Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung 9783666403422, 9783525403426, 9783647403427

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Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung
 9783666403422, 9783525403426, 9783647403427

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403426 — ISBN E-Book: 9783647403427

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403426 — ISBN E-Book: 9783647403427

Markus Hänsel (Hg.)

Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung

Mit 37 Abbildung und 3 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403426 — ISBN E-Book: 9783647403427

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40342-6 ISBN 978-3-647-40342-7 (E-Book) Umschlagmotiv von Michael Nietzer, digital bearbeitet von Markus Hänsel © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Markus Hänsel: Einleitendes Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses Friedrich Assländer: Vom Coach zum »Seelsorger« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Markus Hänsel: Die spirituelle Dimension als sinnstiftender Möglichkeitsraum im Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Paul Kohtes im Interview: Eine Frage der Haltung – Spirit im Business und im Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Wolfgang Looss im Interview: Sinnfragen erfordern Ortsbegehungen im Grenzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Bernd Schmid: Seele, Schuld und berufliches Handeln in Organisationen . . . 81 II Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching Michael H. Beilmann und Gillen Kalverkamp: Wie erleben wir die spirituelle Dimension im Coaching? Ein Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . . . 96 Anke Handrock und Eckhard Roediger: Die spirituellen Aspekte der Schematherapie und ihr Bezug zum Coaching-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Michael Habecker: Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Stephen Gilligan im Interview: Der Ansatz des generativen Coaching . . . . . . . 140 Torsten Jung: Achtsamkeit in systemischer Beratung und Coaching . . . . . . . 146 Günther Mohr: Spiritualität und transaktionsanalytisches Coaching . . . . . . . 192 Hans Kreis: Wie der Sehnsucht Wurzeln wachsen. Durch Coaching zur Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Klaus Renn und Silvia Bickel-Renn: Innere Achtsamkeit in Kontext und Situation. Ein systemisch-Focusing-orientierter Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

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Inhalt

Gunther Schmidt im Interview: Eine spirituelle Perspektive im Ansatz des hypnosystemischen Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Matthias Tholen: »Die Quelle kann man nicht austrinken!«. Glaubenspolaritäten im Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Sylvia Kéré Wellensiek: Den »ganzen Menschen« begleiten. Gezieltes Bewusstseinstraining im Coaching-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Manfred Zink: Zen im Coaching. Von der Inneren Form® zur äußeren Form der Bewusstseinsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 III Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen Matthias zur Bonsen und Myriam Mathys: Inseln der Lebendigkeit. Das soziale Betriebssystem von Organisationen bewusst gestalten . . . . . . . 298 Max Schupbach: Worldwork – Transformation von Organisationen, Kollektiven, Unternehmen und der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Ellen Schupbach im Interview: Spiritualität in der Prozessarbeit . . . . . . . . . . . 332 IV Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung Anna Gamma: »Das kann doch nicht alles gewesen sein!«. Lehrgang und Modell am Lassalle-Institut Zen.Ethik.Leadership . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Helen Lehmann: Spirituelles Coaching. Ein Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . 354 Barbara von Meibom: Spirituelles Selbstmanagement. Eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 V Drei Perspektiven spiritueller Lehrer Pater Anselm Grün im Interview: Kontakt zur inneren Quelle finden . . . . . . . . 378 Bernie Glassman Roshi im Interview: Es geht ums Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Annette Kaiser im Interview: Vom Trennungs- zum Einheitsbewusstsein . . . . 388

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Markus Hänsel

Einleitendes Vorwort

Beruflicher und gesellschaftlicher Ausgangspunkt Coaching ist zurzeit wohl eine der gefragtesten Beratungsleistungen für Unternehmen und Organisationen. Die klassischen Aufgaben sind Unterstützung bei Problemlösungen und beruflichen Herausforderungen, bei der Bewältigung von Krisensituationen sowie Begleitung bei beruflicher Entwicklung und Karriereplanung. Als Coach konnte ich in den letzten Jahren jedoch zunehmend beobachten, dass die Fragen und Anliegen vieler Klienten jenseits der rein funktionalen Aspekte ihrer professionellen Tätigkeit und Rolle liegen. Was sie bewegt, sind Fragen nach dem grundlegenden Sinn ihrer Arbeit, nach der Passung des Berufs mit ihren persönlichen Lebenszielen und letztlich nach der eigenen Berufung in einem größeren Zusammenhang. Gerade Menschen in Führungspositionen haben den Wunsch, mit ihrer Tätigkeit einen wirklich sinnstiftenden Beitrag zu leisten. Die Auseinandersetzung mit dieser existenziellen Suche nach Sinn, persönlicher Weiterentwicklung und nach Eingebundensein in einem größeren Zusammenhang des Lebens ist seit jeher Anliegen spiritueller Traditionen. Dass diese Suche immer mehr mit dem scheinbar profanen Erwerbsleben verknüpft wird, liegt wohl auch darin begründet, dass es gerade in diesem Bereich häufig an Sinn und Erfüllung mangelt, obwohl wir gleichzeitig immer mehr Zeit im Arbeitskontext verbringen. Arbeit, Leistung und damit verbundene Aspekte wie Wohlstand, Sicherheit und Status haben zwar weiterhin einen hohen Stellenwert, werden aber nicht mehr als allein glücklich machend erlebt. Somit wird der Beruf immer mehr mit einer Sinnfrage verknüpft, die nicht nur Privatsache der Einzelnen bleibt, sondern auch in die Organisationen weitergetragen wird. Unternehmen und Organisationen, die Coaching als Dienstleistung einkaufen, haben jedoch erst einmal nicht primär das Seelenwohl ihrer Mitarbeiter im Sinn, sondern deren Leistung. Gleichzeitig zeigt sich immer mehr, dass dort, wo die Sinndimension bei aller Kompetenz und Leistungsbereitschaft zu kurz kommt, Symptome wie Entfremdung und Burnout deutlich wahrscheinlicher werden – damit leidet auch die reale Leistungsmöglichkeit der Menschen und Organisationen. Diese Entwicklung ist daher auch für Coaches relevant, die ja oft von Menschen in Orientierungsphasen oder beruflichen Umbruchsituationen aufgesucht werden.

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Markus Hänsel

Das bringt die pragmatische Frage ins Spiel: Was kann eine spirituelle, sinnstiftende Orientierung im Umgang mit den Hochs und Tiefs im beruflichen Alltag bewirken – oder auch umgekehrt: Wie kann gerade die Auseinandersetzung mit diesen Themen als Teil einer spirituellen Suche verstanden und gelebt werden? Nun sind diese Fragen keineswegs neu: In den meisten spirituellen Traditionen führt der Entwicklungsweg geradewegs zu den Herausforderungen und Nöten des Alltags – denn genau in der alltäglichen Achtsamkeit kann uns eine tiefe Verbundenheit mit der spirituellen Dimension bewusst werden. Wenn ich Kollegen, Klienten oder Trainingsteilnehmer nach der Quelle der eigenen Professionalität frage, wird neben der beruflichen Ausbildung und Erfahrung meist eine sinn- und werteorientierte und immer häufiger auch eine spirituelle Grundlage genannt. So ist es nicht verwunderlich, dass der Pater und Zen-Meister Willigis Jäger oder der Benediktiner-Mönch Anselm Grün auch für viele Führungspersönlichkeiten zu wichtigen Impulsgebern geworden sind. Ausgehend von dieser Entwicklung möchte ich dem Buch folgende These voranstellen: Eine Grundhaltung und ein professionelles Vorgehen, das spirituelle, seelische und sinnorientierte Dimensionen berücksichtigt und aktiv miteinbezieht, werden im Coaching und in Beratung zukünftig eine wesentliche Ressource sein. Ich verstehe dies nicht als Aussage des Glaubens, sondern eine Einladung zur Überprüfung an Auswirkungen. Schließlich wird es für Coaching als Beratungsdienstleistung entscheidend sein, welchen Nutzen Klienten davon haben, wenn sich der Coach mit Spiritualität, in welcher Form auch immer, auseinandersetzt.

Die Intention des Buches Der zentrale Fokus für alle Beiträge war die Frage, welche Rolle Spiritualität im Coaching spielt und wie Coaches eine spirituelle Haltung und Praxis als Ressource in ihrer Arbeit nutzen können. Der Band stellt die Vielfalt dar, in der eine solche Begegnung und Auseinandersetzung stattfinden kann. Ich habe versucht, in der Zusammenstellung der Themen darauf zu achten, dass die beitragenden Autoren sowohl in ihren professionellen als auch in ihren spirituellen Hintergründen unterschiedliche Ausrichtungen einbringen. Dazu werden konzeptuelle, methodische und theoretische Ansätze über zwanzig erfahrener Coaches, Berater, Lehrtrainer als auch spiritueller Lehrer vorgestellt, die beleuchten, was eine spirituelle Dimension in Coaching und Beratung ausmacht, wie sie in die praktische Arbeit integriert werden kann und wie sie das professionelle Selbstverständnis verändert. Über diese konkreten Fragen und Anwendungen hinaus wird durch die Beiträge auch eine Sicht auf eine gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung möglich, innerhalb derer sich die Dimensionen Coaching und Spiritualität begegnen, und darauf, welche Bedeutung dies im weiteren Kontext einer postmodernen Lebens- und Arbeitswelt hat. Längst schon sind verwandte Themen wie Meditation und Achtsamkeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und klinisch-therapeutischer Anwendung geworden. Wir

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Einleitendes Vorwort

gehen jedoch nach wie vor davon aus, dass berufliche und private Lebenswelten scharf zu trennen sind, und infolgedessen gilt Spiritualität vielfach eher als Privatsache. Gerade die Fähigkeit von Coaching und Beratung, hier eine Metaperspektive anzubieten, könnte zu einem ganzheitlicheren Verständnis von Beruf, Arbeit und Organisationsleben beitragen. Auf dieser Basis wäre auch die Öffnung für einen spirituellen Hintergrund möglich, der eine Grundlage bietet, sich mit existenziellen Themen wie Sinn, Identität und Transzendenz auseinandersetzen – sowohl als Klient im Coaching als auch als Coach im Rahmen einer sich entwickelnden Professionskultur.

Auswirkungen auf das Coaching-Verständnis Ohne den vielen reichhaltigen Ausführungen der Beiträge vorgreifen zu wollen, möchte ich dennoch kurz aufzeigen, wo sich für mich aus einem spirituellen, sinn- und entwicklungsorientierten Hintergrund der Blick auf das Selbstverständnis und die Rolle des Coach ändert: Er ist nicht mehr nur Dienstleister für die Lösung beruflicher Problemstellungen und Unterstützung bei der Karriereentwicklung, sondern Begleiter in der Auseinandersetzung mit Fragen von Sinnfindung, Identität und Lebensbalance. Dieses Verständnis verändert auch den Blick auf Themen und Anliegen im Coaching: –– Ein stimmiger Berufsweg umfasst eine individuelle, seelische Entwicklung und geht damit über Kompetenz- und Statuszuwachs oder das Fortschreiten in Karriereschritten hinaus. –– Kooperation in einer komplexen Unternehmensumwelt umfasst zunehmend mehr als bloßes Funktionieren, sondern gelingt nur, wenn es auf ko-kreativem Zusammenspiel in einem gemeinsamen Werte- und Sinnraum basiert. –– Probleme und Krisen sind nicht einfach zu vermeidende Unfälle, sondern oft Situationen, in denen festgefahrene Verhaltens- und Organisationsmuster brüchig werden und Raum für neue Denkweisen, Haltungen und Organisationsformen entstehen kann. Noch einen Schritt weiter ginge es, Coaching und Beratung in ihrem Beitrag zu mentaler, emotionaler und seelischer Entwicklung zu betrachten, und zwar von Coach und Klient. Damit könnte eine hochentwickelte Professionspraxis und -kultur, die eine kreative Auseinandersetzung mit den täglichen Anforderungen, Spannungsfeldern und Dilemmata im beruflichen Kontext ermöglicht, sogar als Teil eines spirituellen Wegs verstanden werden.

Eine kritische Selbstreflexion zu Beginn Eine der zentralen Fragen, die mich im Verlauf der Entstehung des Buches immer wieder beschäftigten, ist: Kann man über Spiritualität überhaupt etwas Sinnvolles sagen, geschweige denn schreiben? Auch Ludwig Wittgensteins bekanntes Zitat »Wovon man

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Markus Hänsel

nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« hilft nur begrenzt, da er leider nicht ausführt, wie man diese Unterscheidung sinnvoller Weise trifft. Für mich enthält dieser Zweifel an der prinzipiellen Beschreibbarkeit und Begreifbarkeit des Themas Spiritualität vielmehr die Erinnerung, dass bei allem Bemühen um die passenden Worte sich das Wesentliche eben diesem Begreifen durch Begriffe und Konzepte entzieht. Ich denke, dass jeder, der sich mit spiritueller Praxis beschäftigt, an diese Grenze stößt. Gleichzeitig scheint es mir unumgänglich, über so ein bedeutendes Thema unseres Lebens auch sprachlich zu kommunizieren, und ich habe oft erlebt, dass das geschriebene Wort als Kommunikationsform durchaus dazu einladen kann, offen und neugierig zu werden, unbekanntes Terrain zu betreten und zu erkunden. Wer auf diese Einladung eingeht, so zu experimentieren, wird vielleicht die eigenen Erfahrungen wieder zurück in die Gemeinschaft bringen und es so ermöglichen, voneinander zu lernen. Es war daher mit Lust, Spannung und manchmal Ernüchterung verbunden, den Grenzbereich des Beschreibbaren auszuloten und zu merken, dass die konkreten Erfahrungen sowohl im spirituellen Bereich als auch in der lebendigen Begegnung im Coaching um so vieles reichhaltiger, vielschichtiger und intensiver sind, als dass man sie im Medium des Geschriebenen festhalten kann. Ich habe versucht in dieser Gratwanderung darauf zu achten, dass die Beiträge sich dem Thema in einer Offenheit nähern, die sowohl Raum für den persönlichen Erfahrungshintergrund der Autoren lässt als auch eine professionelle Reflexion ermöglicht. Ich hoffe, dass die vielfältigen Beiträge dazu einladen, die eigene Coaching-Praxis mit neuen Augen zu betrachten und neue Impulse auszuprobieren – und vielleicht sogar dazu ermuntern, eine spirituelle Praxis für sich zu entwickeln, wenn dies nicht ohnehin schon Teil des eigenen Lebens ist. Ein weiterer Aspekt, den ich immer wieder kritisch betrachtete, ist die Begegnung von Spiritualität und Coaching im Kontext einer Dienstleistung und deren Vermarktung. Werken wie diesem Buch wird ja schnell unterstellt, eine Art Werbeplattform zu sein, die einen besseren Auftritt am Marktplatz der Coaching- und Beratungsangebote verspricht. Ich kann diese Wirkung im Kontext einer Publikation, die sich dann ja auch in einem Markt bewegt, nicht völlig ausschließen. Für mich ist jedoch die Intention entscheidend, ein fachliches, gesellschaftliches Thema professionell zu beleuchten, was hoffentlich auch in der Art der Umsetzung nach außen hin erkennbar wird. Ich gehe davon aus, dass jeder, der sich ernsthaft mit Spiritualität beschäftigt und vielleicht selbst eine spirituelle Praxis ausübt, erkennt, dass jede Tendenz, dieses Thema in einer Art Produktlogik zu vermarkten, absolut kontraproduktiv ist. Spirituelle Entwicklung oder Erkenntnis lässt sich niemals kaufen oder verkaufen – im Übrigen ebenso wenig wie eine Entwicklung oder Lösung im Kontext Coaching. Gleichzeitig sind wir gerade im westlichen Kulturkreis häufig damit konfrontiert, uns damit auseinanderzusetzen, wenn sich eher ideell-werteorientert ausgerichtete Themen in wirtschaftlich und funktional orientierten Kontexten treffen – was meines Erachtens beim Thema »Spiritualität und Coaching« der Fall ist. Eine strikte Trennung dieser Lebenswelten wäre eine vielleicht akzeptable, wenn auch radikale Lösung. Sie

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Einleitendes Vorwort

hätte allerdings den Preis, dass das Bedürfnis, eine einheitliche und integrierte Lebenswirklichkeit herzustellen, die nicht in eine Vielzahl von Rollenmustern zerfällt, zurückstehen müsste. Der andere Weg, den ich in den letzten Jahren als deutlich reizvoller und sinnvoller empfand, ist, sich aktiv, gestaltend, aber auch achtsam und immer wieder kritisch in diese Integrationsleistung zu begeben. Vielleicht gelingt es dadurch auch, bewusster und sensibler mit diesem Thema in der Welt des Marktplatzes aufzutreten. Das Ergebnis sollte sein, dass wir entweder einen integeren Weg finden, im Rahmen der Dienstleistung Coaching, die sich auch im Kontext des Markts bewegt, eine Begegnung stattfinden zu lassen, die über die Regeln und Mechanismen des Markts hinausgeht – oder neue Formen der Begegnung schaffen. Das zumindest wäre die Grundlage, um die Ressourcen nutzen können, die spirituelle Traditionen, deren Praxisformen und Haltungen für Berufs- und Gesellschaftsfelder wie Coaching und Beratung bereithalten.

Danksagung Ich danke den vielen Autoren und Interviewpartnern, deren Mitarbeit, Erfahrung und Spirit dieses Buch ermöglicht haben. Die Kooperation im Rahmen dieses Herausgeber-Projekts war in vieler Hinsicht inspirierend und ermutigend und ich fühle mich dadurch sehr reich beschenkt. Viele befreundete Kollegen bestärkten und begleiteten mich in den letzten Jahren auf dem Weg, die spirituelle Dimension in der Profession als Coach und Berater zu vertiefen und öffentlich zu machen – dafür danke ich meinen langjährigen Weggefährten Volker Dybbert, Susanne Baumgarten, Stefanie Schäfer, Rolf Lang, Suse Arlinghaus, Hans-Martin Lang, Pia Gaspard, Thomas Gampe, Andreas Zeuch. Mit Anna Matzenauer konnte ich in Gesprächen und in der gemeinsamen Gestaltung unserer Vortragsreihe »mission possible« viele inspirierende und wertvolle Impulse entwickeln. Die Begegnungen mit Richard Baker Roshi, Bernie Glassman Roshi und Pater Willigis Jäger haben nicht nur meinen spirituellen Weg geprägt, sie zeigten mir auch, wie kraftvoll, bereichernd und manchmal abenteuerlich ein spirituelles Leben ist. Im spirituellen Ansatz von Claudio Naranjo und durch meine Erfahrungen in der Dialogarbeit bei Freeman Dhority habe ich eine interaktive Form von Spiritualität kennengelernt, die eine auf Stille und Meditation ausgerichtete Praxis ungemein ergänzt. Die tiefe und sorgfältige Verbindung von Meditationspraxis und Coaching in der Arbeit von Albert Pietzko und Torsten Jung hat mir persönlich bei grundlegenden Fragen geholfen und die Intention dieses Buchs entscheidend mitgeprägt. Durch die innovativen Weiterentwicklungen in der Aufstellungsarbeit von Matthias Varga von Kibéd und Siegfried Essen konnte ich das große Potenzial der Verkörperung in Beratungs-Settings erleben, das mir einen unmittelbar praktischen Weg für die Erfahrung von Interdependenz eröffnete. Die prozessorientierte Arbeit von Amy und Arnold Mindell und Max und Ellen Schupbach zeigte mir auf einzigartige Weise, wie man im Vertrauen auf die Richtigkeit dessen, was sich im Hier und Jetzt zeigt, tiefe und

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Markus Hänsel

hintergründige Themen auch spielerisch und lustvoll bearbeiten kann. Die Arbeit von Stephen Gilligan und Gunther Schmidt erinnerten mich schließlich immer wieder daran, dass gerade in der Fähigkeit, die schwierigsten Probleme als Ausgangspunkt für heilsame, kreative Veränderung nutzen zu können, eine wesentliche spirituelle Dimension von Coaching und Beratung liegt.

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I Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

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Friedrich Assländer

Vom Coach zum »Seelsorger«

Mein eigener Weg Ich möchte meine ganz persönlichen Erfahrungen aus zwanzig Jahren Coaching mit Blick auf die spirituelle Dimension in dieser Arbeit schildern. Diese Ansichten sind sehr subjektiv und spiegeln auch meinen eigenen spirituellen Weg wider. Als Berater oder Coach ziehen wir unbewusst die Menschen an, die uns ähnlich sind, die auf gleicher »Wellenlänge« sind, die spüren, dass wir etwas geben können, was sie in ihrer jetzigen Situation brauchen. So haben sich die Anliegen, mit denen Menschen zu mir kamen, im Laufe der Jahre sehr geändert. In den ersten Jahren waren es klassische CoachingThemen aus den Bereichen Führung und Selbstmanagement, später verschoben sich die Themen immer mehr in Richtung seelische Problematiken und auch auf religiöse Fragen wie Lebensorientierung, Sinnhaftigkeit des Tuns und Ähnliches. Dies zeigt mir zum einen meine eigene Entwicklung, es zeigt aber auch die Veränderung im Bewusstsein der Führungskräfte, das sich aus meiner Sicht immer mehr öffnet zu einer ganzheitlicheren Sichtweise. Oft beginnt diese Öffnung mit seelischen Nöten, Konflikten oder Krisen, die immer häufiger auftreten.

Was suchen Menschen im Coaching? Ein leitender Mitarbeiter eines internationalen Konzerns möchte in einem mehrstündigen Coaching, für das er mehrere Stunden Anreise in Kauf nimmt, für sich Klarheit gewinnen. Er formuliert sein Ziel für diese Sitzung: »Es wäre für mich ein gutes Ergebnis, wenn ich meine Richtung sehe und Vertrauen in mich gewinne. Ich suche eine Verbindung zu meinem Herzen und möchte spüren, was richtig, was falsch ist.« Ein Freiberufler mit mehreren Angestellten erlebt nach über zwanzig Jahren erfolgreicher Tätigkeit: »Ich fühle mich meinen Aufgaben nicht mehr gewachsen. Ich habe keinen Zugang zu meinen tiefen Gefühlen.« Ein Unternehmer, der einen kleinen Betrieb in der dritten Generation führt, sucht Hilfe: »Ich fühle mich blockiert, Angst und Enge lähmen mich. Soll ich den Betrieb verkaufen, etwas ganz anderes machen?« Er liebt seine Arbeit und verfügt über sehr viel Spezialwissen in seiner Branche.

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Friedrich Assländer: Vom Coach zum »Seelsorger«

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Es sind Menschen in Krisen, die eine Hilfe im Außen suchen, die sie bei ihren bisherigen Kontakten nicht gefunden haben. Es geht oft um die Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Der Auslöser für diese tiefen, letztlich religiösen Fragen liegt manchmal in einem äußeren Ereignis oder Menschen erleben, dass sie sich plötzlich mitten in einer seelischen Krise befinden. Sie spüren eine bisher nicht gekannte Unsicherheit, Angst. Der Boden, auf dem sie bisher gestanden haben, wird brüchig. Manchmal sind es Burnout-Symptome, die geschildert werden, manchmal sind es seelische, spirituelle Krisen, die die Menschen zwingen, den gewohnten Trott zu verlassen. Natürlich gibt es auch heute noch bei meinen Kunden die klassischen Coachingthemen aus dem beruflichen Alltag mit Konflikten, neuen Aufgaben und Problemen, die mit Unterstützung eines Coachs gelöst werden sollen. In den letzten dreißig Jahren habe ich eine Entwicklung auf zwei Ebenen beobachtet. Die Offenheit und Bereitschaft von Führungskräften, professionelle Unterstützung anzunehmen, ist enorm gewachsen. Coaching ist eine Selbstverständlichkeit in vielen Unternehmen geworden. Das war vor dreißig Jahren noch völlig anders. Ein Vorstand eines internationalen Konzerns erzählte mir, dass er 1980 Geschäftsführer wurde und zum Einstieg in diese neue Verantwortung einen Coach für sich engagierte. Dafür wurde er von seinen Kollegen belächelt und verspottet. Die zweite Veränderung liegt bei den Themen, die Menschen im Coaching bearbeiten wollen. Immer häufiger und immer offener geht es im Coaching um tiefe seelische Prozesse, die mit Hilfe eines Coachs bewältigt werden sollen. Damit verbunden ist auch die Bereitschaft, sich auf neuartige Techniken einzulassen wie zum Beispiel Systemaufstellungen, mentale Techniken und Visualisierungen oder die Bearbeitung von Gefühlen auf der Körperebene. Das seelische Leid in der Wohlstandsgesellschaft nimmt zu und erfasst alle Schichten und Altersstufen. Die Menschen haben immer mehr den Mut, offen darüber zu reden. So berichtete der Präsident einer Industrie- und Handelskammer bei einem öffentlichen Vortrag vor mehreren hundert Unternehmern, dass er ein Burnout erlebt habe und klinisch behandelt werden musste. Materieller Notstand scheint uns nicht vor seelischem Leid zu bewahren, im Gegenteil. Und für das Coaching ergibt sich daraus ein wichtiges und neues Aufgabenfeld. Ein erfahrener Arzt, Leiter und Begründer mehrerer psychosomatischer Kliniken, hat bei einer längeren Reise durch Asien beobachtet, dass Menschen, die am Existenzminimum leben, keine seelischen Erkrankungen kennen. Erst dort, wo es etwas Wohlstand gibt, den die asiatischen Entwicklungsländer vehement anstreben, tauchen Neurosen und psychosomatischen Beschwerden auf. Man kann hier fragen, ob nicht die vielen Probleme und Krisen, die Menschen heute durchleben, eine direkte Folge unseres Wohlstandes sind. Mit dem Besitz kommen das Besitzstandsdenken, das Festhalten des Erreichten und die Angst vor dem Verlust dieses Besitzes. Diese Angst löst die Frage nach den wirklichen Werten aus, nach dem, was unser Leben ausmacht, denn wir wissen in der Tiefe, dass wir nichts festhalten können, weder unsere Jugend noch unsere Gesundheit noch unseren Besitz. Wir verdrängen das Wissen um die Endlichkeit unseres Seins und das Verdrängte meldet sich dann zum Beispiel als Depression.

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

Die Statistiken der Krankenkassen belegen, dass die psychosomatischen Beschwerden, insbesondere Burnout-Problematiken und Depressionen, seit Jahren rapide wachsen. Das rasante Ansteigen psychosomatischer Beschwerden ist immer wieder auch Thema in der Presse. So melden die Krankenkassen, dass dreißig Prozent der Bevölkerung innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung leiden. Laut der Krankenkasse Barmer GEK liegt der Anteil der Arbeitsunfähigkeit durch psychische Erkrankungen bei 17 Prozent (Barmer Ersatzkasse, 2009, S. 2). Das Leiden dieser Menschen ist oft diffus, kann nicht zugeordnet werden. Die Menschen suchen eine neue Orientierung, wobei Schwierigkeiten im Beruf der oberflächliche Auslöser sind. Dahinter stehen fast immer Fragen nach Sinn und Werten. Menschen erleben, dass ihr bisheriges Leben so nicht mehr trägt, und suchen Wege, wie es weitergehen kann. Das, was früher als Midlifecrisis ein Phänomen der Lebensmitte war, wird heute von allen Altersgruppen erlebt, oft verbunden mit depressiven Schüben und seelischer Not. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass beim Coaching diese Themen entsprechend häufig auftreten. Warum wenden sich die Menschen nicht an einen Arzt, an einen Psychotherapeuten, an einen Priester oder an eine Beratungsstelle, sondern zahlen relativ viel Geld für das Gespräch mit einem Coach? An der Universität Oldenburg wurde vor einigen Jahren eine Befragung bei Menschen in oder nach einer spirituellen Krise durchgeführt, bei der unter anderem gefragt wurde: »Wo haben Sie Hilfe erhalten?« Mit Abstand an letzter Stelle standen die Kirchen, wenige haben bei Ärzten und Beratungsstellen Hilfe gefunden, die meisten wurden erst bei spirituellen Lehrern und geistlichen Begleitern fündig, oft erst nach langem Suchen. Coaching ist ein gesellschaftlich anerkannter Weg, um berufliche Probleme zu bewältigen, während Psychotherapie immer noch den Ruch hat, etwas für Geisteskranke zu sein. Auch kann ein Chef einem Mitarbeiter leichter ein Coaching empfehlen als eine Psychotherapie. Der Coach hat dann die Möglichkeit, gegebenenfalls den Weg zu einer Therapie aufzuzeigen, wenn eine Vertrauensbasis geschaffen ist. Der Coach sollte dabei seine eigenen Grenzen kennen und einhalten. Eine spirituelle Begleitung, wie sie bei Lebenskrisen erforderlich ist, erfordert vom Coach, dass er selbst ernsthaft einen spirituellen Weg gegangen ist und geht. Erst dann wird er entsprechend seiner eigenen Entwicklung eine Begleitung des Coachee sinnvoll und hilfreich leisten können. Die meisten meiner Coachees kommen auf Empfehlung und haben oft eine problematisch hohe Erwartungshaltung: Der Coach soll in kürzester Zeit ihre Probleme lösen. Oft haben diese Menschen eine längere Leidensgeschichte hinter sich und möchten hier und jetzt von diesem Leid erlöst werden. Die Beschäftigung mit dem Leid und seinen Ursachen ist eigentlich Seelsorge. Die Menschen kommen mit Lebensthemen, Wertekonflikten, Krisen, und im Gespräch berühren wir sehr schnell religiöse, spirituelle Dimensionen. Die Menschen erzählen sehr persönliche, intime Dinge und suchen Rat und Hilfe. Die Hürde, bei einem Coach vorzusprechen, ist leichter, gesellschaftlich akzeptabler, als zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Ein großes Problem ist oft auch die Sprache

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Friedrich Assländer: Vom Coach zum »Seelsorger«

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von Psychologen und besonders auch von Sozialpädagogen, durch die sich Führungskräfte wenig angesprochen fühlen. Das Vertrauen in die Kirche und in die Kompetenz der Mandatsinhaber ist nicht sehr groß, was Befragungen immer wieder belegen. Es ist eher so, dass engagierte kirchliche Seelsorger ihre Methodenkompetenz bei der Psychotherapie holen. Umgekehrt hat bereits der Schweizer Psychotherapeut C. G. Jung festgestellt, dass die Probleme seiner Patienten jenseits der Lebensmitte letztlich religiöse Probleme sind. Lebenskrisen, Orientierungsprobleme und Ähnliches haben immer auch eine religiöse Dimension (Jung, 1932/1996, S. 362). Von daher ist es nicht verwunderlich, dass ehemalige Priester und Theologen oft sehr erfolgreich als Coach arbeiten, da sie für diese religiöse Seite der Probleme ihrer Klienten sehr viel Kompetenz mitbringen. Menschen in Krisen haben feine Antennen und reagieren empfindlich auf Oberflächlichkeit oder auf fehlende Kompetenz bezüglich ihres Anliegens. Mein eigener Weg, über 25 Jahre intensive Zen-Praxis, hat mich verändert und mich innerlich geführt, ohne dass mir das sofort bewusst war. Ich war vor vielen Jahren völlig überrascht, dass jemand mich als Coach anfragte aufgrund meines spirituellen Weges. Ich sei ihm, nach langer Suche, von einem Bekannten empfohlen worden. Er sei Unternehmer mit einer spirituellen Orientierung und suche jemanden, der verstehe, wovon er spricht. Er brauche einen Gesprächspartner für wirtschaftliche Fragestellungen, ohne dass die geistige Dimension dabei verloren geht. Es sei sehr schwer, jemanden dafür zu finden. Wir haben uns mehrere Jahre regelmäßig getroffen und haben noch heute einen guten Kontakt. Ich habe die Gespräche mit diesem Unternehmer für mich selbst so bereichernd gefunden, dass ich mich fast geniert habe, dafür auch noch Geld zu nehmen. Als Coach agieren wir dann eher als Seelsorger, der zwar, analog zu einem Coach, den Menschen hilft, die eigenen Ressourcen zu entdecken und zu entwickeln, der sich aber mit Themen und Schwierigkeiten auseinandersetzt, die auf einer existenziellen, religiösen Ebene liegen. Die Grenze zur Psychotherapie, falls man sie überhaupt ziehen kann, wird immer wieder berührt. Das ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass viele Techniken im Coaching aus der Psychotherapie stammen wie zum Beispiel die Transaktionsanalyse, bestimmte Fragetechniken, Systemaufstellungen und anderes mehr.

Coaching und spirituelle Wege Spiritualität ist ein Modewort geworden, das sich gut vermarkten lässt. Es spricht die große Gruppe der Sinnsucher an und ist zu einem Label geworden, mit dem man zeigt, dass man sich vom Profanen, von der materiellen Orientierung abgewandt und etwas Höherem zugewandt hat. Wenn man »Spiritualität« und »spirituell« googelt, erhält man stolze zwanzig Millionen Treffer. Bei Amazon kann man über 30.000 Bücher erwerben, die »Spiritualität« im Buchtitel haben, zusätzlich weitere 9.000 Titel, wenn man »spirituell« als Suchbegriff eingibt. Die Problematik des Begriffs Spiritualität ist seine große Verwendungsbeliebigkeit. Eine Gruppe von spirituell orientierten Beratern und Unternehmern

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

versuchte für sich eine Definition zu finden und einigte sich ziemlich frustriert nach langer Diskussion auf die Aussage: Spiritualität ist das, was der Einzelne darunter versteht. In den sogenannten New-Age-Kreisen ersetzt oft das Reden über Spiritualität den Prozess der eigenen Reinigung, der Läuterung. Der heilige Johannes vom Kreuz nannte seinen Reinigungsweg, den er zwanzig Jahre lang durchlitten hat, »die dunkle Nacht der Seele« (Johannes vom Kreuz, 1996). Er beschreibt ihn mit Worten von extremer Verzweiflung, Angst und Schmerz. Wer durch einen solchen Prozess hindurchgegangen ist, der spricht nicht davon. Menschen, die locker über ihre Spiritualität reden, haben diesen Prozess nicht durchlaufen. Viele Menschen suchen eine Erfahrung, einen Kick oder benutzen das Meditationskissen zur Flucht aus der Welt. Eine spirituelle Praxis wie zum Beispiel regelmäßige Meditation und die damit verbundene Läuterung hilft uns unsere Ich-Bezogenheit, unser ängstliches Kreisen um unser Ego zu überwinden. Dieser Weg ist ohne einen qualifizierten Lehrer kaum möglich. Als Meditationsform sind im Westen die buddhistischen Wege sehr bekannt, wie Zen oder Vipassana oder der tibetische Buddhismus, daneben hat auch der christliche Weg der Kontemplation immer mehr Zulauf. Die Lehrerlaubnis in Zen ist gekoppelt an eine strenge Prüfung durch zugelassene Lehrer und wird nach vielen Jahren der Übung durch eine offizielle Übertragung bestätigt, während die Ernennung zum Kontemplations- oder Meditationslehrer oft sehr schnell, nach Absolvieren eines oder einiger weniger Kurse, erfolgt. Seriöse Lehrer verfügen über eine sehr lange Erfahrung, kommen meist aus einer Tradition oder Schule und haben eine Bestätigung von einem anerkannten Lehrer. Es gibt auch Beispiele von Menschen, die wie Johannes vom Kreuz »die dunkle Nacht der Seele« durchlaufen haben und aus dieser Erfahrung heraus anderen Menschen helfen können. Immer wollen seriöse Lehrer mit ihren Einnahmen nicht mehr als ihren Lebensunterhalt bestreiten und zeichnen sich durch eine hohe Selbstlosigkeit aus. Auf dem spirituellen Weg unterscheidet Ken Wilber zwischen einem Zustandsweg des Erwachens und einem Strukturweg der Entwicklung (Wilber, 2007, S. 5). Menschen können spirituell-mystische Erfahrungen machen, ohne dass sie sich parallel dazu charakterlich entwickeln. Ihnen können geistige Fähigkeiten zuwachsen, auch Anziehungskraft, Kreativität und Macht. Eine spirituelle Schulung und die Entwicklung eines erweiterten Bewusstseins führen nicht zwangsläufig und gleichzeitig zu einer entsprechenden Charakterschulung. Unser Ego hat die Tendenz, sich diese neuen Fähigkeiten verfügbar zu machen. Die vielen Geschichten von sexuellem Missbrauch durch spirituelle Lehrer zeigen das. Willigis Jäger, der bekannte Benediktiner und Zen-Meister, nennt, als eine der Gefahren auf dem spirituellen Weg, die Ich-Inflation. Durch Meditation und andere spirituelle Übungen können wir geistige Fähigkeiten entwickeln, die dann unserem Ego weiteren Auftrieb geben. Das plattdeutsche Märchen »Von dem Fischer un syner Fru«1 ist eine gute Beschreibung einer Ich-Inflation. 1 Den ausführlichen Text finden Sie unter www.asslaender.de/veroeffentlichtungen/aufsaetze.

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Der Fischer sitzt und angelt am Ufer des Meeres, da geht seine Angel auf den Grund. – Das Meer ist eine altbekannte Metapher für das Unbewusste. Das Sitzen entspricht dem Meditieren. Angeln ist im Kern auch eine sehr meditative Tätigkeit, man ist still und wartet auf etwas. Der Fischer ist also jemand, der einen spirituellen Weg geht und dabei eine tiefe Erfahrung macht. – Die Angel geht auf den Grund. – Das Bewusstsein des Fischers bricht durch, kommt auf eine andere Ebene und führt zu mystischen Erfahrungen. – Er fängt einen Butt, der ihn bittet, ihn nicht zu töten, er sei ein verwunschener Prinz. – Der Fischer kommt mit seiner eigenen göttlichen Natur in Verbindung, er ist selbst der Prinz, der Königssohn, der nicht im Königreich seines Vaters lebt. – Zu Hause, also wieder im Alltagsbewusstsein, meldet sich das alte Ego als »syne Fru«, die fordert: Aus dieser Erfahrung machen wir etwas. – Die Versuchung kennen wir auch aus der Bibel: Der Teufel bringt Jesus auf einen hohen Berg und bietet ihm die Macht über alle Reiche der Welt an (Markus 4, 1–11). – Der Fischer und syne Frau erliegen der Versuchung und kommen zu materiellem Wohlstand und Macht: ein großes Haus, ein Schloss, ein Königreich, »syne Fru« will Papst und schließlich »wie der liebe Gott« werden. Als der Mann dem Butt die Wünsche vorträgt, wird das Meer immer wilder und stürmischer. Der Butt gewährt alles, was »syne Frau« wünscht. Beim letzten Wunsch sagt er, geh mal hin, sie sitzt schon wieder in’n Pisspott. – Das Märchen verweist darauf, dass, wenn wir »wie der liebe Gott« sein wollen, wir dann keinen Besitz, keine Titel oder äußere Symbole von Macht und Größe brauchen. Die Gotteserfahrung, so lehren alle Mystiker, ist hier und jetzt. In der Bibel sagt der Evangelist Lukas (17, 21): »Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch.« Der Schluss des Märchens verweist darauf, dass wirkliche Spiritualität im Hier und Jetzt stattfindet, im Alltäglichen, im Gewöhnlichen. Wenn wir unser Tagewerk so gut wie möglich verrichten, wenn wir achtsam mit allem umgehen, wenn wir den Geschenken des Lebens mit Dankbarkeit begegnen, dann ist das gelebte Spiritualität. Im Taoismus sagt man, dass Tao ist das Gewöhnliche. Es gibt zahllose Berichte von den Mönchsvätern, von alten Meistern, die ihre Umgebung vor allem damit beeindruckt haben, mit welcher Hingabe sie die einfachen Dinge des Alltags getan haben, zum Beispiel das Schnüren der Schuhe. Für einen Coach ist es sehr hilfreich, wenn er selbst einen spirituellen Weg beschreitet, seinen Geist schult und seinen Charakter formt. Er qualifiziert sich dadurch als Begleiter für Menschen in Krisen. So wie ein Bergführer Menschen nur dort sicher führen kann, wo er sich auskennt, wo er Erfahrung hat, so können wir das auch nur in den geistigen Bereichen und Themenfeldern tun, in denen wir Erfahrung gesammelt haben. Die Gefahren bei der Begleitung sind Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung. Wir sollten unsere Grenzen kennen und wissen, wann wir jemanden zu einem Therapeuten oder Arzt schicken müssen. Wir sollten sehr achtsam unsere Eitelkeit, unsere Motive und unser Verhalten prüfen und gute Freunde bitten, uns kritische Rückmeldung zu geben.

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Wenn Menschen unsere Hilfe suchen und wir Erfolge zurückgemeldet bekommen, sind das auch immer Streicheleinheiten für unser Ego. Das dürfen wir annehmen und als Bestätigung verbuchen. Wir sollten aber auch die damit verbundenen Gefahren sehen, wenn wir für andere bedeutsam werden. Andere vertrauen sich uns an und wir bekommen damit das Gefühl von Größe und Wichtigkeit. Die Gefahr der Ich-Inflation auf dem spirituellen Weg findet hier eine Parallele in der Rolle des Coach durch die Bedeutung, die wir für andere bekommen. Supervision, Selbstreflexion, Fallbesprechungen unter Kollegen können uns helfen, unsere Arbeit realistisch einzuschätzen und mit dieser Gefahr umzugehen. Hilfreich und entscheidend ist, dass wir immer wieder zum Kern unserer Arbeit zurückgehen, zur der Grundhaltung, dass wir nur dienen. Diese Haltung des Dienens ist die De-Mut, die verkürzte Form von Dien-Mut. In dieser Haltung wird wirkliche spirituelle Tiefe sichtbar. Im Letzten »machen« wir als Coach nichts, sondern stellen uns und unsere Fähigkeiten zur Verfügung. Unsere Intuition, die passende Intervention an der richtigen Stelle, der Prozess, den wir vielleicht auslösen, kommen aus einer anderen Quelle, von einem Nicht-Ich, das durch uns wirkt. Im Christentum sprechen wir vom Heiligen Geist, einer Kraft oder einer Dimension, die der göttlichen Trinität zugeordnet wird. Wie auch der Begriff Spiritualität ist Heiliger Geist ein abgegriffenes Wort, oft als Worthülse oder als ethische Legitimation missbraucht. Wenn wir aber vom Wortstamm »heil« ausgehen und von einem heilenden Geist reden, dann treffen wir den Kern eines spirituell fundierten Coaching. Mit der Haltung des Dienens schauen wir wie der Diener auf das, was sein Herr braucht. Mit der Haltung des heilenden Geistes handeln wir so, dass der andere heil werden kann. Zugleich ist die Haltung des Dienens zum Heil des anderen für uns als Coach eine große Entlastung. Ein Diener tut das, was ihm möglich ist, er ist aber nicht für alles verantwortlich. Eine Haltung zum Heil oder zum Wohl des anderen hilft uns, von unserer Ich-Verhaftung loszukommen, es geht um den anderen, um sein Wohl, für das aber auch der Coachee selbst Verantwortung trägt. Er muss selbst die Schritte tun, die wir ihm aufzeigen, und er bleibt in der Verantwortung für sich selbst. Der Erfolg, das Erreichen der vereinbarten Ziele, hängt in hohem Maße von der Bereitschaft des Coachee ab, sich einzulassen und mitzuarbeiten. Auf der anderen Seite stehen wir als Coach mit unseren eigenen Begrenzungen. Kein Coach ist allmächtig. Mich persönlich entlastet es sehr, wenn ich mir sage, ich muss nicht alle retten und ich kann nicht jedes Problem meiner Klienten lösen, ich sollte dem lieben Gott auch noch etwas Arbeit überlassen. Ich weiß, dass ich selbst nichts bewirke, sondern dass die Lösungen für Schwierigkeiten und damit das Heilwerden von einer höheren Macht kommen, der ich mich und meinen Klienten anvertraue. Ich nehme dann auch eine Nicht-Lösung als Lösung an, wenn das, was sich der Coachee wünscht, nicht erreicht werden kann. Es kann sogar sehr wertvoll sein, wenn wir das Unveränderliche annehmen und uns mit ihm aussöhnen. Wir können das, was durch uns wirkt, nicht beeinflussen. Tiefe Prozesse, wirkliche Hilfe sind immer Gnade, für die wir nur dankbar sein können.

