum herrschte unter den Rhetoren Dissens, ob es sich um eine eigene Kategorie neben dem honestum, utile und dem δυνατόν handelt oder ob das aequum einer dieser Kategorien zugeordnet werden sollte. Quintilian (inst. 3,8,26) ordnet es der Kategorie des honestum unter. Für satisfacere ohne Angabe des Dativobjekts vgl. Cic. orat. 109: histriones […] vidimus […], qui non solum in dissimillimis personis satis faciebant […]. qui litem incohasset, ab eo semper nasci satisfactionem, ac data rogari: Sowohl der Anfang als auch das Ende dieser gnomischen Sentenz sind textkritisch höchst umstritten. Zunächst zum Anfang: Da das überlieferte quietem (‐tum V qui et eum B2) iudicasset keinen Sinn ergibt, ist zu erwägen, ob mit Gronovius (1672) 40 qui hostem iudicasset oder mit Bursian (1857) 32 qui litem incohasset gelesen werden sollte. Für Gronovius’ Emendation spricht zwar, dass die Junktur hostem iudicare zweimal von Cicero in den Philippiken (Phil. 3,6; 13,39) benutzt wird, und zwar einmal mit Bezug auf Antonius (Phil. 3,6). Aber das überlieferte semper macht deutlich, dass es sich bei diesem Satz um eine gnomische Sentenz handelt. Daher ist qui hostem iudicasset im Gegensatz zu qui litem incohasset nicht allgemein genug gehalten (sofern man den Relativsatz zu diesem Satz zieht), da zumindest ein Wort wie prior fehlt.Wir übernehmen folglich wie Håkanson (1989) 361 Bursians Emendation. Für die Junktur litem incohare vergleicht Håkanson ad loc. Scaev. dig. 46,8,5 und Papin. dig. 5,1,44. Wie Bursian (s.o.) und Håkanson (s.o.) lassen wir diesen Satz mit qui litem incohasset beginnen. Müller (1887) 565 lässt den vorigen Satz mit Gronovius’ Emendation enden. Der Vorteil unserer Lösung besteht darin, dass ab eo gehalten werden kann und nicht mit Schulting zu ab reo oder mit Usener und Gertz zu a reo (vgl. Müller [s.o.]) geändert werden muss. Auch

6.2 Kommentar

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ist die Supplierung eines Nebensatzes qui laesisset hinter ab eo semper, wie Novák (1908) 267 es vorschlägt, in dieser Textkonstitution unnötig. Am Ende des Satzes ist eine Unmenge an Verbesserungen der sinnlosen Lesarten ac dacto rogari (A) bzw. ac dato rogari (BV) vorgeschlagen worden (s. den Apparat).Wir übernehmen Bursians (1857) 32 Emendation ac data rogari, da sie bei weitem die einfachste ist und einen hervorragenden Sinn gewährt. Data ist Teil eines Ablativus absolutus, zu dem satisfactione aus dem Vorigen gedanklich zu ergänzen ist („nachdem er Wiedergutmachung geleistet hat“). Gemeint ist, dass derjenige, der den Streit begonnen hat, Wiedergutmachung leisten und anschließend die Initiative ergreifen muss, den Geschädigten um Gnade zu bitten. Für absolutes rogare i.S.v. „um Gnade bitten“ vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle. Um Håkansons (1989) 361 Emendation a coacto rogari zu verstehen, muss man die Parallele berücksichtigen, die er ad loc. anführt (§ 7): iam intelleges Ciceronem in mortem cogi posse, in preces non posse. Daher ist zu vermuten, dass er coacto als coacto in preces versteht. Wie Shackleton Bailey (1993) 51 halten wir diese Textkonstitution für kryptisch. deinde, non pro vita illum sed pro re publica rogaturum: satis illum sibi vixisse, rei publicae parum: Der dritte Grund dafür, dass es nicht schimpflich ist, Antonius um Gnade zu bitten, liegt darin, dass Cicero nicht um sein Leben bettelt, sondern zum Vorteil des Staates weiterleben soll. Diese Vorgehensweise entspricht genau derjenigen, die Quintilian (inst. 3,8,46 f.) in einem solchem Fall, in dem einer Respektsperson etwas Unehrenhaftes geraten wird, empfiehlt (s. Einleitung: „Rhetorisch-technische Anweisungen zum Halten dieser Deklamation“): quare et cum Ciceroni dabimus consilium ut Antonium roget, vel etiam ut Philippicas, ita vitam pollicente eo, exurat, non cupiditatem lucis adlegabimus (haec enim si valet in animo eius, tacentibus quoque nobis valet), sed ut se rei publicae servet hortabimur – hac illi opus est occasione, ne eum talium precum pudeat. Für die Kontrastierung, dass Cicero in der einen Hinsicht lange genug, in der anderen aber zu kurz gelebt hat, vgl. Cestius in § 4 mit dem Kommentar zur Stelle: si ad desiderium populi respicis, Cicero, quando perieris, parum vixisti; si ad res gestas, satis vixisti; si ad iniurias Fortunae et praesentem rei publicae statum, nimium diu vixisti; si ad memoriam operum tuorum, semper victurus es. in sequenti parte dixit exorari solere inimicos: ipsum exoratum a Vatinio Gabinioque reis adfuisse: Hier beginnt die Argumentation dafür, dass Cicero Antonius nicht vergeblich um Gnade bitten wird (s. S. 421). Um das Argument zu untermauern, dass Gnadenersuche vor dem Feind in der Regel erfolgreich sind, führt der Deklamator die beiden Beispiele Vatinius und Gabinius an, die belegen, dass Cicero aus eigener Erfahrung weiß, dass aus Feinden Freunde werden kön-

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6 suas. 6

nen. Gegen Vatinius hielt Cicero im Jahr 56 v.Chr. im Rahmen der Sestius-Rede eine Invektive (vgl. Cic. ad Q. fr. 2,4,1). Im folgenden Jahr versöhnte er sich jedoch mit ihm auf Druck von Pompeius (vgl. Cic. fam. 1,9,19) und verteidigte ihn im Jahr 54 v.Chr. (vgl. frag. orat. XVII Schoell). In dem Prozess gegen Gabinius im Jahr 54 v.Chr., der wegen Verletzung der maiestas angeklagt war, hat Cicero mit Rücksicht auf Pompeius nicht die Anklage geführt, obwohl er dies gerne getan hätte, sondern für ihn ausgesagt (vgl. Cic. ad Q. fr. 3,1,15; 3,3,3; 3,4,1– 3; frag. orat. D II Schoell). Für den hier vorliegenden Gedanken vgl. Quint. inst. 11,1,73: dixit Cicero pro Gabinio et P. Vatinio, inimicissimis antea sibi hominibus et in quos orationes etiam scripserat; Val. Max. 4,2,4: Aulum nam […] Gabinium repetundarum reum summo studio defendit [sc. Cicero] qui eum in consulatu suo urbe expulerat. idemque P. Vatinium dignitati suae semper infestum duobus publicis iudiciis tutatus est. Bei Gabinioque reis handelt es sich um eine Konjektur von Gertz (1879) 154 anstelle des überlieferten gaio quoque verra (A) bzw. verri (BV). Bursian (1857) 32, der das überlieferte Verri hält, bemerkt zu dieser Stelle: Verrem memoriae lapsu a Seneca nominatum esse pro Gabinio recte suspicatur Schottus. Wie Håkanson ad loc. kommentiert, ist es jedoch gänzlich unwahrscheinlich, dass Verres, mit dem sich Cicero nie versöhnt hat, in diesem Zusammenhang genannt wird, und aufgrund der Parallelen bei Quintilian und Valerius Maximus ist anzunehmen, dass das ‘Standardbeispielpaar’ Vatinius und Gabinius auch hier genannt wird. Daher ist auch Schultings Konjektur adfuturum fuisse anstelle von adfuisse (vgl. Müller [1887] 565) wenig hilfreich. Im Gegensatz zu Schotts Konjektur Gabinio (vgl. Müller [s.o.]) ist diejenige von Gertz paläographisch etwas überzeugender. Müllers (s.o.) Tilgung der Präposition a, d. h. die Annahme, dass Vatinio Gabinioque Dativ ist, ist nicht zwingend und daher zurückzuweisen.Wir sehen in a Vatinio Gabinioque einen von exoratum abhängigen Ablativ: „Cicero selbst sei von Vatinius und Gabinius um Gnade gebeten worden und habe ihnen, als sie angeklagt waren, beigestanden“. Auch ist Winterbottoms (1974) II 574 Tilgung von Gaio quoque Verri als Glosse deutlich schwieriger zu rechtfertigen als Gertz’ Konjektur. facilius exorari Antonium posse, cui contentio esset, ne quis 〈e〉 tribus hanc tam speciosam clementiae occasionem praeriperet: Bei Antonius ist eine Versöhnung einfacher, als diejenige zwischen Cicero, Vatinius und Gabinius war, da Antonius den anderen beiden Triumvirn zuvorkommen kann. Für aliquis (bzw. quis) i.S.v. „ein anderer“ vgl. Cic. inv. 1,104: indignamur, quod nobis hoc primis acciderit neque alicui umquam usu venerit. Die überlieferten Lesarten qui cum tertio bzw. tertius (B2V) sind vielfach emendiert worden (s. den Apparat). Müller (1887) 565 hält das in den besten Handschriften überlieferte qui cum tertio, worin ihm Bornecque (1902) II 336 folgt. Es ist aber aus syntaktischen Gründen unmöglich, diesen Satz, der drei Subjunktionen (qui, cum und ne), aber nur zwei Nebensätze

6.2 Kommentar

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aufweist, als unverderbt anzusehen. Bezeichnenderweise geht Bornecque dieser Schwierigkeit bei der Übersetzung aus dem Weg: „Antoine pourrait être fléchi plus aisément, car, associé à deux autres hommes, il ne voudrait pas laisser les autres triumvirs lui enlever une si belle occasion de clémence.“ Von all den vorgeschlagenen Verbesserungsversuchen scheint uns derjenige von Phillimore, den Edward (1928) 140 referiert, der einfachste zu sein. Daher lesen wir mit Phillimore cui contentio esset anstelle von qui cum tertio esset. Für einen Finalsatz nach contentio est vgl. Cic. fam. 1,9,19: post autem Caesaris, ut illum defenderem, mira contentio est consecuta. Vor tribus ergänzen wir mit Faber (1672) 41 e, da aus inhaltlichen Gründen tribus nicht Dativ sein kann. Bursians (1857) 32 Bevorzugung der Form ex ist nicht notwendig, auch wenn an der einzigen anderen Stelle, an der der Präpositionalausdruck e tribus im Werk des älteren Seneca vorkommt (contr. 9,5,4), ex steht. fortasse ei irasci Antonium, qui ne tanti quidem illum putasset, quem rogaret: Geminus unterstellt Antonius, dass er Cicero proskribiert hat, weil er nicht glaubt, dass Cicero ihn um Gnade bitten werde. Ein Gnadengesuch muss daher erfolgreich sein, weil die Proskription hinfällig ist, wenn es gestellt wird. Da Geminus Antonius das Motiv unterstellt, Cicero proskribiert zu haben, weil er diesem ein Gnadengesuch nicht zutraut, liegt hier ein color vor (s. die allg. Einleitung, S. 44– 59, v. a. 58). Wie Müller (1887) 565 und Winterbottom (1974) II 574 übernehmen wir C.F.W. Müllers Konjektur fortasse ei, während A und B fortasset und V fortasse überliefert. Denn Cicero muss aus inhaltlichen Gründen die handelnde Person in rogaret und in putasset sein. Folglich erwartet man am Anfang des Satzes ein Demonstrativpronomen, das auf Cicero verweist und mit dem Relativpronomen qui korreliert. Auch die Einleitung des ersten Nebensatzes ist textkritisch umstritten. In den Handschriften sind die Lesarten qui (A), quin (B) und qui ne (B2V) überliefert. Bursian (1857) 32, Kiessling (1872) 40 und Håkanson (1989) 362 lesen mit Jahn quia ne. Gronovius (1672) 41 schlägt quod ne vor.Wir bevorzugen wie Müller (s.o.) die Lesart qui ne. 14 fuga quam periculosa esset, cum descripsisset, adiecit: quocumque pervenisset, serviendum illi esse: ferendam esse aut Cassii violentiam aut Bruti superbiam aut Pompei stultitiam: Abschließend bestreitet Geminus, dass eine Flucht in Betracht kommt, was er, als er für die Gegenseite sprach, noch behauptet hat; vgl. § 11: adhortatus est illum ad fugam: illic esse M. Brutum, illic C. Cassium, illic Sextum Pompeium. Für Cassius’ Gewalttätigkeit vgl. Plut. Brutus 29,2: ἦν δὲ δόξα Κάσσιον μὲν εἶναι δεινὸν ἐν τοῖς πολεμικοῖς, ὀργῇ δὲ τραχὺν καὶ φόβῳ μᾶλλον ἄρχοντα. Dass Brutus hochmütig ist, scheint ad hoc von Geminus behauptet zu werden, ohne dass Parallelen dafür existieren. Bornecque (1902) II 395

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verweist auf Plut. Brutus 1,1 und meint, dass dort eher dessen Unbeugsamkeit zur Sprache kommt. Jedoch geht es dort um den Tyrannenvertreiber Brutus. Eine Verwechslung liegt auch im Fall von Pompeius vor, denn der hier genannte Pompeius ist nicht, wie Bornecque behauptet, Edward (1928) 140 hingegen bestreitet, Pompeius der Große, sondern dessen jüngerer Sohn (vgl. § 11 mit dem Kommentar zur Stelle). Aber es ist wohl auch nicht so, dass Geminus, wie Edward meint, den älteren und den jüngeren Sohn des Pompeius verwechselt, da es suas. 1,5 über den älteren Sohn heißt: multum iocatur de stultitia Cn. Pompeii adulescentis (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Der jüngere Pompeius wird auch von Velleius Paterculus abschätzig beurteilt (Vell. 2,73,1): hic adulescens erat studiis rudis, sermone barbarus, impetu strenuus, manu promptus, cogitatu celer, fide patri dissimillimus, libertorum suorum libertus servorumque servus, speciosis invidens, ut pareret humillimis.

Die Historikerfragmente (14b-25a) In diesem Teil der Suasorienexzerpte liegt das Interesse nicht mehr bei der Deklamation, sondern bei dem Cicerobild der Historiker. Seneca d.Ä. beginnt mit einer Kritik an Asinius Pollio, der als einziger Historiker glaubt, dass Cicero tatsächlich hoffte, dass Antonius ihm vergeben würde (§§ 14b-15). Dann folgen nach einer Überleitung (§ 16) diejenigen Historikerfragmente, in denen Ciceros Tod beschrieben wird (§§ 17– 21a). Schließlich referiert Seneca d.Ä. diejenigen Äußerungen der Historiker, die sich in ihren Geschichtswerken an die Darstellung von Ciceros Tod anschließen und die er als laudationes funebres bezeichnet (§§ 21b-24; vgl. § 21b mit dem Kommentar zur Stelle). Der Anfang von § 25 leitet dann zu dem poetischen Fragment des Cornelius Severus über. Quoniam in hanc suasoriam incidimus, non alienum puto indicare, quomodo quisque se ex historicis adversus memoriam Ciceronis gesserit: Durch das Verb incidere gibt Seneca d.Ä. auch an einer anderen Stelle der Suasoriensammlung an, von seinem Standardplan bei der Referierung der Deklamationsexzerpte abzuweichen, nämlich suas. 2,10. Dort kündigt er an, sich bei der Zusammenfassung der folgenden Suasorien auf Fuscus’ Beschreibungen zu konzentrieren: at quia semel in mentionem incidi Fusci, ex omnibus suasoriis celebres descriptiunculas subtexam, etiamsi nihil occurrerit, quod quisquam alius nisi suasor dilexerit. Allerdings handelt es sich bei Fuscus’ Beschreibungen um integrale Bestandteile der Deklamation. Eine Abweichung vom Standardplan in der Form, dass eine andere literarische Gattung ausführlich zitiert wird, liegt innerhalb der Suasoriensammlung nur noch suas. 1,15 vor, wo die Beschreibungen des

6.2 Kommentar

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Ozeans durch die Deklamatoren mit derjenigen des Cornelius Severus verglichen werden. nam, quin Cicero nec tam timidus fuerit, ut rogaret Antonium, nec tam stultus, ut exorari posse eum speraret, nemo dubitat excepto Asinio Pollione, qui infestissimus famae Ciceronis permansit: Seneca d.Ä. bewertet selbst die im Thema der Suasorie skizzierte Situation als unwahrscheinlich. Der Politiker, Historiker und Literaturkritiker Asinius Pollio hat eine Geschichte der Bürgerkriege geschrieben, die mit dem ersten Triumvirat im Jahr 60 v.Chr. begann (vgl. Hor. carm. 2,1,1– 4). Der Titel der Schrift war wohl Historiae (vgl. §§ 15 und 25; Val. Max. 8,13, ext. 4: Asinius etiam Pollio […] in tertio historiarum libro). Zu Asinius Pollio und seinem Geschichtswerk vgl. Peter (1906) 67– 70; Echavarren (2007) 79 – 81; Zecchini (1982); Haller (1967); Gabba (1957); Coulter (1952). Sowohl er selbst als auch sein Sohn Asinius Gallus, der einen Vergleich zwischen Cicero und seinem Vater, der zugunsten seines Vaters ausfiel, veröffentlicht hat (vgl. Plin. epist. 7,4,3; Suet. Claud. 41,3), waren scharfe Cicerokritiker. Die Kritik, die an dieser Stelle referiert wird, bezieht sich auf Ciceros angebliche Charakterschwäche. Aber aus anderen Quellen geht hervor, dass die beiden Asinii auch Ciceros Stil kritisiert haben; vgl. Quint. inst. 12,1,22: transeo illos qui Ciceroni ac Demostheni ne in eloquentia quidem satis tribuunt […] nec Asinio utrique [sc. Cicero videtur satis esse perfectus], qui vitia orationis eius etiam inimice pluribus locis insecuntur; Gell. 17,1. Das Wort nemo verweist wohl ex negativo auf die Deklamatoren und Historiker zugleich, d. h. auf alle Personen, die bei der Frage in Betracht kommen, ob Cicero Antonius um Gnade bitten würde. Bei der Frage, ob mit A2, B2 und V posse oder mit Kiessling (1872) 41 posse eum gelesen werden sollte, differieren die Herausgeber. Håkanson (1989) 362 und ad loc. begründet seine Entscheidung, bloßes posse zu lesen, mit Nováks (1908) 267 Argument, dass es rhythmischer ist und eum leicht hinzugedacht werden kann (vgl. contr. 9,4,11). Jedoch scheint uns das in den besten Handschriften überlieferte possem darauf hinzudeuten, dass dort ursprünglich ein eum gestanden hat, so dass wir posse eum lesen. et is etiam occasionem scholasticis alterius suasoriae dedit. solent enim scholastici declamitare: deliberat Cicero, an salutem promittente Antonio orationes suas comburat: Mit „der anderen“ (altera) Suasorie ist die zweite Cicerosuasorie gemeint (suas. 7), deren Thema Seneca d.Ä. hier etwas ungenau zitiert. Das Thema der siebenten Suasorie lautet deliberat Cicero, an scripta sua comburat promittente Antonio incolumitatem, si fecisset; zu den Unterschieden und der Genese dieses Suasorienthemas s. die Einleitung zu suas. 7. Inwiefern Pollio die Themen der sechsten und siebenten Suasorie angeregt hat, wird im Folgenden deutlich: Er behauptet, dass Cicero nicht gezögert habe, sich von den Philippiken

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zu distanzieren. Dies ist unseres Wissens der exzeptionelle Fall, dass wir über die Genese eines lateinischen oder griechischen Deklamationsthemas informiert werden. Anhand dieser Information lässt sich erkennen, inwiefern sich Wirklichkeit und Fiktion in diesem Suasorienthema vermengen: Den Ausgangspunkt bildet eine historische Situation, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Cicero und Antonius. Durch die von Pollio stammende Verunglimpfung, dass Cicero sich von seinen Reden gegen Antonius losgesagt habe, wird dem Thema eine konkrete Gestalt gegeben. Für das Element der Bücherverbrennung s. die Einleitung zu suas. 7. Declamitare ist eine Konjektur von Bursian anstelle des aus syntaktischen Gründen unhaltbaren declamatores. Novák (1908) 267 f. interpretiert declamatores als Angleichung von declamare (nicht declamitare) an scholastici und zieht declamare auch aus rhythmischen Gründen vor. Wir tendieren jedoch zu declamitare, da es paläographisch etwas näher liegt, wie auch Håkanson ad loc. meint. Für declamitare als Synonym zu declamare vgl. suas. 4,4 mit dem Kommentar zur Stelle. 15 haec inepte ficta cuilibet videri potest: Haec sc. suasoria. Nachdem zuvor deutlich geworden ist, dass Seneca d.Ä. das Thema der sechsten Suasorie als unwahrscheinliche Fiktion ansieht, sagt er dies noch deutlicher über die siebente Suasorie: Es sei absurd, anzunehmen, Cicero habe sich auch nur mit der Möglichkeit auseinander gesetzt, die Philippiken zu verbrennen. Das Adverb inepte wird zwar in der Suasoriensammlung nur an dieser Stelle verwendet, aber in den Kontroversien verwendet Seneca d.Ä. diesen Begriff – zusammen mit dem Adjektiv ineptus – häufig zur Kritik an den Äußerungen von Deklamatoren; vgl. z. B. contr. 1,6,11; 7,5,8. Pollio vult illam veram videri; ita enim dixit in ea oratione, quam pro Lamia dedit: Asinius Pollio behauptet, dass es durchaus der Wahrheit entspricht, dass sich Cicero mit der Möglichkeit auseinandergesetzt hat, die Philippiken zu verbrennen, ja er geht sogar so weit zu behaupten, dass Cicero dies wirklich tun wollte, wie aus dem Folgenden hervorgeht. Über die Rede, die Asinius Pollio für Lamia gehalten hat, wissen wir nur das, was in diesem Paragraphen gesagt wird, nämlich dass Pollio Lamia vor den Triumvirn verteidigt hat. Aus der Polemik gegen Cicero lässt sich ferner schließen, dass die Rede zumindest nach Ciceros Tod veröffentlicht wurde; Näheres zur Datierung bei Haller (1967) 86. Der hier genannte Lamia ist wahrscheinlich L. Aelius Lamia (RE I 1 s.v. Aelius 75, Sp. 522), ein Freund Ciceros (vgl. Cic. fam. 11,16 und 17). Für weitere Prozesse unter Beteiligung der Triumvirn vgl. Osgood (2006). Anstelle des überlieferten dedit hat Schulting die Konjektur edidit vorgeschlagen, die von den Herausgebern seit Kiessling (1872) 41 übernommen wird, während Bursian (1857) 32 dedit hält. Die Zweifel an der

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Überlieferung rühren daher, dass die Junktur orationem (aut sim.) dare („eine Rede halten“) nur dichterisch belegt ist (vgl. OLD s.v. do1 27). Zudem muss inhaltlich an dedit gezweifelt werden, da sich Seneca d.Ä., wie am Ende von § 15 deutlich wird, auf die veröffentlichte Version der Rede bezieht, die von der mündlichen Version abweicht. Auf der anderen Seite benutzt Seneca d.Ä. die Verbalform dixit, obwohl er sich auf die geschriebene Version der Rede bezieht. Daher halten wir es für ratsamer, die Überlieferung zu bewahren und die Information am Ende des Paragraphen als Präzisierung aufzufassen. ASINI POLLIONIS: Wie der Name der Deklamatoren erscheint auch derjenige von Asinius Pollio im Genetiv. Hieran kann man erkennen, dass sich der Genetiv wohl so erklärt, dass eine Ellipse eines ganz allgemeinen Wortes wie verba vorliegt. C.F.W. Müller tilgte Asinius Pollios Namen an dieser Stelle, jedoch ohne Grund, wie Müllers (1887) 566 Verweis auf Livius’ Namen am Ende von § 16 und am Anfang von § 17 deutlich macht. Itaque numquam per Ciceronem mora fuit, quin eiuraret suas esse, quas cupidissime effuderat orationes in Antonium: Die Reden gegen Antonius, von denen sich Cicero losgesagt haben soll, sind die Philippiken; vgl. hierzu Wilson (2008), v. a. 306 – 317. Für effundere mit Bezug auf Worte vgl. Cic. de orat. 1,159: effudi vobis omnia, quae sentiebam. Der genaue Wortlaut des Textes ist unsicher. Per Ciceronem mora ist eine Konjektur von Bursian (1857) 32 anstelle des überlieferten perficere nemora bzw. nec mora (V), die von allen modernen Herausgebern übernommen wird, da die Überlieferung keinen Sinn ergibt. Für mora est per aliquem vgl. Cato agr. 148,1: quot dies per dominum mora fuerit; Liv. 44,37,4: contentus eo, quod per hostem moram fuisse pugnae scirent. Den AcI suas esse hat Gronovius (1672) 42 aufgrund von sprachlichen Zweifeln getilgt. In der Tat wird eiurare nirgends mit dem AcI konstruiert, sondern entweder mit einem Akkusativobjekt verbunden oder absolut gebraucht, wie der Thesaurusartikel zeigt. Müller (1887) 566 tilgt nur esse. Håkanson (1989) 362 und ad loc., der Gronovius folgt, verwirft die Überlieferung mit dem inhaltlichen Argument, dass Asinius Pollio wohl kaum behauptet, Cicero habe bestritten, dass die Philippiken von ihm stammen. Wir halten zögernd wie Bursian (s.o.) und Kiessling (1872) 41 die Überlieferung, da eiurare hier nicht i.S.v. „sich lossagen von“, „sich distanzieren von“ (+ Akkusativ) benutzt wird, sondern soviel wie negare bedeutet. multiplicesque numero et accuratius scriptas illis contrarias edere ac vel ipse palam pro contione recitare pollicebatur: Zur Wiedergutmachung habe Cicero sich bereit erklärt, Reden zugunsten von Antonius zu schreiben und öffentlich vorzutragen. Die Konstruktion recitare pollicebatur weist zwei Beson-

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derheiten auf: Zum einen ist sie einer der seltenen Fälle, in denen ein Infinitiv Präsens steht, wo ein Infinitiv Futur zu erwarten wäre (vgl. L.-H.-Sz. II, S. 357 f.). Zum anderen wird hier polliceri mit dem NcI und nicht mit dem AcI gebildet (vgl. OLD s.v. polliceor 2c), was ebenfalls selten ist; vgl. aber die Infinitivkonstruktion Caes. Gall. 4,21,5: legati veniunt, qui polliceantur obsides dare atque imperio populi Romani obtemperare. Ceteraque his alia sordidiora multo, ut tibi facile liqueret hoc totum adeo falsum esse, ut ne ipse quidem Pollio in historiis suis ponere ausus sit: Ceteraque his alia sordidiora multo sc. dixit. Asinius Pollio hat in der schriftlichen Version der Rede Pro Lamia (s. S. 428) weitere Verunglimpfungen gegen Cicero hinzugefügt, die sich in den Historien (s. den Kommentar zu § 14) nicht finden, obwohl sie dort eher ihren Platz hätten. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 41 lesen mit C.F.W. Müller adieceratque anstelle des überlieferten ceteraque. Novák (1908) 268 und (1915) 287 wendet gegen diese Konjektur zu Recht ein, dass das Plusquamperfekt keine Funktion hat. Sein eigener Vorschlag, den vorigen Satz mit ceteraque zu beenden und adiecit hinter multo zu ergänzen ([…] pollicebatur’ ceteraque. his alia sordidiora multo adiecit […]), kann nicht überzeugen, da zum einen der in ceteraque [sc. dixit Pollio] ausgedrückte Gedanke in his alia sordidiora multo adiecit wiederkehren würde. Zum anderen ist das nachklappende ceteraque sinnlos, da das Zitat, das bis pollicebatur reicht, zeigen soll, dass Asinius Pollio behauptet, dass Cicero sich mit der Möglichkeit, seine Philippiken zu verbrennen, auseinandergesetzt und sich sogar dafür entschieden hat. Dass Asinius Pollio in der Rede Pro Lamia auch noch Anderes gesagt hat, ist an dieser Stelle irrelevant. Wir bewahren wie Bursian (1857) 32 die Überlieferung, indem wir davon ausgehen, dass dixit, das vor dem Zitat steht, das Objekt cetera […] alia sordidiora regiert, wie auch Gertz (1888) 298 meint. Zwar ist die Häufung der Pronomen cetera und alia auffällig, aber sie findet sich z. B. auch bei Fronto (3,14,3): item in ceteris aliis rebus omnibus und dürfte kein Grund für einen textkritischen Eingriff sein. Ebenso folgen wir Bursian (s.o.) in der Bewahrung von ut tibi. Wie Novák (s.o.) angibt, ist die zweite Person als „man“ zu verstehen; vgl. OLD s.v. tu 1d; Cic. Tusc. 1,88: dicitur […] carere, cum aliquid non habeas et non habere te sentias; Publil. sent. I 12: inritare est calamitatem, cum te felicem voces. huic certe actioni eius pro Lamia qui interfuerunt, negant eum haec dixisse – nec enim mentiri sub triumvirorum conscientia sustinebat – sed postea composuisse: Seneca d.Ä. misst der vor den Triumvirn gehaltenen Rede Pro Lamia größeren Wert bei als der veröffentlichten Version, die die erlogenen Verunglimpfungen gegen Cicero enthalte. Wilson (2008) 316 f. problematisiert diese Wertung insofern, als es auch möglich wäre, dass die schriftliche Version die

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Wahrheit enthalte. Die Tatsache, dass Asinius Pollio die cicerokritischen Äußerungen nicht vor Gericht gesagt hat, könnte sich auch dadurch erklären, dass die Umstände des Prozesses Asinius Pollio daran gehindert haben. Zu dieser Interpretation verleiten Wilson die Indizien, dass Seneca d.Ä. so sehr darum bemüht ist, Cicero positiv darzustellen, dass er sogar Zuhörer der ursprünglichen Rede befragt habe und das zweifelhafte Argument verwende, dass sich Asinius Pollios Verunglimpfungen in den Historien finden müssten, wenn sie wahr wären. Wilsons Meinung ist bedenkenswert. Allerdings muss Seneca d.Ä. nicht die damaligen Zuhörer befragt haben, sondern kann diese Information aus der historischen Tradition geschöpft haben. Außerdem mag der Vergleich der unterschiedlichen Quellen als Arbeit des Historikers angesehen werden (zu Seneca d.Ä. als Historiker s. den Kommentar zu § 16). Das Phänomen, dass eine veröffentlichte Rede von der gehaltenen Rede abweicht, ist uns auch aus Ciceros Rede Pro Milone bekannt (vgl. Cassius Dio 40,54). Der Präpositionalausdruck sub conscientia begegnet an dieser Stelle zum ersten Mal und findet sich erst wieder bei den christlichen Schriftstellern (z. B. Tert. nat. 1,15). Für sustinere i.S.v. audere vgl. Sen. benef. 4,15,2: non sustineo illum deserere, cui dedi vitam; Cic. Verr. II 1,10: sustinebunt tales viri se tot senatoribus […] tot populorum privatorumque litteris non credidisse? 16 Nolo autem vos, iuvenes mei, contristari, quod a declamatoribus ad historicos transeo: Nachdem Seneca d.Ä. den ersten Historiker zitiert hat und bevor er weitere anführt, entschuldigt er sich bei seinen Söhnen dafür, dass er sein eigentliches Anliegen, nämlich aus Deklamationen zu zitieren, zeitweilig unterbricht. Seine Söhne spricht Seneca d.Ä. auch am Ende der zweiten, dritten und vierten Suasorie an, wo er ihnen ein Interesse an Fuscus’ Beschreibungen unterstellt. In § 25 und am Ende von § 27 spricht Seneca d.Ä. seine Söhne erneut an. satisfaciam vobis, et fortasse efficiam, ut his sententiis lectis solidis et verum habentibus recedatis: Satisfaciam vobis bedeutet, dass Seneca d.Ä. den Wunsch der Söhne erfüllen und zu den Deklamatoren zurückkehren wird, und verweist auf das Ende dieser Suasorie (§ 27) bzw. – wie ebendort deutlich wird – auf die nächste Suasorie: si hic desiero, scio futurum, ut vos illo loco desinatis legere, quo ego a scholasticis recessi; ergo, ut librum velitis usque ad umbilicum revolvere, adiciam suasoriam proximae similem. Das Interesse der Söhne an der Deklamation und v. a. an den Sentenzen bekundet Seneca d.Ä. in der Praefatio zum Werk (contr. 1 praef. 1 und 22). Ferner erinnert diese Art der Verknüpfung an diejenige, die Seneca d.Ä. durch Fuscus’ Beschreibungen zwischen der zweiten, dritten, vierten und fünften Suasorie herstellt (vgl. suas. 2,10 und 23; 3,7; 4,5 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle). Daher halten wir Håkansons (1989b) 15 Meinung, dass Seneca d.Ä. mit satisfaciam vobis die Historikerzitate meint, für unwahrscheinlich. Zudem spricht

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die vorsichtige Formulierung fortasse efficiam […] dafür, dass der zögerliche Versuch der Gewöhnung an die Historiographie dient, während das in satisfaciam vobis ausgedrückte Ziel die Deklamation meint. Die sententiae bezeichnen hier die „Gedanken“ der Historiker über Ciceros Tod (vgl.Winterbottom [1974] II 579), nicht die „Sentenzen“, wie O. & E. Schönberger (2004) 297 übersetzen. Auch wenn das Ende des Satzes textkritisch umstritten ist, scheint festzustehen, dass Seneca d.Ä. die Historiographie höher einschätzt als die Deklamation. Zwar ist dies die einzige Stelle, an der Seneca d.Ä. konkret die Historiographie über die Deklamation stellt, aber an einer anderen Stelle wertet er die Deklamation gegenüber anderen Gattungen generell ab (contr. 1,8,16): Diocles Carystius dixit sententiam, quae non in declamatione tantum posset placere sed etiam in solidiore aliquo scripti genere. Seneca d.Ä. hat auch selbst ein Geschichtswerk verfasst (vgl. Sen. fr. XV p. 436 f. Haase; Sussman [1978] 137– 152). Textkritisch ist der hier vorliegende Satz äußerst umstritten. Überliefert ist solidis et verum habenti (‐ibus B2V) recedatis. An der Überlieferung wurde Anstoß genommen, da ja nicht gemeint sein kann, dass die Söhne sich von der Historiographie abwenden sollen. Also schlug Bursian (1869) 6 unter Berücksichtigung von § 27 (s.o.) vor, a scholasticis vor recedatis zu supplieren. An derselben Stelle ergänzt Schenkl a vanis et falsis (vgl. Müller [1887] 566). Gertz (1879) 154 emendiert recedatis zu accedatis und fasst solidis et verum habentibus als Dativ auf. Castiglioni (1928) 124 erweitert Bursians Supplierung a scholasticis um robur, das sich auf verum bezieht. Jedoch besteht für diese Ergänzung, die auch Winterbottom (1974) II 578 übernimmt, keine Veranlassung; verum bedeutet hier „Wahres“ oder „Wahrheit“ (vgl. OLD s.v. verus 7), d. h. Seneca d.Ä. ist der Meinung, dass die Historiographie im Gegensatz zur Deklamation an der Wahrheit orientiert ist. Håkanson (1989) 362 liest solida et verum habentia recipiatis. Ad loc. führt er das Argument an, dass die Lesart recedatis problematisch ist, da das folgende Bild von der Einnahme einer Arznei dafür spricht, dass auch an dieser Stelle der Gedanke eher derjenige ist, dass etwas aufgenommen (nämlich die Lektüre der Historiker) als dass etwas aufgegeben wird (die Lektüre der Deklamatoren). Wir halten dieses Argument nicht für überzeugend, da die Abwendung von der Deklamation und die Aufnahme der Historikerlektüre zwei Seiten derselben Medaille sind. An der Lesart recedatis sollte festgehalten werden, wie auch aus § 27 (s.o.) deutlich wird. Da recedere nach Ausweis des OLD nicht wie cedere „Platz machen für“ bedeuten kann, stellt sich die Frage, ob mit Bursian a scholasticis ergänzt werden muss oder diese Supplierung unnötig ist, da sie sich aus dem Kontext ergibt. Wir weisen die Ergänzung zögernd als unnötig zurück, da sie sich gedanklich aus a declamatoribus im vorigen Satz ergibt. Gertz’ (s.o.) Änderung von et vor fortasse zu sed halten wir für unnötig, da auch et einen adversativen Gedanken ausdrücken kann; vgl.

6.2 Kommentar

433

den nächsten Satz und suas. 1,16 mit dem Kommentar zur Stelle: et nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim. et quia hoc, si tamen, recta via consequi non potero, decipere vos cogar velut salutarem daturus pueris potionem sumpti poculi: Seneca d.Ä. möchte seinen Söhnen die Lektüre ‘versüßen’, indem er die Historiker in seine Deklamationsexzerpte integriert. Das Bild, das er benutzt, ist dasjenige des am oberen Rand mit Honig beschmierten Bechers, der das Trinken der bitteren Arznei angenehmer macht. Mit diesem Bild begründet Lukrez sein Unternehmen, die epikureische Lehre in einem Lehrgedicht darzustellen (Lucr. 1,936 – 938 = 4,11– 13): sed vel uti pueris absinthia taetra medentes / cum dare conantur, prius oras pocula circum / contingunt mellis dulci flavoque liquore. Quintilian zitiert diese Lukrezstelle, um anschließend einen Bezug zu seinem eigenen Werk herzustellen (inst. 3,1,5): sed nos veremur, ne parum hic liber mellis et absinthii multum habere videatur. Auch dieser Satz ist textkritisch sehr umstritten. Håkanson (1989) 362 liest statim anstelle des hinter hoc überlieferten sitam. Da jedoch recta via folgt und ungefähr dasselbe bedeutet, wäre statim recta via redundant. Das von Watt (1984) 104 vorgeschlagene si cupiam ergibt keinen Sinn, da Seneca d.Ä. wohl kaum erwägt, ob er seine Söhne zur Historiographie ermutigen will, sondern ob er es kann. Shackleton Baileys (1969) 321 Vorschlag, et quidem, hoc si iam zu lesen, kann nicht überzeugen, da quidem nahezu funktionslos ist und das -t- in sitam gegen si iam spricht, das auch Kiessling (1872) 41 liest. Gegen Kiesslings Textkonstitution ist ferner einzuwenden, dass die Verknüpfung mit dem nächsten Satz sinnlos ist. Winterbottom (1974) 31 und (1974) II 578 tilgt sitam, da er meint, dass es aufgrund des folgenden salutarem hier eingedrungen ist (auch Brakman tilgt das Wort; vgl. Håkanson [s.o.]). Diese Form der Dittographie ist zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich, da salutarem nicht unmittelbar folgt. Äußerst erwägenswert ist Bursians (1869) 6 Konjektur propositum, die Müller (1887) 567, Bornecque (1902) II 338 und Zanon dal Bo (1988) 170 übernehmen, da sie inhaltlich sehr gut passt und paläographisch nicht fern liegt. Jedoch meinen wir, dass das in der jüngeren Handschrift D überlieferte si tamen die einfachste und wahrscheinlichste Verbesserung ist. Für si tamen i.S.v. „wenn überhaupt“ vgl. OLD s.v. tamen 5b; Phaedr. 2,5,5 f.: hanc [sc. nationem ardalionum] emendare, si tamen possum, volo / vera fabella. Anstelle des überlieferten samti (A) bzw. sumti (B) bzw. sumpti (V) liest Håkanson (s.o.) mit Schulting summa parte. In zwei Ausgaben aus dem 16. Jahrhundert, den Editiones Hervageniana (1557) und Romana (1585), findet sich das nirgends belegte absinthiati (vgl. Håkanson [s.o.]), das Bursian (s.o.) und Kiessling (s.o.) übernehmen. Poculi ist sicherlich die richtige Lesart der Handschrift V, während A und B ein sinnloses populi überliefern. Müllers (s.o.) Emendations-

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6 suas. 6

vorschlag sumite pocula, den Bornecque (s.o.) und Winterbottom (s.o.) übernehmen, ist vielleicht etwas zu gebieterisch.Wir tendieren dazu, die Überlieferung zu halten, indem wir den Genetiv sumpti poculi lesen. Sumere würde dann soviel wie „zu sich nehmen“ bedeuten (vgl. Suet. Domit. 21,1: sumere potiunculam), und poculum metonymisch auf das Trinken des Becherinhaltes (vgl. Cic.Verr. II 5,28: in poculis) verweisen: „der heilsame Trank des geleerten Bechers“. Vielleicht kann davon ausgegangen werden, dass das Bild des mit Absinth (oder einer ähnlichen Arznei) gefüllten und oben mit Honig bestrichenen Bechers durch die alleinige Nennung des poculum verstanden wurde. Livius adeo retractationis consilium habuisse Ciceronem non dicit, ut neget tempus habuisse; ita enim ait: „Livius ist so weit davon entfernt zu sagen, Cicero habe die Absicht einer Umarbeitung [sc. der Philippischen Reden] gehabt, dass er bestreitet, er habe die Zeit dazu gehabt“. Bevor Seneca d.Ä. Livius zitiert, gibt er eine kurze Zusammenfassung von dessen Darstellung von Ciceros Tod. Eine solche Zusammenfassung gibt Seneca d.Ä. auch von den historiographischen Darstellungen des Aufidius Bassus und des Cremutius Cordus (§§ 18 f.), nicht jedoch von derjenigen des Bruttedius Niger (§§ 20 f.). Die Art und Weise, wie Seneca d.Ä. die Livianische Darstellung von Ciceros Tod einleitet, steht ganz im Zeichen von Asinius Pollios diffamierender Darstellung: Seneca d.Ä. stellt Livius’ (richtigen) Bericht dem (falschen) von Pollio gegenüber, der behauptet (§ 15), dass Cicero beabsichtigt habe, Antonius-freundliche Reden vorzutragen. Daher beginnt hier die Gegendarstellung, die darauf zielt, Asinius Pollios Äußerungen als Verunglimpfungen zu erweisen. Der Name Livius ist nicht überliefert, sondern findet sich erstmals in der Editio Romana (1585), wohingegen huius in den Handschriften steht. Da huius keinen Sinn ergibt und Aufidius Bassus sowie Cremutius Cordus (§§ 18 f.) erst als Subjekt eines Satzes erscheinen und dann im Genetiv vor dem Zitat aus dem Geschichtswerk stehen, muss Livius gelesen werden. Andererseits ist die Ergänzung von T. vor Livius, die die Herausgeber seit Müller (1887) 567 mit Usener, Mommsen und Gertz in den Text setzen, unnötig. Retractationis ist eine leichte und aus inhaltlichen Gründen notwendige Emendation von Schott (vgl. Müller [s.o.]) anstelle des überlieferten detractionis (A) bzw. detractationis (B) bzw. detrectationis (V). Zwar scheint das Wort mit Bezug auf Literatur fast nur an dieser Stelle belegt zu sein (laut OLD s.v. retractatio 1b nur an dieser Stelle; vgl. aber Augustins Retractationes), aber in der allgemeineren Bedeutung „Rückzug“, „Rückzieher“ wird es seit Cicero (Phil. 14,38) verwendet. 17 T. LIVI: Das folgende Fragment entstammt wohl dem 120. Buch aus Livius’ Geschichtswerk, das gegen 13 n.Chr. verfasst wurde (vgl. Lamacchia [1975] 434) und von dem uns nur die periocha überliefert ist. Für den Genetiv vgl. § 15 mit dem

6.2 Kommentar

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Kommentar zur Stelle: ASINI POLLIONIS. Bei der Abkürzung T. vor Livi handelt es sich um eine Emendation von Bursian (1857) 33 anstelle der Lesart L. Die Lesart erklärt sich wohl als Angleichung an Livi. Auch in § 21 ist Livius’ Name fälschlicherweise durch ein L. vor Livius abgekürzt worden; am Anfang von § 22 hingegen ist die richtige Abkürzung T. überliefert. Marcus Cicero sub adventum triumvirorum urbe cesserat pro certo habens, id quod erat, non magis Antonio eripi quam Caesari Cassium et Brutum posse: Die Ankunft der Triumvirn Antonius, Oktavian und Lepidus bezeichnet deren Rückkehr nach Rom, nachdem sie sich in Bononia (heute Bologna) im November 43 v.Chr. zum sog. zweiten Triumvirat zusammengeschlossen und auf Antonius’ Drängen Ciceros Proskription beschlossen hatten (vgl. Plut. Cicero 46,3 – 5). Die beiden Caesarmörder Cassius und Brutus wurden in der Schlacht bei Philippi (42 v.Chr.) von Oktavian und Antonius besiegt. Livius schreibt Cicero also ein Vaticinium ex eventu zu, wenn er sagt, dass Cicero Cassius’ und Brutus’ Tod für eine Gewissheit hielt. Sub mit Akkusativ in zeitlicher Bedeutung bedeutet „ungefähr zu der Zeit“, „gegen“, und zwar entweder i.S.v. „kurz vor“ (vgl. OLD s.v. sub 23) oder i.S.v. „kurz nach“ (ib. 24). An dieser Stelle muss es „kurz vor“ heißen. Anders als alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass eine Supplierung des Subjektsakkusativs se zu eripi unnötig ist; vgl. suas. 7,9 mit dem Kommentar zur Stelle: si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies; quod ad me attinet, fallere [sc. fidem Antonium] malo; Liv. 9,1,11: pro certo habete priora bella [sc. vos] adversus deos magis quam homines gessisse, hoc, quod instat, ducibus ipsis dis [sc. vos] gesturos; Cic. Tusc. 2,40: Iovem Olympium […] implorabit, [sc. se] ferre non posse clamabit; K.-St. II 1, S. 700 f. primo in Tusculanum fugerat; inde transversis itineribus in Formianum ut ab Caieta navem conscensurus proficiscitur: Die Angaben Plutarchs, der über Ciceros Flucht ausführlicher handelt (Plut. Cicero 47), stimmen weitgehend mit denjenigen des Livius überein. Nach Plutarch flüchtete Cicero jedoch nicht auf sein Landgut bei Tusculum, sondern befand sich dort, als sich die Triumvirn verbündeten. Er ließ sich nach Astura tragen und schiffte sich dort ein, ging jedoch bald wieder von Bord, um nach Rom zurückzukehren. Dann änderte er wiederum sein Vorhaben und beschloss, zu seinem Landgut zwischen Caieta und Formiae, dem Formianum, zu gehen, um von Caieta nach Griechenland überzusetzen. Transversis itineribus scheint auf die Umwege zu deuten, die aus Ciceros Zweifel entstanden, ob er fliehen oder nach Rom zurückkehren sollte (vgl. O. & E. Schönberger [2004] 297: „auf Kreuz- und Querwegen“). Die Konstruktion von Partizipialformen + ut wie im Griechischen mit ὡς wird seit Livius geläufiger (vgl. K.-St. II 1, S. 790 f.); vgl. Liv. 3,5,1: hostes carpere multifariam vires Romanas, ut non

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6 suas. 6

suffecturas ad omnia, adgressi sunt. Da das in den besten Handschriften überlieferte fuerunt keinen Sinn ergibt, lesen die Herausgeber entweder mit B2 fugerat oder mit V2 fugit. Wir halten fugerat für die richtige Form, da sie paläographisch näher liegt. Das Plusquamperfekt ist trotz des folgenden proficiscitur unproblematisch, da es zuvor cesserat heißt. unde aliquotiens in altum provectum cum modo venti adversi retulissent, modo ipse iactationem navis caeco volvente fluctu pati non posset, taedium tandem eum et fugae et vitae cepit regressusque ad superiorem villam, quae paulo plus mille passibus a mari abest, ‘moriar’ inquit ‘in patria saepe servata’: Für das schlechte Wetter, das Ciceros Einschiffung in Caieta unmöglich macht und ihn zum Verbleib auf seinem Landgut bei Formiae zwingt, vgl. Plut. Cicero 47,7. Dass Cicero Überdruss über die Flucht und sein Leben empfand und in welcher Entfernung von Caieta das Formianum gelegen war, sind Angaben, die nur bei Livius stehen. Als superior villa wird das Landgut wohl bezeichnet, weil es oberhalb vom Meer liegt. Zudem liegt Formiae und damit wohl auch das Formianum nördlich von Caieta. Als Retter des Vaterlandes bezeichnet sich Cicero bei Livius wohl v. a. aufgrund der Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung; vgl. Cic. Pis. 6: me Q. Catulus […] frequentissimo senatu parentem patriae nominavit; Sest. 121: me […] quem Q. Catulus, quem multi alii saepe in senatu patrem patriae nominarant; Att. 1,14,3 und 9,10,3; dom. 72; Phil. 2,12.Vgl. auch Cornelius Severus in § 26 (V. 13): patriae caput. Inwiefern von einer häufigen Rettung des Vaterlandes gesprochen werden kann, ist unklar; saepe ist wohl rhetorische Übertreibung. Bei caecus fluctus handelt es sich um einen Terminus technicus, der das Phänomen der „Dünung“ bezeichnet, womit das Hin- und Herwogen des Meeres gemeint ist. Verursacht wird die Dünung nicht durch die Winde, weshalb das Meer nicht aufgewühlt wird und keine Gischt entsteht. Vgl. OLD s.v. caecus 7b; Forcellini s.v. caecus 22: caeci fluctus, quos Graeci κωφοὺς dicunt, hoc est surdos, sunt, quorum non apparet causa, quiescentibus quidem ventis, sed nihilominus aestuante mari et fluctuante; Suet. frg. p. 244 Reifferscheid: caecus fluctus tumens necdum tamen canus, de quo Atta in togata sic ait: ‘pro populo fluctus caecos faciunt per discordiam’ et Augustus ‘nos venimus Neapolim fluctu quidem caeco’; Sen. dial. 6,18,7. Für taedium capit aliquem bei Livius vgl. 3,68,12; 8,2,1. Solche Verknüpfungen eines abstrakten Substantivs mit capere sind ein Merkmal des Livianischen Stils, wie Tränkle (1968) 144 f. bemerkt; vgl. oblivio capit (38,46,12); furor capit (35,33,11); dementia capit (8,5,7); libido capit (1,57,10; 3,44,1). Da der Perfektstamm von referre sowohl mit einfachem als auch mit doppeltem -t- belegt ist, sollte die überlieferte Form retulissent bewahrt werden. Formen mit einfachem -t- finden sich auch an anderen Stellen bei Livius: 37,32,10; 38,42,5. Vgl. auch retuli in § 25 und suas. 4,4. Lucarini (2008) 145 meint, dass vor dem Zitat (moriar […]) Worte ausgefallen sind,

6.2 Kommentar

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da man eine Erwähnung der Ankunft der Mörder erwarte. Jedoch erscheint die Annahme einer Lacuna nicht zwingend, da es vielmehr Livius’ Absicht zu sein scheint, die Erzählung auf Cicero zu fokussieren. Die Mörder werden eher beiläufig erwähnt; s. weiter unten mit dem Kommentar zur Stelle: nec satis stolidae crudelitati militum fuit. satis constat servos fortiter fideliterque paratos fuisse ad dimicandum; ipsum deponi lecticam et quietos pati quod fors iniqua cogeret iussisse: Livius gibt an dieser Stelle nicht an, warum sich Cicero in einer Sänfte, und das heißt: auf welchem Weg er sich befand (aus regressus im vorigen Satz wird deutlich, dass Cicero sich zwischenzeitlich wieder auf dem Formianum befand). Wie Plutarch (Cicero 47,10) angibt, trugen ihn seine Sklaven erneut nach Caieta, damit er von dort nach Griechenland übersetzt. Plutarch überliefert auch, dass Cicero seinen Sklaven befahl, die Sänfte abzustellen (ib. 48,3). Dass diese zum Kämpfen bereit waren, sagt er zwar nicht, aber auch er betont deren Tapferkeit, indem er schildert (ib. 47,10), dass die Sklaven die Initiative übernommen haben, als sie Cicero nach Caieta trugen.Wie Bursian (1857) 33 und Håkanson (1989) 363 lesen wir das in den besten Handschriften überlieferte fors und nicht das in den Recentiores überlieferte sors. Wie Håkanson ad loc. bemerkt, konnten fors und sors in der Überlieferung zwar leicht verwechselt werden, aber die bessere Überlieferung und folgende Parallelen geben den Ausschlag für fors: Liv. 5,20,9: pati habere quod cuique fors belli dederit; Fronto p. 184,13 van den Hout: fors iniqua. prominenti ex lectica praebentique immotam cervicem caput praecisum est: Vgl. Plut. Cicero 48,5: ἐσφάγη δὲ τὸν τράχηλον ἐκ τοῦ φορείου προτείνας. Den Mörder nennt Livius an dieser Stelle nicht (s. die folgende Anmerkung). Für prominere mit Bezug auf Personen vgl. Caes. Gall. 7,47,5: matres familiae de muro vestem argentumque iactabant et pectore nudo prominentes […] obtestabantur Romanos, ut sibi parcerent. Für praebere in diesem Zusammenhang vgl. contr. 9,2,8: iubet […] miserum stare ad praebendas cervices immotum. nec satis stolidae crudelitati militum fuit: manus quoque scripsisse aliquid in Antonium exprobrantes praeciderunt: Für das Abschlagen der Hände aus dem Grund, dass Cicero mit ihnen die Philippiken verfasst hat, vgl. App. civ. 4,20: ἀπέτεμε δὲ καὶ τὴν χεῖρα, ἧι τοὺς κατὰ Ἀντωνίου λόγους οἷα τυράννου συγγράφων, ἐς μίμημα τῶν Δημοσθένους, Φιλιππικοὺς ἐπέγραφεν; Plut. Cicero 48,6: τὴν δὲ κεφαλὴν ἀπέκοψαν αὐτοῦ καὶ τὰς χεῖρας, Ἀντωνίου κελεύσαντος, αἷς τοὺς Φιλιππικοὺς ἔγραψεν. Die Historiker sind sich bei der Frage uneins, ob Cicero beide Hände oder nur die rechte Hand abgeschlagen wurde. In der periocha zu Buch 120 des Livianischen Geschichtswerkes heißt es, dass es nur die rechte Hand

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6 suas. 6

war: huius occisi a Popillio, legionario milite, […] caput quoque cum dextra manu in rostris positum est. Vgl. neben den in der Einleitung („Die historische Situation“) angegebenen Stellen contr. 7,2,1 und 9, wo von einer abgeschlagenen Hand die Rede ist. Auch bei der Frage nach Ciceros Mörder macht Livius hier eine Angabe, die mit derjenigen aus der genannten periocha nicht übereinstimmt, da er hier unbestimmt in der dritten Person Plural über diejenigen spricht, die Ciceros Hände abgeschlagen haben, während dort Popillius als Mörder genannt wird (s.o. und s. Einleitung). Eine ähnlich widersprüchliche Angabe findet sich bei Valerius Maximus mit Bezug auf Ciceros Aufenthaltsort: An einer Stelle (1,4,6) nennt er die Villa Caletana, an einer anderen Stelle (5,3,4) sagt er aber, dass sich Ciceros Mörder nach Caieta begeben habe. Das Adjektiv stolidus verknüpft Livius auch mit fiducia (34,46,8) und superbia (45,3,3). Die Supplierung von id (Müller [1887] 567) oder hoc (Gertz [1879] 154) vor satis halten wir für unnötig; vgl. Ov. met. 6,361– 364: hi tamen orantem perstant prohibere minasque, / ni procul abscedat, conviciaque insuper addunt; / nec satis est, ipsos etiam pedibusque manuque / turbavere lacus. ita relatum caput ad Antonium iussuque eius inter duas manus in rostris positum, ubi ille consul, ubi saepe consularis, ubi eo ipso anno adversus Antonium quanta nulla umquam humana vox cum admiratione eloquentiae auditus fuerat: Für die Platzierung von Ciceros Kopf und Händen (s. die vorige Anmerkung) auf der Rednertribüne vgl. Plut. Cicero 49,2; Liv. perioch. 120 (s. ebenfalls dort); Flor. 2,16 und App. civ. 4,20. Die beiden zuletzt genannten Historiker weisen ebenfalls darauf hin, dass Ciceros Körperteile an seiner vormaligen Wirkungsstätte aufgehängt wurden: Flor. 2,16: Romae capita caesorum proponere in rostris iam usitatum erat; verum sic quoque civitas lacrimas tenere non potuit, cum recisum Ciceronis caput illis suis rostris videretur, nec aliter ad videndum eum, quam solebat ad audiendum, concurreretur; App. civ. 4,20: ἡ κεφαλὴ δὲ τοῦ Κικέρωνος καὶ ἡ χεῖρ ἐν ἀγορᾷ τοῦ βήματος ἀπεκρέμαντο ἐπὶ πλεῖστον, ἔνθα πρότερον ὁ Κικέρων ἐδημηγόρει. Vgl. auch Cremutius Cordus in § 19: quo saepius ille ingenti circumfusus turba processerat, quae paulo ante coluerat piis contionibus, quibus multorum capita servaverat, tum per artus suos latus aliter ac solitus erat a civibus suis conspectus est, praependenti capiti orique eius inspersa sanie, brevi ante princeps senatus Romanique nominis titulus, tum pretium interfectoris sui; Bruttedius Niger in § 21: ut vero iussu Antonii inter duas manus positum in rostris caput conspectum est, quo totiens auditum erat loco, dato gemitu et fletu maximae viri inferiae. Man denke auch an Ciceros eigene Worte über den Redner Antonius (de orat. 3,10): M. Antoni in eis ipsis rostris, in quibus ille rem publicam constantissime consul defenderat […], positum caput illud fuit, a quo erant multorum civium capita servata. Für das verschobene Plusquamperfekt auditus fuerat (statt auditus erat),

6.2 Kommentar

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das bei Nepos, Sallust und Livius des Öfteren vorkommt, vgl. L.-H.-Sz. II, S. 321; Liv. 1,45,3: certatum fuerat. vix attollentes lacrimis oculos homines intueri trucidata membra civis poterant: Für die schockierte Reaktion der Römer vgl. Plut. Cicero 49,2 und Flor. 2,16 (s. die vorige Anmerkung); Cremutius Cordus in § 19: praecipue tamen solvit pectora omnium in lacrimas gemitusque visa ad caput eius deligata manus dextera, divinae eloquentiae ministra. ceterorumque caedes privatos luctus excitaverunt, illa una communem; Bruttedius Niger in § 21 (s.vorige Anmerkung). Für oculos attollere vgl. auch Liv. 9,6,8;Verg. Aen. 4,688.Textkritisch ist dieser Satz unsicher. Håkanson (1989) 363 ergänzt madentes zwischen attollentes und lacrimis, um den Ablativ syntaktisch anzuschließen. Gegenüber C.F.W. Müllers Änderung von homines zu humentes (vgl. Müller [1887] 568) hat die Supplierung den Vorteil, dass madens bei Livius belegt ist (44,38,9), wie Håkanson ad loc. kommentiert. Shackleton Bailey (1993) 51 plädiert für prae lacrimis, das laut Kiessling (1872) 43 schon Gronovius vorgeschlagen hat, und verweist über den Thesaurus (ThLL X 2,378,57) auf zwei Cicerostellen: Mil. 105: neque enim prae lacrimis iam loqui possumus und Att. 9,12,1. Wir halten wie Bursian (1857) 33 f. zögernd die Überlieferung, indem wir lacrimis als Ablativus causae zu vix attollentes auffassen („die Menschen, die ihre Augen aufgrund der Tränen kaum aufrichteten“); vgl. Cic. Planc. 104: istis vestris lacrimis de illis recordor, quas pro me saepe et multum profudistis. Auch im Fall von trucidata sind wir der Meinung, dass die Überlieferung gehalten werden kann, da trucidare mit Bezug auf corpora bei Livius (5,45,3) belegt ist: nuda corpora et soluta somno trucidantur. 18 Bassus Aufidius et ipse nihil de animo Ciceronis dubitavit, quin fortiter se morti non praebuerit tantum, sed obtulerit: Auch die Einleitung zu Aufidius Bassus’ historischem Bericht macht deutlich, dass Seneca d.Ä. ihn (wie Livius) als Gegendarstellung zu Asinius Pollios Cicerodiffamierung zitiert, da er Ciceros Todesverachtung hervorhebt; vgl. die Einleitung zu Livius’ historischer Darstellung am Ende von § 16 mit dem Kommentar zur Stelle. Auf der anderen Seite wird im Detail eine Divergenz zu Livius deutlich (auf die es an dieser Stelle allerdings nicht ankommt), da Cicero Aufidius Bassus zufolge seinen Kopf nicht nur „hingehalten“, sondern regelrecht „angeboten“ hat. Vgl. Livius in § 17: prominenti ex lectica praebentique immotam cervicem caput praecisum est. Für et ipse i.S.v. „ebenfalls“ vgl. § 19: Cremutius Cordus et ipse ait […]. AVFIDI BASSI: Aus Aufidius Bassus’ historischem Werk sind uns nur die Fragmente überliefert, die Seneca d.Ä. hier und in § 23 zitiert (vgl. Peter [1906] 96 – 98). Möglicherweise waren die Bücher über den Germanenkrieg, die Quintilian her-

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vorhebt, Bestandteil desselben Werkes; vgl. Quint. inst. 10,1,103: quam paulum aetate praecedens eum [sc. Servilium Nonianum] Bassus Aufidius egregie, utique in libris belli Germanici, praestitit genere ipso, probabilis in omnibus, sed in quibusdam suis ipse viribus minor. Der dargestellte Zeitraum erstreckte sich mindestens von 43 v.Chr. – wie aus den von Seneca d.Ä. zitierten Fragmenten deutlich wird – bis zu Tiberius’ Tod. Zu Aufidius Bassus und seinem Geschichtswerk vgl. Echavarren (2007) 84 f.; Marx (1936). Cicero paulum remoto velo postquam armatos vidit, ‘ego vero consisto’ ait; ‘accede, veterane, et, si hoc saltim potes recte facere, incide cervicem’: Wie Livius (§ 17) berichtet auch Aufidius Bassus, dass Cicero beim Erblicken der Verfolger die Flucht abgebrochen hat (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Den Namen des Mörders gibt Aufidius Bassus (wie Cremutius Cordus in § 19) nicht an. Zu fragen wäre, ob Aufidius Bassus wie andere Quellen Popillius als Mörder ansieht (s. Einleitung: „Die historische Situation“). Die Bezeichnung als Veteran könnte, muss aber nicht auf Popillius zutreffen, da er bei Livius (perioch. 120; s. den Kommentar zu § 17) als Legionär bezeichnet wird. Auf der anderen Seite sagt Seneca d.Ä. contr. 7,2,8, dass wenige Historiker Popillius als Ciceros Mörder angeben. Die Einschränkung si hoc saltim potes recte facere impliziert, wie Winterbottom (1974) II 581 Fußn. 2 bemerkt, dass der Mord zwar eine Untat ist, jedoch der tödliche Schlag richtig erfolgen soll. An der Orthographie von saltim muss nicht gezweifelt werden, wie es Håkanson (1989) 363 im Apparat tut; vgl. Ov. epist. 5,43; Sen. epist. 8,4; 91,10. trementi deinde dubitantique ‘quid, si ad me’ inquit ‘primum venissetis?’: Ciceros Todesverachtung war, wenn man Aufidius Bassus folgt, so groß, dass er vor dem tödlichen Schlag zu dieser rationalen Überlegung aufgelegt war. Mit der zitierten Frage impliziert Cicero, dass der Mörder zittert, obwohl er ein erfahrener Mörder ist. Wäre Cicero sein erstes Opfer, müsste er noch unsicherer sein. Appian berichtet teilweise im Gegensatz zu Aufidius Bassus, dass der Mörder Popillius Laenas unerfahren war (civ. 4,20): ὁ δὲ Λαίνας, καὶ δίκην τινὰ διὰ τοῦ Κικέρωνός ποτε κατωρθωκώς, ἐκ τοῦ φορείου τὴν κεφαλὴν ἐπισπάσας ἀπέτεμνεν, ἐς τρὶς ἐπιπλήσσων καὶ ἐκδιαπρίζων ὑπὸ ἀπειρίας. 19 Cremutius Cordus et ipse ait Ciceronem, cum cogitasset, utrumne Brutum an Cassium an Sex. Pompeium peteret, omnia illi displicuisse praeter mortem: Auch das Fragment des Cremutius Cordus wird in der Form eingeleitet, dass deutlich wird, dass es sich um eine Gegendarstellung zu Asinius Pollio (§ 15) handelt; vgl. die Einleitung zu Livius’ historischer Darstellung am Ende von § 16 mit dem Kommentar zur Stelle. Für die Erwägung der zur Verfügung stehenden

6.2 Kommentar

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Fluchtmöglichkeiten vgl. Varius Geminus in § 11 mit dem Kommentar zur Stelle: adhortatus est illum ad fugam. illic esse M. Brutum, illic C. Cassium, illic Sextum Pompeium. […] maxime illum in Asiam et in Macedoniam hortatus est, in Cassi et in Bruti castra. Für et ipse vgl. § 18: Bassus Aufidius et ipse nihil de animo Ciceronis dubitavit […]. Eine indirekte Doppelfrage, die durch utrumne […] an eingeleitet wird, liegt auch suas. 1,4 vor (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle): de Oceano […] dubitant, utrumne terras velut vinculum circumfluat an in suum colligatur orbem. Håkanson (1989) 363 f. hält im Gegensatz zu den vorigen Herausgebern das überlieferte Anakoluth. Bursian (1857) 34 liest Ciceroni statt Ciceronem und mit der Handschrift A illa, während B und V illi überliefern. Kiessling (1872) 43 liest mit C.F.W. Müller secum cogitasse anstelle von cum cogitasset und ergänzt sed vor omnia. Abgesehen von der Supplierung schließt sich Müller (1887) 568 dieser Textkonstitution an. Auch wir halten die textkritischen Eingriffe für unberechtigt, wenngleich wir kein zweites Anakoluth im Werk des älteren Seneca gefunden haben; vgl. aber Cic.Verr. II 5,65: homines maritimi Syracusis, qui saepe istius ducis nomen audissent, […] potestas aspiciendi nemini facta est. CREMVTI CORDI: Da Cremutius Cordus in seinem Geschichtswerk die Caesarmörder verherrlichte und Cassius den letzten Römer nannte (vgl. Tac. ann. 4,34; Suet. Tib. 61; Cassius Dio 57,24), wurde er 25 n.Chr. angeklagt und sein Geschichtswerk verbrannt (zur Bücherverbrennung s. die Einleitung zu suas. 7). Aus dem Werk, das Tacitus (s.o.) Annales nennt, sind nur dieses Fragment und dasjenige aus § 23 erhalten (vgl. Peter [1906] 87– 90). Der dargestellte Zeitraum erstreckte sich demnach von mindestens 43 v.Chr. bis – wie aus Suet. Aug. 35 ersichtlich ist – 18 v.Chr. Wie Quintilian bezeugt, beinhaltete Cremutius Cordus’ Geschichtswerk auch in der entschärften Version noch audaces sententiae; vgl. Quint. inst. 10,1,104: habet amatores – nec inmerito – Cremuti libertas, quamquam circumcisis quae dixisse ei nocuerat: sed elatum abunde spiritum et audaces sententias deprehendas etiam in iis quae manent. Zu Cremutius Cordus und seinem Geschichtswerk vgl. Echavarren (2007) 120 – 122; Meier (2003); Zwierlein (1990); Suerbaum (1971); Brennan (1969); Rogers (1965). Quibus visis laetus Antonius, cum peractam proscriptionem suam dixisset esse (quippe non satiatus modo caedendis civibus sed differtus quoque), super rostra exponit: Quibus visis bezieht sich auf Ciceros Kopf und die rechte Hand (am Ende des Fragments wird deutlich, dass es sich nur um die rechte Hand handelt); für die unter den Historikern differierende Angabe über die Hand bzw. die Hände s. die Einleitung („Die historische Situation“). Antonius’ Mordlust wird auch von Velleius Paterculus hervorgehoben (Vell. 2,64,4): tribuni [sc. Cannutii] sanguine commissa proscriptio, Ciceronis velut satiato Antonio paene finita. An-

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tonius’ Freude beim Anblick von Ciceros Kopf und Hand wiederum bringt Appian (civ. 4, 20) zum Ausdruck. Für die Beendigung der Proskriptionen nach Ciceros Tod vgl. Vell. 2,64,4 (s.o.) und Plut. Cicero 49,1: τῶν δʼ ἀκρωτηρίων εἰς Ῥώμην κομισθέντων, ἔτυχε μὲν ἀρχαιρεσίας συντελῶν ὁ Ἀντώνιος, ἀκούσας δὲ καὶ ἰδῶν ἀνεβόησεν ὡς νῦν αἱ προγραψαὶ τέλος ἔχοιεν. Das überlieferte sit (sint V) per rostra exponit wurde auf zweierlei Weise verbessert: Bursian (1857) 34 liest iussit per rostra exponi. Die übrigen Herausgeber lesen mit Haase super rostra exponit. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Emendationen, die eine Entscheidung zwischen zwei Präpositionen ist, fällt insofern schwer, als es sonst in dieser Suasorie immer in rostris heißt. Aber super scheint uns sinnvoller zu sein als per, wenngleich wir für keine der beiden Präpositionen einen Beleg mit Bezug auf rostra gefunden haben. itaque, quo … interfectoris sui: Vgl. Livius in § 17 mit dem Kommentar zur Stelle: ita relatum caput ad Antonium iussuque eius inter duas manus in rostris positum, ubi ille consul, ubi saepe consularis, ubi eo ipso anno adversus Antonium quanta nulla umquam humana vox cum admiratione eloquentiae auditus fuerat. Textkritisch ist der hier vorliegende Satz an mehreren Stellen umstritten (s. die folgenden Anmerkungen). quae paulo ante coluerat piis contionibus: Für contio i.S.v. „Rede“ vgl. Cic. Att. 7,8,5: habebamus autem in manibus Antoni contionem; contr. 1,1,11. Håkanson (1989) 364 ändert das überlieferte coluerat zu caluerat und stellt so einen Bezug zu turba her („die Menge, die sich begeistert hatte“). Winterbottom (1974) 39 und (1974) II 580 liest quam anstelle des überlieferten quae und fasst die Menge als Objekt zu coluerat auf („a vast throng,which he had shortly before courted“). Beide Konjekturen sind wohl überflüssig. Wir lesen – wie Bursian (1857) 34, Kiessling (1872) 43 und Müller (1887) 568 – das überlieferte quae [sc. rostra] […] coluerat piis contionibus: „die Rednertribüne, die er mit seinen Reden geehrt hatte“. Für colere spricht auch der Zusammenhang, d. h. der Gedanke, dass Cicero durch die Reden, die er auf der Rednertribüne gehalten hat,vielen Menschen das Leben gerettet hat, weshalb in diesem Kontext das Wort pius fällt. Colere schwebt hier zwischen der ‘religiösen’ Verwendungsweise, in der es häufig auf Götter und Tempel bezogen wird (vgl. OLD s.v. colo1 6), und derjenigen, bei der das Verb „aufsuchen“ bedeutet und auf Menschen(gruppen) bezogen wird (vgl. ib. 7). quibus multorum capita servaverat: Vgl. Cic. de orat. 3,10 (s. den Kommentar zu § 17): in […] rostris […] positum caput illud fuit [sc. Antoni] a quo erant multorum civium capita servata. Da contio hier „Rede“ bedeutet (s. die vorige Anmerkung),

6.2 Kommentar

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erübrigen sich die Supplierungen von Schulting und Gertz, die in bzw. sub vor quibus ergänzen (vgl. Müller [1887] 568). tum per artus suos latus aliter ac solitus erat a civibus suis conspectus est: Der Ausdruck ist insofern ungewöhnlich, als Cicero das Subjekt zu latus und conspectus est ist, nicht dessen Gliedmaßen. Die ungewöhnliche Ausdrucksweise dient wohl der Erregung von Pathos. Durch den Präpositionalausdruck per artus suos wird zum Ausdruck gebracht, dass Ciceros Gliedmaßen einzeln auf die Rednertribüne getragen wurden. Für distributives per vgl. Liv. 27,7,9: exercitus […] per provincias divisi [sc. sunt]. Anstelle des in den besten Handschriften überlieferten suos latus lesen Müller (1887) 568 und Håkanson (1989) 364 mit Gertz sublatus. Kiessling (1872) 43 liest mit V2 suos laceratus. Håkanson (s.o.) erwägt im Apparat, den Ausfall von sub auf Haplographie zurückzuführen und suos sublatus zu lesen. Wir sehen wie Bursian (1857) 34 keinen Anlass, an dem Simplex ferre zu zweifeln, das hier einen Gegenbegriff zu procedere weiter oben bildet. Für ferre mit Bezug auf den Körper vgl. Sen. epist. 121,8: sic infans, qui […] ferre se adsuescit. Ebenso unnötig dürfte die Supplierung einer Ortsangabe vor tum sein: Müller (s.o.) ergänzt dort mit Gertz eo. Håkanson ad loc. macht darauf aufmerksam, dass, wenn eine Supplierung notwendig ist, eher ibi ergänzt werden sollte, da ibi tum als eine feste Verbindung angesehen werden könne (vgl. ThLL VII 1,150,59 – 70). Die Ergänzungen sind wohl insofern unnötig, als klar ist, dass die Rednertribüne gemeint ist. Für die fehlende Ortsangabe vgl. Caes. civ. 2,25,7: omnes Uticam relinquunt et, quo imperatum est, transeunt. praependenti capiti orique eius inspersa sanie: Vgl. contr. 7,2,7: fert adprensum coma caput et defluente sanguine hunc ipsum inquinat locum, in quo pro Popillio dixerat. Bei praependenti handelt es sich um eine Emendation von Bursian (1857) 34 anstelle des sinnlosen praetendenti. Für praependere vgl. Prop. 2,33b,37; Caes. civ. 2,9,3. Gegenüber den anderen vorgeschlagenen Emendationen ist diejenige von Bursian zumindest paläographisch einfacher: Schulting schlägt praetenta vor (vgl. Müller [1887] 569), Haase (1851) 174 praecanenti. Håkanson (1989) 364 übernimmt auch Gertz’ Konjektur capillo anstelle von capiti. Diese Konjektur ist in unseren Augen unnötig, da der Gedanke hier ein anderer ist als in V. 16 f. bei Cornelius Severus (§ 26), worauf sich Gertz Håkanson zufolge bezieht. Denn dort heißt es, dass Ciceros Haare vom Blut besudelt waren. Hier lässt sich capiti halten und so erklären, dass Ciceros Kopf – aus der Sicht der römischen Bürger – vorne über die Rednertribüne hängt; vgl. Bornecque (1902) II 340: „pendue devant elles [sc. les rostres]“. Die Tatsache, dass sowohl der Kopf (caput) als auch im Besonderen das Gesicht (os) genannt werden, dürfte kein Grund für einen textkritischen Eingriff sein; vgl. Cornelius Severus in § 26 (V. 16 f.): informes voltus sparsamque

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cruore nefando / canitiem [sc. proculcavit Antonius]. Das Argument, das Håkanson ad loc. gegen capiti anführt, nämlich dass es zuvor super rostra hieß, kann nicht überzeugen, da sich – wie angedeutet – die Perspektive gewandelt hat und jetzt aus der Sicht der Betrachter gesprochen wird. brevi ante princeps senatus Romanique nominis titulus, tum pretium interfectoris sui: Zum zweiten Mal in diesem Satz wird die Zeit vor Ciceros Tod dem Moment seines Todes gegenübergestellt. Wie aus dem Fragment des Aufidius Bassus in § 18 geht auch aus demjenigen des Cremutius Cordus nicht hervor, wer Cicero getötet hat (s. den Kommentar zu § 18 und Einleitung: „Die historische Situation“). Die Bezeichnung princeps senatus spielt, wie Edward (1928) 143 bemerkt, auf keinen offiziellen Titel an; vgl. Cornelius Severus in § 26 (V. 13 f.): senatus vindex. Die Junktur brevi ante(a) (statt paulo ante, das Cremutius Cordus zuvor verwendet) kommt in der lateinischen Literatur nur an dieser Stelle vor. Das analoge brevi post ist selten, aber immerhin dreimal bei Livius belegt (Liv. 24,3,14; 33,24,5; 33,37,9). Titulus in der Bedeutung „Ruhm“, „Ehre“ wird mit dem Genetivus definitivus verbunden (vgl. OLD s.v. titulus 7b). In dieser Bedeutung ist das Wort seit Livius belegt; vgl. Liv. 28,41,3: penes C. Lutatium prioris Punici perpetrati belli titulus fuit; 31,15,10: egregium liberatae per se Graeciae titulum habere potuissent. praecipue tamen solvit pectora omnium in lacrimas gemitusque visa ad caput eius deligata manus dextera, divinae eloquentiae ministra: Vgl. Livius in § 17 mit dem Kommentar zur Stelle: vix attollentes lacrimis oculos homines intueri trucidata membra civis poterant. Den Grund dafür, dass Cremutius Cordus hier Ciceros rechte Hand hervorhebt, sehen Edward (1928) 143 und Håkanson ad loc. darin, dass sie für die actio wichtig war. Für diese Auffassung könnte man wohl auf Val. Max. 5,3,4 verweisen: caput Romanae eloquentiae et pacis clarissimam dexteram […] amputavit [sc. Popillius]. Für die Hand als Mittel der Gestikulation vgl. Cic. Brut. 141; de orat. 3,220. Es ist aber ebenso gut möglich, dass die rechte Hand als Schreibinstrument genannt wird; vgl. Livius in § 17: manus quoque scripsisse aliquid in Antonium exprobrantes praeciderunt [sc. milites]; Cornelius Severus in § 26 (V. 17 f.): sacrasque manus operumque ministras / tantorum [sc. proculcavit Antonius]. Für die Hände als ministrae in anderer Hinsicht vgl. Lucr. 4,830 (zum täglichen Gebrauch); Cic. nat. 2,150; Ov. am. 1,7,27 (zum Schlagen). Mit Bezug auf die Zurschaustellung von Ciceros Gliedmaßen betont kein anderer Historiker die Bedeutung der rechten Hand. Die Angabe, dass Ciceros rechte Hand an dessen Kopf gebunden war, findet sich nur hier. Sonst heißt es, dass der Kopf zwischen den Händen lag (caput inter duas manus positum: vgl. Livius in § 17 und Bruttedius Niger in § 21). Für solvere in lacrimas („in Tränen ausbrechen lassen“) vgl. Lucan. 8,106 f.: cunctorum lumina solvit / in lacrimas.

6.2 Kommentar

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ceterorumque caedes privatos luctus excitaverunt, illa una communem: Eine Sentenz beschließt das Fragment des Cremutius Cordus. Für die Betonung des öffentlichen Charakters von Ciceros Tod vgl. die Litotes bei Bruttedius Niger in § 21: nulla non pars fori aliquo actionis inclutae signata vestigio erat, nemo non aliquod eius in se meritum fatebatur; Cornelius Severus in § 26 (V. 2 f.): sed enim abstulit omnis / tamquam sola foret, rapti Ciceronis imago; (V. 15): publica vox saevis aeternum obmutuit armis. 20 BRVTTEDI NIGRI: Über Bruttedius Niger ist nur wenig bekannt (vgl. RE III 1 s.v. Bruttedius 2, Sp. 907; Echavarren [2007] 90 f.). Durch Tacitus (ann. 3,66) wissen wir, dass er im Jahr 22 n.Chr. Ädil war. Sein Geschichtswerk ist ansonsten gänzlich unbekannt (vgl. Peter [1906] 90 f.). Contr. 2,1,35 f. tritt er als Deklamator und Vertreter der Apollodoreer auf. Elapsus interim altera parte villae Cicero lectica per agros ferebatur: Bruttedius Niger erklärt den Vorsprung, den Cicero auf der Flucht vor Antonius’ Handlangern hatte, dadurch, dass Cicero über den anderen Teil des Landgutes entkommen ist. Bei den anderen Historikern wird dieses Detail ausgespart (s. Einleitung: „Die historische Situation“). Nach Plutarch (Cicero 48,2) haben Antonius’ Handlanger die Tür der Villa bei Formiae eingeschlagen. sed ut vidit appropinquare notum sibi militem, Popillium nomine, memor defensum a se laetiore vultu aspexit: Bruttedius Niger ist der einzige der in dieser Suasorie zitierten Historiker, der den Namen des Mörders nennt. Auch ist Bruttedius Niger der Einzige, der das Detail schildert, dass sich Cicero bei Popillius’ Anblick freute. Cicero kannte Popillius angeblich, da er ihn in einem Prozess verteidigt hatte, wie unter anderem das Thema der Kontroversie 7,2 angibt (s. Einleitung: „Fakten und Fiktion in der Überlieferung über Ciceros Tod“). Historisch gesehen sind die Aussagen, die Bruttedius Niger in diesem Satz trifft, höchst fragwürdig (s. ebendort). at ille victoribus id ipsum imputaturus occupat facinus caputque decisum nihil in ultimo fine vitae facientis, quod alterutram in partem posset notari, Antonio portat oblitus se paulo ante defensum ab illo: Die Sieger, bei denen sich Popillius durch Ciceros Ermordung beliebt machen will, sind die Triumvirn, also Antonius, Oktavian und Lepidus; für imputare vgl. suas. 3,5 mit dem Kommentar zur Stelle: solebat autem Fuscus ex Vergilio multa trahere, ut Maecenati imputaret. Die Angabe quod alterutram in partem posset notari bedeutet wohl, dass Cicero in den letzten Momenten seines Lebens weder besonderen Mut noch besondere Feigheit gezeigt hat. Edward (1928) 143 fasst notari negativ als „to mark for

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condemnation“ auf und ist der Auffassung, dass in diesem Satz zwei Standardvorwürfe gegen Cicero ausgedrückt sind, nämlich seine Prahlerei und seine Furchtsamkeit. Einen negativen Sinn sieht auch Winterbottom (1974) II 583 in notari, der „Cicero […] did nothing that could be censured one way or the other“ übersetzt.Wir halten diese Auffassung aus sprachlichen Gründen für schwierig, da alteruter dann keine wirkliche Alternative ausdrücken würde. Unseres Erachtens bedeutet alteruter hier „für oder gegen Cicero“. Daher kann notari hier nicht negativ aufgefasst werden, sondern muss neutral „ausgelegt werden“ (vgl. O. & E. Schönberger [2004] 298) bedeuten. Die Angabe aus Popillius’ Sicht oblitus se paulo ante defensum ab illo steht in betontem Gegensatz zum vorigen memor [sc. eum] defensum a se aus Ciceros Sicht. Occupare trägt hier die Konnotation des Zuvorkommens (vgl. ThLL X 389,42– 390,58). Occupat facinus bedeutet daher „er führt die Tat aus, bevor es irgendjemand anderes tut“. Vgl. für diesen Gebrauch von occupare contr. 7,5,5. Håkanson ad loc. erwägt und verwirft die Möglichkeit, dass sich id ipsum auf die Tatsache bezieht, dass Popillius vorher von Cicero verteidigt worden war, und dass sich Popillius aus diesem Grund erhofft, durch Ciceros Ermordung bei den Siegern in noch größerer Gunst zu stehen. Jedoch spricht gegen diese Auffassung die Tatsache, dass die frühere Verteidigung am Ende des Satzes erwähnt wird und dass es von Popillius heißt, dass er diese Tatsache offenkundig vergessen hat. Id ipsum wird sich daher auf das folgende facinus beziehen. et hic voluit positi in rostris capitis miserabilem faciem describere, sed magnitudine rei obrutus est: Während Seneca d.Ä. die Fragmente von Livius am Ende von § 16, Aufidius Bassus in § 18 und Cremutius Cordus in § 19 einleitend kommentiert, tut er dies bei demjenigen von Bruttedius Niger innerhalb des Zitates. Und nicht nur die Stellung, sondern auch der Charakter des Kommentars differiert, da es zuvor um den historischen Inhalt der Darstellung, hier aber um die literarische Leistung geht. Daher steht die hier vorliegende Bemerkung den Kommentaren nahe, die Seneca d.Ä. üblicherweise über die Deklamatoren macht. An dieser Stelle geht es darum, dass Bruttedius Niger wie die anderen Historiker auch pathetische Bemerkungen zu Ciceros Kopf und zu seinen Händen machen wollte. Das Hilfsverb velle macht aber deutlich, dass ihm dies nicht gelungen ist. Für magnitudo vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle: ita magnitudini studet [sc. Vergilius], ut non imprudenter discedat a fide. 21 BRVTTEDI NIGRI: Die Herausgeber seit Müller (1887) 569 tilgen mit C.F.W. Müller und Morgenstern diese Worte – vermutlich, weil sie bereits am Anfang von § 20 vorkommen. Jedoch scheint uns dies kein Grund zu sein, da das vorliegende Fragment (§§ 20 f.) am Ende von § 20 von einem Kommentar des älteren Seneca

6.2 Kommentar

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unterbrochen wird. Ferner werden auch die Namen von Livius, Aufidius Bassus und Cremutius Cordus (§§ 16 – 19) zweimal genannt. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass der Name von Bruttedius Niger zweimal im Genetiv steht und nicht bei der ersten Nennung in einen ganzen Satz integriert ist. Ut vero iussu Antonii inter duas manus positum in rostris caput conspectum est, quo totiens auditum erat loco, dato gemitu et fletu maximae viri inferiae, nec, ut solet, vitam depositi in rostris corporis contio audivit, sed ipsa narravit: Für die Rednertribüne als Ciceros vormalige Wirkungsstätte und die Trauer der Menge vgl. Livius in § 17 mit dem Kommentar zur Stelle: ita relatum caput ad Antonium iussuque eius inter duas manus in rostris positum, ubi ille consul, ubi saepe consularis, ubi eo ipso anno adversus Antonium quanta nulla umquam humana vox cum admiratione eloquentiae auditus fuerat. vix attollentes lacrimis oculos homines intueri trucidata membra civis poterant. Der Gedanke am Ende des Satzes ist, wie Edward (1928) 143 erklärt, dass kein naher Verwandter von Cicero die oratio funebris hielt, sondern sich die Menschenmenge selbst in ihrer Trauer Ciceros Leistungen erzählte. Vgl. Mart. 5,69,7 f. mit der Pointe, dass durch das Gerede der Menge Antonius’ Ziel, Cicero zum Schweigen zu bringen, durchkreuzt wurde: quid prosunt sacrae pretiosa silentia linguae? / incipient omnes pro Cicerone loqui. In dem übertriebenen Gedanken der oratio funebris durch das Volk liegt wahrscheinlich der Grund für das negative Urteil des älteren Seneca über Bruttedius Niger. Auffällig, aber wohl unabhängig von diesem Urteil ist die Formulierung vita depositi […] corporis; vgl. Cremutius Cordus in § 19: per artus suos latus aliter ac solitus erat a civibus suis conspectus est. Für die Synonyme gemitus et fletus vgl. Cic. Verr. II 5,163: fletu et gemitu maximo. Das überlieferte dato gemitu et fletu maximae viri inferiae ist von Faber (1672) 45 zu datae gemitu et fletu maximo viro inferiae emendiert worden. Diese Textkonstitution übernehmen Müller (1887) 569 und Håkanson (1989) 364. Gronovius (1672) 45 nimmt audivit als Prädikat zu diesem Teil des Satzes an und liest claro gemitu et fletu maximo pias inferias; des Weiteren liest er non statt nec. Bursian (1857) 35 und Kiessling (1872) 44 übernehmen nur Fabers erste Konjektur: datae gemitu et fletu maximae viri inferiae. Otto (1885) 417 wiederum befürwortet den Dativ viro, den Faber vorgeschlagen hatte: datae gemitu et fletu maximae viro inferiae. Walter (1918) 240 liest datae multo gemitu et fletu maximae manibus viri inferiae.Wir halten einen textkritischen Eingriff für unnötig und gehen von der Ellipse inferiae [sc. fuerunt aut sim.] aus; vgl. Varr. ling. 6,20: Consualia dicta a Conso, quod tum feriae publicae ei deo [sc. sunt] et in Circo ad aram eius ab sacerdotibus ludi illi [sc. fiunt], quibus virgines Sabinae raptae; K.-St. II 2, S. 553.