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Was ist Spiritualität? Wenn wir von der lateinischen Wortwurzel ausgehen, können wir Spiritualität übersetzen mit Geisteshaltung. Wir können fragen, aus welchem Geist heraus jemand handelt. Viele Redewendungen zeigen, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, welch wesentliche Rolle die geistige Dimension spielt. Man spricht vom »Geist des Hauses«, ist »be-geist-ert«, »ent-geistert« oder fragt, »wes Geistes Kind bist du?«. Einen Priester nennt man einen »Geistlichen«, weil man ihm einen besonderen Zugang zur geistigen Ebene zuschreibt. Im Alltag, bei den täglichen Widrigkeiten und Problemen zeigt sich dann, aus welchem Geist heraus wir handeln, dort zeigt sich unsere wirkliche Spiritualität. Hilfreich sind die Fragen: Sind meine zugrundeliegenden Motive selbstsüchtig? Dienen sie meinem eigenen Ego? Möchte ich durch mein Tun berühmt oder reich werden? Oder werde ich von einem Anliegen, von einer Idee geleitet, die dem Wohl anderer oder aller dient? Der Blick auf andere schließt meinen eigenen Vorteil keineswegs aus und auch unsere Ego-Bedürfnisse haben ihre Berechtigung. Wir sollten sie nicht verdrängen, sondern ihnen einen angemessenen Raum geben. Es ist eher verdächtig, wenn Menschen vorgeben, aus reinem Idealismus, völlig selbstlos zu handeln. Wir können dann fragen, wo die verdrängten oder versteckten Absichten liegen. Ich kenne hochspirituelle Menschen, die sich selbst nie als spirituell bezeichnen. Sie sind es einfach. Sie handeln aus einer inneren Sicherheit heraus, sind authentisch und ihr Verhalten ist von Liebe durchdrungen. Bruder David Steindl-Rast, ein in den USA sehr bekannter Benediktiner, hat eine sehr schöne und schlichte Definition: Spiritualität ist mehr Leben (Steindl-Rast, 2005). Je mehr wir mit der geistigen Natur unseres Daseins in Verbindung kommen, desto reicher wird unser Leben und desto mehr können wir davon anderen geben. Ein Coach, der diese geistige Dimension oder Spiritualität für sich entwickelt hat, wird so zu einem geschätzten Begleiter und Berater. Mein persönliches Verständnis von Spiritualität umfasst ein Gefühl der Verbundenheit mit etwas, das größer und bedeutender ist als ich selbst. Meine Ich-Bezogenheit tritt zurück hinter diese Verbundenheit mit einem größeren Ganzen. Sie wird zur Quelle und zur Aufgabe. Bei den Sachthemen, die im Coaching berührt werden, bedeutet die spirituelle Dimension allgemein eine Metaebene hinter den Betriebsabläufen, Zahlen und wirtschaftlichen Zielen, wie sie in der Vision und auch in den Werten eines Unternehmens sichtbar werden. So wie spirituelles Bewusstsein für transpersonales Bewusstsein steht, das einen geistigen Raum oder eine Erfahrung jenseits des diskursiven Denkens erschließt, so bedeutet Spiritualität in Unternehmen und Organisationen Verbundenheit mit etwas, das größer und bedeutender ist als der Betrieb selbst, eine Transzendierung, in der wir auf das größere Ganze schauen und ihm dienen. Jeder Mensch wird, wenn er ernsthaft sucht, sein eigenes Verständnis von Spiritualität entwickeln. Immer ist spirituelles Bewusstsein aber ein Übersteigen unseres Egos, unseres bedürftigen kleinen Ichs, eine Transzendierung. Von dort aus entsteht Sinn. Von dort kommt eine Ethik, aus der Menschen handeln, nicht aus Angst vor Strafe oder

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

aus Hoffnung auf Belohnung, sondern um des Guten selbst willen. Wir können auf dem spirituellen Weg nichts »lernen« und nichts »erreichen«. Es entwickelt sich und es geschieht das, was geschieht, wenn wir es zulassen. Von daher halte ich eine Ausbildung zum »spirituellen Coach« für ein falsches Versprechen. Wir können eine Ausbildung zum Coach durchlaufen, Techniken der Gesprächsführung lernen und uns das Handwerkszeug erarbeiten. Schwieriger ist es, das Einfühlungsvermögen und die Intuition zu entwickeln, die einen guten Coach auszeichnet. Dafür müssen Selbsterfahrungs- und Reifungsprozesse durchlaufen werden. Aber auch eine spirituelle Praxis, wie zum Beispiel regelmäßige Meditation, fördert diese Reifung. Die geistig-spirituelle Entwicklung im engeren Sinn ist ein Unterwegssein, bei dem wir nirgendwo ankommen können außer bei uns selbst, dort, wo wir schon immer waren, »in’n Pisspott«, wie es im Märchen heißt. Dieser Weg ist sehr individuell, sehr persönlich und oft von Krisen begleitet. Dieser Weg ist keine Ausbildung im herkömmlichen Sinn, sondern eben ein Weg, den jemand gehen kann oder nicht. Keine der traditionellen Zen-Schulen auf dieser Welt bietet eine Ausbildung zum Zen-Lehrer an, weil das Eigentliche der spirituellen Dimension nicht gelernt, sondern nur erfahren werden kann. Für diesen Weg, der neben einer Ausbildung zum Coach, Supervisor, Mediator oder neben anderen Ausbildungen steht, müssen wir uns selbst auf die Suche machen, nach dem Weg selbst und nach einer Begleitung und Führung, der wir vertrauen. Die Fähigkeit, still zu werden, nach innen zu lauschen, die Kunst, gegenwärtig zu sein und aufmerksam wahrzunehmen, was ist, sind Merkmale einer sich entwickelnden Spiritualität. In dem Maße, wie wir das praktizieren, können wir uns auf unser Gegenüber einlassen und immer mehr verstehen. Der große Gegenspieler auf diesem Weg ist unser Ego, jene psychische Instanz in uns, die groß und erfolgreich sein will, die sich von Zuwendung und Anerkennung nährt. Dadurch hindert sie uns an der Zuwendung und Öffnung gegenüber dem anderen. Es ist das Paradox unseres Lebens, dass wir durch eine spirituelle Entwicklung immer mehr dieses hungrige Ego loslassen können und im Gegenzug Anerkennung und Zuwendung erfahren, die war dann gar nicht mehr so brauchen.

Spirituelle Aspekte im Coaching: Worum es wirklich geht Coaching berührt die spirituelle Dimension zum einen durch die Themen, welche die Klienten mitbringen, wenn diese eine tiefe, existenzielle Dimension haben. Zum anderen kommt beim Coaching unsere eigene Spiritualität zum Tragen durch die Art und die Geisteshaltung, mit der wir das Gespräch führen. Beides, Coach und Thema, stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Als ethisch orientierter Coach werden wir solchen Menschen wenig geben können und wollen, die erwarten, für ihren Ego-Trip Impulse und Hilfe zu bekommen. Es wird sich in uns alles wehren, wenn jemand wissen will, wie er Karriere auf Kosten anderer machen kann, oder wie er unsaubere, aber lukrative Geschäfte tätigen kann.

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Umgekehrt wird ein Coachee spüren, ob der Coach mitgehen kann auf die Tiefe seines Problems, sich empathisch einlassen kann auch auf heftige Gefühle und auf tragische Dimensionen des Daseins, oder ob der Coach sich in Beschwichtigungen oder Verharmlosung flüchtet. Ein Coach, der selbst eine spirituelle Entwicklung und Reifung durchlaufen hat, weiß, dass er wenig oder nichts selbst bewirken kann. Er hört zu und das Gegenüber spürt, dass es verstanden wird. Die Anbindung an spirituelle Dimensionen wird besonders gut sichtbar, wenn wir mit der Methode der Systemaufstellung arbeiten. Ich kenne keine Methode, mit der man leichter und schneller das aufdecken kann, worum es wirklich geht und bei der der Klient das auch gut nachvollziehen kann. Als Familienaufstellung ist die Methode inzwischen weltweit verbreitet. Diese Technik, ein System durch Menschen als Stellvertreter räumlich abzubilden, lässt sich auf Fragestellungen aus vielen Lebensbereichen, insbesondere auch auf berufliche Themen übertragen. Der Vorteil ist eine räumliche und sichtbare Abbildung eines Problems. In dem Bild, wie Menschen im Raum zueinander stehen, werden Aspekte sichtbar, die eine verbale Beschreibung so nicht zeigen kann. Im Idealfall stehen natürliche Personen als Gruppe oder als eingeladene Stellvertreter zur Verfügung, die man »aufstellen« kann. In der Coaching-Situation kann man die relevanten Systemelemente mit Karten auf den Boden legen oder mit Stühlen oder Figuren arbeiten. Man kann den Klienten bitten, sich auf die Karten zu stellen und mitzuteilen, wie es ihm dort ergeht. Man kann auch als Coach selbst die verschiedenen Positionen einnehmen und sich dabei in die Situation gut einfühlen. In der Aufstellung, ob mit Karten oder Stellvertretern, erkennt man oft sehr schnell das eigentliche Thema und kann es bearbeiten. Die geschilderten Probleme sind oft das vordergründige Symptom, das eigentliche Problem liegt dahinter und gehört nicht selten zum blinden Fleck des Klienten. Wenn die Ursachen für berufliche Probleme im Familiensystem oder in der Familiengeschichte des Klienten liegen, können sie nur dort gelöst werden. Probleme können aber auch mit Werten und Wertekonflikten zu tun haben. Ein Beispiel: Ein Coachee, eine beruflich sehr erfolgreiche Frau, kommt in eine Gruppe, um ihr Problem zu bearbeiten. Sie berichtet, sie habe sehr viele Fähigkeiten und sei auch sehr kreativ. Wenn sie aber etwas umsetzen wolle, gebe es einen inneren Widerstand, sie sei dann wie gelähmt und habe dann auch keine Ideen mehr. Ich bitte sie, für den Widerstand, für ihre Kreativität und für sich jemanden aufzustellen. Sie stellt ihre Kreativität (K), den inneren Widerstand (W) und sich (O = Olga) auf. 1. Bild

1. Bild

K W

O

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Die konfrontative Position von O zum Widerstand ist auffällig. Allen geht es gut. Der Widerstand sagt, du verwechselst mich mit etwas. Als ich jemand für die Mutter der Klientin hinter den Widerstand stelle, wird sofort klar, dass der Widerstand ein Konflikt zwischen Tochter und Mutter ist. Die Tochter ist beruflich erfolgreich und unabhängig. Sie kann ein Leben führen, wie es der Mutter nicht möglich war. Zugleich gibt es bei der Klientin viel unterdrückte Wut und Enttäuschung über das, was ihr die Mutter an Liebe und Zuwendung nicht geben konnte. Aus dieser Erkenntnis heraus beginnt bei der Klientin eine Aussöhnung mit der Situation. Es werden noch die Mutter der Mutter (G = Großmutter) dazugestellt und hinter O eine weibliche Kraft (E = Energie). Für O ist diese Kraft sehr wesentlich, sie spürt, dass sie unabhängig von ihrer Mutter mit ihrer eigenen Kraft und ihrer Weiblichkeit in Verbindung treten kann. Das ermöglicht ihr, ihre Mutter anzuschauen. In mehreren Schritten, zum Teil verbunden mit starken Gefühlen, kommen wir im Laufe von einer Stunde zum Lösungsbild. Schlussbild

Schlussbild E O M G

K W

Die Mutter sagt, sie sei sehr stolz auf ihre Tochter, und freue sich über ihren Erfolg. Die Großmutter sagt, dass sie ein gutes Leben gehabt habe und damit sehr zufrieden sei. In der Aufstellung fühlen die Stellvertreter wie die Personen, die sie repräsentieren. Damit können seelische Prozesse ermöglicht werden, die dem Heilwerden dienen: Aussöhnen, Verzeihen, auch Nachholen von etwas oder Aussprechen von etwas, was belastet, aber bisher nicht gesagt werden konnte. Es kommt oft zu emotional tiefen Prozessen, die wir ob der Tiefe und der existenziellen Tragweite spirituell nennen können. Systemaufstellungen sind eine Methode, die seit etwa zwanzig Jahren zunehmend von Coaches und von Beratern genutzt wird und inzwischen auch eine hohe Akzeptanz in Konzernen gefunden hat ob der hohen Effizienz der Methode. Sie spiegelt eine Entwicklung wider, die das bisher dominierende logisch-rationale Denken durch intuitive, emotionale Prozesse ablöst. Das obige Beispiel zeigt sehr deutlich, dass Olga durch ein analysierendes Gespräch nicht oder zumindest nicht so schnell zu einer Lösung ihres Problems gekommen wäre. Die Aufstellung war ein Schritt in eine transrationale Ebene, ein rein geistiger Prozess, bei dem zum einen blockierende Denkmuster gelöst wurden und die damit verbundenen Gefühle frei werden konnten. Zum anderen wurde ein neues, geistiges Element, eine »weibliche Kraft« hinzugenommen. Diese gab Olga

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Vertrauen zu sich selbst und gleichzeitig Schutz, was die Stellvertreterin in der Aufstellung immer wieder betonte. Aufstellungen zeigen immer wieder, wie bedeutsam solche geistigen Elemente sind, die je nach religiöser Verwurzelung der Klienten auch als Schutzengel, oder als Engel mit besonderen Qualitäten, wie zum Beispiel der Engel des Vertrauens, oder als eine Energie oder Kraft deklariert werden können. Damit betreten wir eine spirituell-geistige Dimension, die sehr kraftvoll sein kann. Auf dieser Ebene kann es auch um die Auseinandersetzung mit Schuld gehen, um das Annehmen zum Beispiel eines schweren Schicksals oder um das Lösen von Verstrickungen oder das Loslassen zum Beispiel einer Firma nach der Übergabe. Alle Beteiligten erleben dabei, dass auf dieser Ebene Logik und Sachargumente nichts bewegen können, die Bewegung findet in der Seele der Betroffenen statt und wird oft von tiefen, heilenden-heiligen Gefühlen begleitet. Es ist auch möglich andere religiöse oder archetypische Elemente aufzustellen wie Gott, das Leben, meine Berufung oder auch Polaritäten wie Animus und Anima oder Chronos und Kairos, die griechischen Götter für die Zeitquantität und Zeitqualität. Ein Beispiel: Eine junge Frau steht in dem Konflikt, ob sie sich einer religiösen Gruppe anschließen soll, der ihr Vater und ihr Großvater angehören, oder ob sie einen eigenen Weg gehen darf. Sie erlebt einen großen Gewissenskonflikt, einerseits möchte sie loyal zu ihrer Familie sein, andererseits aber wehrt sich etwas in ihr dagegen. Es werden aufgestellt: Klientin, Vater, Großvater, der Gott, an den die Väter glauben, und der wahre Gott. Sofort, beim Betrachten des ersten aufgestellten Bildes, sagt die Klientin erleichtert, niemals möchte sie in dieses enge Gottesbild ihres Vaters und Großvaters hineingezogen werden. Sie kann zulassen, dass Vater und Großvater aus dieser Religionsgemeinschaft Sicherheit und Kraft schöpfen. Sie erkennt aber auch, dass sie das Recht hat, ihren eigenen Weg zu gehen. Aufstellungen erlauben, zu differenzieren, Dinge zu trennen und zugleich das Thema und seine Aspekte anschaulich zu machen. Ein altes Sprichwort sagt: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Aufstellungen sind Bilder, die tiefe Einsichten erlauben und die uns helfen, das Eigentliche hinter den Problemen und Beschreibungen zu erfassen. Diese Art von Aufstellungen berührt eine geistige Ebene, die gemäß dem lateinischen spiritus = Geist spirituell genannt werden kann.

Ausblick Die Nachfrage nach Coaching steigt seit vielen Jahren kontinuierlich, etwa in demselben Maße, wie die Nachfrage von Firmen nach Weiterbildungsseminaren abnimmt. Viele Unternehmen halten das »individual learning« für effektiver als den Besuch eines Seminars. Die Erwartungen und die Probleme verändern sich aber parallel zu dieser äußerlichen Verschiebung im Bildungsmarkt zu mehr persönlichen und seelischen Anliegen. Unter dem Begriff »psychosoziale Gesundheit« beschäftigen sich immer

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

mehr gesellschaftliche Gruppen mit dem wachsenden seelischen Leid und seinen Folgen für die Arbeitswelt. Unternehmen, wie beispielsweise das Fürstenberg-Institut in Hamburg, betreuen Mitarbeiter von großen, bekannten Firmen, unabhängig von Personalabteilung oder Führungsvorgaben. Die Firmen zahlen dafür pauschal monatlich an das Institut und dafür können Mitarbeiter mit psychischen Problemen im Institut ihre Probleme, von Depressionen bis zu familiären Schwierigkeiten, ansprechen und erhalten Hilfe. Hier sind die Grenzen zwischen Coaching, Therapie und Seelsorge aufgehoben, entscheidend ist die Qualifikation des Coach. Ein anderes positives Beispiel ist der inzwischen pensionierte Inhaber eines größeren Familienbetriebs. Er stellte einen Kontakt zu einem Krankenhausseelsorger her und bietet nun allen Mitarbeitern an, bei seelischen Problemen ohne Einbeziehung des Vorgesetzten dort ein Gespräch zu suchen. Die Fragestellungen im Coaching, die Probleme und Konflikte, die immer mehr Menschen belasten, erfordern von jedem verantwortungsbewussten Coach ein zunehmendes spirituelles Bewusstsein, das über eine spirituelle Praxis entwickelt werden kann. Die verschiedenen Meditationstechniken sind eine gute Möglichkeit. Daneben sind Selbsterfahrungsprozesse hilfreich, um sich selbst besser kennenzulernen. Das Angebot ist groß und es tummeln sich hier viele Scharlatane. Ich selbst habe am meisten aus Aufstellungsseminaren profitiert, mich aber auch mit Schamanismus und therapeutischen Erfahrungen beschäftigt. Eine gute Coaching-Ausbildung ist die Basis. Die Probleme der Menschen heute erfordern aber neben einem guten Handwerkszeug ein tieferes Verstehen. Nirgendwo sind ständiges Lernen und persönliche Weiterentwicklung sinnvoller und nutzbringender für alle Beteiligten als bei dieser Arbeit als Coach.

Literatur Assländer, F.; Grün, A. (2010). Spirituell arbeiten: Dem Beruf neuen Sinn geben. Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag. Barmer Ersatzkasse (2009). Gesundheitsreport 2009. Wuppertal. Johannes vom Kreuz (1995). Die Dunkle Nacht. Freiburg: Herder. Jung, C. G. (1932/1996). Gesammelte Werke, Bd. 11. Ostfildern: Patmos. Steindl-Rast, D. (2005). Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Freiburg: Herder. Wilber, K. (2007). Integrale Spiritualität. München: Kösel.

Dr. Friedrich Assländer, Jahrgang 1946, Studium Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Vertriebs- und Führungstätigkeit in einem Finanzkonzern, 25 Jahre Hochschuldozent, seit über 25 Jahren Seminarleiter und Coach im Topmanagement. Er arbeitet seit 1995 mit Systemaufstellungen in der Wirtschaft und leitet Fortbildungen in Organisationsaufstellungen. Seit 2004 leitet er spirituell orientierte Führungsseminare. Aus der Zusammenarbeit mit Pater Anselm Grün sind ein Seminarprogramm und mehrere Bücher entstanden. Dr. Assländer publizierte mehrere Bücher und Aufsätze zu den Themen Führung, Spiritualität und Systemaufstellungen, er hält Vorträge im In- und Ausland. www.asslaender.de

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Markus Hänsel

Die spirituelle Dimension als sinnstiftender Möglichkeitsraum im Coaching

Coaching als professionelles Entwicklungsfeld – eine kurze Standortbestimmung Es gibt keine Methode, nur Achtsamkeit. J. Krishnamurti

Spiritualität als Teil professioneller Entwicklung des Coachs

Zu Beginn möchte ich zunächst zwei Aspekte darstellen, die mich in den letzten Jahren motivierten, die spirituelle Dimension im beruflichen Kontext der Beratung und des Coaching zu erkunden und explizit einzubeziehen. In vielen Gesprächen, die ich in den letzten zwei Jahren mit Kollegen und Klienten über die Bedeutung von Spiritualität im beruflichen Kontext führte, erntete ich unterschiedlichste Reaktionen von Erstaunen und Neugier bis Begeisterung und Bestärkung, aber auch Irritation und Skepsis. Meistens beruhten die Reaktionen auf sehr unterschiedlichen Einstellungen zu Spiritualität, eher wenige Menschen schienen für sich einen klaren Umgang damit gefunden zu haben und oft zeigte sich eine Ambivalenz zwischen Hingezogensein und Verunsicherung. Erst in vertiefenden Gesprächen wurde bei Themen wie Sinnfindung, Umgang mit Krisen oder Wertediskussionen deutlich, welchen Bezug Spiritualität im Kontext des Coaching haben kann. Was mir aus den Gesprächen blieb, war der Eindruck, dass es hier noch sehr wenig fundierten Diskurs gibt und eher unklare Vorstellungen und Unsicherheit in der praktischen Annäherung bestehen. Das liegt wohl auch daran, dass in unserer Gesellschaft berufliche und private Lebenswelten eher getrennt betrachtet werden und Spiritualität in unserem säkularisierten Kulturkreis als Privatsache gilt. Zunächst ist es eine ganz persönliche Entscheidung, sich auf dem eigenen Lebensweg ernsthaft mit Spiritualität zu beschäftigen und eine kontinuierliche spirituelle Praxis zu entwickeln. Der berufliche Transfer steht dabei sicherlich nicht im Vordergrund. Wenn eine spirituelle Praxis und Haltung dann im Laufe der Zeit zum Teil des Alltags geworden ist, ist es hingegen natürlich, dass sie sich in allen Bereichen des eigenen Lebens auswirkt. Dies ist sogar intendiert, wenn man von einem integrierten und ganzheit-

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

lichen Bild von Spiritualität ausgeht. Doch auch mit dem längeren Hintergrund einer spirituellen Praxis ist die Frage einer Begegnung und Integration in der beruflichen Lebenswelt nicht trivial. Ich konnte vor allem im Umgang mit eigenen Entwicklungsthemen und Lebenskrisen in den letzten Jahren erleben, wie wirksam es ist, wenn sich unsere etablierten Formen der Unterstützung, wie Psychotherapie, Coaching oder Beratung, mit einem spirituellen Hintergrund und einer konkreten Praxis begegnen. Hier ist der Entwicklungsweg ein praktischer, an den eigenen Erfahrungen orientierter, der über das professionell-methodische Erlernen hinausgeht. Ich denke, auf diesem Gebiet können wir im Coaching nur das kongruent den eigenen Klienten anbieten, was wir selbst erprobt und als hilfreich erlebt haben. Der Transfer in die berufliche Praxis und in die unterschiedlichen Kontexte der Klienten setzt dann einen aktiven Such- und Übersetzungsprozess voraus und braucht oftmals Mut zum Experimentieren. Gerade in Bezug auf einen spirituellen Hintergrund und spirituelle Praxis gibt es nach meiner Erfahrung keine vorgefertigte Methode der Integration. Dieser Bezug führt eher von einem Coaching-Verständnis, das sich auf Technik und Setting konzentriert, zu einem, das sich an spezifischen Grundhaltungen orientiert und diese in der lebendigen Begegnung aktualisiert. Je stärker wir eine spirituelle Dimension einbeziehen, desto mehr werden sowohl Methode als auch Haltung letztlich nur Schlüssel, der den Kontakt zur Eigendynamik eines Hintergrundfelds von Interdependenz und Potenzialität eröffnet. Auf die Frage, wie man Meditation erlerne, antwortete J. Krishnamurti radikal: »Es gibt keine Methode, nur Achtsamkeit!« Ich weiß nicht, ob ich diese Aussage in ihrer Radikalität für das Coaching stehen lassen will – gleichzeitig gefällt mir, an was sie mich erinnert. Spiritualität als Antwort auf Anliegen der Klienten

Eine Studie der Identity Foundation (2011) zeigt, dass sich zunehmend mehr Führungskräfte für Fragen zu Sinnfindung, Werteorientierung und Spiritualität interessieren. Auch können wir beobachten, dass sich ein zunehmender Teil der ins Coaching eingebrachten Anliegen nicht mehr nur im engeren Sinne auf die Unterstützung bei einer beruflichen Problemstellung bezieht, sondern weit umfassendere Themen anspricht wie: –– Selbststeuerung unter zunehmend komplexen, interdependenten Kontextbedingungen, –– Fragen nach Werteorientierung im Beruf und Anforderung an die Integrität der Umsetzung, –– Sinnsuche in der eigenen Tätigkeit, die über das rein Funktionale hinausgeht, –– Orientierung in vielschichtigen Berufs- und Lebensumwelten, –– Passung und Balance von privaten und beruflichen Rollen, –– Bewältigung existenzieller Krisen, die in Verbindung mit dem Beruf stehen, wie Burnout.

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Jedes dieser Anliegen kann man im Coaching sicherlich auch ohne Bezug auf Spiritualität angehen. Ich denke aber, dass dieser Bezug gerade im Umgang mit Sinn-, Wertefragen und vielen existenziellen Themen äußerst wertvolle Ressourcen ins Spiel bringt. Die »helfenden Berufe«, zu denen ich Coaching und Beratung zähle (vgl. Schein, 2010), können durch ihre professionelle Ausrichtung auf den Menschen ganz besonders von der Integration spiritueller Praxis und Haltung profitieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Coach im Umgang mit Spiritualität auf jede Art von Dogmatismus und asymmetrischer Kommunikation verzichtet, was ohnehin eine selbstverständliche Grundhaltung im Coaching sein sollte. Ob man als Coach dann über Spiritualität spricht, mit wem und in welchem Kontext, ist eine ganz andere Frage. Ich denke, die meisten Coaches, die sich mit spirituellen Themen in irgendeiner Weise beschäftigen, werden dies eher still tun, sei es, um Irritationen mit Klienten zu vermeiden oder weil sie das Thema als privat und nicht Teil eines professionellen Kontextes ansehen. Das ist zu akzeptieren, unterschätzt aber vielleicht das große Interesse von Klienten und Kunden an einer bewussten und offenen Beschäftigung mit spirituellen Hintergründen auch im Coaching. Professionelle Anforderungen an Coaching – eine kurze Standortbestimmung

Primär versteht man unter Coaching eine Einzelberatung, die einen Klienten bei der Problemlösung und Zielerreichung beruflicher Themen unterstützt. Doch hat sich Coaching auch im Teamkontext sowie als begleitende Maßnahme in Führungstrainings und Change-Prozessen etabliert. Ursprünglich richtete sich Coaching nur an Leistungsträger und Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen, doch wird es auch als professionelle Form der Unterstützung in unterschiedlichsten Arbeitsfeldern wie Pädagogik, Arbeitslosenförderung, Medizin oder Wissenschaft genutzt. Bernd Schmid (2003) schlägt daher vor, Coaching eher unabhängig von Setting und Kunden als eine Form der Beratung zu betrachten, die von drei wesentlichen Perspektiven ausgeht: –– Persönliche Beratung, die verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten in beruflichen und persönlichen Kontexten des Klienten aufzeigt und das Wechselspiel dieser beiden Lebenswelten berücksichtigt; –– Unterstützung in der professionellen Entwicklung, wenn es gilt, für den Klienten sinnvolle Rollen, passende Arbeitskontexte und Gestaltungsmöglichkeiten zu finden und zu gestalten; –– Gestaltung von Organisationsrollen, dort, wo die professionelle und persönliche Entwicklung des Klienten zu spezifischen Anforderungen und Möglichkeiten einer Organisationsfunktion passen müssen. Gerade die Verzahnung wirtschaftlicher und psychologischer Anteile haben Coaching und Beratung als interdisziplinäre Profession geprägt, die ihre Anleihen bei verwandten Berufsbereichen wie der Psychotherapie, der Pädagogik, der Medizin oder technischer

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Disziplinen macht. In dieser Hinsicht ist Coaching eine eher eklektische Profession, die sich sehr unterschiedlicher Methoden und Theorien bedient und diese je nach Bedarf miteinander mischt, ergänzt und weiterentwickelt. Ziele und Wirkfaktoren im Coaching

Das zentrale Ziel im Coaching ist Hilfe zur Selbsthilfe. Als Coach wollen wir die Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung des Klienten stärken und dazu Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen fördern: –– Verbesserung der Selbstregulationsfähigkeit, –– Förderung von Selbstreflexion, Wahrnehmung und Bewusstheit, –– Integration von neuen Rollen- und Funktionsanforderungen, –– Integrität in der Ausbildung einer professionellen Identität. In einer Analyse, die sich an dem allgemeinen Psychotherapiemodell von Klaus Grawe orientiert, stellt Greif (2009) vier zentrale Wirkfaktoren im Coaching vor: –– Problemaktualisierung: Problemmuster erkennen, nacherleben, reflektieren, reflektierte Übertragung/Gegenübertragung; –– Ressourcenorientierung: Erkennen, Nutzen, Entwickeln von Stärken, Fähigkeiten und Potenzialen, Aktivierung externer Ressourcen; –– motivationale Klärung: Erkennen der Auswirkungen von Verhalten, Reflexion der eigenen Intentionen sowie von bewussten und unbewussten Zielen; –– Problembewältigung: Zielfokussierung, Handlungsstrategien entwerfen, Maßnahmen zur Zielerreichung planen. Ich werde im weiteren Verlauf darauf eingehen, inwieweit Spiritualität im Rahmen dieser Wirkfaktoren einen Beitrag leistet oder ob sie sogar ganz neue Wirkfaktoren mit ins Spiel bringt. Die systemische Perspektive als theoretische Grundlage

Als theoretisches Fundament für Coaching möchte ich eine systemische Perspektive zugrunde legen, die für mich am adäquatesten den aktuellen Erkenntnisstand neurowissenschaftlicher und psychologischer Forschung aufgreift. Aus dieser Sicht treffen bei der Begegnung von Klient und Coach immer zwei autonome, selbstorganisierende Systeme aufeinander. Die professionelle Ankopplung und Beziehung entstehen in einem koevolutionären Kontext wechselseitiger Abstimmung und Ausrichtung auf gemeinsame Ziele und Rahmenbedingungen, die den Coaching-Auftrag etablieren. Veränderungen im Rahmen eines Coaching erfolgen aus dieser konstruktivistischen Perspektive nicht durch den fachlichen Ratschlag oder eine Lösungsvorgabe des Coach, sondern werden vielmehr als autonome Prozesse des Klienten verstanden, die in der Kooperationsbeziehung angeregt werden. Dazu müssen die Interventionen und Anregungen des Coach an die Wirklichkeit des Klienten ankoppeln und gleichzeitig einen Unterschied bilden,

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der Sinn ergibt und neue, konstruktive und kreative Handlungsoptionen schafft. Veränderung geschieht also nicht nur auf der Handlungs- und Verhaltensebene, sondern im gesamten kognitiv-emotionalen Erleben des Klienten, das seine inneren mentalen Modelle, Einstellungen, Werte- und Sinnmuster umfasst. Wie kann man aus dieser systemischen Sicht eine spirituelle Dimension im Coaching verstehen? Um diese Beziehung beschreiben, möchte ich im Folgenden verschiedene Perspektiven von Spiritualität ausloten.

Spiritualität – Ein Blick auf Begriffe, Hintergründe, Traditionen und Kultur In diesem Abschnitt will ich der Überlegung nachgehen, dass das, was wir unter Spiritualität verstehen, in engem Zusammenhang mit unserem jeweiligen kulturellen, sozialen und religiösen Kontext und dem jeweiligen Zeitgeist steht. Ich halte es daher für sinnvoll, diese Hintergründe zu beleuchten, um auf dieser Grundlage sinnvolle Perspektiven zu entwickeln, wie wir uns Spiritualität in einer möglichst offenen, wenig enkulturierten und damit auch dem professionellen Arbeitsfeld angemessenen Weise nähern zu können. Zum Begriff Spiritualität

Spiritualität, mit seinem Wortstamm spiritus (lateinisch: Hauch, Atem), wird im Deutschen meist in Verbindung mit Geist und Geistigem in einem religiösen Kontext gebracht. Wenn man die traditionellen Wurzeln von Spiritualität betrachtet, gibt es einen abendländischen Strang in die christliche Religion, als konkrete individuelle Ausübung von Religion oder als Kennzeichen mystischer Erfahrungen, mit einem Verweis auf das christliche Gottesverständnis (Baier, 2006). Auch in der abendländischen Philosophie lässt sich ein Wurzelwerk finden, was zu Philosophen und Gelehrten wie Roger Bacon, Thomas von Aquin, William Ockham, um nur einige zu nennen, reicht und zum Beispiel die Relevanz der individuellen Introspektion und Selbsterkenntnis für die philosophische Erkenntnisgewinnung zeigt (Walach, 2011). In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch eine gesellschaftliche Strömung entwickelt, die zum einen eine große Offenheit im Experimentieren mit unterschiedlichen Formen spiritueller Praxis und Tradition zeigt und die zum anderen versucht, in einem westlichen, säkularen Kulturverständnis beheimatete Formen für Spiritualität zu finden. Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Spiritualität setzt sich zunehmend ein Verständnis durch, das sich von traditioneller Religion unterscheidet. Ob man persönlich zwischen Religion und Spiritualität trennt, hängt primär davon ab, inwieweit man die eigene Spiritualität in einer spezifischen Religion wiederfinden und leben kann oder ob man Religionen primär als gesellschaftliche, machtpolitische Institutionen sieht, die mit Spiritualität als individueller, praktischer Erfahrung wenig zu tun haben. Dass auch der Begriff der Religiosität einen Bedeutungswandel erfährt,

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zeigt eine Untersuchung, die eine steigende Bedeutung sogenannter impliziter Religiosität in der Bevölkerung findet, die sich zum Beispiel nicht mehr an institutionelle Bedingungen der Kirchen bindet, sondern mit universalreligiösen Komponenten wie Transzendierungserlebnissen auf dem Hintergrund von Mythos und Ritual beruht (vgl. Schnell, 2010). Für die Annäherung von Spiritualität an einen professionellen Bereich scheint es mir sinnvoll, eine möglichst wenig kulturell und religiös geprägte Lesart zu wählen, die diese ohnehin gewagte Begegnung zweier Lebensbereiche möglichst offen und mit vielen Berührungspunkten erlaubt. Eine solche Beschreibung findet sich etwa bei Harald Walach, Professor für Forschungsmethodik an der Viadrina-Universität Frankfurt/ Oder. Er beschreibt Spiritualität als »explizites Bezogensein auf eine über das eigene Ich und seine Ziele hinausreichende Wirklichkeit […], das ganzheitlich Erkennen, Affekt und Emotion, Motivation und Handeln durchdringt« (Walach, 2011, S. 23). Dem zugrunde liegt ein Verständnis von Spiritualität vor allem als konkrete Erfahrung und »ganzheitliche Erkenntnis, die kognitive, affektive und motivationale Komponenten aufweist« (S. 20). Arndt Büssing, Professor für Medizintheorie an der Universität Witten/Herdecke, hat in einer empirischen Untersuchung zu Erfahrungs- und Ausdrucksformen von Spiritualität im westlich-medizinischen Kontext sieben Faktoren eruiert (Büssing, 2008, S. 2): –– Gebet, Gottvertrauen und Geborgenheit, –– Erkenntnis, Weisheit und Einsicht, –– Transzendenz-Überzeugung, –– Mitgefühl, Großzügigkeit und Toleranz. –– bewusster Umgang mit sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt, –– Gleichmut und Meditation, –– Ehrfurcht und Dankbarkeit. Als Drittes möchte ich eine Definition von Spiritualität des Philosophen Thomas Metzinger nennen, die sowohl östliche Traditionen als auch westliche Kulturgeschichte der Aufklärung einbezieht: »Es ist also eine epistemische Einstellung von Personen, bei der die gesuchte Form von Erkenntnis nicht theoretisch ist; das heißt, es geht nicht um Theorie, sondern um eine bestimmte Praxis, eben eine spirituelle Praxis, um eine bestimmte Form des inneren Handelns […] Es geht auch nicht um gedankliche Einsichten und die gesuchte Form der Erkenntnis ist sprachlich nicht kommunizierbar, sie kann höchstens angedeutet werden. Andererseits ist es aber immer ganz klar, dass es bei der Spiritualität nicht um Therapie allein oder eine geistige Form von Wellness geht, sondern in einem sehr starken Sinn schon um ein Selbstwissen, um eine radikal existenzielle Form von Selbsterkenntnis; und in vielen Traditionen ist es auch klar, dass es dabei immer so etwas wie eine geistige Schulung, einen Übungsweg, eine innere Form von Tugend oder Selbstvervollkommnung gibt. Es gibt also ganz am Anfang einen Wissensaspekt und einen normativen Aspekt, und das bedeutet, es geht bei der spirituellen

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Einstellung zur Welt in einem sehr besonderen Sinn gleichzeitig um Erkenntnis und um Ethik« (Metzinger, 2010). Die wesentlichen Elemente sind also das Streben nach Erkenntnis und Ethik auf einer erfahrungsorientierten und durch praktische Methoden vermittelten Grundlage mit lebenspraktischer Auswirkung. Umgang mit Spiritualität in einer postmodernen Gesellschaft

Spiritualität ist zwar in der Gesellschaft im Verlauf der letzten Jahre deutlich anerkannter geworden, gleichzeitig gibt es gerade im Kontext von Wissenschaft und Wirtschaft eindeutige Vorbehalte gegenüber diesem Thema, denen man sich stellen muss. Die gesellschaftliche Debatte um Spiritualität ist spätestens seit den letzten fünfzig Jahren von einer grundsätzlichen Spaltung extremer Positionen geprägt, deren bewusste Betrachtung ich für unabdingbar erachte, wenn wir Spiritualität in einem professionellen Umfeld ansiedeln wollen. Die Beschäftigung mit und die Aufwertung von Spiritualität sind verbunden mit dem Untergang der abendländischen Tradition der kritischen Vernunft und Ratio. Diese Furcht fußt tief in der Tradition der Aufklärung, die mit den Dogmen der Kirche brach und einem wissenschaftlichen Paradigma den Vorzug gab, in dem nur das für alle Sichtbare, Wägbare, Nachprüfbare gültig ist (vgl. Walach, 2011). Davon abzuweichen hieße den Rückfall in eine von irrationalem Glauben und Willkür geprägte Zeit. Spiritualität wird hier als Antipode zu Ratio, Vernunft und Verstand aufgefasst. Noch stärker betrifft dies den Begriff Esoterik, der für viele als Synonym für unseriöse, spekulative und nicht annehmbare Weltbilder und Praktiken gilt. Die Welt des Messbaren und der Wissenschaft liefert uns dagegen ein scheinbar festes Fundament seit der Moderne. Obwohl diese Weltsicht spätestens durch Entwicklungen der Postmoderne tiefe Risse bekommen hat, scheint sie in unserer von Zweckrationalität beherrschten Welt immer noch wesentlich das Bewusstsein der Gegenwart zu prägen. Aus dieser Sicht ist Spiritualität eine Regression in einen kindlichen, magischen und letztlich wirklichkeitsfernen Bewusstseinszustand, der Rationalität und Intellekt des modernen, erwachsenen Menschen außen vor lässt – eine Sicht auf Spiritualität, die Ken Wilber als prärational bezeichnet und die zum Beispiel die Psychotherapie seit Freud bestimmte (Wilber, 1996). Genährt wird diese Weltsicht durch die Gegenbewegung, oft mit dem Label New Age versehen, seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie vollzieht in der Wiederentdeckung der Spiritualität eine Kehrtwende, die die Gültigkeit der rationalen und naturwissenschaftlichen Weltsicht ablehnt. Es werden neue Heilsgeschichten proklamiert, die oft jegliche Fragen nach Plausibilität und kritischer Überprüfbarkeit von sich weisen. Dass die Suche nach Sinn und Erlösung von Leid auf der einen Seite ein spirituelles Grundthema ist, auf der anderen Seite eine Gratwanderung zwischen unlauteren Erlösungsangeboten, wusste schon der Psychoanalytiker Erich Fromm. In der Ergänzung seines Hauptwerks »Haben und Sein« (1976) bezeichnet er die Fülle von Angeboten des modernen Esoterikbetriebs schlicht als den große[n] Schwindel«. Was für manche

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Menschen anziehend ist, wirkt für andere wie naiver Aberglaube, der sich als Irrationalität, Esoterik, New Age etc. verkleidet. Ein daraus entstehender Vorwurf ist der des Fundamentalismus und der Wissenschaftsfeindlichkeit, da viele spirituelle Weltbilder zudem aus religiösen Traditionen kommen, die den Anspruch einer absoluten und ausschließlichen Wahrheit erheben und diesen Anspruch aggressiv nach außen vertreten. Spirituellen Weltbildern, die sich so gegen sachliche Argumente und Kritik, die dem jeweiligen Weltbild entgegenstehen, zu immunisieren versuchen, wird zu Recht Ignoranz vorgeworfen – ihre Anhänger gelten als blind, realitätsverkennend und unbelehrbar. Wie können wir uns mit diesem nicht ganz einfachen Erbe einem unbelasteten Verständnis von Spiritualität nähern, das diese Spaltung vermeidet? Emotional entsteht daraus oft ein Pendeln zwischen Misstrauen und Sehnsucht. Bei ungünstigem Ausgang führt dieses Pendeln zu Frustration und Gleichgültigkeit, bei günstigem Ausgang zu Neugier und Kreativität. Viele Menschen ringen daher aktuell um eine Weltsicht, die sich Themen wie Spiritualität und Intuition öffnen kann und gleichzeitig nicht alle rationalen, intellektuellen und sozialen Errungenschaften der Aufklärung und Wissenschaft über Bord wirft. Thomas Metzinger mahnt hier provokativ ein Verständnis von Spiritualität an, bei dem man »keinen kognitiven Selbstmord begeht und nicht auf mehr oder weniger subtile Form seine Würde als kritisches rationales Subjekt verliert« (Metzinger, 2010). Damit stellt sich die Frage, ob es einen Weg gibt, der uns einen offenen, wachen und zeitgemäßen Umgang mit Spiritualität eröffnet. Ich möchte einige Annahmen formulieren, die in die Richtung deuten, was dieser Weg im Umgang mit den aufgezeigten Spannungsfeldern mit sich bringen würde: –– Überzeugungen und Konventionen spiritueller Traditionen neu betrachten und bewerten und in Richtung einer säkularisierten Spiritualität (Metzinger, 2010) weiterentwickeln; –– eine kritische Sicht dort begrüßen, wo sie zur Mündigkeit und Selbstverantwortung im Umgang mit Spiritualität führt; –– Rationalität in einer evolutionären Entwicklung betrachten, die gerade transrationale Formen (vgl. Wilber, 2007) von Spiritualität als Impulsgeber aufgreift; –– einen wachsamen und konstruktiven Umgang mit regressiven Tendenzen entwickeln, dort, wo Spiritualität benutzt wird, um Abspaltung und neurotische Konflikte zu kaschieren; –– klassische Dichotomien wie Wissenschaft–Religion, Körper–Geist, spirituell–weltlich statt als Widersprüche vielmehr als Beziehungsphänomene betrachten, die sich ergänzen und zur weiteren Erforschung einladen. Dass dieser aufgezeigte Weg keine Utopie ist, sondern sich in der gesellschaftlichen Entwicklung bereits abzeichnet, zeigen aktuelle soziologische Untersuchungen. Eine repräsentative Studie zur Rolle und Bedeutung von Spiritualität im Alltag der Identitiy Foundation ergab, dass für 40 Prozent der Bevölkerung spirituelle Themen und

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Meditation bereits eine wichtige Rolle im Alltag spielen und 25 Prozent der Deutschen in spiritueller Praxis die Basis für ein gutes Leben und für Weisheit sehen (Identity Foundation, 2011). Der gesellschaftlich-kulturelle Hintergrund für Spiritualität im Kontext des Coaching

Nach einer möglichen Verortung von Spiritualität in unserem aktuellen gesellschaftlichen Kontext ist es mir wichtig, einige Voraussetzungen zu formulieren, die mir für eine Einbettung von Spiritualität in der Profession des Coaching und der Beratung hilfreich, wenn nicht sogar notwendig erscheinen. Walach betont, dass »eine postmoderne, gereifte und der Aufklärung verpflichtete Spiritualität doktrinäre Enthaltsamkeit üben muss. Und das heißt, dass sie um die Relativität solcher doktrinärer Hüllen weiß und um ihre historische Relativität« (2011, S. 16). Hier liegt eine der großen Herausforderungen für spirituelle Praxis in einer postmodernen Welt: die Gültigkeit und manchmal zwingende Autorität der subjektiven Erfahrung anzuerkennen und gleichzeitig die Notwendigkeit, diese Erfahrung als relativ, selektiv und für andere nicht verbindlich, oft sogar nicht verständlich zu akzeptieren. Mit dem Ziel, postmoderne Tugenden der Multiperspektivität und humanistische Tugenden der Toleranz im Umgang mit Spiritualität zu erhalten, halte ich es für unabdingbar, Kommunikation und Dialog als wesentlichen Prozess zu initiieren, damit Selbstreflexion und Transparenz konkret stattfinden und sektiererische Tendenzen verhindert und korrigiert werden können. Der Philosoph Metzinger beschreibt Unbestechlichkeit und intellektuelle Redlichkeit als zentrale Tugenden im Umgang mit Spiritualität, gerade dort, wo es um die Integrität der Beziehung von eigenen Werten und eigenem Handeln geht (Metzinger, 2010). Die vielfältigen Annäherungen von Wissenschaft und Spiritualität, und die im Zuge dessen stattfindenden Diskurse, halte ich für eine wegweisende Entwicklung. Für Coaching ist der Dialog auf der großen Bühne der Wissenschaft wohl eher Kontextbedingung. Hier wird es vielmehr notwendig sein, in den regulären Vereinbarungen zwischen Coach und Klient im Rahmen von Ziel- und Auftragsgestaltung maximale Transparenz und kommunikative Rationalität im Umgang mit spirituellen Hintergründen zu üben. Dazu Schmid: »Spirituelle Haltungen sollen helfen, mit der Verantwortung eines engagierten Menschseins umzugehen. Dafür dürfen diese nicht animistischer Naivität und egozentrierter Selbstgenügsamkeit Vorschub leisten, sonst schaffen sie Schicksalsergebenheit oder Überheblichkeit statt Kulturkompetenz und globaler Anstrengungen« (Schmid, 2011). Vielleicht sollten wir uns auch daran erinnern, dass spirituelle Erfahrung letztendlich immer auf das Subjekt mit seiner Erkenntnisfähigkeit des Absoluten und mit der Verantwortung für die Gestaltung der eigenen Wirklichkeit abzielt. Missionierung und Heilslehren sind im Coaching mit Sicherheit vollkommen fehl am Platz – die kommunikative Reflexion und Transparenz der eigenen Methode, Weltsicht und Ethik dagegen sind professionell verpflichtend.