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nulla non pars fori aliquo actionis inclutae signata vestigio erat, nemo non aliquod eius in se meritum fatebatur: Auch hier liegt eine maßlose Übertreibung vor. Der erste Teil des Satzes ist übertragen zu verstehen: Das auf dem Forum versammelte Volk gedachte Ciceros unzähliger Leistungen. Für den öffentlichen Charakter von Ciceros Tod, den Bruttedius Niger durch eine Litotes hervorhebt,vgl. Cremutius Cordus in § 19 mit dem Kommentar zur Stelle: ceterorumque caedes privatos luctus excitaverunt, illa una communem. Für inclutus (mit der orthographischen Variante inclitus) vgl. suas. 2,5 mit dem Kommentar zur Stelle: Athenae eloquentia inclitae sunt, Thebae sacris, Sparta armis. hoc certe publicum beneficium palam erat illam miserrimi temporis servitutem a Catilina dilatam in Antonium: In Bruttedius Nigers Augen besteht Ciceros großes Verdienst als Politiker darin, verhindert zu haben, dass schon unter Catilina, also 63 v.Chr., derartige Zustände herrschten,wie sie nun (43 v.Chr.) unter Antonius vorzufinden sind. Vgl. Brut. Cic. ad Brut. 1,16,4: tu quidem, consularis et tantorum scelerum vindex, quibus oppressis vereor, ne in breve tempus dilata sit abs te pernicies. Die Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung wird auch von Cornelius Severus in § 26 als eine von Ciceros herausragenden Leistungen in Erinnerung gerufen (V. 7): deiectusque redit votis Catilina nefandis. Für servitus mit Bezug auf die politischen Umstände unter Antonius vgl. Haterius in § 1: sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem. Für palam esse vgl. Cic. Pis. 11: haec commemoro, quae sunt palam. Bei a Catilina handelt es sich um eine glänzende Emendation von Rebling (1868) 8 – 10 anstelle des überlieferten ac alienam. Teilweise verdankt sich diese Emendation Gronovius (1672) 46, der ac lanienam vorschlug und auf die Catilinarische Verschwörung verwies. Quotiens magni alicuius mors ab historicis narrata est, totiens fere consummatio totius vitae et quasi funebris laudatio redditur: Seneca d.Ä. bezieht sich bei der Angabe, dass die Zusammenfassung der Lebensleistungen eines großen Mannes, die die Historiker geben, nachdem sie dessen Tod geschildert haben, ein Charakteristikum der Historiographie ist, auf Livius und dessen Nachfolger, wie im Folgenden deutlich wird. Aus der Tatsache, dass Seneca d.Ä. mit Blick auf die folgenden Historikerfragmente von einer laudatio funebris spricht, ist nicht zu folgern, dass er einen Einfluss der laudatio funebris auf die Historiographie konstatiert; vor dieser Schlussfolgerung warnt zu Recht Pomeroy (1989) 103 f. Moravsky (1882) 167 f. geht sogar so weit, anhand dieser Stelle einen Einfluss der Deklamation auf die Historiographie geltend zu machen. Diese Meinung kann sich nicht auf die vorliegende Stelle stützen, da es Seneca d.Ä. darum geht, einen Begriff für ein Phänomen zu finden, das seit langem in der

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Historiographie existiert und das man als Nachruf bezeichnen kann. Aufgrund des Umstandes, dass es keinen etablierten Fachbegriff gibt, prägt Seneca d.Ä., der selbst ein historisches Werk verfasst hat, die Begriffe consummatio totius vitae und laudatio funebris (griech. ἐπιτάφιον). Dabei handelt es sich im ersten Fall um eine neue Junktur, da consummatio nur noch an zwei anderen Stellen der lateinischen Literatur in der Bedeutung „Zusammenfassung“ gebraucht wird (vgl. ThLL IV 595,21– 24), nämlich bei Columella (2,12,7) und bei Plinius d.Ä. (nat. 4,121), mit Bezug auf das Leben einer Person aber sonst nirgends verwendet wird. Im zweiten Fall erhält eine bestehende Junktur (laudatio funebris) eine neue Bedeutung, da diese Junktur traditionellerweise die mündlich gehaltene Leichenrede bezeichnet. Hier bezieht sie sich auf die Worte, mit denen Historiker in schriftlicher Form der Leistungen einer großen Persönlichkeit, die verstorben ist, gedenken. Alle modernen Herausgeber ergänzen mit Gronovius (1672) 46 viri hinter magni alicuius. Auch wenn Seneca d.Ä. weiter unten die Verknüpfung magni viri benutzt, halten wir die Überlieferung, indem wir von einem substantivischen Gebrauch von magnus ausgehen; vgl. Hor. sat. 2,6,94 f.: neque ulla est aut magno aut parvo leti fuga; Quint. inst. 10,1,25: se abunde similes putent, si vitia magnorum consequantur. hoc, semel aut iterum a Thucydide factum, item in paucissimis personis usurpatum a Sallustio, T. Livius benignus omnibus magnis viris praestitit: Die Aussage des älteren Seneca über die diesbezügliche Praxis der Historiker ist – soweit wir dies beurteilen können – nicht präzise, aber im Großen und Ganzen zutreffend. Die laudatio funebris bei Thukydides, die Seneca d.Ä. im Blick hat, ist nicht diejenige, die Perikles über die ersten Opfer des Peloponnesischen Krieges hält (Thukyd. 2,34– 46), wie Edward (1928) 144 meint, sondern – entsprechend dem erweiterten Gebrauch der Junktur (s. die vorige Anmerkung) – der Nachruf des Autors selbst auf Perikles (Thukyd. 2,65). Allerdings wird diese laudatio funebris im weiteren Sinn an einer Stelle des Werkes formuliert, an der Perikles noch nicht gestorben ist, sondern sein Tod vorweggenommen wird. Die Angabe des älteren Seneca semel aut iterum ist wohl als Ungenauigkeit zu betrachten (es existiert keine zweite laudatio funebris im weiteren Sinn in Thukydides’ Werk). In Sallusts Fall ist es schwierig, ein Urteil zu fällen, da die Historien nur fragmentarisch überliefert sind. Immerhin scheint er über Sulla einen Nachruf verfasst zu haben (hist. 1 fr. 58 Maur.), so dass die Angabe des älteren Seneca richtig zu sein scheint. Bei Livius liegen des Öfteren laudationes funebres im weiteren Sinn vor; vgl. diejenige über Scipio Africanus (38,53,9 – 11); diejenige über Q. Fabius Maximus ‘Cunctator’ (30,26,9): et sicut dubites utrum ingenio cunctator fuerit an quia ita bello proprie quod tum gerebatur aptum erat, sic nihil certius est quam unum hominem nobis cunctando rem restituisse, sicut Ennius ait (vgl. Enn. Ann. 370 Vahlen); und schließlich diejenige über Cicero (§ 22); vgl. Pomeroy (1989) 103. Die

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6 suas. 6

Angabe, dass Livius Nachrufe auf alle großen Männer verfasst hat, ist wohl eine Übertreibung, zumal angesichts von effusius im nächsten Satz. Auch in § 17 ist Livius’ Name fälschlicherweise durch ein L. vor Livius abgekürzt worden; s. dort mit dem Kommentar zur Stelle. sequentes historici multo id effusius fecerunt: Welche Historiker Seneca d.Ä. als Livius’ Nachfolger bezeichnet und inwieweit die Anzahl der Nachrufe bei ihnen zugenommen hat, lässt sich aufgrund der Überlieferungslage nicht sagen. Zu diesen Historikern zählen sicherlich Cremutius Cordus und Aufidius Bassus, die Seneca d.Ä. im Folgenden (§ 23) zitiert. Möglicherweise hält Seneca d.Ä. auch Bruttedius Niger und Asinius Pollio für Livius’ Nachfolger, da Bruttedius Niger zuvor zitiert wurde und Asinius Pollio auch im Folgenden zitiert wird. Die Tatsache, dass Bruttedius Niger im Folgenden nicht zitiert wird, müsste man dann so erklären, dass er wahrscheinlich keinen Nachruf auf Cicero verfasst hat. Für Velleius Paterculus’ Nachruf auf Cicero vgl. Vell. 2,66,2 f. Für die diesbezügliche Praxis bei Tacitus, an den Seneca d.Ä. freilich nicht gedacht haben kann,vgl. Syme (1958), der 12 Nachrufe auf 20 Männer zählt. Ciceroni hoc, ut Graeco verbo utar, ἐπιτάφιον Livius reddit: Für die weitere Bedeutung von „Epitaph“ s. o. die Bezeichnung des Nachrufes als laudatio funebris mit dem Kommentar zur Stelle. Für Epitaphien bzw. laudationes funebres im eigentlichen Sinn vgl. Binder / Korenjak / Noack (2007); Kierdorf (1980). Das Phänomen, dass Seneca d.Ä. sowohl das lateinische als auch das griechische Wort für eine Sache verwendet, liegt auch im Fall der φαντασία vor, da er sowohl das griechische Wort in lateinischer Graphie (suas. 2,14) als auch das lateinische Äquivalent imago (contr. 1,6,12) benutzt. 22 T. LIVI: Dieses Fragment stammt wohl wie dasjenige, das Seneca d.Ä. in § 17 zitiert, aus Buch 120 des Livianischen Geschichtswerkes (s. den Kommentar zu § 17) und wird hinter der Darstellung von Ciceros Tötung gestanden haben. Hier wie dort halten wir die Tilgung des Genetivs T. Livi, die C.F.W. Müller (vgl. Müller [1887] 570) und Otto (1885) 417 vornehmen, für unberechtigt. Vgl. auch die unbegründete Tilgung des Genetivs Bruttedi Nigri am Anfang von § 21 und von Cremuti Cordi in § 23 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. Vixit tres et sexaginta annos, ut, si vis afuisset, ne immatura quidem mors videri possit: Cicero war 63 Jahre alt, als er am 7. Dezember 43 v.Chr. starb (s. Einleitung). Auch Fuscus ist in § 6 der Meinung, dass Cicero aufgrund seines Alters lange genug gelebt hat: si ad aetatem annorumque numquam observatum viris fortibus numerum respicimus, sexaginta supergressus es, nec potes videri non nimis

6.2 Kommentar

451

vixisse qui moreris rei publicae superstes. Edward (1928) 144 irritiert unnötigerweise der Gebrauch des Präsens in possit, das seiner Meinung nach für potuisset steht. Das Präsens erklärt sich zum einen dadurch, dass possit das Prädikat in einem Konsekutivsatz ist, in dem das selbständige und nicht das bezogene Tempus steht, wie es häufiger der Fall ist; vgl. Cic.Verr. 1,12: quam [sc. Siciliam] iste [sc. Verres] […] ita vexavit et perdidit, ut ea restitui in antiquum statum nullo modo possit. Zum anderen hat der eingeschobene Kondizionalsatz keine eigentliche Apodosis. ingenium et operibus et praemiis operarum felix, ipse fortunae diu prosperae: Ciceros politische und literarische Karriere wird in den Blick genommen. Für die von felix abhängigen Ablative der Beziehung gibt es nicht nur dichterische Parallelen, wie Tränkle (1968) 146 behauptet, sondern auch einen Beleg bei Livius selbst (7,20,5): florentem […] populum Romanum ac felicissimum bello. Gegen alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass operarum, die Lesart der besten Handschriften, gelesen werden kann und nicht operum, die Lesart der Recentiores, übernommen werden muss. Zwar wird dann nicht dasselbe Wort wieder aufgegriffen, aber sachlich unterscheiden sich opera und operae kaum, da operae die Mühen sind, durch die die opera vollbracht wurden. Für den Plural operae vgl. Cic. Mur. 21: assiduitatis et operarum harum cotidianarum putat esse consulatum. et in longo … victo fecisset: Das Verständnis des Satzes hängt in erheblichem Maße vom Verständnis des Nebensatzes ut viro dignum erat ab. Die Communis opinio ist, dass dieser Nebensatz „wie es sich für einen Mann gehört“ (O. & E. Schönberger [2004] 299) bedeutet und Cicero demnach nur seinen eigenen Tod wie ein Mann ertragen habe. Frank (1913) 325 f. sieht einen Bezug zwischen dignum an dieser Stelle und dem folgenden minus indigna und versteht diese Stelle so, dass Cicero nur seinen frühzeitigen Tod verdient habe, d. h. er nimmt für dignum die Bedeutung „verdient“ (vgl. OLD s.v. dignum 2) und für indignum die Bedeutung „unverdient“ (vgl. OLD s.v. indignum 4) an. In unseren Augen ist Franks Interpretation aus sprachlichen Gründen nicht gerechtfertigt, da omnium adversorum nihil, ut viro dignum erat, tulit praeter mortem nicht „of all his misfortunes he met with nothing according to his deserts except his death“ heißen kann. Insofern kann es nicht verwundern, dass Frank erwägt, ut viro dignum erat zu quod viro dignum esset zu ändern. Wir schließen uns der Communis opinio an und meinen, dass dignum hier „würdig“ bedeutet, während indignum „unverdient“ heißt (so versteht auch Winterbottom [1974] II 585 die beiden Adjektive). Viro bedeutet hier generell „für einen Mann“ und bezieht sich nicht speziell auf Cicero, wie Frank annimmt. Livius behauptet also in der Tat, dass Cicero nur im Moment des Todes Courage bewiesen habe. Aber diese Einschätzung ist nicht als reine Kritik an

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6 suas. 6

Cicero zu verstehen (sonst würde sich ein Widerspruch zu den Worten des älteren Seneca am Ende des Paragraphen ergeben), sondern als abgewogenes Urteil, das Vorzüge und Schwächen der Person Cicero vereinigt. Mit Ciceros Courage im Moment des Todes nennt Livius daher das für ihn charakteristische Element aus dessen Leben, so wie er für Scipio Africanus den Punischen Krieg und für Fabius Maximus die zögernde Taktik auswählt,worauf Lamacchia (1975) 425 hinweist. Die deutliche Kritik, die in Livius’ Urteil enthalten ist, ist mit derjenigen zu vergleichen, die er über Scipio Africanus äußert (Liv. 38,53,9 – 11). Für den konkreten Inhalt der Kritik vgl. teilweise Asinius Pollio in § 24 mit dem Kommentar zur Stelle: utinam moderatius secundas res et fortius adversas ferre potuisset! et: Wie an anderen Stellen (z. B. suas. 1,16) halten wir auch hier das überlieferte et für unproblematisch. Håkanson (1989) 365 ändert es zu at, Gertz zu sed (vgl. Müller [1887] 570), während Müller überlegt, es zu tilgen. in longo tenore felicitatis: Vgl. tenor vitae Liv. 37,57,13; Ov. epist. 17,14; Sen. epist. 23,7. exilio: Cicero musste 58 v.Chr. auf Clodius’ Initiative hin ins Exil gehen und kehrte im folgenden Jahr nach Rom zurück; s. den Kommentar zu § 12. Appian (civ. 2,15 f.) berichtet, wie feige sich Cicero angesichts des bevorstehenden Exils verhalten hat; s. den Kommentar zu § 24: utinam moderatius secundas res et fortius adversas ferre potuisset! ruina partium: Gemeint ist die Seite der Pompeianer, die im Bürgerkrieg den Caesarianern unterlegen war. Für Ciceros Reaktion auf die Niederlage der Pompeianer vgl. Sen. dial. 10,5,2: Quam flebiles voces exprimit [sc. Cicero] in quadam ad Atticum epistula iam victo patre Pompeio, adhuc filio in Hispania fracta arma refovente! „Quid agam“, inquit, „hic, quaeris? Moror in Tusculano meo semiliber.“ Alia deinceps adicit, quibus et priorem aetatem complorat et de praesenti queritur et de futura desperat. filiae morte, exitu tam tristi atque acerbo: Ciceros Tochter Tullia starb Anfang 45 v.Chr. nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Um den Schmerz über ihren Verlust zu bewältigen, hat Cicero eine Trostschrift für sich selbst verfasst (vgl. Cic. Att. 12,14,3) und sich der Philosophie zugewandt; vgl. nat. deor. 1,9; ac. 1,11; Tusc. 5,5 und 121 (acerbissimis doloribus); div. 2,7; off. 2,4; fam. 4,6,2; 12,23,4. Håkanson (1989) 365 liest mit Gertz amatae anstelle des überlieferten morte. Bei dieser Textkonstitution würde an dieser Stelle nur der Tod von Ciceros Tochter genannt werden. Wir meinen, dass die Überlieferung gehalten werden und morte

6.2 Kommentar

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auf Tullias, exitu auf Ciceros eigenen Tod bezogen werden sollte. Håkansons ad loc. Argument, dass Ciceros Tod kurz zuvor ne immatura quidem und kurz darauf vere aestimanti minus indigna genannt wird, kann nicht überzeugen, da sich kein Widerspruch ergibt. Vere aestimanti minus indigna korrigiert und relativiert durch minus die Einschätzung, die an dieser Stelle steht, nämlich dass Ciceros Tod traurig und bitter war. victore inimico: Lamacchia (1975) 431 f. legt großen Wert darauf, dass Livius mit Bezug auf Antonius das Wort inimicus und nicht das Wort hostis wählt, d. h. dass für ihn Antonius Ciceros persönlicher Feind war, nicht jedoch ein Staatsfeind, obwohl er zu diesem auf Ciceros Antreiben erklärt worden war (vgl. Cic. Phil. 3,14; ad Brut. 10; § 7 mit dem Kommentar zur Stelle: proscriptus est ille, qui tuam sententiam secutus est). Die Bezeichnung inimicus steht auch bei Livius in der periocha zu Buch 120 mit Bezug auf die Gegner der Triumvirn: C. Caesar pacem cum Antonio et Lepido fecit ita, ut III viri rei p. constituendae per quinquennium essent ipse et Lepidus et Antonius et ut suos quisque inimicos proscriberent. In Lamacchias (s.o.) 432– 435 Augen ist die Wahl des schwächeren Begriffs inimicus ein Zeichen für die Augusteische Tendenz der Livianischen Darstellung, die er derjenigen des Velleius Paterculus (2,66) an die Seite stellt und mit derjenigen des Tacitus (ann. 1,10,3) kontrastiert. Tacitus sieht nämlich in den Proskriptionen eine Vermischung von privaten und politischen Interessen: sane Cassii et Brutorum exitus paternis inimicitiis datos, quamquam fas sit privata odia publicis utilitatibus remittere. Unserer Meinung nach lassen diese Textstelle und diejenige aus der periocha zu Buch 120 keine eindeutige Schlussfolgerung zu. Wenn man diese Textstelle unter der Dichotomie inimicus – hostis betrachtet, dann verwundert es eher, dass Livius, sofern er eine augustusfreundliche Darstellung verfolgt, mit Bezug auf Antonius den Begriff inimicus benutzt. Jedoch scheint uns hier eine ganz andere Dichotomie vorzuliegen, nämlich diejenige zwischen dem Sieger und dem Besiegten, so dass das Adjektiv inimicus in gewisser Weise stehen ‘muss’: Hätte Cicero gewonnen, hätte er dasselbe gemacht, was er vom „feindlichen Sieger“ erleiden musste. Eine andere Frage ist, warum Livius in der zitierten periocha den Begriff inimicus wählt. Wir halten Lamacchias These, dass Livius hier der Augusteischen Ideologie folgt, für problematisch, da sie schwer zu beweisen ist. Einfacher ist die Annahme, dass Livius hier ernsthaft vom persönlichen Feind spricht. Schließlich hatte jeder der drei Triumvirn seine eigenen persönlichen Feinde, so dass der Begriff hostis hier fehl am Platze wäre. Man denke an die Debatte zwischen den Triumvirn, die dazu führte, dass Antonius seinen Feind Cicero auf die Proskriptionsliste setzen konnte, da Lepidus und Oktavian im Gegenzug Lucius Caesar, Antonius’ Onkel, proskribierten (vgl. z. B. Plut. Cicero

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6 suas. 6

47,3 – 5; § 7 mit dem Kommentar zur Stelle: alter fratrem proscribi, alter avunculum patitur). 〈nihil〉 crudelius passus erat: Wie alle modernen Herausgeber übernehmen wir nihil, eine Ergänzung von Justus Lipsius (vgl. Lamacchia [1975] 427). Da Ciceros Tod als minus indigna bezeichnet wird, muss der Gedanke sein, dass Cicero ebenso wie Antonius gehandelt hätte. Diese Einschätzung verdankt sich nüchternem politischem Kalkül. Sie wird aber auch dann nachvollziehbar, wenn man an Ciceros Umgang mit den Catilinariern denkt, wie Lamacchia (s.o.) 434 zu bedenken gibt. Man berücksichtige auch Ciceros Aussage über den Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Caesar (Lig. 10): quid autem aliud egimus, Tubero, nisi ut, quod hic [sc. Caesar] potest, nos possemus? Für die Denkfigur vgl. Sen. benef. 5,17,2, wo die Undankbarkeit des Staates exemplifiziert wird: exulavit post Catilinam Cicero, diruti eius penates, bona direpta, factum, quidquid victor Catilina fecisset. eiusdem fortunae compos victo fecisset: Compos victo ist eine glänzende Emendation von Mommsen und Rebling, die von den Herausgebern seit Kiessling (1872) 45 gelesen wird, da das überlieferte composito keinen Sinn ergibt. Die Emendation verdankt sich teilweise Lipsius, der compos ipse vorgeschlagen hatte (vgl. Lamacchia [1975] 427). Für facere aliquid alicui („jemandem etwas antun“) vgl. Cic. inv. 1,109: quibus benigne fecerimus; Liv. 4,14,5: quod plebi benigne fecisset; 37,54,14: quid feceritis Philippo victo. si quis tamen virtutibus vitia pensaret, vir magnus ac memorabilis fuit, et in cuius laudes exsequendas Cicerone laudatore opus fuerit: Für das typisch Livianische Abwägen von Stärken und Schwächen berühmter Männer vgl. Liv. 21,4,9 f. (über Hannibal): has tantas viri virtutes ingentia vitia aequabant […]. cum hac indole virtutum atque vitiorum […]; perioch. 80 (über Marius): decessit, vir, cuius si examinentur cum virtutibus vitia, haud facile sit dictu utrum bello melior an pace perniciosior fuerit. Für den Gedanken, dass nur Cicero eine Lobrede auf sich selbst halten könnte, vgl.Val. Max. 5,3,4: invalidae ad hoc monstrum suggillandum litterae, quoniam qui talem Ciceronis casum satis digne deplorare possit alius Cicero non exstat. Als vir memorabilis bezeichnet Livius auch Scipio Africanus (Liv. 38,53,9; s. den Kommentar zu § 21). Für pensare in der hier vorliegenden Bedeutung vgl. Liv. 27,40,2: adversa secundis pensando. Das überlieferte sequendas hat Gronovius (1672) 47 zu Recht zu exsequendas emendiert, da sequi mit Bezug auf Worte soviel wie „etwas durchgehen“ bedeutet (vgl. OLD s.v. sequor 18d). Exsequi hingegen ist ein rhetorischer Terminus technicus (vgl. ThLL V 2, 1854,21– 38), der „vollständig“ oder „angemessen ausführen“ bedeutet; vgl. contr. exc. 4,3: Asinius Pollio dicebat colorem in narratione ostendendum, in argumentis exequendum.

6.2 Kommentar

455

Gegen die modernen Herausgeber mit Ausnahme von Kiessling (1872) 45 sind wir der Meinung, dass die Lesart pensaret gehalten werden kann und nicht die Korrektur pensarit gelesen werden muss. Es liegt nämlich ein irrealer Gedanke vor, der in der Protasis begonnen wird, aber in keiner Apodosis fortgeführt wird; vgl. den ersten Satz dieses Paragraphen. Ausführlich würde dieser Satz lauten: si quis tamen virtutibus vitia pensaret, diceret virum magnum ac memorabilem fuisse […]. Vt est natura candidissimus omnium magnorum ingeniorum aestimator T. Livius, plenissimum Ciceroni testimonium reddidit: Seneca d.Ä. schätzt Livius’ Urteilskraft generell und sieht sie mit Bezug auf Cicero bestätigt. Die Bedeutung von plenissimum ist entscheidend für die Frage, wie Seneca d.Ä. Livius’ Nachruf auf Cicero einschätzt. Winterbottom (1974) II 585 übersetzt plenissimum testimonium mit „full meed of praise“. Diese Übersetzung ist aber nicht gerechtfertigt, da plenus nicht „lobend“ o. ä., sondern „voll“ i.S.v. „alles berücksichtigend“ bedeutet (vgl. OLD s.v. plenus 13 und 14). Plenissimum testimonium bedeutet daher „piena testimonianza“ (Zanon dal Bo [1988] 177), was O. & E. Schönberger (2004) 299 etwas freier mit „[sc. Livius ließ] Cicero volle Gerechtigkeit angedeihen“ übersetzen. Gemeint ist damit wohl, dass Livius sowohl Ciceros Stärken als auch dessen Schwächen richtig einschätzt. Dieses Abwägen zwischen Stärken und Schwächen wird im gesamten Fragment deutlich und erhält im letzten Satz – auch sprachlich – seinen stärksten Ausdruck. Für plenus in dieser Bedeutung und die Junktur testimonium reddere vgl. § 24: Pollio quoque Asinius […] testimonium […] quamvis invitus plenum ei reddit. Für candidus mit Bezug auf Personen („redlich“) vgl. Hor. epist. 1,4,1: Albi, nostrorum sermonum candide iudex. 23 Cordi Cremuti non est operae etiam referre redditam Ciceroni laudationem; nihil enim ipso Cicerone dignum est, ac ne hoc quidem, quod paene maxime tolerabile est: Für laudatio [sc. funebris] i.S.v. „Nachruf“ vgl. § 21 mit dem Kommentar zur Stelle. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 45 lesen mit einer Konjektur von ihm und von C.F.W. Müller pretium anstelle von etiam. Wir halten diesen textkritischen Eingriff für unnötig und bewahren wie Bursian (1857) 35 die Überlieferung, da es sowohl den Ausdruck operae pretium est als auch den gleichbedeutenden Ausdruck operae est gibt (vgl. Liv. 4,8,3: neque consulibus, cum tot populorum bella imminerent, operae erat id negotium agere) und etiam so zu verstehen ist, dass auch Cremutius Cordus’ Nachruf auf Cicero zitiert wird, nachdem schon dessen Schilderung von Ciceros Tod referiert worden ist (§ 19). Die Herausgeber seit Müller (1887) 571 lesen mit Gertz (1879) 154 in ea anstelle des in den besten Handschriften überlieferten ipsea, das Schott zu in ipsa und Bursian (1857) 36 zu ipso ac emendiert haben. Bursians Textkonstitution wirft die nicht entscheidbare Frage auf, ob Seneca d.Ä. Cremutius Cordus’ Geschichtswerk

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6 suas. 6

schätzt. Wir lesen mit den Recentiores ipso, da diese Form keine Schwierigkeiten aufwirft und leicht zu ipsea verschrieben worden sein kann. CREMVTI CORDI: Zu Cremutius Cordus und dessen historischem Werk vgl. § 19 mit dem Kommentar zur Stelle. Wie an anderer Stelle halten wir auch hier C.F.W. Müllers Tilgung des Genetivs, worin ihm Müller (1887) 571 folgt, für unberechtigt; vgl. die Genetive ASINI POLLIONIS in § 15 und T. LIVI in §§ 17 und 22 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. Proprias enim simultates deponendas interdum putabat, publicas numquam vi decernendas. civis non solum magnitudine virtutum sed multitudine quoque conspiciendus: Cremutius Cordus hebt in diesen textkritisch teilweise sehr umstrittenen Aussagen Ciceros friedliches Wesen hervor. Vgl. dessen Selbstaussagen Marc. 14: semper […] mea consilia pacis et togae socia, non belli atque armorum fuerunt; Lig. 28: pacis equidem semper auctor fui; FPL fr. 11 p. 164 Blänsdorf (aus De consulatu suo): cedant arma togae; Cornelius Severus in § 26 (V. 13 f.) mit dem Kommentar zur Stelle. Vgl. auch die teilweise gegenteilige Ansicht des Aufidius Bassus weiter unten: vixit sexaginta et tres annos ita, ut semper aut peteret alterum aut invicem peteretur. Die Partikel enim wird von Håkanson in der Einleitung seines Kommentares als Beispiel für ein Wort erwähnt, das durch den Exzerpiervorgang funktionslos geworden ist; vgl. contr. 2,5,20: Tua enim causa tacuisti; vgl. auch ergo in § 24. Für simultates deponere vgl. Cic. Att. 3,24,2 und simultates appetere bzw. gerere in § 24. Hinter publicas numquam ist das unhaltbare vides credendam überliefert. Håkanson (1989) 365 liest mit Gertz (1879) 154 avide exercendas und rechtfertigt dies ad loc. dadurch, dass Gertz’ Emendation im Gegensatz zu derjenigen von Bücheler (s.u.) über Parallelen mit Bezug auf simultates verfügt (vgl. Cic. Flacc. 88; Liv. 39,5,2). Bursian (1857) 36 liest vi deserendas, Kiessling (1872) 45 deserendas, Müller (1887) 571 mit Bücheler vi decernendas, und Thomas (1900) 234 schlägt unter Annahme eines neuen Satzes laudes ei reddam vor. Bursians und Kiesslings Textkonstitutionen sind insofern problematisch, als unklar ist, was vi deserere bzw. bloßes deserere ihnen zufolge hier bedeutet. Bursians Textkonstitution putabat publicas [sc. simultates] numquam vi deserendas soll wohl soviel bedeuten wie „er war der Meinung, dass öffentliche Rivalitäten niemals frei von Gewalt sein dürfen“ (vgl. OLD s.v. desero 4). Diese Bedeutung schließen wir in diesem Kontext aus, da sie einen Vorwurf an Cicero ergeben und nicht als tolerabile bezeichnet werden würde. Kiessling nimmt offensichtlich die Bedeutung „aus dem Weg gehen“ für deserere an, aber hierfür haben wir keinen Beleg gefunden. Thomas’ Vorschlag kann nicht überzeugen, da es sich um eine triviale Metaaussage handelt, die paläographisch fern liegt. So ist zwischen Gertz’ Emendation avide exercendas und derjenigen von Bücheler (vi

6.2 Kommentar

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decernendas) zu entscheiden. Unserer Meinung nach sollte vi decernendas gelesen werden, da es paläographisch etwas einfacher ist als avide exercendas. Die Formulierung simultates vi decernere ist zwar nicht belegt, aber decernere kommt häufig im kriegerischen Kontext mit dem Ablativus instrumentalis vor (vgl. ThLL V 1, 139,65 – 140,10). AVFIDI BASSI: Zu Aufidius Bassus und dessen historischem Werk vgl. § 18 mit dem Kommentar zur Stelle. Sic M. Cicero decessit, vir natus ad rei publicae salutem, quae diu defensa et administrata in senectute demum e manibus eius elabitur uno ipsius vitio laesa, quod nihil in salutem eius aliud illi, quam si caruisset Antonio, placuit: Aufidius Bassus meint, dass Ciceros großer politischer Fehler war, sich mit aller Vehemenz gegen Antonius zu stellen. Für den Gedanken, dass das Wohlergehen des Staates eng mit Cicero verknüpft ist, vgl. Latro in § 3: ore, cui se debet salus publica, humilia in adulatione verba summittes? Für die Metapher, dass Cicero die Kontrolle über den Staat entgleitet, vgl. Sen. dial. 10,5,1: dum fluctuatur [sc. Cicero] cum re publica et illam pessum euntem tenet, novissime abductus […]. Anstelle des überlieferten habitu non liest Håkanson (1989) 365 abit, uno, wodurch sich folgender Text ergibt: e manibus eius abit, uno ipsius vitio laesa, quod […]. Diese Konjektur ist aber aus semantischen Gründen unhaltbar, da abire nach Ausweis des Thesaurus nicht in der Bedeutung „entgleiten“, „sich der Kontrolle entziehen“ mit Bezug auf den Staat (o. ä.) belegt ist. Zudem ist die Verknüpfung abire e problematisch, wenngleich Håkanson ad loc. die Parallelen abire ex pectoribus (Val. Max. 5,6,7) und abire ex oculis (Stat. Theb. 10,641 f.) anführt. In Anbetracht der anderen vorgeschlagenen Emendationen (s. den Apparat) sind v. a. zwei mögliche Verbesserungen zu erwägen (in jedem Fall sollte elabitur statt habitu gelesen werden): Entweder man ergänzt nisi hinter laesa (Gronovius [1672] 47 änderte laesa zu nisi), oder man folgt Müllers (1887) 571 Textkonstitution, indem man non zu uno emendiert. Da wir die Ergänzung von nisi für den schwerwiegenderen Eingriff in den Text halten, lesen wir mit Müller uno. Für Müllers und gegen Gertz’ (1879) 154 f. Emendation hoc spricht der Umstand, dass uno leichter aus non abzuleiten ist als hoc. vixit sexaginta et tres annos ita, ut semper aut peteret alterum aut invicem peteretur, nullamque rem rarius quam diem illum, quo nullius interesset ipsum mori, vidit: Für die Altersangabe vgl. Livius in § 22: vixit tres et sexaginta annos, ut, si vis afuisset, ne immatura quidem mors videri possit. Die Behauptung, dass andauernd Attacken von Cicero ausgingen oder gegen diesen gerichtet waren, wirkt übertrieben. Sie ist wohl zum Teil von einer Aussage inspiriert, die Cicero am

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6 suas. 6

Anfang der zweiten Philippischen Rede (Phil. 2,1) trifft, wie Edward (1928) 144 f. gesehen hat: quonam meo fato, patres conscripti, fieri dicam, ut nemo his annis viginti rei publicae fuerit hostis, qui non bellum eodem tempore mihi quoque indixerit? Cicero denkt dabei, wie aus den Beispielen hervorgeht, die er ebendort nennt, an Catilina, Clodius und Antonius. Aufidius Bassus’ Aussage, dass Cicero Drehpunkt der politisch-militärischen Auseinandersetzungen war, widerspricht teilweise Cremutius Cordus’ Betonung von Ciceros friedlichem Wesen (s. weiter oben). 24 Pollio quoque Asinius, qui Verrem, Ciceronis reum, fortissime morientem tradidit, Ciceronis mortem solus ex omnibus maligne narrat, testimonium tamen quamvis invitus plenum ei reddit: Für Verres’ Tod vgl. Latro in § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: pudeat Verrem quoque: proscriptus fortius perit. Asinius Pollios Darstellung von Ciceros Tod selbst überliefert uns Seneca d.Ä. nicht. Er sagt über diese nur aus, dass sie „boshaft“ (maligne) erzählt ist, und gibt zu erkennen, dass Asinius Pollio Cicero einen im Gegensatz zu Verres feigen Tod sterben lässt. Hierzu gehört gewiss dessen Behauptung, dass sich Cicero von den Philippiken losgesagt habe (vgl. § 15 mit dem Kommentar zur Stelle). In der Tat ist Asinius Pollio der einzige Historiker, der behauptet, dass Cicero einen feigen Tod gestorben ist, da alle anderen zitierten Historiker von einem mutigen Tod Ciceros sprechen (Livius in § 17, Aufidius Bassus in § 18, Cremutius Cordus in § 19) bzw. von einem Tod, der weder mutig noch feige war (Bruttedius Niger in § 20). Mit dem Begriff testimonium, den Seneca d.Ä. auch mit Bezug auf Livius verwendet (§ 22 Ende), bezieht er sich auf das, was er zuvor als historiographisches Pendant zur laudatio funebris beschrieben hat, nämlich den Nachruf auf eine große Persönlichkeit, der der Darstellung seines Todes zu folgen pflegt (vgl. § 21 mit dem Kommentar zur Stelle). Wie mit Bezug auf Livius spricht Seneca d.Ä. auch mit Bezug auf Pollio von einem plenum testimonium, d. h. dass es sich um ein sowohl Ciceros Stärken als auch dessen Schwächen abdeckendes Zeugnis handelt. Quamvis invitus ist wohl so zu verstehen, dass Pollio trotz seiner generellen anticiceronischen Tendenz zu dieser gerechten Einschätzung gelangt. Wie Bursian (1857) 36 und Håkanson (1989) 366 halten wir das überlieferte Präsens reddit (BV), während Müller (1887) 571 und Winterbottom (1974) II 586 mit Kiessling (1872) 46 das Perfekt reddidit lesen, das in dem überlieferten redidit (A) Rückhalt findet. Denn reddit wird, wie Håkanson ad loc. bemerkt, durch das vorige narrat gestützt. Eine Angleichung an tradidit ist auch aus dem Grund ungeeignet, weil tradidit auf eine andere Stelle aus Pollios Geschichtswerk verweist, als es narrat und reddit tun.

6.2 Kommentar

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ASINI POLLIONIS: Zum scharfen Cicerokritiker Asinius Pollio und dessen Geschichtswerk vgl. § 14 mit dem Kommentar zur Stelle. Das folgende Fragment (Fr. 5 Peter [1906] 69 f.) trifft sich in mehreren Punkten mit Livius’ Aussagen in § 22 (s. die folgenden Anmerkungen). Wie an mehreren anderen Stellen tilgt C.F.W. Müller auch diesen Genetiv ohne Grund (vgl. Müller [1887] 571); vgl. CREMVTI CORDI in § 23 mit dem Kommentar zur Stelle. Huius ergo viri tot tantisque operibus mansuris in omne aevum praedicare de ingenio atque industria superva〈cuum est〉: Mit den opera sind wohl wie bei Livius sowohl Ciceros politische als auch literarische Leistungen gemeint; vgl. Livius in § 22: ingenium et operibus et praemiis operum felix. Das Substantiv aevum wird zumeist dichterisch verwendet und ist in der lateinischen Prosa seit Livius (z. B. 26,11,12) belegt. Für manere in omne aevum vgl.Val. Fl. 1,286: soror […] aevum mansura per omne. Zum funktionslosen ergo vgl. enim in § 23 mit dem Kommentar zur Stelle; contr. 10,5,2: Ergo nemo Olynthius tortus esset […]. Wie Kiessling (1872) 46, Müller (1887) 571 und Winterbottom (1974) II 586 sind auch wir der Ansicht, dass Bursians (1857) 36 Konjektur mansuri anstelle des überlieferten mansuris überflüssig ist, da kein Grund besteht, mansuris zu verdächtigen. Fraglich ist nur, ob es sich bei tot tantisque operibus mansuris in omne aevum um einen Ablativus qualitatis oder einen Ablativus absolutus handelt. Für einen Ablativus absolutus mit einem Futurpartizip vgl. L.-H.-Sz. II, S. 139, denen zufolge er zum ersten Mal in der lateinischen Literatur an dieser Stelle vorliegt. Er findet sich jedoch bei vielen nachciceronischen Schriftstellern wie z. B. Horaz (sat. 2,8,44), Ovid (ars 3,120) und Livius (4,18,6; 28,15,13: oppugnaturis hostibus castra). natura autem atque fortuna pariter obsecuta est. ei quidem facies decora ad senectutem prosperaque permansit valitudo: Der Gedanke, dass die Natur Cicero begünstigte und er Glück hatte, beherrscht diese und die nächsten Sätze, und zwar derart, dass in diesem zweiten Satz die natura und in den folgenden Sätzen (bis consilio industriaque) die fortuna expliziert wird. Für die Erwähnung von Ciceros Glück vgl. Livius in § 22: ipse fortunae diu prosperae. Ob facies eher das Gesicht oder generell die äußere Erscheinung bezeichnet, lässt sich nicht angeben. Ciceros Schönheit wird von keinem anderen Historiker hervorgehoben. Für die Gesundheit bis ins hohe Alter vgl. ebenfalls Livius in § 22: vixit tres et sexaginta annos, ut, si vis afuisset, ne immatura quidem mors videri possit. Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 46 ziehen diese beiden Sätze zu einem zusammen und lesen mit der jüngeren Handschrift D si quidem, wohingegen in den besten Handschriften quidem überliefert ist. Bursian (1857) 36 liest cui quidem. Gronovius (1672) 48 schlägt unter Annahme von zwei Sätzen et quidem vor. Wir sind der Meinung, dass eine Ergänzung von si, cui oder et unnötig ist und nehmen zwei Sätze an.

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Dann fehlt dem ersten Satz zwar ein Pronomen wie ei, aber dieses kann gedanklich leicht ergänzt werden. Für die Annahme von zwei Sätzen spricht auch die genannte Tatsache, dass Asinius Pollio erst eine zweigliedrige Behauptung aufstellt und dann beide Teile erläutert. tunc pax diutina, cuius instructus erat artibus, contigit: Wie contigit deutlich macht, geht es nun um Ciceros Glück. Dies besteht vornehmlich darin, dass lange Zeit Frieden herrschte, nämlich in der Zeit zwischen den Sullanischen Proskriptionen und dem Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius (vgl. Edward [1928] 145), und Cicero so den Beschäftigungen nachgehen konnte, für die er ausgebildet war. Gemeint ist also, dass keine Kriegswirren Cicero von der Ausübung seiner Tätigkeiten abhielten. Wie aus dem nächsten und übernächsten Satz hervorgeht, bezieht sich Asinius Pollio vor allem auf Cicero als Redner bzw. Anwalt und Politiker. Für die Beredsamkeit als Kunst des Friedens vgl. Cic. Mur. 30: duae sint artes igitur quae possint locare homines in amplissimo gradu dignitatis, una imperatoris, altera oratoris boni. Ab hoc enim pacis ornamenta retinentur, ab illo belli pericula repelluntur; Brut. 45; Val. Max. 5,3,4 (mit Bezug auf Cicero): pacis clarissimam dexteram.Vgl. auch Cornelius Severus’ Formulierung in § 26 (V. 9) sacris exculta […] artibus aetas. Wie Håkanson (1989) 366 sehen wir keinen Anlass, an tunc („damals“) zu zweifeln, da keine Aufzählung, sondern ein Bezug auf einen Zeitraum in der Vergangenheit vorliegt (Bursian [1857] 36, Kiessling [1872] 46, Müller [1887] 571 und Winterbottom [1974] II 586 lesen tum). namque [a] prisca severitate iudiciis exacta maxima noxiorum multitudo provenit, quos obstrictos patrocinio incolumes plerosque habebat: Obwohl die meisten Menschen, die Cicero verteidigte, schuldig waren, erreichte er ihren Freispruch. Der Anfang des Satzes ist textkritisch sehr umstritten. Überliefert ist namque a prisca severitate iudicis exacti maximorum noxiorum multitudo provenit. Håkanson (1989) 366 übernimmt – mit Ausnahme der Präposition e vor iudiciis – diejenige Textkonstitution, die Kiessling (1872) 46 in seinem Apparat erwägt: namque prisca severitate iudiciis exacta maxima noxiorum multitudo provenit. Alle anderen Herausgeber seit Bursian (1857) 36 lesen mit Gronovius (1672) 48 namque ad priscam severitatem iudiciis exactis maxima noxiorum multitudo provenit, was O. & E. Schönberger (2004) 300, die Håkanson hier nicht folgen, mit „damals herrschte noch die alte Strenge in Ausübung der Justiz“ übersetzen. Håkanson übernimmt Gronovius’ Textkonstitution nicht, da er ad loc. mit Shackleton Bailey (1969) 321 dagegen einwendet, dass es ein merkwürdiger Gedanke wäre, dass juristische Strenge eine große Zahl an Kriminellen hervorbringt, und Ciceros Briefe dagegen sprechen, dass damals ad priscam severitatem Recht gesprochen wurde. Shackleton Bailey selbst schlägt namque a prisca severitate iudiciis declinatis oder

6.2 Kommentar

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inclinatis vor. Håkansons Textkonstitution (und ebenso diejenige von Shackleton Bailey) bedeutet das Gegenteil von dem, was Gronovius hergestellt hat, nämlich „denn nachdem die alte Strenge aus den Gerichten herausgetrieben worden war“ (vgl. Håkanson ad loc.). Dies scheint auch uns der geforderte Sinn zu sein: Cicero konnte seine schuldigen Mandanten erfolgreich verteidigen, weil in den Gerichten nicht mehr die alte Strenge herrschte. Für den präpositionslosen Ablativus separativus nach exigere verweist Håkanson auf den Thesaurus (V 2, 1449,83 – 1450,9). iam felicissima consulatus ei sors petendi et gerendi (magna munera deum!) consilio industriaque: Diese Textstelle ist häufig emendiert worden (s. den Apparat), obwohl die Überlieferung in unseren Augen gehalten werden kann, wie es auch Bursian (1857) 36 und Kiessling (1872) 46 tun. Dabei empfiehlt es sich, mit Peter (1906) 69 magna munera deum als Ausruf anzusehen. Ciceros Konsulat wird unter zwei Aspekten als erfolgreich bezeichnet. Zum einen glückte die gewissenhafte Planung des Konsulats, wie sie auch im Commentariolum petitionis des Quintus Tullius Cicero zum Ausdruck kommt. Zum anderen ist die Durchführung des Konsulats als Erfolg anzusehen, womit vor allem die Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung gemeint sein dürfte; vgl. Cornelius Severus in § 26 (V. 4– 6). Ciceros Fleiß (industria) wird auch eingangs von Pollio genannt. Die Götter werden wohl deshalb erwähnt, weil sie Cicero zufolge wesentlich zur Rettung der Stadt beigetragen haben; vgl. Catil. 3,1: rem publicam […] deorum inmortalium summo erga vos amore […] e flamma […] ereptam […] videtis; 15: supplicatio dis inmortalibus pro singulari eorum merito meo nomine decreta est; 18: quamquam haec omnia, Quirites, ita sunt a me administrata, ut deorum inmortalium nutu atque consilio et gesta et provisa esse videantur; 19 – 23. Für die Form deum anstelle von deorum lassen sich fast nur dichterische Parallelen finden (z. B. Lucr. 1,68). Vgl. aber zum einen die Formel pro deum hominumque fidem, die auch Cicero häufiger benutzt (z. B. Verr. II 3,137; div. in Caec. 7); Varro ling. 8,70; Cic. orat. 155 f.; L.-H.-Sz. I, S. 428. Zum anderen vgl. deum benignitate (Liv. 8,4,6); votis aut imploratione deum (Liv. 22,5,2). utinam moderatius secundas res et fortius adversas ferre potuisset!: Vgl. contr. 2,4,4: nemo sine vitio est: in Catone moderatio 〈deerat〉, in Cicerone constantia; Sen. dial. 10,5,1: M. Cicero […] nec secundis rebus quietus nec adversarum patiens, quotiens illum ipsum consulatum suum non sine causa sed sine fine laudatum detestatur! Die Tatsache, dass im vorigen Satz Ciceros Konsulat genannt ist, lässt vermuten, dass sich Asinius Pollio bei dem Vorwurf der Eitelkeit – wie Seneca d.J. – v. a. auf Ciceros Epos über sein eigenes Konsulat (De consulatu suo, 60 v.Chr.) bezieht; vgl. den Vers o fortunatam natam me consule Romam! (FPL fr. 12 p. 164

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Blänsdorf). Der Vorwurf der Feigheit deckt sich mit demjenigen von Livius (§ 22): omnium adversorum nihil, ut viro dignum erat, tulit praeter mortem. Er kongruiert ferner mit Asinius Pollios boshafter Darstellung von Ciceros Tod, die am Anfang dieses Kapitels erwähnt wird. Seneca d.J. exemplifiziert Ciceros Feigheit anhand von dessen Verzweiflung nach Pompeius’ Niederlage im Bürgerkrieg (dial. 10,5,2): quam flebiles voces exprimit in quadam ad Atticum epistula iam victo patre Pompeio, adhuc filio in Hispania fracta arma refovente! „Quid agam“, inquit, „hic, quaeris? Moror in Tusculano meo semiliber.“ Alia deinceps adicit, quibus et priorem aetatem complorat et de praesenti queritur et de futura desperat. Haller (1967) 118 f. ist der festen Überzeugung, dass sich Asinius Pollio auf Ciceros Mutlosigkeit angesichts seiner bevorstehenden Verbannung (vgl. Livius in § 22 mit dem Kommentar zur Stelle) bezieht, da Appian (civ. 2,15 f.) Asinius Pollio hierin gefolgt sei; vgl. App. civ. 2,15: ὁ δʼ ἐς τὸ ἔργον ἐκεῖνο γενναιοτάτῳ λήματι κεχρημένος ἀσθενέστατος ἐς τὴν δίκην ἐγίγνετο, καὶ ταπεινὴν ἐσθῆτα ἐπικείμενος γέμων τε αὐχμοῦ καὶ ῥύπου προσέπιπτεν οἷς ἐντύχοι κατὰ τοὺς στενωποὺς, οὐδὲ τοῖς ἀγνῶσιν ἐνοχλεῖν αἰδούμενος, ὥστε αὐτῷ τὸ ἔργον διὰ τὴν ἀπρέπειαν ἀπὸ οἴκτου μεταπίπτειν ἐς γέλωτα. Auch wenn uns Haller angesichts der Tatsache, dass wir keine weiteren Quellen besitzen, die diese These stützen, zu sicher zu sein scheint, ist es gut möglich, dass Asinius Pollio an Ciceros Exil dachte. Für diese Annahme spricht auch die weitgehend chronologische Vorgehensweise des Historikers, d. h. die Tatsache, dass er unmittelbar zuvor Ciceros Konsulat genannt hat. Es ist aber zu bedenken, dass auch Livius in § 22 gegen Cicero den Vorwurf erhebt, der Verbannung ohne Courage begegnet zu sein, so dass Haller Appians Abhängigkeit von Asinius Pollio vielleicht zu einseitig betrachtet. namque utraeque cum venerant ei, mutari eas non posse rebatur: Die Herausgeber seit Kiessling (1872) 46 lesen mit C.F.W. Müller evenerant anstelle des überlieferten venerant. Da venire jedoch i.S.v. evenire benutzt werden kann, halten wir diese Konjektur für überflüssig und bewahren wie Bursian (1857) 36 die Überlieferung; vgl. Cic. Phil. 3,35: fatum extremum rei publicae venit; Sall. Iug. 4,4: existimabunt […] maius […] commodum ex otio meo quam ex aliorum negotiis rei publicae venturum. inde sunt invidiae tempestates coortae graves in eum, certiorque inimicis adgrediendi fiducia: Der Gedanke hängt noch mit den vorigen Aussagen zusammen:Wenn die Feindschaften erwidert wurden und sich das Blatt gegen Cicero wendete, hielt er die Lage für aussichtslos. Diese verletzliche Seite Ciceros nutzten seine Gegner aus. Hierbei wird Asinius Pollio an Ciceros Auseinandersetzungen u. a. mit Clodius, Vatinius, Gabinius und Piso Caesoninus denken. Die Junktur invidiae tempestas wird auch von Cicero selbst benutzt; vgl. Cluent. 94: tempus hoc

6.2 Kommentar

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tranquillum atque pacatum, illud omnibus invidiae tempestatibus concitatum; und die prophetische Äußerung Catil. 1,22: tametsi video, si mea voce perterritus ire in exsilium animum induxeris, quanta tempestas invidiae nobis, si minus in praesens tempus recenti memoria scelerum tuorum, at in posteritatem impendeat. maiores enim simultates appetebat animo quam gerebat: Cicero hat größere Feindschaften provoziert als ausgetragen. Für simultates gerere vgl. M. Anton. Cic. Att. 14,13a,3. Vgl. auch die Junktur simultates deponere, die Cremutius Cordus in § 23 benutzt. Gegen alle modernen Herausgeber sind wir der Meinung, dass das in den besten Handschriften überlieferte maiores gehalten werden kann und nicht die Korrektur maiore (τ) übernommen werden muss. Denn ein Bezug auf simultates ist unproblematisch: Die Feindschaften, die Cicero provozierte, waren größer als diejenigen, die er austrug, da er verzweifelte, wenn sich das Blatt gegen ihn wendete. sed quando mortalium nulli virtus perfecta contigit, qua maior pars vitae atque ingenii stetit, ea iudicandum de homine est: Eine programmatische Äußerung von Asinius Pollio über die Bewertung der Leistungen eines Menschen. Diese Äußerung entspricht dem Livianischen Abwägen zwischen Ciceros Stärken und Schwächen (§ 22: si quis tamen virtutibus vitia pensaret), da beide auf diese Weise ihre vorhergehende Kritik relativieren. atque ego ne miserandi quidem exitus eum fuisse iudicarem, nisi ipse tam miseram mortem putasset: Wie bei Livius mischen sich bei Asinius Pollio in demjenigen Satz, in dem Ciceros Tod gewürdigt wird, Lob und Kritik; vgl. Livius in § 22 mit dem Kommentar zur Stelle: et in longo tenore felicitatis magnis interim ictus vulneribus […] omnium adversorum nihil, ut viro dignum erat, tulit praeter mortem, quae vere aestimanti minus indigna videri potuit, quod a victore inimico nihil crudelius passus erat quam quod eiusdem fortunae compos victo fecisset. Der erste Teil des hier vorliegenden Satzes ist so zu verstehen, dass Asinius Pollio Ciceros ganzes Leben als erfolgreich betrachtet. In dem zweiten Teil des Satzes tritt Asinius Pollios Absicht zu Tage, Cicero einen feigen Tod zuzuschreiben, die Seneca d.Ä. in §§ 14 f. und am Anfang dieses Paragraphen kritisiert (s. dort mit dem Kommentar jeweils zur Stelle). Edward (1928) 145 meint, dass sich die Aussage, dass Cicero den Tod als Übel ansah, auf das Beklagen des Unglücks bezieht, das laut Plutarch (Cicero 47 f.) dazu führte, dass Ciceros Bruder Quintus nach Rom aufbrach, um seinem Schicksal entgegen zu treten, und Cicero zunächst in seiner Villa bei Formiae blieb. Über mögliche Stellen, an denen Asinius Pollio in seinen Historien Ciceros feigen Tod brandmarkte, kann man nur spekulieren. Aber in §§ 14 f. erfahren wir, dass Asinius Pollio in der Rede Pro Lamia behauptet hat, dass Cicero sich an-

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geblich von seinen Philippiken losgesagt und bereit erklärt habe, Reden für Antonius zu verfassen. Für die Aussage, dass Cicero den Tod als Übel ansah, vgl. auch Varius Geminus in § 12 mit dem Kommentar zur Stelle: quod grandia loquitur et dicit: ‘mors nec immatura consulari nec misera sapienti’, non movet me. 25 Adfirmare vobis possum nihil esse in historiis eius hoc, quem retuli, loco disertius, ut mihi tunc non laudasse Ciceronem sed certasse cum Cicerone videatur: Seneca d.Ä. zollt Asinius Pollio mit Bezug auf den Nachruf auf Cicero ein Lob, das sogar größer als dasjenige ist, das er Livius in § 22 für dessen Nachruf zollt. Der Gedanke, dass für eine angemessene Würdigung von Cicero nur ein zweiter Cicero in Frage käme, liegt auch bei Livius vor; vgl. § 22 mit dem Kommentar zur Stelle: vir magnus ac memorabilis fuit, et in cuius laudes exequendas Cicerone laudatore opus fuerit. Insgesamt ähnelt das Urteil, das Seneca d.Ä. in diesem Satz fällt, demjenigen, das er über Cremutius Cordus ausspricht, auch wenn er nicht dessen gesamtes Geschichtswerk im Blick hat (§ 23): Cordi Cremuti non est operae etiam referre redditam Ciceroni laudationem; nihil enim in ea Cicerone dignum est, ac ne hoc quidem, quod paene maxime tolerabile est. Für die Anrede an die Söhne vgl. § 16 mit dem Kommentar zur Stelle. Für certare vgl. suas. 2,12 mit dem Kommentar zur Stelle. nec hoc deterrendi causa dico, ne historias eius legere concupiscatis; concupiscite et poenas Ciceroni dabitis: Dieser Satz hat den Erklärern Schwierigkeiten bereitet (vgl. Winterbottom [1974] II 588 Fußn. 1: „the phrase is very strange“). Håkanson (1989) 366 emendiert Ciceroni zu certe non und erklärt den Sinn des Satzes ad loc. derart, dass Seneca d.Ä. scherzhaft seinen Söhnen versichert, dass sie ungestraft bleiben, obwohl er sie zu einer Art der concupiscentia auffordert. Damit stellt er sich gegen die Communis opinio, die von Edward (1928) 145 – unter Beibehaltung der Überlieferung – am deutlichsten formuliert wurde: „By reading Pollio’s history, even although he is a rather hostile critic, the young men will get a real appreciation of Cicero and so make amends to his memory.“ Die Bedeutung „Genugtuung“ für poena (vgl. OLD s.v. poena 2) nehmen auch die anderen Übersetzer an (Bornecque [1902] II 344; Winterbottom [s.o.] 589; Zanon dal Bo [1988] 179; O. & E. Schönberger [2004] 300). Wir halten diese Bedeutung jedoch für unwahrscheinlich, da der Sinn dann wäre, dass es sich mit Blick auf Cicero lohnt, Asinius Pollios Geschichtswerk zu lesen. Denn dies trifft nur für den Nachruf zu, während Asinius Pollio insgesamt, wie Seneca d.Ä. in § 14 angibt, infestissimus famae Ciceronis permansit und boshaft über dessen Tod spricht (vgl. § 24).Wenn die Söhne des älteren Seneca Cicero Genugtuung leisten sollen, besteht für sie kein Anlass, Asinius Pollios Geschichtswerk zur Hand zu nehmen, da Seneca d.Ä. hier das einzig Positive über Cicero, nämlich den Nachruf, zitiert.

6.2 Kommentar

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Unserer Ansicht nach bedeutet poenas Ciceroni dabitis „ihr werdet es Cicero büßen“, allerdings in einem etwas weiteren Sinn, dass sich die Söhne des älteren Seneca gegenüber Cicero schuldig machen, ohne wirklich eine Strafe erleiden zu müssen. Diese Formulierung ist insofern ungewöhnlich und ohne Parallele, als die Söhne des älteren Seneca einem Toten büßen sollen. Sprachlich lässt sich diese ungewöhnliche Formulierung aber auch dadurch erklären, dass man poena als „Grund für eine Strafe“ auffasst (vgl. Prop. 3,13,38: nec fuerat nudas poena videre deas). Gemeint ist wahrscheinlich, dass Asinius Pollios Geschichtswerk unter stilistischen Gesichtspunkten nicht mit Cicero zu vergleichen ist, wie der vorige Satz zeigt. Der Inhalt des Werkes, d. h. die Cicerodiffamierung (vgl. §§ 14 f. und 24), scheint hier nicht ausschlaggebend zu sein. Für den etwas komplizierten Gedankengang vgl. suas. 1,16. Der Teilsatz concupiscite et poenas Ciceroni dabitis hat einen kondizionalen Sinn: „Wenn ihr dessen Historien lest, werdet ihr es Cicero büßen“; vgl. suas. 2,13 mit dem Kommentar zur Stelle: muta enim, ut ‘noster’ sit.

Das Fragment des Cornelius Severus (25b-26) Nemo tamen ex tot disertissimis viris melius Ciceronis mortem deploravit quam Severus Cornelius: Wie in der ersten Suasorie steht auch kurz vor Ende dieser Suasorie ein dichterisches Fragment. Der Grund für die Zitierung ist im Prinzip derselbe: In der ersten Suasorie ist keinem Deklamator die Beschreibung des Ozeans so gut gelungen wie Albinovanus Pedo (die Beschreibung des Ozeans stiftet den Zusammenhang zwischen den §§ 11– 15); vgl. suas. 1,15: Latini declamatores in descriptione Oceani non nimis viguerunt, nam aut minus descripserunt aut curiose. Hier gelingt Cornelius Severus die beste Leistung bei der Formulierung von Ciceros Nachruf, der seit § 21b das beherrschende Thema ist. Die viri disertissimi sind daher die zuvor zitierten Historiker. 26 CORNELI SEVERI: Inwiefern das folgende Exzerpt (vgl. FPR p. 353 f. Baehrens; FPL p. 118 f. Morel; p. 151 Büchner; p. 293 f. Blänsdorf; Homeyer [1961]; Dahlmann [1975] 74– 119; Courtney [1993] und [2003] 325 – 327; Hollis [2007] 345 – 347 und 358 – 367) in das nur fragmentarisch erhaltene Werk des Cornelius Severus einzuordnen ist, ist umstritten, da bereits unklar ist, wie viele Werke Cornelius Severus verfasst hat. Die Rekonstruktion seines Werkes geht von Testimonien aus, die bei Ovid, Seneca d.J., Quintilian und Probus überliefert sind. Ovid spricht in den Epistulae ex Ponto vom carmen regale des Cornelius Severus (Pont. 4,16,9) und nennt ihn an einer anderen Stelle o vates magnorum maxime regum […] Severe (Pont. 4,2,1 f.). Seneca d.J. (epist. 79,5) überliefert, dass Cornelius Severus es ge-

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wagt hat, den Ätna zu beschreiben, nachdem Vergil (vgl. Aen. 3,571– 582) und Ovid (vgl. met. 15,340 – 355) dies bereits getan hatten. Quintilian (inst. 10,1,89) vertritt die Meinung, dass Cornelius Severus unter den Epikern den zweiten Platz hinter Vergil einnehmen würde, wenn er das Bellum Siculum nach dem Vorbild des ersten Buches zu Ende geschrieben hätte: si […] (ut est dictum) ad exemplar primi libri bellum Siculum perscripsisset, vindicaret sibi iure secundum locum. Probus (GL 4,208,16 f. Keil) überliefert einen Vers aus dem ersten Buch der Res Romanae, weshalb dieser Titel für ein Werk des Cornelius Severus anzunehmen ist. Aus diesen Testimonien hat man versucht, ein Epos unseres Dichters zu rekonstruieren, wenngleich auch die Meinung vertreten wurde, dass er (mindestens) zwei Werke geschrieben hat (vgl. Dahlmann [1975] 7 f. mit Angabe der älteren Literatur). Dahlmann stellt einen plausiblen Zusammenhang zwischen den Testimonien und Fragmenten her: Cornelius Severus hat ein historisches Epos mit dem Titel Res Romanae verfasst. Am Anfang des Epos steht die Darstellung der Königszeit, die Ovid noch kannte, d. h.: die späteren Bücher sind vermutlich auch später entstanden. Die Erzählung reicht bis zum Bellum Siculum (38 – 36 v.Chr.), in welchem Zusammenhang unser Dichter wohl auch den Ätna beschrieben hat. Gegenstand dieses Epos war auch die deploratio von Ciceros Tod, die uns der ältere Seneca an dieser Stelle überliefert. Ein anderes Fragment des Cornelius Severus zitiert Seneca d.Ä. suas. 2,12. Insgesamt ist der epische Nachruf des Cornelius Severus nicht nur mit den Historikern bzw. Prosaschriftstellern zu vergleichen, die Ciceros Leben würdigen, sondern auch mit dichterischen Nachrufen auf andere (auch mythische) Personen, wie z. B. auf Pallas (Verg. Aen. 10,501– 509), Marcellus (Verg. Aen. 6,868 – 886; Prop. 3,18) oder Pompeius (Lucan. 8,806 – 815; 9,190 – 211). Einen dichterischen Nachruf auf Cicero hat in der Neuzeit Jakob Balde (lyr. 2,25) verfasst. 1– 3 oraque magnanimum … Ciceronis imago: Die ersten drei Verse dienen als Überleitung, wie auch das angehängte -que in oraque deutlich macht, d. h. zuvor wird Cornelius Severus – wie die Historiker auch – erzählt haben, wie Cicero und andere große Männer gestorben sind (vgl. Dahlmann [1975] 76 und 78). Der eigentliche Nachruf auf Cicero beginnt in Vers 4 mit redeunt. 1– 2 oraque magnanimum spirantia paene virorum / in rostris iacuere suis: Für die Zurschaustellung von Ciceros Kopf auf den rostra vgl. App. civ. 4,20; Plut. Cicero 49,1 f.; Antonius 20,3 f.; Liv. perioch. 120 und in § 17; Cremutius Cordus in § 19, Bruttedius Niger in § 21. Die anderen Männer neben Cicero werden unter anderem diejenigen sein, die Appian (civ. 4,17 f.) als erste Opfer nennt: der Tribun Salvius, der Prätor Minucius, der Prätor Annales und der ehemalige Prätor Turannius. Ora steht hier als Synekdoche für capita wie in der Beschreibung der

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Köpfe, die sich am Eingang der Cacushöhle befinden (Verg. Aen. 8,196 f.): foribusque adfixa superbis / ora virum tristi pendebant pallida tabo. Das Adjektiv magnanimus ist ein in der Epik häufig gebrauchtes Wort (vgl.Verg. Aen. 1,260; 5,17 und 407; 6,307 und 649; 9,204; 10,563; 12,144 und öfter; Ov. met. 2,111; 12,230; 13,298; Sil. 1,29; 6,21; 4,420).Vergil gebraucht dieses Wort jedoch ausschließlich mit Bezug auf die Götter oder Heroen der Vorzeit. Erst Ovid (fast. 4,380) verwendet es für eine Person der Zeitgeschichte (vgl. Dahlmann [1975] 81). Magnanimum ist hier Genetiv Plural (statt magnanimorum) wie Verg. Aen. 3,703 f.: arduus inde Acragas ostentat maxima longe / moenia, magnanimum quondam generator equorum und Stat. silv. 5,3,10 f. Paene bezieht sich auf die spirantia ora und bedeutet daher „fast noch“. Für die spirantia ora vgl. Lucan. 8,669 f.: retegit [sc. Septimius] sacros scisso velamine voltus / semianimis Magni spirantiaque occupat ora. Mit ähnlichen Substantiven wird spirans an folgenden Stellen verknüpft: Verg. Aen. 4,64; 6,847; Lucan. 1,363; Sil. 10,554. Das Possessivpronomen (in rostris […] suis) wird wohl emphatisch verwendet, weil Cicero und die anderen Magistrate als Redner auf den rostra gewirkt haben. 2 – 3 sed enim abstulit omnis, / tamquam sola foret, rapti Ciceronis imago: Für den Gedanken, dass Ciceros Kopf die Aufmerksamkeit aller Anteil Nehmenden auf sich zieht, vgl. Bruttedius Niger in § 21: nulla non pars fori aliquo actionis inclutae signata vestigio erat, nemo non aliquod eius in se meritum fatebatur; Cremutius Cordus in § 19: ceterorumque caedes privatos luctus excitaverunt, illa una communem. Der Bezug und die Bedeutung von abstulit omnis sind mehrdeutig. Dahlmann (1975) 81 nimmt für auferre die Bedeutung „wegnehmen“ i.S.v. „entrücken“, „verdunkeln“ an (vgl. OLD s.v. aufero 7) und sieht in omnis [sc. viros] einen Bezug auf die im vorigen Satz genannten anderen Opfer der Proskriptionen (Cicero stellte alle anderen Opfer in den Schatten). Diese Meinung vertritt auch Håkanson ad loc. Auf der anderen Seite ist zu erwägen, ob auferre hier bedeutet, dass Ciceros Kopf „die Blicke aller Anwesenden auf sich zieht“. Vgl. für diese Bedeutung von auferre OLD ib. 4c; Ov. epist. 12,36: abstulerant oculi lumina nostra tui; Stat. Theb. 6,669: et simul omnes abstulit in se oculos. Ob man dann omnis als omnis homines oder als omnis oculos verstehen muss,wie es Schulting und Edward (1928) 145 f. tun, lässt sich aufgrund der zitierten Parallelen kaum sagen. Möglich ist auch Schotts Erklärung von omnis i.S.v. omnis imagines (vgl. Edward [s.o.]), wodurch wiederum ein Bezug auf die anderen Opfer entsteht. Für imago i.S.v. „Anblick“ vgl. Verg. Aen. 10,456: Turni venientis imago; Tac. ann. 1,62,2: exercitum imagine caesorum insepultorumque tardatum ad proelia […] credebat. Für rapere in diesem Kontext vgl. Hor. carm. 2,13,19 f.: sed inprovisa leti / vis rapuit rapietque gentis. Für sed enim vgl. Verg. Aen. 1,19; 2,164; 6,28.

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4 – 6 tunc redeunt animis ingentia consulis acta / iurataeque manus deprensaque foedera noxae / patriciumque nefas extinctum: Am Anfang stehen Ciceros Leistungen während seines Konsulats, die er selbst (parad. 30) als praeclarissimas res a me gestas lobt und die hier auf die Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung konzentriert werden; vgl. Asinius Pollio in § 24: iam felicissima consulatus ei sors petendi et gerendi (magna munera deum!) consilio industriaque. Für das pathetische redeunt animis vgl. Stat. silv. 1,2,195: redeunt animo iam dona precesque. Die „verschworenen Scharen“ (iuratae […] manus; das Simplex iuratae steht hier anstelle des Kompositum coniuratae) sind die Catilinarier. Cicero selbst spricht mit Bezug auf die Catilinarier von der manus coniuratorum (Catil. 1,12; 3,3; 4,20) oder von den homines coniurati (Mur. 52). Für iurata manus vgl. Lucan. 9,850 und Stat. silv. 1,4,74. Die Worte patricium […] nefas lenken das Augenmerk darauf, dass Patrizier Anstifter der Verschwörung waren (aufgrund des Kontextes ist O. & E. Schönbergers [2004] 300 Übersetzung mit dem Singular „des Patriziers“ unwahrscheinlich). Diese Tatsache wird auch von Sallust (Cat. 31,7; 17,3; 55,6) und Cicero (Catil. 3,22) betont. Håkanson (1989) 367 interpungiert stark hinter nefas und lässt mit extincti, das sich auf Cethegi bezieht, einen neuen Satz beginnen. Überliefert ist das sinnlose est tunc, das Gronovius (1672) 49 zu extinctum und Scaliger (ib.) zu etiam tum emendiert hat (vor poena liest Gronovius mit D et, Scaliger suppliert ut). Wir halten Håkansons textkritischen Eingriff für keine Verbesserung und paläographisch für schwieriger als Gronovius’ Emendation. Die Struktur des Satzes, die er ad loc. als Argument anführt, spricht unseres Erachtens eher für extinctum, da eine Klimax in diesem Satz zu beobachten ist: Erst werden Ciceros Taten während seines Konsulats generell erwähnt; dann ist von den Catilinariern die Rede (iuratae […] manus), und abschließend wird gesagt, dass Cicero deren Verschwörung nicht nur aufgedeckt (deprensa […] foedera noxae), sondern sogar „ausgelöscht“ hat (patricium […] nefas extinctum). Außerdem steht auch bei den Subjekten manus und foedera ein attributives Partizip Perfekt Passiv. Für extinguere mit Bezug auf die Catilinarische Verschwörung (es gab Pläne, die Stadt in Brand zu setzen; vgl. Cic. Catil. 3,15) vgl. Cic. Pis. 5: ego faces iam accensas ad huius urbis incendium comprehendi, protuli, exstinxi; harusp. 49: togatum domestici belli exstinctorem. Für extinguere nefas vgl. Verg. Aen. 2,585 f. (aus der Helenaepisode): exstinxisse nefas tamen et sumpsisse merentis / laudabor poenas. 6 – 7 poena Cethegi / deiectusque redit votis Catilina nefandis: Redit sc. animis. Cethegus ist einer der Hauptverschwörer, die zur Strafe erdrosselt wurden; vgl. Sall. Cat. 55,6: laqueo gulam fregere. Auch bei Juvenal (8,231) fungiert er als Beispiel für die Catilinarische Verschwörung. An deiectus […] votis […] nefandis hat sich eine Kontroverse entzündet. Edwards (1928) 75 Übersetzung von deiectus mit

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„disappointed“ ist von Homeyer (1961) 329 und Dahlmann (1975) 87 zu Recht zurückgewiesen worden. Deiectus […] votis […] nefandis bedeutet laut Homeyer, dass Catilina „durch seine verbrecherischen Bestrebungen gestürzt“ ist. Dahlmann wendet dagegen ein, dass votis […] nefandis ein separativer Ablativ ist. Dies wird aus den Parallelen, die er anführt, deutlich: Caes. Gall. 1,8,4: Helvetii ea spe deiecti; Cic. Phil. 9,8: de sententia deiecistis; Verg. Aen. 12,509: Turnus equo deiectum Amycum [sc. ferit]. Daher bedeutet deiectus […] votis Catilina nefandis „der von seinen ruchlosen Absichten abgebrachte Catilina“. 8 – 9 quid favor aut coetus, pleni quid honoribus anni / profuerant, sacris et vita quid artibus acta?: In Form einer rhetorischen Frage bringt Cornelius Severus zum Ausdruck, dass Cicero all seine Bemühungen und Verdienste nicht vor der Ermordung retteten. Wie Dahlmann (1975) 88 f. zeigt, ist diese Art der rhetorischen Frage eine bei den lateinischen Dichtern beliebte Figur bei der Trauer um einen Verstorbenen. Vgl. Prop. 3,18,11 f. (über Marcellus): quid genus aut virtus aut optima profuit illi / mater, et amplexum Caesaris esse focos?; 4,11,11 f. (die verstorbene Cornelia klagt): quid mihi coniugium Paulli, quid currus avorum / profuit aut famae pignora tanta meae?; Ov. am. 3,9,21 f.: quid pater Ismario, quid mater profuit Orpheo? / carmine quid victas obstipuisse feras?; Stat. silv. 5,1,154 f.; Mart. 7,96,5. Bei Vergil liegt diese Form der Frage nur in Junos Entrüstung über Aeneas’ Ankunft in Latium vor (Aen. 7,302 f.); die ansonsten vergleichbare Trauer um Camilla (Aen. 11,843 f.) ist in einen Aussagesatz gekleidet. Unter den coetus sind wohl zum einen Ciceros Klienten, zum anderen die Zuhörer seiner Reden zu verstehen. Favor aut coetus ist ein Hendiadyoin, für das keine Parallelen zu verzeichnen sind. Sonst steht der Ausdruck für die Menschenmenge im Genetiv; vgl. favor populi z. B. Liv. 8,34,1; Ov. fast. 4,867; favor plebis Liv. 2,56,1; Val. Max. 3,5,3 und die weiteren Stellen, die Dahlmann (s.o.) 90 Fußn. 130 verzeichnet. Mit den Ehrenämtern (honoribus) wird ein Element genannt, auf das Cicero selbst stolz war, und zwar weil er es als homo novus bis zum Konsulat geschafft hatte, und zwar jeweils suo anno. Vgl. Cic. Catil. 1,28, wo ihn die Patria anredet: te […] per te cognitum nulla commendatione maiorum tam mature ad summum imperium per omnis honorum gradus extulit [sc. populus Romanus]; off. 2,59: [sc. amplitudo] honorum, quos cunctis suffragiis adepti sumus nostro quidem anno. Für die Junktur pleni […] honoribus anni vgl. Plin. epist. 2,1,7 (über Verginius Rufus): et ille quidem plenus annis abit, plenus honoribus. Ob sich die sacrae artes nur auf die Beredsamkeit und die damit verknüpften Tätigkeiten als Anwalt und Politiker beziehen oder auch die Philosophie einbeziehen, lässt sich kaum sagen. Für die zweite Möglichkeit spricht die Tatsache, dass es Selbstaussagen Ciceros gibt, die für den Einbezug der Philosophie sprechen (fam. 4,4,4; div. 1,22); vgl. Dahlmann (s.o.) 92 f. Auf der anderen Seite nennt der Kontext Ciceros politisches Wirken (V. 8) und dessen

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einzigartige Eloquenz (V. 11). Daher sind die artes möglicherweise diejenigen, die Asinius Pollio in § 24 artes pacis nennt. Für das Epitheton sacer in diesem Kontext vgl. sacerrima eloquentia contr. 1 praef. 10; Cremutius Cordus in § 19: ad caput eius deligata manus dextera, divinae eloquentiae ministra; Mart. 5,69,7 (mit Bezug auf Cicero): quid prosunt sacrae pretiosa silentia linguae?; Quint. inst. 1,6,18; 2,16,7; 10,2,18. Anstelle des überlieferten et vita übernehmen die Herausgeber seit Kiessling (1872) 47 dessen (1871) 21 f. Konjektur exculta. Bursian (1857) 37 bewahrt et vita und liest mit D2 acta statt aetas; für weitere Verbesserungen s. den Apparat. Da acta eine einfache Korrektur von aetas ist, halten wir Bursians Entscheidung für den einfachsten textkritischen Eingriff. Jedoch sehen wir keinen Grund, an dem Plusquamperfekt profuerant zu zweifeln (Bursian liest mit der jüngeren Handschrift D das Perfekt profuerunt, wie es laut Müller [1887] 573 vulgo getan wurde). Das Plusquamperfekt erklärt sich wohl durch Vorzeitigkeit zum folgenden abstulit. Vielleicht betont es auch noch stärker als das Perfekt, dass es in der Stunde des Todes vergebens war, das Leben der Beredsamkeit gewidmet zu haben. 10 abstulit una dies aevi decus: In dieser paradoxen Formulierung steht abstulit betont am Satzanfang. Die Hervorhebung des einen Todestages findet sich schon bei Homer, der vom μόρσιμον ἦμαρ spricht (Il. 15,613; Od. 10,175). In der Formulierung abstulit una dies (aut sim.) liegt dieser Gedanke auch an folgenden Stellen vor: Verg. Aen. 6,429 und 11,28: abstulit atra dies; Ov. Pont. 1,2,4: non omnis Fabios abstulit una dies; Stat. Theb. 3,148. Die Junktur aevi decus liegt auch in Vergils vierter Ekloge vor; vgl. ecl. 4,11: teque adeo decus hoc aevi, te consule, inibit. Dort ist aber nicht sicher, ob sich decus hoc aevi auf das Kind bezieht; Norden (1931) 41 bezieht den Ausdruck nicht auf das Kind, sondern nimmt die Bedeutung „glanzvolle Zeitperiode“ an; vgl. Dahlmann (1975) 95. Decus wird aber auch sonst häufig auf Personen bezogen; vgl. Cic. Phil. 11,24; 2,54; Sall. epist. 2,13,1; Lucr. 3,3; Hor. carm. 1,1,2 und die anderen von Dahlmann (s.o.) 96 f. angeführten Stellen. 10 – 11 ictaque luctu / conticuit Latiae tristis facundia linguae: Für den Gedanken, dass (zumindest) eine Gattung um ihren größten Exponenten trauert oder sogar mit ihm ausstirbt, vgl. folgende Stellen, auf die Hollis (2007) 363 und 339 verweist: Gell. 1,24,2: inmortales mortales si foret fas flere, / flerent divae Camenae Naevium poetam. / itaque postquam est Orcho traditus thesauro / obliti sunt Romae loquier lingua Latina; ib. 3: postquam est mortem aptus Plautus, Comoedia luget / scaena est deserta, dein Risus, Ludus Iocusque / et Numeri innumeri simul omnes conlacrimarunt; Ov. am. 3,9,3 (über Tibulls Tod): flebilis indignos, Elegia, solve capillos!; Domitius Marsus (FPL p. 280 Blänsdorf): te quoque Vergilio comitem non aequa, Tibulle, / mors iuvenem campos misit ad Elysios, / ne foret aut elegis molles qui fleret amores / aut caneret forti regia bella pede; Ps.Mosch. Epitaph auf Bion

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11 f.: ὅττι σὺν αὐτῷ καὶ τὸ μέλος τέθνακε καὶ ὤλετο Δωρὶς ἀοιδά.Wie Seneca d.Ä. in § 27 schildert, geht Cornelius Severus’ Identifizierung von Cicero und der römischen Beredsamkeit auf Sextilius Ena zurück, dessen Vers er imitiert: deflendus Cicero est Latiaeque silentia linguae. Vgl. auch Plin. nat. 7,117: facundiae Latiarumque litterarum parens; Quint. inst. 6,3,1; 12,1,20 und v. a. 10,1,112: Cicero iam non hominis nomen sed eloquentiae. Auffällig sind auch die Parallelen zu Ovid, der die Gleichsetzung von Redner und Beredsamkeit im Fall von Messalla Corvinus vornimmt; vgl. trist. 4,4,5 f.: cuius in ingenio est patriae facundia linguae / qua prior in Latio non fuit ulla foro; Pont. 2,3,75: tuus ille pater, Latiae facundia linguae. Ebenso apostrophiert er Paulus Fabius Maximus (Pont. 1,2,67 f.): Romanae facundia, Maxime, linguae. Die Junktur ictus luctu liegt nur noch bei Livius vor (27,51,12): Hannibal tanto simul publico familiarique ictus luctu, adgnoscere se fortunam Carthaginis fertur dixisse. Vgl. auch Livius in § 22: ictus [sc. Cicero] vulneribus, exilio, ruina partium, pro quibus steterat, filiae morte, exitu tam tristi atque acerbo. 12 unica sollicitis quondam tutela salusque: In diesem Vers geht es um den Anwalt Cicero. Im Gegensatz zu Vers 8 (favor aut coetus) liegt die Betonung jedoch nicht auf seiner Beliebtheit, sondern auf seinen außerordentlichen Verdiensten, d. h. auf der Tatsache, dass er viele Bürger erfolgreich verteidigt hat. Vgl. Asinius Pollio in § 24: maxima noxiorum multitudo provenit, quos obstrictos patrocinio incolumes plerosque habebat. Vgl. auch die allgemein gehaltene Aussage Cic. de orat. 1,32: quid tam […] regium […] quam opem ferre supplicibus, excitare adflictos, dare salutem, liberare periculis, retinere homines in civitate? Dass es hier eher um Ciceros erfolgreiches Wirken als Anwalt und noch nicht – wie im nächsten Vers – um seine Taten als Konsul geht, legt das Vokabular nahe. Vgl. für tutela und salus der Klienten als Pflichten des Patrons Cic. off. 1,85: tutela […] ad eorum utilitatem, qui commissi sunt, […] gerenda est; Verr. II 5,129 (über eine Frau, deren Sohn Opfer von Verres war): me suam salutem appellans […] mihi ad pedes misera iacuit. Für solliciti mit Bezug auf Angeklagte vgl. Hor. carm. 4,1,14: et pro sollicitis non tacitus reis; Mart. 5,16,6; Dahlmann (1975) 100 f. Unicus wird von Dahlmann nicht quantitativ i.S.v. „einziger“, sondern qualitativ i.S.v. „einzigartig“ aufgefasst, da sich Cicero zwar als alleiniger Retter des Vaterlandes gesehen hat (vgl. Cic. Catil. 1,28; 4,18; Vatin. 8; Pis. 6 und 21; fam. 5,7,3), jedoch mit Bezug auf die einzelnen Bürger keine Rede davon sein könne, dass Cicero der einzige schützende Patron war, weil es auch noch andere besorgte Patrone gab. Wir halten die Annahme der übertragenen Bedeutung von unicus nicht für notwendig. Denn es entspricht durchaus dem enkomiastischen Ton dieser deploratio, dass Cornelius Severus so tut, als wäre Cicero der einzige schützende Patron Roms gewesen, so wie es

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glaubhaft erscheint, dass allein Ciceros Kopf die Blicke aller Anwesenden auf sich zog (V. 3). 13 egregium semper patriae caput: Wie Dahlmann (1975) 101 bemerkt, spielt Cornelius Severus hier wohl auf die Verleihung des Ehrentitels pater patriae an, den Cicero aufgrund der Unterdrückung der Catilinarischen Verschwörung erhalten hat.Vgl. Cic. Pis. 6: me Q. Catulus […] frequentissimo senatu parentem patriae nominavit; Sest. 121: me […] quem Q. Catulus, quem multi alii saepe in senatu patrem patriae nominarant; Att. 1,14,3 und 9,10,3; dom. 72; Phil. 2,12. Caput patriae ist eine singuläre Bezeichnung anstelle des üblichen pater oder parens patriae. Caput dient jedoch häufig zur Hervorhebung einer Person; vgl.Val. Max. 5,3,4 (mit Bezug auf Cicero): caput Romanae eloquentiae; ebenso Mart. 3,66,4: hoc tibi, Roma, caput, cum loquereris, erat; Liv. 6,3,1: caput rei Romanae, Camillus; Vell. 2,52,3 (über Caesar und Pompeius): conlisa inter se duo rei publicae capita; Dahlmann (s.o.) 102. 13 – 14 ille senatus / vindex, ille fori, legum ritusque togaeque: Der Bezug der Genetive legum ritusque togaeque ist umstritten. Håkanson (1989) 367 setzt – wie die meisten Herausgeber – hinter togaeque ein Komma und macht damit deutlich, dass fori […] togaeque noch von vindex abhängig sind (so auch Homeyer [1961] 328 und 330). Bursian (1857) 37, Baehrens (FPR p. 354) und Dahlmann (1975) 102 beziehen legum […] togaeque jedoch auf publica vox aus Vers 15. Einen Bezug auf publica vox sieht Bursian auch schon in fori, und diesen Bezug macht er noch deutlicher, indem er ille zu illa ändert. Dahlmann (s.o.) 104 rechtfertigt diesen Bezug dadurch, dass die sich gegenseitig ergänzenden Begriffe legum […] togaeque den Begriff des Friedens umschreiben und damit den saeva arma (V. 15) gegenüberstehen. Auf der anderen Seite erklärt er – wohl zu Recht – vindex i.S.v. vindex libertatis, d. h. als „Retter der Freiheit“. Dann liegt es jedoch näher, auch die drei Genetive legum […] togaeque auf vindex zu beziehen, da in ihnen der Gedanke der Freiheit enthalten ist (damit erübrigt sich auch Bursians Konjektur illa). Der Gedanke, dass Cicero der Retter von Senat und Forum ist, ist in dessen Rede für Sestius angelegt; vgl. Cic. Sest. 128: quem curia magis requisivit, quem forum luxit? quem aeque ipsa tribunalia desideraverunt? omnia discessu meo deserta, horrida, muta, plena luctus et maeroris fuerunt.Velleius Paterculus (2,64,3) fasst ähnlich wie Cornelius Severus Ciceros (und Cannutius’) Kampf gegen Antonius als Kampf um die vindicta libertatis auf. Als vindex senatus bezeichnet Lukan (8,554) Pompeius; vgl. auch Lucan. 2,540. Mit forum werden wohl die Gerichtsverhandlungen auf dem Forum (vgl. Cic. Mur. 21) und damit in einem etwas weiteren Sinne die Gerechtigkeit bezeichnet. Für Cicero als Retter der Gesetze und des Friedens, d. h. derjenigen Werte, die die Freiheit konstituieren, vgl. dessen Selbstaussagen

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Marc. 14: semper […] mea consilia pacis et togae socia, non belli atque armorum fuerunt; Lig. 28: pacis equidem semper auctor fui; Deiot. 29; Phil. 7,8; p. red. in sen. 34: mecum leges, mecum quaestiones, mecum iura magistratuum, mecum senatus auctoritas, mecum libertas, mecum etiam frugum ubertas, mecum deorum et hominum sanctitates omnes et religiones afuerunt. Vgl. auch Lucan. 7,62– 66; Iuv. 8,240 – 244; Dahlmann (s.o.) 104 f. Für toga als Metonymie für den Frieden vgl. Cic. Marc 14 (s.o.); Phil. 2,20; Pis. 73 und die Nennung dieses Beispiels für eine Metonymie de orat. 3,167. Heinsius’ Konjektur iurisque (vgl. FPR p. 354 Baehrens) anstelle des überlieferten ritusque, die Håkanson (s.o.) übernimmt, scheint uns unbegründet zu sein. Das religiöse Element des Kultes wird von Cicero in der zitierten Passage aus seiner Rede Post reditum in senatu erwähnt (sanctitates omnes et religiones; s.o.), so dass auch der Gedanke, dass Cicero, der 53 v.Chr. Augur war, der Retter des Kultes ist, dort vorbereitet ist. 15 publica vox: Für Cicero als die publica vox vgl. Vell. 2,66,2: abscisa […] scelere Antonii vox publica est. Lukan sagt mit Bezug auf C. Curio vox populi (Lucan. 1,270). Auch in diesem Fall bietet Cicero selbst die Vorlage: vgl. Cic. Catil. 4,19: atque haec, non ut vos, qui mihi studio paene praecurritis, excitarem, locutus sum, sed ut mea vox, quae debet esse in re publica princeps, officio functa consulari videretur. saevis aeternum obmutuit armis: Mit diesen Worten endet die Vergegenwärtigung von Ciceros Leistungen. Obmutuit stellt einen Bezug zu conticuit (V. 11) her, so dass das Verstummen des Redners Cicero ein zweites Mal ausgedrückt ist. Jedoch ist der Kontext hier ein anderer, denn Cicero als die publica vox wird umrahmt von seinen Bemühungen um Frieden und Freiheit (V. 14) und seiner nahezu kriegerischen Ermordung (saevis […] armis). Für den adverbiellen Gebrauch des Akkusativs aeternum vgl.Verg. Aen. 6,400 f.: licet ingens ianitor antro / aeternum latrans exsanguis terreat umbras; 6,617 f. Das Adjektiv saevus wird dichterisch häufig mit Bezug auf arma gebraucht; vgl. Verg. Aen. 8,482; 12,890; Ov. trist. 1,5b,29; Lucan. 4,578; Sil. 4,253; 10,310; 11,231; 12,716; Stat. Theb. 8,179. 16 – 20 informes voltus … respexit: Das Subjekt dieses Satzes (civis; V. 18) wird erst im nächsten Satz präzisiert: Antonius. Mit der Beschreibung der Schändung von Ciceros Kopf und Händen wird der Bogen zum Anfang des Fragmentes (V. 1 f.) geschlagen, wo Cornelius Severus schildert, dass Ciceros Kopf auf der Rednertribüne ausgestellt war. Nach Dahlmann (1975) 106 ist proculcavit (V. 19) und damit der ganze hier ausgedrückte Vorgang der Schändung übertragen zu verstehen, d. h.: Antonius tritt nicht wirklich Ciceros Kopf und Hände mit den Füßen, sondern diese liegen nach wie vor auf den rostra (vgl. V. 1 f.). Die hier geschilderte Schändung sei eine Bewertung der Tatsache, dass Ciceros Gliedmaßen auf den

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rostra zur Schau gestellt wurden. Diese Meinung ist aber anzuzweifeln. Denn zum einen berichtet Cassius Dio (47,8,4) von einer Schändung in diesem Zusammenhang; ihm zufolge hat Fulvia Ciceros Kopf bespuckt und seine Zunge durchstochen. Zum anderen gibt es für Details der von Cornelius Severus erzählten Schändung Parallelen bei den Historikern (s. die folgenden Anmerkungen). 16 – 17 informes voltus sparsamque cruore nefando / canitiem: Vgl. Cremutius Cordus in § 19: [sc. conspectus est] praependenti capiti orique eius inspersa sanie […]. Für sparsus cruore vgl.Verg. Aen. 4,664 f.: aspiciunt comites ensemque cruore / spumantem sparsasque manus; 12,308; Ov. fast. 4,635 f.; epist. 7,127 f.; Hor. carm. 2,13,7; Sen. Agam. 448. 17– 18 sacrasque manus operumque ministras / tantorum: Cornelius Severus steht in der Tradition derjenigen Historiker bzw. Schriftsteller, nach denen Cicero beide Hände abgeschlagen und zur Schau gestellt wurden; vgl. Livius in § 17, Bruttedius Niger in § 21; Plut. Cicero 48,5. Für die Überlieferung, dass Cicero nur die rechte Hand abgeschlagen wurde, s. die Einleitung. Für die auf manus bezogenen Attribute sacrae und operum ministrae vgl. Cremutius Cordus in § 19 mit dem Kommentar zur Stelle. Bei Cremutius Cordus ist jedoch unklar, ob Ciceros rechte Hand eher für dessen Gestikulation oder für die Abfassung seiner Werke steht. Hier legt das Wort opus einen Bezug auf Ciceros geschriebenes Werk nahe (vgl. Homeyer [1961] 330). Für Ciceros Hand als Schreibinstrument vgl. Livius in § 17 mit dem Kommentar zur Stelle: manus quoque scripsisse aliquid in Antonium exprobrantes praeciderunt [sc. milites]. Martial (3,66,2) benutzt das Attribut sacer mit Bezug auf Ciceros (und Pompeius’) Kopf: abscidit voltus ensis uterque sacros; Lukan (8,677 und 669) mit Bezug auf Pompeius’ Kopf. 18 – 19 pedibus civis proiecta superbis / proculcavit ovans: Vor allem durch ovans wird das Bild eines Triumphators gezeichnet; vgl. Dahlmann (1975) 106: „Gleichsam im Zuge einer ovatio, eines Triumphes zu Fuß tritt der Sieger Antonius überheblich mit seinen Füßen auf die Glieder des unter ihm am Boden liegenden toten geschändeten Gegners“. Antonius’ Freude über die Ausstellung von Ciceros Gliedmaßen berichtet auch Cremutius Cordus in § 19: quibus visis laetus Antonius, cum peractam proscriptionem suam dixisset esse (quippe non satiatus modo caedendis civibus sed differtus quoque), super rostra exponit. Valerius Maximus (5,3,4) erwähnt Popilius’ Freude über den Auftrag, Cicero zu ermorden. Cornelius Severus baut hier zwei Kontraste auf: zum einen denjenigen zwischen dem hochmütigen Antonius und Ciceros sacrae manus, die ebenso wie sein Kopf das Signifikat des Neutrum Plurals proiecta sind. Zum anderen ist civis der Gegenpol der Antithese, die in den Versen 21– 25 ausgebreitet wird: ein Mitbürger hat Cicero dies angetan

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und nicht – wie man erwarten müsste – ein auswärtiger Feind. Für civis in diesem Zusammenhang vgl. Livius in § 17: vix attollentes lacrimis oculos homines intueri trucidata membra civis poterant. Pedibus […] superbis steht wohl ἀπὸ κοινοῦ als Dativobjekt zu proiecta und als instrumenteller Ablativ zu proculcavit (V. 19). Eine Parallele für die Junktur pes superbus findet sich nur in Senecas Medea (252 f.): non esse me qui sceptra violentus geram / nec qui superbo miserias calcem pede. 19 – 20 nec lubrica fata deosque / respexit: Der Topos des sich wandelnden Schicksals dient hier der Kritik, ja nahezu der „Verfluchung“ (Homeyer [1961] 331) des Antonius, der damit rechnen muss, dass er für sein Verbrechen büßen wird, wie aus dem Folgenden hervorgeht. Wie bei Vergil stehen das Schicksal und die Götter als diejenigen Instanzen, die über das menschliche Handeln gebieten, nebeneinander (vgl. Dahlmann [1975] 109): Aen. 3,395; 4,651; 5,707; 6,45 f.; 8,512 u. ö. Die Junktur lubrica fata ist sonst nicht belegt. Dahlmann (s.o.) fasst lubrica (fata) nicht als „schlüpfrig“ i.S.v. „schwankend“ auf (vgl. etwa O. & E. Schönberger [2004] 300), sondern i.S.v. „ungreifbar“, d. h. er nimmt den Sinn der „Unfassbarkeit“ an, „dass man im Unklaren über ihr Wesen, ihren Willen ist, den man mit Gewißheit nicht zu erkennen vermag“. Es lässt sich wohl nicht entscheiden, welcher dieser beiden Aspekte von lubricus hier gemeint ist, und sie gehören so eng zusammen, dass sie sich kaum trennen lassen. Lubricus ist daher nahezu gleichbedeutend mit incertus (vgl. Zanon dal Bo [1988] 181); vgl. Sen. dial. 2,5,7: omnium enim extrinsecus adfluentium lubrica et incerta possessio est. Für die Götter als Rächer des Unrechts vgl. Tib. 1,8,72: nescius ultorem post caput esse deum; Sen. Herc.f. 385: sequitur superbos ultor a tergo deus. Für den Vorwurf der Gottlosigkeit gegen Antonius vgl. Cic. Phil. 1,25. 20 nullo luet hoc Antonius aevo: Das Verbrechen, das Antonius begangen hat, ist so groß, dass er es zu keiner Zeit abbüßen wird, da es keine adäquate Strafe gibt. Dahlmanns (1975) 110 widersprüchlicher Aussage, dass Antonius seine Verbrechen durch den Tod sühnen wird, wird man daher nicht zustimmen können. Für die Emphase vgl. diejenige Vergils am Ende der Nisus-Euryalus-Geschichte (Aen. 9,447): nulla dies umquam memori vos eximet aevo. 21– 25 hoc nec … sub umbras: Abschließend kontrastiert Cornelius Severus die Milde, die Rom auswärtigen Feinden zuteil werden ließ, mit der Grausamkeit, die Antonius seinem Mitbürger Cicero (vgl.V. 18: civis) angetan hat, indem er ihn tötete und verstümmelte. Die fünf folgenden Beispiele für die Milde der siegreichen Römer haben gemeinsam, dass die Feinde (a) nicht getötet (die ersten drei Beispiele) oder (b) nicht verstümmelt wurden (die letzten beiden Beispiele); vgl. Hollis (2007) 365. Der Binnendifferenzierung in die Gruppen (a) und (b) entspricht