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Erkundung der spirituellen Dimension in einer modernen Lebenswelt Distinction is perfect continence. G. Spencer-Brown

Nach dieser einführenden Betrachtung der kulturellen Hintergründe, auf denen wir Spiritualität verstehen und ausüben, scheint es mir hilfreich, als nächsten Schritt die Bezüge zu unserer modernen Lebenswelt aufzuzeigen. Um etwas vertiefter zu erkunden, was eine spirituelle Dimension mit ihren unterschiedlichen Facetten in diesem Kontext ausmacht, schlage ich fünf Perspektiven vor, die zentrale Aspekte einer in Alltag und Praxis angesiedelten Spiritualität beleuchten (Abb. 1). Dazu werde ich einige Ausflüge in die aktuellen Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung zu diesem Thema machen. Ich möchte nochmals klarstellen, dass ich nicht davon ausgehe, dass eine solche sprachlich-begriffliche Annährung die spirituelle Dimension in irgendeiner Weise erschöpfend begreifen kann – ich hoffe lediglich, dass eine solche mentale Landkarte eine gute Resonanz zur gelebten Erfahrung schafft und einige hilfreiche Brücken baut, um Spiritualität mit der beruflichen Welt des Coaching in Beziehung setzen zu können. Spiritualität als Weltsicht

Spiritualität als subjektive Erfahrung

Perspektiven auf Spiritualität

Spiritualität als Haltung und Ethik

Spiritualität als Praxis und Methodik

Psychophysiologische Auswirkungen spiritueller Praxis

Abbildung 1: Fünf Perspektiven auf Spiritualität Abbildung 1: Fünf Perspektiven auf Spiritualität

Spiritualität als subjektive Erfahrung

Der Ausgangspunkt für gelebte Spiritualität ist in allen Traditionen die konkrete, subjektive Erfahrung, die mit allen Sinnen und inneren Qualitäten vollzogen wird. Wenn wir von spiritueller Erfahrung sprechen, ist also weder intellektuelles Erkennen oder philosophisches Nachsinnen gemeint noch irgendeine Form mystischer Ekstase oder Entrückung (auch wenn solche Erfahrungsqualitäten in spirituellen Traditionen berichtet werden). Sie wird viel häufiger als eine Beruhigung, Weitung, Öffnung oder Vertiefung des normalen Alltagsbewusstseins beschrieben. Wir erleben diese Qualitäten vor allem dann, wenn die normative, wertende und selbstbezügliche Seite des Bewusstseins übergeht in eine Qualität von offenem, präsentem Gewahrsein, das Innen- und

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Außenwahrnehmung in allen Sinnesbereichen umfasst. Mittlerweile haben sich viele unterschiedliche Begriffe etabliert, die auf solche Erfahrungsqualitäten hindeuten, wie Sammlung, Flow, Präsenz oder Achtsamkeit. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung bezeichnet Harald Walach spirituelle Erfahrung als »direkte, unmittelbare Erfahrung einer über das eigene Ich hinausgehenden, größeren Wirklichkeit« (2011, S. 25). Diese Erfahrung von Transzendenz, also wörtlich des Überschreitens einer Grenze dessen, wie wir gewohnt sind, das eigene Selbst und die Umwelt wahrzunehmen, ist das charakteristischste Merkmal spiritueller Erfahrung (vgl. James, 1997). Viele beschreiben dies als Erleben von Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Umgebung und der Welt als Ganzheit, als Erfahrung innerer Führung oder sinngebender Anbindung an eine höhere Wirklichkeit. Spirituelle Erfahrung wird in ihrer emotionalen Qualität durchaus unterschiedlich erlebt. In einer Achtsamkeitsmeditation versuchen Menschen eher durch die Erfahrung von Stille und die Reduzierung der Eindrücke in ein ruhiges und klares Gewahrsein einzutreten. Genauso kann eine tiefgreifende und transformierende Erfahrung aus dem Erleben einer existenziellen Krise entstehen, verbunden mit emotionalen Turbulenzen und Grenzerfahrungen. Gerade mit Blick auf die Bedeutung spiritueller Erfahrung im Kontext des Berufsalltags schlage ich vor, weniger auf das Besondere oder Spektakuläre zu fokussieren, sondern eher auf eine neue Qualität in der Erfahrung des Alltäglichen – und das Alltäglichste ist primär der eigene Geist, mit und durch den wir uns in der Welt bewegen. Deshalb wird spirituelle Erfahrung auch eher als natürlicher und einfacher Zustand des Seins erlebt, in dem nicht etwas Spezielles von außen hinzugefügt wird, sondern eher gewohnte Denk- und Fühlmuster, eingefahrene Verhaltensweisen und die Identifizierung mit einem fixen Selbstbild verlassen werden. In der Betrachtung von Spiritualität hat Gordon Allport die Unterscheidung in intrinsisch und extrinsisch motivierte Religiosität geprägt (Allport in Büssing, 2008). In der extrinsischen Motivation sind Menschen von äußeren Faktoren in ihrer Haltung der Spiritualität gegenüber beeinflusst, sie benutzen Religiosität als Mittel zum Zweck für andere Ziele, zum Beispiel Beruhigung, sozialer Kontakt, Status oder Gesundheit. Eine intrinsische Motivation entsteht von innen heraus, sie ist Teil der Persönlichkeit und entsteht ohne Ziel und Zweck. Bei intrinsisch motivierten Menschen lassen sich Auswirkungen wie bessere Bewältigung von Lebenskrisen oder weniger Furcht vor Krankheit und Tod feststellen, sie profitieren also paradoxerweise stärker von Effekten spiritueller Praxis als die Nutzenorientierten (Bucher, 2007). Transzendenz und Bewusstseinsmodulation Wenn man die subjektive Erfahrung von Spiritualität untersuchen will, stellt sich natürlich die Frage, wie eine solche Erfahrung im Bewusstsein erlebt wird und wiederum das Bewusstsein beeinflusst. Die Veränderung von Bewusstseinszuständen, als sogenannte Bewusstseinsmodulation, ist für Wilfried Belschner (2007) das kennzeichnende Merkmal spiritueller Erfahrung. Das auf empirisch-psychologischen Untersuchungen basierte

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Modell zeigt Erfahrungsqualitäten in unterschiedlichen Stadien der Bewusstseinsmodulation. Die zentralen Qualitäten Bewusstseinsweite und Transzendenz äußern sich in fünf Kriterien der Bewusstseinsqualitäten in einem Kontinuum zwischen Alltagswachbewusstsein und unterschiedlichen veränderten Wachbewusstseinszuständen (Tab. 1). Tabelle 1: Fünf Kriterien für Bewusstseinsmodulation nach Belschner (2007, S. 76) Alltagswachbewusstsein

veränderte Wachbewusstseinszustände

Raumerleben

dreidimensional

innere, virtuelle Räume

Zeiterleben

linear, chronologisch

Zeitlosigkeit, Zeitqualität, Kairos

Subjekt-/Objektverhältnis

Trennung Ich/Andere

Verbundenheit, Einheitserleben

Kausalität

lokale Beziehung

Resonanzen, Feldbeziehung

Ich-Organisation

konsistent, identifiziert

Weitung, Öffnung, Ich-Transzendenz

Praktische Zugänge wie Achtsamkeitsübungen erlauben eine Modulation der Bewusstseinsweite auf dem Kontinuum (Abb. 2). Mit der Modulation des Bewusstseinszustands – hin zum rechten Pol des Kontinuums – wird eine andere Perspektive auf den Menschen sichtbar. Während das gewohnte Alltagsbewusstsein in den Hintergrund tritt, erfolgt eine zunehmende Desidentifikation von gewohnten Erwartungen, Rollen und Konzepten, die eine Ausweitung des Bewusstseins ermöglicht.

Abbildung 2: Das Bewusstseinskontinuum (nach Belschner, 2007)

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Das aktive Nutzen von verschiedenen Bewusstseinszuständen eröffnet laut Belschner vielfältige Möglichkeiten, gerade in professionellen Bereichen wie Therapie und Beratung, wo die Anforderungen an die Präsenz zwischen hoher Konzentration und großer Offenheit, Sach- und Beziehungsorientierung, Innen- und Außenwahrnehmung, konkreter und symbolischer Wahrnehmungsebene oft und schnell wechseln. Die eigene Präsenz und Bewusstheit aktiv zu steuern, erfordert wie jede komplexe Kompetenzentwicklung einen Lernprozess, der nicht nur methodische Aspekte umfasst, sondern vor allem eine Kultivierung des Bewusstseins in seiner dynamischen Natur voraussetzt. Das Sprechen über spirituelle Erfahrung Welche Rolle eine spirituelle Erfahrung im weiteren Lebensverlauf spielt, hängt zuletzt stark davon ab, wie sie interpretiert und wieder in das Alltagsleben integriert wird. Dabei spielen der religiöse und kulturelle Kontext, in dem sich der Erfahrene befindet, eine wesentliche Rolle, denn er stellt eine Welt von Symbolen, Bildern, Sprachbildern sowie Weltsichten zur Verfügung, wodurch die Erfahrung schließlich mit Sinn und Bedeutung belegt wird. Jemand, der in einem konservativ-christlichen Kontext lebt, hat wahrscheinlich eine andere Interpretation als ein Anhänger des tibetischen Buddhismus oder ein konfessionsloser Teilnehmer eines Meditationskurses. Alle Erfahrungen stellen den Erlebenden aber vor die Herausforderung, dass eine spirituelle, das Alltagsbewusstsein transzendierende Erfahrung schlicht nicht in der zweiwertigen Grundlogik, auf der die meisten Sprachen ebenso wie das rationale Denken aufgebaut sind, auszudrücken ist. Daher wurden in der Geschichte spiritueller Traditionen für unser modernes Sprachverständnis unübliche Wege beschritten: Entweder die Erfahrung wurde als nicht beschreibbar qualifiziert, sie wurde in eine eher poetische Sprache der Bilder und Symbole gebracht, oder sie wurde in sprachlichen Paradoxien beschrieben, die wohl den Charakter der Erfahrung am ehesten widerspiegeln. Taucht spirituelle Erfahrung im Coaching auf? Mit Blick auf den Kontext des Coaching können wir spirituelle Erfahrungen als eine Erfahrung von Transzendenz verstehen, die nicht mystisch verklärt ist und von keinem bestimmten religiösen Hintergrund abhängt. Sie sind dort Teil des Alltags, wo der Mensch über die eigene Ich-Bezogenheit, das egozentrische Wollen und die Identifikation mit gewohnten Selbstbildern und Rollenmustern hinauswächst. Da Veränderung im Coaching genau auf diesen Ebenen stattfindet, könnte man davon sprechen, dass spirituelle Erfahrung in diesem Sinne durchaus im Coaching-Kontext auftaucht und dort von hoher Bedeutung ist. Wir sollten dabei aber nicht auf die Suche nach spektakulären Erlebnissen gehen. Für den Klienten kann es ein natürliches Erleben sein: zur Ruhe zu kommen, Stille, Bei-sich-Sein – gleichzeitig ein Erkennen der vielfältigen Interdependenzen im eigenen Leben und beruflichen Handeln und ein erster Schritt in einem generativen Entwicklungsprozess.

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

Spiritualität als Praxis und Methodik

Ähnlich vielfältig wie die Beschreibungen spiritueller Erfahrung sind auch die Praxisformen, die solche Erfahrungen ermöglichen sollen. Walach versteht unter spiritueller Praxis »alle intentionalen […] Handlungen eines Menschen, mit denen er sein Ausgerichtetsein auf eine ihn übersteigende Wirklichkeit erkennen lässt, dokumentiert, übt oder erneuert« (2011, S. 41). Ich würde dieser Definition noch eine ethische Aufforderung mitgeben, nämlich dass die Handlung auch mit dem Ziel, das Wohl anderer Menschen zu fördern, durchgeführt werden sollte. In einer traditionsübergreifenden Sicht beschreibt Walach (2011) folgende Merkmale spiritueller Praxis: –– Wiederholung und regelmäßige Ausübung, –– eine feste Form, die oft einer Tradition entnommen oder entlehnt ist, –– Disziplinierung und Ausrichtung von Aufmerksamkeit, zum Beispiel Atem, Körperwahrnehmung oder Visualisierungen, –– veränderte psychophysiologische Aktivierung, meist in Richtung tiefer Entspannung und Erleben von Klarheit, manchmal auch ekstatische Erlebensweisen, –– Erweiterung der Wahrnehmung auf eine absolute, umfassende Wirklichkeit hin. Achtsamkeitspraxis Die im Westen wahrscheinlich bekanntesten Methoden spiritueller Praxis sind die formelle Meditation und damit eng verwandt, jedoch von den Formen her etwas offener, die Achtsamkeitspraxis. Insbesondere die hier bereits dargestellte gute Forschungslage zu achtsamkeitsbasierten Verfahren und die gute Anschlussfähigkeit an westliche Kulturtraditionen führen dazu, dass diese Formen der Praxis in den letzten Jahren in viele berufliche Bereiche integriert wurden. Ihre Anwendung im therapeutisch-medizinischen Umfeld ist mittlerweile schon gut etabliert (Anderssen-Reuster, 2007) und in der Pädagogik entwickeln sich etliche Ansätze in diese Richtung (Dauber, 2011). Auch im Coaching scheinen mir achtsamkeitsbasierte Verfahren oder Elemente davon eine vielseitige Verwendung finden zu können, da sie sehr wenig kulturell vorgeprägt sind und sich parallel oder als Ergänzung zu anderen Vorgehensweisen im Coaching anwenden lassen. Dauber (2011) nennt folgende Formen der Achtsamkeitspraxis: –– bewusste Wahrnehmung von äußeren Sinneseindrücken (Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken) im Modus von Spüren, –– bewusste Wahrnehmung von inneren Prozessen (Gefühle, Gedanken, Assoziationen, Fantasien) im Modus von Empfinden, –– bewusstes Gewahrsein von äußeren Sachverhalten und Kontextbedingungen aus der exzentrischen Position des Beobachters im Modus von Analysieren, –– bewusstes Gewahrsein von inneren Prozessen in der Selbstreflexion/Meditation aus der exzentrischen Position des inneren Zeugen im Modus von Reflektieren.

Entgegen der aktuellen Tendenz, Achtsamkeit einfach als Teil eines neuen Entspannungsverfahrens zu betrachten, hat diese Praxis in allen spirituellen Traditionen eine

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Bedeutung, die weit über die technische, zweckrationale Funktion der Entspannung hinausgeht. Sie ist eher die grundlegende Übung, um den Geist zu öffnen für Erkenntnis, Einsicht und zunehmende Realisierung der Verbundenheit mit der Welt und das dadurch entstehende Mitgefühl. Es stellt sich natürlich die Frage, ob und wie diese Bedeutung im Coaching eine praktische Umsetzung finden kann. Mit Blick auf die moderne Lebens- und Berufswirklichkeit liegt es vielleicht näher, Achtsamkeit als eine Grundhaltung des Geistes und gleichzeitig eine immerwährende Herausforderung in einer Welt der Ablenkung zu verstehen. Dass diese Haltung durchaus in ein betriebliches Umfeld eingebunden werden kann, zeigt eine Untersuchung zur Bedeutung von Spiritualität für Unternehmer von Hartmut Frech (2009). Sie ergab, dass die Fähigkeit, sich für eine gewisse Zeit ganz in die Ruhe und Stille zu begeben und damit die gewohnten Muster andauernder Betriebsamkeit zu durchbrechen, von Unternehmern als wichtigste Auswirkung spiritueller Praxis eingeschätzt wird. Als besonders effektiv wurde es erlebt, durch das Einüben eines offenen und gleichzeitig konzentrierten Bewusstseinszustands grundsätzliche Fragen beruflich-unternehmerischer Entscheidungen besser beleuchten zu können. Spiritualität als Teil praktischer Lebenskunst In einer Verbindung von Methode und Haltung kann man spirituelle Praxis auch als wesentlichen Teil einer praktischen Lebenskunst verstehen. In einer leistungsorientierten Gesellschaft scheinen Menschen die Fähigkeit zum Innehalten und zur Muße als Ausgleich für ein forderndes Arbeitsleben regelrecht neu erlernen zu müssen. Schon in der Antike bei Aristoteles wusste man, dass das rechte Maß zwischen Tugend und Laster entscheidet. Wenn spirituelle Praxis den Menschen wieder zu mehr Ruhe und Besinnung einlädt, öffnet sich damit auch ein Raum wahrzunehmen, wo das eigene Leben in seinen vielen Facetten wie auch im Ganzen in einer stimmigen Balance ist und wo nicht. Letztlich geht es darum, mit Verweis auf Aristoteles, Glück nicht ausschließlich im hedonistischen Bereich der schnellen Wünscherfüllung zu erleben, sondern als Eudaimonie, in der gelungenen Lebensführung, die insbesondere eine sinnorientierte, über das eigene Wohl hinausgehende Ausrichtung beinhaltet. Über den semantischen Unfug des Begriffs Work-Life-Balance ist mittlerweile schon viel geschrieben worden, so möchte ich hier nur kurz darauf hinweisen, dass die begriffliche Trennung von Arbeit und Leben wohl mehr Teil des Problems ist als Teil der Lösung. Dass dies auch eine Grundmotivation für die Beschäftigung mit Spiritualität sein kann, betont der Coach Björn Migge: »Der Wunsch nach Spiritualität drückt oft das Verlangen aus, aus einem verwirrenden Kreislauf auszusteigen, in dem die Mitte oder Integration zwischen Arbeit und Leben verloren ging. Oft ist es auch die Suche nach wirklicher Muße und achtsamer Schau oder der Versuch, beides im Leben zu verankern« (Migge, 2011, S. 205).

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Psychophysiologische Auswirkungen spiritueller Praxis

Die mittlerweile am besten untersuchte Auswirkung spiritueller Praxis sind gesundheitsrelevante, psychologisch stabilisierende und somit therapeutisch nutzbare Effekte. Schon bevor die Hirnforschung in den letzten zehn bis zwanzig Jahren sehr detaillierte Hinweise über die Auswirkung spiritueller, insbesondere meditativer Praxis geben konnte, gab es medizinische und psychologische Untersuchungen zu Auswirkungen spiritueller Haltung und Praxis auf Gesundheit. Bucher führt in einer Zusammenfassung verschiedener Studien klinisch-therapeutische Effekte insbesondere im psychotherapeutischen Bereich an (vgl. Bucher, 2007; s. a. Walach 2005): –– Verringerung der Anfälligkeit für Stress, –– Verringerung von Depressivität, –– Verringerung von Ängstlichkeit, –– Erhöhung des Wohlbefindens, –– protektive, stabilisierende Wirkung, insbesondere bei psychischer Belastung. Auch im Arbeitsbereich konnte durch eine Integration spiritueller Praxis eine positive Veränderung bei der Arbeits- und Lebenszufriedenheit festgestellt werden (Bucher, 2007, S. 120). Als Wirkfaktoren wurden eine Verbesserung von Coping-Strategien, Erhöhung des Sinnempfindens und eine Verbesserung des Kohärenzgefühls, also das Erleben eines sinnhaften Zusammenhangs der Welt, festgestellt. Neuere wissenschaftliche Ansätze der Hirnforschung und Neurowissenschaft untersuchen vor allem die Auswirkung von Meditationspraxis auf das Gehirn und das Bewusstsein sowie Aufmerksamkeits- und Emotionsregulation. Drei Untersuchungsfelder sollen hier beispielhaft aufgeführt werden: 1. Psychophysiologische Effekte achtsamkeitsbasierter Verfahren Der Pionier in diesem Bereich ist der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn, der am renommierten MIT-Institut unter dem Begriff Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) ein Konzept zur Stressbewältigung entwickelte, das sich maßgeblich auf meditative Praxis stützt. Ulrich Ott verarbeitet in seinem Buch »Meditation für Skeptiker« (2010) verschiedene wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse und Metastudien zu Meditation und achtsamkeitsbasierten Verfahren und zieht das Resümee, dass diese Verfahren einen deutlichen und langfristig positiven Effekt auf die Gesundheit der Probanden haben. Die subjektiv erlebten Wirkungen von Achtsamkeitsmeditation lassen sich mittlerweile sogar mit modernen neurowissenschaftlichen Methoden untersuchen und auf diese Weise objektivieren. So konnte die Psychologin Dr. Britta Hölzel in Kernspin-Untersuchungen zeigen, dass bei MBSR-Übenden schon nach acht Wochen im Gehirn eine Zunahme der Dichte in Regionen erfolgte, die für Lern- und Gedächtnisprozesse, Selbstwahrneh­mung und Mitgefühl zuständig sind. Gleichzeitig berichteten die Übungsteilnehmer von einer starken Abnahme im Stresserleben, was mit einer Abnahme der Dichte von Gehirnsubstanz in der Amygdala einherging, die eine wichtige Rolle in der Ver­arbeitung

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von Angst und Stress spielt (Hölzel et al., 2011). Mittlerweile werden unterschiedliche Konzepte achtsamkeitsbasierter Programme als begleitende Verfahren in der Psychotherapie eingesetzt (Anderssen-Reuster, 2007). 2. Emotionsregulative Effekte von Meditation Neben der stressreduzierenden Wirkung meditationsbasierter Verfahren wird in jüngerer Zeit deren Wirkung auf Empathiefähigkeit als Voraussetzung für soziale und emotionale Kompetenz erforscht. Grundlage dafür ist die Theorie der Spiegelneurone, nach der Menschen neuronale Repräsentationen nutzen, um Gefühle und Schmerz anderer Menschen nachzuempfinden und zu verstehen. In empirischen Studien mit langjährig praktizierenden Meditierenden konnte die Neurowissenschaftlerin Tania Singer (2008) zeigen, dass Meditation einen positiven Einfluss auf die Fähigkeit hat, Empathie und Mitgefühl statt Wut- oder Rachegefühle gerade auch in Stresssituationen zu entwickeln. In empirischen Studien untersuchte Peter Malinowski (2010) Faktoren zum Erhalt von Wohlbefinden. Spirituelle Praxis, wie Meditation oder Kontemplation, beeinflusst neben den psychologischen Variablen Aufmerksamkeit und Emotion auch die Willenskraft, das heißt zum Beispiel Zielorientierung, Motivation und Absicht, etwas zu erreichen. In allen Bereichen kann es zu Unter-, Über- und Fehlfunktionen kommen, insbesondere unter Stress und hoher Anforderung. Ein Zuviel an Willenskraft wird dann Überforderung und Erschöpfung zur Folge haben und ein Zuwenig eher Lethargie und Demotivation. Hier hat spirituelle Praxis insbesondere eine balancierende Wirkung, da die damit einhergehende Achtsamkeit die negativen Auswirkungen der eigenen Motivationslage schon im Ansatz wahrnehmen lässt. 3. Stärkung des Köherenzgefühls und Sinnempfindens Als Gegenentwurf zur traditionellen auf Pathologie ausgerichteten Medizin entwarf Aaron Antonovsky (1979) das Konzept der Salutogenese. Es beschreibt empirisch untersuchte Faktoren, die Einfluss darauf haben, was Menschen, gerade in Krisensituationen, gesund und widerstandsfähig hält. Der zentrale Faktor dafür ist das Kohärenzgefühl (sense of coherence) – es ermöglicht, die Welt insgesamt als zusammenhängend, stimmig und sinnvoll zu erleben, und speist sich aus drei Faktoren: erstens dem Gefühl der Verstehbarkeit, als Fähigkeit, die Umwelt als konsistent, nicht willkürlich oder zufällig zu verarbeiten, zweitens dem Gefühl der Handhabbarkeit und Bewältigbarkeit von Schwierigkeiten, drittens dem Gefühl von Sinnhaftigkeit, was maßgeblich bestimmt, ob Menschen Energie und Mühe aufwenden, um Probleme und Anforderungen zu überwinden. Antonovsky selbst hat den Begriff der Religion dem des Spirituellen vorgezogen, weil ihm letzterer im Zuge der Human-potential-Bewegung zu selbstbezogen erschien. Auf seinem Konzept der Kohärenz aufbauende Studien belegen jedoch mittlerweile die positive Auswirkung spiritueller Praxis und Haltung auf das primäre Sinnerleben und das Bewusstsein von Gestaltbarkeit gerade in Krisensituationen. Spirituelle Erfahrung führt zu einer existenziellen Sinnantwort (existential meaning response),

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die unter Belastung und Stress eine eindeutig schützende und stabilisierende Wirkung hat (vgl. Büssing u. Kohls, 2011).

Spiritualität als Haltung und Ethik Wenn Menschen beginnen, Spiritualität durch Erfahrung und Praxis zu leben, hat dies eine Auswirkung auf ihr Handeln im Alltag und verändert die Art und Weise, wie jemand sich und seine Umwelt erlebt und mit alltäglichen Aufgaben und Herausforderungen umgeht. Damit kommt die Frage nach der individuellen Ethik, das »Wie sollen wir handeln?«, ins Spiel. Staat und Religion beantworten diese Frage meist mit Vorschriften und Regeln, die sich auf ein traditionelles Wertesystem stützen. Im Gegensatz dazu betonen spirituelle Traditionen, insbesondere der Buddhismus, die Entwicklung einer auf Erfahrung und Erkenntnis basierenden Grundhaltung, die das Handeln leitet. Wenn ein Mensch in seiner spirituellen Praxis eine zunehmend stärkere Verbundenheit mit seinen Mitmenschen empfindet, so sind Mitgefühl und die Bereitschaft zur Unterstützung einfach eine direkte Konsequenz, die nicht mehr extrinsisch motiviert ist. Der spirituelle Lehrer Pater Willigis Jäger unterscheidet klar zwischen der moralischen und der ethischen Ebene: »Ich versuche nicht an Menschen heranzutreten mit ›du sollst‹, ›du musst‹ oder › du darfst nicht‹. Um die Ich-Eingrenzung zu überschreiten, macht es keinen Sinn, Vorschriften und Verbote aufzustellen. Der einzige Weg führt über eine Bewusstseinsveränderung. Sie ist eine Folge der Erkenntnis, die über eine Innenschau geschieht« (Jäger, 2009, S. 96). Im buddhistischen Kontext wird Ethik daher nicht als Verhaltensvorschrift aufgefasst, sondern sie versucht durch Erkenntnis und Überzeugung des Einzelnen einen Kontext zu schaffen für Veränderung. Der zentrale Aspekt ist dabei die Veränderung des Ich-Bewusstseins: »Ein Kernsatz im Buddhismus lautet, dass es deshalb so viel Leid, Frustration und Abhängigkeit von ›Sachzwängen‹ in der Welt gibt, weil Menschen in ihrem Handeln einer Täuschung unterliegen. Und diese Täuschung beruht auf dem Glauben, ein von anderen Lebewesen getrenntes, auf einem unabhängigen Ich beruhendes Individuum zu sein« (Brodbeck, 2002, S. 80). Diese allgemeine Leitlinie einer Ethik, die der Erkenntnis entspringt, wie das eigene Leben mit dem der anderen Menschen verbunden ist, und der größeren Bewusstheit, wie sich das eigene Verhalten auf andere auswirkt, lässt sich sowohl in dem christlichen Kontext als auch in der westlichen humanistischen Grundhaltung wiederfinden: Das eigene Handeln soll anderen nicht schaden, was zum Beispiel konkret heißt, den eigenen Vorteil nicht auf Kosten anderer zu suchen. Hier fängt also die Ganzheit der Welt beim Nächsten an, der ein Kollege, ein Kunde, ein Mitarbeiter oder der eigene Chef sein kann. Der Dalai Lama betont, dass diese ethische Grundhaltung auch keine religiöse Motivation haben muss, sondern er propagiert vielmehr eine säkulare Ethik. Diese resultiere nicht aus einem Glaubenssystem, sondern aus der Erfahrung und dem Bewusstsein von Interdependenz: »Wenn wir jetzt aber diese Logik der Abhängigkeit weiter ver-

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folgen – von der Familie zur Gemeinschaft und zur Gesellschaft, zur nationalen und internationalen Ebene, und selbst zur ökonomischen und ökologischen Ebene – dann sehen wir, wie verbunden wir sind, wie abhängig wir voneinander sind in dieser Welt. Angesichts dieser Realität können wir der Notwendigkeit für gegenseitige Fürsorge nicht entrinnen. Dies hat nichts mit Religion zu tun. Ich spreche nicht über Gott oder Buddha. Ich spreche von dem Verständnis und der Wahrnehmung dieser hochkomplizierten und vernetzten Welt. Dann kann man, selbst vom Standpunkt des persönlichen Überlebens und Wohlbefindens, für ein ethisches System argumentieren, das auf Zuneigung beruht« (Dalai Lama, 2004). Die Grundhaltung, Spiritualität immer im Dienst der Mitmenschen zu sehen, sensibilisiert auch dafür, wenn bei aller spirituellen Anmutung das eigene Wohl oder Geltungsbedürfnis im Vordergrund stehen. Die Anfälligkeit für Narzissmus und dem oft damit einhergehenden Missbrauch anderer ist gerade in spirituellen Kreisen zwar hinlänglich bekannt, doch leider oft noch in ihrer Brisanz verkannt (vgl. Wilber, 1998). Dies ist natürlich auch durch das praktische Problem bedingt, dass die tieferen Motivationen und Verhaftungen von Menschen nicht immer sofort nach außen hin erkennbar sind.

Spiritualität als Weltsicht Auch die modernen spirituellen Ansätze fußen auf jahrtausendealte Traditionen, in denen sich bestimmte Sichtweisen, wie wir die Welt und unser Sein in der Welt erfahren, herauskristallisiert haben. Diese Weltsichten bilden den epistemologischen Hintergrund, auf dem sich die konkrete Praxis und Erfahrung mit ihren Auswirkungen entwickeln. Es ist in einem so kurzen Beitrag natürlich nur sehr fragmentarisch möglich, eine Zusammenschau spiritueller Weltbilder zu geben, die je nach Tradition und Kultur wiederum sehr unterschiedlich sind. Schließlich steht jede Weltsicht, egal aus welchen spirituellen Traditionen sie sich speist, wiederum in Beziehung, also in Interdependenz, mit anderen Weltsichten. Wir haben als Menschen in einer postmodernen Welt die Aufgabe, unsere Weltsichten mit denen anderer Menschen in eine konstruktive und lebendige Beziehung zu bringen. Denn eine Weltsicht sollte bei aller Erfahrungssicherheit und Plausibilität nicht zur Dogmatik verführen, sie für eine ausschließliche Wahrheit zu halten. Interdependenz Spirituelle, insbesondere östliche Traditionen betrachten die Welt prinzipiell als interdependent, als verbunden durch die wechselseitige Abhängigkeit aller Phänomene. Kein Ding, kein Phänomen hat eine unabhängige Existenz, es ist in seinem Entstehen und Existieren untrennbar mit allem verwoben. Das heißt, eine spirituelle Weltsicht geht nicht von einer Welt der getrennten Objekte aus, sondern von einer Welt, in der Beziehung und Verbundenheit grundlegend sind. In der spirituellen Praxis wird dies zunehmend als unmittelbare Erfahrung zugänglich. Nicht nur die Welt in ihren Wech-

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selwirkungen im Außen ist interdependent, auch unser (Bewusst-)Sein in der Welt ist völlig verwoben mit unseren Beziehungen, der Kultur, dem Zeitgeist. Das Erleben von Verbundenheit bedeutet in spirituellen Traditionen keineswegs ein undifferenziertes, trübes Bewusstsein, sondern im Gegenteil eine Erfahrung, in der sich alle Einzelheiten und Besonderheiten einer Situation klar herauskristallisieren und gleichzeitig sozusagen als differenzierte Einheit erfahren werden. Hier findet sich eine Parallele zu Grundannahmen der Systemtheorie und der systemischen Beratung, die den Fokus auf die Betrachtung von Wechselwirkungen und Beziehungen legen, da die Verhaltensweisen des Einzelnen durch Verhaltensweisen aller anderen Interaktionspartner mit bedingt sind. Eine Schwierigkeit, die sich überall im Alltagserleben zeigt, besteht darin, dass wir Interdependenz oft nicht direkt sinnlich wahrnehmen können, sondern nur die lokalen Auswirkungen. Wir nehmen oft nicht direkt wahr, wenn sich Verhaltensweisen negativ auf Mitmenschen und die Umwelt auswirken, auch wenn dies schließlich am Ende wieder uns selbst betrifft. Diese weitläufigen Feedback-Zyklen machen es meist so schwer, diese interdepenten Wechselwirkungen zu erfassen und zu verändern. Wenn wir Verbundenheit als den primären Prozess annehmen, wird auch klar, warum in allen spirituellen Traditionen der Begriff der Liebe zentral ist, ist sie doch unsere leibhaftigste, intensivste Erfahrung von Verbundenheit: »Liebe meint einen immer größer werdenden Kreis von Lebensarten um ihretwillen in das Verständnis von Sippe und Zugehörigkeit einzubeziehen […] Liebe ist nicht nur eine existenzielle und transzendente Erfahrung, sondern auch eine Evolutionsnotwendigkeit für unsere Spezies« (Schmid, 2011). Die Beziehung von Geist (mind) und Welt Fast alle spirituellen Traditionen gehen davon aus, dass unser Bild von Wirklichkeit im Wesentlichen das schöpferische Werk des menschlichen Geistes ist. Die Welt existiert nicht einfach als Gegebenes »da draußen« – sie ist vielmehr dauernde, aktive Kreation. Unser Erleben der Welt als Wirklichkeit ist ein kontinuierlicher Prozess des Erscheinens von Phänomenen – unser Zugang zur Welt ist immer eine subjektive Weltsicht, die in in gewisser Hinsicht mit der Außenwelt korrespondiert. Man könnte also sagen: Die Welt ist alles, was erscheint. Da dieser Prozess stark von Konventionen, etwa durch Sprache, Erziehung und Kultur, geprägt ist, sind unsere Weltsicht und Selbstsicht auch deren Beschränkungen, Verzerrungen und Täuschungen unterworfen. In letztendlicher Konsequenz gehen hier spirituelle Traditionen mit aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen konform, wonach unser gewohntes Ich-Bewusstsein und Selbstbild ebenfalls nur ein Produkt mentaler Prozesse sind, das uns ein Gefühl von Kontinuität und Kohärenz der Welt vermittelt und uns gut in der Welt funktionieren lässt. Der Philosoph Thomas Metzinger (2009) spricht in diesem Zusammenhang auch vom Ego-Tunnel unseres phänomenalen Selbstmodells, in dem sich unser Erleben der Welt normalerweise abspielt. Das Erstaunlichste daran ist, dass wir genau dieses phänomenale Selbst-

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modell nicht als solches wahrnehmen – es ist transparent und wir blicken scheinbar auf eine äußere Welt –, obwohl wir nur auf den Spiegel des eigenen Selbstmodells blicken. In der westlichen Wissenschaft und Psychologie der letzten Jahrzehnte entspricht diese Sicht in vielen Aspekten dem konstruktivistischen Paradigma. Ohne hier auf die Einzelheiten und philosophischen Hintergründe dieses Paradigmas eingehen zu können, weisen beide Traditionen auf einen untrennbaren Zusammenhang von der Aktivität des Geistes und dem Erleben von Welt hin. Ein wesentlicher Unterschied scheint mir zu sein, dass man in spirituellen Traditionen davon ausgeht, dass Menschen Zugang zu einem ursprünglicheren, originären Geisteszustand bekommen können, der das Konstrukt des kulturell bedingten Ichs transzendiert. Im Buddhismus unterscheidet man daher zwischen dem Ich-Bewusstsein und einem erweiterten Gewahrsein: Während das IchBewusstsein das Erleben in den Konzepten der Kultur, Sprache, Konvention anpasst, um in diesem Umfeld zu funktionieren, erlaubt Gewahrsein ein unmittelbares Erleben der Welt, jenseits von Konzepten des sprachbasierten, kulturellen Selbst. Die spirituelle Praxis ist primär darauf ausgerichtet, die hintergründige Aktivität des Geistes zunehmend erfahrbar zu machen und das Bewusstsein dadurch zu transformieren. Das Entwickeln von Achtsamkeit und Gewahrsein kann also letztlich verstanden werden als ein Zugang zu dem Prozess des Konstruierens der Wirklichkeit selbst. Damit wären diese Formen von Bewusstseinsarbeit natürlich relevant für das Coaching, das sich im Rahmen einer professionellen Begleitung auch mit den Bewusstseinsfunktionen der Wahrnehmung, Bewertung und Selbststeuerung der Klienten auseinandersetzt. Wandel und Vergänglichkeit Eine der grundlegenden Einsichten in vielen spirituellen Traditionen besteht darin, die Welt in ständigem Wandel und damit auch in Vergänglichkeit wahrzunehmen. Dass unser Geist dies ignoriert und sich an vermeintlich dauerhafte Dinge oder Zustände klammert, ist eine der primären Ursachen des menschlichen Leids. Letztlich haben wir meist sogar eine solche objekthafte, andauernde Sicht auf uns selbst, was eng mit dem kulturellen, sprachlich, rational orientierten Bewusstsein zusammenhängt. Achtsamkeitspraxis ist daher nicht nur einfaches Wahrnehmen, sondern auch ein Unterbrechen der normalen Bewusstseinstätigkeit, die die Wahrnehmung unmittelbar mit Konzepten, Sprache und Kategorien verbindet. Dies umfasst nicht nur die Wahrnehmung von inneren und äußeren Prozessen, sondern die kontinuierliche Präsenz in der Erfahrung, wie diese Prozesse unsere Weltsicht, Einstellungen, Überzeugungen und schließlich das eigene Selbstmodell konstellieren und prägen. Paradoxerweise entsteht mit größerem Gewahrsein auch eine größere Freiheit von den Identifizierungen oder Anhaftungen an bestimmte Weltsichten und Selbstbilder. Der Zen-Meister Baker Roshi (2011) dazu: »Durch bewusst initiierte Achtsamkeit entwickelt sich eine akzeptierende, erlaubende Grundhaltung, die Phänomene wahrnimmt, zulässt, annimmt und wieder gehen lässt. Der Entwicklungsprozess führt von der Bewusstheit zum Beispiel der Kontinuität des Atems, zur Bewusstheit der Kontinuität des Erscheinens und damit auch des Vergehens

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der Phänomene an sich. Wir erfahren also unmittelbar Vergänglichkeit, gegenseitige Abhängigkeit und die Inter-Emergenz des Erscheinens und Vergehens aller Phänomene.« Wir können so die Einstellungen unserer Erziehung reflektieren, die Welt als feststehend, objekthaft, dauerhaft zu erleben – oder wir sehen sie im Sinne einer spirituellen Haltung als permanent in Veränderung, im Entstehen, in Wandlung und im Vergehen begriffen –, und wir können wählen, welche dieser Sichtweisen mehr Freiheit in einem professionellen Umfeld gibt (Dauber, 2011). Wissenschaftliche Annäherungen an spirituelle Weltbilder Die Spätwirkungen der modernen Aufklärung nach Descartes bestimmen auch heute noch im Wesentlichen unsere Wissenschafts- und Wirtschaftswelt mit ihren Kernparadigmen des Objektivismus, Rationalismus und der Machbarkeitsideologie (vgl. Walach, 2011). Wenn man zentrale Probleme der heutigen Zeit betrachtet, hängen sie genau mit diesen Paradigmen zusammen und verlangen daher sowohl eine Weiterführung der Aufklärung und als auch eine Neubelebung von Bewegungen des Konstruktivismus, der Hermeneutik und des Humanismus. Dabei ist gerade die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten dabei, einige dieser herkömmlichen Sichtweisen radikal zu verändern: Statt der strikten Trennung der vermeintlich gegenständlichen Welt als objektivierbarer Realität und subjektiver Wirklichkeit von Denken, Fühlen und Absicht weist die moderne Quantenphysik auf die Wechselwirkung beider Ebenen hin. Das erkennende und handelnde Subjekt und die Perspektive der ersten Person werden damit in die Wissenschaft zurückgeführt. Es wird aber wohl noch ein weiter Weg sein, bis wir Introspektion als eine gültige Forschungsperspektive akzeptieren, auch wenn dafür schon längst gut durchdachte und begründete Ansätze ausformuliert sind (vgl. Varela et al., 1991; Dürr, 1986). Komplementarität statt Dualismus Die wissenschaftliche Tradition der Subjekt-Objekt-Trennung, der Rationalität, der zweiwertigen Logik erschwert jedoch eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit Aussagen mystischer Traditionen. Denn immer, wenn wir uns einer Weltsicht annähern, die zum Beispiel die Verbundenheit der Welt und die Einheit des Bewusstseins zugrunde legt, rebelliert unser rationaler, auf Kategorienbildung und Logik ausgerichteter Verstand. Aus dieser dualistischen Tunnelsicht bringt das Prinzip der Komplementarität eine entscheidende Öffnung mit sich. Bekannt geworden als Lösungsvorschlag im Rahmen der Physik, ist dieses Prinzip eine fundamentale Erweiterung jeglicher Widersprüche, die in Folge einer dualistischen, ausschließenden Sicht entstehen. Wir müssen bedenken, dass nicht die Realität widersprüchlich ist, sondern vielmehr unsere Wahrnehmung und Beschreibung der Realität unzureichend sind. Das Prinzip der Komplementarität verweist daher radikal auf den subjektiven Beobachter und seine Wahrnehmungskonventionen. Niels Bohr bemerkte hierzu: »Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung. Das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe

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Wahrheit sein.«2 Wenn wir das komplementäre Prinzip auf klassische Dualismen wie Körper–Geist, Transzendenz–Immanenz, Gut–Böse anwenden, dann sehen wir, dass erst unsere trennende Sicht die polaren Gegensätze entstehen lässt. Wenn spirituelle Praxis einen erfahrungsbasierten Zugang zu einem Erleben von Verbundenheit darstellt, dann hat dies auch zutiefst mit der Überwindung der durch Denkgewohnheiten, Sprache und Kultur entstandenen Dualismen zu tun. Eine komplementäre Haltung bietet einen Zugang, scheinbare Gegensätze im Zusammenhang und in Ergänzung zu sehen. Erst durch das Aushalten der Widersprüchlichkeit des eigenen Geistes erweitert sich unsere Sicht der Wirklichkeit. HansPeter Dürr spricht in diesem Zusammenhang zum Beispiel von der Komplementarität von Exaktheit und Relevanz. Wollen wir mehr Relevanz wahrnehmen, brauchen wir den Mut zur Ungenauigkeit, um den Kontext besser wahrzunehmen, das heißt nicht nur scharf fokussieren, sondern auch peripher wahrnehmen – eine Erfahrung wirken und anmuten lassen, nicht nur zu analysieren – sich ausdrücken mit Geschichten und Metaphern, nicht nur mit exakten Erklärungen – sich verständigen im Dialog, nicht nur in der Debatte – schließlich die Wirklichkeit zu ahnen und intuitieren, nicht nur zu begreifen und zu verstehen.

Die spirituelle Dimension im Coaching – ein erster Ausblick Already connected. R. Baker Roshi

Einbettung spiritueller Haltung und Praxis im Coaching

Die bereits vorgestellten Ansätze zur Erforschung psychophysiologischer Auswirkungen spiritueller Praxis und Haltung zeigen, welche wichtigen Ressourcen sich für die Anwendung in verschiedenen Berufsbereichen ergeben: In einer komplexen und daher mental den Menschen stärker beanspruchenden Welt sind die selbstregulierenden Fähigkeiten als Grundlage für eine sinnvolle Selbststeuerung von entscheidender Bedeutung. Einer der verbreitetsten Ansätze dazu sind achtsamkeitsbasierte Verfahren, wie zum Beispiel MBSR, in denen Teilnehmer in klar strukturierten Abläufen einfach anzuwendende Übungen lernen, etwa eine schrittweise differenzierte Körperwahrnehmung (BodyScan). Solche Übungsformen sind in die Coaching-Praxis relativ leicht zu integrieren und legen die Basis für weitergehende Schritte im Coaching. Achtsamkeit könnte, ähnlich wie im Dialog zwischen Spiritualität und Wissenschaft bereits angebahnt, zu einem Brückenkonzept zwischen spirituellen Traditionen, wissenschaftlicher Forschung und professionellen Anwendungsfeldern wie Coaching und Beratung werden (Dauber, 2011). 2 Mündlich überliefertes Zitat aus einem Gespräch mit Werner Heisenberg, 1927.

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Weil es nun aus einer pragmatisch-eklektischen Vorgehensweise des Coaching nahe läge, den Fokus vor allem auf die methodische Seite spiritueller Praxis zu legen, möchte ich jedoch betonen, dass es eine starke Reduzierung wäre, Spiritualität nur als Lagerstätte neuer Techniken für den Import ins Coaching zu verstehen. Dies soll die Nutzung von Techniken und Methoden nicht abwerten, sondern darauf hinweisen, dass eine Integration spiritueller Praxis weit mehr umfasst als die Verwendung neuer Entspannungsverfahren. Es geht um eine grundlegende Perspektive und Haltung bezüglich des eigenen Selbst, der eigenen Entwicklung und der Beziehung zu anderen Menschen und der Welt als Ganzer. Sinnfindung im Coaching Die Anliegen vieler meiner Klienten haben zunehmend mit der Suche nach Orientierung in Umbrüchen und mit dem Erarbeiten neuer Handlungsoptionen in Krisensituationen zu tun. In solchen Situationen wird deutlich, wie wichtig es ist, dass der Sinnbezug des eigenen Handelns auf einem inneren Referenzsystem basiert, das für viele Menschen eine ethische, werteorientierte und spirituelle Grundlage hat. Dass Sinnfindung in allen Lebensbereichen eines der grundlegendsten Bedürfnisse ist, leuchtet nicht nur intuitiv ein, sondern wurde in aktuellen sozialwissenschaftlichen Studien vielfach belegt (vgl. Schnell, 2010). Den enormen Einfluss von Sinnerleben auf Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit hat bereits Antonovsky (1979) ausführlich in seinem Modell der Salutogenese dargestellt. Dort, wo die Sinndimension zu kurz kommt, werden Symptome wie Entfremdung und Burnout wahrscheinlicher, worunter schließlich auch die reale Leistungsfähigkeit der Menschen leidet. Wer den Sinn des eigenen Handelns nur von seiner aktuellen beruflichen Funktion oder von der Bestätigung vom Chef oder den Kollegen erwartet, wird in eine Abhängigkeit von äußeren Referenzsystemen geraten. Wenn die Sinnstiftung im Außen verloren geht, entsteht dann ein gravierender Einschnitt für die Person. Ein ausgebildetes inneres Referenzsystem von Werten stärkt dagegen Ressourcen wie die Kohärenz, Resilienz und Selbstwirksamkeit einer Person. Wenn die Orientierung an äußeren Erwartungen und Anforderungen über lange Zeit das primär Wichtige im Beruf war, kann Coaching einen Raum für den Prozess der Selbsterforschung geben, in dem der Klient herausdestilliert, welche Werte für ihn wirklich Priorität haben, in welchen beruflichen Bereichen er Zufriedenheit und Sinnerfüllung erlebt und welche Veränderungen im Berufskontext nötig sind, um diese Ausrichtung zu stärken. Da die Auseinandersetzung mit der existenziellen Suche nach Sinn, Orientierung, persönlicher Weiterentwicklung und einem größeren Eingebundensein seit jeher das Anliegen spiritueller Traditionen ist, kann dieser Hintergrund helfen, praktische Zugänge und hilfreiche Fragen zu entwickeln. Selbsttranszendenz als Kompetenz für Veränderung und Transformation Viele der genannten beruflichen Schwierigkeiten hängen daher eng mit einem nicht mehr adäquaten Verständnis der eigenen beruflichen Identität zusammen, zum Beispiel wenn sich das eigene Selbst nur noch durch Rollenerwartungen und Arbeitsge-

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wohnheiten definiert. Der Versuch, dies durch Techniken des Selbstmanagements und besserer Organisation zu lösen, ist meist wenig aussichtsreich und tragfähig, da er das bestehende Muster fortschreibt. Es geht vielmehr um das zugrunde liegende Selbstkonzept des Menschen, also die Überzeugungen, wer »ich bin« und »für was ich in der Welt bin«. Eine sinnvolle Veränderung wird dann eintreten, wenn es im Coaching gelingt, eine Entwicklung anzustoßen, die mit einer Öffnung und damit mit Selbsttranszendenz einhergeht. Es geht also gerade nicht um eine Optimierung des Bestehenden, sondern um einen Prozess der Wandlung des grundlegenden Selbstverständnisses, aus dem heraus der Klient sein Leben führt und seine berufliche Tätigkeit angeht. Eine Richtung, die viele Menschen im Zuge dieses Transformationsprozesses einschlagen, hat schon der Entwicklungspsychologe Abraham Maslow (1977) beschrieben: Für ihn ist Selbsttranszendenz eine unmittelbare Weiterführung der Selbstverwirklichung, die nicht auf individueller und selbstzentrierter Ebene stehen bleibt, sondern sich dann auf ein höheres Ziel, einen Wert, eine Mission oder einfach auf den Nutzen für andere Menschen erweitert. Auch wenn dieser Wandlungsprozess einen archetypischen Hintergrund hat, der zum Beispiel im sogenannten Heldenmythos nach Joseph Campbell beschrieben wird, ist die konkrete Form wohl bei jedem Menschen individuell. Was für manche Klienten ein eher hintergründiger, subtiler Prozess ist, erleben andere im Zuge einer tiefen Krise, die meist nicht nur beruflich bedingt ist, sondern auch private Lebensbereiche und Beziehungen betrifft. Für diesen Prozess kann Coaching zwar eine Selbstklärung unterstützen und hilfreiche Impulse geben, letztlich werden, ähnlich wie in der spirituellen Praxis, die alltäglichen Tätigkeiten und die damit verbundenen Aufgaben und Probleme zur Übungsfläche, in der sich eine Kompetenz zur Transzendenzfähigkeit entwickelt (Mitschke-Collande, 2010). Transzendenzfähigkeit beschreibt »die Kenntnis verschiedener Bewusstseinszustände, die Fähigkeit, sie zu differenzieren und zwischen ihnen zu modulieren« (S. 42). Das klingt zunächst etwas hochtrabend, gemeint ist jedoch einfach das Gewahrsein im Augenblick: Wo schränke ich mich selbst durch die Gewohnheiten meines Denken und Handelns ein und wie kann ich Haltungen von Achtsamkeit, Offenheit, Vertrauen und Verbundenheit entwickeln, die mich gerade in einem Veränderungs- und Wandlungsprozess unterstützen? Eine der Funktionen des Coach kann es sein, diese Haltung immer wieder zu aktualisieren, gerade im Umgang mit schwierigen Situationen. Wenn wir die Widersprüche und Paradoxien im Arbeits- und Führungskontext bewusst wahrnehmen und geschehen lassen, können ein hintergründiger Bewusstseinszustand und damit eine neue, integriertere Art von Denken entstehen. Die Einbettung spiritueller Praxis fördert somit einen intuitiven Geist, der das normale, außengerichtete Bewusstsein begleitet und der die Orientierung im komplexen Berufsalltag deutlich erleichtert. Im Coaching unerstützt die Transzendenzfähigkeit auch den Umgang mit klassischen, antagonistischen Spannungsfeldern zwischen Autonomie und Abhängigkeit, Führen und Lassen, Kontrolle und Hingabe.

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Emergenz als schöpferisches Grundprinzip im Coaching Coaching definiert sich, wie die meisten Formen der Beratung durch die professionelle Gestaltung der Interaktion, zum Beispiel in Form von Fragemodellen und Interventionsstrategien (was auch die Flut von Publikationen zu Coaching-Techniken aus dem Werkzeugkoffer zeigt). Die Idee, dass Wirkung nur dort entsteht, wo der Coach bewusst und absichtlich interveniert, ist schon aus kommunikationstheoretischer Sicht zu kurz gegriffen. Der unbewusste Teil der Kommunikation beeinflusst wesentlich den gesamten Interaktionsprozess, durch Haltungen von Coach und Klient sowie sämtliche Signalen auf der aktuellen Beziehungsebene. Aus einer psychotherapeutischen Tradition wird dieser Vorgang oft einseitig als Gegenübertragung verstanden, dies ist jedoch lediglich eine mögliche Interpretation. In spiritueller Praxis ist dieser unbewusste Anteil genau der Bereich, den es durch die Übung von Bewusstheit und Gewahrsein gilt, wieder einzubeziehen. Wenn wir die unbewusste Ebene der Kommunikation als Erfahrungs- und (immer eingeschränkt) als Gestaltungsebene in der Interaktion zwischen Coach und Klient verstehen, kann gerade aus dem impliziten Zusammenwirken von Haltungen, Erfahrungen und Intentionen ein immens kreativer Kontext für Entwicklung entstehen. In dieser Emergenz, dem Prozess eines dynamischen und komplexen Zusammenwirkens auf vielen Ebenen, entstehen schließlich kreative und stimmige Lösungen, die nicht nur alte Lösungsmuster fortschreiben, sondern neue Optionen aufzeigen. Interventionen sind auf dieser Grundlage dann nicht mehr als strategische Steuerung von Seiten des Coach zu verstehen. Coach und Klient treten vielmehr in einen dynamischen Austausch auf Augenhöhe, in dem die Kompetenz des Coach gerade in der Balance zwischen Hingabe an den Prozess, bewusster Wahrnehmung und anschlussfähiger Gestaltung von Feedback und Fokussierung besteht. Wolfgang Looss beschreibt diesen Prozess so: »Ein Berater stellt sein (ihm selbst nur begrenzt zugängliches) inneres Geschehen seinem Klienten zur Verfügung, die produzierte (sprachliche) Intervention nimmt dabei die Form eines Mediums (Kunstwerk) an« (2003, S. 53). In dieser Hinsicht ist die Selbststeuerung des Coach eher mit Improvisation als mit Komposition zu vergleichen. Radikal drückt sich diese Haltung in der Auffassung Martin Bubers aus: »Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung« (1923/1974, S. 78). Zwischen Gestaltung und Hingabe – Die Komplementarität von Ziel- und Prozessorientierung Gerade in solchen emergenten Prozessen kommt es zur Bildung von starken ordnungsbildenden und richtungsweisenden Attraktoren, welche die Entwicklungsdynamik maßgeblich bestimmten. Im Coaching können solche Attraktoren in Form von Zielen, Visionen, Bildern oder auch vorsprachlichen, richtungsgebenden Tendenzen auftreten. Der Unterschied zu einem Zielverständnis im üblichen Sinne ist, dass der Entwicklungsfokus im Coaching nicht aufgrund vorgefertigter, von außen initiierter, rationaler

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Planung entsteht, sondern aus der Emergenz des Coaching-Prozesses. Das heißt, dass sich in diesem Verständnis Ziele im Coaching immer wieder im Wandel befinden und sich sogar während einer Sitzung verändern können, denn die relevanten Hinweise, wo es im Coaching hingeht, entstehen im Prozess selbst. Wie beziehen wir nun praktisch die in den meisten Coaching-Ansätzen bewährte Zielfindung ein? Eine Brücke stellt das aus dem Taoismus stammende Prinzip des NichtTuns dar. Es beschreibt ein Handeln, dass seine Wirkung aus dem scheinbar paradoxen Zusammenspiel von absichtsvoller Absichtslosigkeit generiert. Absichtsvoll heißt hier ausgerichtet, gesammelt und präsent – absichtslos heißt eine Öffnung für die situative Dynamik im lebendigen Kontakt mit all ihren Wendungen und Unvorhersehbarkeiten, welche die Essenz einer kreativen Coaching-Sitzung ausmacht. In der Praxis haben wir also zwei komplementäre Aspekte zu berücksichtigen 1. Sind Coach und Klient in einem präsenten, durchlässigen Kontakt mit sich selbst und miteinander, entsteht ein emergenter Prozess, aus dem ein Feld neuer Informationen, Optionen und Potenziale hervorgeht – dieser Prozess im Coaching ist eher öffnend und divergent. 2. Auf dieser Basis können wir durch Zielfokussierung und Auftragsklärung wichtige Attraktoren für den Coaching-Prozess aufgreifen – dieser Prozess ist fokussierend und konvergent. Im systemischen Ansatz tragen wir dem Rechnung, wenn wir die Auftragsklärung als einen kontinuierlichen, iterativen Prozess nutzen, der das Coaching immer wieder neu ausrichtet und energetisiert. Achtsamkeit, Gewahrsein und die Bewusstheit für Interdependenz erlauben Coach und Klient, zwischen prozessorientierter Öffnung und zielorientierter Ausrichtung zu oszillieren. Der Möglichkeitssinn – Zugang zu Potenzialität und Ressourcen Die meisten spirituellen Traditionen betonen mit der Schulung von Achtsamkeit die Verankerung des Geistes im Hier und Jetzt. Das heißt jedoch nicht, die Notwendigkeit des Menschen, sich auf die Zukunft auszurichten, zu vernachlässigen. Gerade aus einem offenen, ruhigen und präsenten Bewusstsein heraus lassen sich zukünftige Entwicklungen antizipieren und gestaltend vorbereiten. Ein Coaching, das den Klienten bei einem Entwicklungsprozess begleitet, ist nicht nur eine Wiederherstellung des Status Quo, sondern ein schöpferischer Prozess, der ein Feld des Möglichen eröffnet (und damit auch Heinz von Foersters bekanntem Motto folgt: »Erhöhe die Anzahl deiner Optionen«). In einem Vortrag machte mich Gunthard Weber auf den Begriff des Möglichkeitssinns, den unter anderem Robert Musil verwendet, aufmerksam. Ich halte diesen Begriff für eine treffende Beschreibung der menschlichen Fähigkeit zu erspüren und zu erahnen, welche Potenzialität auch aus einer problematischen Situation hervorgehen kann. Dieses Ahnen bezieht sich nicht auf eine bloße Fantasie oder eine irreale Utopie, sondern darauf, wie sich im Gegenwärtigen eine sinnvolle und realisierbare Entwicklung und

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Transformation abzeichnen. Die Erfahrung im Coaching zeigt jedoch, dass insbesondere in schwierigen, stressbelasteten Situationen, die ja oft der Ausgangspunkt für das Coaching sind, dem Klient der Zugang zu diesem Sinn für das Mögliche verbaut ist. Die vorherrschende Problemtrance führt zu einem tunnelsichtigen Blick auf die Unlösbarkeit und Unveränderbarkeit des Problems. Im Coaching haben sich nun einige sehr wirksame Ansätze entwickelt, diesen Möglichkeitssinn des Klienten wieder zu aktivieren. Ein sehr verbreiteter Ansatz ist das lösungsfokussierte Vorgehen nach Steve de Shazer (vgl. de Shazer u. Dolan, 2008), in dem der Coach durch zukunftsorientierte Fragen (z. B. der Wunderfrage) eine Lösungsvision mit dem Klienten etabliert und diese möglichst stark verankert. Dieses Vorgehen wird oft als eine simple Technik missverstanden, Steve de Shazer hat jedoch in seinen Ausbildungen oft betont, wie wichtig dabei die radikal ressourcen- und potenzialorientierte Haltung des Coach ist (»Ohne die richtige Haltung ist es nicht einmal eine gute Technik«). Die Wunderfrage wird umso mehr ihre erstaunliche Wirkung entfalten, wenn sie in der Bewusstheit dieses Hintergrunds der Potenzialität gestellt und gehört wird. Ein Zugang zum Möglichkeitssinn in einem Gruppenkontext findet sich im generativen Dialog nach David Bohm (1998) und dem Ansatz der »Theory U« von Claus Otto Scharmer (2011). Die besondere Gestaltung des Gruppensettings unterstützt die Beteiligten, in einen gesammelten und vertieften Bewusstseinszustand einzutreten und eine intensive Qualität des schöpferischen Zuhörens im Gespräch zu entwickeln. Diese Form des offenen und achtsamen Dialogs erlaubt es den Gesprächspartnern, sich intensiv auf eine im Entstehen begriffene Zukunft auszurichten und die sich daraus abzeichnenden Möglichkeiten wahrzunehmen. Mitgefühl und Empathie Eine empathische, mitfühlende Grundhaltung ist besonders dort vonnöten, wo der Klient Verletzungen, Abwertungen oder Missachtungen erlebt hat. Nur wenn diese Erfahrungen angemessen gewürdigt und einbezogen sind, kann eine tragfähige Veränderung und Neuausrichtung passieren. Mitgefühl und Empathie in der professionellen Begegnung öffnet im Coaching einen Raum, in dem die Neuberwertung schwieriger Erfahrungen aus der Vergangenheit möglich wird. Doch nicht immer kann sich der Klient direkt neuen Optionen zuwenden. Tendenzen zu Beurteilung, Skepsis, Zynismus sowie eingefahrene Einstellungen und Verhaltensmuster stellen häufige Hindernisse dar. Wenn ein Klient im Coaching Angst oder Unbehagen angesichts von Veränderung zeigt, ist das oft dadurch bedingt, dass alte Funktionsmuster so irritiert werden, dass eine Abwehr neuer Möglichkeiten als verständlicher Selbstschutz erfolgt. Dies kann auch passieren, wenn der Klient eine Veränderung im Coaching als Abwertung seines bisherigen Verhaltens oder als Bedrohung wichtiger Beziehungen im Kontext deutet und erlebt. Es gehört zu den typischen Paradoxien im Coaching, dass gerade die gewünschte Veränderung eines länger bestehenden Problemmusters Reaktionen der Selbstabwertung und Ängste hervorruft, die vom

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Klienten unbewusst antizipiert werden und die Veränderung im Vorfeld verhindern. In dieser Phase eines Coaching ist ein stabiler, empathischer Kontakt und Mitgefühl gerade für die Seite des Klienten, die sich von der Veränderung bedroht fühlt, die wichtigste Bedingung, um sich neuen Möglichkeiten wirklich offen zuzuwenden. Selbstintegration und Utilisation – Rückbindung des »Ausgeschlossenen« Eine spirituelle Haltung, die von Verbundenheit ausgeht, bezieht sich natürlich auch auf die Integrität der eigenen Psyche und strebt nach Integration des Ausgeschlossenen und Abgelehnten. Die Psychologie hat dafür im Laufe der Zeit verschiedene Begriffe geprägt wie Projektion, Schatten oder Verdrängung. Gerade die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten des Selbst, die wir ablehnen, abwerten und oft in uns selbst bekämpfen, hat ein enormes Entwicklungspotenzial. Vor allem emotional besetzte Anteile, die nicht in das souveräne, professionelle Selbstbild passen, wie Wut und Aggression, aber auch Angst und Unsicherheit, werden leicht im Gegenüber erlebt. Gelingt es, sich mit diesen Seiten auseinanderzusetzen und sie bewusst in das eigene Selbstmodell zu integrieren, erlebt der Klient meist unmittelbar mehr Selbstachtung und eine höhere Selbstwirksamkeit. Das Prinzip der Utilisation, aus der Tradition des hypnosystemischen Coaching, bietet einen methodisch gut entwickelten Ansatz, gerade das Problemerleben und die Schwierigkeiten so zu nutzen und aufzugreifen, dass sie als Startpunkt für eine konstruktive Entwicklung dienen. Coaching in der Dynamik von Funktionalität, Konkurrenz, Kooperation und Humanität Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit ethischen Fragen im Coaching entsteht umso mehr, wenn man Reflexion als Kernleistung von Coaching auf sein wirtschaftliches Umfeld bezieht. Ich glaube, dass Wirtschaft prinzipiell nicht wertfrei sein kann, sondern im Gegenteil eine implizite ethische Ebene hat. Brodbeck betont diesen Zusammenhang von Wertehaltungen im ökonomischen Kontext: »Die wirtschaftliche Wirklichkeit ist das Resultat von Handlungen. Handlungen werden, bewusst oder unbewusst, von Denkmodellen, von einer impliziten Metaphysik und ihren Werten gelenkt […]. Da solch ein ›Weltbild‹ das Handeln in seinen Möglichkeiten bestimmt und beschränkt, fungiert es als implizite Morallehre. Die Ethik steckt in der verborgenen Metaphysik« (2002, S. 69). Wenn wir Wirtschaft als relevanten Kontext für Coaching annehmen, entsteht die Frage: Ist eine Ethik, die sich an den Werten spiritueller Traditionen orientiert, wie zum Beispiel Mitgefühl oder sogar Altruismus, in ökonomischen Systemen überhaupt relevant und was hieße das für das Coaching als Dienstleistung für diese Systeme? Selbst optimistische Menschen werden ein Spannungsgefüge wahrnehmen zwischen dem nüchtern-realistisch und zunehmend zynisch anmutenden Bild des Homo oecomomicus, dessen Grundmotivation des Egoismus es ist, das eigene Wohl zu vergrößern, und einem utopisch anmutenden Menschenbild des Altruismus, mit der Grundmoti-

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vation, das Wohl anderer zu vergrößern. Die zweckrationale Logik einer kompetitiven Weltsicht hat sich ja in den letzten Jahrzehnten in der Wirtschaft als vorherrschend dargestellt und darüber hinaus auch andere Gesellschaftsbereiche wie Bildung, Kultur und Gesundheit beeinflusst. Dagegen entsteht in den letzten Jahren eine wissenschaftliche Weltsicht, die Kooperation als wesentliche Grundlage der menschlichen Evolution in der Gesellschaft sieht (Bauer, 2008). Anders als die bisherige Lesart der Biologie uns glauben machen wollte, nach der Wettbewerb und Aussonderung der einzige Überlebens- und Entwicklungsmotor seien, zeichnet sich in jüngerer Vergangenheit zunehmend die viel grundlegendere Bedeutung des Prinzips Kooperation ab. Die Vorherrschaft von Konkurrenz und Nutzenmaximierung als Paradigmen der Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass sie im Industriezeitalter der Moderne eine enorme technische Entwicklung und Optimierung vorantrieb und im aktuellen Wirtschaftssystem eine ungeheure Dynamik entfaltete. Doch gleichzeitig werden die destruktiven Schattenseiten einer einseitig auf Konkurrenz ausgerichteten Gesamtdynamik dort deutlich, wo kompetitives Verhalten auf Kosten von Ressourcen und der Überlebensfähigkeit des Gesamtsystems ausgeübt wird. Bewusstheit als ethische Grundhaltung im Coaching Wie verhält es sich mit einer ethischen Haltung im Coaching? Natürlich wird jeder Coach eine individuelle ethische Richtlinie haben, die sich an den üblichen sozialen Standards orientiert. Da Coaching in großen Stücken von der Wirtschaft lebt, stellt sich die Frage, ob wir im Coaching eine gesunde Distanz zu bestimmten Prämissen des aktuellen Wirtschaftsgebarens halten können, die ethisch zweifelhaft sind. Eine strikt dienstleistungsorientierte Haltung würde an dieser Stelle wohl keinen Diskussionsbedarf erkennen, ethische Überlegungen oder sogar Bewertungen wären einfach nicht relevant. Eine erste Grundentscheidung im Coaching aus einer spirituellen Haltung wäre dagegen, ethische Fragen und Werteorientierung als relevante Reflexionsebene wahrzunehmen und vor allem in ihren Auswirkungen einzubeziehen. Es ist zu bedenken, dass in der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen der Weg zum Moralisieren bekanntlich nicht weit ist – gleichzeitig wäre dies für mich die Grenze im Coaching. Coaches haben nicht die Aufgabe und das Mandat, ihre Klienten von den eigenen oder irgendwelchen sonstigen Werthaltungen zu überzeugen. Im Coaching kommt es vielmehr darauf an, Bewusstheit über Werthaltungen zu erzeugen und die ganz praktischen Konsequenzen im beruflichen Umfeld zu betrachten. Die zwei wesentlichen Ansatzpunkte einer praktischen Ethik sind daher die Betrachtung der Auswirkungen des Handelns und die Betrachtung der Absichten und Intentionen des Handelnden. Beide sind in der Praxis nicht immer klar zu bestimmen: Sobald man einen großen Zeitraum und ein weites Wirkungs- und Wechselwirkungsspektrum betrachtet, sind die Auswirkungen von Handeln oft schwer abschätzbar und wahrnehmbar. Wir sehen das dort, wo gute Absichten zu schlimmen, unbeabsichtigten Folgen

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führen. Auch die Klärung der eigenen Absichten, als Voraussetzung für Tugenden wie Wahrhaftigkeit und Integrität, kann eine sehr vielschichtige Selbsterforschung voraussetzen. Und selbst wenn sie geschieht, wird sie lückenhaft bleiben, wenn man sich die Auswirkung unbewusster Prozesse und die psychologisch hinterlegte Tendenz zur Selbsttäuschung vor Augen führt. Für beide Bereiche ist also eine Kultur der kommunikativen und dialogischen Aushandlung erforderlich, mit dem zentralen Ziel, die Bewusstheit für die Hintergründe und die weitläufigen Auswirkungen von Handlungen zu erhöhen. Diese Entwicklung ist nach meiner Erfahrung sehr gut mit Anliegen der Klienten vereinbar, da sie die gleichen Kompetenzen fördert, die für eine effektive Selbststeuerung und Kommunikation nötig sind. Transferfragen in der Begegnung von Coaching und Spiritualität Impliziter oder expliziter Umgang mit Spiritualität im Coaching Obwohl man Spiritualität nach Maslow durchaus als universelles Grundbedürfnis verstehen kann, ist die Verbindung mit der beruflich ausgerichteten Dienstleistung des Coaching für viele Klienten neu, ungewohnt und zu Anfang auch befremdlich oder irritierend. An dieser Stelle entscheiden sich viele Coaches verständlicherweise dafür, die eigene spirituelle Haltung im Hintergrund halten, von wo aus sie ebenfalls wirkt, aber nicht Teil der Kommunikation wird. Damit wird negative Irritation vermieden, aber gleichzeitig die Möglichkeit für positive Anregungen genommen. Aus meiner eigenen Erfahrung und aus Gesprächen mit vielen Kollegen weiß ich, dass eine respektvolle und vorsichtige Thematisierung von spirituellen Fragen nach Sinn, Werten, Berufung, Erfüllung und dem Wunsch nach Transzendenz und Verbundenheit den meisten Klienten letztlich nicht fremd ist, auch wenn sie in beruflichen Kontexten noch nicht darüber gesprochen haben. Gerade Führungskräfte, die durch Sinngebung und Wertorientierung führen, nehmen wahr, wenn diese eigenen Quellen zu versiegen drohen. Ein expliziter Umgang mit Spiritualität gibt dem Klienten Vertrauen, solche Themen offen zu behandeln, und birgt die Möglichkeit, berufliche Anliegen mit der Tiefe und Ganzheitlichkeit von persönlichen und überpersönlichen Aspekten zu behandeln. Dass der Coach dabei in höchstem Maß feinfühlig, tolerant und undogmatisch vorgeht und auf jegliche Missionierung oder Penetranz eigener Deutungen oder Überzeugungen verzichtet, versteht sich von selbst. Hier gelten insbesondere die für das Coaching grundlegenden Prinzipien der Freiwilligkeit und wechselseitigen Legitimation in einer professionellen Beziehung auf Augenhöhe. Tritt ein Coach als spiritueller Lehrer oder sogar Guru auf, wären die professionelle Rolle und der Kontext missbraucht und die Veranstaltung schlicht nicht mehr als Coaching zu bezeichnen. Coaching als Übersetzungsleistung Wenn sich ein Coach für einen eher expliziten Umgang mit Spiritualität entscheidet, ist zu bedenken, dass die ursprünglichen Begriffe und Praxisformen spiritueller Traditionen für viele Klienten ungewohnt und befremdlich sein. Damit im Coaching

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nicht Irritation zum Kontaktabbruch führt, braucht es eine bewusste Gestaltung der Kommunikation. Eine spirituelle Grundhaltung ist durch die Wahl der Mittel, des Settings und der Methoden in der Praxis so zu übersetzen, dass sie an das Weltbild des Klienten anschließt und in der Bearbeitung des Anliegens als Mehrwert wahrgenommen wird. Eine solche gelungene Anwendung von Haltung und Technik in einer spezifischen Lebenswelt drückt sich im buddhistischen Konzept des Upaya aus – im Deutschen vielleicht am besten als »geschicktes Wirken« zu übersetzen. Um wirksam zu werden, müssen Praxis und Lehre immer an die Situationen und an die betroffenen Menschen mit Geschick angepasst werden, während eine dogmatische Haltung meist kontraproduktiv ist. Spirituelle Hintergründe sind also im Coaching an die Sprache, Metaphern, Weltsichten und Wertemuster der Klienten anzupassen. Umgekehrt sind Begriffe wie Sinn, Werte, Mission, Vision durch eine sehr funktionale Verwendung in der Wirtschaftswelt fast schon wieder abgenutzt. Wenn wir uns der Herkunft und dem spirituellen Hintergrund dieser Begriffe wieder bewusst werden, können sie auch in ihrer Wirkung im Berufsbereich wieder lebendiger und tragfähiger werden. Alltag als Praxis – Coaching als spirituelle Praxis Es ist ein fester Bestandteil spiritueller Praxiswege, sich gerade im Alltag zu realisieren, was natürlich den Bereich der Arbeit und des Berufs mit einschließt. Statt zu fragen, wie wir Spiritualität und Coaching integrieren, könnten wir eine Haltung einnehmen, die berufliche Praxis von Coaching und Beratung als Teil einer spirituellen Praxis wahrnimmt. Im Laufe dieses Beitrags wurden ja bereits etliche Felder angesprochen, in denen sich die professionelle Praxis des Coaching und spirituelle Praxis überschneiden und ergänzen können, wenn wir davon ausgehen, dass Coaching –– vielfältige Möglichkeiten bietet, Achtsamkeit und Gewahrsein im Coaching-Prozess zu entwickeln und den Transfer zum Alltag anzubahnen; –– eine Praxis der differenzierten Untersuchung subjektiver Erfahrung darstellt; –– Mitgefühl und Empathie fördert; –– einen werteorientierten, kooperativen Umgang miteinander etabliert; –– die eigene Entwicklung des Coach immer wieder anregt und herausfordert.

Auf dieser Grundlage kann eine bewusst durchgeführte Coaching-Arbeit ebenso bereichernd für die Entwicklung des Coach sein, wenn auch vielleicht auf ganz andere Weise, wie traditionelle Formen der spirituellen Praxis. Schritte zu einer Bewusstseinskultur Dass wir mittlerweile aus einem Zeitalter des technischen Fortschritts in ein Zeitalter übergehen, in dem die Erforschung des Bewusstseins zunehmend wichtig wird, zeigt die Fülle an Forschungsvorhaben und -ergebnissen zu Themen wie Willensfreiheit, Emotionen, Empathie und sozialer Kognition (Metzinger, 2009). Hierzu gehören auch in das Bewusstsein eingreifende Entwicklungen medizinischer und technischer Art

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(z. B. virtuelle Realität, hochinteraktive Medien), die mit allen ihren tiefgreifenden kognitiven und emotionalen Auswirkungen längst in unseren Arbeits- und Freizeitwelten zu finden sind. Wir werden daher als Anwender und Nutzer dieser Entwicklungen zunehmend damit konfrontiert sein, zu reflektieren und zu wählen, wie dies unser eigenes Bewusstsein beeinflusst, und dort, wiederum bewusst, gegenzusteuern, wo wir negative Einwirkungen bemerken. Eine umfassende Beschäftigung sowie einen aktiven und verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Bewusstsein und dessen vielfältigen Wechselwirkungen in Gesellschaft und Umwelt beschreibt der Philosoph Thomas Metzinger (2009) mit dem Begriff einer sich entwickelnden Bewusstseinskultur. Meines Erachtens nach könnten das umfangreiche Wissen, die Erkenntnisse und die Praxis der helfenden Professionen, zu denen neben Teilen der Medizin und der Psychotherapie eben auch der gesamte Beratungs- und Coaching-Bereich anzusiedeln wäre (vgl. Schein, 2010), einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass eine solche Bewusstseinskultur sich nicht nur aus wissenschaftlich-technischer und wirtschaftlicher Intention heraus bildet, sondern wieder eine Richtung einschlägt, die dem Menschen in einem umfänglichen Sinne dient – das heißt möglichst alle seine Bedürfnisse und Entwicklungsbestrebungen berücksichtigt und nicht nur die, die mit Konsum, Verkäuflichkeit oder dem neuesten technischen Trend einhergehen. Themen und Entwicklungsimpulse, die im Coaching zu einer solchen Bewusstseinskultur beitragen könnten, wären (vgl. Metzinger, 2009; Walach, 2011): –– eine allgemeine Sensibilisierung und Differenzierung der Wahrnehmung von Bewusstseinszuständen (Was ist überhaupt ein »erstrebenswerter« Bewusstseinszustand?); –– Kompetenzen zur aktiven Bewusstseinsveränderung zum Beispiel in Richtung von Fokussierung, Sammlung, aber auch Entspannung und Öffnung; –– Ausbildung von Achtsamkeit und Intuition zur Orientierung im Informationsdschungel; –– die Wahrnehmung von Beziehungsphänomenen, Relationen und Wechselwirkungen im professionellen Umfeld; –– der Kontakt zu eigenen Bedürfnissen und Motivationen; –– die Entwicklung von sozialer Kognition, Empathie und Mitgefühl; –– die Fähigkeit zu unmittelbar sinnlicher Erfahrung von Atem und Körperempfindung als Grundlage für eine komplexere Sinnfindung (nach dem Motto »durch die Sinne zum Sinn«); –– aktives Gegensteuern, wo moderne Aufmerksamkeitsräuber zu anhaltender Dissoziation und mental-emotionaler Erschöpfung führen (wo »multi-tasking« zu »multi-distraction« führt); –– Impulse für die Gestaltung einer gesunden und nachhaltigen Arbeits-, Professionsund Organisationskultur, die auch symptomatischen Entwicklungen wie Burnout prophylaktisch entgegentritt.

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Wenn wir die enormen Herausforderungen und Probleme der nächsten Jahrzehnte nicht nur überleben, sondern sie aktiv als dringend nötige Entwicklungsimpulse aufgreifen wollen, werden wir eine vielschichtige Kultur der Kooperation zwischen Menschen mit ganz unterschiedlicher Profession, Herkunft, Bildungshintergrund, Nationalität etc. benötigen. Das grundlegende Modell einer professionellen, unterstützenden Beziehung, das sich im Coaching zu einem hohen Niveau entwickelt hat, stellt ein exzellentes Feld dar, vielfältige Fähigkeiten zu entwickeln, die wir aktuell in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft benötigen würden. Damit stellt sich die Frage, ob wir die Ressourcen, die sich durch die Profession von Coaching und Beratung ausgebildet haben, nur einer eher kleinen Gruppe von Menschen in der Wirtschaft zur Verfügung stellen wollen. Ich denke, in der Zukunft können Coaches aktiv dazu beitragen, dass die Grundhaltungen des Coaching und sein umfangreiches Praxiswissen auch in anderen Bereichen wie Schule, Medizin, Pflege oder in Feldern bürgerlichen Engagements genutzt werden können.

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

Dr. Markus Hänsel, Studium Diplom-Musiktherapie (FH), Erziehungswissenschaft, wissenschaftliche Arbeit und Promotion am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg, Forschungsschwerpunkt »Intuition als Beratungskompetenz in Organisationen«. Weiterbildungen in Systemischer Beratung, NLP, Hypnotherapie, Dialog-Facilitation, systemische Strukturaufstellungen, process-oriented facilitation, Psychotherapie (HP). Er praktiziert seit 1998 Zen und Aikido. Seit 2000 begleitet er als selbständiger Berater, Coach und Trainer Menschen in Teams und Organisationen bei beruflichen und persönlichen Veränderungen und unterstützt sie bei der Entwicklung ihrer Potenziale in Organisations- und Führungsrollen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Führungskräftequalifikation, Förderung intuitiver Kompetenzen, Gesundheitsbildung, systemische Ansätze für Führung und Change Management, Sinnorientierung und spirituelle Fragen im Arbeitskontext. Seit 2006 hat er die Ko-Leitung der Veranstaltungsreihe »mission possible – Sinn im Beruf« an der Universität Heidelberg (www.sinn-im-beruf.de). www.markus-haensel.de

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Eine Frage der Haltung – Spirit im Business und im Coaching Paul Kohtes im Interview 3

M. H.:4 Können Sie kurz schildern, wie Ihr Bezug zu Spiritualität ist, auch in Ihrer Rolle als Berater und Coach? P. K.: Beruflich komme ich aus dem Bereich Kommunikation, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit und habe mich dabei von Anfang an mit der Identität von Unternehmen beschäftigt. Im Laufe meiner beruflichen Entwicklung und auch im Rahmen eines spirituellen Weges habe ich mich dann immer stärker der Frage der persönlichen Identität zugewandt. Daraus haben sich dann zwei Entwicklungen ergeben: Ich habe gemeinsam mit meiner Frau 1998 die Identity Foundation gegründet, eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie, die sich wissenschaftlich mit Fragen von Identität und Spiritualität beschäftigt. Und ich habe meinen beruflichen Schwerpunkt verschoben, bin aus dem Agenturgeschäft ausgestiegen und habe mich stärker der Beratung von Personen zugewandt. Zu diesem Wandel gehört auch, dass ich gemeinsam mit der niederländischen Beraterin und Zen-Lehrerin Brigitte van Baren das Führungskräfteprogramm »Zen for Leadership« ins Leben gerufen habe. Das Thema Spiritualität beschäftigt bereits viele Führungskräfte und Menschen in Unternehmen. Die Zahl derer, die eine Ahnung spüren, dass es etwas gibt, das über die rein materielle/funktionale Ebene hinausgeht, scheint unaufhaltsam zu wachsen. Aber viele Menschen sind auch unsicher und wissen nicht, wie sie sich dem Thema nähern sollen. Coaches sind in dieser Hinsicht vielleicht ein Stück weiter, auch durch die psychologische Seite des Berufs – vielleicht sind sie sogar manchmal etwas zu weit und können ihre Kunden nicht mehr richtig abholen. Oder sie trauen sich nicht, diese Perspektive offen anzusprechen, was bei mir auch viele Jahre der Fall war. Mittlerweile glaube ich, können wir sehr viel offener damit umgehen, weil das Thema Spiritualität allgemein nicht mehr so tabuisiert ist. Dennoch, wenn man mit Großunternehmen arbeitet und Spiritualität in den Kontext von Unternehmensführung stellt, ist das für die meisten noch sehr neuartig – aber man fliegt als Berater zumindest nicht gleich wieder raus …

3 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 31. Januar 2012 online geführt. 4 M. H. = Markus Hänsel. – P. K. = Paul Kohtes.

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M. H.: Viele Coaches stehen ja beim Kunden vor der Frage, was Spiritualität im Zusammenhang mit Organisationen und Wirtschaft leisten kann, die ja per se nicht auf dieses Thema ausgerichtet sind. P. K.: Ich sehe da zwei Perspektiven, wobei die erste vielleicht etwas ernüchternd ist. Personalentwickler suchen nach immer neuen Angeboten für ihre Führungskräfteprogramme, ob das Outdoor-Aktivitäten sind oder andere innovative Methoden, und in diesem Zusammenhang werden sie natürlich auch auf das Thema Spiritualität aufmerksam. Ich habe beispielsweise für ein Unternehmen einmal ein Seminar »Zen und Bogenschießen« organisiert. Die Kursteilnehmer waren gar nicht auf das Thema eingestellt, sondern kamen in der Erwartung, einfach nur ein paar nette Tage zu verbringen. Wir mussten ihnen also erst erklären, worum es eigentlich geht, bevor sie sich auf dieses Angebot so einlassen konnten und wir über reines Entertainment hinaus zusammenarbeiten konnten. Die andere Perspektive ist die der allgemeinen Ratlosigkeit, wie man mit dem Problem der extremen Beschleunigung bei stetig knapper werdenden Personalressourcen umgehen kann. Viele Firmen manövrieren sich hier in eine Sackgasse. Diesen Teufelskreis sehen auch die Personalverantwortlichen und Unternehmensleiter und fragen sich, wie man ihn durchbrechen kann. Und vielleicht kommt noch eine dritte Perspektive dazu, denn auch die Führungskräfte selbst stehen natürlich unter diesem Druck und spüren ihn an sich selbst. Das führt dazu, dass viele sich fragen, ob dieses Hamsterrad namens Unternehmen wirklich alles ist. Und dann stellen sich einem auf der persönlichen Ebene vielleicht auch spirituelle Fragen oder man spürt, dass man unbewusst auf der Suche nach etwas ist. M. H.: Spiritualität als Modeerscheinung wird wenig tragfähig sein. Wenn es also in Unternehmen auch eine ernsthafte Suche nach spirituellen Themen gibt, worin besteht die? Oder geht es nur darum, etwas Druck aus dem System zu nehmen? P. K.: Das ist ein Vorwurf, den man manchmal hört, und da ist auch etwas dran. Nur bin ich nicht angetreten, um ein System zu stürzen, sondern ich möchte in erster Linie den Menschen helfen und sie unterstützen. Ich halte nichts von einer Ideologisierung von Spiritualität. Für mich geht es erst einmal ganz praktisch um Lebensqualität, denn Spiritualität ist kein Selbstzweck. Es ist natürlich immer eine Gratwanderung. M. H.: Worin besteht die Suche nach spirituellen Themen bei Ihren Kunden? P. K.: Ich stelle in meinen Seminaren zu Beginn gerne eine Testfrage: »Können Sie sich vorstellen, wie sich Glück anfühlt?« Da stutzen meist einige und fragen sich, was denn Management mit Glück zu tun haben soll. Aber fast alle wissen natürlich, wie es sich anfühlt, wirklich glücklich zu sein. Das ist für mich ein Schlüssel, denn die Fähigkeit, glücklich zu sein, ist ein essenzieller Teil unseres Menschseins. Und wenn wir diesem wichtigen Aspekt in uns keinen Raum geben, geht es irgendwann nur noch um die Frage, ob wir nur noch funktionieren wie gut geölte Maschinen.

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M. H.: Was sind denn Wege, spirituelle Themen im Coaching einzubringen? P. K.: Ein Ansatz könnte sein, die Haltung zu entwickeln, diesen Anspruch, wirkliches Glück für sich zu finden, gelten zu lassen. Für viele Führungskräfte ist dies eine kleine Offenbarung, denn deren Lebensmotto ist meist: »Du musst dir Mühe geben.« Sie sind häufig auf Leistung und Entbehrungen programmiert und sollten erst einmal herauszufinden versuchen, was sie wirklich glücklich macht und was nicht. Der zweite Schritt ist schwieriger, denn dann geht es darum zu verstehen, dass das nicht nur ein intellektueller Erkenntnisprozess ist, sondern ein Reifungsprozess, der einer gewissen Übung bedarf. Diese Kurve nehmen viele Menschen erfahrungsgemäß schon nicht mehr so leicht, denn dazu müssen sie ihre Gewohnheiten verändern. Einer Führungskraft eines großen Elektrounternehmens habe ich beispielsweise im Coaching den Vorschlag gemacht, doch einfach mal ein paar Minuten am Tag zur Ruhe zu kommen. Das war erst mal vollkommen fremd und irritierend für ihn. Die meisten Führungskräfte gehen nämlich davon aus, dass sie auch diesen neuen Erfahrungsraum irgendwie schnell managen können. Aber dass es einer Selbstveränderung bedarf, um zu einer relevanten Erfahrung zu kommen, läuft den Gewohnheiten und gelernten Mustern erst einmal entgegen. Ich sehe das ja auch an mir selber. Ohne ein Umfeld, das einen daran erinnert und stützt, ist das eine schwierige Aufgabe. M. H.: Was hilft den Menschen, diesen praktischen Schritt zu einer Transformation von Gewohnheiten zu tun? P. K.: Das wichtigste scheinen mir kleine Schritte der Veränderung zu sein, nicht die großen Vorhaben. Ich erlebe es immer wieder, dass Kursteilnehmer nach einem ZenSeminar versuchen, zwanzig Minuten am morgen in Stille zu sitzen, und dann, wenn ihnen dies nicht auf Anhieb gelingt, frustriert sind und ein schlechtes Gewissen haben. Wirklich positiv lernen können wir dagegen nur durch Erfolgserlebnisse. Was sich daher für mich immer bewährt, sind kleine Übungen, die zeigen, ich kann diesen Tunnel der Alltagsgewohnheiten verlassen und eine Distanz herstellen, in der etwas Neues geschehen kann. Ich habe kürzlich mit einer Gruppe von Führungskräften einen Nachmittag lang hauptsächlich kleine Übungen gemacht, um sich selbst zu spüren, kleine Achtsamkeitserfahrungen, kurze Meditationen. Und das funktioniert durchaus. Dafür sind die meisten auch dankbar, denn für die Frage, wie man sich selbst führt, ist bei aller formalisierter Ausbildung in Konzernen nach wie vor nur wenig Raum. Wenn man Spiritualität dagegen überhöht, dann bekommen die Menschen eher Angst davor oder entwickeln eine ungünstige Art von Ehrfurcht, die zu viel Distanz schafft. Ich bin da ein großer Fan von Meister Eckhart, der sagt »Es kommt nicht darauf an, dass die Dinge uns heiligen, sondern dass wir die Dinge heiligen«, das heißt, ihnen wieder mit Geist und Lebendigkeit zu begegnen. Das ist dann auch meine Herangehensweise an den »Spirit«, den Geist eines Unternehmens. Die meisten Menschen spüren, wenn sie mit einem Unternehmen zu tun haben, als Kunde oder als Dienstleister, welche Atmosphäre und welche Kultur da herrschen, ob es da eine positive Anziehung gibt

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oder man eher irritiert ist. Auch das ist eine wichtige Ebene für mich im Coaching und in Seminaren, wie Menschen wieder in Berührung kommen mit einem guten »Spirit« in sich selbst – und diesen dann auch in ihr Unternehmen tragen. M. H.: Gelingt es den Menschen denn leicht, diesen »Spirit« in ihrem Unternehmen weiterzuführen? P. K.: Da gibt es natürlich alle Varianten, positive wie auch negative Beispiele. Wenn jemand meint, er müsse aus seiner eigenen Erfahrung heraus die anderen überzeugen oder gar missionieren, geht das natürlich schief. Oder wenn der Chef, bei aller guter Absicht, seine Mitarbeiter mit einem solchen Angebot zwangsbeglückt, kann das nicht funktionieren. Hier braucht es Behutsamkeit und Respekt. Auf der anderen Seite gibt es auch sehr ermutigende Erfahrungen. Ich kenne zum Beispiel den Personalchef eines großen Automobilkonzerns, der ein Führungskräfteprogramm entwickelt hat, bei dem die Mitarbeiter sich erst einmal ausführlich mit dem eigenen Menschenbild, das hinter dem Thema Führung steht, auseinandersetzen. Dazu braucht es natürlich ein Umfeld, das solch ein Vorgehen nicht nur toleriert, sondern auch für sinnvoll erachtet. Beispiele wie dieses, wo Unternehmen erkennen, dass sie ihre Führungskräfte nicht nur auf der funktionalen Ebene ausbilden sollten, wenn sie wirklich weiterkommen wollen, sehe ich in letzter Zeit häufiger. Manche Firmen integrieren sogar Themen wie Achtsamkeit oder stellen ihren Führungskräften ausdrücklich einen Raum für persönliche Weiterentwicklung zur Verfügung, was dann auch den Weg öffnen kann, um zur konkreten Erfahrung von Spiritualität zu kommen. M. H.: Welche Rolle spielt eine ethische Grundhaltung in dem Beratungskontext? P. K.: Wir sind ja gewohnt, dass Wirtschaft einen eher zweckoptimierten Ansatz verfolgt – die Frage ist, ob in der Wirtschaft neben dem Tun, Machen, Managen auch eine Balance mit einem In-Verbundenheit-Sein möglich ist. Ethik kann leicht in einen Gegensatz zu Spiritualität treten, wenn wir sie als ein von außen aufoktroyiertes Gerüst von Normen und Vorschriften betrachten. Ich glaube, es ist viel wichtiger und auch wirksamer, wenn ethisches Bewusstsein aus einer inneren Entwicklung entsteht, die verantwortungsvolles, empathisches, mitfühlendes Handeln zur Folge hat. Wenn wir, wie in vielen Unternehmen leider üblich, einfach Ethikregeln einführen, werden sie häufig ausgehebelt und übergangen, weil es keinen Erfahrungsraum dafür gibt. Ethik in unserem gesellschaftlichen Kontext entspricht noch häufig der regulativen Grundtendenz des Wirtschaftens, es geht um Machen, Steuern und Kontrollieren. Der Buddhismus legt hingegen eher eine Ethik nahe, die auf Achtsamkeit basiert und davon ausgeht, dass wir uns dann anders verhalten, wenn wir lernen, die Folgen unseres Handelns zu realisieren. M. H.: Es ginge also weniger um regulieren, sondern mehr darum, aus einem Freiraum heraus mehr von sich und dem Umfeld wahrzunehmen.