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der Wechsel der grammatikalischen Konstruktion: Die ersten drei Beispiele sind von mitis victoria […] non fecit abhängig; dann wechselt die Konstruktion zu ludibria cuncta afuerunt in bzw. tulit membra inviolata sub umbras. Auch Martial klagt in einem Epigramm (3,66) Antonius an, indem er Ciceros Tötung mit derjenigen des Pompeius vergleicht, der von dem Ägypter Pothinus ermordet wurde (vgl. § 6 mit dem Kommentar zur Stelle), und zu dem Ergebnis kommt, dass Antonius’ Verbrechen das schlimmere ist. In einem anderen Epigramm (5,69) lässt er den Gedanken, dass Antonius’ Tat sogar Catilinas Gewaltpotenzial übersteigt, in einer dieser Stelle ähnlichen Formulierung kulminieren (V. 1– 4): Antoni Phario nihil obiecture Pothino / et levius tabula quam Cicerone nocens, / quid gladium demens Romana stringis in ora? / hoc admisisset nec Catilina nefas. Cornelius Severus’ indirekter Vorwurf an Antonius, sich nicht an den mos maiorum gehalten zu haben, wird von Cicero an denjenigen Stellen der Philippiken vorbereitet, an denen er Antonius auffordert, dies zu tun, bzw. konstatiert, dass er es nicht tut; vgl. Phil. 1,35: flecte te, quaeso, et maiores tuos respice atque ita guberna rem publicam, ut natum esse te cives tui gaudeant; 13,18: qua enim in barbaria quisquam tam taeter, tam crudelis tyrannus quam in hac urbe armis barbarorum stipatus Antonius? Für die Milde im Sieg, die die Römer als einen Teil ihrer eigenen Tradition betrachteten, vgl. Cic. off. 1,35: parta […] victoria conservandi [sc. sunt] ii, qui non crudeles in bello, non inmanes fuerunt, ut maiores nostri Tusculanos, Aequos, Volscos, Sabinos, Hernicos in civitatem etiam acceperunt, at Karthaginem et Numantiam funditus sustulerunt; Verg. Aen. 6,853: [sc. Romane memento] parcere subiectis; Hor. carm. saec. 51 f. Die negative Form dieses Satzes, die der Empörung Ausdruck verleiht, ist mit Ov. Pont. 3,3,41– 44 vergleichbar: at non Chionides Eumolpus in Orphea talis, / in Phryga nec Satyrum talis Olympus erat, / praemia nec Chiron ab Achille talia cepit, / Pythagoraeque ferunt non nocuisse Numam. Bei Juvenal (10,286 – 288) liegt nicht nur dieselbe Form, sondern ein vergleichbarer Anlass vor, nämlich Pompeius’ Tötung und das Abschlagen seines Kopfes: hoc cruciatu / Lentulus, hac poena caruit ceciditque Cethegus / integer et iacuit Catilina cadavere toto. 21 hoc nec in Emathio mitis victoria Perse: Die Römer besiegten 168 v.Chr. unter Führung des Aemilius Paulus den makedonischen König Perseus (vgl. RE XIX 1 s.v. Perseus 5, Sp. 996 – 1021) in der Schlacht bei Pydna am Ende des Dritten Makedonischen Krieges. Aemilius Paulus empfing den besiegten Perseus im Anschluss an die Schlacht äußerst wohlwollend in seinem Zelt und sicherte ihm zu, nicht getötet zu werden (vgl. Liv. 45,7,5 f.; 45,8,5; Val. Max. 5,1,8; Flor. 1,28,10). Perseus wurde zwar im Triumphzug mitgeführt (vgl. Liv. 45,40,6; Flor. ib.), jedoch nicht hingerichtet, sondern ins Gefängnis geworfen (vgl. Liv. 45,28,11; Vell. 1,11,1). Nach

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seinem Tod wurde er auf Staatskosten bestattet (vgl. Val. Max. 5,1,1). Für das dichterische Emathius bzw. das Substantiv Emathia als Pars pro toto für Makedonien vgl. Verg. georg. 1,489 und 4,390; Lucan. 1,1. 22 nec te, dire Syphax: Den Numiderkönig Syphax (vgl. RE IV A 2 s.v. Syphax, Sp. 1472– 1477) besiegte Scipio Africanus am Ende des Zweiten Punischen Krieges. Unter dem Gesichtspunkt des milden Sieges der Römer trifft auf Syphax dasselbe zu wie auf Perseus: Auch sein Leben wurde dadurch verschont, dass er ins Gefängnis geworfen wurde (vgl. Liv. 30,13,8; 30,17,1 f.). Hinsichtlich der Frage, ob Syphax in Scipios Triumphzug mitgeführt wurde, sind sich die Historiker uneins: Nach Liv. 30,45,2– 4 und App. Lib. 28 starb Syphax kurz vor dem Triumphzug; nach Polybius (16,23,6; Liv. ib.) wurde er im Triumphzug mitgeführt. Vgl. auch Val. Max. 6,2,3 und Tac. ann. 12,38,1, die Syphax und Perseus als Beispiele für im Triumph mitgeführte Könige nennen; auch Sil. 17,629 f. lässt Syphax den Triumphzug miterleben. Und ebenso wie Perseus wurde auch Syphax nach seinem Tod ein öffentliches Begräbnis zuteil (vgl. Liv. 30,45,4; Val. Max. 5,1,1). Dirus ist ein äußerst negativ besetztes Attribut (vgl. Hor. carm. 3,6,36 mit Bezug auf Hannibal) und macht deutlich, wie groß die Milde der Römer im Fall von Syphax war; für den Bezug von dirus auf Syphax vgl. Claud. carm. 15,90. Zu te am Versanfang ist die Präposition in aus V. 21 hinzuzudenken; für diese Form der Aussparung vgl. Curt. 5,1,1: vel in Graecis vel Illyriis; Cic. Brut. 70: in Aetione, Nicomacho, Protogene, Apelle; Lucr. 5,128 f.: sicut in aethere non arbor, non aequore salso / nubes esse queunt; Liv. 31,2,1: et ab Attalo rege et Rhodiis; K.-St. II 1, S. 580 f. Daher ist Baehrens’ (FPR p. 354) Konjektur tibi anstelle von te unberechtigt. non fecit 〈in〉 hoste Philippo: Die Identität von Philipp ist umstritten. Edward (1928) 147 und Håkanson ad loc. identifizieren ihn mit (Pseudo‐)Philipp, der eigentlich Andriskos hieß (vgl. RE I 2 s.v. Andriskos 4, Sp. 2141– 2143; Liv. perioch. 49) und sich als Perseus’ Sohn ausgab. Dieser wurde 148 v.Chr. von Q. Caecilius Metellus besiegt, der im Jahr 146 v.Chr. einen Triumph über ihn feierte (vgl. Liv. perioch. 52; App. Lib. 135). Dahlmann (1975) 114, Courtney (1993) 327 und Hollis (2007) 366 halten den hier genannten Philipp für den Makedonenkönig Philipp V. (vgl. RE XIX 2 s.v. Philippos 10, Sp. 2303 – 2331), der im Zweiten Makedonischen Krieg (200 – 197 v.Chr.) bei Kynos-Kephalai von T. Quinctius Flamininus besiegt wurde und daraufhin Gebietsverluste hinnehmen musste, jedoch sein Königreich Makedonien behalten durfte (vgl. Liv. 33,13) und im Triumphzug nicht mitgeführt wurde (vgl. ib. 34,52,9). Diese Meinung teilen auch wir. Denn Andriskos ist im Vergleich zu Philipp V. eher eine historische Randfigur. Außerdem wird er in der Regel „Pseudophilippus“ genannt (vgl. Vell. 1,11,1; Tac. ann. 12,62; App. Lib. 135), und es ist uns im Zusammenhang mit der Niederlage gegen Q. Caecilius Metellus

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6 suas. 6

kein Ereignis überliefert, an dem sich die Milde der Römer belegen ließe. Edwards (s.o.) Warnung vor einer Identifizierung mit Philipp V., da dieser niemals von den Römern gefangen genommen wurde, ist nicht begründet, da er davon auszugehen scheint, dass Milde nur darin besteht, einen Besiegten ins Gefängnis zu werfen, anstatt ihn zu töten. Hier besteht die Milde der Römer jedoch darin, dass Philipp V. in seinem Amt belassen und nicht im Triumphzug mitgeführt wurde. Bei in handelt es sich um eine Ergänzung der Editio Veneta (1490) (vgl. Håkanson [1989] 367), die aus metrischen Gründen notwendig und einfacher zu sein scheint als Kiesslings (1872) 48 Konjektur fecerat anstelle von fecit. Der Ausdruck facere in aliquo wird von Homeyer (1961) 331 zu Unrecht als umgangssprachlich klassifiziert, da in hier „im Fall von“ bedeutet; vgl. Cic. Verr. II 2,155; vgl. ferner licere in aliquo in § 6. 23 – 24 inque triumphato ludibria cuncta Iugurtha / afuerant: Jugurtha wurde in Marius’ Triumphzug am 1. Januar 104 v.Chr. (vgl. Sall. Iug. 114) mitgeführt und anschließend in das Gefängnis Tullianum geworfen, in dem er nach sechs Tagen verhungerte (vgl. Liv. perioch. 67; Plut. Marius 12,3 – 5). Insofern mag sein Tod zwar grausam erscheinen, aber als Beispiel ist er geeignet, um zu zeigen, dass die Römer ihm gegenüber relative Milde zeigten, indem sie seinen Leichnam nicht verstümmelten. Für triumphatus Iugurtha vgl. Lucan. 2,90. Triumphare kann im Passiv (meist als Partizip Perfekt), wie Dahlmann (1975) 114 f. anhand von Parallelen deutlich macht, zweierlei bedeuten, nämlich entweder „im Triumphzug gezeigt werden“ (vgl. OLD s.v. triumpho 3) oder „Anlass für einen Triumphzug sein“ (vgl. ib. 3b). An dieser Stelle liegt eher die erste Bedeutung vor, die auch Dahlmann annimmt. Das Substantiv ludibrium wird an dieser Stelle zum ersten Mal eindeutig i.S.v. „Verstümmelung“ benutzt; vgl. ThLL VII 1758,5 – 29; Lucan. 9,14. Anstelle des überlieferten afuerat liest Kiessling (1872) 48 afuerant, wohingegen die übrigen Herausgeber mit Bursian (1857) 38 und Heinsius (vgl. FPR p. 354 Baehrens) afuerunt lesen. Da wir die Annahme eines Wechsels vom Perfekt zum Plusquamperfekt für einfacher halten als die Annahme einer kurzen Paenultima bei afuerunt, lesen wir wie Kiessling afuerant. Zudem lässt sich afuerant leichter aus dem überlieferten afuerat herstellen. Das Plusquamperfekt scheint eine alte Emendation zu sein, da sie schon im Elzevierdruck (1672) 50 vorliegt (abfuerant). 24 – 25 nostraeque cadens ferus Hannibal irae / membra tamen Stygias tulit inviolata sub umbras: Vgl. Sil. 11,383 f. (über Decius): quieto / accepit tellus ossa inviolata sepulchro; 13,874 f. (über Hannibal): non vita sequetur / inviolata virum: patria non ossa quiescent. Hannibal nahm sich 183 v.Chr. in Bithynien am Hofe des Königs Prusias durch Gift das Leben und kam so der Auslieferung an T. Quinctius Flamininus zuvor (vgl. Liv. 39,51). Für den Dativ nach cadere i.S.v. „zum Opfer

6.2 Kommentar

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fallen“ vgl. z. B. contr. 10,3,16: non est, quod putes illam cecidisse irae patris; contr. 9,2,8: illud rogo, legi potius quam scorto cadat. Das Epitheton ferus mit Bezug auf Hannibal liegt nur noch bei Claudian vor (carm. 26,386). Dass Cornelius Severus dieses Adjektiv wählt, liegt wohl daran, dass er das Standardadjektiv mit Bezug auf Hannibal, das stärkere dirus (vgl. Dahlmann [1975] 116), schon für Syphax (V. 22) verwendet hat. Zorn und Milde stehen hier nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich dadurch, dass durch Hannibals Tod der Zorn der Römer besänftigt wurde und Milde in der Form angewendet werden konnte, dass sein Leichnam nicht verstümmelt wurde. § 27 Non fraudabo municipem nostrum bono versu, ex quo hic multo melior Severi Cornelii processit: conticuit Latiae tristis facundia linguae: Seneca d.Ä. gibt hier an, dass Vers 11 aus dem Fragment des Cornelius Severus ein Vorbild bei dem aus Corduba stammenden Dichter Sextilius Ena habe. Gleichzeitig bewertet er die Abhängigkeit zwischen den beiden Dichtern, indem er Cornelius Severus’ Vers als besser einstuft. Damit spricht Seneca d.Ä. einmal mehr in der Rolle des auf literarische Abhängigkeiten bedachten Literaturkritikers (wie suas. 3,4 f. über Fuscus’ misslungene Vergilimitation und ib. 7 über Ovids Vergilnachahmung; vgl. auch suas. 1,12 und 2,19 f.). Für Corduba als die Heimat des älteren Seneca und seiner Familie vgl. Mart. 1,61,8 und Griffin (1972). Das Bemühen, Äußerungen ihrem ursprünglichen Erfinder zuzuweisen, wird auch in der praefatio zum ersten Kontroversienbuch deutlich (contr. 1 praef. 10 f.). SEXTILIVS ENA fuit homo ingeniosus magis quam eruditus, inaequalis poeta et plane quibusdam locis talis, quales esse Cicero Cordubenses poetas ait, 〈pingue〉 quiddam sonantis atque peregrinum: Seneca d.Ä. nennt nicht gleich den entsprechenden Vers des Sextilius Ena, sondern stellt diesen Dichter kurz vor und berichtet anschließend von der Situation, in der er den Vers rezitiert hat, so dass hier eine Anekdote erwächst. Über Sextilius Ena ist uns ansonsten nichts bekannt (in der RE ist er nicht verzeichnet); vgl. Echavarren (2007) 245 f. Inaequalis bedeutet wohl, dass er ein Dichter „von wechselnder Qualität“ (O. & E. Schönberger [2004] 301), d. h. mit Stärken und Schwächen war; vgl. contr. 3 praef. 18: declamationes eius inaequales erant; Mart. 7,90,1. Die Bemerkung über die Dichter aus Corduba, die Seneca d.Ä. hier zitiert, trifft Cicero in der Rede Pro Archia poeta beiläufig, um zu untermauern, wie verzweifelt Q. Metellus Pius Dichter suchte, die seine Taten darstellen könnten (Arch. 26): qui praesertim usque eo de suis rebus scribi cuperet, ut etiam Cordubae natis poetis, pingue quiddam sonantibus atque peregrinum, tamen auris suas dederet. H. & K. Vretska ad Cic. Arch. 26 verstehen pingue i.S.v. „schwülstig“ und beziehen das Adjektiv sowohl auf die Aussprache als auch auf den Stil der Dichter aus Corduba.Wie jedoch die Worte sonantibus und

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6 suas. 6

auris suas deutlich machen, ist dort nur die Aussprache gemeint,weshalb auch die Übersetzung „schwülstig“ fehl am Platz ist. Pinguis bedeutet mit Bezug auf die Aussprache „breit“ (vgl. OLD s.v. pinguis 4); vgl. Quint. inst. 1,7,27: illud nunc melius, quod „cui“ tribus quas praeposui litteris enotamus, in quo pueris nobis ad pinguem sane sonum qu et oi utebantur, tantum ut ab illo „qui“ distingueretur). Die Eigenart der hispanischen Aussprache des Lateins erwähnt Seneca d.Ä. auch in der Praefatio des Werkes mit Bezug auf Latro (contr. 1 praef. 16); vgl. auch contr. 2,4,8. Peregrinum bezeichnet hier wie Cic. de orat. 3,44 einen Verstoß gegen die Latinitas auf der Ebene der Aussprache. is hanc ipsam proscriptionem recitaturus in domo Messalae Corvini Pollionem Asinium advocaverat et in principio hunc versum non sine assensu recitavit: ‘Deflendus Cicero est Latiaeque silentia linguae’: Für das Fragment (vgl. FPR p. 355 Baehrens; FPL p. 119 Morel; p. 152 Büchner; p. 295 f. Blänsdorf; Courtney [1993] und [2003] 329; Hollis [2007] 338 f.) vgl.Vers 11 aus dem Fragment des Cornelius Severus (§ 26) mit dem Kommentar zur Stelle. Die Situation, in der Sextilius Ena die Vorlage für Cornelius Severus’ Imitation lieferte, war eine Rezitation im Hause des Messala Corvinus, bei der er ein Gedicht über die Proskriptionen aus dem Jahr 43 v.Chr. vortrug. Diese Stelle lässt sich unseres Erachtens heranziehen, um eine andere Stelle aus dem Werk des älteren Seneca zu erklären, die in der Forschung umstritten ist (contr. 4 praef. 2): Pollio Asinius numquam admissa multitudine declamavit, nec illi ambitio in studiis defuit; primus enim omnium Romanorum advocatis hominibus scripta sua recitavit. Dalzell (1955) hat sich in einem Aufsatz mit den vorigen Erklärungsversuchen auseinandergesetzt und eine neue These aufgestellt. Die Rezitation an sich kann Asinius Pollio nicht eingeführt haben, da schon früh die Werke von Dichtern wie Ennius und Naevius von Grammatikern öffentlich rezitiert wurden (vgl. Suet. gramm. 2; 11; 16). Das Phänomen, dass Dichter ihre eigenen Werke rezitieren, hat Asinius Pollio wahrscheinlich auch nicht eingeführt, da eine Stelle aus einer Satire des Horaz den Eindruck erweckt, dass der Brauch schon älter ist (leider ist sowohl unklar, wann Asinius Pollio die Neuerung eingeführt hat, als auch, wann die Satire 1,4 entstanden ist); vgl. Hor. sat. 1,4,73 – 76: nec recito cuiquam nisi amicis idque coactus / non ubivis coramve quibuslibet. in medio qui / scripta foro recitent, sunt multi quique lavantes: / suave locus voci resonat conclusus. Dalzell (s.o.) 26 – 28 hält die Angabe advocatis hominibus für synonym mit admissa multitudine (contr. 4 praef. 2; s. o.) und wertet sie so aus, dass Asinius Pollio öffentliche Rezitationen im großen Stil eingeführt und möglicherweise die von ihm gegründete, erste öffentliche Bibliothek in Rom hierzu genutzt hat. Dieser These ist zu widersprechen, da Sueton (gramm. 2) über die frühen Grammatikerrezitationen sagt, dass sie in magna frequentia stattfanden, und dasselbe von den Rezitationen, von denen

6.2 Kommentar

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Horaz berichtet, angenommen werden muss. Unserer Meinung nach müssen die Worte advocatis hominibus so interpretiert werden, dass Asinius Pollios Neuerung darin besteht, Einladungen zu Rezitationen zu verschicken und den Rezitationen damit einen halböffentlichen Charakter zu geben. Diese Meinung wurde in der Forschung bereits vertreten (vgl. Dalzell [s.o.] 22). Sie lässt sich durch die hier vorliegende Stelle stützen, da Sextilius Ena offenbar Asinius Pollio zur Rezitation eingeladen hat und damit eine Parallele für das Phänomen der Einladung vorliegt. Schließlich lässt sich durch diese Interpretation die Gegenüberstellung von admissa multitudine und advocatis hominibus (contr. 4 praef. 2) am besten erklären: Asinius Pollio deklamierte niemals öffentlich, rezitierte aber vor einem halböffentlichen (elitären) Publikum. Die Angabe, dass Sextilius Ena in Messalas Haus rezitiert hat, darf man wohl so verstehen, dass er wie Tibull zu dessen Zirkel gehörte. Pollio Asinius non aequo animo tulit et ait: ‘Messala, tu, quid tibi liberum sit in domo tua, videris; ego istum auditurus non sum, cui mutus videor’; atque ita consurrexit: Asinius Pollio fühlt sich beleidigt, weil der zitierte Vers impliziert, dass seine rednerischen Fähigkeiten offenbar so unbedeutend sind, dass die Qualität der lateinischen Beredsamkeit ausschließlich mit Cicero zusammenhängt. In diesem Zusammenhang ist auch der Groll zu sehen, den Asinius Pollio gegen Ciceros Andenken hegte; vgl. §§ 14 f. mit dem Kommentar zur Stelle: infestissimus famae Ciceronis permansit. Für das Futur II videris mit hortativem Charakter (vgl. K.-St. II 1, S. 149) vgl. Cic. Phil. 2,118: sed de te tu videris, ego de me ipse profitebor. Enae interfuisse recitationi Severum quoque Cornelium scio, cui non aeque displicuisse hunc versum quam Pollioni apparet, quod meliorem quidem sed non dissimilem illi et ipse composuit: Seneca d.Ä. untermauert seine Behauptung, dass Cornelius Severus den zitierten Vers des Sextilius Ena imitiert hat, durch die Angabe, dass Cornelius Severus der Rezitation beigewohnt hat. Sein eingangs geäußertes Urteil, dass Cornelius Severus’ Vers besser als derjenige des Sextilius Ena ist, wiederholt er an dieser Stelle. Da eorum wenig sinnvoll ist (man müsste darunter Sextilius Ena und den Gastgeber Messala verstehen), übernehmen wir wie alle modernen Herausgeber Jahns Konjektur Severum. Auch an allen anderen Stellen, an denen Seneca d.Ä. den Dichter nennt (suas. 2,12; §§ 25 – 27), wird er mit dem vollen Namen Cornelius Severus genannt. Si hic desiero, scio futurum, ut vos illo loco desinatis legere, quo ego a scholasticis recessi; ergo, ut librum velitis usque ad umbilicum revolvere, adiciam suasoriam proximae similem: Seneca d.Ä. fügt die siebente Suasorie

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6 suas. 6

an, damit seine Söhne nicht in Paragraph 14 dieser Suasorie die Lektüre beenden, da er dort anfängt, die Historiker zu zitieren. Dieser Passus bezieht sich auf das in § 16 gegebene Versprechen satisfaciam vobis, womit die Fortführung der Suasorienexzerpte gemeint ist (s. den Kommentar zur Stelle). Auf der anderen Seite dient dieser Passus der Überleitung zur nächsten Suasorie. Dieselbe Funktion erfüllt eine Stelle am Ende der zweiten Suasorie (suas. 2,23), an der Seneca d.Ä. das Versprechen aufgreift, das er zuvor gegeben hatte (ib. 10), nämlich Fuscus’ Beschreibungen wiederzugeben, und gleichzeitig zur nächsten Suasorie überleitet; vgl. suas. 2,23 mit dem Kommentar zur Stelle: sed ne vos diutius infatuem, quia dixeram me Fusci Arelli explicationes subiecturum, finem suasoriae faciam. Birts (1882) 155 f. Ansicht, dass zwischen der sechsten Suasorie und dem umbilicus ohne die Hinzufügung der siebenten Suasorie eine Reihe leerer Seiten liegen würde und ein Mindestmaß der antiken Buchrolle unterschritten wäre, ist nicht überzeugend. Sie geht von der falschen Annahme aus, dass Seneca d.Ä. befürchtet, dass seine Söhne die Lektüre beenden, „sobald er für sie zu schreiben aufhört“. Seine Furcht liegt nicht darin, dass die Suasoriensammlung zu kurz ist, sondern – wie geschildert –, dass seine Söhne in § 14 aufhören weiterzulesen. Die siebente Suasorie dient nicht als Lückenbüßer, sondern als Instrument, durch das die Söhne des älteren Seneca dazu motiviert werden sollen, auch die Historikerfragmente zur Kenntnis zu nehmen. Ob die Angabe a scholasticis „von den Deklamatoren“ (vgl. suas. 3,6) oder „von den Deklamationen“ (für scholastica i.S.v. „Schulrede“ vgl. contr. 1 praef. 12; s. S. 7 und 34) bedeutet, kann nicht angegeben werden. Warmingtons Konjekturen suasoriam proxime oder suasoriae proximam anstelle von suasoriam proximae (apud Winterbottom [1974] II 592 Fußn. 1) sind überflüssig. Möglicherweise sind sie entstanden, weil übersehen wurde, dass proximus hier insofern die vorige Suasorie (suas. 6) bezeichnen kann, als sie eigentlich in § 14 endet, wie Håkanson ad loc. kommentiert. Ebenso unnötig ist die Supplierung von scribere hinter desiero, die Bonnet (1889) 141 vorschlägt. Für absolutes bzw. elliptisches desinere vgl. suas. 1,1: aiunt […] nec usquam rerum naturam desinere.

7 suas. 7 7.1 Einleitung S. die Einleitung zu suas. 6.

Die Genese dieses Suasorienthemas Für die Genese dieses Suasorienthemas vgl. suas. 6,14 f. mit dem Kommentar zur Stelle. Wie wir dort erfahren, hat Asinius Pollio mit seiner üblen Nachrede gegenüber Cicero Anlass zur sechsten und siebenten Suasorie gegeben. Aufschlussreich sind jedoch die Differenzen im Detail, die zwischen dem Thema dieser Suasorie – und zwar zum einen, wie es hier steht, und zum anderen, wie es Seneca d.Ä. in der vorigen Suasorie zitiert hat – und Asinius Pollios Aussagen bestehen, die zur Konstruktion dieser Suasorie geführt haben. Seneca d.Ä. hat das Thema dieser Suasorie zuvor folgendermaßen wiedergegeben (suas. 6,14): deliberat Cicero, an salutem promittente Antonio orationes suas comburat. Der Unterschied zwischen den beiden Versionen dieses Themas ist gering: Dort heißt es, dass Cicero „seine Reden“ verbrennen soll, hier ist von seinen „Schriften“ die Rede. Quintilian wiederum kennt eine Version dieses Suasorienthemas, in der die Philippischen Reden genannt werden.⁹⁴ Deswegen ist davon auszugehen, dass das Thema dieser Suasorie je nach Rhetorikschule bzw. dem öffentlichen Anlass der Deklamation mal die Angabe orationes suae, mal scripta sua und mal Philippicae enthielt.⁹⁵ Ein zweiter Unterschied, und zwar derjenige, der zwischen Asinius Pollios Cicero-Verunglimpfung und den verschiedenen Versionen dieses Suasorienthemas besteht, wiegt schwerer. Denn Asinius Pollio behauptet (suas. 6,15), dass Cicero sich, ohne zu zögern, von den Philippiken losgesagt und versprochen habe, sozusagen ‘Antiphilippiken’ öffentlich vorzutragen. Davon jedoch, dass er seine Philippischen Reden verbrennt, ist keine Rede. Das Element der Verbrennung haben wohl die Rhetoren mit dem Ziel, Dramatik zu erzeugen, in diese Suasorie integriert. Kohl rückt die Genese dieses Suasorienthemas und die Bücherver-

94 Vgl. Quint. inst. 3,8,46: quare et cum Ciceroni dabimus consilium ut Antonium roget, vel etiam ut Philippicas, ita vitam pollicente eo, exurat […]. 95 Für das Phänomen, dass verschiedene Versionen desselben Themas kursieren, vgl. die Kontroversie 7,5, in der einige Deklamatoren die Präsenz eines Lichtes voraussetzen (Triarius in § 2, Iulius Bassus in § 5, Latro in § 6), obwohl sich diese Angabe nicht im Thema findet.

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7 suas. 7

brennung, der Labienus’ Werk zum Opfer gefallen ist, in einen Zusammenhang.⁹⁶ Über diese berichtet Seneca d.Ä. in der Praefatio zum zehnten Kontroversienbuch:⁹⁷ in hoc [sc. T. Labieno] primum excogitata est nova poena; effectum est enim per inimicos, ut omnes eius libri comburerentur. res nova et inusitata, supplicium de studiis sumi. bono hercules publico ista in poenas ingeni versa crudelitas post Ciceronem inventa est. quid enim futurum fuit, si triumviris libuisset et ingenium Ciceronis proscribere?

Da die Bücherverbrennung in Labienus’ Fall eine Neuheit war, ist die siebente Suasorie wahrscheinlich derart entstanden, dass die Rhetoren auf der einen Seite Asinius Pollios Cicero-Verunglimpfung zum Anlass nahmen. Andererseits fügten sie das Element der Bücherverbrennung hinzu,⁹⁸ wobei sie ein anachronistisches Ereignis in das Thema der Suasorie einfließen ließen, da es diese Form der Strafe zu Ciceros Zeiten in Rom noch nicht gab.⁹⁹

Datierung der Suasorie Wenn die oben beschriebene Konglomerationsthese zutrifft, könnte man versuchen, Überlegungen zur ungefähren Datierung dieser Suasorie anzustellen, indem man die Verbrennung von Labienus’ Büchern als Terminus post quem für die Konstruktion dieser Suasorie nimmt. Allerdings lässt sich diese Bücherverbrennung nicht genau datieren. Bornecque zufolge fiel Labienus’ Werk derjenigen Bücherverbrennung zum Opfer, die im Jahr 12 n.Chr. unter Augustus stattgefunden hat und von der Cassius Dio (56,27,1) berichtet:¹⁰⁰ καὶ μαθὼν [sc. Αὔγουστος] ὅτι βιβλία ἄττα ἐφ ὕβρει τινῶν συγγράφοιτο, ζήτησιν αὐτῶν ἐποιήσατο, καὶ ἐκεῖνά τε, τὰ μὲν ἐν τῇ πόλει εὑρεθέντα πρὸς τῶν ἀγορανόμων τὰ δὲ ἔξω πρὸς τῶν ἑκασταχόθι ἀρχόντων, κατέφλεξε καὶ τῶν συνθέντων αὐτὰ ἐκόλασέ τινας.

96 Vgl. Kohl (1915) 106. 97 Contr. 10 praef. 5 f. 98 Vgl. Kohl (1915) 106. Kohls Formulierung, dass Ciceros und Labienus’ Namen miteinander ausgetauscht wurden (nominibus mutatis), ist irreführend, da es nicht so ist, dass die ursprüngliche Form der siebenten Suasorie lautete deliberat Labienus, an scripta sua comburat promittente Antonio incolumitatem, si fecisset. 99 Vgl. aber Diog. Laert. 9,40 (s. den Kommentar zu § 11); Cic. nat. deor. 1,63 (über Protagoras). 100 Vgl. Bornecque (1902) 177.

7.1 Einleitung

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Problematisch an dieser Datierung ist jedoch der allgemeine Charakter der Bücherverbrennung, die Cassius Dio schildert, im Gegensatz zum speziellen Charakter, den Seneca d.Ä. beschreibt. Bei Cassius Dio ist von mehreren Pamphleten von mehreren Verfassern die Rede (immerhin wissen wir von einem Pamphlet des Labienus)¹⁰¹, die Augustus verbrennen bzw. bestrafen ließ. Seneca d.Ä. spricht hingegen davon, dass im Fall von Labienus auf Senatsbeschluss zum ersten Mal die Strafe der Bücherverbrennung verhängt wurde, die sich wohl v. a. gegen sein Geschichtswerk richtete.¹⁰² Daher spricht einiges dafür, die Verbrennung von Labienus’ Schriften früher anzusetzen. Cramer meint, dass die Verbrennung von Labienus’ Büchern zwischen 6 und 8 n.Chr. stattgefunden hat.¹⁰³ Zu dieser Annahme verleitet ihn die Verbrennung von Cassius Severus’ Büchern sowie seine Verbannung nach Kreta aufgrund der Abfassung von Schmähschriften.¹⁰⁴ Diese Verbannung hat nach Hieronymus im Jahr 8 n.Chr. stattgefunden.¹⁰⁵ Da die Verbrennung von Cassius Severus’ Büchern wahrscheinlich mit seiner Verbannung verknüpft ist und die Labienische Bücherverbrennung nach Ausweis des älteren Seneca die erste war, müsste sie vor der Verbannung des Cassius Severus erfolgt sein.¹⁰⁶ Außerdem sei es denkbar, dass die Hungerkatastrophe im Jahr 8 n.Chr. die Abfassung von Pamphleten förderte, die zu der Verbrennung von Cassius Severus’ Büchern geführt habe. Cramers frühere Datierung scheint auch uns plausibler zu sein.¹⁰⁷ Sie macht aber nur wahrscheinlich, dass die Labienische Bücherverbrennung vor 8 n.Chr. stattgefunden hat. Daher kommt im Grunde genommen der gesamte Zeitraum des Augusteischen Prinzipats bis zum Jahr 8 n.Chr. für die Verbrennung von Labienus’ Büchern in Frage. Man wird sie aber eher in die Nähe von Cassius Severus’ Ver-

101 Es handelt sich um ein Pamphlet gegen Bathyllus, einen Freigelassenen des Maecenas; vgl. contr. 10 praef. 8. 102 Vgl. contr. 10 praef. 5 und 8. 103 Vgl. Cramer (1945) 173. 104 Zur Verbannung nach Kreta und der späteren Verschärfung der Strafe durch das Exil auf Seriphos und den Einzug seines Vermögens im Jahr 24 n.Chr. vgl. Tac. ann. 4,21,3. Zu den Schmähschriften vgl. ib. 1,72,3 f. 105 Hieronymus (Chron. p. 176 Helm) bemerkt zum Jahr 32 n.Chr.: Cassius Severus […] XXV exilii sui anno in summa inopia moritur. 106 Zur Verbrennung von Cassius Severus’ Büchern unter Augustus vgl. Tac. ann. 1,72,3 f.; Suet. Calig. 16,1. 107 Sie beruht allerdings auf der nicht beweisbaren Annahme, dass die Verbrennung von Cassius Severus’ Büchern mit dessen Verbannung verknüpft ist. Es wäre auch denkbar, dass die Bücherverbrennung eine spätere Verschärfung der Strafe für Cassius Severus ist, der weiterhin Schmähschriften verfasste (vgl. Tac. ann. 4,21,3). Es kann sich hierbei allerdings nicht um die Verschärfung des Exils im Jahr 24 n.Chr. handeln, da Cassius Severus’ Bücher noch unter Augustus vernichtet wurden.

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7 suas. 7

bannung und vielleicht auch zu derjenigen Ovids rücken und als eine Strafe ansehen, die Augustus im Alter vorgenommen hat.¹⁰⁸ Aus diesem Grund wird man die Labienische Bücherverbrennung in den Jahren unmittelbar vor 8 n.Chr. ansetzen. Der Terminus post quem für die Konstruktion dieser Suasorie ist also ungefähr 5 n.Chr.

7.2 Kommentar Thema Deliberat Cicero, an scripta sua comburat promittente Antonio incolumitatem, si fecisset: Zur Genese dieses Themas und zur Angabe scripta sua s. die Einleitung. Bei vielen Deklamatoren wird deutlich, dass sie unter Ciceros Schriften hauptsächlich Ciceros Reden verstehen, da sie von dem möglichen Verlust der eloquentia sprechen (vgl. Cestius in § 2; Asprenas in § 4; Pompeius Silo in § 5) und häufig aus den Reden zitieren. Für den Konjunktiv Plusquamperfekt (fecisset statt fecerit) vgl. das Thema der zweiten (fugissent statt fugerint) und vierten Suasorie (denuntiatum esset statt sit). Gertz’ Konjektur fecerit (vgl. Müller [1887] 574) ist daher unnötig.

Erster Teil (1 – 9) In diesem Abschnitt wird ausschließlich aus denjenigen Deklamationen zitiert, in denen Cicero vom Verbrennen seiner Schriften abgeraten wird, da – wie Seneca d.Ä. in § 10 angibt – niemand die Gegenseite vertreten hat. 1 Q. HATERI: Für die Tatsache, dass – ebenso wie in der sechsten Suasorie – ein Exzerpt aus Haterius’ Deklamation den Anfang bildet, vgl. suas. 6,1 mit dem Kommentar zur Stelle. Den Genetiv Hateri hat Müller (1887) 575 aus dem überlieferten alterius hergestellt (Bursian [1857] 39 und Kiessling [1872] 49 lesen Haterius). Auf ähnliche Weise ändert er suas. 6,1 die Lesart Haterius zu Hateri, da der Name der Deklamatoren vor den Exzerpten sonst immer im Genetiv steht.

108 Man denke zum Kontrast an das Lob der Redefreiheit unter Augustus, das Seneca d.Ä. contr. 2,4,12 f. mit einem Ereignis aus dem Jahr 17 v.Chr. verknüpft; vgl. für diesen Vorfall Heldmann (1982) 229 – 231.

7.2 Kommentar

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Non feres Antonium: Dasselbe Argument verwendet Haterius auch in der vorigen Suasorie (suas. 6,1): crede mihi: cum diligenter te custodieris, faciet tamen Antonius quod Cicero tacere non possit. intolerabilis in malo ingenio felicitas est, nihilque cupientis magis accendit quam prosperae turpitudinis conscientia: Es handelt sich hierbei um eine gnomische Sentenz, die Cicero vor Augen führt, welche negativen Konsequenzen die Verbrennung seiner Schriften hätte. Wie viele Deklamatoren argumentiert Haterius dabei mit Antonius’ Person. Ein textkritisches Problem stellt cupientis dar. Während Bursian (1857) 39 die Überlieferung für unproblematisch hält, setzt Kiessling (1872) 49 cupientis in Cruces und erwägt im Apparat cupidines. Müller (1887) 575 ergänzt nocere vor cupientis. Håkanson (1989) 368 ergänzt prava vor cupientis und verweist für diese Supplierung im Apparat und ad loc. auf eine Parallele bei Velleius Paterculus (2,6,4). Für die weiteren Verbesserungsvorschläge s. unseren Apparat. Da Antonius wohl deshalb als cupiens bezeichnet wird, weil er nach der Verbrennung von Ciceros Schriften trachtet, und absolutes cupiens belegt ist (vgl. Sall. Iug. 64,6; Cic. Tusc. 4,61), sollte cupientis gehalten werden. difficile est. non feres, inquam, et iterum inritare inimicum in mortem tuam cupies: Dass Cicero wiederum Antonius dazu provozieren wird, ihn zu töten, ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass er seine Kritik an ihm wiederum so deutlich wie in den Philippiken zum Ausdruck bringen wird. Der drastische Ausdruck dient dazu, Cicero mit Nachdruck vom Weiterleben unter Antonius abzuraten. Das überlieferte difficile est hat mehrere textkritische Eingriffe hervorgerufen (s. den Apparat). Håkanson (1989) 368 liest stattdessen difficilis [sc. Antonius] est, da er Anstoß an dem „neutrale[n] Begriff“ difficile zwischen non feres Antonium am Anfang und dem folgenden non feres nimmt (so Håkanson ad loc.).Wir verstehen das überlieferte difficile est als schlichten Kommentar, der zum Ausdruck bringt, dass sich die Situation, die sich der Sprecher vergegenwärtigt, schwierig gestaltet. Außerdem ist Håkansons Argument zurückzuweisen, dass der neutrale Begriff difficile est störend wirkt. Denn der Exzerptcharakter und konkret die gnomische Sentenz im vorigen Satz unterbinden einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen non feres Antonium und difficile est. Für den Kommentar difficile est vgl. Ter. Andr. 380 f.: PA. quidvis patiar. DA. pater est, Pamphile: / difficile est; allgemein zum absoluten difficilis vgl. ThLL V 1,1082,64– 83,17. Für den Wechsel der Tempora (Präsens – Futur) vgl. Haterius suas. 6,1: laudandus erit tibi Antonius; in hac causa etiam Ciceronem verba deficiunt. Quod ad me quidem pertinet, multum a Cicerone absum, tamen non taedet tantum me vitae meae, sed pudet: Haterius verwendet hier ein Argumentum a

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7 suas. 7

minori: Wenn er selbst schon, der in der Rolle eines Freundes von Cicero spricht, Scham darüber empfindet zu leben, dann muss sich Cicero erst recht schämen.Vgl. suas. 6,3 mit dem Kommentar zur Stelle, wo ein ähnliches Argumentum a minori durch Verres gebildet wird: pudeat Verrem quoque: proscriptus fortius perit. Ne propter hoc quidem ingenium tuum amas, quod illud Antonius plus odit quam te?: Hier beginnen Haterius’ Äußerungen, sich auf Ciceros ingenium zu konzentrieren. In dieser Sentenz fungiert Antonius als Kontrastfolie: Cicero soll das Gegenteil von dem tun, was Antonius bezweckt, bzw. er soll eine gegenteilige Haltung annehmen. Remittere ait se tibi, ut vivas, commentus, quemadmodum eripiat etiam, quod vixeras: Hier liegt eine paradoxe Formulierung vor, die ebenfalls auf die Bedeutung von Ciceros Schriften rekurriert: Sein schriftliches Werk zu zerstören hieße, sein Leben auszulöschen. Vgl. weiter unten: commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone, a Cicerone proscriberetur. Für remittere i.S.v. „zugestehen“ vgl. Cic. Planc. 73: te mihi remittere atque concedere, ut omne studium meum in Cn. Planci honore consumerem. Für das Präsens statt Futur (remissurum esse) vgl. suas. 6,1 mit dem Kommentar zur Stelle: in hac causa etiam Ciceronem verba deficiunt; § 9 mit dem Kommentar zur Stelle: si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies; quod ad me attinet, fallere malo. Für das Plusquamperfekt vixeras anstelle des Perfekts vgl. K.-St. II 1, S. 140 f. Hier betont das Plusquamperfekt wohl noch stärker als das Perfekt die abgeschlossene Handlung. crudelior est pactio Antonii quam proscriptio: ingenium erat, in quo nihil iuris haberent triumviralia arma: In einer weiteren pointierten Formulierung (hier wiederum in Form eines Paradoxons) wird die Schwere des möglichen Verlustes von Ciceros Schriften hervorgehoben. Die Übereinkunft (pactio), die Antonius mit Cicero erzielen möchte, erscheint dabei als Verschärfung der Proskription: Da die Proskription Ciceros ingeniöse Leistungen nicht zu vernichten vermag, greift Antonius zu der drastischeren Maßnahme und verleitet Cicero dazu, sein Werk zu verbrennen. Edwards (1928) 149 historische Erklärung, dass zu Ciceros Zeiten die Strafe der Bücherverbrennung noch nicht existierte (s. die Einleitung), ist hier fehl am Platz. Denn der Fiktion nach findet diese Beratung unmittelbar nach der Proskription statt. Daher meint Haterius hier nicht, dass zur Zeit der Proskription die Strafe der Bücherverbrennung (glücklicherweise) noch nicht erfunden war, sondern dass es grausamer ist, Ciceros Bücher zu verbrennen als Menschen zu töten. Das Substantiv pactio kann wie hier ganz allgemein das bezeichnen, was zwischen zwei Personen (oder Personengruppen) ausgehandelt

7.2 Kommentar

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wird (vgl. ThLL X 1,25,57– 75). Die Herausgeber seit Müller (1887) 575 lesen mit Gertz in quod anstelle des überlieferten in quo. Wir halten diese Konjektur ebenso für unnötig wie suas. 6,6 die Herstellung der Akkusative anstelle der überlieferten Ablative nach licere in (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Vgl. ferner Cic. Mil. 85: ius in illo suum retinuisse [sc. videntur]. commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone, 〈a Cicerone〉 proscriberetur: Der im vorigen Satz ausgedrückte Gedanke, dass Ciceros Werk von der Proskription unberührt blieb, wird erneut paradox zugespitzt. Sämtliche modernen Herausgeber nehmen in diesem Satz eine Supplierung vor. Bursian (1857) 39, dem Kiessling (1872) 49 folgt, liest commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone 〈proscribere, a Cicerone〉 proscriberetur. Die Herausgeber seit Müller (1887) 575 übernehmen dessen gegenüber Bursian leicht modifizierte Supplierung proscribi, a Cicerone und lesen commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone 〈proscribi, a Cicerone〉 proscriberetur. Für den Gedanken könnte man auf Fuscus in § 8 verweisen: ille verus est Cicero, quem proscribi Antonius non putat nisi a Cicerone posse. Da das passivische proscriberetur darauf hinweist, dass der Agens ausgefallen ist, und die Ergänzung von a Cicerone unter Annahme von Haplographie einfach ist, scheint diese Supplierung notwendig zu sein. Allerdings dürfte eine Ergänzung des Infinitivs proscribere bzw. proscribi unnötig sein. Für diese Form der Brachylogie vgl. Cic. Phil. 1,10: parum erat […], a quibus debuerat [sc. adiuvari], adiutus. Ob der Infinitiv Aktiv oder Passiv von proscribere gedanklich ergänzt werden muss, lässt sich nicht entscheiden. Hortarer te, Cicero, ut vitam magni aestimares, si libertas suum haberet in civitate locum, si suum in libertate eloquentia, si non civili ense cervicibus luerentur: Angesichts der allgemeinen politischen Umstände lohnt es sich für Cicero nicht, weiterzuleben, da sich der Redner Cicero unter diesen Umständen nicht verwirklichen kann. Freiheit und innerer Frieden erscheinen dabei als Voraussetzung für die Entfaltung der Redekunst; vgl. Cic. Brut. 45: pacis est comes otique socia et iam bene constitutae civitatis quasi alumna quaedam eloquentia. Bei ensis (statt gladius) handelt es sich um einen Poetizismus (vgl. ThLL V 2,608,79 – 609,82). Daher kann nicht verwundern, dass sich die nächste Parallele für die Junktur civilis ensis bei Lukan (7,490) findet. Wie alle modernen Herausgeber halten wir die Überlieferung, indem wir si non civili ense cervicibus luerentur [sc. libertas et eloquentia] lesen („wenn man für sie nicht mit dem Tod durch das Schwert der Mitbürger büßen würde“). Die Übersetzer greifen mindestens eine der Konjekturen civibus anstelle von cervicibus, luderetur oder illuderetur anstelle von luerentur auf. Die Junktur cervicibus luere ist, wie Håkanson ad loc. kommentiert,

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7 suas. 7

in Analogie zu capite luere (vgl. z. B. Liv. 9,5,5) gebildet. Für diese Junktur vgl. Claud. carm. 18,22 f.; vgl. aber auch cervicibus poenas pendere Liv. 31,31,7. Für das Prädikat im Plural nach Abstrakta vgl. Cic. Tusc. 4,12: laetitia autem et libido in bonorum opinione versantur. nunc, ut scias nihil esse melius quam mori,vitam tibi Antonius promittit: Für den Gedanken, dass Cicero das Gegenteil von dem tun soll, was Antonius macht bzw. vorschlägt,vgl. weiter oben: ne propter hoc quidem ingenium tuum amas, quod illud Antonius plus odit quam te? Mit Bezug auf ein mögliches Weiterleben vgl. Pompeius Silo suas. 6,4: scias licet tibi non expedire vivere, si Antonius permittit, ut vivas. pendet nefariae … cum quo velis: Auch dieses Argument, dass niemand mehr lebt, mit dem es sich lohnen würde zu leben, und weiterzuleben bedeuten würde, Antonius’ Sklave zu sein, benutzt Haterius in der sechsten Suasorie (suas. 6,1).Vgl. auch Albucius suas. 6,9: roga, Cicero, exora unum, ut tribus servias; Fuscus in § 9: si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies. pendet nefariae proscriptionis tabula: tot praetorii, tot consulares, tot equestris ordinis viri!: Für eine Bezugnahme auf die Proskriptionsliste vgl. suas. 6,3 mit dem Kommentar zur Stelle: unius tabellae albo Pharsalica ac Mundensis Mutinensisque ruina vincitur. Håkanson (1989) 369 emendiert das überlieferte pendet zu pendent und interpretiert tabula als Ablativ, hinter dem er nicht interpungiert (für aliquis pendet i.S.v. „der Name von jemandem hängt aus“ vgl. Suet. Dom. 9,2: reos, qui ante quinquennium proximum apud aerarium pependissent, universos discrimine liberavit). Doch Håkansons Konjektur ist wohl unnötig und die Überlieferung kann gehalten werden, indem man hinter tabula einen Doppelpunkt setzt und tot praetorii, tot consulares, tot equestris ordinis viri als elliptischen Ausruf auffasst (mündlicher Hinweis von Thorsten Burkard). Zwar ist tabula pendet nicht überliefert, aber die Junktur tabula fixa est (vgl. z. B. Liv. 6,29,9) lässt vermuten, dass auch tabula pendet sprachlich möglich ist. merito hercules illo tempore vixisti, quo Caesar ultro te rogavit, ut viveres, sine ulla pactione, quo tempore non quidem stabat res publica, sed in boni principis sinum ceciderat: Der Deklamator kontrastiert Ciceros derzeitige politische Lage mit derjenigen unter Caesar nach der Schlacht bei Pharsalos. Die Suggestion ist folgende: Schon unter Caesar war der Staat in einer schwierigen Situation, aber Caesar war immerhin ein guter Herrscher, so dass es sich noch lohnte zu leben (daher das Adverb des Urteils merito). Antonius ist ein schlechter Herrscher. Also besteht überhaupt kein Grund mehr weiterzuleben. Für die

7.2 Kommentar

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Analyse, dass es sich auch aufgrund der allgemeinen politischen Umstände nicht mehr lohne weiterzuleben, vgl. suas. 6,4 mit dem Kommentar zur Stelle: si ad iniurias Fortunae et praesentem rei publicae statum [sc. respicis], nimium diu vixisti. Die Aussage, dass Caesar Cicero „gebeten“ hat weiterzuleben, ist eine pointierte rhetorische Übertreibung. Sachlich verbirgt sich hinter dieser Formulierung das Treffen zwischen Cicero und Caesar bei Brundisium Ende September 47 v.Chr., in dem Caesar gegenüber Cicero auf jede herablassende Geste verzichtete und ihn gewissermaßen begnadigte, nachdem er schon zuvor seine Bereitschaft dazu signalisiert hatte (vgl. Plut. Cicero 39,4 f.). Für Caesars Begnadigung von ehemaligen Pompejanern vgl. suas. 6,13, wo Ligarius als Beispiel genannt wird. Die Aussage, dass Caesar ein guter Herrscher war, ist nicht mit Migliario (2007) 123 f. und (2008) 82 f. als ernstzunehmende politische Aussage zu verstehen, sondern als ad hoc vorausgesetzte Prämisse des vorliegenden Arguments; s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 71).Vgl. unter diesem Vorbehalt Val. Max. 9,15,5: postquam a Sullana violentia Caesariana aequitas 〈rem publicam〉 reduxit, gubernacula Romani imperii iustiore principe obtinente […]. Für pactio s. S. 488 f. Der Ausdruck stat res publica wird auch von Cicero (Phil. 2,24) verwendet. Sinus trägt hier die Konnotation des Schutzes; vgl. Catull. 44,14; Sen. dial. 5,23,6: fuit, qui praeberet tam alte cadenti sinum. 2 Numquid opinio me fefellit? intellexit Antonius salvis eloquentiae monumentis non posse Ciceronem mori: Der Gedanke, dass Cicero nur dann wirklich sterben wird, wenn auch sein Werk zerstört ist, liegt auch bei Haterius vor (§ 1): remittere ait se tibi, ut vivas, commentus, quemadmodum eripiat etiam, quod vixeras. Literarisch gesehen liegt in salvis eloquentiae monumentis wohl eine Anspielung auf Horaz’ Sphragisode 3,30 vor, in der der Dichter seinen Nachruhm prophezeit; vgl. v. a. V. 1: exegi monumentum aere perennius; vgl. auch den folgenden Satz mit dem Kommentar zur Stelle. Migliario (2007) 134– 136; (2008) 87– 89; (2009) 519 – 521 kontrastiert Cestius’ Äußerungen hier, in § 10 und suas. 6,4 mit den Informationen, die wir über die historische Person Cestius in § 13 erfahren, und gelangt zu der wenig überzeugenden Schlussfolgerung, dass der Grieche nach der Übersiedlung nach Rom die Vorstellungen seiner römischen Kollegen übernommen hat; s. die allg. Einleitung: „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 73 f.). Grammatikalisch gesehen liegt in salvis eloquentiae monumentis einer von wenigen nominalen Ablativi absoluti vor, die in der Suasoriensammlung anzutreffen sind; vgl. suas. 6,10 mit dem Kommentar zur Stelle: Antonio quidem nondum domino. Für opinio me fefellit („ich habe mich getäuscht“) vgl. z. B. Cic. inv. 2,2: neque tum eos illa opinio fefellit.