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P. K.: Ja, das gilt aber für die Wirtschaft insgesamt. Weniger regulieren, dafür kreative Freiräume für die Menschen schaffen. Natürlich kann ein großes Unternehmen nicht ohne Planung auskommen, aber häufig sind wir schon so weit, dass man sich nur noch über die Strukturen und die Regelmechanismen definiert. Wenn wir unternehmerisches Handeln auch wieder als schöpferischen Prozess sehen, glaube ich, wird das auch mit einer spirituellen Entwicklung einhergehen können. In Unternehmen entstehen daher auch zunehmend Teams, die offen und entwicklungsorientiert arbeiten und sehr kreativ und konstruktiv Gruppendynamiken und die sogenannte Intelligenz der Crowd nutzen, ohne dass dabei sofort ein Ergebnis herauskommen muss. In solchen Kontexten haben wir auch sehr erfolgreich mit kleinen Elementen von Achtsamkeit gearbeitet, etwa wenn ein Meeting mit einer Minute Stille beginnt. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv und die Effektivität des anschließenden Arbeitens wurde von allen Beteiligten als höher bewertet. Ich glaube, es braucht nur etwas Mut, um aus den üblichen Mustern herauszukommen. M. H.: Ist Spiritualität dann schon Teil eines Handwerkskoffers oder kommt es auf eine persönliche Haltung des Coach an? P. K.: Wenn ich »spirituelle Techniken« in einen zweckorientierten Kontext stelle, dann funktioniert das natürlich in gewisser Weise auch, weil damit die Akzeptanz in unserer Kultur steigt. Die Methode Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR), die Elemente aus Yoga, Meditation und Zen kombiniert, hat beispielsweise spirituelle Praxis sehr erfolgreich in einen eher gesundheitlich-medizinischen Kontext gestellt. Auf der anderen Seite kann ein Coach, der noch wenig eigene Erfahrungen mit Spiritualität hat, nur einen begrenzten Unterstützungsradius entwickeln. Es ist tatsächlich eine Gratwanderung, Spiritualität einerseits nicht auf eine nackte Methode zu reduzieren und gleichzeitig nicht zum Missionar zu werden. Wesentlich ist für mich der Respekt vor den Menschen, auch vor den Kunden, und der zweite wichtige Aspekt wäre Selbstdistanz, aus der ich wahrnehmen kann, was ich eigentlich tue. Dann sieht man auch, dass man immer wieder etwas zu lachen hat, was mir als Rheinländer vielleicht besonders wichtig ist … Deswegen liebe ich die vielen skurrilen Zen-Geschichten sehr, bei denen man bei aller Ernsthaftigkeit auch wieder herzhaft lachen kann. Das führt aus meiner Sicht zu einer gesunden Lebenshaltung. M. H.: Herr Kohtes, vielen Dank.

Literatur Kohtes, P. (2012). Das Buch vom Nichts. München: Gräfe und Unzer.

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

Paul Kohtes, Jahrgang 1945. Das Wirtschaftsmagazin »Capital« würdigte ihn als »Doyen der deutschen PR-Szene«, die »Süddeutsche Zeitung« bezeichnete ihn als »zurückhaltenden Primus« – er ist beides. Gegensätze zu verbinden, ist für ihn ein Lebensthema. Schon als er vor über 30 Jahren in Düsseldorf eine Beratungsgesellschaft für Öffentlichkeitsarbeit gründete, zierte das Logo des Unternehmens eine Brücke, die Verbindungen schaffen sollte. Er gilt als einer der führenden Berater für Unternehmenskommunikation in Deutschland. 2006 wurde er als erster Deutscher in die »Hall of Fame« des Internationalen PR-Agenturen-Verbandes aufgenommen. 1998 gründete Paul Kohtes gemeinsam mit seiner Frau Margret Kohtes die Identity Foundation, eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie, die unter anderem das Thema Identität wissenschaftlich erforscht und seit 2001 im zweijährigen Turnus den Meister-Eckhart-Preis, mit einer Dotierung von 50.000 Euro einer der angesehensten Wissenschaftspreise in Deutschland, auslobt. Auf der Suche nach innerem Gleichgewicht entdeckte Paul Kohtes vor 30 Jahren die Zen-Meditation für sich. Der Welt der Wirtschaft wollte er dabei nie den Rücken kehren, sondern immer das Weltliche mit dem Spirituellen vereinen. Er leitet Seminare in Zen-Meditation und hat sich spezialisiert auf das Coachen von Führungskräften. Er ist Mitinitiator des Führungskräfteprogramms »Zen for Leadership«. www.identityfoundation.de, www.zenforleadership.com

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Sinnfragen erfordern Ortsbegehungen im Grenzbereich Wolfgang Looss im Interview 5

M. H.:6 Herr Looss, Sie haben sich einmal als einen Mensch des Logos beschrieben und gesagt, wenn Sie nicht Coach geworden wären, wären Sie wahrscheinlich Pfarrer geworden. Das scheint mir eine ähnlich spannende Kombination zu sein zu sein wie das Unterfangen dieses Buches, Spiritualität in einem Kontext von Coaching in der Wirtschaft zu beschreiben. Wo sehen Sie bei sich die Verknüpfung? W. L.: Logos ist sozusagen meine Benutzeroberfläche, damit docke ich an meine Klienten an, mit dem Versuch, die Welt verstehend zu erfassen. Die Sprache ist dabei das bevorzugte Medium – in den anderen Ausdrucksformen habe ich wohl weniger Talente, auch wenn ich gelegentlich im Coaching mit Lyrik arbeite, was ja schon ein Übergang in eine Sprache mit einem anderem Subtext ist, weil das eine ganz besonders aufbereitete Sprache ist. Gleichzeitig bin ich stark ein von Werten getriebener Mensch, der dann versucht, diese Werte in Logos zu übersetzen. In einer Supervision brach es einmal aus mir heraus: »Ich hasse Unternehmer«, und Fritz Simon sagte dann nur trocken: »Und wie tun Sie das? Sie beraten sie!« Das ist die Form, wie ich meine Werthaltungen lebe: indem ich Logos benutze. Das ist ja auch das, was Pfarrer tun, wenn sie versuchen, ihre religiösen Werte in Worten zu übermitteln. Das heißt nicht, dass ich mich in meinen inneren Operationen nur auf Kognition beschränke, das sind natürlich auch Emotionen und Werte. M. H.: Wie ist Ihr Verständnis von Spiritualität, allgemein und in Beziehung zur professionellen Rolle? W. L.: Für mich ist Spiritualität zunächst der Versuch, alles zu sehen. Es bedeutet eine Ausweitung des Beobachtungsraums bis zum Horizont, bei dem die Grenze nicht mehr klar sichtbar ist oder verschwimmt. Die Grenze ist in dem Sinne unsere Wahrnehmungsbeschränkung. Der Versuch, alles zu sehen, hieße dann in unserem Fühl-Denken, wie der Schweizer Psychiater Luc Ciompi sagt, soweit hinauszureichen, wie es geht, auf eine gerade noch fassbare Universalität. Je nachdem, in welchem religiösen Betriebssystem ich das beschreibe, kann ich hinter dieser Grenze Gott vermuten, Schöpfung 5 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 13. Dezember 2011 in Heidelberg geführt. 6 M. H. = Markus Hänsel. – W. L. = Wolfgang Looss.

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oder All-Eins. Für mich geht es jedoch vorwiegend darum, meine eigene innere Wahrnehmung und die Reichweite meiner Gedanken und Gefühle auszudehnen, etwa wenn ich »Wir« oder »Welt« sage. Natürlich weiß ich auch, dass Spiritualität als Worthülse für eine Vielzahl von Erfahrungen benutzt wird, die anders nicht gut verortbar sind. Dies kann ein Kontakt mit etwas Metaphysischem sein, hinter den gängigen Grenzen und Konzepten. An dieser Stelle wäre ich jedoch etwas vorsichtig mit der Verwendung des Begriffs, weil er dann leicht ein Platzhalter für alles Mögliche wird, eine Art DummyBegriff, den semantisch nichts mehr unterscheidet. Damit ist natürlich noch wenig ausgesagt über die vielen Formen, die Menschen bereits erfunden haben, wie sie sich in diesem Grenzbereich bewegen. In diesem Bereich können wir nur ahnen und fühlen, was hinter dem Horizont sein könnte, auch wenn wir eine konkrete Erfahrung damit machen. Ich kenne solche Erfahrungen ebenfalls, aber wenn ich versuche, sie zu fassen, kann ich das nur in Sprache tun. M. H.: Sind das Erfahrungen in einem professionellen Kontext? W. L.: Ich glaube, mein professioneller Kontext enthält in diesem Sinne eher wenige spirituelle Erfahrungen. Wenn, dann in einigen sehr gelingenden dialogischen Situationen, in denen in einer Gruppe oder einem Umfeld etwas wirklich Neues geschieht. Man könnte hierfür natürlich auch andere Begriffe verwenden, wie etwa Innovation. M. H.: Der Begriff Spiritualität scheint also eine Berechtigung zu haben, weil er auf etwas deutet, was ansonsten nur schwer benennbar ist, auf der anderen Seite gibt es einen Vorbehalt dagegen, diesen Begriff inflationär zu verwenden. Wo sehen Sie die Grenze? W. L.: Es gibt Momente emotionaler Verdichtung, im Einzelkontakt und in Gruppen, wenn etwas Neues passiert, eine emotional spürbare Einsicht entsteht oder wenn sich etwas Emotionales löst – die würde ich vielleicht noch nicht notwendigerweise als spirituell bezeichnen. Auch im professionellen Kontext gibt es originäre Sinnerfahrungen – also Sinnkonstruktionen, bei denen ich Sinn auf eine Weise erfahre und produziere, den ich nicht einfach aus einem Regal ziehen kann. Dort kommen wir mit etwas in Kontakt, was schwer benennbar ist. Ich behelfe mir manchmal, etwas ironisch formuliert, mit der Metapher »das ist ein Andocken an die kosmische Datenbank« – ironisch deshalb, weil der Begriff der Spiritualität ja oft sehr beladen ist. Diese Erfahrung von Sinnproduktion ist die Erfahrung einer Gesamtsicht, bei der in einer Gruppe etwas Wesentliches entdeckt wird. Ich würde sagen, es entsteht eine Verdichtung des Feldes, in der die Beteiligten teilhaben an einem Wir, als einem Feld, das von den Menschen kollektiv erfahren wird. Das wird dann zum Beispiel als eine außergewöhnliche Stimmung, als besondere Chemie zwischen Menschen beschrieben. Ich beschreibe dies als die Wirkung eines interaktionellen, intersubjektiven Kontaktfeldes, in dem Erfahrungen möglich sind, in denen Menschen sich wortlos verstehen und Anteil haben an einem Common Ground. Dahinter fangen dann vielleicht Erfahrungen an, wie der Kontakt zu etwas Göttlichem. Die wären mir aber in diesem Zusammenhang etwas suspekt,

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Wolfgang Looss im Interview: Sinnfragen erfordern Ortsbegehungen im Grenzbereich

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weil die herkömmliche Sprache einfach zu schwammig ist, etwas zu fassen, was hinter dem oben beschriebenen Horizont ist. Da versagt meines Erachtens nach Sprache und muss wohl auch versagen. Vielleicht wird dieser Bereich deutlich in einem Gedicht von Rilke, das ich manchmal in der Visionsarbeit verwende, das folgendermaßen lautet: Aus unendlichen Sehnsüchten steigen endliche Taten wie schwache Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen. Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte – zeigen sich in diesen tanzenden Tränen. Wenn ich dem Begriff der »unendlichen Sehnsucht« bei Rilke nachgehe, würde ich sagen, ohne eine solche unendlichen Sehnsucht gibt es keine wirkliche Vision. Die Sehnsucht wird aber als unendlich beschrieben, ist also wieder hinter einem Horizont angesiedelt und ist in diesem Sinne eine spirituelle Sehnsucht nach etwas, metaphorisch gesprochen, wie einem verlorenen Paradies, einer Erfahrung von Einheit und Sinnhaftigkeit. Hier würde für mich das Spirituelle warten. Aber Rilke ist dann eher diesseitig und sagt, dass aus unendlichen Sehnsüchten »endliche Taten« steigen, über die man dann wieder trefflich reden kann. Die »schwachen Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen« zeigen die Begrenztheit unserer Taten. Wie beim Turmbau zu Babel ist alles, was Menschen tun, begrenzt – wobei die Anerkennung dieser Begrenztheit eher wieder aus einem spirituellen Bezugssystem kommt. Schließlich deutet Rilke aber noch auf ein tröstliches Ende: »Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte – zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.« Wenn ich also die endlichen Taten nicht vollziehe, bekomme ich auch keinen Kontakt zu meinen fröhlichen Kräften, die sich dann verschweigen würden. Nur wenn ich aus unendlichen Sehnsüchten endliche Taten mache, zeigen sich meine Kräfte, meine Kompetenzen, meine Potenziale. Das Gedicht beschreibt inhaltlich diesen Grenzraum und den Übergang zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen und in seiner Ästhetik zeigt sich etwas, was über Sprache als Ansammlung von Wörtern hinausgeht. Das Ästhetische und die Lyrik sind es, was Menschen daran berührt, während das Inhaltliche noch wirken und erschlossen werden will. M. H.: Was Sie in dem Gedicht so schön beschreiben, ist im Spirituellen das Verwobensein von Transzendenz einerseits und der Tatsache andererseits, dass wir hier in dieser Welt immer im Manifesten leben. Wie äußern sich diese Aspekte in der Beratung und im Coaching? W. L.: In der Beratung hieße das für mich, diese Grenzregion zuzulassen und zu erforschen, was beim Betreten dieser Grenzregion passiert – ob dort Angst entsteht oder

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Die spirituelle Dimension im Coaching – Entwicklung eines professionellen Verständnisses

eher das, was Claus Otto Scharmer surrender into commitment nennt, also sich an das eigene Commitment, das eigene Engagement hinzugeben, was er als eine der wesentlichen Eigenschaften von Top-Führungskräften sieht. Diesen Grenzbezirk in dieser Form zu untersuchen, wäre für mich eine aussichtsreiche Form, sich dem Spirituellen in der Beratung und im Coaching zu nähern. Wenn schon, dann sollten wir das Spirituelle nicht in gesonderte Kontexte verschieben, wie auf den Sonntagvormittag in der Kirche, sondern in die Beratung hineinholen. M. H.: Sie arbeiten ja auch mit einem gestalttherapeutischen Hintergrund, in dem es das Konzept des Gewahrseins gibt, was man in ähnlicher Form in östlicher Traditionen als Achtsamkeit wiederfindet. Sehen Sie da einen Zusammenhang? W. L.: Da sehe ich durchaus einen Zusammenhang. Aber auch im Beratungskontext ist dieses Konzept von Gewahrsein ein nicht einfach zu vermittelndes Konzept. Man bleibt oft bei der Außenwahrnehmung stehen. Gewahrsein ist aber noch weit mehr, es umfasst Außen- und Innenwahrnehmung und dazu den Kontakt zu einer umfassenden Gesamtheit – ein Denken und Fühlen bis zum Horizont, um in der obigen Metapher zu sprechen. M. H.: Ist die Fähigkeit des Gewahrseins auch für den Kunden wichtig und bedeutsam? W. L.: Ich denke, das ist sehr hilfreich, weil zum einen die Entscheidungsgüte besser wird – zum anderen gelingen Kooperation und Ko-Kreation besser, weil es eine bessere Verbindung und eine verdichtete Vorstellung von einem gemeinsamen Wir gibt. Das vermindert, betriebswirtschaftlich gesprochen, die Transaktionskosten erheblich. Gewahrsein passiert jedoch meist nicht aus dem Stand und wenn es passiert, haben Kunden andere Metaphern dafür – sie beschreiben zum Beispiel »die Chemie hat gestimmt« oder ein Team erlebt sich in einem guten »Flow«. Die Kunden erleben dann durchaus auch die Produktivkraft, die darin steckt. Diese Erfahrung ist jedoch nicht technisch herzustellen. Sie geschieht meist nur, wenn die Beratungsperson selbst ohne Scheu in diese Erfahrung gehen kann, gewissermaßen als Modell oder als Einladender – gleichzeitig mit einer guten Einschätzung, wo er die anderen abholen muss. Ich moderiere beispielweise Runden mit Geschäftsführern und Vorständen, in denen diese Qualität durchaus entsteht. In einem Unternehmen hatte ich ein regelmäßiges jour-fixe-de-reflexion abgehalten – eine Runde, in der es kein Thema gab, wer gerade im Haus war, kam, und das zeitliche Ende war offen. Nach den ersten Irritationen ob des unüblichen Formats eröffnete sich in dieser Runde ein ganz spezielles Feld der Begegnung – gerade die Abwesenheit von thematischen Bezügen ließ ein Feld zu, das produktiv wirkt, weil es Themen nach oben spült, die die Menschen wirklich bewegen. Wenn dann nicht nur eine Person ihr Anliegen anspricht, sondern viele aus der Gruppe sich einbringen können und aufeinander reagieren, dann hebt sich so etwas wie ein Common Ground hervor und wird sichtbar. Das sind Zugänge, die sind sehr behutsam zu behandeln, quasi zitternd, aber ungemein produktiv.

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M. H.: Offensichtlich haben die Menschen ein Bedürfnis nach dieser Form von Austausch und Begegnung, wenn der Raum dafür geboten wird. W. L.: Ja, durchaus, daher kommt diese Art von Arbeit in meinem Repertoire vor, aber nicht als technischer, methodischer Ansatz, sondern situativ, wenn es sich ergibt. Ich nenne das daher auch spielerisch das Züchten wildwachsender Blumen, das heißt, ich stelle lediglich Bedingungen her, in denen das geschehen kann. M. H.: Der Berater Matthias Varga von Kibéd spricht analog dazu bei Aufstellungen nicht von Leitung, sondern von Gastgeberschaft. W. L.: Genau, diese Rolle entspricht auch der Kultur der Salons im 19. Jahrhundert, wo ein wunderbarer Rahmen geschaffen wurde, in dem Dialog und schöpferischer Austausch passieren können. M. H.: Wie integriert sich diese Gesprächskultur in den Unternehmensalltag, wenn der Berater wieder aus dem Haus ist? W. L.: Wenn Menschen aus Unternehmen solche Gesprächsformen als angedockt an die Firmenkultur und mit der Chance für Transfer erlebt haben, nicht als isoliertes Feuerlauf-Erlebnis, dann berichten sie meist, dass der Umgang miteinander und das Interaktionsverhalten sich sehr positiv verändern. Es entsteht ein Common Sense über viele Signale der Kommunikation, was zum Beispiel als Verstehen mit wenigen Worten erlebt wird. Dieser Common Ground, den wir in der Gestalttherapie die Grundkonfluenz nennen, erlaubt ein stärkeres Erleben eines »Wir«, was sich stark auf die Kooperation in einem Unternehmen auswirkt. Es entsteht entweder schnellere Einigung oder zumindest ein gutes Verständnis darüber, uneinig zu sein. Ich erlebe das zum Beispiel in der Kommunikation zwischen Entwicklung und Produktion, die eine klassische Sollbruchstelle in industriellen Unternehmen darstellt. Wenn diese beiden Gruppen eine wirkliche Tradition des Dialogs miteinander entwickeln, können sie die notwendigen Interessenunterschiede und logisch auftretenden Konflikte viel besser behandeln. Jeder weiß dann vom anderen, dass er von seiner Interessenlage woanders steht – dadurch entsteht eine Art Metakonvention, die quasi die doppelte Kontingenz nach Luhmann auflöst. Doppelter Kontingenz in Organisationen kann ich entweder begegnen, indem ich paranoid den anderen betrachte mit der Frage, was er wieder für eine Schweinerei vorhat, dann versuche ich die Signale strategisch zu entschlüsseln. Ich kann aber auch ein Bewusstsein davon entwickeln, nach welcher Logik der andere denken und sich wohl verhalten wird. Auf dieser Grundlage sind dann viel tragfähigere Lösungen bei ganz konkreten Entscheidungen, etwa bezüglich Terminen oder Liefertreue, möglich. Wenn zum Beispiel beide voneinander wissen, dass sie ganz unterschiedliche Planungshorizonte haben und das wirklich respektieren, als agree-to-disagree, dann entsteht eine Grundkonfluenz dahingehend, dass beide ja an dem gleichen Produkt arbeiten und das gleiche Interesse daran haben, dass dieses Produkt gut am Markt ankommt. Damit verändert sich also grundlegend der Umgang

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miteinander und mit den unterschiedlichen Interessen. Man merkt das auch daran, dass die Gespräche weniger scharf geführt werden und mehr gelacht wird, weil der Umgang nicht beziehungsschädigend ist. Häufig gehen die Verhandlungen von Unterschieden ja auf Kosten der Beziehung, man hält den anderen für einen Idioten, obwohl er letztlich nur seine Interessen verfolgt. So die sind die Menschen dagegen bildlich gesprochen emotional geimpft, die organisatorische Bruchstelle kann ihnen weniger anhaben. Entscheidend ist das wechselseitige Anerkennen dieser organisatorischen Bruchstelle, die sich in unterschiedlichen Zielen, Subkulturen, KPIs usw. äußert, und gleichzeitig eine Übung darin zu haben, sich bei der Verhandlung der Unterschiede dieser untergründigen gemeinsamen Ebene bewusst zu sein. Das geht auch bis ins Spirituelle, etwa bei der Frage, was der Sinn des Unternehmens oder des Produkts ist. Letztlich bleiben beide Gruppen auch eher gesund, obwohl sie dauernd an dieser Schnittstelle arbeiten. M. H.: Da gibt es einige interessante Parallelen: Psychologisch betrachtet hat das viel mit Empathie und emotionaler Intelligenz zu tun, im systemischen Kontext spricht man von Interdependenz, während man in den spirituellen Traditionen das Erleben von Verbundenheit und wechselseitiger Abhängigkeit betont. W. L.: Genau, Empathie und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, sind ein wesentlicher Teil dieser Grundkonfluenz, die aber eher leichtfüßig entsteht, nicht als Folge einer beraterischen Intervention. M. H.: Warum tun sich Unternehmen, zumindest in meiner Wahrnehmung, so schwer mit dieser Art von Arbeits- und Kooperationskultur, und gerade wenn es um Fragen von Macht und Konkurrenz geht? W. L.: Zum einen sind Themen wie Dialog, Kultur und Kommunikation unter dem Einfluss der Sechzigerjahre und der Human-relation-Bewegung in Unternehmen lange als weichgespült denunziert worden. Hier ist ein künstlicher Gegensatz aufgebaut worden: Auf der einen Seite die Arbeit, mit Zielen, Terminen usw., auf der anderen Seite gab es dann künstliche Kommunikationsübungen wie kontrollierter Dialog. In der Konstruktion von Business als Sprachspiel waren solche Formen des Gesprächs und des Umgangs einfach nicht enthalten, was natürlich auch mit der Entstehungsgeschichte durch Militär und Verwaltung zu tun hat. Es gibt in dieser Hinsicht keinen ideengeschichtlichen Zweig der Veranstaltung Business zur Spiritualität hin. Es gibt das Wurzelwerk Verwaltung, mit seinen Regularien und Ordnungssystemen, ein Wurzelwerk aus dem Militär, wo es um Werbefeldzüge, Konkurrenzschlachten und Heldentum geht, ein Wurzelwerk aus der Technik, was sich in den Arbeits- und Organisationsabläufen zeigt, ein kleines Wurzelwerk im Bereich des Sozialen und Zwischenmenschlichen, seit Hawthorne und McGregor – und in jüngerer Zeit gibt es den Einfluss des Systemischen und der Selbstorganisationstheorie, mit starken Anleihen aus der Biologie und Physik. Aber ich sehe keine nennenswerte Tradition in Unternehmen, die sich auf spirituelle

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Wurzeln beruft und zum Beispiel Themen wie Sinnproduktion oder Werteorientierung in den Vordergrund stellt. Das ist in Non-Profit-Einrichtungen natürlich anders als in profitgetriebenen Organisationen. Soziale Einrichtungen wie Altenheime oder Sozialarbeit haben sich mit den Themen Helfen und Mitmenschlichkeit schon immer auseinandergesetzt. Eine Idee von Sinnproduktion, Spiritualität oder Verbundenheit sehe ich in Profitorganisationen nicht, höchstens ein paar alltägliche Beschwörungen der Arbeitsfamilie oder Ähnliches. Anders ist das bei Familienbetrieben, wo natürlich der Familienmythos ein Wurzelwerk von mehreren tausend Jahren hat. Dort werden sozusagen spirituelle Darlehen dieses Mythos aufgenommen und für betriebliche Zwecke gebraucht. M. H.: In den Medien wird die Bedeutung der Wirtschaft als Ganzes ja oft hinterfragt, nach dem Motto: Ist die Ökonomie eigentlich für den Menschen da oder eher umgekehrt? Sehen Sie dort einen neuen Trend entstehen oder ist das eher ein Tropfen auf den heißen Stein? W. L.: Das traditionelle Business ist in dieser Hinsicht anomisch, also werteentleert. Die letzten Krisen haben das gezeigt und ich habe in diesem Zusammenhang auch von organisierter Soziopathie gesprochen. Es regiert ein eher primitiver Mythos von Heldentum, Geld machen und Besitz anhäufen. Weil dieser Mangel geahnt wird, entstehen neue Beschwörungen wie ein Werteimplementierungsprogramm oder Programme zur Unternehmenskultur und Culture Change, die aber meist außen vor bleiben und hölzern wirken. Da die Kommunikation, unter anderem stark durch Berater und Coaches, inzwischen wesentlich besser ausgebildet ist und eine größere Rolle spielt, entstehen jedoch auch Momente, in denen das Kollektive erfahren wird. Es gibt in der Zeitschrift »The New Yorker« diesen schönen Cartoon: Jemand lehnt in einem Büro erschöpft an der Wand, Schweißtropfen auf der Stirn, alle stehen um ihn herum und er sagt: »Keine Sorge, das ist nur ein kurzer Anfall von Sinnhaftigkeit, das ist gleich vorbei« (just a short attack of purpose). Das System Business ist also anomisch und die Individuen darin haben gelegentliche Anfälle von Sinnhaftigkeit, die entstehen aus dem überschaubaren Umfeld von Kollegialität oder bei Mittelständlern und Familienbetrieben aus einem Verantwortungsgefühl für die Betriebsfamilie und für die Tradition. Das sind Werte, die sich aus der Notwendigkeit der Kommunikation ergeben, die durch Berater professionalisiert worden ist. Ob daraus aber ein Business entsteht, das primär sinngetrieben ist, wage ich zu bezweifeln. Ich verfolge mit großem Interesse neue Bewegungen, wie beispielsweise das »Social Business«, gegründet vom Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus, wo der Versuch gemacht wird, von vornherein ein Business mit sozialem Betriebssystem zu etablieren. Das sehe ich als aussichtsreichen Versuch. M. H.: Wissenschaftler wie Claus Otto Scharmer betonen sehr die Notwendigkeit eines neuen Führungsverständnisses, das durchaus auch spirituelle Grundelemente enthält. Ist Führung eine Funktion in Unternehmen, die mit Spiritualität eher in Kontakt kommen kann?

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W. L.: Auf der persönlichen Ebene sehe ich da gute Chancen, denn Personen wollen sich immer weiterentwickeln. Es gibt hier in letzter Zeit gute Untersuchungen, zum Beispiel von Professor Staudinger aus Bremen zur Rolle von Weisheit der Führungsentwicklung oder die entwicklungspsychologischen Untersuchungen von Robert Kegan, die erforschen, zu welcher Art von höherem Selbst und Weisheit eine Führungskraft kommen kann, wo sich der Mächtige dem Philosophen annähert. Auf der individuellen Ebene sehe ich da durchaus eine Entwicklungsmöglichkeit, aber Business-Organisationen verhindern das in der Regel eher und lassen Führungskräfte nicht in eine solche Weisheitsposition wachsen. Wenn der Entwicklungsstand des Einzelnen dann über dem Durchschnitt seiner Organisation liegt, geht er meistens raus und verlässt das Unternehmen. Ein berühmtes Beispiel ist Daniel Goeudevert, ehemals Vorstand bei VW. Die Frage ist, ob es Organisationen gibt, die diese Dimension, in all ihrer Unschärfe, mitdenken können. M. H.: Entwicklung entsteht ja auch durch Nöte – könnte die aktuelle Gemengelage von Überkomplexität und Sinnverlust einen Wandel von Organisationen beschleunigen? W. L.: Der entscheidende Begriff wäre hier für mich die Steuerbarkeit in Organisationen. Es könnte sein, dass man erkennt, dass in immer komplexeren Organisationen, in einem hochdynamischen Umfeld, mit sehr gut ausgebildeten und ansprüchlichen Führungskräften, die auch auf der Werteebene eine Antwort haben wollen, sich Steuerbarkeit nur erreichen lässt, wenn man in der Organisation Orte und Räume schafft für das Verhandeln von Sinnfragen. M. H.: Da klingt auch das Thema Mitarbeiterbindung an: Mitarbeiter wollen zunehmend Werte- und Sinnantworten, wenn sie sich für ein Unternehmen entscheiden. W. L.: Die Frage ist, kann ich mit meinen Sinnfragen als Mitarbeiter im Unternehmen auch ein Wir finden – nicht nur ein nettes Umfeld, mit netten Kollegen, sondern eine Gemeinschaft mit einer Sinn- und Werteentsprechung zu mir als Person. Gerade im »war for talents« könnte das wichtig werden. M. H.: Wo sollte sich das Thema Spiritualität Ihrer Meinung nach in der Außendarstellung orientieren, ist es überhaupt hilfreich, den Begriff im Außenkontakt zu verwenden? W. L.: Ich wäre zwar eher vorsichtig, aber es kommt sehr auf den Berater-KlientKontakt an. Ich habe hierzu in einem Aufsatz den Begriff der »reflexiven Kumpanei« verwendet, die ich tatsächlich so lebe. Ich habe Klienten in Einzel- und Gruppensettings, mit denen ich in Langzeitkontakten arbeite, da entstehen durchaus Räume dafür, was aber nicht von vornherein so angeboten ist. Die Praxis der reflexiven Kumpanei ist entstanden, weil Klienten erlebt haben, dass ihnen der Coaching-Kontext hilft und gut tut, jenseits der Problemlösung. Ein Satz der einmal von einem Kunden fiel, ist: Herr Looss, muss ich wieder ein Problem entwickeln, damit wir weiterarbeiten können?

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M. H.: Diese Form hat eventuell eine Ähnlichkeit mit der Auffassung von Praxis in spirituellen Traditionen, nach der es unabhängig von Erfolgen oder Problemen einer kontinuierlichen, beharrlichen Arbeit an sich bedarf. W. L.: Durchaus, diese Zusammenarbeit ist repetetiv und kontinuierlich, sie findet anlassfrei statt – wir treffen uns alle paar Wochen und reflektieren über alles, was auftaucht und passiert ist. Es mündet in einer Art Philosophieren, das beleuchtet, was tue ich eigentlich, warum tue ich es und wie kann ich eigentlich handeln, erkennen, und entscheiden? Wie bewege ich mich in ethischen Dilemmata, was soll ich tun? M. H.: Mein Eindruck ist, dass man diese Form von Arbeit nicht einfach als Dienstleistung am Markt anbieten kann, sondern sie muss im Laufe einer gemeinsamen Arbeit entstehen. W. L.: Ja, das kann man nicht einfach anbieten, weil sonst die besondere Qualität zu einem Gut und zum Teil eines ökonomischen Spiels wird. Wenn ich etwas am Markt anbiete, brauche ich ein Mangelempfinden, das schon vorhanden ist und das, wenn Kaufkraft dazukommt, zur Nachfrage führt. Diese Logik der Veranstaltung Markt würde die Arbeit an dieser Kontaktfläche mit einem Klienten eher denunzieren. Das heißt, ich müsste andere Formen von Kontakt möglich machen, vielleicht analog zu einem Prozess, wie Freundschaften entstehen – das kann man auch nicht auf einem Markt anbieten. Ich kann höchstens Situationen schaffen, in denen diese Qualität entstehen kann, aber nicht als Angebot. Auch das normale Coaching, als eher nüchterne und berufsbezogene Dienstleistung, kann kein solcher Raum sein. Für mich liegt das Wesentliche im Unterschied zwischen Emergenz und Design. Der Markt will immer ein Design, im Sinne eines Angebots oder einer Dienstleistung. Ich kann beispielsweise eine Pauschalreise designen, aber was in dieser Reise passiert mit den Menschen, das ist der Emergenz überlassen. Die Arbeitsformen, über die wir hier sprechen, kann ich aber nicht designen, sondern die entstehen aus einer Emergenz. Was ich bestenfalls designen kann, ist eine äußere Form, wie etwa ein Coaching-Setting oder eine Vision-Quest – aber nicht, was darin passiert. Daher würde ich auf keinen Fall ein Design machen, mit dem Versprechen: Hier wirst du spirituell aufgeladen. Das kann nicht funktionieren, weil es von der Emergenz abhängt. M. H.: Ich sehe hier auch ein Spannungsfeld zwischen dem Feld der Wirtschaft, die ja primär mit Ergebnis- und Erfolgsversprechen arbeitet, nach dem Motto »Ich verkaufe ein Produkt und verspreche dir damit ein bestimmtes Erleben«. Wir wissen aber aus kognitionswissenschaftlichen Quellen, dass Erleben nicht programmierbar ist, sondern, wie Sie sagen, emergent ist. W. L.: Genau, die Form des Anbietens tut dem, um was es geht, durch die Vordefinition und die semantische Aufladung eines Versprechens eher Gewalt an. M. H.: Sie haben einmal geäußert, dass sich Coaching prinzipiell eher am Rande der Wirtschaft bewegen sollte, wie deuten Sie da den aktuellen Coaching-Boom?

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W. L.: Ich betrachte das eher kritisch. Ich würde Coaching auch eher nicht als Dienstleistung definieren, obwohl das üblicherweise getan wird, weil mir das zu nah an der Semantik des Business ist, wie Haareschneiden – ich gehe eher davon aus, dass Coaching randständig ist, von einem Komm-Prinzip ausgeht und deshalb nicht in klassischer Weise beworben werden sollte. M. H.: Ich würde mit Ihnen noch eine These erörtern wollen: Wir haben meiner Meinung nach im Coaching, auch in einer Tradition der Psychotherapie, ein großes Repertoire an Vorgehensweisen und Methoden akkumuliert, um mit Veränderung umzugehen und sie zu gestalten. Die heutige Zeit und die Zukunft umso mehr werden uns mit tiefgreifenden Veränderungen konfrontieren, wo dieses Wissen und Können von Nutzen sein könnte. Nun wird Coaching aber eher in einem sehr kleinen und fast elitären Kreis gut bezahlender Klientel betrieben und zur Verfügung gestellt. Das scheint mir auf dem gesellschaftlichen Hintergrund eine Diskrepanz und Verschwendung von Ressourcen. Würden Sie dem zustimmen? W. L.: Ja. Ich arbeite unter anderem in Schulen und dort hält sehr langsam eine Bewegung Einzug, dass sich Lehrerinnen als Mentor für Veränderungsprozesse oder Coach für Lernprozesse begreifen und nicht mehr als Instruktoren. Dort entsteht allmählich eine systemische Kultur von Pädagogik, die auf Instruktion verzichtet und Lernbegleitung auf persönlicher Ebene anbietet. Auch in vielen sozialen Einrichtungen entstehen mittlerweile Coaching-Strukturen und werden entsprechende Kompetenzen ausgebildet. Wie diese Entwicklung in die Gesellschaft hinein allerdings finanzierbar sein soll, ist völlig offen, denn in den durch Transfergelder finanzierten Sektoren der Gesellschaft wird das eher schwierig. Gleichzeitig passiert in vielen gesellschaftlichen Bereichen ja auch Ähnliches wie Coaching, nur unter anderen Begriffen. Die aussichtsreichen Felder wären für mich Kultur, Kunst, Pädagogik. Wenn also ein Regisseur mit seinen Schauspielern arbeitet, ist das ähnlich wie in einer Teamentwicklung, sogar auf höherer Intensitätsstufe. Aber auch in anderen Feldern würde ich diese Entwicklung für dringend notwendig erachten, etwa in der Berufsberatung von Arbeitslosen. M. H.: Ist Coaching in einem Eins-zu-eins-Setting einfach zu teuer und deshalb ungeeignet? Wären kollegiale Formen hier vielleicht aussichtsreicher? W. L.: Das ginge durchaus. Nur, wenn wir uns kollegial einigermaßen sauber und effektiv coachen wollten, müssten wir das als Kulturtechnik am besten schon von Kindesbeinen an lernen, was ja auch schon ansatzweise passiert, wenn Schüler als Mediatoren und Streitschlichter fungieren, aber das ist wirklich noch ganz am Anfang. M. H.: Vielleicht müssen wir dann den Coaching-Begriff verlassen, auch wenn wir Techniken der Selbststeuerung und des Kompetenzen im Umgang mit anderen daraus transferieren.

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W. L.: Für mich liegt das eher im Bereich der Pädagogik als im Bereich der Wirtschaft. Der Begriff der Spiritualität und seine Verbindung mit Coaching scheint mir insgesamt noch etwas weit entfernt angesiedelt. Wenn ich allerdings einen Begriff wie Sinnorientierung verwende, entstehen wieder viele Brücken, zum Beispiel auch wieder zum Management. Mein Kollege Rudi Wimmer propagiert einen Ansatz mit drei Bezugssystemen: Sinn als Sachbezug, als sozialer Bezug und als zeitlicher Bezug. Da können wir gut an das Management andocken mit der Grundfrage von Steuerbarkeit, zum Beispiel wenn Führungskräfte klassische Verlegenheiten des Steuerns vermelden und nach Sinn fragen, weil sie die Antwort auf den Sinn ihrer Arbeit nicht mehr aus der Organisation bekommen, gleichzeitig sollen sie im Zuge von Leadership ihrem Team Sinn geben – wie macht man das? Wenn man also Führung unter dem Motto bearbeitet, wer Leistung will, muss Sinn bieten – was heißt dann »Sinn bieten«? Schauen wir dann diese drei Dimensionen an: Sinn ist zunächst der Quotient aus Aktualität und Potenzial. Ich treffe eine Entscheidung in einem Potenzial von Möglichkeiten und während ich das tue, habe ich Randparameter zu beachten. Einmal die Sachebene, was wähle ich aus, welche Technik, welche Controllingstandards usw., die soziale Ebene, die alle im Unfeld betrifft, mit allen Konflikten, Fragen, wie man Mehrheiten schafft, wie man andere überzeugt. Das dritte ist die Zeitdimension: gewahr zu werden, wie die persönliche Zeitgrammatik beschaffen ist, mit der ich operiere. Das heißt zum Beispiel, wie groß ist meine Gratifikationsspanne, also die Zeitspanne, bis ich für eine Handlung eine Gratifikation erwarte. Würde ich es also noch schaffen, in einen Wald zu investieren oder in ein Projekt wie den Kölner Dom zu investieren, oder würde ich sagen, das geht über eine Generation hinaus, das ist nicht zu schaffen. Hier kommt also stark das Thema Nachhaltigkeit ins Spiel. Dann ergeben sich Fragen nach dem Arbeitsrhythmus, etwa, wann werde ich atemlos, wann entsteht Langeweile, und die Frage nach Be- und Entschleunigung. Hartmut Rosa hat für das, was in vielen Organisationen gerade passiert, den schönen Begriff des »rasenden Stillstands« geprägt. Was ist die Organisationszeit in der Beziehung zur persönlichen Zeitdimension, mit den Fragen nach Rhythmik, Be- und Entschleunigung, Nachhaltigkeit, aber auch Endlichkeit? Entlang dieser drei Dimensionen kann eine Fülle fruchtbarer Arbeit entstehen mit dem zentralen Fokus von Sinn als Hilfe beim Steuern. Das ist wohl noch nicht die Ebene der Spiritualität, aber um mich diesen Dimensionen zu nähern, brauche ich auch die Erfahrungen am Horizont der Grenzerfahrung. M. H.: Vielleicht ist die spirituelle Dimension, die wir in diesem Kontext am meisten benötigen, eine, die sich am Wir orientiert und daran, wie Menschen mit sich, den anderen und der Organisation umgehen. W. L.: Mir ist nur wichtig, dass wir diese Themen nicht in einer gottesdienstähnlichen Veranstaltung behandeln, sondern uns hier auf die Suche machen: Was heißt Spiritualität und Sinn nächsten Montag im Meeting? Wie verhältst du dich dort, was nimmst du wahr, nicht nur in der Sache, sondern an Zeit- und Sozialverhalten? Das hat durchaus

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kontemplative Komponenten. Meine Erfahrung ist, dass für Führungskräfte gerade diese kontemplative Erfahrung völlig neu ist; auch mal zur Ruhe zu kommen, in Ruhe über etwas nachzudenken wird fast schon als luxuriös erlebt. Es geht nicht darum, das moralisch zu bewerten, sondern das funktional zu betrachten, im Sinne von Steuerbarkeit. M. H.: Herr Looss, herzlichen Dank.

Dr. Wolfgang Looss, Jahrgang 1943, Studien in Physik, Mathematik, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Wirtschaftspädagogik, Philosophie und Psychologie in Frankfurt/Main, Bochum, Bielefeld und Boston. 1970 Diplom-Kaufmann, 1977 Dr. rer. oec. Gruppendynamische und psychotherapeutische Ausbildung, vielfältige Fortbildung in Systemischer Familientherapie und Organisationsberatung. Arbeitete zunächst als Akademischer Tutor, Wissenschaftlicher Assistent und Dozent für betriebliche Ausbildung und Lehrerfortbildung. Seit 1980 auch international tätig als Verhaltenstrainer für Führungskräfte in Wirtschaft und Verwaltung, als Prozessbegleiter und Teamentwickler in Unternehmen (bei Strategieentwicklung, Restrukturierungen, Fusionen, Veränderungsvorhaben), als Beraterausbilder und Supervisor. Lehraufträge für Change Management und Organisationsentwicklung an mehreren Universitäten. www.looss-consult.de

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Bernd Schmid

Seele, Schuld und berufliches Handeln in Organisationen

Vorbemerkung Dieser Beitrag beschreibt Perspektiven nicht religiös oder konfessionell gebundener Bemühungen um Seele und um den Umgang mit Schuld im beruflichen Rahmen. Ausgehend von einem Coaching-Fall werden psychologische Betrachtungen organisations- und wirtschaftssystemkritischen gegenübergestellt. Strukturen, Prozesse und Kulturen in kleinen und großen Systemen begünstigen Seelenvolles oft machtvoller als individuelle Bemühungen. Über die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit hinaus sind hier Haltungen und Kompetenzen im professionellen Umgang damit entscheidend. Einige dabei wirksame Menschen- und Gesellschaftsbilder werden diskutiert.

Die Frage nach der Seele Ich möchte die Frage nach der Seele weder den Konfessionen noch den Religionen noch spirituellen Richtungen überlassen. Schließlich bin ich auch Psychologe, was trotz akademischer Ausrichtung ja doch »Seelenkundler« heißt. Ich habe nach ca. zwanzig Jahren Tätigkeit im Feld der Psychotherapie in den Organisationsbereich gewechselt. Doch haben sich dadurch meine Einstellungen geändert? Eigentlich nicht. Auch Menschen mit vorrangig professionellen Interessen bzw. in Organisationsverantwortung, zumindest wenn sie den Weg zu mir finden, sind an seelischen Dimensionen orientiert und sollten dies auch sein. Kaum jemand will vom Brot allein leben. Wenn etwas den Menschen vom Tier unterscheidet, dann das Bedürfnis, seinem Leben Sinn zu verleihen, das Faktische in einen Lebensmythos einzubinden. An ihrer Lebenserzählung stricken Menschen überall, ob dies nun offiziell angesagt ist oder nicht. Und so wünschen sich viele, dass Begegnungen auch in der Berufswelt seelisch getragen sind und Erfahrungen seelisch positiv berühren. Inwieweit dies möglich ist, hängt nicht nur vom individuellen Verhalten der Beteiligten im direkten Kontakt ab, sondern auch Strukturen, Prozesse und Kulturen in kleinen und großen Systemen begünstigen Seelenvolles mehr oder weniger und oft machtvoller als individuelle Bemühungen. Von der Seele einer Gemeinschaft, einer Organisation oder einer Gesellschaft zu sprechen muss daher keine falsche Verdinglichung sein. Zum Seelenheil unserer Zivilisation

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tragen nicht nur mein privates Verhalten, sondern auch Strukturen, Prozesse, Kulturen, Wirklichkeits- und Menschenbilder, Konzepte, Methoden, Geschäftsmodelle und Marktauftritte bei. Auf diese Dimensionen habe ich durch Tun und Unterlassen, durch Engagement und Kompetenz gestalterischen Einfluss. Insofern sorge auch ich für Beseelungen dieser Welten, bin Seelsorger, wenn auch ein weltlicher. Damit meine ich nicht, dass ich weiß, was Seele ist, doch versuche ich mich immer wieder neu kundig zu machen.

Gibt es bezüglich Seele unstrittige kulturelle Übereinkünfte? Fast jeder spürt, wenn ein Mensch beseelt ist. Das kann man auch von Situationen und Momenten sagen. Eine französische Seminarteilnehmerin sagte einmal: »Bei uns sagt man, ein Engel geht durch den Raum!« Und jeder wusste, wovon die Rede war. Allerdings muss man damit rechnen, dass anders sozialisierte Menschen dies nicht teilen können. Seele mag etwas Überkulturelles haben, doch zeigt sie sich in kulturellen Formen, in die man eingeführt sein muss. Selbst differenzierte und ergreifende kulturelle Formen anderer Gemeinschaften können dem Uneingeweihten unverständlich sein – wie mir es beispielsweise mit katholischen oder buddhistischen Ritualen ergeht. Die Beurteilung seelischer Qualitäten durch eigene seelische Resonanz kommt hier an ihre Grenzen. Dies birgt Verständigungsprobleme zum Thema seelische Qualitäten über verschiedene Kulturräume hinweg. Wo Empathie versagt, brauchen wir Haltungen für Toleranz. Welche Verständigungsebenen sind möglich? Liegen sie auf der Ebene von Hans Küngs Weltethos oder der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, deren Erklärung erst sechzig Jahre jung ist? Im psychologischen Bereich hat sich zum Beispiel C. G. Jung um eine Kartografie universeller archetypischer Symbolik bemüht. Solche universell zu akzeptierende Inhalte sind zwar Stoppschilder gegen Verbrechen an der Menschlichkeit und Wegweiser für das Bemühen um Humanität, doch bleibt das Ringen um situative, seelisch getragene Humanität auf dem schwankenden Boden individueller und gemeinschaftlicher Bedeutungsgebung. Letztlich sind wir für die individuelle Beseelung wieder auf ein subjektives Erfahren des Gemeinten zurückgeworfen. In Form innerer Resonanz offenbart sich Seelenwert unmittelbar.

Die Frage nach Schuld und Verantwortung Die jüdische Publizistin und Soziologin Hannah Arendt (1906–1975) nahm im Jahre 1961 in Jerusalem als Reporterin des »New Yorker« am Prozess gegen Adolf Eichmann, den Leiter des für die Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes des »Dritten Reichs«, teil. Daraus ging eines ihrer bekanntesten Bücher hervor: »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen« (1963). Darin hat Arendt die Bedeutung des Mitläufers für das Funktionieren des NS-Regimes

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beschrieben. In der breiten Masse fand sie keine Bestien. Aber sie fand jede Menge Menschen, die das System akzeptiert, von ihm profitiert haben und es zunehmend als Selbstverständlichkeit angesehen haben. Publikationen in jüngerer Zeit machen immer plausibler, dass die meisten wissen konnten, was gespielt wurde, wenn sie nur zwei und zwei zusammenzählen wollten. Also neben den Schurken sind es die Dulder, Profiteure und Mitläufer, die erst böse Systeme ermöglichen. Dabei will der Einzelne nicht so viel Böses bewirken und rechnet es sich auch nicht zu. Aber alle zusammen erzeugen es durch Unaufmerksamkeit, durch Inkompetenz, durch Duldung, durch Eitelkeit, durch Opportunismus und Vorteilsnahme und durch fehlenden Mut. Dabei geht es zunächst weniger um den Mut, sich existenziellen Entscheidungen zu stellen, sondern vielmehr um den Mut, den Anfängen zu wehren, die eigenen Spielräume positiv zu nutzen und dies anderen abzuverlangen. Genauso wie nach Arendt das Böse banal ist, ist es auch das Gute. Doch es will gewagt und in professionellen Rahmen gelernt und in täglicher Übung umgesetzt sein. Jeder hat Verantwortung und muss sich dieser stellen. Dies gilt auch gegenüber unserer heutigen Art des Wirtschaftens. Niklas Luhmann hat schon durch den Buchtitel »Die Wirtschaft der Gesellschaft« (1988) darauf hingewiesen, dass wir alle wirtschaften und an Wirtschaften beteiligt sind. Es gibt hier keine Position der Unschuld. Gern würde man als Saubermann dieser schnöden Welt entsagen und die Bösen irgendwo in der Wirtschaft sehen. Doch so wie jedes Volk die Regierung hat, die sie duldet, haben wir ein ruinöses Wirtschaftssystem, bis wir uns davon emanzipieren. Unschuld ist ohne massive Ausblendung von Zusammenhängen, in die jeder schicksalhaft eingebunden ist, auch gar nicht möglich. Manche sehen sich nur als Opfer, blenden aber ihre Mitwirkung am System völlig aus. In die Logik eines Michael Kohlhaas7 zu flüchten und sich fundamental zu verweigern, wäre bloß Flucht in die andere Richtung. Doch wie erwirbt und erhält man sich seine Spielräume und bringt sich in die Lage, ethisch verantwortlich handeln zu können? Sind Bemühungen um psychische Gesundheit, um das persönliche Seelenheil hinreichend? Diese Frage möchte ich an einem Fallbeispiel diskutieren.

Ein Coaching-Fall Mein Klient ist Geschäftsführer im Handel, Mitte vierzig, gut situiert, verheiratet. Nachdem es ihm vorher um seine Zukunft und neue Ziele gegangen war, möchte er in 7 In der Novelle »Michael Kohlhaas« (1810) von Heinrich von Kleist geht es pointiert um die Konfrontation zwischen Idealwelt und Wirklichkeit. Ein rechtschaffener Pferdehändler, dem Unrecht widerfahren ist, ruft die Gerichte an. Als er begreift, dass sein Widersacher von korrupten und einflussreichen Leuten geschützt wird, versucht er, sein Recht gewaltsam zu erzwingen. www.kleist. org/texte/MichaelKohlhaasL.pdf

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seinem dritten Coaching-Gespräch gern über Ängste sprechen. Er muss mit Lieferanten wie auch mit Abnehmern große Aufträge verhandeln. Und er leidet darunter, dass auf Abnehmerseite Verhandlungspartner mit herabwürdigenden Strategien auftreten nach dem Motto: »Sie sind für mich ein austauschbarer Lieferant, warum rede ich überhaupt mit Ihnen?« Insbesondere wenn ältere Herren ihm gegenüber so auftreten, ängstigt ihn das sehr. Er laviert sich da zwar immer wieder durch, aber es bereitet ihm auch schlaflose Nächte. Er fühlt sich gepeinigt und entwürdigt, wenn die andere Seite immer wieder versucht, ihn zu erpressen, ihn in eine unterwürfige Position zu drängen. Er sucht Auswege aus der Bedrängnis dieser so erlebten Situationen. Psychologische Fragen

Welche Betrachtungsweisen würden sein Repertoire anreichern und ihm mehr Gelassenheit ermöglichen? Ist das Verhalten der anderen Absicht? Vielleicht manövrieren sie sich und ihre Gegenüber in eine paranoide Beziehungsdynamik, ohne selbst zu verstehen, was geschieht. In einer paranoiden Beziehungsdynamik gesteht man sich Angst vor dem anderen nicht ein und prüft daher nicht wirklich, ob eine Bedrohung von diesem ausgeht. Stattdessen nimmt man selbst zu Stärkegebaren und unterschwelligen Drohhaltungen Zuflucht, um dem anderen Angst zu machen und damit vor dem befürchteten Angriff abzuhalten. Reagiert der andere auch paranoid, dann kommt es leicht zu paranoiden Eskalationen oder zu einem Gleichgewicht des Schreckens, nicht aber zu vertrauensvollen Geschäftsbeziehungen. Mein Klient entdeckt Ähnlichkeiten zwischen solchen Beschreibungen und den berichteten Situationen und nimmt sich vor, auf eigene Ängste zu achten und probeweise davon auszugehen, dass sein Gegenüber uneingestandene Befürchtungen hat. Er will Wege finden, sich und die Situation zu entspannen, also Wege aus der gegenseitigen Kontrolldynamik, aus der heraus jeder den anderen unterwerfen will, weil er sonst seinerseits Unterwerfung befürchtet. Täter-Opfer-Beziehungen

Darüber hinaus berichtet der Klient erschrocken, dass er seinerseits begonnen habe, seinen Lieferanten gegenüber unterwerfendes Verhalten zu zeigen. Irgendwie sei er anfällig für diese Art Stärkegebaren. Wir sprechen über Täter-Opfer-Beziehungen. Missbrauch schafft Missbrauch. Wer sich erniedrigt sieht, sucht Ausgleich gegenüber anderen Opfern. Durch Identifikation mit der Täterdynamik kommt man über die Schmach, Opfer zu sein, scheinbar hinweg. Das ist wie bei Dracula: Wer gebissen wird, wird zum Vampir. Oder anders formuliert: Opfer sind auch dadurch geschädigt, dass sie die Dynamik der Täter in sich aufnehmen und Neigungen entwickeln, sie auszuleben. Manchmal unverblümt, manchmal subtil mit Rechtfertigungen aus dem erlebten Unrecht. Doch: »Im Rechthaben verharren führt zu Unrecht!« (Schmid, 1998). Daraus folgt, dass erst die Auseinandersetzung mit der eigenen Tätermentalität, mit dem eigenen Vampirsein nachhaltig befreit.

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Auf seine Bitte hin versuchen wir zu klären, ob es von seiner Seite sonst noch mögliche neurotische Anteile an seiner Ängstlichkeit gegenüber diesen Geschäftspartnern gibt: Gibt es zum Beispiel einen ungelösten Vaterkonflikt? Wir finden heraus, dass sein Vater und sein Elternhaus recht liberal waren. Er scheint von daher nicht belastet zu sein. Allerdings hat er auch nie gelernt, dass manche mit harten Bandagen vorgehen, ohne dies wirklich feindselig zu meinen. Es gibt eben Leute, mit denen man sich erst mal prügeln muss, sozusagen als »Freundschaftstest unter Gassenjungen«. Vielleicht erschreckt er sich zu sehr, weil er sich mit solchem Milieuverhalten nicht auskennt. Wir leuchten das im Gespräch aus. Zumindest könnte er es mal mit einer solchen Betrachtung versuchen. Schattenintegration

Schamlose Ellenbogenmentalität hat ihn auch immer irgendwie fasziniert. Er findet, dass er zwar der charmante, gescheite, wendige Typ ist, dass ihm aber eine kraftvolle Macho-Seite in seiner Persönlichkeit fehlt. Er konnte diese Seite nicht ausbilden, weil sie ihm als Modell gefehlt hat. Er fände es toll, kraftvoll, sich gegenseitig spürend mit anderen in Kontakt zu treten, ohne bis aufs Messer zu kämpfen oder die Flucht anzutreten. Dass ihn die ganze Sache nicht loslässt, kann also damit zu tun haben, dass er von der Dominanz fasziniert ist, weil er selbst Dominanz aus seiner Persönlichkeit bzw. seinem Selbstverständnis verbannt hat. Ganz ohne gelebte, aber vielleicht nicht eingestandene Dominanz kann es ja wohl kaum abgegangen sein auf seinem Weg zum Geschäftsführer. Doch hat er die Erfahrung nicht gemacht, dass man einen Vater lieben kann, auch wenn er manchmal rau und ungehobelt mit einem umgeht. Und er begreift, dass es nicht immer um Unterwerfung gehen muss, sondern um kraftvollen männlichen Kontakt. In der Psychologie von C. G. Jung nennt man solche Ausblendungen eigener Neigungen Schattendynamiken. Eine Seite der Persönlichkeit findet keinen rechten Platz in der Persönlichkeit. Da die fehlende Ergänzung unbewusst gesucht wird, begegnet sie einem im Leben oder in Träumen in ihren ängstigenden und unentwickelten Varianten. Von daher muss es kein Zufall sein, dass jemandem immer wieder dieselben irritierenden Kräfte begegnen (Schmid, 2005b). Durch Anerkennen dieser Seiten als eigene werden konstruktive Begegnung und Entwicklung hochwertiger Varianten dieser Kräfte möglich. Integration abgespaltener Schattenanteile beginnt mit der Bereitschaft, »schwachen und hässlichen« Seiten der eigenen Seele zu begegnen. Im Lichte dieser wohlwollenden Aufmerksamkeit entwickeln sie sich zu annehmbaren, ja wertvollen Seiten der Persönlichkeit. Dadurch lösen sich Probleme, die durch Verweigerung, dem eigenen Schatten zu begegnen, entstehen. Soweit einige psychologische Erklärungsmöglichkeiten, die mein Klient nachvollziehen kann. Doch bleibt er auch bei der Vermutung, dass diese Verhandlungspartner das aggressive, herabwürdigende Verhalten nicht unbewusst produzieren, sondern als geplante Geschäftsstrategie.

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Solidarität

Es handele sich bei der Gegenseite um knallhartes Kalkül, absichtliche Drohgebärden sollen wirtschaftliche Vorteile erzielen. Wie kann er dem dann standhalten? Ich frage den Klienten nach seiner Rückendeckung in der Hierarchie seines Unternehmens: Vorausgesetzt, es handelt sich um Berechnung, dann will sein Gegenüber doch etwas von ihm, sonst bräuchte er doch erst gar nicht mit ihm zu sprechen. Für meinen Klienten und sein Unternehmen könnte die Angelegenheit auch zum kühlen Kalkül werden. Dann stellt sich die Frage, bis zu welchem Limit man als Unternehmen zu gehen bereit ist, jenseits dessen man nicht weiterverhandeln kann oder will. Wie der Klient beschreibt, heißt Rückendeckung bei ihm, mit den anderen im Unternehmen alle möglichen Faktoren zu besprechen und Rückzugslinien zu bestimmen. Aber klar ist, dass insgesamt ein befriedigendes Paket herauskommen muss. Wenn nicht, wackelt sein Stuhl. Hier ist nicht mit gemeinsam getragenem Risiko zu rechnen, sondern mit fehlender Solidarität bis hin zu unterschwelliger Bedrohung aus dem eigenen Unternehmen. Angesprochen darauf, ob diese Solidarität nicht Thema in seinem Unternehmen werden sollte, zeigt sich mein Klient resigniert: »Ich habe da schon einige Spielräume … Aber das System werde ich nicht ändern.« Meine spontane Antwort darauf lautete: »Wenn alle Leute ihre Spielräume nutzen würden, dann hätten wir dieses System nicht!« Wenn sogar der Geschäftsführer in seiner herausragenden und relativ mächtigen Position schon mit vorauseilendem Gehorsam zugange ist und ein System nicht hinterfragt, das vielleicht zum Selbstbetrug, zur Korruptheit, zur Brutalität und zum Ausnutzen von Machtpositionen, zum Wegdrücken von Folgekosten und zum Inkaufnehmen von Lateralschäden geradezu auffordert, sich nicht traut, wer dann? Auch wenn neurotische Gesichtspunkte mit eine Rolle spielen, ist anzustreben, dass er Verantwortung übernimmt. Sonst ist er vielleicht kein Schurke, doch aber Täter, zumindest ein Mithandelnder, ein Mitläufer. Spielräume in mafiösen Strukturen

Insoweit haben wir es möglicherweise nicht nur mit einem neurotischen Problem des Geschäftsführers zu tun, zumindest nicht in der Beziehung zu Geschäftspartnern, sondern eher mit einem mafiösen System, dessen Botschaft lautet: »Du gehst dahin und drehst das Ding! Du kannst einmal zurückkommen und es nicht geschafft haben, dann fehlt dir anschließend ein Fingerglied … Aber beim zweiten Mal ist Schluss.« Solche Logiken nicht infrage zu stellen, duldet Verhältnisse, die uns zum Beispiel die Finanzkrise in ihrem Ausmaß gebracht haben: Die einen setzen ohne nennenswerten Widerstand Ziele und andere glauben, mit allen Mitteln die Zahlen erreichen zu müssen. Managementmoden wie Führen durch Zahlenvorgaben lassen die Ausblendung von Inhalts- und Sinnfragen normal erscheinen. Man verkauft Finanzprodukte, die niemand wirklich versteht und verantwortet. Man kann damit aber Marge machen. Reicht das nicht, werden Zahlen geschönt und so weiter, oft aus nackter, häufig uneingestandener

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Angst. Hier fehlt eine Werterückendeckung, eine von den eigenen Autoritäten vertretene Linie, die vernünftiges von unvernünftigem, anständiges von unanständigem Wirtschaften trennt. Jeder hat in jeder Position Spielräume, die man nutzen kann: –– Man muss sich nicht reflexhaft mit einem System identifizieren, sondern man kann nachdenken, seine Schlüsse ziehen und handeln. –– Man kann auch Kompromisse machen, aber man sollte dann wissen, dass es welche sind und was die Alternativen wären – und sich daran erinnern, wenn die Gelegenheit zur Kurskorrektur da ist. –– Man kann auch seine Beweggründe anderen gegenüber darlegen und argumentieren, welche Folgewirkungen man sieht und warum man sie nicht akzeptieren mag. –– Man kann letztlich entscheiden, welchen Preis man für ein wertorientiertes Leben zu zahlen bereit ist. Wenn einen also die Angst befällt in einem solchen System, ist das nicht unbedingt nur neurotische Reaktion, sondern eigentlich eine gesunde. Coaching darf nicht dazu führen, dass ein Klient eine solch gesunde Reaktion nicht mehr zeigt. Wer in einem mafiösen System keine Angst mehr zeigt, ist das, was man psychotherapeutisch »charaktergestört« nennt.

Wirtschaftskultur korrigiert Sittenverfall Empörende Erscheinungen im globalen Wirtschaften häufen sich. Die öffentliche Diskussion dazu kommt endlich auf vielen Ebenen in Gang. Es gibt zum Beispiel Beschreibungen, die manche Arbeitsverhältnisse noch unter der Sklavenwirtschaft ansiedeln. Für Sklaven fühlten sich die Eigentümer wenigstens insofern verantwortlich, dass ihr Wert als Arbeitskraft erhalten blieb. In vielen Arbeitsverhältnissen sei nicht einmal das gegeben. Die Gambler haben nun auch zum Beispiel den Weltmarkt an Grundnahrungsmitteln entdeckt. Mit für die Realwirtschaft völlig unproduktiven Spekulationen werden Gewinne abgeschöpft, die Nahrungsmittel für viele Arme unerreichbar machen. Neben der Angst regieren Gier und Maßlosigkeit. Durch Bereicherung und Gleichgültigkeit der einen sterben andere. Nicht immer ist dies den Anlegern bewusst. Sie wollen nur gern hohe Renditen, machen sich aber nicht klar, wie diese erwirtschaftet werden. Schuldfähigkeit hat hier mit Aufgeklärtheit und Bildung zu tun. Doch es gibt auch die, die wissen, was sie tun. Wie kann man sie zur Verantwortung ziehen? Wenn auch Kontrolle derzeit meist nicht durchsetzbar ist, so sollten wir uns wenigstens um gesellschaftliche Ächtung bemühen. Dabei sollte man sich einerseits vor bequemen Stereotypen hüten, andererseits auch nicht vor jeder Rechtfertigung und jedem Schönreden kapitulieren. Insgesamt sind aber Manager sicher nicht besser oder schlechter als andere Menschen. Dadurch aber, dass sie in ihren beruflichen Rollen und gesell-

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schaftlichen Positionen oft größere Hebel betätigen, haben ihre Nachlässigkeiten, ihre Inkompetenz und fehlende Skrupel größere Auswirkungen als die von Privatpersonen. Ihre Sünden werden daher in der Öffentlichkeit zu Recht angeprangert. Zum Glück regen sich immer mehr Gegenkräfte gegen Sittenverfall und Seelenlosigkeit. Immer mehr Bürger und Politiker wollen wieder werteorientiert handeln. Ethische Erwägungen werden aber erst anspruchsvoll, wo sie über das Identifizieren von Fehlverhalten anderer hinausgehen und sich mit den systemischen Vernetzungen und der »Banalität des Bösen« auseinandersetzen.

Seelsorge für Akteure im Beruf Viele Menschen funktionieren einfach gemäß gemachter Vorgaben und erledigen ihr Tagesgeschäft. Dabei erleben auch Hochrangige ihre Spielräume fürs Nachdenken und schöpferische Beeinflussen der unternehmerischen Strategien der Organisationskultur als viel geringer, als man sich das von außen vorstellt. Daher glauben viele, auch Vorgänge ertragen oder mit gestalten zu müssen, die sie aus ihren privaten Werthaltungen heraus ablehnen würden. Und verlieren so ihre Skrupel: Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer. Den Rest macht die sich einschleichende Selbstverständlichkeit. Der Zusammenhang zwischen sich verselbständigenden wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und persönlichen Lebenshaltungen scheint in vielen Lebensbereichen zerrissen zu sein. Die Menschen reagieren darauf – psychologisch verständlich – mit einer Spaltung ihrer inneren Lebenswelt. Es entstehen Risse in der Persönlichkeit, die als Verlust an Integrität erlebt werden. Die Scham darüber wird abgewehrt. Sie wird nicht als wichtiges Signal erkannt, das an die eigenen menschlichen Möglichkeiten und ethischen Bedürfnisse erinnert. Diese Scham wird auch oft mit dem schmerzlichen Gefühl früher erlebter, unangemessener Beschämungen verwechselt und daher nicht als ein möglicher Schlüssel zur Selbstfindung und Wiederinanspruchnahme von Würde erkannt. Die Skrupellosigkeit im Wirtschaften erwächst aus dem Verlust von Würde. Daher ist es wichtig, Mechanismen in Organisationen zu untersuchen, die Menschen als Privatpersonen wie auch als Positionsinhaber entwürdigen. Wichtig erscheint uns eine persönliche Auseinandersetzung mit eigenen neurotischen Tendenzen, mit in Schattenbereiche abgedrängten Persönlichkeitsstrebungen, mit Fragen von Verantwortung und Schuld, jenseits von Hilflosigkeit und Omnipotenz. Nach Adorno gibt es kein richtiges Leben im falschen. Persönlichkeitsentwicklung und persönliches Lebensglück, aber auch ein dafür geeignetes Gesellschaftssystem nach humanistischen Maßstäben sind letztlich nicht ohne ethische Auseinandersetzung zu haben. Alle müssen ihren Weg zwischen Polaritäten und unklarem Ausgang finden. Schon eigene Wege durch Labyrinthe dieser Art zu finden ist nicht einfach. Es gibt kaum gerade Wege oder Wege, bei denen man nicht mit eigener Schuld und Verantwortung konfrontiert wird. Ethische Kompetenz ist auch nicht nur eine Frage des gewünschten Anstandes (Schmid, 1991), sondern eine Frage professioneller Kom-

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petenz. Wer etwas kann und im Unternehmen Gewicht hat, hat bessere Chancen, aber auch mehr Verantwortung, sich ethisch zu verhalten. Noch schwieriger ist das Definieren von Unternehmensstrategien, die für alle einen ethisch günstigen Rahmen schaffen. Neben persönlichem Bemühen sind dafür Unternehmenskultur als Teil von Unternehmensstrategie und Kulturkompetenz als Teil von Professionalität ernst zu nehmen.

Schritte zum Seelenheil Welches sind Schritte zum Heil? Es gibt keine Rezepte, sondern die Frage muss für jeden spezifisch und ganzheitlich aus seinen Lebensperspektiven gestellt werden. Ganzheitlichkeit in diesem Sinne brechen wir situativ auf die Frage nach einer der möglichen sinnvollen Ergänzungen an einer bestimmten Stelle auf dem Lebensweg herunter. Wir wissen also nicht, wie eine Persönlichkeit oder eine für sie heilende Entwicklung insgesamt zu beschreiben ist, doch an jeder Stelle im Prozess ist es in unserem Kulturrahmen doch möglich, zu einem Gespür für wesentlichere Schritte im Unterschied zu irreführenden oder unwesentlichen zu kommen. Wir ermutigen bei unserer Arbeit zu solchen situativen Wertungen, da ohne sie keine Entscheidungen über sinnvollen Ressourceneinsatz (inklusive Lebenskraft und Aufmerksamkeit) getroffen werden können. Dadurch entsteht so etwas wie eine Urteilfähigkeit, die einerseits den vielfältigen Spielarten des Lebens gegenüber aufgeschlossen und andererseits einer Wertegemeinschaft verpflichtet ist. Damit wir von einer solchen Werte- und Kulturorientierung nicht ins Sektiererische abrutschen, sind solche Begegnungen in ein partnerschaftliches diskursives Beziehungsverständnis eingebettet. Die Integrität einer solchen Gemeinschaft zeichnet sich eher durch ihre Kultur des Umgangs mit Wertung als durch einen inhaltlichen Kanon bestimmter Werte aus. Im Rahmen einer solchen Kultur kann und muss dann die Frage, was Heilung ist, immer wieder neu beantwortet werden. In Kreisen, die ungezügeltem Liberalismus das Wort redeten, und außerhalb religiöser Rahmen ist die Frage nach der Schuld aus den meisten Debatten verschwunden. Dies galt auch für die Szene der Systemiker. Daher soll zum Abschluss hier ein persönlicher Rückblick und Ausblick vorgetragen werden.

Wie gehen Systemiker mit Schuld um? In den 1970er und 1980er Jahren flüchteten sich nicht wenige Systemiker in Neutralität, was sie mit der Relativität von Wirklichkeit begründeten. Oder war es vielleicht eher umgekehrt? Flüchteten sich Werte- oder Bindungsunsichere, Rebellische und/oder »Belastete« in eine Neutralitätszone, für die sie systemische Rechtfertigungen nutzten? Von begeisternden Zeitgeistströmungen ergriffen erlaubte sich die Szene manche Naivitäten und Überheblichkeiten. Ich erinnere mich an die Kontextvergessenheit eines

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namhaften Systemikers, der Managern Neutralitätshaltungen predigte. Deren Einwände, dass sie dafür nicht bezahlt würden, hielt er für Anschauungsträgheit. Dann kam das Postulat »Handle so, dass sich die Anzahl der Optionen vergrößert!« (Heinz von Foerster) – eine Art Freiheitsmythologie, die mehr Freiheit von als Freiheit für betonte. Gut gegen Verengung von Evolution jeder Art. Unzureichend für die Orientierung in unserer Multioptionsgesellschaft. Schließlich merkte jeder, dass die Inflation von Deutungsmöglichkeiten und möglichen Zusammenhängen mehr zur (Bla, Bla) Blasenbildung als zum Verständnis beiträgt. Die Herstellung von intelligenter Übersichtlichkeit, von Handlungsfähigkeit und Verbindlichkeit wurde als Herausforderung wieder deutlich. Damit kehrte die Frage der wertegeleiteten Auswahl der Prämissen mit Implikationen und Konsequenzen zurück. Jede gewählte Wirklichkeit wird an der ausgesonderten Wirklichkeit schuldig. Manchmal dachte ich, das könnte man »Erbsünde« nennen. Doch das Wort Sünde passte nicht in die systemische Landschaft, schon der Begriff Schuld weckt oft empfindliche Reaktionen. Aber: Kein Grund zu schlechten Gefühlen, vielmehr zum Streit über Werte oder wenigstens Prioritäten. Der wirklichkeitskonstruktive Ansatz führte nach einer Phase der totalen Relativierung schließlich zum Bewusstsein, dass, wenn Wirklichkeit menschengemacht ist, Menschen eben auch eine besondere Verantwortung dafür haben, welche Wirklichkeit sie machen. Dies schließt Verantwortung für Mitmachen, Dulden, Profitieren, Unterlassen und Wegsehen ein. Wenn es um Verursachungszuschreibung geht, kann der systemische Ansatz davor bewahren, naiv zu sein. Auch wenn es darum geht, wie Menschen und Systeme zu verantwortlichem Handeln gebracht werden können, kann er zu intelligenten Lösungen beitragen, die komplexe Wechselwirkungen berücksichtigen. Doch bleibt auch Systemikern das Problem, inwieweit sie durch konstruktiven Pragmatismus üble Zustände stützen. Da rettet die Metaperspektive nicht vor Fragen des Schuldigwerdens. Was Schuld im strafrechtlichen Sinne betrifft, sehe ich die Systemiker zunächst nicht außerhalb unseres gesellschaftlichen Regelsystems. Die systemische Perspektive kann helfen, dieses zu überdenken, doch macht sie Schuldfragen eher komplizierter, weil Schuldzuschreibungen eben schwieriger werden. Auf dem Gebiet der Neurowissenschaften wurde ja sogar subjektiv verantwortliche Steuerung infrage gestellt – ein riesiges Problem für unser auf individueller Schuld aufbauendes Rechtssystem. Allerdings ist die Frage, ob Individuen oder Systeme schuld sind, ja nicht neu. Auch muss sorgfältig unterschieden werden, wo echte Skrupel bezüglich Schuldfragen am Werk sind und wo gern aufgewühlt wird, um sich selbst mit wohlfeilen Ansichten ins Rampenlicht zu bringen. Langsam besinnen sich klassische Wissenschaften wie zum Beispiel Philosophie oder Religion darauf, dass sie ohne Lufthoheit in Sachen metaphysischer Deutung auf Augenhöhe und allgemeinverständlich mitreden müssen, wenn ihre Anliegen bei den Gegenwartsmenschen ankommen sollen. Doch müssen auch wir vermeintlich systemisch Aufgeklärten von einigen Illusionen Abschied nehmen und erkennen, dass manche uns archaisch erscheinenden

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gesellschaftlichen Mechanismen durchaus hilfreich sein können. Lange glaubte ich persönlich zum Beispiel, eine Gesellschaft könne über das Wertemanagement der Individuen gesteuert werden. Heute meine ich wie unser Altbundespräsident Köhler, dass wir aus vielen Selbstverständlichkeiten des Anstands immer wieder herausdriften und aktiv etwas tun sollten, zu einem »So etwas tut man nicht!« zurückzukehren oder voranzuschreiten. Werteregeln und Selbstverständlichkeiten, die durch Bestätigung und Ächtung stabilisiert und notfalls hoheitlich durchgesetzt werden, helfen unserer gelegentlich wertevergessenen Gesellschaft. Wo es möglich ist, greifen wir natürlich gerne auf Bewährtes der Aufklärung, zum Beispiel auf den Kant’schen Imperativ (und dessen Vorläufer bei Konfuzius), zurück. Norbert Copray (2010) hat ihn so erweitert: »Handle so, wie du vom anderen behandelt werden möchtest, wenn du auf ihn angewiesen bist.« Abgesehen vielleicht von eher systemisch-tiefenpsychologischen Vertretern wissen Systemiker auch heute noch mit dem Schuldbegriff wenig anzufangen. Doch sollte Schuld wieder auf die Agenda genommen werden. Zum Beispiel gibt es die seltsame Erscheinung, dass Menschen, die etwas schuldig bleiben, sich in Rechtfertigungen und übersteigerte Ansprüche an andere flüchten. Wenn dies geradezu Suchtcharakter annimmt, dann ist die Umkehr schwer, weil man ja das eigene Schuldigbleiben anerkennen muss, um frei zu werden. In einer Art Offenbarungseid ist also Abschied von bedrückender Selbstgerechtigkeit mit Flucht in Ansprüchlichkeit angesagt. Auch viele Systemiker sind bei der Wirklichkeit der konkreten Verhältnisse und damit wieder beim Umgang mit Schuld angekommen (Glöckner, 2003). Es ist also Zeit, verstärkt den Dialog zwischen systemischen und anderen Perspektiven zu führen, ohne hintergründigen Herrschaftsanspruch einer beteiligten Weltsicht. Jedem Einzelnen und der Gesellschaft bleibt die Herausforderung, zwischen Dogmatismus und Beliebigkeit, zwischen Herrschaftsmoral und Verwahrlosung, zwischen anything goes und verbindlicher Werteordnung einen Weg zu finden und verantwortlich Dialog zu halten.

Schluss Da es bei Werten als Extrathema leicht zu sonntäglicher Ergriffenheit unter der Kanzel kommt, von der am Montag wenig bleibt, leisten wir am Institut für Systemische Beratung in Wiesloch unseren Beitrag dadurch, dass wir uns diesen Dimensionen im Rahmen konkreter beruflicher Fragestellungen und Identitätsbildung widmen. Dies hilft auch bei der Vermittlung zum Beispiel in Wirtschaftsunternehmen. Kompetent handelnden Menschen nimmt man Werteorientierung eher ab, da sie nicht als Ersatz für Leistung verdächtigt wird. Einem professionell Vertrauenswürdigen erlaubt man eher eine nachhaltige Orientierung, auch wenn sie auf Kosten schnellen Profits geht. Im Konkreten muss jeder seine Positionen immer wieder neu finden. Dabei kann eine systemische Perspektive und können systemische Kompetenzen bzw. eine entsprechende professional community mit Verantwortungs-Dialogkultur helfen. Das Grundproblem des Schuldigwerdens lässt sich damit nicht aus der Welt schaffen und wir

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werden weiter zwischen Hoffnung und Entsetzen pendeln. In der Spannung zu leben, dass Menschen human und grausam, Heilige und Teufel, Sensible und Abgestumpfte sein können, dass man mal in Revolution oder notwendiger Sintflut und dann wieder alltäglich in der Banalität des Bösen (Arendt, 1963) bzw. des Guten lebt, will ertragen und gelernt sein. Letztlich geht es vielleicht nicht um die Antworten, sondern um das Annehmen von Unbegreiflichem und von Hoffnung trotz Anlass zum Zynismus. Mir fällt eine tibetische Darstellung aus dem Buch »The mystic spiral« (Purce, 1980) ein: Über den Fluss des Lebens ist die Urschlange gespannt. Sie schlingt sich in der Flussmitte um eine Art Schneebesen oder Quirl. Auf der einen Seite ziehen die Teufel und am anderen Ufer die Engel in einem ewig währenden Tauziehen hin und her. Dadurch wird der Quirl in Bewegung gehalten und aus dieser Bewegung entsteht wiederum der Fluss des Lebens.8

Literatur Arendt, H. (1963/1986). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper. Copray, N. (2010). Fairness. Der Schlüssel zu Kooperation und Vertrauen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Glöckner, A. (2003). Frei von falschen Schuldgefühlen. Fehler erkennen – Selbstzweifel loslassen. Freiburg: Herder. Luhmann, N. (1988). Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Purce, J. (1980). The mystic spiral. Journey of the soul. London: Thames & Hudson. Schmid, B. (1991). Auf der Suche nach der verlorenen Würde – Kritische Argumente zur Ethik und zur Professionalität in Organisationen. Online-Zeitschrift perspektive: blau (02/2009). Zugriff am 1. 9. 2011: www.systemische-professionalitaet.de/isbweb/component/option,com_docman/ task,doc_download/gid,413/ Schmid, B. (1998). Arbeit mit geleiteten Phantasien und Trance. In B. Schmid, Systemisches Coaching. Konzepte und Vorgehensweisen in der Persönlichkeitsberatung (S. 123–130). Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie (EHP). Schmid, B. (2004). Systemisches Coaching. Konzepte und Vorgehensweisen in der Persönlichkeitsberatung. Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie (EHP) Schmid, B. (2005a). Organisationskultur und Professionskultur – Überlegungen zu Zeichen am Horizont. In B. Schmid, A. Messmer, Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung (S. 206–220). Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie (EHP). Schmid, B. (2005b). Störungen – Beeinträchtigung oder Entwicklungsanreiz? Erschienen in der LesBar des Carl-Auer-Verlags. Zugriff am 1. 9. 2011: www.systemische-professionalitaet.de/isbweb/ component/option,com_docman/task,doc_download/gid,541/ Schmid, B. (2010). Passungsdialog anhand innerer Bilder. In A. Rohm (Hrsg.), Change Tools. Bonn: Managerseminare Verlag. Schmid, B. (2008). Lösungsorientierte Traum-Inszenierungen – Übung im schöpferischen Dialog. In P. Röhrig (Hrsg.): Solution Tools. München: Managerseminare Verlag.

8 Weitere Texte, Video- und Audiodokumente des Autors zu diesem und anderen Themen als kostenlose downloads auf: www.isb-w.de. Der persönliche Blog von Bernd Schmid: www.blog. bernd-schmid.com

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Schmid, B. (2009). Die Würde des Managers ist antastbar – Wider das Mitläufertum im Coaching. Coaching-Magazin, 1, 50–54. Schmid, B.; Messmer, A. (2005). Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung. Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie (EHP).

Dr. Bernd Schmid, Jahrgang 1946, leitet seit 1984 das Institut für Systemische Beratung in Wiesloch. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie. Lehrtrainer verschiedener Gesellschaften im Bereich Psychotherapie, Coaching, Supervision, systemische Beratung sowie Organisationsund Personalentwicklung. Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft (SG), Präsidiumvorsitzender des Deutschen Bundesverband Coaching (DBVC), Hochschulrat der PH Heidelberg bis 2010, Preisträger des Eric Berne Memorial Award 2007 der Internationalen TA-Gesellschaft (ITAA) und des Wissenschaftspreises 1988 der Europäischen TA-Gesellschaft (EATA). Seine Essays zu persönlichen und professionellen Themen können kostenlos abonniert werden unter www.blog.bernd-schmid.com www.isb-w.de

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II Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

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Michael H. Beilmann und Gillen Kalverkamp

Wie erleben wir die spirituelle Dimension im Coaching? Ein Erfahrungsbericht

Bloße Worte gleichen Treibsand. Die Erfahrung ist das einzige Seil, das uns zugeworfen wird. Georges Bataille

Über eine spirituelle Dimension im Coaching schreiben zu wollen, scheint uns extrem schwierig, da es doch darum geht, etwas zur Sprache bringen zu wollen, was im Grunde kaum sagbar ist. Obwohl wir wissen, dass Worte die Weite und Tiefe von Spiritualität und Spirit9 begrenzen oder unzureichend beschreiben, sind die hier ausgeführten Gedanken ein sprachlicher Versuch, wesentliche Aspekte einer spirituellen Dimension im Coaching zu formulieren. Unser Ziel ist es – auch unabhängig vom Coaching –, mehr Lebenstiefe zu spüren und aus mehr Lebenstiefe heraus zu handeln. Dies beeinflusst auch unsere Wahrnehmung und Interventionen in Coachings mit der Absicht, Erkenntnisgewinne und die daraus abzuleitenden Handlungsoptionen für den Coachee zu bereichern. »Lebenstiefe« bedeutet für uns, den Fokus im Leben über das hinaus zu führen, was uns im Außen in materiellen oder strukturellen Formen erfahrbar wird. Das heißt, uns auf die innerlichen Perspektiven der Welt einzustimmen und diese explizit in den beruflichen und persönlichen Alltag – und damit auch ins Coaching – mit einzubeziehen. Dies integriert Emotionen, Sinn, Werte und auch Spiritualität. Wo vorrangig oder ausschließlich nur äußere Welt berücksichtigt wird, spricht Ken Wilber (1995) von Flachland. Dahingegen spricht er von Transformationsprozessen, wenn Entwicklung in die Tiefe der Erfahrung geht – in Abgrenzung zu Translationsprozessen, wenn lediglich eine Erfahrungsebene quantitativ vergrößert wird, also zum Beispiel immer mehr Materielles haben zu wollen.

9 Spiritualität bedeutet hier einen »bewussten, erfahrbaren Bezug zum Jenseitigen […] und ist insofern eine Weiterentwicklung der Religiosität, als sie diese Konzeptualisierungen von Jenseits und Diesseits nun erfahrbar, und zwar bewusst erfahrbar macht« (Galuska, 2004, S. 11). Spirit bedeutet »wenn der Einzelne in seinem Handeln authentisch erscheint und das Handeln auch das größere Ganze einbezieht, indem es ihm dient« (Assländer, 2004, S. 209).

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M. H. Beilmann und G. Kalverkamp: Wie erleben wir die spirituelle Dimension im Coaching?

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Spirituelle Dimension – allgemein Ich blicke auf alles, was so wild und vertrauensvoll unter dem Himmel wächst, und frage mich, warum gerade wir der eine fruchtbare Teil der Schöpfung sind mit dem Recht, unser Blühen zu verweigern. David Whyte aus »The Sun«

Unserer Ansicht nach ergänzt eine spirituelle Dimension die Dimensionen des Denkens, der sinnlichen Wahrnehmung, der Emotionen und der Vorstellungen. Es geht nicht darum, eine neue Dimension zu kreieren, sondern etwas Verborgenes zu entdecken bzw. weiterzuentwickeln. Dabei geht es nicht um eine Ebene von Machen und Machbarkeit, sondern viel mehr um einen Prozess des Findens. So wie man beispielsweise seine Liebe zwar gezielt suchen kann, so steht doch das Finden – also das Entdecken – jenseits planvollen Handelns. Voraussetzung für das Finden ist jedoch, empfangsbereit zu sein, vor allem auch empfangsbereit für ein Erleben jenseits bekannter Erfahrungsräume. Wenn beispielsweise jemand noch nie einen Pfirsich gegessen hat, so wird die Erfahrung des ersten Bisses gewiss anders sein als all das, was er zuvor gekostet oder sich – aufgrund von Beschreibungen oder Interpretationen – vorgestellt hat. So geht es auch bei der spirituellen Dimension gewissermaßen um eine Verknüpfung von Absicht, aktivem Handeln (z. B. auch aktives Warten, Zu-Hören) und Wissen zu einer Bereitschaft, sich auf Empfangen für neue Erfahrungen einzustellen. An dieser Stelle eine Sequenz aus dem Führungsalltag: In einem Teamentwicklungsprozess einer vierzigköpfigen Belegschaft wurde im Rahmen eines PercussionWorkshops ein nie zuvor gehörter, gewissermaßen in Verborgenheit versunkener, und doch existierender gemeinsamer Ton erzeugt. Ein Ton, ein Tonerlebnis, das jenseits des Machens einen Spirit hervorbrachte und das Wir-Gefühl, die Chemie zwischen allen Beteiligten spürbar werden ließ und auch stärkte.

Die spirituelle Dimension im Kontext des Coaching Es ist die Aufgabe unseres Zeitalters, die Menschheit in ihrer Ganzheitlichkeit wiederzuerkennen – jeder einzelne von uns als ein Wesen aus Seele, Geist und Körper –, ohne das Wissen, das wir durch die Wissenschaft erlangt haben, über Bord zu werfen. Robert Fulford (1905–1997)

Auch speziell im Coaching-Prozess wird uns immer deutlicher, wie sehr das Bewusstsein des Einzelnen den Kontext zu einer spirituellen Dimension bestimmt. Was heißt das ganz praktisch? Je nach Persönlichkeit suchen einige Coachees nach ganz konkreten

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Lösungen für ihre Themen. Andere wiederum spüren innerlich verdeckte Wirkmechanismen – bezüglich des zu bearbeitenden Themas – und möchten diesen auf den Grund gehen, um daraus dann Veränderungen oder Lösungen abzuleiten. Grundsätzlich wird der Kontext, in dem wir uns dabei bewegen – über die menschliche und professionelle Begegnung hinaus –, unter anderem durch die Faktoren Raum und Zeit determiniert. Zum Faktor Zeit gehören, neben Aspekten der chronologischen Zeit, die jeweilige Zeitqualität jedes Einzelnen (z. B. Bilder vom Manager im Hamsterrad oder dem Meditierenden auf Sinnsuche), die subjektive Eindrücke von Zeitdruck, Zeitsouveränität oder Zeitver(sch)wendung vermitteln. Darüber hinaus ist die individuelle Zeitqualität auch bestimmt durch den vorherrschenden Zeitgeist des 21. Jahrhunderts, der geprägt ist von zum Beispiel Globalisierungs- und Nachhaltigkeitsdebatten, Werteverschiebung oder demografischem Wandel. Zum Faktor Raum gehören ebenfalls verschiedene Aspekte. Zum Beispiel eine westliche Welt in einer eurozentristischen Währungs- und Wirtschaftskrise in einer globalisierten marktwirtschaftlich orientierten Welt wirkt hierzulande anders als aus chinesischer Perspektive. Auch unsere christlich-abendländisch geprägte Kultur ist (noch) das Zentrum unseres kollektiven Bewusstseins hierzulande. Neben diesen weltumspannenderen Raumdimensionen wirkt natürlich auch das individuelle Erleben des Lebensraumes eines jeden am Coaching-Prozess Beteiligten ein sowie auch jener Raum, in dem das Coaching stattfindet. Weiterhin bestimmt die Haltung, die ein Coachee – und gleichermaßen auch ein Coach – einnimmt, auf ihre Denk- und Verhaltensweisen; ebenso auch das Setting, in dem das Coaching stattfindet. So hat das subjektiv mehr oder weniger intensive Wohlgefühl, das Raum und Setting im Coach und Coachee erzeugen, Einfluss auf das Coaching selbst. Das wird leicht vorstellbar, wenn man sich vor Augen führt, wie unterschiedliche Raumqualitäten empfunden werden können, weil die Wahrnehmung und Bewertung beispielsweise der empfundenen Temperatur, Ästhetik oder Naturverbundenheit differieren. An dieser Stelle ein Rückbezug zum oben erwähnten Percussion-Workshop: Der gemeinsam erzeugte Ton – inmitten der Helligkeit einer Lichtung auf einem Hochplateau – bei lauer Sommernacht wirkt(e) anders nach, als wenn er beispielsweise die neonbeleuchtete Werkshalle in ihrer funktionalen Nüchternheit durchtönt hätte.

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M. H. Beilmann und G. Kalverkamp: Wie erleben wir die spirituelle Dimension im Coaching?

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Entwicklung von Bewusstseinsstufen Da ist ein Faden, dem du folgst. Er führt mitten durch Dinge, die sich verändern. Er selbst jedoch ändert sich nicht. Die Leute fragen sich, wonach du strebst. Dann musst du vom Faden sprechen. Doch andere verstehen es nur schwer. Während du den Faden hältst, kannst du nicht verloren gehen. Tragödien ereignen sich; Menschen werden verletzt oder sterben, und auch du leidest und wirst alt. Die Zeit entfaltet sich. Du kannst nichts dagegen tun. Lasse niemals den Faden los. William Stafford in »The way it is«

Zusätzlich zu den Einflüssen von Zeit, Raum und Haltung im Coaching-Setting beeinflussen vor allem auch die unterschiedlichen Bewusstseinsstufen den Coaching-Prozess maßgeblich. Sie bestimmen so die Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen in Bezug auf das jeweilige Thema und nicht zuletzt auch auf die spirituelle Dimension. Das Modell des Ich-Wir-Pendels (vgl. Küstenmacher et al., 2010) mit seinen einzelnen Ausprägungen und Interpretationsoptionen hilft uns, die entstandenen Prägungen eines jeden Einzelnen leichter zu verstehen. Es veranschaulicht die Bewusstseinsstufen, die sich im Zuge der Evolution herausbildeten. Daraus gewinnen Coach und Coachee zunehmend mehr Klarheit darüber, aus welchen Bewusstseinsstufen heraus persönliche und kollektive Themen, Konflikte als auch Verhaltensweisen zustande kommen. Das Modell des Ich-Wir-Pendels skizziert den Lauf der Evolutionsgeschichte des Menschen (die Farbangaben basieren auf dem Modell »Spiral Dynamics«, entwickelt von Don Beck und Christopher Cowan, 2007). Im Laufe menschlicher Evolution dominierten je nach Zeitepoche die aus dem Egoismus (Ich-Stufen) heraus geprägten einzelnen Stufen. Da sich Kontext stetig wandelt, entwickelten sich auch verschiedene dominierende Wir-Stufen, wobei unsere Vorfahren somit entsprechend ihrer Bewusstseinsstufe auch ihre spirituelle Dimension entwickelten. Je nach Kontext von Zeit und Raum herrschte zum Beispiel die Macht des Stärkeren (Ich – rot), die Macht der Religion (Wir – blau) oder die Macht des Wissens (Ich – orange) vor. Da sich jede Stufe in einem jeden von uns befindet, bewerten, konzipieren und verhalten wir uns als Mensch – je nach Kontext, persönlicher Stimmung oder situativer Bewertung eines Moments – individuell verschieden. So wirkt manchmal eher ein Wir-Bezug (Beziehungen, Wunsch nach Zugehörigkeit oder Gemeinschaft) als Antriebsfeder für Handlung. Zu einem anderen Zeitpunkt lenkt eher ein Ich-Bezug (Wunsch, Themen allein anzugehen und zu lösen) die Wahrnehmung und Interpretation des Moments. Je nach Erfahrungskontext des Coachee nutzen wir Aspekte des Ich-Wir-Pendels für unsere Interventionen. Inwiefern der Bewusstseinsstand von Coach und Coachee maß-

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Abbildung 1: Modell Ich-Wir-Pendel

geblichen Einfluss hat auf den Coaching-Prozess, zeigt sich vor allem dadurch, inwieweit der Coach verschiedene Bewusstseinsstufen integriert hat. Denn eine authentische und förderliche Begleitung kann nur gelingen, wenn der Coach die Bewusstseinsebene des Coachee nachvollziehen kann. Durch die Offenheit und Bereitschaft des Coach für Aspekte der spirituellen Dimension als auch durch seine Bewusstseinsentwicklung besteht die Möglichkeit für den Coachee, sich den Impulsen des Coach zu öffnen, um daraus für sich neue und verbesserte Handlungsoptionen zu entwickeln. Was heißt das konkret? Hierzu nun drei Beispiele: –– Ein Coachee, der darauf wartet, dass jemand anderes eine Regel aufstellt, entspricht in jener Situation jemandem, der einer äußeren Wir-Struktur gehorcht (Ebene Wir – blau). Ein Fall aus meiner Führungspraxis war beispielsweise ein Mitarbeiter, der nichts damit anfangen konnte, als ich ihm Freiraum zur Führung gab. Er wollte und brauchte Anweisungen, die er befolgte. Er befolgte mehr Abhängigkeit, als ich ihm an Autonomie zubilligen wollte. Meine Impulse, sich diesbezüglich für eine weitere Bewusstseinsstufe zu öffnen, konnten von ihm nicht angenommen werden. –– Ein mitfühlend ausgerichteter Coachee (Ebene Wir – grün), der sich empathisch in andere hineinfühlen konnte, wurde über diese seine Kompetenz zum facettenreichen Problemkenner. Durch die bewusste Erfahrung seiner spirituellen Dimension konnte er im Coaching erfahren, wie er seine Wahrnehmung auch in die Tat umsetzen konnte, indem er dem folgte, was er einfühlsam wahrnahm.