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ad pactionem vocaris, qua pactione melior in te pars tui petitur: Für den Gedanken, dass die Vernichtung des Werkes schlimmer als Ciceros Tod ist, vgl. Haterius in § 1: crudelior est pactio Antonii quam proscriptio: ingenium erat, in quo nihil iuris haberent triumviralia arma. Für die Formulierung melior pars mit Bezug auf das literarische Werk vgl. Ov. met. 15,871– 879, v. a. 875 f.: parte tamen meliore mei super alta perennis / astra ferar; Hor. carm. 3,30,6 f.: non omnis moriar multaque pars mei / vitabit Libitinam; Sen. dial. 11,2,6 (über Polybius): id egit ipse, ut meliore sui parte duraret. Håkanson (1989) 369 ändert das überlieferte in te zu interim („vorerst“). Diese Konjektur ergibt zwar einen guten Sinn, wird aber nicht durch den Kontext gestützt. Denn dass Antonius Cicero in jedem Fall töten wird, wird nicht gesagt. Für weitere Konjekturen s. den Apparat. In unseren Augen kann die Überlieferung in te gehalten werden, wie es auch Bursian (1857) 40 und Kiessling (1872) 50 tun. In te und der partitive Genetiv tui scheinen dann zwar redundant gebraucht zu sein, aber in te ist vielmehr eine Präzision, die darauf hindeutet, dass die eloquentia bzw. das ingenium, das hier gemeint ist, ein inneres Gut von Cicero ist, während der partitive Genetiv offen lässt, ob es sich um ein inneres oder äußeres Gut handelt. Für diese doppelte Referenz vgl. Sen. epist. 25,6: cum hoc effeceris, et aliqua coeperit apud te tui esse dignatio […]. Accommoda mihi paulisper eloquentiam: Ciceronem periturum rogo: Cestius gibt vor, dass seine Eloquenz für sein Beweisziel nicht ausreicht und er deshalb diejenige von Cicero benötigt. Hierdurch werden die folgenden Zitate bzw. Anspielungen eingeleitet. Die in Ciceronem periturum rogo vorliegende Konstruktion ist ungewiss. Bornecque (1902) II 348 sieht hierin einen AcI („je demanderai que Cicéron périsse“), aber da ein AcI nach rogare nur selten und dichterisch belegt ist (vgl. Ov. met. 14,138; K.-St. II 1, S. 693), ist dieses Textverständnis zweifelhaft (vgl. Edward [1928] 150). In Betracht kommen zwei weitere Erklärungen: Entweder handelt es sich bei Ciceronem periturum um das persönliche Objekt zu rogare („ich bitte den todgeweihten Cicero“). Oder es handelt sich um das Sachobjekt („ich bitte um den todgeweihten Cicero“). Etwas näher liegt vielleicht die Erklärung als persönliches Objekt. Ein textkritischer Eingriff hingegen (s. den Apparat) scheint unnötig zu sein. si te audissent Caesar et Pompeius, neque inissent turpem societatem neque diremissent: Cestius spielt auf eine Selbstaussage von Cicero aus der zweiten Philippischen Rede an (Phil. 2,24): mea […] illa vox est nota multis: ‘Utinam, Pompei, cum Caesare societatem aut numquam coisses aut numquam diremisses!’ Die Funktion dieser Anspielung liegt darin, ein historisches Beispiel zu nennen, das vor politischen Schulterschlüssen warnt. Dadurch, dass Cicero selbst das Bündnis zwischen Pompeius und Caesar als Fehler bezeichnet hat, wirkt dieses

7.2 Kommentar

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Beispiel umso überzeugender, um Cicero vom Schulterschluss mit Antonius abzuhalten, denn der Deklamator appelliert an Ciceros politisches Gespür. si uti umquam consilio tuo voluissent, neque Pompeius 〈concidisset neque〉 Caesar: Die Lacuna ist in den Recentiores folgendermaßen ausgefüllt worden: neque Pompeius Caesarem neque Caesar Pompeium deseruisset. Bursian (1857) 40, Kiessling (1872) 50 und Müller (1887) 576 übernehmen diese Ergänzung, transponieren aber: neque Pompeius Caesarem deseruisset neque Pompeium Caesar. Shackleton Bailey (1969) 321 schlägt neque Pompeius Caesarem aluisset neque Pompeium violasset Caesar vor. Hierin sehen wir jedoch keine Verbesserung zu der Ergänzung der Recentiores, die Shackleton Bailey als „highly inept“ bezeichnet. Die Emendation der Recentiores ist auch in unseren Augen unbefriedigend, da in ihr nur der in diremissent ausgedrückte Gedanke wiederholt wird und man eher etwas erwarten würde, was den Gedanken aus dem vorigen Satz zusammenfasst oder einen neuen Aspekt bringt. Desweiteren weisen die ungefähre Homosemie der Kondizionalsätze und die Worte consilium und umquam, das in semper seine Entsprechung hat, darauf hin, dass dieselbe Stelle aus der zweiten Philippika auch hier Cestius’ Vorlage ist (Phil. 2,24): mea […] illa vox est nota multis: ‘Utinam, Pompei, cum Caesare societatem aut numquam coisses aut numquam diremisses! Fuit alterum gravitatis, alterum prudentiae tuae.’ Haec mea, M. Antoni, semper et de Pompeio et de re publica consilia fuerunt. Quae si valuissent, res publica staret, tu tuis flagitiis, egestate, infamia concidisses. Daher schlagen wir die Ergänzung von concidisset neque vor. Der in dem Verb concidere liegende Gedanke wäre dann derart variiert, dass weder Pompeius noch Caesar ermordet worden wäre, wenn sie auf Cicero gehört hätten, während Cicero in der zweiten Philippischen Rede den Gedanken ausdrückt, dass Antonius unter dieser Bedingung „zu Fall gekommen“ bzw. niemals aufgestiegen wäre. Außerdem verträgt sich der nach unserer Meinung vorliegende Gedanke gut mit dem Kontext (Ciceros politischem Gespür): Ciceros politische Einschätzungen haben sich als richtig herausgestellt, was sich (1) Ex negativo an Pompeius’ und Caesars Schicksal und (2) an Ciceros eigenen Taten ablesen lässt, die im Folgenden erwähnt werden. quid consulatum salutarem urbi, quid exilium consulatu honestius, quid provocatam inter initia adulescentiae libertate tirocinii tui Sullanam potentiam, quid Antonium avulsum Catilinae, rei publicae redditum?: In einer Praeteritio werden einige Leistungen von Cicero genannt, um ihn davon zu überzeugen, dass er bis jetzt politisch alles richtig gemacht hat und nun richtig handeln würde, wenn er auf Antonius’ Angebot nicht eingeht. Edwards (1928) 150 Spekulation, dass sich die Angabe, dass Ciceros Exil ehrenhafter als sein Konsulat war, durch die Ehren erklärt, die Cicero bei seiner Rückkehr aus dem Exil zuteil

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wurden, ist nicht überzeugend. Wahrscheinlicher ist in unseren Augen, dass es sich um ein (vermeintliches) Paradoxon handelt: Das Exil war ehrenhafter als das Konsulat, weil Cicero eine unverdiente Strafe für eine mutige Entscheidung (die Hinrichtung der Catilinarier) auf sich genommen hat. Die Provokation von Sullas Macht ist, wie Edward (s.o.) bemerkt, der politische Aspekt von Ciceros Rede Pro S. Roscio Amerino (80 v.Chr.). In dieser Rede, Ciceros erster causa publica (vgl. Cic. S. Rosc. 59; Brut. 312), attackierte er offen Sullas Günstling Chrysogonus und indirekt Sulla selbst (vgl. Cic. off. 2,51). Wie Cicero selbst sagt, konnte er sich diese Freimütigkeit leisten, da er mit 26 Jahren noch ein Anfänger war (vgl. S. Rosc. 3). Die Aussage, dass Cicero Antonius von Catilina „losriss“, bezieht sich auf ein Ereignis aus dem Jahr 64 v.Chr.: Cicero tauschte mit seinem designierten Konsulatskollegen C. Antonius die ihnen zugelosten Provinzen, so dass dieser, der auf Catilinas Seite gestanden hatte, die lukrative Provinz Makedonien erhielt (vgl. Sall. Cat. 26,4; Plut. Cicero 12,4). Die Zeitangabe inter initia, die gleichbedeutend mit initio ist, ist zuerst im Werk des älteren Seneca belegt (hier und contr. 1 praef. 16). Müller (1887) 576 ergänzt am Anfang des Satzes referam hinter quid, worin ihm Håkanson (1989) 369 folgt. Gertz (1879) 155 schlägt die Supplierung von commemorem vor. Wir halten wie Bursian (1857) 40 und Kiessling (1872) 50 eine Ergänzung für unnötig und gehen von einer Ellipse eines Verbum dicendi aus. Für die Ellipse eines Verbum dicendi nach quid vgl. Cic. Tusc. 1,34: sed quid poetas [sc. commemoro]?; 2,41: sed quid hos [sc. dicam], quibus Olympiorum victoria consulatus ille antiquus videtur? ignosce, Cicero, 〈si〉 diu ista narravero: forsitan hoc die novissime audiuntur: Wie Schulting zu dieser Stelle bemerkt (vgl. Edward [1928] 150), liegt der Gedanke vor, dass Cicero auch das Andenken an seine Taten auslöscht, wenn er seine Schriften verbrennt. Zu audiuntur ist daher nicht mit Gronovius (1672) 52 gedanklich abs te, utpote morituro zu ergänzen. Edward (s.o.), der sich gegen Gronovius und Schulting stellt, übersieht die argumentative Absicht dieser pointierten Formulierung, wenn er den Sinn dieses Satzes im Allgemeinen aufgehen lässt: „whatever happens, now, whether Cicero lives or dies, the days of free speech are over, and perhaps this is the last occasion on which Cicero’s great deeds can be extolled.“ Si ist eine Supplierung von Schott (vgl. Müller [1887] 576), die wir wie alle modernen Herausgeber übernehmen. Denn narravero ist Futur II und damit vorzeitig zum Imperativ ignosce, weshalb von einer Unterordnung von diu ista narravero auszugehen ist. Ferner ist die Ergänzung der Subjunktion si leicht, die auch suas. 3,3 in den Handschriften A und B ausgefallen ist (s. dort mit dem Kommentar zur Stelle). Das Futur II erklärt sich wohl dadurch, dass die narratio als noch nicht abgeschlossen betrachtet wird. Für das Futur II neben einem präsentischen Imperativ vgl. Cic. Verr. II 1,25: nisi omni tempore, quod mihi lege concessum est, abusus ero, querere.

7.2 Kommentar

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3 Si occidetur Cicero, iacebit inter Pompeium patrem filiumque et Afranium, Petreium, Q. Catulum, M. Antonium illum indignum hoc successore generis: Wenn Cicero seine Schriften nicht zerstört und von Antonius getötet wird, wird er zwischen solchen Politikern begraben liegen, mit denen er sich identifiziert. In ähnlicher Absicht nennt Haterius suas. 6,1 angesehene Männer, die Cicero nicht erblicken wird, wenn er den Senat betritt. Die ersten vier Männer, die Cestius hier nennt, verbindet die Tatsache, dass sie Pompejaner sind: Der älteste Sohn des Triumvirn Pompeius (vgl. RE XXI 2 s.v. Pompeius 32, Sp. 2211– 2213) unterlag Caesar in der Schlacht bei Munda (17. März 45 v.Chr.) und starb kurz darauf; vgl. suas. 1,5 mit dem Kommentar zur Stelle. Afranius (vgl. RE I 1 s.v. Afranius 6, Sp. 710 – 712) und Petreius (vgl. RE XIX 1 s.v. Petreius 3, Sp. 1182– 1188) waren Generäle des Pompeius, die im Anschluss an die Schlacht bei Thapsus (6. April 46 v.Chr.) starben; für Petreius vgl. auch § 12. Q. Lutatius Catulus (vgl. RE XIII 2 s.v. Lutatius 7, Sp. 2072– 2082) war kein Anhänger des Pompeius, der im Jahr 61 v.Chr. starb, wie Edward (1928) 150 und Håkanson ad loc. angeben, sondern einer der führenden Vertreter der Nobilität, der zusammen mit Marius die Kimbern besiegte und den Cicero zu einem der (Neben‐)Unterredner von De oratore machte. Daher bildet er zusammen mit M. Antonius, dem Großvater des Triumvirn (vgl. RE I 2 s.v. Antonius 28, Sp. 2590 – 2594), die zweite Gruppe, da dieser einer der beiden Hauptunterredner von De oratore ist. Das hohe Ansehen, das der Redner Antonius genoss, ist der Grund für die Angabe, dass er den Nachfolger seines Geschlechts (gemeint ist der Triumvir Antonius) nicht verdient habe. Für iacere i.S.v. „tot liegen“ vgl. Cic. Tusc. 1,101: dic, hospes, Spartae nos te hic vidisse iacentis, dum sanctis patriae legibus obsequimur. Die Junktur successor generis liegt nur an dieser Stelle vor. Belegt ist der Bereichsgenetiv in Abhängigkeit von successor aber auch in den Junkturen successor imperii (Liv. 29,12,2), successor regni (Vell. 1,6,2), successor potentiae (ib. 2,93,1) und successor officii (ib. 2,104,3). si servatur, vivet inter Ventidios et Canidios et Saxas: Wenn Cicero seine Schriften verbrennt, aber dafür von Antonius am Leben gelassen wird, wird er unter Anhängern des Antonius, d. h. unter unmoralischen Menschen, leben. Ventidius Bassus (vgl. RE VIII A 1 s.v. Ventidius 5, Sp. 795 – 816), Canidius Crassus (vgl. RE III 2 s.v. Canidius 2, Sp. 1475 f.) und Decidius Saxa (vgl. ib. s.v. Decidius 4, Sp. 2271 f.) waren Feldherren des Antonius. Außer Bursian (1857) 40 lesen alle modernen Herausgeber mit C.F.W. Müller servabitur anstelle des überlieferten Präsens servatur. Der Grund hierfür liegt wohl zum einen in vivet, zum anderen darin, dass im vorigen Konditionalsatz das Futur occidetur steht. Da jedoch hinsichtlich des Zeitverhältnisses zwischen indikativischem Konditional- und Hauptsatz nahezu jede Kombination möglich ist und sich nach dem ausgedrückten Gedanken richtet (vgl. K.-St. II 2, S. 391 f.), halten wir das überlieferte

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7 suas. 7

Präsens servatur. Der in occidetur ausgedrückte Gedanke liegt nämlich in einer (ferneren) Zukunft, während der in servatur ausgedrückte Gedanke näher liegt, da sich Cicero jetzt dazu entschließen könnte, seine Schriften zu verbrennen und somit am Leben zu bleiben, während seine Ermordung später erfolgen würde. Außerdem ist occidere ein punktuelles Verb, während es sich bei servare um ein duratives Verb handelt. Für die Kombination von Präsens in der Protasis und Futur in der Apodosis vgl. Cic. Phil. 7,19: si bellum omittimus, pace numquam fruemur; Verr. II 1,6: qui si condemnatur, desinent homines dicere his iudiciis pecuniam plurimum posse; sin absolvitur, desinemus nos de iudiciis transferendis recusare. ita dubium est, utrum satius sit cum illis iacere an cum his vivere?: Dieses Argument benutzt Cestius auch in der vorigen Suasorie (vgl. suas. 6,10). Für die Form dieses Arguments, d. h. die rhetorische Frage, vgl. Marcellus ib.: usque eone omnia cum fortuna populi Romani conversa sunt, ut aliquis deliberet, utrum satius sit vivere cum Antonio an mori cum Catone? Für satius i.S.v. „besser“ vgl. ib. mit dem Kommentar zur Stelle. Pro uno homine iactura publica pacisceris?: Die iactura publica lässt sich zum einen so verstehen, dass Ciceros Schriften ein so großes Gemeingut darstellen, dass es sich lohnt, dafür zu sterben. Zum anderen (oder zugleich) könnte damit gemeint sein, dass es ein großes Übel für den Staat wäre, wenn Antonius sich durch Ciceros Demütigung und die Büchervernichtung profilieren könnte. Das Verb pacisci wird hier intransitiv gebraucht („eine Vereinbarung treffen“) und um eine Angabe des Nutznießers (pro uno homine) und den Ablativus pretii iactura publica erweitert. Für pacisci mit dem Ablativus pretii vgl. Liv. 9,43,6: triginta dierum indutias ita, ut ad senatum Romam legatos mitterent, pacti sunt bimestri stipendio frumentoque et singulis in militem tunicis; bell. Alex. 55,5: palam HS LX cum Calpurnio paciscitur. Ob pacisceris Präsens oder Futur ist, lässt sich kaum entscheiden. Etwas wahrscheinlicher ist das Futur. scio omne pretium iniquum esse, quod ille constituit: nemo tanti Ciceronis vitam, quanti vendit Antonius: Der Deklamator meint, dass grundsätzlich jeder Preis, den Antonius fordert, ungerecht ist, so dass er sozusagen auf überhöhte Forderungen eingestellt ist. Und trotzdem ist der Preis, den Antonius für Ciceros Leben fordert (die Vernichtung des Werkes), viel zu hoch. Der zweite Teil des Satzes (ab nemo) steht daher adversativ zu dem ersten Teil. Alle modernen Herausgeber nehmen in diesem Satz eine Supplierung vor, indem sie entweder mit der jüngeren Handschrift D emit hinter tanti ergänzen oder – im Anschluss an Kiessling (1872) 50 – non emo statt nemo lesen. Uns scheint allerdings nicht einmal die Auflösung von nemo zu non emo erforderlich zu sein, indem wir eine derartige

7.2 Kommentar

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Brachylogie annehmen, dass emit gedanklich zu vendit ergänzt werden muss. Für den hier vorliegenden Typ der Brachylogie, bei dem der entgegengesetzte Begriff ergänzt werden muss, vgl. Liv. 45,20,9: orantes, ne nova falsaque crimina plus obesse Rhodiis aecum censerent quam antiqua merita [sc. prodesse oder profuisse]; Tac. ann. 12,64: Agrippina, quae filio dare imperium [sc. quiverat], tolerare imperitantem nequibat; Cic. Tusc. 4,65: ut in malis opinatis tolerabilia [sc. ea, quae gravia et tristia ducuntur], sic in bonis sedatiora sunt efficienda ea, quae magna et laetabilia ducuntur; K.-St. II 2, S. 563 f. si hanc tibi pactionem ferret: ‘vives, sed eruentur oculi tibi; vives, sed debilitantur pedes’, etiamsi in alia damna corporis praestares patientiam, excepisses tamen linguam: Abkommen, die weniger wertvolle Einbußen verlangen würden, könnte Cicero annehmen. Da jedoch seine „Zunge“, d. h. seine Beredsamkeit, Teil des möglichen Paktes mit Antonius ist, muss er dessen Forderungen zurückweisen. Das Substantiv lingua macht deutlich, dass der Deklamator an Ciceros Reden denkt, da diese ursprünglich gesprochen (eine Ausnahme stellt die zweite Philippische Rede dar) und anschließend schriftlich publiziert wurden. Der Konjunktiv Plusquamperfekt excepisses (im Gegensatz zum Konjunktiv Imperfekt ferret) ist wohl dadurch zu erklären, dass eine Vorzeitigkeit zum eingeschalteten etiamsi-Satz ausgedrückt wird: Cicero würde zwar andere Schmerzen erleiden, müsste aber nicht um seine Beredsamkeit fürchten, da sie zuvor von dem Abkommen ausgeschlossen worden wäre. Die Änderung des in den besten Handschriften überlieferten debilitantur zu debilitabuntur (Recentiores), die alle modernen Herausgeber vornehmen, halten wir nicht für notwendig. Für das Präsens anstelle des Futurs vgl. servatur weiter oben und suas. 6,1 mit dem Kommentar zur Stelle: in hac causa etiam Ciceronem verba deficiunt. Für den uneinheitlichen Zeitgebrauch in parallel konstruierten Sätzen vgl. suas. 1,2: quae tam ferae gentes fuerunt, quae non Alexandrum posito genu adorarent? qui tam horridi montes, quorum non iuga victor miles calcaverit? Vbi est sacra illa vox tua: ‘mori enim naturae finis est, non poena’? hoc tibi uni non liquet? at videris Antonio persuasisse: Cestius zitiert sinngemäß aus Ciceros Rede Pro Milone, um Cicero zu ermahnen, dem Tod gelassen zu begegnen (Mil. 101): his lacrimis non movetur Milo. est quodam incredibili robore animi. exsilium ibi esse putat, ubi virtuti non sit locus; mortem naturae finem esse, non poenam. Die Bemerkung, dass Cicero Antonius davon überzeugt zu haben scheint, dass der Tod ein natürliches Ende ist, bedeutet, dass dieser scheinbar aufgrund von Ciceros Äußerungen eben diesen zu töten gedenkt. Den Gedanken, dass der Tod kein Übel ist, formuliert Cicero auch selbst (in der Miloniana referiert er Milos Ansicht): Catil. 4,3; Phil. 2,119; diese Selbstaussage zitiert ein anderer Deklamator

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in der sechsten Suasorie; vgl. suas. 6,12 mit dem Kommentar zur Stelle: quod grandia loquitur et dicit: ‘mors nec immatura consulari nec misera sapienti’, non movet me. Durch ein Zitat aus der Rede Pro Milone gewinnt auch ein Deklamator in der sechsten Suasorie ein Argument; vgl. suas. 6,2 mit dem Kommentar zur Stelle: ‘vetat’ inquit ‘Milo rogare iudices’; i nunc et Antonium roga. Für das Adjektiv sacer mit Bezug auf Cicero vgl. suas. 6,26,V. 9 des Cornelius Severus mit dem Kommentar zur Stelle: sacris et vita quid [sc. profuit] artibus acta? Adsere te potius libertati et unum crimen inimico adice: fac moriendo Antonium nocentiorem: Die libertas ist wohl so zu verstehen, dass Cicero nicht Antonius’ Sklave sein soll; vgl. suas. 6,1: sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem. Der Ausdruck adserere aliquem libertati bedeutet „jemanden befreien“. Gewöhnlicherweise steht nach adserere in dieser Bedeutung jedoch nicht der Dativ, sondern der Präpositionalausdruck in libertatem; vgl. z. B. Liv. 3,45,2; Sen. epist. 104,16. Für den Dativ vgl. Sat. dig. 40,14,2,1: qui se ex libertinitate ingenuitati asserant. 4 Vt Antonius Ciceroni parcat, Cicero in eloquentiam suam ipse animadvertet?: Asprenas stellt in einer Sentenz zum einen Cicero und Antonius gegenüber, zum anderen die Antonyme parcere und animadvertere. Für animadvertere in („die Todesstrafe vollziehen an“, „hinrichten“) vgl. contr. 9,2,14: si animadvertisset in aliquem nullo rogante, numquid accusari posset?; für die starke Metapher vgl. den Gebrauch von supplicium durch Pompeius Silo in § 5. quid autem tibi sub ista pactione promittitur? ut Cn. Pompeius et M. Cato et ille antiquos restituatur rei publicae senatus, dignissimus apud quem Cicero loqueretur?: Antonius’ Angebot ist zu schlecht und müsste aufgewertet werden, damit Cicero sein Werk verbrennt. Für diesen Gedanken vgl. Cestius in § 3: scio omne pretium iniquum esse, quod ille constituit: nemo tanti Ciceronis vitam, quanti vendit Antonius. si hanc tibi pactionem ferret: ‘vives, sed eruentur oculi tibi; vives, sed debilitantur pedes’, etiamsi in alia damna corporis praestares patientiam, excepisses tamen linguam; Pompeius Silo in § 5. Da es sich bei den Versprechungen, die Antonius zu diesem Zweck machen müsste, um ἀδύνατα handelt, liegt die Aussage vor, dass Cicero sein Werk um keinen Preis der Welt vernichten sollte. Die Konstruktion promittere ut („versprechen, dass“) kommt in der lateinischen Literatur selten vor. Hier erklärt sich die Konstruktion durch die Tatsache, dass ein (durch quid vorbereiteter) Explikativsatz vorliegt; vgl. Sen. epist. 48,11: hoc enim est, quod mihi philosophia promittit, ut parem deo faciat (hier bereitet hoc den Explikativsatz vor). Das Verb restituere wird hier zeugmatisch gebraucht, da es mit Bezug auf Institutionen „wiederherstellen“ bedeutet (vgl. OLD s.v. restituo 4), aber

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mit Bezug auf Pompeius und Cato „zum Leben erwecken“ bedeuten müsste. Pompeius wird auch von Cestius in § 3 genannt. Zu Cato vgl. suas. 6,2 mit dem Kommentar zur Stelle. Für den neuen Senat vgl. suas. 6,1 mit dem Kommentar zur Stelle. Der Konjunktiv Imperfekt loqueretur (anstelle des Konjunktivs Präsens) erklärt sich wohl dadurch, wie Edward (1928) 151 bemerkt, dass ein irrealer Gedanke vorliegt (zu ergänzen wäre etwa si esset [sc. talis senatus]). Für apud senatum (statt in senatu) bei einem Verbum dicendi vgl. Sall. Iug. 103,7: dein Sulla omnia pollicito docti, quo modo apud Marium, item apud senatum verba facerent; Liv. 39,3,2: id Cenomani conquesti Romae apud senatum. Bei antiquos handelt es sich um die alternative Nominativform bei Nomina auf –uus. Für den Gebrauch der Alternativform vgl. denjenigen von aequos (statt aequus) contr. 7,5,12; generell L.H.-Sz. I, S. 423; K.-St. I, S. 439 f. Für sub ista pactione vgl. contr. 9,3,9: non est, inquit, admovere vim aliquid sub certa condicione promittere. Multos care … fortiter mori: Es folgt ein Locus communis de morte contemnenda, der das Ziel hat, Cicero davon zu überzeugen, dass es besser ist, tapfer zu sterben, als feige um sein Leben zu betteln. Für diesen Locus communis vgl. Cic. Mil. 92: si in gladiatoriis pugnis et infimi generis hominum condicione atque fortuna timidos atque supplices et, ut vivere liceat, obsecrantis etiam odisse solemus, fortis atque animosos et se acriter ipsos morti offerentis servare cupimus […]; Sen. dial. 9,11,4: gladiatores, ut ait Cicero, invisos habemus, si omni modo vitam impetrare cupiunt; favemus, si contemptum eius prae se ferunt. idem evenire nobis scias; saepe enim causa moriendi est timide mori. Multos care victuros animi sui contemptus oppressit: „Viele, die gewillt waren, für ihr Leben einen hohen Preis zu zahlen, hat die Tatsache zerstört, dass man ihre Haltung verachtete.“ Wie Müller (1887) 577 und Håkanson (1989) 370 übernehmen wir Schultings Konjektur care anstelle des überlieferten ea re. Für das Adverb vgl. § 10 und contr. 1,7,6: hic, qui unde vivat non habet, quam care tyrannicidas vestros emancat! Die anderen vorgeschlagenen Emendationen von ea re sind in unseren Augen inhaltlich oder paläographisch schwieriger (s. den Apparat). multos perituros parati ad pereundum animi ipsa admiratio eripuit et causa illis vivendi fuit fortiter mori: An dieser Gruppe von tapferen Menschen soll sich Cicero ein Beispiel nehmen. Müller (1887) 577 suppliert mit C.F.W. Müller unnötigerweise velle hinter mori. Die Supplierung ist unnötig, weil die paradoxe Formulierung sicherlich beabsichtigt ist und an der zitierten Senecastelle (s.o.) eine Parallele hat, wie Edward (1928) 151 zu Recht moniert.

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Permitte populo Romano contra Antonium liceri: 〈si〉 scripta combusseris, Antonius paucos annos tibi promittit: at si non combusseris, gratia populi Romani omnes: Asprenas unterbreitet gewissermaßen ein Gegenangebot zu demjenigen des Antonius, das im Thema zum Ausdruck kommt: Er verspricht Cicero unsterblichen Ruhm, wenn er seine Schriften nicht verbrennt. Liceri ist ein Wort aus der Auktionssprache und bedeutet „bieten“; vgl. Cic. Verr. II 3,148: qui contra Apronium licerentur. Bei liceri: si handelt es sich um eine Konjektur von Gertz (1879) 155 anstelle des überlieferten licet. Sie ist wohl notwendig, da permitte einen Infinitiv erfordert (Bursians [1857] 41 Textkonstitution permitte 〈te〉 populo Romano contra Antonium ist nur schwer verständlich). Anstelle des überlieferten quam vor populi Romani sind viele Emendationen vorgeschlagen worden (s. den Apparat). Die leichteste und sinnvollste Verbesserung scheint uns Ribbecks gratia zu sein. 5 Quale est, ut perdamus eloquentiam Ciceronis, fidem sequamur Antonii?: Pompeius Silo benutzt die erste Person Plural (perdamus; sequamur; im Folgenden credamus), weil er in der Rolle eines Freundes von Cicero spricht, der sein eigenes Schicksal eng mit demjenigen von Cicero verknüpft. Für den Gedanken, dass man Antonius nicht trauen kann, vgl. weiter unten credamus Antonio […] und Argentarius in § 7: nihil Antonio credendum est. Für fidem alicuius sequi in der Bedeutung „jemandem vertrauen“ vgl. Liv. 2,29,7: de iis tantum, qui fidem secuti P. Servili consulis Volsco Aurunco Sabinoque militassent bello, agendum censebat. Die Worte quale est leiten einen mit ut gebildeten Subjektsatz ein. Für quale est, ut lassen sich nur späte Belege finden; vgl. Tert. apol. 9: porro quale est, ut, quos sanguinem pecudis horrere confiditis, humano inhiare credatis, nisi forte suaviorem eum experti? Etwas schwieriger ist vielleicht Bursians (1857) 41 Textverständnis, der ein Ausrufezeichen hinter quale est setzt und ut perdamus eloquentiam Ciceronis, fidem sequamur Antonii? als eigenen Satz liest. Misericordiam tu istam vocas, supplicium summum Ciceronis ingenio?: Pompeius Silo entlarvt Antonius’ scheinbar harmloses Angebot als Farce; vgl. Asprenas in § 4: quid autem tibi sub ista pactione promittitur? ut Cn. Pompeius et M. Cato et ille antiquos restituatur rei publicae senatus, dignissimus apud quem Cicero loqueretur? Mit tu spricht der Deklamator Cicero an und legt ihm ein Gegenargument in den Mund; vgl. weiter unten: tuis utar, Cicero, verbis. Eine Metapher aus dem semantischen Feld der Hinrichtung benutzt auch Asprenas in § 4: ut Antonius Ciceroni parcat, Cicero in eloquentiam suam ipse animadvertet? Alle modernen Herausgeber übernehmen Haases Konjektur sumptum anstelle der Lesart summum und supplieren mit Gronovius (1672) 53 de vor Ciceronis ingenio. Wir halten die Änderung von summum für unberechtigt und bewahren den Dativ Ciceronis in-

7.2 Kommentar

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genio. Für den adnominalen Dativ vgl. nullane haec damna imperatoriis virtutibus ducimus? (Liv. 9,18,5); insidiae consuli (Sall. Cat. 32,1); pabulum ovibus (Cato agr. 5,8); subsidia dominationi (Tac. ann. 1,3,1); L.-H.-Sz. I, S. 95 f.; K.-St. II 1, S. 346. Für supplicium summum vgl. Sall. Cat. 51,39; Cic. Verr. II 3,119. Credamus Antonio, Cicero, si bene illi pecunias crediderunt faeneratores, si bene pacem Brutus et Cassius: Vordergründig liegt die unentschiedene Aussage vor, dass Antonius für glaubwürdig zu halten ist, wenn ihm seine Schuldner zu Recht Gelder anvertraut und Cassius und Brutus richtig gehandelt haben.Wie aber auch aus dem Folgenden hervorgeht, bewertet Pompeius Silo diese Entscheidungen als Fehler. Die unausgesprochene Konsequenz ist also, dass Antonius nicht vertrauenswürdig ist. Für Antonius’ Schulden und zweifelhafte Geldgeschäfte vgl. Plut. Antonius 2,4– 6. Im zweiten Kondizionalsatz spielt der Deklamator wohl auf die Entscheidung der Verschwörer an, Antonius nicht ebenso wie Caesar zu töten. Brutus soll sich damals für Antonius’ Leben eingesetzt haben (vgl. Plut. ib. 13; Brutus 18,2– 6). Cicero bewertete Antonius’ Verschonung als Fehler; vgl. z. B. Att. 14,14,2: ita Brutos Cassiumque defendis, quasi eos ego reprehendam; quos satis laudare non possum. rerum ego vitia conlegi, non hominum. sublato enim tyranno tyrannida manere video; Manuwald (2007) I 10. In credere liegt eine Distinctio vor, da das Verb zuerst „vertrauen“, dann „anvertrauen“, „leihen“ bedeutet. Für das Stilmittel der Distinctio vgl. suas. 1,3 mit dem Kommentar zur Stelle: non magis quicquam ultra Alexandrum novimus quam ultra Oceanum. hominem et vitio naturae et licentia temporum insanientem, inter scaenicos amores sanguine civili luxuriantem, hominem, qui creditoribus suis oppigneravit rem publicam, cuius gulae duorum principum bona, Caesaris ac Pompei, non potuerunt satisfacere!: Pompeius Silo rekurriert auf Passagen aus Ciceros zweiter Philippischer Rede, um Antonius’ Charakter und damit auch dessen Glaubwürdigkeit bloßzustellen. Die scaenici amores sind diejenigen zwischen Antonius und der Schauspielerin Cytheris; vgl. Phil. 2,20 mit Denniston ad loc.; 58 und 61. Für Antonius’ Blutrausch vgl. ib. 59: saturavit se sanguine dissimillimorum sui civium; 71: gustaras civilem sanguinem vel potius exsorbueras. Antonius’ Erwerb von Pompeius’ Gütern und deren Verschwendung schildert Cicero ib. 64– 67; vgl. v. a. 66 f.: incredibile ac simile portenti est, quonam modo illa tam multa quam paucis non dico mensibus, sed diebus effuderit. […] quae Charybdis tam vorax?; vgl. Latro suas. 6,3: videbis illas fauces, per quas bona Cn. Pompei transiverunt; Triarius ib. 5. Nach Caesars Tod erstand Antonius auch dessen Güter (vgl. Plut. Antonius 15,1 f.; App. bell. civ. 2,125). Bei dem Akkusativ hominem handelt es sich um einen Accusativus exclamationis; vgl. suas. 6,7: iam ad ista non satis est dicere: ‘hominem nequam!’.

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tuis utar, Cicero, verbis: ‘cara est cuiquam salus, quam aut dare aut eripere potest Antonius?’: Die Zugehörigkeit dieses Zitates hat der Forschung Probleme bereitet. Müller (1887) 578, Winterbottom (1974) II 601 Fußn. 3 und Håkanson (1989) 370 stellen zwar fest, dass diese Worte bei Cicero nicht überliefert sind, verweisen aber gleichzeitig auf zwei Stellen aus der zweiten Philippischen Rede (Phil. 2,5 und 60). Cicero sagt dort, dass es nur eine vermeintliche Wohltat von Antonius war, ihn in Brundisium nicht zu töten, da es ein Unterschied ist, ob man jemandem das Leben schenkt oder es ihm nicht nimmt; vgl. ib. 5: at beneficio sum tuo usus. […] sed quo beneficio? quod me Brundisi non occideris? quem ipse victor, qui tibi, ut tute gloriari solebas, detulerat ex latronibus suis principatum, salvum esse voluisset, in Italiam ire iussisset, eum tu occideres? fac potuisse. quod est aliud, patres conscripti, beneficium latronum, nisi ut commemorare possint iis se dedisse vitam, quibus non ademerint? Wie Edward (1928) 152 und Piacente (2006) 192 sind wir der Meinung, dass sich der Deklamator nicht auf diese Worte beziehen kann. Denn zum einen liegt ein anderer Gedanke vor, da es Cicero darum geht, dass Antonius ihm nur eine vermeintliche Wohltat erwiesen hat; der Schwerpunkt der Aussage liegt auf dem vermeintlichen Wohltäter. Pompeius Silo geht es aber darum, dass es niemandem viel bedeutet weiterzuleben, wenn Antonius die Macht über Leben und Tod besitzt; er nimmt also den vermeintlichen Nutznießer in den Blick. Zum anderen spricht Pompeius Silos Kommentar tuis utar, Cicero, verbis dafür, dass er wörtlich aus einer von Ciceros Schriften zitiert (oder zu zitieren glaubt). An der einzigen anderen Stelle, an der ein Deklamator ein Zitat derart ankündigt, liegt auch tatsächlich ein wörtliches Zitat vor; vgl. suas. 6,3 mit dem Kommentar zur Stelle: tuis verbis, Cicero, utendum est: ‘o tempora, o mores!’ Daher schließen wir uns Piacente (s.o.) 190 an, der dieses Fragment einer verlorenen Philippischen Rede zuordnet. Für die Zugehörigkeit zu den Philippiken (und nicht etwa zu Ciceros Briefen) spricht zum einen die Tatsache, dass die Deklamatoren in dieser und der vorigen Suasorie häufig auf diese Reden (vgl. suas. 6,3; 4; 5; 7; 12; 7,2 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle), aber an keiner Stelle auf Ciceros Briefe rekurrieren. Andererseits steht es nahezu fest, dass das Corpus der Philippischen Reden ursprünglich größer war und auf 14 Reden redigiert wurde (vgl. Manuwald [2007] I 65 – 90); für weitere Fragmente aus verlorenen Philippiken vgl. auch Piacente (s.o.) 191. Für die Kombinierung von dare und eripere vgl. Sall. Iug. 1,3: fortuna […] quae probitatem, industriam aliasque artis bonas neque dare neque eripere cuiquam potest. In dieser Suasorie vgl. § 10 (über Cestius’ Argumentation): male cum illo agi: dari vitam, eripi ingenium; Fuscus in § 8: crede mihi, vilissima pars tui est quae tibi vel eripi vel donari potest. Non est tanti servare Ciceronem, 〈ut〉 servatum Antonio debeam: Vgl. Claudius Marcellus suas. 6,4: quicquam ergo tanti putas, ut vitam Antonio debeas?