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–– Ein Coachee wollte ein Problem bezüglich seiner Aggression (Ebene Ich – rot) lösen. Für ihn galt als vorrangige Maxime, »seine« persönliche Lösung – und zwar jetzt sofort – zu erreichen. Ihm war jede Verbalattacke recht, um den anderen für sein Ziel gefügig zu machen. Auf solch einer Bewusstseinsstufe ist der Coach eher gefordert, über eine gemeinschaftliche Werteorientierung eines Zusammenlebens (Ebene Wir – blau) das Coaching zu gestalten.

Differenzierung von Perspektiven auf das Selbst Wie kann man jenen Teil des Selbst verstehen, der selbst versteht? Upanischaden II, 4, 14

Gehen wir noch einen letzten Schritt weiter. Je nach Bewusstseinsstufe im Modell des Ich-Wir-Pendels erleichtern die vier zentralen Perspektiven des integralen Modells, angelehnt an Ken Wilber (1995), das Vorgehen im Coaching-Prozess.

Abbildung 2: Die vier persönlichen Perspektiven im Integralen Modell10 10 Grundlegende Werke dazu von Ken Wilber (1995) und Bezeichnungen der Perspektiven nach Galuska (2011).

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Nehmen wir wieder ein praktisches Beispiel. Ein Coachee war mit einem Bandscheibenvorfall über Wochen krankgeschrieben und sorgte sich um seine Zukunft. In einigen Sitzungen ergründeten wir anhand des Perspektivenmodells gemeinsam sein persönliches Verständnis zum Leben und seine persönliche Bedeutung im Leben. Er war bereit, einen neuen Weg zu gehen. Wir horchten in die Stille, nutzten die Natur als Spiegel seiner Seele und strukturierten rational seine Lebensmodelle um. In diesem Prozess wurden ihm zwei wesentliche Aspekte deutlich: –– Es gibt zwei Perspektiven des Ichs (Bereich A): das persönliche Bewusstsein mit einer inneren Selbstführung und persönlichem Selbstmanagement, und es gibt –– zwei Perspektiven des Wir (Bereich B), des kollektiven Bewusstseins, mit kollektiv geprägten Wertvorgaben und Selbstorganisation in strukturellen Rahmenbedingungen. Beide Perspektiven bedingen sich gegenseitig und ermöglichten dem Coachee mit seinem Problem (keine Aufgabe mehr durch seine Krankheit), sich eine innere neue Aufgabe (sich dem Leben anzuvertrauen und daraus zu agieren) zu geben. Er definierte dies persönlich als einen exzellenten nachhaltigen Erfolg des Prozesses, den er vor allem durch Loslassen von Altem und Gewohntem begründete als auch durch Aspekte einer spirituellen Dimension. Denn vor allem durch sein Zulassen von Erfahrungsräumen, die über seinen bisherigen egozentrischen Lebensrahmen hinausgingen, spürte er einen neuen Geschmack und Blick auf das Leben. Ihm wurde klar, dass er –– bisher allein durch die Außenperspektive auf externe Strukturen und Handlungen (Bereich D) versuchte, Lösungen zu finden, und dass er –– die Innensicht (Bereich C), seine Einstellung, seine kollektiven Werte, vollkommen außer Acht ließ.

Die Wahrnehmung von Coach und Coachee Wenn wir unser Leben auf einen einzigen Denkrahmen beschränken, sperren wir das Geheimnis aus. John O’Donohue

Mit den ausgeführten Aspekten zu Kontext und Bewusstsein treffen somit ein Coachee (als Funktionsträger z. B. aus einem Wirtschaftsunternehmen) und ein Coach (ebenfalls ein Funktionsträger [s]eines Unternehmens) aufeinander, um für eine Fragestellung des Coachee befriedigende Antworten oder Lösungen zu finden. Jeder bestimmt für sich das Maß von Absicht und Öffnung zur spirituellen Dimension: die Absicht zu haben und bereit zu sein, Aspekte einer spirituellen Dimension wahrzunehmen, und sich selbst offen in den Coaching-Prozess einzubringen, erleichtern drei ausgewählte Aspekte.

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1. Bitten: Es stellt sich tagtäglich immer wieder neu die Frage, ob wir in der Lage sind, uns für neue und andere Wirklichkeiten zu öffnen und uns bewusst auf Empfang zu stellen für die Wahrnehmung neuer Erkenntnisse. Dieser Prozess kann nicht durch Anstrengung oder Forderung entstehen, sondern vielmehr ist es hilfreich, um neue Erkenntnis zu bitten, sie einzuladen und sich bereit zu machen für das, was sich zeigt. Nicht im Sinne eines Nachdenkens oder Nachjagens, sondern eher im Sinne von Annehmen oder sich Hingeben an das, was im Moment ist. Bei dieser Form des Bittens geht es also um ein bewusstes sich Öffnen im Sinne eines aktiven Wartens. In einem Bild gesprochen: so wie ein Schmetterling sich nicht in Sichtweite niederlässt, wenn man ihm nachjagt, sondern allenfalls, wenn man selbst zur Ruhe kommt und aufmerksam abwartet, was geschieht. Allenfalls so setzt sich ein Schmetterling auf die Schulter. 2. Aufmerksamkeitslenkung: Dies ist eine sehr einfache konzentrative Methode, die wir mit einem Beispiel verdeutlichen. Beim Abstieg nach einer wunderbaren Wanderung in den Dolomiten nahm ich plötzlich wieder einen Stein wahr, der mir beim Aufstieg zwar aufgefallen, aber dem ich ansonsten keinerlei Bedeutung verlieh. Als ich ihn beim Abstieg zwar erneut wahrnahm, ging ich wieder an ihm vorbei. Doch plötzlich ließ mich ein Einfall stoppen und umkehren, und ich nahm den weißen herzförmigen und von Wasserrillen überzogenen Stein mit ins Tal. Indem ich meine Aufmerksamkeit auf den Stein lenkte, offenbarte sich mir eine für mich ungemeine Schönheit, die mich noch heute bei jedem Anblick dieses Steines beglückt. So lag es in meiner Entscheidung, meine Wahrnehmung über diesen wunderbaren Stein in meinen Erfahrungsschatz aufzunehmen. Gewissermaßen durch eine Aufmerksamkeits(um-)lenkung, die einem inneren Impuls folgte, gab ich jenem Stein meine Bedeutung. Ich oder etwas in mir lenkte meine Aufmerksamkeit auf etwas (Neues), was mir im ersten Moment selbst nicht bewusst gegenwärtig war. Zuvor war dieser Stein lediglich ein Stein unter vielen. Jetzt ist er unmerklich mein Stein geworden, auf den ich meine Aufmerksamkeit bewusst lenke, indem ich ihn oft wieder in Händen halte, ihn haptisch erfahre und dadurch mein Denken und Fühlen inspirieren lasse. Ich kann diesen Stein mal als Herz oder auch als Stolperstein erleben, der mich aus dem herauskatapultiert, mit dem ich körperlich, geistig oder seelisch gerade identifiziert bin. 3. Synchronizitäten: Die spirituelle Dimension umfasst auch Phänomene von Synchronizität. Für die einen sind Synchronizitäten Wunder der heutigen Zeit, für andere ein wahrgenommenes, doch nicht logisch nachvollziehbares Phänomen von Zeitgleichheit, das vordergründig nichts mit einer jeweiligen Coaching-Situation zu tun hat oder zu tun zu haben scheint. Dennoch wahrgenommen, erregen sie Aufmerksamkeit und sie vermögen – bewusst verfolgt – den Prozess in völlig andere Richtungen zu lenken. Dabei geht es nicht um eine Beliebigkeit, jeder wahrgenommenen Synchronizität zu folgen. Es geht vielmehr darum, mit Achtsamkeit und Respekt zu prüfen, ob dem jeweils wahrgenommenen Phänomen eine Botschaft

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

zu entlocken ist, die dem Coachee dienlich ist. Dazu bedarf es wieder der Entscheidung, die Aufmerksamkeit dort hinzulenken, in der Absicht, das Wahrgenommene gewissermaßen als Lehrer im Umgang mit dem gegenwärtigen Thema im Coaching begreifen zu wollen. Dies ist umso mehr der Fall, wenn Synchronizitäten gewertet werden als »Ordnungsprinzip von Energie« (McKenna, 2007, S. 238). Nach unserem Verständnis bereichern die ausgewählten Aspekte (Bitten, Aufmerksamkeitslenkung und Synchronizitäten) die Qualität der Coaching-Prozesse. Neben der persönlichen Fach- und Sozialkompetenz und über die bekannten Coaching-Werkzeuge hinaus schaffen wir dadurch einen adäquaten Kontext, indem sich vor allem Vertrauen in die Situation und in den Coach entwickelt, das auch das Selbstvertrauen des Coachee fördert. Auch wenn es so wirkt, als ob eine spirituelle Dimension oft entdeckt werden muss und gleichzeitig gewissermaßen auch unerkannt bleibt, wird erlebbar, dass etwas außerhalb von Denken, Fühlen und Handeln wirksam ist, ohne dass der Coach oder Coachee dieses Etwas wirklich begreifen kann. So geht es unseres Erachtens vornehmlich darum, uns bereit zu machen, um subtile Impulse und Erkenntnisse zu empfangen und wahrzunehmen. Um einen Coaching-Prozess in Fluss zu bringen und zu halten, braucht es auch die Kompetenz zur Fokussierung dessen, was wachsen will. Dabei ist auch wichtig, sich bewusst zu machen, dass Widerstand oder Anstrengung ebenfalls Ausdruck eines vielleicht unliebsamen Aspektes von Leben zu sein vermag. Man sagt: What you resist, persists! Wer also Fließen und Entwicklung will, muss auch entsprechend darauf seinen Fokus lenken, statt an Widerständen oder Angst zu kleben. Wenn jedoch die persönliche Kraft nachlässt oder Angst vorherrscht, entstehen gewissermaßen Stauwehre im Fluss eines Coaching-Prozesses. Diese zu lösen, gelingt oftmals leichter oder überhaupt in einer bewussten Haltung von Vertrauen auf die Kraft der spirituellen Dimension. Schwere, Dunkelheit und Angst als empfundener Ausdruck von Begrenzungen und Blockaden werden wieder in Bewegung gebracht, so dass mitunter ein Erleben von Flow entsteht. Auch der Zustand eines Flows – im Sinne eines Empfindens von Einssein mit dem Moment – vermag als Ausdruck spirituellen Erlebens interpretiert werden. Wie bei allen spirituellen Erfahrungen gilt auch beim Flow, dass er nicht herstellbar ist, sondern allenfalls Bedingungen geschaffen werden können, die ihn möglicher werden lassen. Im Coaching-Prozess geht es also weniger darum, welche Erfahrung der Coach oder der Coachee mit den Zwischenfällen des Lebens macht, sondern was er mit den Erfahrungen macht. Grundsätzlich hat jeder Mensch hat die Wahl, seinen Wahrnehmungen Aufmerksamkeit zu schenken oder sie zu ignorieren. Die Bereitschaft, auf eine innere Wahrnehmung achtsam und respektvoll zu fokussieren und so ihre Botschaft zu entlocken, öffnet einen nach Erleichterung/Lösung strebenden Menschen für neue Erfahrungen. Solche Erfahrungen manifestieren sich über Intuition oder verschaffen sich durch die Stimme des Herzens Ausdruck. Im oben zitierten Sinne von Georges

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Bataille sind es eben die Erfahrungen, die uns als einziges Seil zugeworfen werden, um in unseren Auf- und Abstiegen im Leben als Orientierungsmarker oder Entwicklungsimpulse zu dienen. Wir entscheiden, ob oder wie wir sie nutzen.

Ausblick Anstatt immer nur das Beste zu wollen, sollten wir einfach anfangen, etwas Gutes zu tun. Thornton Wilder

Ausgehend von der Weisheit, dass alles Große durch die Stille geht, stellt sich uns die Frage, inwiefern durch das sich Einlassen auf die Kraft der Stille und des Zuhörens auch unternehmerische und gesamtgesellschaftliche »Erfolge« zu generieren sind. Angenommen, wir hätten die Bereitschaft und Fähigkeit, eine spirituelle Dimension weit über die Ebene von Coaching-Prozessen und individuellen Lebensbezügen weiterzuspinnen, so würde schöpferischen Prozessen in vielen weiteren Arbeits- und Lebensbereichen mehr Raum gegeben. Das hieße konkret, die Absicht und Offenheit für die Einbeziehung einer spirituellen Dimension würden auch die Schaffenskraft von Unternehmern, Führungskräften und Mitarbeitern qualifizieren bzw. gegebenenfalls entscheidend verändern. Dies könnte durchaus aus bisherigen Utopien von Ökonomie, Ökologie und Sozialem bedeutend mehr faktische Erfahrungen werden lassen.

Literatur Assländer, F. (2004). Spiritualität oder »Spirit« in Unternehmen – Was können Systemaufstellungen dazu beitragen? In J. Galuska (Hrsg.), Pioniere für einen neuen Geist in Beruf und Business. Bielefeld: Kamphausen. Beck, D., Cowan, C. (2007). Spiral dynamics. Bielefeld: Kamphausen. Galuska, J. (2011). Vortrag vom Kongress des Spiritual Venture Network. Bad Kissingen, Oktober 2011. Unveröffentlichtes Manuskript. Küstenmacher, M., Haberer T., Küstenmacher W. T. (2010). Gott 9.0. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. McKenna, J. (2007). Spirituelle Dissonanz. Aachen: Omega Verlag. Wilber, K. (1995). Eros, Kosmos, Logos. Frankfurt a. M.: Fischer.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Michael H. Beilmann. Nach langjähriger Selbständigkeit sowie verschiedenen Führungs- und Projektleiterfunktionen setzt er als externe Projektleitung strategische, vertriebsorientierte Projekte(-ideen) um. Mit kreativem und potenzialorientiertem Pragmatismus entlastet er Unternehmer und Manager von nachhaltig und sozial ausgerichteten Unternehmen. Sein integraler Arbeitsansatz – auch in der Funktion als Coach – speist sich aus Achtsamkeit wie auch aus der Kraft der Natur. Das Anliegen des Autors ist es, auch schon während Studienzeiten, Welten zu verbinden. Dafür initiiert er auch selbst immer wieder neue Projekte (Sozialmarketing, CSR, Spiritualität in der Wirtschaft, Elektromobilität etc.). www.michaelbeilmann.de Gillen Kalverkamp, Diplom-Pädagogin, seit 2001 Inhaberin der Praxis für Coaching und Gesundheit. Im Rahmen ihrer integralen Resilienzberatung fokussiert sie in ihren Coachings, Workshops und Vorträgen die Themen Entspannung, Stressmanagement und Mentaltraining sowie das Themenfeld einer gesunden Ernährung. Neben Einzelpersonen nutzen auch Unternehmen ihre Angebote, um bedarfsspezifische, businesstaugliche und wirksame Maßnahmen der Burnout-Prävention bzw. einer gesunden Führung zu entwickeln. Seit 2010 lebt sie in Krefeld. www.gillen-kalverkamp.de

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Anke Handrock und Eckhard Roediger

Die spirituellen Aspekte der Schematherapie und ihr Bezug zum Coaching-Prozess

Im Feld der Psychotherapie nimmt die Schematherapie eine sehr dynamische Entwicklung. Sie wurde Anfang der 1990er Jahre von Jeffrey Young in den USA entwickelt, um Patienten besser helfen zu können, die durch ihre Persönlichkeitsstruktur nicht optimal bei der Verhaltenstherapie ihrer Depression mitarbeiten konnten (Young et al., 2005.) Dazu entwickelte Young ein umfassendes Störungsmodell, ausgehend von unbefriedigten Grundbedürfnissen. Weiterhin beinhaltet das Therapiemodell eine besondere Form der Beziehungsgestaltung. Außerdem integrierte Young diverse erlebnisaktivierende Techniken aus anderen Therapieformen (Einführung bei Roediger, 2009). Das Modell, dass durch Grundbedürfnisverletzungen negative emotionale Schemata angelegt wurden, die dann zu automatisierten Bewältigungsreaktionen führen, greift das Erleben der Menschen sehr gut auf. Es schafft so Verständnis für scheinbar unvernünftige Verhaltensweisen. Die hieraus resultierende Nähe zur Common-Sense-Psychologie legt nahe, dieses psychotherapeutische »Erfolgsmodell« auch auf die Situation im Coaching zu übertragen. Insbesondere die Lösungsorientierung durch den Aufbau »erwachsener« Bewältigungskompetenzen bietet sich für Coaching-Aufgaben an. Inzwischen wurde diese Haltung des »gesunden Erwachsenen« mit einer spirituellen Orientierung verbunden (Roediger, 2011). Wie eine Übertragung des Schematherapie-Modells auf Coaching-Situationen im Sinne eines Schemafokussierten Coaching möglich ist, wird in diesem Beitrag dargestellt.

Coaching und die Frage nach dem Sinn – ein Beispiel Thomas M. ist ein introvertierter, hochmotivierter Ingenieur, der bisher extrem erfolgreich Produkte entwickelt hat. Durch die plötzliche Kündigung seines Vorgesetzten wurde Herrn M. vor zwei Monaten die Leitung der Produktentwicklung angetragen. Er ist aufgrund seines ruhigen und zurückhaltenden Wesens sehr beliebt, und die Kollegen drängten ihn, diese Position zu übernehmen. In der Entscheidungsphase war er sehr ambivalent, wollte allerdings niemanden enttäuschen. Außerdem lockten auch die höhere Position und die bessere Bezahlung, zumal er gerade eine Familie gegründet und ein Haus gebaut hatte. Bereits nach wenigen Wochen zeigten sich deutliche Anzeichen der Überforderung.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Er verschiebt immer wieder unangenehme Mitarbeitergespräche, in denen er Absagen erteilen müsste, und vergisst Anfragen und Aufgaben, bei deren Bearbeitung er sich nicht sicher fühlt und mit Kritik rechnet. In dieser Situation kommt er zum Coaching. Bereits im Erstgespräch stellt er die Frage, ob das Ganze so überhaupt »Sinn mache« oder ob er nicht lieber »wieder auf seinen Platz zurückgehen und weiter basteln solle«. Auf der anderen Seite will er das auch nicht, zum einen, weil er es als Versagen empfindet, zum anderen, weil ihn die Herausforderung auch reizt. Das Grundmuster – schwierigen Konflikten auszuweichen – ist ihm hinreichend bekannt und bewusst. In seiner Herkunftsfamilie wurde er für ruhiges, freundliches Verhalten und für seine Reparaturen von technischen Geräten gelobt. Wenn er bei Fehlern und beim Streiten mit den kleineren Geschwistern erwischt wurde, wurde er jedoch hart gestraft. Herr M. beschreibt seinen eigenen Wunsch an den Coaching-Prozess mit einem nichtreligiösen, aber dennoch spirituell getönten Anspruch: »Es hat keinen Zweck, wenn ich dauerhaft unzufrieden mit mir bin. Es ist völlig bescheuert! Ich weiß genau, dass es nichts bringt, den Kram liegen zu lassen. Es passiert mir einfach. Ich kann diese Position aber nur ausfüllen, wenn ich für meine Mitarbeiter ein Vorbild bin. Nur dann kann ich meinen Bereich so entwickeln, wie ich möchte. Solange ich dauernd an mir zweifle, schaffe ich das sicher nicht. Ich möchte diese Leitungsposition andererseits auch ausfüllen, weil ich ja selber weiter kommen will.« Neben den typischen Fragestellungen im Coaching (Aufgabenklärung, Zieldefinition etc.) tauchen hier schon im Erstgespräch die Fragen nach der Sinnhaftigkeit und einer stimmigen Gesamtentwicklung seiner Persönlichkeit auf. Es geht für Thomas M. um den Sinn seiner Arbeit (selber technische Innovationen entwickeln oder Menschen führen) und darum, wie er seine Werte leben kann – im Sinn einer modernen Definition also durchaus spirituelle Themen. Früher wurden solche Fragen implizit durch religiöse und/oder moralische Systeme beantwortet. Beispielsweise wäre die Beförderung eine Ehre gewesen. Das Nachdenken über ein freiwilliges Zurückgehen wäre einer schambesetzten Degradierung gleichgekommen und – anders als heute – mit Verachtung quittiert worden. Jedoch haben die alten Instanzen, die bislang Sinn vermittelt haben, an Einfluss eingebüßt. »Die alten Wegweiser sind unwiederbringlich verloren, verbogen, verrostet oder zeigen nach rückwärts. Die postmoderne Befindlichkeit ist, ob es ihr gefällt oder nicht, auf sich selbst angewiesen« (Walach, 2011, S. 195). Thomas M. wird also im Rahmen des Coaching-Prozesses die Frage nach der Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit für sich selbst zu klären haben.

Achtsamkeit und Meditation als spiritueller Individuationsprozess Sinn lässt sich nicht »einfach machen«. Die Entscheidung, ob jemand mehr in vollem Sinn »er selbst wird«, indem er eine Abteilung leitet oder indem er sich völlig der Entwicklung und Erfindung technischer Neuerungen verschreibt, ist im weiteren Sinn eine spirituelle Entscheidung. Im Endeffekt muss Herr M. sich dabei die Frage beantworten, wofür er in seinem Leben die Verantwortung übernehmen möchte. In der christlichen Tradition

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Anke Handrock und Eckhard Roediger: Die spirituellen Aspekte der Schematherapie

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beispielsweise gibt es für solche grundlegend richtungsweisenden Entscheidungsprozesse eigens eine Form der Besinnung und Meditation, in der über das Kognitive hinaus eine ganzheitliche Entscheidung gefördert wird – die Ignatianischen Exerzitien (Köster, 2009). Solche Entscheidungen sollten, um ganzheitlich zur Verwirklichung der eigenen Person zu führen, vom je eigenen Sinn des Lebens getragen sein. Derartiger Lebenssinn wächst dauerhaft vornehmlich durch direkte eigene, das Ich übersteigende Erfahrung. Solche sinngebenden Erfahrungen entstehen zum Beispiel in einer regelmäßig geübten meditativen Praxis. In der Meditation macht der Übende die Erfahrung, dass er sich in ein größeres Ganzes eingebettet erlebt. Dadurch entsteht ein innerer halt- und richtungsgebender Bezugspunkt außerhalb der alltäglichen Lebenswelt (Roediger, 2011). Auf dem Boden dieser Erfahrung kann dann der je eigene Sinn wachsen. Aus einer postmodern-spirituellen Sicht ist es dabei nicht ausschlaggebend, welche Form der Meditation geübt wird, da in den unterschiedlichen Meditationsformen jeweils Achtsamkeit und Akzeptanz (auf die es hier ankommt) in verschiedener Weise geschult werden. Sinnvoll beziehungsweise notwendig ist jedoch, dass die Meditationsform – bei einer vorhandenen religiösen Ausrichtung des Coachee – in dessen religiöses Erleben eingebettet ist. Die Verletzung der Religiosität des Coachee – im Sinne von Walach (2011) ist damit die in einer verfassten Religion gelebte Spiritualität gemeint – kann zu einer Ablehnung der angebotenen spirituellen Praktik führen. Eine bewusste oder unbewusste Ablehnung der Meditationsart bewirkt voraussichtlich Widerstand und damit eine Verschlechterung der Ergebnisse. Aus diesem Grund ist es hilfreich, wenn zwischen Coach und Coachee eine religiöse Transparenz herrscht, sobald im Coaching spirituelle Themen oder Praktiken relevant werden. Dann haben beide die Möglichkeit, sich entweder über gemeinsame Praktiken auszutauschen oder einander in ihrer Unterschiedlichkeit in gegenseitiger Achtung zu begegnen und – falls beide es wünschen – voneinander zu lernen. Dieses Thema wird insbesondere dann relevant, wenn ein eher postmodern-spirituell ausgerichteter Coach mit einer buddhistisch geprägten Auffassung über Meditation auf einen praktizierenden Moslem oder Christen mit einer Nicht-Zen-Spiritualität trifft (Zen ist übrigens im Christentum eine schon lange von einigen Christen geübte spirituelle Praktik; Kopp, 1994).

Der Nutzen von Achtsamkeit im Schemafokussierten Coaching Ein jeder spiritueller Übungsweg baut auf die vorhandene Persönlichkeitsstruktur auf. Schemaaktivierungen und automatisierte Bewältigungsreaktionen können die Entwicklungsfähigkeit von Menschen aber erheblich einschränken. Daher ist es aus unserer Sicht sinnvoll, eine spirituelle Übungspraxis nicht einfach nur auf eine noch eingeschränkt aufgebaute Persönlichkeitsstruktur »aufzusetzen«, sondern die wichtigsten Stolpersteine zu identifizieren, um sie so besser bewältigen zu können. Dabei kann ein Schemafokussiertes Coaching helfen.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Exemplarische Schritte des Schemafokussierten Coaching Da Herr M. sein eigenes Verhalten selbst als nicht sinnvoll erlebt und es ihm »quasi passiv passiert«, erhält er zuerst eine kognitive Erklärung, durch die er lernt, sein Verhalten als folgerichtig und logisch im Sinne seiner bisherigen Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen. Hierbei kann das Modell der Schematherapie eine wesentliche Hilfe darstellen. Da es sich hier nicht um einen therapeutischen Prozess handelt, wurde das Modell für den Einsatz im Coaching entsprechend angepasst (sog. Schemafokussiertes Coaching). Die kognitive Erklärung bereitet gleichzeitig den Einsatz im nächsten Coaching-Schritt vor. Dabei führt das Verständnis des Modells dazu, dass es hinterher vom Coachee auf andere Situationen selbständig übertragen werden kann.11 Thomas M. erhält nun etwa folgende Erklärung: Das, was Sie erleben, ist auf der biologischen und psychologischen Ebene vollständig normal und logisch. In Ihrer Kindheit haben Sie erlebt, dass es besser war, ruhig zu basteln, als sich mit Geschwistern auseinanderzusetzen. Wenn Sie ruhig gebastelt und repariert haben, wurden Sie gelobt. Das bedeutet, die Nervenzellen, die beim ruhigen Basteln aktiviert waren, wurden mit Ihrem Belohnungszentrum zusammengeschaltet. Wenn Sie hingegen mit ihren Geschwistern eine Auseinandersetzung hatten oder deutlich nein gesagt haben, gab es Ärger. Dabei wurden die Nervenzellen, die in Auseinandersetzungen aktiviert sind, mit einem Strafreiz gekoppelt und so ein Bestrafungsschema angelegt. Da Sie schlau sind, haben Sie schnell gelernt, dass es besser ist, ruhig zu sitzen, als sich mit anderen auseinanderzusetzen. Deshalb gehen Sie Konflikten aus dem Weg und erhalten sich das Wohlwollen der anderen. Immer wenn Sie jetzt daran denken, zum Beispiel einem Mitarbeiter Urlaub abzulehnen oder andere Tätigkeiten an den Tag zu legen, die zu Konflikten führen könnten, wird unbewusst Ihr Bestrafungsschema aktiviert. Wenn Sie dann Ihrem automatisch aktivierten Kindmodus folgen, die unangenehmen Dinge dann liegen lassen und sich ablenken, so wie Sie das als Kind gelernt haben, fühlt sich das kurzfristig gut an. Das Dumme an diesem unbewussten Ablauf ist nur, dass Sie sich in diesen Situationen dann auch quasi wieder wie ein Kind fühlen. Die ganzen Fähigkeiten, die Sie als kompetenter Erwachsener normalerweise haben, sind plötzlich wie weggeblasen. Wenn das Ganze dann vorbei ist, wissen Sie genau, was Sie hätten tun müssen. Dann verstehen Sie selber nicht, wieso Sie so reagieren konnten, und ärgern sich über sich. Biologisch ist das aber einfach zu erklären und völlig normal. 11 Im therapeutischen Prozess wird bei intensiven schematherapeutischen Interventionen die Beziehungsstruktur zwischen dem Therapeuten und dem Patienten dahingehend verändert, dass eine sogenannte Nachbeelterung erfolgt. Dabei kann der Therapeut bis zu einem gewissen Grad eine positive Elternrolle annehmen. In einem Coaching-Prozess bleibt der Coach auf der reinen Prozessebene, denn eine derart enge, nachbeelternde Beziehung würde den Rahmen des Coaching dauerhaft verändern. Es müsste erst eine Auflösung der Beelterungsebene erfolgen, bevor der Coach wieder als reiner Prozessberater fungieren könnte, und es würde die Grenze zwischen Therapie und Coaching klar überschritten.

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Anke Handrock und Eckhard Roediger: Die spirituellen Aspekte der Schematherapie

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Ein Schema ist auf biologischer Ebene ein fest verschalteter Verband von Nervenzellen. Normalerweise sind diese Nervenzellen nicht aktiv – sie schlafen sozusagen. Wenn jetzt jedoch ein auslösender Reiz kommt, der dieses Schema »anschaltet«, so erlebt der Coachee das so, als wenn er jetzt wieder vollständig in diesem Erleben wäre. Er fühlt sich beispielsweise wie ein Kind, das gleich bestraft werden wird. Dabei können dann auch die Emotionen so stark und unkontrolliert wie bei einem Kind sein. Auf die Umgebung wirkt das wie eine unerklärliche Überreaktion. Oder wie im Beispiel von Herrn M. können ein unverständliches Ausweichen und Versagen auftreten. Eine derartige Aktivierung des Erlebens wird als Modus bezeichnet. Wenn der hier beschriebene Kind-Modus erstmal aktiviert ist, läuft die gesamte Bewältigungsreaktion quasi automatisch ab. Hier unterscheidet sich das Schemamodell übrigens von anderen Teile-Modellen. Das Schemamodell geht nicht davon aus, dass dauerhaft entsprechende Persönlichkeitsanteile entstehen, sondern dass bestimmte Zustände – zum Beispiel kindliches Empfinden – phasenweise aktiviert werden. Das erste Ziel im Schemafokussierten Coaching besteht nun darin, dass der Coachee lernt zu erkennen, wann ein störendes Schema aktiviert wird. Das geschieht immer dann, wenn er in einen entsprechenden Aktivierungszustand (Kind-Modus) fällt, in dem dann die alten – im Beruf jetzt hinderlichen – Reaktionen (z. B. still werden, sich der Situation entziehen, unkontrolliert explodieren etc.) fast automatisch ablaufen. Um diese Aktivierungen zu erkennen, braucht es Achtsamkeit. Mit Hilfe der Achtsamkeit kann er üben, immer früher zu erkennen, wie die Aktivierung seines Schemas beginnt und wie sich das innerlich anfühlt (z. B. Enge in der Brust, Druck im Kopf, Schwindel, Hitzegefühle, Verspannungen im Nacken, Kopfschmerzen oder ein Kloß im Hals). Wenn er das rechtzeitig merkt, hat er eine Chance, anders zu reagieren. Er merkt, um mit Assagioli (1982) zu sprechen, dass er zwar ein Gefühl hat, aber nicht das Gefühl ist. Eine bereits eingeübte Haltung der Akzeptanz erlaubt dann, gleichzeitig die Aktivierung der Gefühle zuzulassen (also die unangenehmen Gefühle zu spüren) und sie zu beschreiben, ohne dem empfundenen Druck, zu reagieren, Folge zu leisten. Das ist so, als wenn jemand einen Mückenstich hat, der juckt, und derjenige doch sehr genau weiß, dass es nicht sinnvoll ist, sich zu kratzen. Ein derartiges Verhalten entsteht nicht von selber, sondern nur durch Übung. Es gibt neben der Meditation viele Achtsamkeits- und Akzeptanzübungen, die dabei im Coaching angewendet werden können (Roediger, 2011; Burkhard, 2010). Beim Üben von Achtsamkeit und Akzeptanz kommt es durch den Aufbau des sogenannten »Inneren Beobachters« zu einem neuen sprachlichen Umgang mit dem inneren Erleben. Der Übende lernt, seine immer wieder auftauchenden Gedanken und Störungen sprachlich zu beschreiben, ohne sie als Handlungsaufforderungen zu betrachten. Typisch sind Sätze wie: »Alles, was ist, darf da sein. Meine Gedanken dürfen kommen und gehen. Ich kann sie beobachten. Sie ziehen vorbei wie Wolken am Himmel und ich lasse sie ziehen.« Auf Dauer wirken diese inneren Dialoge so, als wenn gute Eltern mit aufgebrachten Kindern reden, um sie zu beruhigen – und das hat dann auch

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

eine innere Beruhigung des Coachee zur Folge. Diese Fähigkeit (bzw. Ressource) zur Selbstlenkung wollen wir im Schemabasierten Coaching als Modus des kompetenten Erwachsenen bezeichnen. Um die Effizienz im Coaching-Prozess zu erhöhen, hat es sich bewährt, zuerst im kompetenten Erwachsenen-Modus ein Ressourcenprofil zu erarbeiten. Dieses Profil ist besonders wirksam, wenn Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Werte und auch spirituelle Haltungen und Erfahrungen aktiviert und mit einbezogen werden. Die Bewusstheit für diese Ressourcen schafft dann in weiteren Coaching-Schritten auch schnell ein Vertrauen zwischen dem Kind-Modus und dem kompetenten Erwachsenen-Modus. Dadurch wird später die Dialogarbeit sehr erleichtert (Handrock u. Blickhan, 2011). Da die Coachees in ihren anderen Lebensbereichen durchaus effektiv arbeiten und in der Regel stabile Persönlichkeiten aufweisen, kann man im Coaching nach dieser Ressourcenaktivierung sehr schnell und gezielt an den Situationen arbeiten, in denen negative Schemaaktivierungen den Coachee einschränken. In der Coaching-Arbeit werden zunächst (in einer Imagination) die schemaaktivierenden Situationen vorgestellt. Dabei wird der Kind-Modus aktiviert. Anschließend wird dann der Modus des kompetenten Erwachsenen mit in die Imagination hineingeholt. Unter seiner Regie wird dann eine gute Lösung imaginativ erarbeitet, die dann weiter trainiert wird. Dadurch ist ein tiefgehendes und gleichzeitig effektives Coaching möglich. Kommen wir zur Verdeutlichung zurück zu unserem Beispiel: Herr M. wird jetzt gebeten, sich eine der letzten Situationen zu vergegenwärtigen, in der er geschwiegen hat, obwohl es seine Aufgabe gewesen wäre einzugreifen. Er beschreibt folgende Situation: »Zwei Mitarbeiterinnen ziehen in meiner Anwesenheit in unangemessener Form über eine abwesende Kollegin her. Das ist eine Situation, die mich wütend macht, das geht komplett gegen meine Werte und ich will das in meiner Abteilung nicht dulden. Ich habe aber wieder den Mund gehalten und bin dezent rausgegangen.« Die Situation wird jetzt systematisch mit Herrn M. analysiert, bis er die körperlichen Begleitsymptome bei der Aktivierung seines Schemas erkennt. Dabei stellt er Folgendes fest: »Erst habe ich gemerkt, dass ich plötzlich zuhöre, was die beiden Damen erzählen. Anschließend habe ich realisiert, wie mein Mund trocken wird und ich den obersten Knopf vom Hemd öffnen muss.« Dann wird auf die dahinter liegenden Emotionen fokussiert. Dabei benennt Herr M. Ärger und im Laufe der Analyse auch Angst. Anschließend wird untersucht, wie die Situation weiter verlaufen ist. Er beschreibt: »Dann habe ich mir gesagt: ›Das hat jetzt keinen Zweck‹ und bin ich rausgegangen. Danach wurde mir klar, dass es wieder eine von diesen Situationen war.« Im Fall von Herrn M. kann die achtsame Wahrnehmung der Gefühle von Ärger und Angst zusammen mit der deutlichen Körperreaktion helfen, die gesteigerte Reaktion als eine kindliche Schemaaktivierung zu erkennen. Die Einsicht, dass es wieder »eine von diesen Situationen war«, markiert das Einsteigen des kompetenten ErwachsenenModus und erlaubt die Einordnung in den biografischen Kontext. Das relativiert die entstandene Verunsicherung. Nun kommt hier noch ein dritter Modus ins Spiel – der

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Anke Handrock und Eckhard Roediger: Die spirituellen Aspekte der Schematherapie

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sogenannte Antreiber-Modus. In schwierigen Situationen, in denen Kinder allein entscheiden müssen, greifen sie auf das zurück, was sie von ihren Eltern und anderen Erziehungspersonen als »richtig« gelernt haben. Sie gehen sozusagen in den Modus der »Inneren Erzieher«, in diesem Fall in einen Antreiber-Modus. Biologisch ist dieser Modus lebensnotwendig. Ein kleines Kind wäre nicht in der Lage zu wissen, dass es die heiße Herdplatte nicht anfassen darf, wenn es nicht die innere Stimme »Finger weg, heiß« im Kopf hätte. Die Schwierigkeit bei diesen verinnerlichten Antreibern besteht darin, dass sie sehr früh aus dem gebildet werden, was das Kind glaubt, dass die Erwachsenen für richtig halten. Es ist quasi so, als wenn die Ansichten von Erwachsenen aus der Sicht eines drei- bis sechsjährigen Kindes der lebenslange Maßstab für richtig und falsch sind. Normalerweise wird dieser Maßstab bei Erwachsenen durch den Modus des kompetenten Erwachsenen im Zaum gehalten und die Entscheidungen werden rational durch den Modus des kompetenten Erwachsenen getroffen. Wenn jedoch biografisch Situationen auftreten, in denen das Kind (z. B. durch Strafe) in diesem Modus sehr intensive negative Erfahrungen gemacht hat, ist er so stark gebahnt worden, dass er ungehindert angeschaltet wird, sobald eine entsprechende Situation auftaucht. Entsprechend intensiv ist die Gegenaktivierung auf der Seite der Kind-Modi. Die Aufgabe im Schemafokussierten Coaching besteht nun darin, den kompetenten Erwachsenen dazu zu bringen, eine zu starke Aktivierung der Antreiberseite zu verhindern und gleichzeitig beruhigend auf die Kindseite einzuwirken. Der Modus des kompetenten Erwachsenen lernt, sich vom Sog der alten Aktivierungen zu distanzieren, diese aus dem »gesunden Menschenverstand« heraus neu zu bewerten und, quasi als Regisseur oder Dirigent, eine neue Lösung zum Beispiel durch innere Dialoge einzuleiten. Nachdem Herr M. das Muster der Aktivierungen in dieser speziellen Situation verstanden hat, wird er eingeladen, drei Plätze/drei Stühle im Raum zu finden – für jeden der drei Modi einen. Der Stuhl für den kompetenten Erwachsenen-Modus wird dabei so positioniert, dass die beiden anderen links und rechts davon stehen. Aus der Position des kompetenten Erwachsenen wird nun ein beruhigender innerer Dialog eingeübt, der die Aktivierung des Kind-Modus beruhigt. Gleichzeitig bewertet Herr M. in einem anderen Dialogschritt die Unangemessenheit der Forderungen der Antreiberseite und entmachtet diese dadurch. Auf diese Weise wird trainiert, dass sowohl vom Antreiber- als auch vom KindModus aus die Kommunikation über den kompetenten Erwachsenen erfolgt. Er stellt sich quasi über und gleichzeitig zwischen die aufeinanderprallenden alten Modi. Die Einübung dieses darüberstehenden Lösungsprinzips reduziert ihrerseits – neben der inhaltlichen Arbeit – noch einmal die Häufigkeit und Intensität der inneren Konflikte. Dieser spezielle integrierende Aspekt der Schematherapie ist auch gerade unter spirituellen Aspekten bedeutsam, denn dieses Vorgehen ist eine praktische, dialektische Verbindung der achtsamkeitsbasierten Distanzierungshaltung, die erstmals durch Linehan aus der buddhistischen Tradition in die Psychotherapie eingeführt wurde, mit einer verhaltenstherapeutischen Veränderungshaltung: wahrnehmen und akzeptieren,

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

was ist (nämlich die alten Schemata und Modi), und dann (durch den kompetenten Erwachsenen) das Beste draus machen (Linehan, 1996). Geht es doch in jeder spirituellen Entwicklung darum, sich nicht blind durch kurzfristige biologische Bedürfnisse (aktivierte Kind-Modi) von langfristigen, wertebasierten Zielen abbringen zu lassen (kompetenter Erwachsenen-Modus). Es geht darum, auf meinem Meditationsschemel sitzen zu bleiben, obwohl es dort gerade zum Beispiel langweilig ist! Darüber hinaus besteht die Herausforderung aber auch darin, nicht die Antreiberseite im Sinne einer rigiden Religiosität hochzustilisieren und für spirituell zu erklären. Es geht darum, mir nicht einzureden, dass ich ein besonders wertvoller, toller … Mensch werde, wenn ich das hier auf dem Bänkchen nur durchhalte (oder dass ich verdammt werde, wenn nicht)! Es geht im Endeffekt vielmehr darum (aufgrund der Entscheidung des kompetenten Erwachsenen) zu sitzen und zu meditieren! Das heißt, einen gesunden spirituellen Weg zu beschreiten. Im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung führt dies zu einem reifen, verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst und seine Mitarbeitern.12 Schemafokussiertes Coaching erweist sich somit als eine Hilfe, die einer umfassenden ganzheitlichen und auch spirituellen Persönlichkeitsentwicklung Vorschub leistet. Dies geschieht auf dreierlei Weise: –– durch den gezielten Einsatz von achtsamkeitsbasierten Ansätzen und die bewusste Hinführung zu meditativen Praktiken. Nach kurzfristigem Gebrauch dieser Techniken als Werkzeug und Hilfe zur Veränderung generalisiert dieser Prozess oft und wird so zu einem selbststabilisierenden Prozess der spirituellen Entwicklung; –– durch die Generalisierung des strukturierten Umgangs mit den eigenen aktivierten Schemata, der auch in die spirituelle Entwicklung eingreift und innere Anspannung, Rigidität und Rigorismus senkt; –– durch ein metaphorisches Verständnismodell für eigene und fremde – nicht immer angemessene – Verhaltensweisen und den daraus resultierenden achtsam-wertschätzenden Umgang mit sich und anderen.

Anforderungen an den Coach beim Einsatz von Schemafokussiertem Coaching Um derartige Prozesse in einem Coaching wirksam unterstützen zu können, sind jedoch auch auf der Coach-Seite einige Voraussetzungen zu erfüllen und einige Aspekte zu bedenken. Um adäquat mit fremden Schemata und deren Aktivierungen umgehen zu können, ist es unumgänglich, die eigenen Schemata, ihre Aktivierung und auch den adäqua12 In der christlichen Spiritualität ist dieser Aspekt übrigens spätestens durch die Diskussion um krankmachende und heilende Gottesbilder (Frielingsdorf, 2001) deutlich thematisiert und inzwischen vielfach weiterentwickelt worden.

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ten Umgang damit einigermaßen zuverlässig einzuschätzen und zu beherrschen. Das bedeutet, dass für einen Coach, der mit schematherapeutisch orientierten CoachingMethoden arbeiten möchte, neben einer umfassenden Ausbildung in diesem Bereich auch ein deutliches Maß an Selbsterfahrung vorhanden sein muss. Da diese Methode mit achtsamkeitsbasierten Elementen arbeitet, sollte auch eine eigene tägliche meditative Praxis für den Coach zur Selbstverständlichkeit gehören. Das Wissen über Schemata, über Achtsamkeit und über Meditation wirkt über die konkrete Problembewältigung hinaus persönlich bereichernd und heilsam (Roediger, 2006). Es ersetzt aber niemals die »Erfahrung am eigenen Leib«, die erforderlich ist, wenn man mit der Aktivierung von fremden Schemata und den reziproken Antworten der eigenen Schemata konfrontiert ist. Weiterhin sollten eine regelmäßige Supervision und eine regelmäßige Intervisionsgruppe zur Selbstverständlichkeit gehören, denn das Unbewusste am Unbewussten ist, dass es unbewusst ist – und zwar auch beim Coach oder Trainer. Eigene Selbsterfahrung führt zwar dazu, dass bestimmte vorher unbewusste Aspekte bewusst werden (und ist daher unumgänglich). Dennoch wird auch eine noch so umfassende Selbsterfahrung niemals die Komplexität einer gesamten Persönlichkeit hinreichend transparent machen können. Kein Therapeut oder Coach ist je vor der Aktivierung eigener unbewusster Schemata so weit geschützt, dass er sicherstellen kann, Coaching-Prozesse nicht mehr unbewusst zu beeinflussen. Daher kann regelmäßige Supervision – neben einer umfassenden Ausbildung – in diesem Bereich quasi als Gütekriterium gelten. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass im schemafokussierten Coaching mit kindlichen Aktivierungen gearbeitet wird, die sehr leicht im Coach schützend-elterliche Gefühle aktivieren. Das hat zur Folge, dass der Coach permanent seine Rolle dahingehend zu reflektieren hat, dass er wirklich ausschließlich Prozessbegleiter bleibt und der Versuchung der »Hilfe« für die kindlichen Aspekte im Coachee definitiv nicht erliegt. Ein derartiges »nachbeelterndes« Vorgehen ist im Coaching unzulässig und im Sinne des Coaching-Auftrags als Grenzüberschreitung zu sehen! Daher eignen sich auch nicht alle Aspekte der Schematherapie für den Einsatz im Coaching. Die Schematherapie arbeitet mit einer begrenzten persönlichen Offenheit des Therapeuten. Er wird als Mensch mit eigenen Schemata, Aktivierungen, Ansichten, Werten und Grenzen im zwischenmenschlichen Prozess sichtbar. So wird er zum Modell des reflektierten Umgangs mit den eigenen inneren Dynamiken. Auf den Coaching-Prozess übertragen bedeutet das, dass ein Coach, der mit Schemafokussiertem Coaching arbeiten möchte, für sich selbst reflektieren sollte, inwieweit er bereit ist, sich als Mensch persönlich mit seinen Möglichkeiten und Grenzen in diesen Coaching-Prozess einzubringen. Es ist für derartige Prozesse aus unserer Sicht notwendig, eine begrenzte Offenheit bezüglich der eigenen Grundhaltungen, Werte und spirituellen Überzeugungen gegenüber dem Coachee deutlich zu machen. So hat dieser einerseits die Möglichkeit, sich mit dem menschlichen Modell des Coach auseinanderzusetzen. Andererseits hat er die Chance, bei entstehenden Fragen und Themen nach-

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zufragen und gegebenenfalls (unbewusst wertende) Reaktionen des Coach zumindest sekundär zu hinterfragen. Auf diese Weise kann Schemafokussiertes Coaching einen Coaching-Prozess in vielen Dimensionen umfassend und nachhaltig beeinflussen.