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Bursians (1857) 41 Konjektur servari anstelle des überlieferten servare (AB) bzw. servire (V), die von allen Herausgebern und Übersetzern übernommen wird, halten wir nicht für überzeugend, da debeam dafür spricht, dass servare richtig ist. Servare bedeutet hier „retten“ in dem Sinne, dass der Deklamator Cicero davon überzeugt, weiterzuleben. 6 Compulsus aliquando populus Romanus in eam necessitatem est, ut nihil haberet praeter Iovem obsessum et Camillum exulem:Triarius bezieht sich auf die Eroberung Roms durch die Gallier nach der Schlacht an der Allia (390 oder 387 v.Chr.). Damals sollen Gänse die schlafenden Römer gewarnt und somit eine Einnahme des Kapitols (darauf spielen die Worte Iovem obsessum an) verhindert haben; vgl. Liv. 5,47,1– 3. Der Diktator Marcus Furius Camillus, der nach Ardea verbannt worden war (vgl. ib. 32,7– 9 und 43,6), wurde daraufhin zurückberufen und vertrieb die Gallier aus der Stadt (vgl. ib. 46 – 49). nullum tamen fuit Camilli opus maius, quam quod indignum putavit viros salutem pactioni debere: Das Detail, das der Deklamator an der Rettung der Römer (s. die vorige Anmerkung) hervorhebt, bezieht sich darauf, dass die Römer mit Brennus, dem Anführer der Gallier, das Abkommen getroffen hatten, dass die Gallier gegen eine Tributzahlung abziehen (vgl. Liv. 5,48,5 – 8). Als Camillus mit seinem Heer nach Rom einrückte, erklärte er das Abkommen für ungültig; vgl. ib. 49,1 f. Der Zweck dieses historischen Exempels besteht also darin, Cicero aufzufordern, genauso wie Camillus zu handeln, d. h. sein Wohlergehen nicht einem Abkommen (mit Antonius) zu verdanken. Håkanson (1976) 129 und (1989) 370 übernimmt Gertz’ (1879) 155 Konjektur Romanos anstelle des überlieferten viros. Wir halten Gertz’ Konjektur jedoch für genauso unnötig wie Müllers (1887) 578 Supplierung von Romanos hinter viros, die Winterbottom (1974) II 600 übernimmt. Denn Triarius versucht Cicero dadurch von einem Abkommen mit Antonius abzuhalten, dass er es indirekt als unmannhaft darstellt. O gravem vitam, etiamsi sine pretio daretur!: Der Deklamator behauptet in dieser Sentenz, dass sich das Weiterleben für Cicero auch in dem Fall nicht lohnen würde, wenn er keine Gegenleistung aufbringen müsste. Da Triarius zuvor gegen das Abkommen mit Antonius argumentiert hat, lässt sich argumentationstechnisch eine bestimmte Strategie feststellen, die in der Verstärkung der Argumentation besteht: Es ist wirksamer, erst zu sagen, dass der Preis für Ciceros Leben zu hoch ist, und dann zu beweisen, dass sich ein Weiterleben ungeachtet der Gegenleistung nicht lohnt. Es ist aber weniger effektiv, erst ein Weiterleben generell auszuschließen, und dann die spezielle Bedingung (den Preis dafür) zurückzuweisen, da dieses Argument dann obsolet ist. Vgl. für das Argument, dass sich für

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Cicero das Weiterleben generell nicht lohnt, Haterius in § 1: nescio, an hoc tempore vivere velis, Cicero; nemo est, cum quo velis; Latro suas. 6,3. Antonius hostis a re publica iudicatus nunc hostem rem publicam iudicat: Antonius wurde v. a. auf Ciceros Betreiben hin nach der Schlacht bei Mutina am 26./27. April 43 v.Chr. zum Staatsfeind erklärt (vgl. Cic. ad Brut. 10;13,1; fam. 10,21,4; Liv. perioch. 119; Vell. 2,64,4; App. civ. 3,63; 4,12 und 37; Plut. Antonius 17,1). Die in einem Parallelismus formulierte Angabe, dass Antonius den Staat zum Feind erkläre, ist eine Übertreibung, die sich auf die Proskriptionen bezieht; vgl. suas. 6,7 mit dem Kommentar zur Stelle: proscriptus est ille [sc. senatus], qui tuam sententiam secutus est; Haterius in § 1: pendet nefariae proscriptionis tabula: tot praetorii, tot consulares, tot equestris ordinis viri! paene nemo relinquitur, nisi qui servire possit. Lepidus, ne quis illum putet male Antonio collegam placuisse, alienae semper dementiae accessio, utriusque collegae mancipium, noster dominus: Nach der Communis opinio wird der Triumvir Lepidus (vgl. RE I 1 s.v. Aemilius 73, Sp. 556 – 561) hier deshalb als noster dominus bezeichnet, weil er an der Schlacht bei Philippi, in der Antonius und Oktavian die Caesarmörder Brutus und Cassius besiegten, nicht beteiligt war, sondern in Italien blieb; vgl. Cassius Dio 47,37– 39; Edward (1928) 152; Winterbottom (1974) II 603 Fußn. 1; Zanon dal Bo (1988) 230 Fußn. 15; Håkanson ad loc. Da die Schlacht bei Philippi jedoch erst im Herbst 42 v.Chr. stattfand, halten wir diese Auslegung eher für unwahrscheinlich, weil Triarius dann einen Anachronismus benutzen würde (für Anachronismen s. die allg. Einleitung: S. 61– 63). Wir glauben, dass noster dominus [sc. est] auf die Tatsache verweist, dass Lepidus einer der drei Triumvirn ist. Angesichts der politischen und moralischen Qualitäten dieses Mannes sollte Cicero lieber sterben, v. a. wenn er bedenkt, dass er ein Sklave des Sklaven Lepidus ist, da Lepidus wiederum Antonius und Oktavian untersteht (utriusque collegae mancipium). Dieser Satz erklärt daher wie der vorige den Ausruf o gravem vitam. Der ne-Satz trägt zu diesem Gedanken insofern bei, als in ihm behauptet wird, dass Lepidus nicht aufgrund seiner Kompetenzen Triumvir wurde, sondern weil Antonius ihn im Zuge einer politischen Geste dazu gemacht hat. Wenn die Angabe alienae semper dementiae accessio eine Entsprechung in der Realität hat und nicht bloß rhetorische Übertreibung ist, dann ist darunter wohl Lepidus’ Anschluss an Caesar zu verstehen, dessen magister equitum er war. Das Substantiv accessio bedeutet mit Bezug auf Personen soviel wie „Mitläufer“ und ist als Gegenbegriff zu caput zu verstehen; vgl. für diesen Gebrauch Liv. 45,7,2: [sc. Syphax] accessio Punici belli fuerat […] Perseus caput belli erat. Bei den Nominativen alienae semper dementiae accessio und utriusque collegae mancipium handelt es sich wohl um Appositionen

7.2 Kommentar

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zu Lepidus, während noster dominus das Prädikatsnomen ist. Die Ergänzung von est vor (Winterbottom [1974] II 602) oder hinter dominus (Kiessling [1872] 52) halten wir aber für unbegründet, da die Annahme einer Ellipse leicht ist; vgl. Cic. Brut. 246: M. Messalla minor natu quam nos, nullo modo inops [sc. fuit], sed non nimis ornatus genere verborum; prudens acutus, minime incautus patronus, in causis cognoscendis componendisque diligens, magni laboris, multae operae multarumque causarum. Für male als Negation eines Verbs vgl. Ov. epist. 2,104: nobis qui male favit, amor. 7 Nihil Antonio credendum est. mentior? quid enim iste non potest, qui occidere Ciceronem potest, qui servare nisi crudelius quam occidebat non potest?: Auch Argentarius zweifelt an Antonius’ Glaubwürdigkeit, d. h. er meint, dass Antonius Cicero auch nach der Vernichtung des literarischen Werkes töten wird: vgl. Pompeius Silo in § 5 credamus Antonio, Cicero, si bene illi pecunias crediderunt faeneratores, si bene pacem Brutus et Cassius; Pompeius Silo in § 11: combustis enim libris nihilominus occisurum. Mit diesem Argument ist ein weiteres verwoben, das auch von anderen Deklamatoren für paradoxe oder zumindest pointierte Formulierungen verwendet wird, nämlich dass die Vernichtung von Ciceros Schriften schlimmer als dessen Ermordung wäre; vgl. Haterius in § 1: crudelior est pactio Antonii quam proscriptio: ingenium erat, in quo nihil iuris haberent triumviralia arma; Cestius in § 3; Asprenas in § 4. Für mentior vgl. Quint. decl. 369,1: potui infitiari quod obicitur. detracta arma dicis? nego. mentior? eamus in rem praesentem. Angesichts dieser Parallele sind die Konjekturen, die mentior anzweifeln (s. den Apparat), als unbegründet zurückzuweisen. Anstelle von occidebat liest Müller (1887) 578 occidat, worin ihm Håkanson (1989) 371 folgt. Schon Bursian (1869) 6 hat an dem Indikativ occidebat Anstoß genommen und occideret vorgeschlagen, nachdem er in seiner Textausgabe (1857) 41 die Überlieferung noch gehalten hatte. Der Grund für die textkritischen Eingriffe liegt wohl darin, dass im Verb occidere den Konjekturalkritikern zufolge ein hypothetischer Bezug auf Ciceros Ermordung hergestellt wird. Jedoch lässt sich occidebat als Imperfectum de conatu halten; vgl. Caes. Gall. 5,9,6: nostros […] intra munitiones ingredi prohibebant; K.-St. II 1, S. 121. ignoscentem illum tibi putas, qui ingenio tuo irascitur?: Die Gefahr für Ciceros ingenium sehen auch Haterius in § 1 und Pompeius Silo in § 5: misericordiam tu istam vocas, supplicium summum Ciceronis ingenio? Gronovius (1672) 54 emendiert das überlieferte ignoscentem zu ignoscere tu. Wir sehen aber keine zwingende Veranlassung, die Überlieferung zu ändern, wie es alle Herausgeber außer Bursian (1857) 41 mit Gronovius tun. Auch das folgende tu in ab hoc tu speras, das Håkanson ad loc. zu dieser Stelle in Verbindung setzt, ist kein Argument für

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ignoscere tu. Vielmehr ist ignoscens als Adjektiv anzusehen; vgl. ignoscentior Ter. heaut. 645; vielleicht auch Quint. decl. 291,1: interrogo, qualem patrem velis: gravem et severum an facilem et ignoscentem. ab hoc tu speras vitam, cui nondum verba tua exciderunt?: Der im vorigen Satz ausgedrückte Gedanke wird in einer etwas anderen Antithese neu formuliert. Antonius’ Angebot ist auch deshalb nicht glaubwürdig, weil er Cicero dessen Philippische Reden nicht verzeiht und deshalb auf Rache sinnt. ut corpus, quod fragile et caducum est, servetur, pereat ingenium, quod aeternum est?: Hier gibt Argentarius dem zuvor formulierten Gedanken, dass Ciceros Weiterleben grausamer als seine Ermordung ist, eine ‘philosophische’ Wendung, indem er sich den Gegensatz zwischen Körper und Geist zunutze macht. Einen prominenten Ausdruck erhält dieser Gegensatz im Proömium zu Sallusts Catilina; vgl. Cat. 1: nostra omnis vis in animo et corpore sita est: animi imperio, corporis servitio magis utimur; alterum nobis cum dis, alterum cum beluis commune est. Für corpus fragile et caducum vgl. Fuscus suas. 6,6: nihil aliud intercidet quam corpus fragilitatis caducae; Ps. Quint. decl. 10,17: vana ergo sapientes persuasione frustrati, qui constare homines et perfici corporis elementis animaeque dixerunt; corpus caducum, fragile […]. Ergo mirabar, si non crudelior esset Antonii venia: „Ich würde mich demnach wundern, wenn Antonius’ Verzeihung nicht grausamer wäre [sc. als wenn er dich tötet]“. Nur Håkanson (1989) 371 und Kiessling (1872) 52 bewahren im Nebensatz die beste Überlieferung. Bursian (1857) 41 ergänzt mit der jüngeren Handschrift D supplicio hinter si non (und liest durior anstelle von crudelior): „Ich würde mich wundern, wenn Antonius’ Verzeihung nicht härter als die Todesstrafe wäre“. Gleichzeitig erwägt er, morte dort zu supplieren, wo D supplicio ergänzt. Müller (1887) 579 emendiert mit Gertz (1879) 155 non zu mors: „Ich würde mich wundern, wenn der Tod grausamer als Antonius’ Verzeihung wäre“. Beide Eingriffe stellen zwar den geforderten Sinn her, sind aber überflüssig, da – wie Håkanson ad loc. anmerkt – quam (aperta) ultio (aut sim.) leicht in Gedanken ergänzt werden kann. Den Gedanken benutzt Argentarius schon weiter oben: quid enim iste non potest, qui occidere Ciceronem potest, qui servare nisi crudelius quam occidebat non potest? Für den Indikativ in der Apodosis eines irrealen Satzgefüges (mirabar statt mirarer) vgl. suas. 1,6 mit dem Kommentar zur Stelle: belle illis cesserat, si nasus Atticus ibi substitisset. Für den Ausdruck mirari si vgl. contr. 9,4,8: mirarer, nisi pro tam bono patre fuisset, qui mori vellet. Eine schwierige Frage ist, ob das in den besten Handschriften überlieferte ergo gehalten werden kann oder die Korrektur ego gelesen werden muss, wie es alle modernen Herausgeber tun. Wir sind der Mei-

7.2 Kommentar

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nung, dass ergo gehalten werden kann, da Exzerpte vorliegen. Für ergo, dessen Funktion aufgrund des fehlenden Kontextes nicht ersichtlich ist (s. S. 456),vgl. den ersten Satz des Exzerptes suas. 6,3: ergo loquitur umquam Cicero, ut non timeat Antonius, loquitur umquam Antonius, ut Cicero timeat? 8 P. Scipionem a maioribus suis desciscentem generosa mors in numerum Scipionum reposuit: Argentarius versucht, Cicero dazu zu bewegen, dem Tod mit Gleichmut zu begegnen, indem er das Beispiel des Publius Cornelius Scipio Nasica (später Quintus Caecilius Metellus Pius Scipio) anführt (vgl. RE III 1 s.v. Caecilius 99, Sp. 1224– 1228). Für den Tod dieses Scipio vgl. suas. 6,2 mit dem Kommentar zur Stelle. Der in desciscentem ausgedrückte Gedanke wird auf seine Adoption durch Quintus Caecilius Metellus Pius anspielen. Die Funktion des Beispiels scheint relativ abstrakt darin zu liegen, dass ein Vorbild für einen ehrenhaften Tod genannt wird. Für in numerum reponere vgl. Cic. nat. deor. 3,47: multas […] beluas in deorum numerum reponemus. Håkanson (1989) 371 und ad loc. nimmt an, dass vor diesem Satz eine Lacuna vorliegt, in der der Name des Deklamators, aus dessen Deklamation nun zitiert werde, aufgrund von Ähnlichkeit mit Scipionem ausgefallen sei. Zu dieser Annahme verleitet ihn die wiederholte Rede von der Auslöschung von Ciceros ingenium; vgl. im folgenden mortem tibi remittit, ut id pereat, quod in te solum immortale est und pateris perire, ut, quod Cicero optimum habet, ante se efferat? mit ut corpus […] servetur, pereat ingenium, quod aeternum est? aus § 7. Jedoch kommen solche Wiederholungen gelegentlich vor und sind sicherlich teilweise damit zu erklären, dass ein Gedanke in verschiedenen Kontexten modifiziert wurde, die uns nicht ersichtlich sind. So wiederholt beispielsweise auch Haterius in der vorigen Suasorie den Gedanken, dass Cicero Antonius’ Sklave sein würde (suas. 6,1): sciant posteri potuisse Antonio servire rem publicam, non potuisse Ciceronem. […] si intellegis, Cicero, non dicit ‘roga, ut vivas’ sed ‘roga, ut servias’. Am Anfang dieser Suasorie werden vier Sätze aus dessen Deklamation zitiert, in denen der Gegensatz zwischen Cicero und Antonius in teils paradoxen, teils pointierten Formulierungen variiert wird: ne propter hoc quidem ingenium tuum amas, quod illud Antonius plus odit quam te? […] commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone, a Cicerone proscriberetur. Mortem tibi remittit, ut id pereat, quod in te solum immortale est: Im Wesentlichen ist dies eine Variation des in § 7 ausgedrückten Gedankens: ut corpus […] servetur, pereat ingenium, quod aeternum est? (s. die vorige Anmerkung). Zum einen wird in dieser Sentenz der Gegensatz ausgedrückt, dass Antonius zwar Cicero den physischen Tod erlässt, aber den Tod seines Genies erzwingt. Zudem liegt ein Paradoxon darin, dass das zugrunde gehen soll, was allein unsterblich ist (vgl. § 7). Für die Unsterblichkeit des ingenium vgl. Asprenas in § 4 mit dem

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7 suas. 7

Kommentar zur Stelle: si scripta combusseris, Antonius paucos annos tibi promittit: at si non combusseris, gratia populi Romani omnes. Qualis est pactio? aufertur Ciceroni ingenium sine vita: Auch hier liegt eine paradoxe Formulierung desselben Sachverhalts vor: Normalerweise wird einer Person das Leben genommen, während das ingenium weiterlebt. Auch das gleichzeitige Auslöschen von Leben und ingenium wäre nachvollziehbar. Aber der Umstand, dass das ingenium ohne das Leben genommen wird, ist ungewöhnlich. Håkansons (1989) 371 Konjektur vitam anstelle von vita (Håkanson interpungiert hinter ingenium und fasst sine als Verbalform auf) entstellt den Sinn und ist sprachlich äußerst fragwürdig, wenn er sine vitam ad loc. mit „Lass es [sc. statt des ingenium] das Leben sein [sc. das dir entnommen wird]“ übersetzt. Vor allem ist dieser textkritische Eingriff aus methodischen Gründen nicht nachvollziehbar, da sine vita einen hervorragenden Sinn ergibt. promittuntur 〈pro〉 oblivione nominis tui pauci servitutis anni: Auch dieser Satz ist wohl noch auf die Frage qualis est pactio? zu beziehen. Für den Gedanken, dass Cicero nur noch wenige Jahre weiterleben würde, vgl. Asprenas in § 4 (s.o.). Für die potentielle Knechtschaft unter Antonius vgl. Haterius suas. 6,1 (s. S. 507) mit dem Kommentar zur Stelle. Wie alle modernen Herausgeber außer Bursian (1857) 42 übernehmen wir Schultings Ergänzung pro vor oblivione, da die Konstruktion von promittere mit dem Ablativus pretii nirgends belegt zu sein scheint und der Ausfall von pro nach promittere nachvollziehbar ist. non ille te vivere vult, sed facere ingenii tui superstitem: Hier zeigt sich wiederum Argentarius’ Vorliebe für das Paradoxe, da gewöhnlicherweise das Talent (in Form des Nachruhms) die Person, nicht aber die Person ihr eigenes Talent überlebt. Vgl. weiter oben: qualis est pactio? aufertur Ciceroni ingenium sine vita. Für facere superstitem vgl. Sen. dial. 9,11,12: factus non regno tantum, sed etiam morti suae superstes [sc. Croesus]; vgl. auch das ähnliche relinquere superstitem (Cic. ad Q. fr. 1,3,1): utinam te non solum vitae sed etiam dignitatis meae superstitem reliquissem! Daher sind die Konjekturen, die diese Worte betreffen (s. den Apparat), unberechtigt. Vide, ut Cicero audiat Lepidum, Cicero audiat Antonium, nemo Ciceronem: Hinter dieser Sentenz steht das Argument, dass Cicero angesichts seines nahezu nicht mehr vorhandenen politischen Einflusses nicht weiterleben sollte. Vgl. Haterius in § 1: nescio, an hoc tempore vivere velis, Cicero; nemo est, cum quo velis; Asprenas in § 4: quid autem tibi sub ista pactione promittitur? ut Cn. Pompeius et M. Cato et ille antiquos restituatur rei publicae senatus, dignissimus apud quem Cicero

7.2 Kommentar

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loqueretur? Zur Tatsache, dass zwar Antonius und Lepidus, aber nicht Oktavian genannt wird, s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 75). Håkanson (1989) 371 und Müller (1887) 579 übernehmen die Konjektur videlicet, die Kiessling (1872) 52 anstelle des überlieferten vide ut zögernd vorgeschlagen hat. Kiessling selbst und Bursian (1857) 42 lesen mit den Recentiores vive ut; für weitere Konjekturen s. den Apparat. Die Überlieferung kann aber gehalten werden, indem man für videre die Bedeutung „sich vorstellen“ annimmt; vgl. Q. Cic. fam. 16,16,2: te totum in litteris vidi. pateris perire, ut, quod Cicero optimum habet, ante se efferat?: Pateris perire sc. ingenium. Für das Bild des Zu-Grabe-Tragens vgl. Asprenas in § 4: ut Antonius Ciceroni parcat, Cicero in eloquentiam suam ipse animadvertet?; Pompeius Silo in § 5: misericordiam tu istam vocas, supplicium summum Ciceronis ingenio? Mit ante se ist gemeint, dass Cicero erst sein ingenium und anschließend sich selbst zu Grabe trägt. Der Anfang dieses Satzes ist textkritisch umstritten. Håkansons (1989) 371 Supplierung von ingenium Ciceronis vor pateris perire halten wir für bedenklich, da zwar sicherlich Ciceros ingenium gemeint ist, aber vielleicht angenommen werden kann, dass das ingenium in der ursprünglichen Deklamation unmittelbar zuvor genannt wurde und folglich nicht ergänzt werden muss; vgl. suas. 6,7 mit dem Kommentar zur Stelle: proscriptus est ille [sc. senatus], qui tuam sententiam secutus est. Daher erübrigt sich wohl dieser textkritische Eingriff ebenso wie diejenigen der anderen modernen Herausgeber: Bursian (1857) 42 ändert pateris perire zu pateris fieri. Kiessling (1872) 53 und Müller (1887) 579 stellen mit Schulting poteris perferre her. Thorsten Burkard schlägt poteris [sc. ita] perire vor (mündlicher Hinweis). Das Substantiv ingenium wird auch weiter oben nicht eigens genannt, sondern muss aus dem Kontext erschlossen werden: mortem tibi remittit, ut id pereat, quod in te solum immortale est. Für einen AcI, bei dem der Subjektsakkusativ ausgespart wird, vgl. § 9 mit dem Kommentar zur Stelle: fallere [sc. fidem Antonium] malo; § 10: iniuriam [sc. Ciceronem] facturum generi humano [sc. dixit]; § 11: combustis enim libris nihilominus [sc. Antonium Ciceronem] occisurum [sc. dixit]; für die Auslassung des pronominalen Subjektsakkusativs vgl. K.-St. II 1, S. 700 f. sine durare post te ingenium tuum, perpetuam Antonii proscriptionem: Hier wird die ‘natürliche Ordnung’ wieder hergestellt, indem Cicero aufgefordert wird, sein Talent sein Leben überdauern zu lassen. Bei perpetuam Antonii proscriptionem handelt es sich um eine Apposition zu ingenium tuum. Inhaltlich gesehen sind die Philippischen Reden gemeint, wie auch Håkanson ad loc. kommentiert. Der Gedanke, dass Ciceros Philippische Reden eine gegen Antonius gerichtete Pro-

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7 suas. 7

skription sind, liegt auch suas. 6,13 vor: deinde [sc. dixit] ne iniquum quidem esse Ciceronem [sc. Antonio] satisfacere, qui prior illum proscripsisset. ARELLI FVSCI patris: Zu Fuscus’ Exzerpten in der sechsten und siebenten Suasorie vgl. Huelsenbeck (2009) 291– 307. Quoad humanum genus incolume manserit, quamdiu suus litteris honor, suum eloquentiae pretium erit; quamdiu rei publicae nostrae aut fortuna steterit aut memoria duraverit, admirabile posteris vigebit ingenium, et uno proscriptus saeculo proscribes Antonium omnibus: Der Deklamator blickt auf den Nachruhm, der Cicero erwartet, wenn er seine Schriften nicht verbrennt (vgl. Asprenas in § 4), und auf die Verachtung, die Antonius dadurch entgegen gebracht wird. Bornecque (1902) II 396 äußert die Vermutung, dass diese Stelle Velleius Paterculus’ Äußerungen über Cicero inspiriert hat; vgl. Vell. 2,66,5: vivit vivetque per omnem saeculorum memoriam, dumque hoc vel forte vel providentia vel utcumque constitutum rerum naturae corpus, quod ille paene solus Romanorum animo vidit, ingenio complexus est, eloquentia inluminavit, manebit incolume, comitem aevi sui laudem Ciceronis trahet omnisque posteritas illius in te scripta mirabitur, tuum in eum factum execrabitur citiusque e mundo genus hominum quam Ciceronis nomen cedet. Ob eine literarische Abhängigkeit zwischen dem Deklamator Fuscus und Velleius Paterculus in der Form bestanden hat, wie sie Bornecque annimmt, lässt sich nicht sicher angeben. Die inhaltliche Ähnlichkeit dieser Äußerungen ist zwar evident, aber sprachlich lassen sich wenige Entsprechungen feststellen. Vgl. auch Sen. dial. 11,2,6 (über Polybius): Longissimum illi ingeni aevum fama promisit; id egit ipse, ut meliore sui parte duraret et compositis eloquentiae praeclaris operibus a mortalitate se vindicaret. Quam diu fuerit ullus litteris honor, quam diu steterit aut Latinae linguae potentia aut Graecae gratia, vigebit cum maximis viris, quorum se ingeniis vel contulit vel, si hoc verecundia eius recusat, adplicuit. Für die Identifikation der Philippiken mit einer Proskription, die gegen Antonius gerichtet ist, vgl. den vorigen Satz des Argentarius mit dem Kommentar zur Stelle. Für das Polyptoton proscriptus […] proscribes vgl. contr. exc. 5,1: proscriptus aliquando proscripsit. Crede mihi, vilissima pars tui est, quae tibi vel eripi vel donari potest: Für die Geringschätzung des Körpers vgl. Argentarius in § 7 mit dem Kommentar zur Stelle: ut corpus, quod fragile et caducum est, servetur, pereat ingenium, quod aeternum est? Fuscus selbst benutzt diesen Gedanken auch in der zweiten Suasorie; vgl. suas. 2,2: etsi cadendum est, erratis, si metuendam creditis mortem. nulli natura in aeternum spiritum dedit statutaque nascentibus in fine vitae dies est. inbecilla enim nos materia deus orsus est; quippe minimis succidunt corpora. Der Gedanke, dass

7.2 Kommentar

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Antonius über Leben und Tod entscheidet, stammt in einer ähnlichen Formulierung von Cicero selbst; vgl. Silo in § 5 mit dem Kommentar zur Stelle: tuis utar, Cicero, verbis: ‘cara est cuiquam salus, quam aut dare aut eripere potest Antonius?’. Für die Beteuerungsformel crede mihi vgl. suas. 6,1: crede mihi: cum diligenter te custodieris, faciet tamen Antonius, quod Cicero tacere non possit. ille verus est Cicero, quem proscribi Antonius non putat nisi a Cicerone posse: Der „wahre Cicero“ ist durch sein literarisches Werk verkörpert. Ille verus […] Cicero steht daher im Gegensatz zur vilissima pars, die unmittelbar zuvor genannt ist. Für den Gedanken, dass Ciceros Werk proskribiert wird, vgl. Haterius in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: commentus est Antonius, quemadmodum, quod non poterat cum Cicerone, 〈a Cicerone〉 proscriberetur. 9 Non ille tibi remittit proscriptionem, sed tolli desiderat suam: Auch hier wird der Gedanke, dass Ciceros Philippiken eine gegen Antonius gerichtete Proskription sind, für eine Sentenz ausgenutzt. Vgl. Argentarius in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: sine durare post te ingenium tuum, perpetuam Antonii proscriptionem; Fuscus ib.: et uno proscriptus saeculo proscribes Antonium omnibus. Si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies; quod ad me attinet, fallere malo: Der Deklamator zeigt in einem Dilemma die Konsequenzen auf, die sich ergeben würden, wenn Cicero auf Antonius’ Angebot eingeht. Fallere malo bedeutet, dass Fuscus es vorziehen würde, dass Cicero stirbt. Syntaktisch ist der Ausdruck als Brachylogie fallere [sc. fidem Antonium] malo zu erklären: „es ist mir lieber, dass Antonius wortbrüchig wird“ (vgl. O. & E. Schönberger [2004] 304). Für den Gedanken, dass Antonius Cicero töten wird,vgl. Argentarius in § 7 mit dem Kommentar zur Stelle: nihil Antonio credendum est. […] ab hoc tu speras vitam, cui nondum verba tua exciderunt? Für den Gedanken, dass Cicero Antonius’ Sklave wäre, vgl. Haterius in § 1 mit dem Kommentar zur Stelle: paene nemo relinquitur, nisi qui servire possit; Argentarius in § 8: promittuntur pro oblivione nominis tui pauci servitutis anni. Für fidem decipere vgl. Sen. apocol. 15,1; für fidem fallere vgl. Cic. Phil. 13,42. Die Wahl des Infinitivs Präsens fallere ist dadurch begünstigt, dass dieses Verb keinen Infinitiv Futur bildet; für den Infinitiv Präsens vgl. § 1: remittere ait se tibi, ut vivas. Alle Herausgeber seit Kiessling (1872) 53 übernehmen dessen Ergänzung des Subjektsakkusativs eum vor malo. Wie Bursian (1857) 42 halten wir jedoch die Annahme einer Brachylogie für unproblematisch; vgl. Argentarius in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: pateris perire [sc. ingenium], ut, quod Cicero optimum habet, ante se efferat?

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Per te, M. Tulli, per quattuor et sexaginta annos pulchre actos, per salutarem rei publicae consulatum, per aeternam, si pateris, ingenii tui memoriam, per rem publicam, quae, ne quid te putes carum illi relinquere, ante te perit, oro et obtestor, ne moriaris confessus, quod nolueris mori: Im Angesicht seiner Leistungen für den Staat bittet der Deklamator Cicero, dass er nicht Antonius’ Angebot annehmen und damit bekennen soll, dass er Angst davor hat zu sterben. Das Argument, das in der Sentenz ne moriaris confessus, quod nolueris mori liegt, lautet, dass Cicero ohnehin sterben wird (ob mit moriaris der natürliche Tod oder die Ermordung durch Antonius gemeint ist, lässt sich nicht angeben). Die Erwähnung von Ciceros 64 Lebensjahren überrascht ein wenig, denn genau genommen ist Cicero zum fiktiven Zeitpunkt dieser Deklamation noch 63 Jahre alt. Mit Edward (1928) 144 wird man diese Ungenauigkeit jedoch nicht überbewerten, da sich Cicero kurz vor Vollendung des 64. Lebensjahres befindet. Für die Erwähnung von Ciceros Konsulat vgl. Cestius in § 2: quid referam consulatum salutarem urbi. Für pulchre i.S.v. „ehrenhaft“ vgl. das Adjektiv pulcher (Sall. Catil. 3,1): pulchrum est bene facere rei publicae. Da ceperit keinen Sinn ergibt, lesen alle modernen Herausgeber mit den Recentiores te periit. Wie Müller (1887) 580 und Håkanson (1989) 371 übernehmen zwar auch wir die Lesart der Recentiores, lesen aber te perit; für die kontrahierte Perfektform vgl. suas. 6,3 mit dem Kommentar zur Stelle. Da die Konstruktion confiteri, quod („eingestehen, dass“) erst bei den Kirchenschriftstellern belegt ist (vgl. ThLL IV 230,3 – 15), übernehmen die Herausgeber seit Kiessling (1872) 53 C.F.W. Müllers und Madvigs Konjektur quam (überliefert sind que AB und quod V). Da aber fateri, quod belegt ist, sollte quod gehalten werden; vgl. Ps.Quint. decl. 18,3: gaudebat etiam, quod laudandus occursibus, quod omni frequentia coetuque conspicuus populo iam ipse fateretur, quod plus amaretur a matre.

Die divisio (10 – 11a) Auch in dieser Suasorie referiert Seneca d.Ä. zwar die Argumentation der Deklamatoren (Cestius und Pompeius Silo), aber es lässt sich nicht erkennen, welche übergeordneten und welche untergeordneten Argumente die Deklamatoren verwendet haben. Eine divisio im eigentlichen Sinne liegt also nicht vor. 10 Huius suasoriae alteram partem neminem scio declamasse: Nahezu dieselbe Information über die unterschiedliche Beliebtheit der beiden Rollen (Pro und Contra) gibt Seneca d.Ä. auch in der vorigen Cicerosuasorie; vgl. suas. 6,12: alteram partem pauci declamaverunt; nemo paene ausus est Ciceronem ad deprecandum Antonium hortari; bene de Ciceronis animo iudicaverunt. Da kein De-

7.2 Kommentar

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klamator versucht hat, Cicero davon zu überzeugen, auf Antonius’ Angebot einzugehen, entfällt der Abschnitt, in dem Äußerungen aus den Deklamationen der Gegenseite referiert werden (vgl. suas. 2,9). omnes pro libris Ciceronis solliciti fuerunt, nemo pro ipso, cum adeo illa pars non sit mala, ut Cicero, si haec condicio lata ei fuisset, deliberaturus non fuerit: Wie bei der sechsten Suasorie (s. die vorige Anmerkung) deutet Seneca d.Ä. die Tatsache, dass kein Deklamator Cicero geraten hat, seine Schriften zu verbrennen, als Entscheidung, die nicht aus rhetorischen Gründen getroffen wurde. Während dort Ciceros Charakter der Grund für die einseitige ‘Rollenverteilung’ ist, ist es hier die Besorgnis um Ciceros literarisches Werk. Das Thema dieser Suasorie kann nicht der Grund für dieses Missverhältnis sein, da es in den Augen des älteren Seneca den Deklamatoren die Gelegenheit bietet, mit nahezu gleichen Erfolgschancen das Pro oder das Contra zu vertreten. Dies lässt sich an seiner Einschätzung ablesen, dass Cicero zumindest überlegt hätte, ob er auf Antonius’ Angebot eingeht, wenn es ihm in Wirklichkeit unterbreitet worden wäre. Dass der Grund für die Bevorzugung der einen Rolle nicht hauptsächlich rhetorischer Natur ist, lässt sich mit Quintilian bekräftigen. Dieser ordnet nämlich dieses Thema in die Klasse derjenigen Fälle ein, in denen der Beratende einer „guten“ Person einen unehrenhaften Rat erteilt (der unehrenhafte Rat besteht in diesem Fall darin, Cicero zum Weiterleben zu animieren); vgl. Quint. inst. 3,8,44 (s. die Einleitung zu suas. 6, S. 383). Daher ist das Deklamieren in der Rolle desjenigen, der Cicero zu überzeugen versucht, auf Antonius’ Angebot einzugehen, schwerer, aber durchaus möglich, indem ehrenhafte Argumente angewandt werden; vgl. Quint. ib. 46 f.: quare et cum Ciceroni dabimus consilium ut Antonium roget, vel etiam ut Philippicas, ita vitam pollicente eo, exurat, non cupiditatem lucis adlegabimus (haec enim si valet in animo eius, tacentibus quoque nobis valet), sed ut se rei publicae servet hortabimur – hac illi opus est occasione, ne eum talium precum pudeat. Da nun nach Ausweis des älteren Seneca kein Deklamator den Gegenpart übernommen hat, können nicht bloß rhetorische Gründe für die Wahl der Rolle verantwortlich gewesen sein. itaque hanc suasoriam nemo declamavit efficacius quam Silo Pompeius: Itaque markiert, dass Seneca d.Ä. hier zu seinem eigentlichen Anliegen, nämlich die Argumentation der Deklamatoren wiederzugeben, zurückkehrt.Vgl. für diesen Gebrauch von itaque Cic. Lael. 2 f.: cum saepe multa, tum memini domi in hemicyclio sedentem, ut solebat, cum et ego essem una et pauci admodum familiares, in eum sermonem illum incidere, qui tum forte multis erat in ore. meministi enim profecto […]. itaque tum Scaevola, cum in eam ipsam mentionem incidisset […]. Das Adverb efficaciter („wirkungsvoll“, „effektiv“) wird – ebenso wie das Adjektiv efficax –

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sonst nirgends (weder bei Seneca d.Ä. noch bei Cicero oder Quintilian) mit Bezug auf die Argumentation gebraucht, wie aus der Sichtung der von Bardon (1940) 28 verzeichneten Stellen hervorgeht. Seneca d.Ä. benutzt das Adverb an einer Stelle mit Bezug auf die Verwendung der Affekte (contr. 7 praef. 3). non enim ad illa speciosa se contulit, ad quae Cestius, qui dixit hoc gravius esse supplicium quam mortem, et ideo hoc Antonium eligere: Der Grund dafür, dass Seneca d.Ä. Pompeius Silos Deklamation lobt, wird zunächst aus dem Gegenteil deutlich, das Cestius vertritt. Zu Pompeius Silos divisio kehrt Seneca d.Ä. erst in § 11 zurück. Cestius konzentriert sich auf die Punkte, die großen Eindruck erwecken. Wie aus dem Folgenden deutlich wird, sind darunter Argumente zu verstehen, die die Schwere der Büchervernichtung vor Augen führen. Das Argument, dass die Verbrennung von Ciceros Schriften eine schlimmere Strafe als der Tod selbst ist, kommt in dem Exzerpt aus Cestius’ Deklamation (§§ 2f.) nicht vor. Vgl. aber Haterius in § 1: remittere ait se tibi, ut vivas, commentus, quemadmodum eripiat etiam quod vixeras. crudelior est pactio Antonii quam proscriptio: ingenium erat, in quo nihil iuris haberent triumviralia arma; Pompeius Silo in § 5: misericordiam tu istam vocas, supplicium summum Ciceronis ingenio? Für speciosus mit Bezug auf die Argumentation vgl. contr. 9 praef. 2: sequitur autem hoc usque in forum declamatores vitium, ut necessaria deserant, dum speciosa sectantur. brevem vitam esse omni, multo magis seni: Cestius argumentiert hier auf allgemeiner Ebene mit der Kürze des Lebens, d. h. er wird wohl einen Locus communis de brevitate vitae verwendet haben. Auch dieses Argument findet sich nicht in dem Exzerpt aus Cestius’ Deklamation (§§ 2f.). Vgl. aber das spezielle Argument (d. h. mit konkretem Bezug auf Cicero), dass Cicero ohnehin nicht mehr lange leben wird, bei Asprenas (§ 4): si scripta combusseris, Antonius paucos annos tibi promittit: at si non combusseris, gratia populi Romani omnes. Seit Müller (1887) 580 lesen die Herausgeber mit den Recentiores homini anstelle des überlieferten omni. Der Grund für diesen textkritischen Eingriff liegt wohl darin, dass substantivisches omnis im Singular („jeder Mensch“) sonst nicht belegt zu sein scheint (s. aber unten). Allerdings fordert das folgende multo magis seni einen Ausdruck für „jeder Mensch“, da sich multo magis nicht anders als „viel mehr noch [sc. als für jeden anderen Menschen]“ verstehen lässt. Daher sollte omni gelesen werden oder – falls dies zu kühn erscheinen sollte – omni homini.Vgl. immerhin Tert. adv. Prax. 21 p. 1188,84 f.: omnem, qui a Patre audisset et didicisset, venire ad se. ita memoriae consulendum, quae magnis viris aeternitatem promitteret: Für den Gedanken, dass sich Cicero durch sein Werk ewigen Nachruhm verschafft, vgl. den Anfang des zugehörigen Exzerptes (§ 2) mit dem Kommentar zur Stelle: in-

7.2 Kommentar

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tellexit Antonius salvis eloquentiae monumentis non posse Ciceronem mori. ad pactionem vocaris, qua pactione melior in te pars tui petitur. Schultings Konjektur itaque anstelle von ita, die die Herausgeber seit Müller (1887) 580 übernehmen, ist unnötig, da ita hier im Sinne von itaque verwendet wird (vgl. ThLL VII 521,73 – 522,25); vgl. Cic. de orat. 1,83: oratorem autem, nisi qui sapiens esset, esse neminem [sc. dicebat]. ita, qui esset eloquens […] esse sapientem. non qualibet mercede vitam redimendam: Für den Preis, den Cicero zugunsten der Rettung seines Lebens zahlen müsste (die Verbrennung des schriftlichen Werkes), vgl. aus Cestius’ Exzerpt (§ 3): scio omne pretium iniquum esse, quod ille constituit: nemo tanti Ciceronis vitam, quanti vendit Antonius. Hinter redimendam emendiert Müller (1887) 580 das überlieferte et zu esse, worin ihm Håkanson (1989) 372 folgt. Bursian (1857) 43 führt den Satz ohne Interpunktion mit et fort. Kiessling (1872) 54 tilgt die Konjunktion. In unseren Augen besteht kein Anlass, in die Überlieferung einzugreifen. Et ist auf das folgende hic [sc. dixit] condiciones intolerabiles zu beziehen (s. die folgende Anmerkung) und nicht als Fortsetzung dieses Satzes zu verstehen, wie es Bursian (s.o.) tut, da hic nur i.S.v. „an dieser Stelle der Deklamation“ sinnvoll ist. Für et hic vgl. suas. 6,20, wo die Junktur mehrdeutig ist, und contr. 2,5,16: et hic etiamnunc non hoc quaerebat, an deberet dimitti, sed an posset. et hic condiciones intolerabiles: Zu et s. die vorige Anmerkung.Vgl. für diese Art von metasprachlichem Kommentar des älteren Seneca, bei dem das Verbum dicendi fehlt, suas. 1,10: hic difficultatem navigationis, ignoti maris naturam non patientem navigationis; 6,13: hic, quam multi rogassent C. Caesarem, hic et Ligarium. esse 〈omnia potius subeunda〉 quam monumenta ingenii sui ipsum exurere: S. die vorletzte Anmerkung. Für monumenta als Verweis auf Ciceros literarisches Werk vgl. § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: intellexit Antonius salvis eloquentiae monumentis non posse Ciceronem mori. Da der in den besten Handschriften überlieferte Satz offenkundig unvollständig ist, nehmen alle modernen Herausgeber eine Ergänzung vor, die in den Recentiores ein Vorbild hat (s. den Apparat). Da wir keine Veranlassung sehen, die Supplierung der Recentiores zu modifizieren, übernehmen wir diese. Für die Anfangsstellung von esse vgl. suas. 3,7: esse autem in tragoedia eius: ‘feror huc illuc, vae, plena deo’. Dass esse eher hierher gehört und nicht zum vorigen Satz et hic condiciones intolerabiles, an welcher Stelle es Kiessling (1872) 54 tilgt, wird aus den Parallelen zu der metasprachlichen Aussage deutlich (s. die vorige Anmerkung).

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iniuriam illum facturum populo Romano, cuius linguam inopem extulisset, ut insolentis Graeciae studia tanto antecederet eloquentia quanto fortuna: Das öffentliche Interesse an der Erhaltung von Ciceros Schriften kommt in Cestius’ Äußerung (§ 3) pro uno homine iactura publica pacisceris? zum Ausdruck. Für die rhetorische und generelle Übertrumpfung des überheblichen Griechenland vgl. die Aussage des älteren Seneca contr. 1 praef. 6: quidquid Romana facundia habet, quod insolenti Graeciae aut opponat aut praeferat, circa Ciceronem effloruit. Migliario (2007) 134– 136; (2008) 87– 89; (2009) 519 – 521 kontrastiert Cestius’ Äußerungen hier, in § 2 und suas. 6,4 mit den Informationen, die wir über die historische Person Cestius in § 13 erfahren, und gelangt zu der wenig überzeugenden Schlussfolgerung, dass der Grieche nach der Übersiedlung nach Rom die Vorstellungen seiner römischen Kollegen übernommen hat; s. allg. Einleitung: „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 73 f.). Håkanson (1989) 372 setzt das zwischen linguam und extulisset überlieferte incipem in Cruces. Neben incipem (B) ist auch in civem (V) überliefert, das gleichfalls sinnlos ist. Eine paläographisch einfache Konjektur ist diejenige von Bursian (1857) 43, der principem liest. Doch eine Parallele für ein prädikatives-proleptisches Adjektiv in Abhängigkeit von efferre i.S.v. „zu etwas erheben“ haben wir nicht finden können. Üblicherweise wird efferre dann mit einem Präpositionalausdruck verbunden, der durch in oder ad eingeleitet wird. Unserer Meinung nach sollte man entweder – trotz fehlender Parallelen – Bursians Konjektur in den Text setzen oder diejenige von Morgenstern, der inopem vorschlägt (vgl. Müller [1887] 580), wodurch Ciceros Leistung für die lateinische Sprache eindrucksvoll vor Augen geführt wird. Aufgrund der folgenden Parallelen und der Tatsache, dass inopem paläographisch und inhaltlich eine hervorragende Konjektur ist, entscheiden wir uns für diese Verbesserung; vgl. Cic. fin. 3,51: hinc est illud exortum, quod Zeno […] nominavit, cum uteretur in lingua copiosa factis tamen nominibus ac novis, quod nobis in hac inopi lingua non conceditur; man denke auch an die egestas linguae Lucr. 1,139; zur Sache vgl. Fögen (2000). iniuriam facturum generi humano: Nachdem der Deklamator zuvor das Argument vorgebracht hat, dass Cicero dem römischen Volk Unrecht tun würde, steigert er es, indem er behauptet, dass Cicero sogar dem Menschengeschlecht Unrecht tun würde, wenn er seine Schriften verbrennen würde.Wie Pompeius Silo knüpft Cestius Ciceros Nachruhm nicht nur an das römische Volk; vgl. Pompeius Silo in § 11: non esse tam stultum Antonium, ut putaret ad rem pertinere libros a Cicerone comburi, cuius scripta per totum orbem terrarum celebrarentur; anders hingegen Fuscus in § 8: quoad humanum genus incolume manserit, quamdiu suus litteris honor, suum eloquentiae pretium erit; quamdiu rei publicae nostrae aut fortuna steterit aut memoria duraverit, admirabile posteris vigebit ingenium. In-

7.2 Kommentar

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sofern sich aber das römische Volk über den Großteil der bekannten Welt erstreckt, sind auch Horaz’ und Ovids Aussagen über ihren eigenen Nachruhm zu vergleichen: Hor. carm. 2,20, v. a. 13 – 20; Ov. met. 15,877 f.; quaque patet domitis Romana potentia terris / ore legar populi. Für die Aussparung des Subjektsakkusativs (Ciceronem oder illum) vgl. Argentarius in § 8 mit dem Kommentar zur Stelle: pateris perire [sc. ingenium], ut, quod Cicero optimum habet, ante se efferat? paenitentiam illum acturum tam care spiritus empti, cum in servitute senescendum fuisset: Für den zu hohen Preis, den Cicero für das Weiterleben bezahlen würde, vgl. weiter oben mit dem Kommentar zur Stelle: non qualibet mercede vitam redimendam. Das Argument, dass Cicero Antonius’ Sklave wäre, findet sich in Cestius’ Exzerpt allenfalls am Rande (vgl. § 3: adsere te potius libertati); vgl. aber Fuscus in § 9 mit dem Kommentar zur Stelle: si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies. Für paenitentiam agere vgl. suas. 6,11 mit dem Kommentar zur Stelle: Aegyptum […] agere perfidiae paenitentiam [sc. dixit]. Der Konjunktiv Plusquamperfekt (senescendum fuisset) erklärt sich wohl dadurch, dass vom Standpunkt der Zukunft aus das komplexive Tempus gewählt ist. in hoc unum eloquentia utendum, ut laudaret Antonium: Der Gedanke, dass Cicero Antonius loben müsste, wenn er dessen Angebot akzeptiert, kommt in dieser Suasorie nirgends zum Ausdruck; vgl. jedoch Haterius suas. 6,1: laudandus erit tibi Antonius. Alle modernen Herausgeber ergänzen mit Bursian (1857) 43 et am Anfang dieses Satzes und sehen ihn als Fortsetzung des cum-Satzes an. Die Supplierung ist aber wohl unnötig, da nichts dagegen spricht, dass Cestius das Argument des Herrscherlobes eigens gebraucht und nicht unter dem Aspekt der Reue behandelt. male cum illo agi: dari vitam, eripi ingenium: Für dieses Argument vgl. § 2: ad pactionem vocaris, qua pactione melior in te pars tui petitur. Vor allem Argentarius (§§ 7f.) benutzt den Gegensatz zwischen Ciceros Leben und seinem ingenium für mehrere Sentenzen. Für die Kombinierung von dare und eripere vgl. Pompeius Silo in § 5 mit dem Kommentar zur Stelle: tuis utar, Cicero, verbis: ‘cara est cuiquam salus, quam aut dare aut eripere potest Antonius?’ 11 SILO POMPEIVS sic egit, ut diceret Antonium non pacisci sed illudere: non esse illam condicionem sed contumeliam: Nachdem Seneca d.Ä. am Anfang von § 10 Silos Deklamation als die „effektivste“ ausgezeichnet hat, skizziert er nun dessen Argumentation. Seine Argumente unterliegen allesamt der Überzeugung, dass Antonius’ Angebot nicht ernst gemeint ist. Vgl. im dazugehörigen Exzerpt (§ 5): quale est, ut perdamus eloquentiam Ciceronis, fidem sequamur Antonii? […]

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credamus Antonio, Cicero, si bene illi pecunias crediderunt faeneratores, si bene pacem Brutus et Cassius. Für den Aspekt der Demütigung (contumelia) s. weiter unten. Für die Formulierung sic egit, ut mit einem Verbum dicendi vgl. contr. 1,8,13. Häufiger kommt die Formulierung sic divisit, ut mit einem Verbum dicendi vor; vgl. innerhalb der Suasoriensammlung suas. 1,8 und 10; 3,3; 6,13. combustis enim libris nihilominus occisurum: Für das Argument, dass Antonius Cicero ohnehin tötet, vgl. Argentarius in § 7: nihil Antonio credendum est. mentior? quid enim iste non potest, qui occidere Ciceronem potest, qui servare nisi crudelius quam occidebat non potest? ignoscentem illum tibi putas, qui ingenio tuo irascitur? ab hoc tu speras vitam, cui nondum verba tua exciderunt? Fuscus erwägt dieses Argument, stellt Antonius’ Unglaubwürdigkeit aber lediglich als Möglichkeit hin (§ 9): si fidem deceperit Antonius, morieris, si praestiterit, servies. non esse tam stultum Antonium, ut putaret ad rem pertinere libros a Cicerone comburi, cuius scripta per totum orbem terrarum celebrarentur, et hoc petere eum, quod posset ipse facere, nisi forte non esset in scripta Ciceronis ei ius, cui esset in Ciceronem: Im ersten Teil des Satzes wird das Argument genannt, dass die Verbrennung von Ciceros Büchern nicht alle in der ganzen Welt verstreuten Exemplare betreffen kann, d. h. dass es keine vollständige Bücherverbrennung gibt. Am Anfang des zweiten Teils des Satzes (et hoc petere eum […] cui esset in Ciceronem) lesen alle modernen Herausgeber mit Jahn nec anstelle des überlieferten et. Möglicherweise liegt der Grund für diese Änderung in der Annahme, dass der wahre Grund für Antonius’ Angebot erst im nächsten Satz genannt wird (quaeri nihil aliud […]). Es spricht jedoch nichts dagegen, dass der wahre Grund schon in diesem Satz genannt wird: „und darauf ziele Antonius ab, was er auch selbst machen könne – es müsste denn sein, dass er nicht dieselbe Verfügungsgewalt über Ciceros Schriften wie über Cicero habe“. In Wirklichkeit bezweckt Antonius also, Cicero zu demütigen. Der durch nisi forte eingeleitete Satz enthält einen Gedanken, der ironisch zurückgewiesen wird (die Aussage ist also: Antonius hat selbstverständlich Verfügungsgewalt über Ciceros Schriften und ebenso über Cicero selbst); vgl. Cic. leg. 3,47: sed satis iam disputatum est de magistratibus, nisi forte quid desideratis; K.-St. II 2, S. 416; BS S. 830. Pompeius Silos erstem Argument wird man wohl zustimmen, wenn man an Ovids Schicksal denkt, dessen verbotene Schriften in privaten Zirkeln weiter kursierten, während er sich im Exil befand (vgl. Ov. trist. 3,1,65 – 80). Und Seneca d.J. lobt Marcia, die Tochter des Cremutius Cordus, dafür, dass sie das Werk ihres Vaters, das zuvor verbrannt und verboten worden war, wieder in Umlauf gebracht hat (Sen. dial. 6,1,3). Das Argument der Wirkungslosigkeit der Bücherverbrennung soll Platon davon abgehalten haben, Demokrits Schriften zu verbrennen, wie Aris-

7.2 Kommentar

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toxenos bei Diogenes Laertios (9,40) berichtet: Ἀριστόξενος δʼ ἐν τοῖς Ἱστορικοῖς ὑπομνήμασί φησι Πλάτωνα θελῆσαι συμφλέξαι τὰ Δημοκρίτου συγγράμματα, ὁπόσα ἐδυνήθη συναγαγεῖν, Ἀμύκλαν δὲ καὶ Κλεινίαν τοὺς Πυθαγορικοὺς κωλῦσαι αὐτόν, ὡς οὐδὲν ὄφελος· παρὰ πολλοῖς γὰρ εἶναι ἤδη τὰ βιβλία. Auch bei Tacitus liegt es an der Stelle vor, an der er von Cremutius Cordus’ Bücherverbrennung berichtet (ann. 4,35); vgl. auch Aur. Vict. Caes. 20,1– 4; Speyer (1970) 134. quaeri nihil aliud, quam ut ille Cicero multa fortiter de mortis contemptu locutus ad turpes condiciones perductus occideretur: Hierin drückt sich die besondere Demütigung aus, die Antonius’ Angebot Pompeius Silo zufolge beinhaltet. Da es sich bei der Demütigung um eine Behauptung handelt, die der Deklamator Antonius unterstellt, liegt ein color vor (zum color s. die allg. Einleitung, S. 44– 59). Mit Ciceros Äußerungen über die Verachtung des Todes wird der Deklamator wohl unter anderem, wie Edward (1928) 153 bemerkt, das erste Buch der Tusculanen meinen. Die prominenteren Stellen sind allerdings die vierte Catilinarische und die zweite Philippische Rede, auf die ein Deklamator in der sechsten Suasorie anspielt; vgl. suas. 6,12 mit dem Kommentar zur Stelle: quod grandia loquitur et dicit: ‘mors nec immatura consulari nec misera sapienti’, non movet me; Catil. 4,3: neque turpis mors forti viro potest accidere neque immatura consulari nec misera sapienti; Phil. 2,119: etenim, si abhinc annos prope viginti hoc ipso in templo negavi posse mortem immaturam esse consulari, quanto verius non negabo seni! Auch Cestius rekurriert in § 3 auf Ciceros Verachtung des Todes, allerdings auf andere Weise, da jener Deklamator an Ciceros Worte über Milos Todesverachtung erinnert; vgl. § 3 mit dem Kommentar zur Stelle: ubi est sacra illa vox tua: ‘mori enim naturae finis est, non poena’? hoc tibi uni non liquet? at videris Antonio persuasisse. Antonium illi non vitam cum condicione promittere, sed mortem sub infamia quaerere: Dies ist im Grunde genommen kein neues Argument, sondern eine Verknüpfung der beiden vorher genannten Argumente, dass Antonius Cicero ohnehin töten werde (combustis enim libris nihilominus occisurum) und die Bücherverbrennung eine Farce sei (vgl. den vorigen Satz und das Stichwort contumelia am Anfang des Paragraphen). itaque quod turpiter postea passurus esset, nunc illum debere fortiter pati: Der Deklamator meint, dass Cicero lieber jetzt tapfer den Tod wählen solle, als nach der Verbrennung seiner Schriften von Antonius getötet zu werden; vgl. weiter oben: combustis enim libris nihilominus occisurum. Die Argumentation mit einem ehrenhaften Tod wird auch in den Exzerpten von Cestius (§ 3), Asprenas (§ 4), Argentarius (§ 8) und Gargonius (§ 14) deutlich.

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7 suas. 7

Dritter Teil (11b-14) Et haec suasoria *** 〈insania〉 insignita est: Der Name des Deklamators, der die folgende Sentenz formuliert hat, ist nach einhelliger Meinung der modernen Herausgeber ausgefallen. Uneinigkeit herrscht nur bei der Frage, an welcher Stelle er ausgefallen ist und ob er rekonstruiert werden kann. Dass der Name des betreffenden Deklamators wohl in diesem Satz ausgefallen ist, zeigen Håkanson (1989) 372 und Müller (1887) 581 im Anschluss an Gertz an, der als erster Textkritiker eine Lacuna hinter suasoria postulierte (vgl. Müller [s.o.]). Kiessling (1872) 55 lässt offen, ob der Name des Deklamators am Ende dieses oder am Anfang des nächsten Satzes ausgefallen ist. Bursian (1857) 43 nimmt im Anschluss an Schulting (vgl. Müller [s.o.]) hinter dixit enim im folgenden Satz eine Lücke an. Für eine Lacuna in diesem Satz spricht jedoch die Tatsache, dass et haec suasoria insignita est kein vollständiger Satz ist und daher keinen Sinn ergibt: Es fehlt die Angabe, wodurch bzw. warum auch diese Suasorie ‘insigniert’ ist (für insignitus im rhetorischen Kontext vgl. ThLL VII 1,1908,61– 69). Ferner würde die Namensangabe im nächsten Satz relativ spät erfolgen. Håkanson (s.o.) ist der einzige Herausgeber, der es wagt, eine Supplierung vorzunehmen, indem er Murredii insania vor insignita est ergänzt. Ad loc. rechtfertigt er diese Ergänzung dadurch, dass das et i.S.v. etiam am Anfang des Satzes angibt, dass es sich um einen häufig kritisierten Deklamator handeln muss. Murredius wird nämlich an allen 14 anderen Stellen, an denen er von Seneca d.Ä. zitiert wird, ausschließlich aufgrund seiner Schwächen zitiert (contr. 1,2,21 und 23; 1,4,12; 7,2,14; 7,3,8; 7,5,10 und 15; 9,2,27; 9,4,22; 9,6,12; 10,1,12; 10,4,22; 10,5,28; suas. 2,16); vgl. z. B. contr. 7,2,14: et Murredius non est passus hanc controversiam transire sine aliqua stuporis sui nota. Gargonius hingegen, der auch in Frage käme, wird in § 14 zitiert. Ferner ist der Ausfall von insania plausibel, da insania leicht vor insignita ausgefallen sein kann. Insania bzw. das dazu gehörige Verb insanire sind Termini technici zur Kritik an den Äußerungen von Deklamatoren; vgl. suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle. Gegen Gertz’ Supplierung insania declamatorum (vgl. Müller [s.o.]) spricht in der Tat, wie Håkanson ad loc. bemerkt, die Tatsache, dass nur eine Sentenz derart stark kritisiert wird, während Surdinus’ Sentenz (§ 12) innerhalb einer Anekdote seinen Platz findet. Morgensterns Supplierung insania Seniani (vgl. Müller [s.o.]) ist allerdings ebenfalls in Betracht zu ziehen, da auch Senianus häufiger kritisiert wird (vgl. contr. exc. 5,2; 7,5,10 f.; 9,2,28). Den Ausfall des Namens dieses Deklamators nimmt auch Gertz (1879) 155 an, der Senianus im nächsten Satz hinter dixit enim ergänzt. Dort fällt der Name aber wohl zu spät (s.o.). Daher scheint es ratsam zu sein, in diesem Satz eine Lacuna anzuzeigen, in der wohl der Ablativ insania und der Name eines Deklamators (im Genetiv) ausgefallen sind.

7.2 Kommentar

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dixit enim sententiam cacozeliae genere humillimo et sordidissimo, quod detractione aut adiectione syllabae facit sensum: ‘Pro facinus indignum! peribit ergo, quod Cicero scripsit, manebit, quod Antonius proscripsit’: Die Sentenz des Deklamators beruht auf der Hinzufügung der Silbe pro- in proscripsit (in Relation zum vorausgehenden scripsit). Es liegt also eine Paronomasie vor. Manebit quod Antonius proscripsit bezeichnet den hypothetischen Umstand, dass der von Antonius proskribierte Cicero Unversehrtheit zugesichert bekommt. Für das Argument, dass es unvorstellbar wäre, wenn zwar Ciceros Schriften vernichtet werden, aber Cicero selbst noch weiterleben würde, vgl. Argentarius in §§ 7f. passim und v. a. 8: aufertur Ciceroni ingenium sine vita. Für die cacozelia vgl. corruptus suas. 1,12 mit dem Kommentar zur Stelle. Als eigene Art der Sentenz kommt der hier referierte Typ in Quintilians Sentenzenkapitel (inst. 8,5) nicht vor. Macrobius (2,4,21) referiert eine Sentenz derselben Art von Asinius Pollio: temporibus triumviralibus Pollio, cum Fescenninos in eum Augustus scripsisset, ait: ‘at ego taceo. non est enim facile in eum scribere qui potest proscribere’. Vgl. auch folgende Paronomasie (Cic. Catil. 1,30): intellego hanc rei publicae pestem paulisper reprimi, non in perpetuum comprimi posse. Bei detractione handelt es sich um eine Korrektur (B2) – wenn man davon absieht, dass B2 durch Hinzufügung einer Mittelsilbe detractatione herstellen wollte –, die wir wie Håkanson (1989) 372 in den Text setzen, weil detractus, die Lesart der Recentiores (detractu), sonst nirgends belegt ist (vgl. ThLL V 1,822,75 – 77). 12 Apud Cestium praeceptorem declamabat hanc suasoriam SVRDINVS, ingeniosus adulescens, a quo Graecae fabulae eleganter in sermonem Latinum conversae sunt: An dieser Stelle referiert Seneca d.Ä. eine Anekdote, der in § 13 eine weitere folgen wird. Über Surdinus ist uns, wie auch Håkanson ad loc. kommentiert, nichts weiter bekannt (vgl. RE IV A 1, s.v. Surdinus, Sp. 965). Daher lässt sich – wie bei Statorius Victor (suas. 2,18) – nicht genau sagen, ob es sich bei den fabulae, die er aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt hat, um Dramen, Fabeln oder Erzählungen handelt; vgl. suas. 2,18 mit dem Kommentar zur Stelle. Anstelle des überlieferten praetorem, das hier mit Bezug auf Cestius keinen Sinn ergibt, lesen alle modernen Herausgeber mit Bursian (1857) 43 Pium rhetorem. Zu erwägen ist neben anderen Konjekturen (s. den Apparat) auch diejenige von Schott: praeceptorem. Eine Entscheidung ist insofern schwierig, als für die Hinzufügung von beiden Berufsbezeichnungen zum Eigennamen Parallelen existieren; für rhetor vgl. z. B. contr. 1 praef. 22; 1,2,21; für praeceptor vgl. mit Bezug auf Cestius contr. 9,3,12. Allerdings halten wir den Ausfall einer Mittelsilbe, also die Genese von praetorem aus praeceptorem, für wahrscheinlicher.

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7 suas. 7

solebat dulces sententias dicere, frequentius tamen praedulces et infractas: Surdinus hat mit seiner Suche nach „süß klingenden“ (dulces) Sentenzen derart übertrieben, dass sie dies im Übermaß taten. Möglicherweise ist dieses Urteil formal durch die Sentenz am Ende von § 11 angeregt, wie Winterbottom (1974) II 608 f. Fußn. 3 bemerkt, d. h. die Paronomasie des Deklamators scripsit – proscripsit spiegelt sich vielleicht in den Adjektiven dulces – praedulces wider. Praedulcis, das soviel wie valde oder – wie hier – nimis dulcis bedeutet, ist zuvor nur an einer einzigen Stelle überliefert, nämlich bei Vergil (Aen. 11,155); vgl. ThLL X,II,I-VII 592,38 – 43. Später benutzt es Quintilian zweimal (inst. 2,5,22; 8,3,56). Infractus ist hier synonym zu mollis (vgl. ThLL VII 1,1494,76 – 1495,4). Für infractus in der Stilkritik vgl. Cic. orat. 170, wo der Begriff nahezu das Gegenteil von dem bezeichnet, was er hier bedeutet: isti [sc. diejenigen, die keinen Rhythmus in der Gerichtsrede benutzen] et ipsi infracta et amputata loquuntur.Vgl. auch contr. 7,4,8: et omnia in illo epilogo fere non tantum emollitae compositionis sunt sed infractae. In hac suasoria cum ius iurandum bellis sensibus prioribus complexus esset, adiecit: ‘ita te legam!’: Surdinus benutzt bei dieser Suasorie einen Schwur, um Cicero vom Verbrennen seiner Schriften abzuraten, wie es auch Gargonius tut (§ 14): ita aut totus vivat Cicero aut totus moriatur, ut ego, quae hodie pro Ciceronis ingenio dixero, nulla pactione delebo. Zu seinem Schwur fügt Surdinus die Worte ita te legam! („so wahr ich dich lesen will“; vgl. O. & E. Schönberger [2004] 305) hinzu. Sensus ist in der hier vorliegenden Verwendungsweise synonym mit sententia; vgl. suas. 1,13 mit dem Kommentar zur Stelle. Für complecti vgl. suas. 6,11 mit dem Kommentar zur Stelle: et omnia complexus est, quae a ceteris dicta erant. CESTIVS, homo nasutissimus, dissimulavit exaudisse se, ut adulescentem ornatum quasi †impudens† obiurgaret: ‘Quid dixisti, quid? ita te fruar?’: Cestius unterstellt Surdinus eine erotische Absicht mit Blick auf Cicero (für frui in diesem Kontext vgl. ThLL VI 1,1424,22– 51). Er versteht nämlich das von Surdinus benutzte Verb legere i.S.v. eligere (vgl. ThLL VII 2,1127,1– 38). Als spöttische Person wird Cestius auch in der Praefatio zum siebenten Kontroversienbuch vorgestellt; dort nennt Seneca d.Ä. ihn mordacissimus (contr. 7 praef. 8). Vgl. auch Cestius’ Spott contr. 1,3,10. Das Adjektiv nasutus wird hier i.S.v. „spöttisch“ verwendet. Zur Metapher der Nase i.S.v. „Spott“ vgl. suas. 1,6 mit dem Kommentar zur Stelle: belle illis cesserat, si nasus Atticus ibi substitisset. Das Verb exaudire bedeutet soviel wie plane audire (vgl. ThLLV 2,1189,71– 84), so dass dissimulavit exaudisse se „er tat so, als hätte er nicht richtig verstanden“ bedeutet. Für ornatus mit Bezug auf Menschen („vortrefflich“) vgl. ThLL IX 1032,47– 84; für die Junktur adulescens ornatus vgl. Cic. div. in Caec. 29. Das in den besten Handschriften überlieferte impudens wird von allen modernen Herausgebern verworfen. Bursian (1857) 44, Kiessling

7.2 Kommentar

523

(1872) 55 und Håkanson (1989) 373 lesen mit den Recentiores imprudens. Müller (1887) 582 emendiert die Überlieferung zu impudens esset [sc. Surdinus]. Für weitere Emendationen s. den Apparat. Håkanson ad loc. wendet gegen Müllers Konjektur ein, dass impudens selten in einem erotischen Kontext verwendet wird, wie der Thesaurus angibt (vgl. ThLL VII 1,707,40: raro erot.). Das Adjektiv imprudens hingegen passe gut zu dem Gedanken, der in dissimulavit exaudisse se ausgedrückt wird (für imprudens i.S.v. invitus vgl. ThLL ib. 702,26 – 703,26; Cic. inv. 1,46: qui inprudentes laeserunt). Wir halten eine Entscheidung in dieser Frage für schwierig, da sowohl quasi imprudens [sc. Cestius] als auch quasi impudens esset [sc. Surdinus] sinnvoll sind. Für die letzte Möglichkeit spricht vielleicht contr. exc. 3,7: hunc Cestius, quasi corrupte dixisset, obiurgans ‘apparet’ inquit ‘te poetas studiose legere […]’. Daher setzen wir Cruces. Erat autem Cestius nullius quidem ingenii 〈amator〉, Ciceroni etiam infestus, quod illi non impune cessit: An dieser Stelle beginnt die nächste Anekdote, für die Cestius’ Eitelkeit von Relevanz ist. Für Cestius’ Eitelkeit vgl. diejenige Anekdote, die Seneca d.Ä. in der Praefatio zum dritten Kontroversienbuch zitiert (contr. exc. 3 praef. 17); dort erzählt Cassius Severus, dass er Cestius nicht dazu bewegen konnte, Cicero den ersten Rang in der Beredsamkeit zuzugestehen. Für die Rivalität mit Cicero und die Formulierung Ciceroni etiam infestus vgl. suas. 6,14: [sc. Asinius Pollio] infestissimus famae Ciceronis permansit. Während Asinius Pollio jedoch vor allem Ciceros Charakter verunglimpft, rüttelt Cestius an dem Stellenwert des Redners Cicero. Cestius’ Selbsteinschätzung entspricht nach Meinung von Cassius Severus sogar dem Urteil der Jugend (vgl. contr. exc. 3 praef. 15). Für illi non impune cessit („er kam nicht ungestraft davon“) vgl. suas. 1,6: belle illis cesserat, si nasus Atticus ibi substitisset. Das überlieferte erat autem Cestius nullius quidem ingenii ist nur von Bursian (1857) 44 gehalten worden. Seit Müller (1887) 582 ergänzen die Herausgeber nisi sui amator, wobei amator schon von Kiessling (1872) 55 suppliert wurde und Gertz die zusätzliche Ergänzung von citra sui vorgeschlagen hat (vgl. Müller [s.o.]). Die Überlieferung ist wohl nicht zu halten, da Seneca d.Ä. kaum über Cestius gesagt haben dürfte, dass er über kein Talent verfügt. Zwar rechnet Seneca d.Ä. Cestius nicht zu den vier besten Deklamatoren (vgl. contr. 10 praef. 13), aber es gibt keine andere Stelle, an der der Deklamator auch nur annäherungsweise so stark kritisiert würde wie hier. Ferner würde Seneca d.Ä. suas. 1,5 – 8 nicht ausführlich Cestius’ Ratschläge zum Halten der entsprechenden Deklamation zitieren, wenn dieser ein Mann ohne ingenium wäre. Schließlich bewegen sich die Angabe erat autem Cestius nullius quidem ingenii und die folgende Information Ciceroni etiam infestus auf unterschiedlichen Ebenen. Letztere Angabe und die folgende Anekdote lassen eher darauf schließen, dass hier Cestius’ Eitelkeit genannt wird. Daher ist eine Supplierung unumgänglich.

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7 suas. 7

Fraglich ist nur, ob man mit Kiessling lediglich amator oder mit Müller nisi sui amator (oder mit Gertz citra sui amator) ergänzt (s.o.). Müllers Supplierung lehnt sich an Quintilians berühmtes Urteil über Ovid an; vgl. inst. 10,1,88: lascivus quidem in herois quoque Ovidius et nimium amator ingenii sui, laudandus tamen partibus. Daher, d. h. da Müllers Ergänzung in gewisser Weise anachronistisch ist, und weil die Supplierung von nisi sui (oder citra sui) nicht unbedingt erforderlich erscheint, ergänzen wir mit Kiessling amator. Für amator vgl. z. B. Cic. Tusc. 4,27. 13 Nam cum M. Tullius, filius Ciceronis, Asiam obtineret, homo qui nihil ex paterno ingenio habuit praeter urbanitatem, cenabat apud eum Cestius: Das nur hier geschilderte Ereignis bezieht sich auf das Prokonsulat von Ciceros Sohn (vgl. RE VII A 2 s.v. Tullius 30, Sp. 1281– 1286). Die Datierung des Prokonsulats ist ungewiss. Da der jüngere Cicero 30 v.Chr. zum consul suffectus ernannt wurde, war er möglicherweise 29 v.Chr. Prokonsul; vgl. Migliario (2007) 134. M. Tullio et natura memoriam dempserat et ebrietas, si quid ex ea supererat, subducebat: Für die Trunkenheit des jüngeren Cicero vgl. Plin. nat. 14,147; Plut. Cicero 24,8. Si quid ex ea supererat bezieht sich auf die memoria, d. h. der Gedanke ist, dass die Trunkenheit das Wenige auslöschte, was die memoria des jüngeren Cicero zu behalten vermochte. Die Herausgeber seit Müller (1887) 582 lesen mit Gertz (1879) 155 ademerat anstelle des überlieferten demerat (BV) bzw. demserat (V2) bzw. dempserat (D). Kiessling (1872) 55 liest mit der jüngeren Handschrift D dempserat. Für weitere Emendationen s. den Apparat. Unserer Meinung nach legt das folgende Verb superesse nahe, dass hier ein Verb stehen muss, das eine Subtraktion zum Ausdruck bringt und damit ein Synonym zu subducere darstellt. Daher ist zwischen dempserat, das auch Novák (1915) 288 vorzieht, und ademerat (Gertz) zu entscheiden. Auch wenn – wie Håkanson ad loc. geltend macht – der Ausdruck memoriam demere nirgends belegt ist, während für memoriam adimere Parallelen vorliegen (Plin. nat. 37,163; Isid. orig. 16,10,4), scheint uns dempserat die einfachere Verbesserung zu sein. Vgl. immerhin demere sollicitudinem Cic. Att. 11,15,3. subinde interrogabat, qui ille vocaretur, qui in imo recumberet, et cum saepe subiectum illi nomen Cestii excidisset, novissime servus, ut aliqua nota memoriam eius faceret certiorem, interroganti domino, quis ille esset, qui in imo recumberet, ait: ‘hic est Cestius, qui patrem tuum negabat litteras scisse’: Der Witz an dieser Anekdote ist, dass der jüngere Cicero aufgrund seines schlechten Gedächtnisses immer wieder nach Cestius’ Namen fragen muss, jedoch dadurch, dass Cestius’ Schmähung als Gedächtnisstütze genannt wird, sofort weiß, mit wem er es zu tun hat. Migliario (2007) 134– 136; (2008) 87– 89; (2009)

7.2 Kommentar

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519 – 521 kontrastiert Cestius’ Schmähung mit dessen Suasorienexzerpten (§§ 2 und 10; suas. 6,4) und gelangt zu der wenig überzeugenden Schlussfolgerung, dass der Grieche nach der Übersiedlung nach Rom die Vorstellungen seiner römischen Kollegen übernommen hat; s. das Kapitel „Die politische Dimension der Suasorien“ (S. 67– 75, v. a. 73 f.). Bei dem imus [sc. lectus] handelt es sich um die Liege rechts vom lectus medius bei einem triclinium; für in imo recumbere vgl. Petr. 38,7: vides illum, qui in imo imus recumbit. Für den Vorwurf litteras nescire („ungebildet sein“) vgl. ThLL VII 1524,35 – 53 und Cic. fin. 2,12: quod vestri quidem vel optime disputant, nihil opus esse eum, qui philosophus futurus sit, scire litteras. Das Adverb subinde („wiederholt“) ist seit Livius (z. B. 3,58,7) in der lateinischen Prosa belegt. adferri protinus flagra iussit et Ciceroni, ut oportuit, de corio Cestii satisfecit: Der jüngere Cicero rächt sich und lässt Cestius wegen der Verunglimpfung seines Vaters auspeitschen. Corium, das eigentlich festere Haut bezeichnet, wird in Phraseologismen dazu verwendet, um körperliche Züchtigung zu bezeichnen; vgl. z. B. corium concidere Plaut. Am. 85; corium petere Cic. Tull. 49. Für satisfacere alicui de corio alicuius vgl. contr. 10 praef. 10: non ergo […] debuit de corio eius nobis satis fieri? Kiessling (1872) 56 liest daher zu Unrecht mit Schulting den Nominativ Cestius. 14 Erat autem, etiam ubi pietas non exigeret, scordalus: Sc. M. Tullius. Das Charakterbild des jüngeren Cicero wird in einer weiteren Anekdote noch näher bestimmt. Hybreae, disertissimi viri, filio male apud se causam agenti ait: ‘ἡμεῖς οὖν πατέρων;’: Der jüngere Cicero zitiert eine Stelle aus der Ilias und benutzt sie als zynischen Kommentar. Das Zitat entstammt derjenigen Stelle des vierten Buches, an der Agamemnon seine Schlachtreihen mustert und die Krieger provoziert, um sie zur Höchstleistung anzuspornen. Diomedes, der neben Sthenelos steht, wirft er vor, dass sein Vater Tydeus ein besserer Kämpfer war. Diomedes nimmt diese Provokation hin, Sthenelos jedoch widerspricht Agamemnon, indem er sagt (Hom. Il. 4,405): ἡμεῖς τοι πατέρων μέγʼ ἀμείνονες εὐχόμεθʼ εἶναι. Dadurch dass der jüngere Cicero diesen Homervers zitiert und fragend auf sich selbst und den jüngeren Hybreas bezieht, bringt er zum Ausdruck, dass die beiden nicht wie Sthenelos behaupten können, ihre Väter zu übertreffen, sondern hinter deren rednerischer Exzellenz zurückstehen. Da der jüngere Cicero diesen Vers unvollständig zitiert, ist wohl davon auszugehen, dass er bekannt gewesen ist (s.u.). Für die Bekanntheit spricht auch die Tatsache, dass Plutarch den Vers zitiert (mor. 29a; 540e). Für den Vater Hybreas, der bisweilen von Seneca d.Ä. zitiert wird (z. B. suas. 4,5), vgl. Val. Max. 9,14 ext. 2, wo er als [sc. orator] copiosae atque concitatae

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7 suas. 7

facundiae bezeichnet wird; Bornecque (1902) 172 f.; Echavarren (2007) 153. Die griechischen Worte ἡμεῖς οὖν πατέρων stellen eine Emendation von Wilamowitz dar. In den Handschriften ist dieses griechische Zitat – wie so oft bei Graeca (vgl. suas. 1,11) – fast bis zur Unkenntlichkeit verschrieben worden. Bursian (1857) 44 und Kiessling (1872) 56 lesen Bursians Emendation μὴ οὖν πατὴρ ὤν. Hiergegen ist aber einzuwenden, dass das folgende Zitat aus den Catilinarien auch hier ein literarisches Zitat erwarten lässt und dass die Worte μὴ οὖν πατὴρ ὤν eine ungewöhnliche Formulierung des Sachverhaltes darstellen, dass der Sohn hinter seinem Vater zurücksteht. Gegen Gertz’ (1879) 156 Emendation ἦ μὴν οὐ πατρώζεις spricht ebenfalls das Argument, dass sie weniger pointiert ist als das Homerzitat. Müller (1887) 582 ergänzt zu Wilamowitz’ Emendation die restlichen Worte aus dem entsprechenden Homervers (μέγʼ ἀμείνονες εὐχόμεθʼ εἶναι). Aber zum einen spricht nichts gegen die Annahme, dass das verkürzte Homerzitat von den Zuhörern verstanden wurde. Und zum anderen begegnen auch anderswo verkürzte Zitate; vgl. contr. 7,5,10 (und Verg. Aen. 2,40): ex illis, qui res ineptas dixerant, ‘primus ibi ante omnis’ Musa voster. Zwar ist bei Homer nicht οὖν, sondern τοι überliefert, aber das Phänomen, dass ungenau zitiert wird, begegnet öfters; vgl. suas. 2,20 und 3,4 mit dem Kommentar jeweils zur Stelle. et cum in quadam postulatione Hybreas patris sui totum locum ad litteram omnibus agnoscentibus diceret, ‘age’ inquit ‘non putas me didicisse patris mei: quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?’: Das Cicerozitat (der erste Satz aus Catil. 1,1) bezieht sich derart auf das nicht näher entfaltete Hybreaszitat, dass der jüngere Cicero dem jüngeren Hybreas vorwirft, ebenso die Geduld überzustrapazieren, wie es Catilina (in Ciceros Darstellung) getan hat. Die postulatio bzw. postulare bezeichnen als Termini technici „jede[n] Antrag einer Partei an den Gerichtsmagistrat auf Vornahme eines zur Gerichtsbarkeit gehörenden Aktes“ (Kaser [1966] 171; vgl. Ulp. dig. 3,1,1,2). Die postulatio ist daher eine Vorstufe zur actio. Der Genetiv patris mei erklärt sich entweder als Ellipse patris mei [sc. dictum] oder als Genetivattribut zum folgenden Objekt, das das Zitat bildet. GARGONIVS amabilissimus in hac suasoria dixit duas res, quibus stultiores ne ipse quidem umquam dixerat: Gargonius begegnet an vier weiteren Stellen im Werk des älteren Seneca (contr. 1,7,18; 9,1,15; 10,5,25; suas. 2,16), an denen er fast nur kritisiert wird. Alle modernen Herausgeber greifen in den überlieferten Text ein, da sie an amabilissimus neben Gargonius Anstoß nehmen. Bursian (1857) 44 liest homo vilissimus anstelle von amabilissimus, worin ihm Kiessling (1872) 56 folgt. Håkanson (1989) 373 übernimmt Müllers (1887) 583 Supplierung von fatuorum vor amabilissimus. Gronovius (1672) 57 schlägt die Supplierung von stul-

7.2 Kommentar

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torum hinter amabilissimus vor. Thomas (1886) 46 empfiehlt die Supplierung von fatuus oder stultus vor amabilissimus, Franzoi (1992) 226 diejenige von homo. Dabei verweisen die Textkritiker auf contr. 7,5,11: nihil est autem amabilius quam diligens stultitia und 10,5,25: non minus stulte Aemilianus quidam, Graecus rhetor, quod genus stultorum amabilissimum est, ex arido fatuus, dixit […]. Jedoch sind alle unterbreiteten Emendationsvorschläge zurückzuweisen und die Überlieferung zu halten. Denn der Kontrast zwischen amabilis und stultus bzw. die besondere Konnotation von amabilis kommt auch im überlieferten Text deutlich genug zum Ausdruck, da das Adjektiv stultus im Nebensatz gebraucht wird. unam in principio; nam cum coepisset scholasticorum frequentissimo iam more a iure iurando et dixisset multa, 〈ait〉: ‘ita quam primum tantum timeat, quantum potest, ita aut totus vivat Cicero aut totus moriatur, ut ego, quae hodie pro Ciceronis ingenio dixero, nulla pactione delebo’: Die erste beanstandete Äußerung findet sich im Schwur, den er zu Beginn seiner Deklamation verwendet. Für die Verwendung eines Schwures vgl. Surdinus in § 12; Quint. inst. 9,2,98. Die Kritik des älteren Seneca richtet sich – auch in der Textkonstituierung derjenigen, die von der Überlieferung abweichen (s.u.) – gegen den indirekten Vergleich des Deklamators mit Cicero. Der gesamte Satz ist textkritisch und damit auch in seinem Aufbau und Inhalt sehr umstritten. In unseren Augen kann die Überlieferung gehalten werden, wie es auch Bursian (1857) 44 f. und Kiessling (1872) 56 tun (die Frage, ob ein Verbum dicendi wie ait als Hauptsatz zu ergänzen ist, klammern wir zunächst aus). Der Sinn des ersten Teiles des Schwures ist, dass Antonius sobald wie möglich wieder Angst haben soll, weil Cicero ihn in der Form attackiert, wie er es in den Philippiken getan hat. Dass Antonius das Subjekt dieses Teilsatzes ist, wird aus dem Kontext und der Tatsache deutlich, dass Cicero im zweiten Teil des Schwures genannt wird (man muss daher nicht Antonius hinter tantum supplieren, wie es Bursian [s.o.] erwägt). Für totus vivat Cicero aut totus moriatur mit Bezug auf sein Werk vgl. Cestius in § 2 mit dem Kommentar zur Stelle: ad pactionem vocaris, qua pactione melior in te pars tui petitur. Gegen Müllers (1887) 583 Textkonstitution itaque primum tantum Antonium timeat, quantum potest lässt sich mit Shackleton Bailey (1969) 321 einwenden, dass sie „little better than nonsense“ ist. In der Textkonstitution von Shackleton Bailey ait, ut quam primum tantum tumeat, quantum potest ist das Präsens in tumeat ebenso unverständlich wie die Angabe quam primum nach multa dixisset, wie Håkanson (1976) 129 zu bedenken gibt. Auch Håkanson (1989) 373 lässt hier noch nicht den Schwur beginnen, indem er folgendermaßen transponiert (und andere Eingriffe tätigt): nam cum coepisset scholasticorum frequentissimo iam more, ut quam primum tantum tumeant, quantum potest, a iure iurando et dixisset multa, ait: ita aut totus vivat Cicero aut totus moriatur, ut ego, quae hodie pro Ciceronis ingenio dixero,

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7 suas. 7

nulla pactione delebo. Unserer Meinung nach ist in dieser Textkonstituierung die Stellung von a iure iurando, das zu coepisset gehört, zweifelhaft. Vor allem erscheint uns fragwürdig, dass der Gebrauch eines Eides automatisch mit Schwulst in eins gesetzt wird. Die Angabe dixisset multa bringt wohl zum Ausdruck, dass Gargonius seinen Eid in die Länge gezogen hat. Die Supplierung eines Verbum dicendi halten wir wie die Herausgeber seit Kiessling (s.o.) mit C.F.W. Müller für notwendig, um so den Hauptsatz herzustellen. Bursian (s.o.) stellt eine Verknüpfung mit dem folgenden Satz her, so dass alteram rem dixit der Hauptsatz ist. Aber aufgrund von unam in principio [sc. dixit] dürfte klar sein, dass zwei verschiedene Satzgefüge vorliegen. Da ait leicht nach dem -a in multa und vor ita ausgefallen sein kann, lesen wir dieses Verbum dicendi hinter dixisset multa. alteram rem dixit, cum exempla referret eorum, qui fortiter perierant: ‘Iuba et Petreius mutuis vulneribus concucurrerunt et mortes faeneraverunt’: Die zweite kritisierte Äußerung liegt in der Formulierung mortes faeneraverunt („sie liehen sich den Tod auf Zinsen“), die in der Polysemie des vorhergehenden Adjektives mutuus angelegt ist, das sowohl „gegenseitig“ (vgl. OLD s.v. mutuus 2) als auch „mit Zinsen“ (vgl. ib. 1) bedeutet. Für die eigentliche Bedeutung von faenerare vgl. Aug. in psalm. 36 serm. 3,6: si faeneraveris homini, id est mutuam pecuniam tuam dederis, a quo aliquid plus, quam dedisti, expectes accipere […]. Für den gegenseitigen Tod, den sich der Numiderkönig Iuba und Petreius (vgl. § 3 mit dem Kommentar zur Stelle) nach der Schlacht bei Thapsus gegeben haben, vgl. bell. Afr. 94: Rex interim ab omnibus civitatibus exclusus desperata salute, cum iam cenatus esset, cum Petreio, ut cum virtute interfecti esse viderentur, ferro inter se depugnant, atque firmior imbecilliorem Iubam Petreius facile ferro consumpsit. Deinde ipse sibi cum conaretur gladio traicere pectus nec posset, precibus a servo suo impetravit, ut se interficeret, idque obtinuit; Sen. dial. 1,2,10: Petreius et Iuba concucurrerunt iacentque alter alterius manu caesi, fortis et egregia fati conventio.

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Kommentar Håkanson, Lennart: Unveröffentlichter Kommentar zu Seneca maior. Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores. [Dieser textkritische Kommentar hat uns mit freundlicher Genehmigung der Universität Uppsala, Schweden als Typoskript zur Verfügung gestanden.]

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Verzeichnis der rhetorischen und literaturwissenschaftlichen Termini (Für weitere Indices vgl. Håkanson [1989] 375 – 384.)

Actio 7, 45, 134, 136, 332, 430 f., 444, 448, 526 Aemulatio 297, 335 f. Anachronismus 61 – 63, 88, 228, 280, 301 f., 302 f., 318, 320, 395 f., 484, 504, 524 ἀπὸ κοινοῦ 200, 239, 255, 399, 475 Apollodoreer 334 f., 445 Apostrophe 176, 367, 390 f. Argumentatio /Argumentation 37, 38 – 44, 47 f., 63 – 67, 151, 155, 162, 191, 261, 266 f., 322 – 325, 329, 334 f., 337, 341, 362, 370, 373 – 376, 379, 383 f., 407 f., 411, 413, 423, 502 f., 512 – 514, 517, 519 Argumentum a maiori 171 Argumentum a minori 197, 229, 317 f., 319, 390, 395 f., 412 f., 487 f. Ars 13 Asianismus 334 f. Attizismus 334 f. Brachylogie 35, 196, 201, 212, 240, 288, 349, 351, 369, 400, 489, 496 f., 511 Color / χρῶμα 36, 40 Fußn. 189, 44 – 59, 198, 211, 301, 326 f., 382 f., 425, 519 Coniectura / status coniecturalis / στοχασμός 18, 21, 48 f., 51 – 58, 151, 196 Contradictio 92, 117, 229, 289, 291 Correctio 209 Definitio / status definitivus / ὅρος 18, 21, 49 Descriptio / descriptiuncula 107, 113 f., 121 f., 201, 213, 258, 262, 265, 326 – 328, 337 διάλεξις 40 Fußn. 190, 91 Distinctio 170, 254, 501 Divisio 36, 38 – 44, 59, 61, 64, 73 et passim

δυνατόν 63 – 65, 151, 179, 191 f., 268, 379, 407, 421 f. Ellipse 34, 197, 212, 228, 229 f., 249 f., 275, 293, 323 f., 376 f., 387 f., 408 f., 429, 447, 493 f., 504 f., 526 Elocutio 45 Epilog 27 f. Exercitatio 3, 7, 10 f., 23, 25, 28 Fußn. 143 Explicatio 113, 119, 125, 232, 262, 264, 303 f., 355 f. Fabula 117, 145, 291, 293, 521 Figurierte Redeweise 57 f., 179, 411 f. Fiktion 2 f., 10, 24, 28 – 31, 33, 35, 62, 148, 157, 214, 227, 285 f., 357 f., 381 – 383, 428, 488 Genus deliberativum / γένος συμβουλευτικόν 2, 14, 24, 28, 31 f., 57 Fußn. 274, 58, 75 – 77, 179 f. Genus demonstrativum 2 f., 14, 32 Genus iudiciale 2, 10, 14, 24, 28 f., 31 – 33, 58, 198 Herrscherlob 103 f., 161 – 163, 170, 178 f., 181, 184 f., 342, 351, 355, 517 Honestum 63 – 65, 114, 131, 151, 168, 179, 191, 227, 229, 239, 245, 254, 258 f., 266, 268, 323, 360, 369 f., 378, 407 f., 411 f., 414, 421 f. Hyperbaton 217, 313, 346 f., 394 Hyperbel 157 f., 207 – 209, 255, 284 f., 295 f., 379, 394, 403 f., 416, 436, 448, 450, 491, 504 Hypothese / ὑπόθεσις 1 f., 7 – 35

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Verzeichnis der rhetorischen und literaturwissenschaftlichen Termini

Imitation 11, 60 f., 104 f., 121, 186, 199, 202, 269 – 271, 294 – 297, 306, 307 – 311, 326 – 328, 330 f., 335 f., 479 f. Inventio 45, 56 f. Laudatio funebris / ἐπιτάφιον 136 f., 426, 448 – 450, 455, 458, 464 Locus communis 62, 66 Fußn. 312, 105, 121, 124, 170, 193 – 195, 242, 326, 337, 340, 354 f., 373, 379, 499, 514 Memoria 115, 145, 277, 524 Metapher 45, 55 – 58, 186 f., 189 f., 209 f., 236, 457, 498, 500, 522 Metaphrase / μετάφρασις 106, 202 – 209 μετάθεσις τῆς αἰτίας 50 – 58 Metonymie 248, 250, 290 f., 344, 368, 374, 434, 473 Narratio 4, 37, 47, 334 f., 494 Pars pro toto 163, 174, 477 Pathos 443 Peroratio 334 f., 390 Phantasia 63, 115, 279 Praelocutio 40, 42 f. Principium 48 Fußn. 236, 139, 145, 480, 527 f. Progymnasma 2 – 5, 15, 32, 80, 93, 202, 204 f., 269 Prolepse 208, 516 Pronuntiatio 25 Prooemium, προοίμιον 89, 91, 334 f.

Prosopopoiie, Ethopoiie 4 – 7, 10, 83, 93, 163, 192, 210 f., 219, 306, 312, 320 f., 367 Qualitas / status qualitatis / ποιότης 21, 46, 49 – 55, 58, 211 Quaestio 1, 9, 14, 16, 18, 22, 38 – 44, 48, 59, 64, 92, 105, 124, 151 f., 192 f., 195 f., 212, 266 f., 323, 351, 408, 421 Refutatio 92, 243, 245, 257, 268 Rezitation 69, 293 – 295, 297, 308, 330, 480 f. Sententia 36 – 38, 59, 61 Fußn. 294, 62, 105 – 109, 114 – 117, 119, 127 f., 131 f., 144 f. et passim Sermo 41, 88, 91, 177, 270 Sophistik 11 f., 78 Synekdoche 466 Theodoreer 122, 334 f. θεωρία, προθεωρία 86, 88 – 91, 177 These / θέσις 1 – 3, 7 – 35, 66 f., 77, 323 f., 341 Topos 75, 228, 236, 238, 278, 410, 475 Tractatio 122, 337 Utile 63 – 65, 131, 151, 168, 179, 191, 197, 227, 254, 258, 266 – 268, 323, 378, 407 f., 412 – 414, 422 Zeugma 162, 174, 250, 351, 498