Literatur Assagioli, R. (1982). Die Schulung des Willens. Paderborn: Junfermann. Burkhard, A. (2010). Achtsamkeit. Entscheidung für einen neuen Weg. Stuttgart: Schattauer. Frielingsdorf, K. (2001). Dämonische Gottesbilder. Ihre Entstehung, Entlarvung und Überwindung. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Handrock, A., Blickhan, D. (2011). Unveröffentlichte Seminarunterlagen. Bad Aibling. Kopp, J. (1994). Schneeflocken fallen in die Sonne – Christuserfahrungen auf dem Zen-Weg. Annweiler: Plöger. Köster, P. (2009). Die Geistlichen Übungen des hl. Ignatius von Loyola. Norderstedt: BOD. Linehan, M. M. (1996). Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. Roediger, E. (2006). Besser leben lernen. Stuttgart: Urachhaus. Roediger, E. (2009). Was ist Schematherapie. Eine Einführung in Grundlagen, Modell und Anwendung. Paderborn: Junfermann. Roediger, E. (2011). Achtsamkeit und Schematherapie. In L. Reddemann (Hrsg.), Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (S. 66–82). Stuttgart: Kohlhammer. Walach, H. (2011). Spiritualität. Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen. Klein Jasedow: Drachen. Young, J. E., Klosko, J. S., Weishaar, M. E. (2005). Schematherapie – ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.

Dr. med. dent. Anke Handrock, Jahrgang 1959, Studium der Biologie und der Zahnmedizin, Zahnärztin, ist seit 1995 als Coach, Strategische Beraterin und Kommunikationstrainerin für Ärzte, Zahnärzte, Therapeuten, Klinikleitungen und Medizinische Betriebe tätig. Sie ist ehrenamtliche Exerzitienbegleiterin, Trainerin und Mastersupervisorin für Hypnose (DGZH), Lehrtrainerin und Lehrcoach für NLP. Fortbildungen in Systemischer Therapie, Schematherapie, ACT; Geistlicher Begleitung und Exerzitienbegleitung (IMS). www.handrock.de Dr. Eckhard Roediger, Jahrgang 1959, Neurologe, Psychiater und Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Ausbildungen in tiefenpsychologischer und Verhaltenstherapie. Vormals Aufbau und Leitung der Psychosomatischen Abteilung am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, seit 2007 niedergelassen in Frankfurt/Main und als Dozent und Supervisor für Verhaltenstherapie und Schematherapie tätig. Sekretär der Internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST), Leiter des Instituts für Schematherapie-Frankfurt (IST-F). www.schematherapie-roediger.de

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Michael Habecker

Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension

Vorbemerkung und Begriffsklärung Bevor ich, der Überschrift dieses Beitrags entsprechend, ein Coaching mit spiritueller Dimension aus einer integralen Perspektive betrachte, möchte ich zuerst die dabei aufgeführten Begrifflichkeiten erläutern, was eine erste Perspektiveinnahme ist: Was sollen, im Kontext dieses Beitrages, die Worte »integral«, »Perspektive« »spirituell« und »Coaching« bedeuten? Derartige Klärungen sind keine theoretische Pflichtübung, sondern ein wesentliches Element auch eines jeden Coaching: die Herstellung von gemeinsamen Bedeutungshorizonten, innerhalb derer erst wirkliche Kommunikation und tiefere Begegnungen stattfinden können. Unter »integral« sollen in diesem Beitrag in einem weiteren Sinn alle umfassenden, ganzheitlichen und holistischen Erklärungsansätze verstanden werden, die sich darum bemühen, ein möglichst vollständiges Bild (oder eine Landkarte) der Wirklichkeit zu erstellen – nicht als ein Selbstzweck, sondern als ein Hilfsmittel, um mit Wirklichkeit, wie sie auch in einer Coaching-Situation stattfindet, bestmöglich zurechtzukommen. Darin enthalten ist auch eine spirituelle Dimension. In einem konkreteren Sinn verstehe ich unter »integral« in diesem Beitrag eine von dem amerikanischen Autor Ken Wilber und anderen entwickelte integrale Möglichkeit des Weltverständnisses, auf deren Grundlage ich die nachfolgenden Darstellungen aufbaue (vgl. Wilber et al., 2010). Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies die einzige Sichtweise auf die Komplexität des Lebens und Coaching wäre, sondern es ist als ein Angebot unter mehreren zu verstehen, wenn auch ein, wie ich finde, sehr vielversprechendes. »Perspektive« bedeutet die Einnahme unterschiedlicher Blickrichtungen auf ein Thema. Der Begriff weist darauf hin, dass diese Blickrichtungen nicht von nirgendwo herkommen, sondern immer von einer bestimmten Person, im Fall dieses Beitrags von mir, eingenommen werden, was natürlich für alle Beiträge dieses Buches gilt. Diese Selbstverständlichkeit, die auch beim Coaching ganz wesentlich ist – zwei oder mehr einzigartige Individuen kommen zusammen und bringen ihre einzigartigen Betrachtungsweisen mit ein –, geht im Alltag manchmal verloren, wenn wir zum Beispiel in emotionalen und argumentativen Situationen unsere Sicht der Dinge (Meinungen, Emotionen, Überzeugungen, Glaubenssätze) gleichsetzen mit dem, wie die Welt ist,

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

das heißt, keine Meinung von oder Perspektive auf die Dinge haben, sondern unsere Meinung sind. Der Begriff »spirituell« ist der vielleicht schillerndste der Überschrift, und bevor ich dazu eine Begriffsbestimmung anbiete, lade ich Sie zu einer Wahrnehmungsübung ein, welche Ihnen die Möglichkeit gibt, Ihren eigenen persönlichen Bezug zu diesem Begriff zu erleben. –– Schließen Sie, wenn Sie möchten, nach dem Lesen dieses Satzes die Augen, und lassen vor Ihrem inneren Auge und Ohr das Wort »spirituell« erscheinen … Betrachten Sie die nun folgenden Fragesätze als eine Einladung zu einer persönlichen Erforschung und Untersuchung, bei der Sie sich für jede der Fragen so viel Zeit nehmen, wie Sie möchten. –– Wie geht es Ihnen mit diesem Begriff? … –– Welche Gedanken, Gefühle oder Körperwahrnehmung löst er bei Ihnen aus? … –– Erleben Sie das Wort »spirituell« eher positiv, neutral oder negativ? … –– Welche Assoziationen verbinden Sie mit diesem Wort? … Und hier das Angebot einer biografischen Reflexion: –– Können Sie sich noch daran erinnern, wie dieser Begriff und die damit verbundenen Bedeutungen in Ihrem Leben auftauchten? … Was waren die Begleitumstände und welche anderen Personen waren daran beteiligt? … –– Wie hat sich dann im weiteren Verlauf Ihres Lebens der Begriff gezeigt, entwickelt und eventuell auch gewandelt? … Welche Umstände und Personen waren daran beteiligt? –– Wie geht es Ihnen jetzt mit dem Begriff, nach dieser kurzen Reflexion? … Das Wort »spirituell« hat umgangssprachlich viele Bedeutungsfacetten. Es kann sich beziehen auf –– bestimmte »spirituelle« Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale, die es zu entwickeln gilt, –– bestimmte Zustands-, Gipfel- oder Einheitserfahrungen, –– eine bestimmte Haltung (wie Offenheit oder Liebe). In diesem Beitrag hat der Begriff »spirituell« die allgemeine Bedeutung von »Dingen, Werten, Wesen oder Überzeugungen, die von letztendlichem Wert sind«. Mit dieser Definition vermeiden wir die Probleme, die auftreten, wenn wir den Begriff mit spezifischen Inhalten füllen, und laden gleichzeitig jede(n) dazu ein, seine oder ihre Vorstellungen von dem, was von letztendlicher Bedeutung ist, einzubringen, einschließlich der Vorstellung, dass die Welt und das Leben keinen tieferen Sinn oder Wert haben oder gar vollständig sinn-los sind. –– Was ist für Sie von letztendlichem Wert oder von letztendlicher Bedeutung?

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Michael Habecker: Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension

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Der Begriff »Coaching« schließlich soll in einem allgemeinen Sinn verstanden werden, als »lösungs- und zielorientierte Begleitung von Menschen …« (Wikipedia).

Bereiche eines Coaching Auf der Suche nach dem Aufbau und der Struktur von Wirklichkeit ist Ken Wilber (wie andere vor ihm auch schon) auf zwei ebenso einfache wie naheliegende Grundunterscheidungen gestoßen, und zwar die von innerlich/äußerlich und individuell/kollektiv (Abb. 1). Es ist Wilbers Verdienst, diese Unterscheidungen in dem von ihm sogenannten Modell der vier Quadranten dargestellt und damit einer breitestmöglichen Anwendung zugänglich gemacht zu haben (vgl. Wilber, 2001). Dieses Modell wollen wir uns auch für das Coaching zunutze machen. I N D I V I DU E L L I N N E R L I C H

subjektiv

objektiv

ICH

ES

WIR

ES (plural)

intersubjektiv

interobjektiv

Ä U S S E R L I C H

KO L L E K T I V Abbildung 1: Das Vier-Quadranten-Modell

Eine Möglichkeit, sich den vier Quadranten zu nähern, ist die Vorstellung, dass Wirklichkeit, und damit jeder Augenblick, (mindestens) vier unterschiedliche Dimensionen hat, aus denen er betrachtet werden kann, und zwar eine subjektive Dimension (der OL-Quadrant13), eine intersubjektive Dimension (der UL-Quadrant), eine (äußerlich-) objektive Dimension (der OR-Quadrant) und eine äußerlich-systemische Dimension (der UR-Quadrant). Jetzt in diesem Augenblick, in dem Sie diesen Satz lesen, können Sie sich erleben –– als ein »inneres Ich«, das heißt ein individuell empfindendes Wesen mit Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und anderem (OL), 13 Die Abkürzungen für die Quadranten sind: OL = oberer linker Quadrant, OR = oberer rechter Quadrant, UL = unterer linker Quadrant und UR = unterer rechter Quadrant.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

–– als ein Mitglied eines »Wir«, das heißt, Sie erleben sich gleichzeitig als ein soziales Wesen in Beziehung (auch wenn Sie vielleicht gerade allein sind, so sind Sie dennoch Mitglied vieler privater und beruflicher Beziehungskreise, die immer »in uns« sind) mit Zugehörigkeits- und Verbundenheitsgefühlen, –– Sie sind im Weiteren ein biologisches Wesen mit bestimmten biologischen und physischen Merkmalen (OR) und einem beobachtbaren Verhalten, und Sie sind schließlich –– eingebunden in eine Vielzahl von Systemen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Art, von der persönlichen Wohnsituation bis hin zu einer globalen Ökonomie und Ökologie. Dass es sich hierbei nicht nur um eine vorübergehende Entdeckung oder eine neue philosophische Mode handelt, sondern vielleicht um eine der grundlegendsten Wirklichkeitsstrukturen überhaupt, lässt sich daraus ableiten, dass sich die Sprachen der Menschheit zum Beispiel in der Form von Personalpronomina an diesen Quadranten als Perspektiven von Wirklichkeitswahrnehmung orientieren (ich, mir, mein = subjektiv; du, wir, unser = intersubjektiv, er, sie, es/Singular und ihr/Plural = äußerlich, individuell und systemisch) und dass sich praktisch alle Erkenntnisdisziplinen der Menschheit und Erkenntnisphilosophien, von idealistisch über konstruktivistisch zu systemisch und materialistisch, den Quadranten zuordnen lassen. Alle vier genannten Perspektiven, das ist ein Hauptmerkmal integraler Betrachtungsweise, sind gleichwertig und gleichermaßen wichtig zur Beurteilung einer Gesamtsituation. Sie haben jeweils ihre Erkenntnisgröße, die nicht zu vernachlässigen ist, sie haben auch eine Erkenntnisgrenze (hinsichtlich dessen, was sie nicht erklären können), und sie hängen alle miteinander zusammen als unterschiedliche Perspektiven auf ein Ereignis. Die Bevorzugung einer Perspektive unter Vernachlässigung einer oder mehrerer anderer bezeichnet Ken Wilber als »Absolutismus«, und dieser führt zu einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung und Formen von Ideologien (wie Subjektivismus, Objektivismus, Konstruktivismus, Idealismus, Materialismus usw.). Jeder Mensch (und jedes Wesen) und damit auch jeder Coach und Klient »hat« diese vier Perspektiven, und gleichzeitig kann jeder Mensch auf alles, was ihm oder ihr begegnet, aus diesen vier Perspektiven schauen (auf sich selbst, andere Menschen, Dinge, Sachverhalte usw.) (Dies wird in der integralen Theorie durch die Begriffe Quadrant und Quadrivia unterschieden. Im Text verwende ich der Einfachheit halber jedoch nur den Begriff Quadrant.) Was können wir aus diesem Modell für eine Coaching-Praxis ableiten?

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Michael Habecker: Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension

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I N D I V I DU E L L I N N E R L I C H

empfindendes Wesen und Subjekt

biologisch-konditionierter Verhaltens-Mensch

beziehungs­ orientiertes Wesen

ein Teil unterschiedlicher Systeme

Ä U S S E R L I C H

KO L L E K T I V Abbildung 2: Quadranten und Menschenbild

Was ist ein Mensch? Angewandt auf einen Menschen erhalten wir mit dem Modell der vier Quadranten vier unterschiedliche – und gleichermaßen reale – Menschenbilder (Abb. 2), die zu jeweils unterschiedlichen Coaching-Ansätzen und Vorgehensweisen führen: der Mensch als Subjekt und empfindendes Wesen (OL), der Mensch als ein sich verhaltendes Wesen (OR), der Mensch als ein Beziehungswesen in empathischer Wechselwirkung, Anpassung und kultureller Prägung mit anderen Wesen (UL) und der Mensch als Teil von Systemen, eingebunden in funktionalen Abläufen (UR). I N D I V I DU E L L I N N E R L I C H

mentales, psychologisches und spirituelles Coaching

Verhaltens-Coaching und Training

Beziehungs-Coaching, systemisches14 Coaching

funktionales Coaching, betriebswirtschaftliche Beratung

Ä U S S E R L I C H

KO L L E K T I V Abbildung 3: Quadranten und Coaching-Bereiche

14 Der Begriff »systemisch« wird vor allem in der Aufstellungsarbeit für innere Arbeit (»inneres System«, »innere Familie«) verwendet und steht daher hier im unteren linken Quadranten, auch wenn er in anderen Kontexten eher für Aspekte der Außenseite von Gemeinschaften verwendet wird (»Systemkrise«).

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Coaching-Ansätze die einen Schwerpunkt auf dem OL-Quadranten haben, kann man als mentales, psychologisches oder spirituelles Coaching bezeichnen, je nach dem ob es mehr –– um die Ausschöpfung eigener geistiger Ressourcen (mental), –– die erfolgreiche Gestaltung von Bewusstseinsdynamiken (psychologisch) –– oder die Entdeckung bestimmter (spiritueller) Erfahrensdimensionen geht. Der Coach kümmert sich dabei um die persönliche Innerlichkeit seines Klienten (unter den Stichworten »mentales Coaching«, »psychologisches Coaching« und »spirituelles Coaching« finden sich viele Einträge im Web). Wichtig ist dabei die Abgrenzung zur Psychotherapie, für die es einer besonderen Zulassung bedarf. Dennoch kommen Menschen auch als individuelle Subjekte in die Coaching-Beratung, und im Rahmen seiner (persönlichen und rechtlich abgegrenzten) Möglichkeiten kann der Coach seinem Klienten dabei helfen –– einen Zugang zur Dimension der eigenen Innerlichkeit zu bekommen, –– mehr Selbstbewusstheit zu erlangen und die Eigenwahrnehmung zu vertiefen, –– mit Ängsten und schwierigen Emotionen (wie Wut, Ablehnung, Neid, Unversöhnlichkeit) und Projektionen besser umzugehen, –– ungenutzte mentale Potenziale entdecken, –– den Zugang zu einer eigenen spirituellen Lebensdimension zu finden. Der OR-Quadrant ist ein typischer Coaching-Bereich, wo der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf äußerlich beobachtbarem Verhalten und dessen Optimierung liegt, wie Körperhaltung, Sprache, Gestik, (Selbst-)Organisation und Kleidung. Menschen wollen mit Herausforderungen ihres Lebens besser zurechtkommen, und der naheliegendste Ansatzpunkt ist das eigene Verhalten und ein entsprechendes Training (als ein »personal coaching«). Wie kommuniziere ich besser, wie präsentiere ich (mich) besser, wie organisiere ich mich besser, wie finde ich den richtigen Partner, wie entspanne ich mich besser oder bin kreativer, wie ernähre ich mich besser, wie setze ich mich besser durch, wie verwirkliche ich mich besser … Auf jede dieser Fragen und noch viele mehr gibt es ein breites Angebot an Literatur, Trainingsmöglichkeiten und Coaching-Methoden. Bei der UL-Perspektive stehen die Beziehungen und ihre Klärung und Gestaltung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Kein Mensch ist eine Insel, sondern schon mit seiner Geburt Mitglied von Gemeinschaften und Beziehungen, und daher liegt eine Lösungsmöglichkeit vieler persönlicher Anliegen in der Betrachtung der eigenen Beziehungen. Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen haben ihre Ursache oft in der persönlichen Beziehungsbiografie, und was dort gelöst werden kann, wirkt sich unmittelbar auf den Umgang mit Menschen in der Gegenwart aus. Wieder geht es, wie beim mentalen und psychologischen Coaching, um die Innenseite des Lebens, doch hier liegt der Schwerpunkt auf Beziehungen (und deren Störungen).

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Michael Habecker: Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension

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Eine Methodik, die in den letzten Jahren dabei zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die (systemische) Aufstellungsarbeit. Beim Coaching von Organisationen geht es um die Innenseite und das Innenleben einer Organisation, deren Historie, Entwicklung, gemeinsame Werte und Ziele, den Umgang miteinander, eine konstruktive Kommunikation und Ähnliches. Der UR-Quadrant schließlich ist die Perspektive der klassischen Organisationsberatung, wie sie beispielsweise in der Betriebswirtschaft eingenommen wird. Bezogen auf ein Individuum bedeutet dies, die Systeme, Prozesse und Abläufe anzuschauen, in denen ein Mensch lebt (Finanzen, private Umgebung, soziales Umfeld, Arbeitsumgebung). Das Coaching-Ziel besteht dabei darin, »Sand im Getriebe« zu erkennen und dem Klienten dabei zu helfen, dass das System, in dem er existiert, besser läuft, oder ihn darin zu unterstützen, das System (Ort, Firma, Freunde, Partner), falls notwendig, zu wechseln. Ein typischer Schwerpunkt dabei ist zum Beispiel die Analyse der persönlichen Finanzsituation mit der Erstellung einer persönlichen Bilanz (Vermögenswerte und Schulden) und einer genauen Einnahmen-Ausgaben-Analyse eines Monats. (Es ist für Menschen, die sich überwiegend im Innenbereich aufhalten, manchmal erstaunlich, wie viel Bewusstwerdungspotenzial in der sorgfältigen Betrachtung einfacher Zahlen und deren Zusammenhänge liegt.) Für eine Organisation ist der Betrachtungsschwerpunkt hier der einer betriebswirtschaftlichen Analyse, bei der Waren-, Finanz-, Informations- und Kommunikationsprozesse betrachtet und optimiert werden, ebenso wie aufbau- und ablauforganisatorische Vorgänge, damit »der Laden wieder rund läuft«. I N D I V I DU E L L I N N E R L I C H

psychologisch-mentalspirituelles Coaching

VerhaltensCoaching und Training

BeziehungsCoaching, Kultur­ entwicklung

funktionales Coaching, Ablauf­ optimierung

Ä U S S E R L I C H

KO L L E K T I V Abbildung 4: Quadranten, Coaching-Bereiche und Wechselwirkungen

Die Quadranten (und Wirklichkeitsdimensionen) stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern beeinflussen sich wechselseitig (Abb. 4), und daher ist jede Coaching-Inter-

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

vention immer auch eine Einflussnahme auf das Ganze. Eine Bewusstseinseinsicht (OL) führt meistens auch zu Verhaltensänderungen (OR), einem anderen Beziehungserleben (UL) und auch einem anderen Systemverständnis (UR). Die Klärung einer schwierigen Beziehung (UL) klärt auch den innerpsychischen Raum (OL), beeinflusst positiv das Verhalten (UR) und kann auch zu Systemveränderungen führen (UR). Dass Verhaltensänderungen (UR) auf das Bewusstsein wirken (OL), ist bekannt, auch wenn dies manchmal viel Zeit beansprucht. Verhaltensänderungen wirken aber auch in Beziehungen hinein (UL) und auch in das Systemverhalten (UR). Systemische Veränderungen schließlich (wie Umzug, Jobwechsel, anderer Umgang mit Geld, UR) hängen eng mit dem individuellen Verhalten zusammen (OL) und wirken auch auf die individuelle Wahrnehmung (OL) und das Erleben von Beziehungen (UL). Die Kenntnis und das Wahrnehmen derartiger Wechselwirkungen sind für die Coaching-Praxis wichtig, wie auch die Fähigkeit zur Problemanalyse und die Auswahl geeigneter Interventionsmöglichkeiten. Dabei können die Quadranten als Perspektiven Hilfestellung leisten, sowohl was die Problemursache wie auch die Lösungsansätze betrifft (und deren Wechselwirkung in andere Bereiche). Gleichzeitig zeigen sie auf, wo ich selbst als Coach meinen Arbeitsschwerpunkt habe (und wo nicht). Wenn ich als Coach erkenne, dass das Problem eines Klienten vorrangig psychologischer Art ist, mein Schwerpunkt jedoch beim Verhaltenstraining und der Systemanalyse liegt, muss ich den Klienten an jemandem verweisen, der ihm oder ihr besser helfen kann. Zum Abschluss dieser perspektivischen Erörterungen stellen wir die Frage, wo darin die spirituelle Dimension eines Coaching zu sehen ist. Ausgehend von der oben angebotenen Definition von Spiritualität als demjenigen, was für einen Menschen oder eine Gemeinschaft von letztendlicher Bedeutung ist, liegt in der Anwendung der vier Quadranten eine große Wertschätzung für die Gesamtheit der Manifestation, eine Bejahung alles Geschaffenen, sowohl auf der Innenseite (Bewusstsein) als auch auf der Außenseite (Materie, Verhalten und Prozesse). In dieser Anerkennung und Würdigung aller bekannten Wirklichkeitsdimensionen, die sowohl in ihrer Größe als auch in ihren Grenzen und Zusammenhängen gesehen und geschätzt werden, liegt für mich eine große und auch spirituelle Dimension einer Coaching-Arbeit. Eine besondere Stellung nimmt dabei der OL-Quadrant ein als ein Zugangsweg zur Entdeckung der eigenen spirituellen Erfahrensdimension.

Entwicklung und spirituelle Coaching-Dimension Die Dinge verändern sich, und sie tun dies nicht nur im Sinne von »anders«, sondern es gibt auch Veränderungen, die eine bestimmte Richtung haben, wo wir von Komplexitätszunahme, Bewusstwerdung oder auch »besser«, »angemessener« oder »weiter entwickelt« sprechen. Entwicklung nimmt daher eine zentrale Rolle im Leben eines jeden Menschen ein und ist für viele Menschen das, worum es letztendlich geht. Dies führt uns zu einer weiteren (auch spirituellen) Facette oder Dimension von Coaching.

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Übung Nehmen Sie sich bitte einen Augenblick Zeit und reflektieren Sie darüber, was Entwicklung für Sie persönlich bedeutet. –– Sehen Sie Entwicklung a) als eine Geschichte mit Happy End, wo es insgesamt immer weiter geht und besser wird; b) als eine mehr horizontale und zyklische Bewegung, bei der man immer wieder an den Anfangspunkt zurückkehrt; oder c) als ein eher pessimistisches Ereignis und einen Abstiegsweg, bei dem die Dinge immer schlechter und schlimmer werden? –– Welchen Rang und Wert nimmt Entwicklung in Ihrem Leben ein? –– Welche Richtung nimmt Entwicklung, oder sollte sie nehmen, und wohin führt sie letztendlich? –– Wenn Sie einzelne Station Ihres Lebens betrachten – welche Richtung hat Ihr Leben dabei genommen, und wie geht es Ihnen mit Ihrem bisherigen Lebensweg? –– Wenn Sie Gesellschaften und die Welt als Ganzes betrachten – wohin führt deren Entwicklung, oder wohin sollte sie führen?

Ich möchte bei der nachfolgenden Entwicklungsdiskussion drei Arten von Entwicklung unterscheiden, die alle wesentlich zur Gesamtentwicklung beitragen, jedoch einer unterschiedlichen Betrachtung und damit auch (Coaching-)Methodik bedürfen. Dies sind –– die Entwicklung durch die Zustände des Seins, –– die Entwicklung durch die Strukturstufen des Seins, –– die Entwicklung durch die Klärung und Integration verdrängter Bewusst­seins­aspekte und Schattendynamiken. Der Zustandsweg von Entwicklung und Bewusstwerdung

Die Entwicklung durch die Zustände des Seins ist der klassische spirituelle/kontemplative Weg der Bewusstwerdung, der bereits seit Jahrtausenden von Menschen in den unterschiedlichen Kulturen gegangen wird und der damit auch eine spirituelle Dimension eines modernen Coaching darstellt. Zwei klassische Wegebeschreibungen dazu sind die »zehn Ochsenbilder« des Zen und die »sieben Zimmer der inneren Burg« in der Schilderung der Mystikerin Teresa von Avila. Die mystischen Wege der Weltreligionen (das Zen des Buddhismus, der kontemplative Yoga des Hinduismus, die christliche Mystik, die Sufis des Islam) sind in diesem Sinne ein »Coaching« des Erwachens. Worum es bei diesem Erwachen geht, machen wir uns an der folgenden vierstufigen Darstellung von Ken Wilber klar (Abb. 5; vgl. Wilber, 2001, S. 122). grobstofflich

subtil

kausal

Abbildung 5: Der Zustandsweg von Bewusstwerdung und Erwachen

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nichtdual

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Dieser (Praxis-)Weg, der Jahrzehnte in Anspruch nimmt und im Folgenden im Schnelldurchgang beschrieben wird, beginnt beim Offensichtlichen, der äußerlich-materiellen (grobstofflichen) Welt, für die wir unsere Wahrnehmung vertiefen können, um uns ihrer bewusster zu werden. Mit der Vertiefung dieser Wahrnehmung gelangen wir immer mehr zu unserer Innenwelt, das heißt in einen subtilen Daseinsbereich, als ein Universum von Visionen, Träumen, Inspirationen, Emotionen, als einem bunten, manchmal ekstatischen, manchmal erschreckenden Erscheinungskaleidoskop einer beseelten, lebendigen und dynamischen Welt, gesehen und wahrgenommen aus unserer Perspektive. Mit einer noch weiteren Durchdringung dieser Erscheinungswelt, zum Beispiel in Form einer Meditation, welche sowohl äußere wie innere Phänomene als vorübergehende Erscheinungen kommen und gehen lässt wie Wolken am Himmel, gelangen wir in den kausalen Bereich, der auch mit Begriffen wie »Absolutheit«, »Soheit«, »Seinsgrund« und »Leerheit« beschrieben und im achten Ochsenbild des Zen als leerer Kreis gezeichnet wird. Hier bewegt sich buchstäblich nichts, und Menschen, welche diese Dimension erfahren, sprechen von einer ebenso unbeschreibbaren wie unermesslichen Freiheit, einem großen Frieden und einer allumfassenden Liebe. Mit der weiteren Durchdringung dieser Kausalität tritt dann wieder die Welt der Formen und Erscheinungen neu hervor als eine Welt, die vom »einen Geschmack« der Leerheit durchdrungen ist. Diese Bewusstheit wird oft als »nichtdual« bezeichnet, weil sie, wie es beschrieben wird, alle Welten vereint, sowohl die der Absolutheit als die des Relativen – »Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist nicht anderes als Form« heißt es beispielsweise im buddhistischen Herz-Sutra. Mit den Worten eines chinesischen Weisen: Der Schatten des Bambus fegt die Stufen, doch der Staub rührt sich nicht. Die Scheibe des Mondes zieht über den Teich, doch das Wasser zeigt keine Spur. Obwohl das Wasser rasch fließt, ist die Landschaft stets ruhevoll. Obwohl immer wieder Blüten fallen, ist das Herz ganz von selbst in Frieden. Würden die Menschen diese Gedanken beherzigen, entsprechend reagieren und Äußerem begegnen – wie frei wären sie doch an Leib und Herz. (Aus dem Saikontan des Weisen Hung Ying-ming aus dem 16. Jahrhundert)

Die Befreiung von Leib und Herz ist das Ziel dieses Weges, und das war für Jahrhunderte der Weg des Erwachens der Menschen in allen Kulturen.

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Der Strukturweg von Entwicklung und Bewusstwerdung

Mit dem Aufkommen des Entwicklungsgedankens und der modernen Wissenschaft wurde deutlich, dass das menschliche Bewusstsein nicht nur Zugang zu unterschiedlichen Zustandsbereichen hat, sondern dass es sich auch strukturell entwickelt und dass diese Bewusstseins- oder auch Persönlichkeitsstrukturen einen enormen Einfluss darauf haben, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen und die Welt als Ganzes wahrnehmen. Ein und dasselbe Bewusstseinsphänomen, wie zum Beispiel ein Glas mit Wasser, kann unterschiedlich wahrgenommen werden (halbvoll oder halbleer), und dahinter steckt die große und revolutionäre Einsicht, dass Wirklichkeit nicht einfach so gegeben ist, sondern dass unser Akt der Wahrnehmung Wirklichkeit immer auch mit erschafft, und das führt uns zu den Strukturen des Bewusstseins und deren Entwicklung und einem weiteren wichtigen Coaching-Bereich und -Anliegen. Die Zeiten, wo Entwicklung in erster Linie an der menschlichen Kognition festgemacht und gemessen wurde (Intelligenztests), sind glücklicherweise vorbei, und wir haben heute, durch die Fortschritte der Entwicklungspsychologie, ein sehr viel differenzierteres Verständnis der menschlichen individuellen und kollektiven Bewusstseinsentwicklung (mit der wir uns hier schwerpunktmäßig beschäftigen möchten). Danach gibt es neben der kognitiven Intelligenz noch eine Reihe weiterer Intelligenzen oder Fähigkeiten, die für das menschliche Leben von besonderer Bedeutung sind, wie Identität, Werte, innerpsychische Kompetenz, emotionale Kompetenz, kinästhetische Kompetenz, somatische Kompetenz und so weiter. In Büchern mit Titeln wie »IQ? EQ? SQ! Spirituelle Intelligenz – das unentdeckte Potenzial« (Marshall u. Zohar, 2010) wird auch die Entwicklung einer spirituellen Intelligenz in die Diskussion eingebracht. Wie man die unterschiedlich beim Menschen zu entwickelnden Fähigkeiten sinnvoll benennt, unterscheidet oder gruppiert, ist nach wie vor in der Diskussion, doch Einigkeit herrscht darüber, dass Entwicklung ein mehrdimensionales Phänomen ist, sowohl für Individuen wie für Gemeinschaften, dem ein Coaching Rechnung zu tragen hat. Bezogen auf das Coaching von Individuen (bei Organisationen gibt es zum Teil abweichende Entwicklungslinien wie zum Beispiel Solidarität oder Führung, die hier jedoch aus Platzgründen nicht behandelt werden) stellt sich die Frage, welche Kompetenzen oder Intelligenzen dabei wichtig sind, mit welchen Diagnoseverfahren sich der Entwicklungsstand eines Menschen erkennen lässt und welche Entwicklungsmodelle zugrunde gelegt werden. Das ist ein sehr komplexes Thema und erfordert viel Erfahrung und daher können die folgenden Hinweise nur allgemeiner Art sein. Für eine Übersicht können wir wieder auf das Modell der vier Quadranten zurückgreifen.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

I N D I V I DU E L L Ä U S S E R L I C H

I N N E R L I C H

KO L L E K T I V Abbildung 6: Integramm (nach Rolf Lutterbeck)

In diesem von dem integralen Coach Rolf Lutterbeck entwickelten Modell des Integramms (Abb. 6) werden für jeden der Quadranten jeweils drei Hauptkompetenzen und manchmal auch noch andere Linien (oder Intelligenzen) benannt als Ansatzpunkte für Coaching-Interventionen. (Die Entwicklung verläuft dabei natürlich nicht so geradlinig, wie in den Linien idealisiert dargestellt, sondern in vielen Schlingen und Schlaufen, Kreisen, Stillständen, Fort- und Rückschritten.) Für den OL-Quadranten sind das Identität, Werte und Kognition, und die jeweils zugrunde gelegten Modelle sind das Entwicklungsmodell von Susan Cook-Greuter (Ich-Entwicklung), das von Clare Graves (Werteentwicklung) und das von Jean Piaget (Kognition). Prinzipiell wäre es auch möglich, mit nur einem Modell zu arbeiten. Dabei besteht jedoch die Gefahr des Vergleichs von Äpfeln mit Birnen, da jedes der genannten und von der Entwicklungsforschung bereitgestellten Modelle jeweils nur in Bezug auf die Messung einer bestimmten Kompetenz entwickelt wurde. Wir können im OL-Quadranten im Rahmen unseres Themas noch die spirituelle Erfahrungslinie hinzufügen. Für den OR-Quadranten wurden Kompetenzen bezüglich des eigenen Körpers, des Verhaltens und anderer Fähigkeiten aufgeführt, welche sich wiederum messen lassen zum Beispiel auf einer Skala: gar nicht – wenig – durchschnittlich – überdurchschnittlich – sehr weit. In Bezug auf den Körper würde das bedeuten, dass eine Einschätzung von –– »gar nicht« bei der betreffenden Person auf einen völligen Mangel an Körperwahrnehmung hinweist, beispielsweise zu Themen wie Sport und Ernährung, oder auch eine fehlende Wahrnehmung von Körpersignalen wie Verspannungen oder eine sich ankündigende Krankheit;

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–– »wenig« bedeuten würde, dass die betreffende Person nur ganz allgemeine Aussagen diesbezüglich über sich machen kann, wie körperliches Wohlsein/Unwohlsein, dies aber in keinen weiteren Bezug zu sich stellen könnte; –– »durchschnittlich« ein Körperbewusstsein bezeichnet, das schon differenzierter ist und unterschiedliche Grade der Körperwahrnehmung benennen kann, ebenso wie ein übliches Verhalten an den Tag legt, was Bewegung und Ernährung betrifft. Gleichzeitig beginnt auf dieser Stufe die Wahrnehmung eines Zusammenhangs und einer Wechselbeziehung von Psyche und Körper; –– »überdurchschnittlich« bedeutet, dass die betreffende Person eine differenzierte und bewusste Körperwahrnehmung hat und diese auch benennen und zum Ausdruck bringen kann. Die Wechselwirkungen Psyche/Körper werden wahrgenommen und bewusst gestaltet, so dass der Mensch sich aktiv um die eigene Gesundheit sowohl psychisch als auch körperlich bemüht; –– »sehr weit« bedeutet, dass die betreffende Person nicht nur über eine hohe körperliche Kompetenz verfügt (differenzierte Wahrnehmung, Vorsorge, Ausdruck, Entwicklung), sondern diese auch in den Dienst von anderen stellen kann und für andere damit Vorbildcharakter hat und andere zum Beispiel darin ausbilden und unterstützen kann, selbst ihre eigene Kompetenz darin zu entwickeln, das heißt, sie diesbezüglich zu coachen. (Darin kommt zum Ausdruck, dass eine Grundvoraussetzung eines guten Entwicklungs-Coaching in welcher Kompetenz auch immer darin besteht, dass der Coach sich selbst bereits entsprechend weit entwickelt hat und auch eine ausreichende methodisch-didaktische Kompetenz hat, was wiederum eine realistische Selbsteinschätzung durch den Coach voraussetzt.) Für die unteren »sozialen« Quadranten UL und UR benennt Rolf Lutterbeck drei Betrachtungsschwerpunkte, und zwar familiäre Herkunft, gegenwärtiges privates und gegenwärtiges berufliches Umfeld, und betrachtet diese jeweils von der Innenseite (UL) und von der Außenseite (UR) her. So trägt er der Tatsache Rechnung, dass wir sowohl soziale als auch uns entwickelnde Wesen sind, mit einer enormen Bedeutung für das Coaching. Entwicklungsarbeit bedeutet ja nicht nur ein »immer weiter«, sondern hat daneben auch noch eine ebenso bedeutende integrierende und heilende Komponente, bei der alles das, was auf dem individuellen oder auch kollektiven Entwicklungsweg vernachlässigt wurde und unintegriert blieb, im Rahmen einer biografischen CoachingArbeit, die zu einem Entwicklungs-Coaching unbedingt dazugehört, angeschaut und integriert werden kann. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn jemand aus einer traditionellen Ursprungsfamilie stammt und unter einer strengen Sozialisation von »du darfst nicht« und »du musst« gelitten hat, dann ist es auf dem weiteren Entwicklungsweg zuerst einmal wichtig, zu dieser bedeutenden Entwicklungsstufe ein gesundes Verhältnis zu bekommen, in dem Verletzungen geheilt und Übertreibungen zurückgewiesen werden, wo aber auch das Wesentliche und Gesunde dieser Stufe (jede trans-konventionelle und trans-traditionelle

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Entwicklung setzt eine gesunde konventionelle Basis voraus) integriert werden kann. Auf einer gesunden Basis lassen sich dann mit dem Klienten zusammen die weiteren Entwicklungsschritte angehen. In einem Beitrag für das vom Integralen Forum (www. integralesforum.org) herausgegebene »Online Journal« beschreibt Rolf Lutterbeck seine Arbeitsweise mit dem Integramm, kombiniert mit einer Aufstellungsskizze, wie folgt (vgl. Lutterbeck, 2009). Ich lasse den Klienten zunächst sein Anliegen schildern und beginne dann meistens im rechten unteren Quadranten, in dem ich mir Informationen über seine »Systeme« oder »Kontexte« geben lasse. Sofern es der Klient zulässt, interessieren mich sein Herkunftssystem, sein privates aktuelles Umfeld und sein berufliches Umfeld. Einige Business-Klienten wollen aber nicht so in die Tiefe gehen und ich belasse es – zumindest beim ersten Treffen – beim Beruflichen.

Abbildung 7: Analyse eines Führungsproblems

Dann lasse ich dies – ergänzt um Aspekte des Anliegens – in einem dreidimensionalen Bild darstellen, indem ich den Klienten Symbole mit Blickrichtung auf dem Tisch stellen lasse, meistens schlichte, assoziationsfreie Holzklötzchen (Abb. 7). Ich mache also eine symbolische Strukturaufstellung auf dem Tisch, die mir und auch dem Klienten schon eine

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Menge zeigt. Dabei wird ihm schon einiges klar und ersichtlich. Hinzu kommt mein Wissen aus acht Jahren Aufstellungsarbeit, welche Bedeutungen Abstände, Positionen, Winkel und Blickrichtungen haben können. Hier wird oft schon erkennbar, was das eigentliche Thema des Klienten ist. Oder anders gesagt: womit man im Veränderungsprozess beginnen sollte. Aus meiner Erfahrung heraus hat es wenig Sinn, in den oberen Quadranten etwas zu verändern, wenn es »unten« systemische Problemanteile gibt. Erst wenn ich systemisch nicht mehr verstrickt bin, bin ich frei für meinen eigenen Weg. Durch das Symbolbild, vertiefende Fragen über die Weltsichten und Beziehungsqualitäten der Systeme und manchmal Aufstellungen mit Personen – jetzt befinden wir uns schon im linken unteren Quadranten – gehe ich auf die Suche nach systemischen Blockaden. Wenn es welche gibt, versuche ich diese zu lösen, zum Beispiel mit Aufstellungen als der für mich effektivsten und effizientesten und damit auch schnellsten Methode. Der Klient muss sich aber darauf einlassen. Wenn er es tut, beende ich in der Regel nach diesem Veränderungsschritt die Coaching-Sitzung, damit der Klient Zeit bekommt, dem neuen Bild Raum zu geben und nachzuspüren. Eine Auflösung einer Verstrickung kann im Leben des Klienten schon eine Menge verändern. Vielleicht hat sich sein Anliegen, mit dem er einmal gekommen war, mit dem bis hier stattgefundenen Coaching-Prozess schon erledigt; sofern sein Anliegen die Lösung eines aktuellen Problems war. Wenn alles aktuell Wichtige in den unteren Quadranten geklärt ist, konzentriere ich mich auf die individuellen oberen Quadranten, zunächst das Innen, die Glaubenssätze, die Werte usw., und dann das Außen. Ist der Klient zum Beispiel Pluralist und hat aber die eigentlich ich-bezogene Überzeugung »Die Welt ist gefährlich, ich muss mich wehren!« und verhält sich somit oft unpassend aggressiv, dann ist hier Veränderungsbedarf. Die Schritte eines Entwicklungs-Coaching

Nachfolgend fasse ich die wesentlichen Schritte für den Aufbau und die Durchführung eines erfolgreichen und verantwortlichen Entwicklungs-Coaching zusammen: –– Schritt 1: Weil Entwicklungseinschätzungen (die wir gegenseitig ständig vornehmen, bewusst oder unbewusst) eine wertende und damit auch heikle Angelegenheit sind, ist es wichtig, sich als eine solide Grundlage für die Coaching-Arbeit wissenschaftsbasierte Kenntnisse über Entwicklungsmodelle, speziell der Entwicklungspsychologie, zu verschaffen. –– Schritt 2: Die Kenntnisse von Entwicklungsmodellen ist das eine, eine realistische Selbsteinschätzung der eigenen Entwicklung in unterschiedlichen Kompetenzen ist etwas ganz anderes, aber eine ebenso notwendige Voraussetzung für eine verantwortliche Coaching-Arbeit. Diesbezüglich empfiehlt es sich, sich selbst coachen zu lassen, entweder professionell oder nichtprofessionell, Letzteres durch das Ernstnehmen von Rückmeldungen und Hinweisen aus der Umgebung die eigene Person betreffend. Reflexion: Wenn Sie zehn Menschen Ihres Vertrauens unabhängig voneinander bitten würden, Sie in Ihrem Charakter und Ihren Persönlichkeitsmerkmalen zu beschreiben, worin würden diese Menschen dann überwiegend übereinstimmen?

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(Wenn Sie nicht sicher sind, können Sie diese Befragung in Ihrem Freundeskreis durchführen.) Gehen wir davon aus, dass diese Merkmale Persönlichkeitseigenschaften von Ihnen sind, die sich entwickelt haben – dann nehmen Sie nun ein (oder mehrere) Entwicklungsmodell(e) Ihrer Wahl und versuchen Sie anhand der Stufenbeschreibungen dieser Modelle sich selbst dort wiederzufinden. –– Schritt 3: Nach einer erfolgten (und hoffentlich erfolgreichen) Selbsteinschätzung kann eine Auswahl getroffen werden, an welchen der Kompetenzen und Fähigkeiten man mit anderen arbeiten möchte und welche man für einen Klienten als wesentlich ansieht (das kann von Klient zu Klient unterschiedlich sein). –– Schritt 4: Daran anschließend können geeignete Diagnoseverfahren entwickelt werden, die es ermöglichen, die Entwicklungsstufe eines Menschen realistisch einzuschätzen. Dies schließt die Fähigkeit zur Selbstreflexion mit ein, auf welche Weise und nach welchen Kriterien man selbst bisher (unbewusst) Entwicklungseinschätzungen vorgenommen hat. –– Schritt 5: Darauf aufbauend können geeignete Methoden entwickelt oder übernommen werden, die es ermöglichen, a) auf dem bisherigen Entwicklungsweg eines Menschen heilend einzuwirken und b) ihm dabei zu helfen, auf einer gegebenen Entwicklungsstufe den nächsten Entwicklungsschritt zu tun. Beispiel emotionale Kompetenz

Die genannten Schritte werden im Folgenden am Beispiel der emotionalen Kompetenz erläutert. Schritt 1 besteht darin, sich einen soliden Überblick darüber zu verschaffen, was die moderne Entwicklungspsychologie unter emotionaler Kompetenz versteht und in welchen Stufen sich diese Kompetenz entfaltet. Das Modell des »Integral Psychograph«, das wir jetzt dazu verwenden, stammt von Brett Thomas und John Forman (2005). Dieses Modell beschreibt die emotionale Kompetenz in fünf Stufen. Bei der emotionalen Intelligenz geht es um introspektive Intelligenz und Selbstreflexion. Menschen lernen dabei, sich selbst realistisch und objektiv einzuschätzen. Dazu gehören die innerliche Welt der Gefühle, Werte und Vorstellungen und das Selbstmanagement. Emotionale Intelligenz, wie sie auch genannt wird, hat mit Selbstbewusstheit zu tun als einer Bewusstheit der eigenen innerlichen Zustände und Vorstellungen und der Fähigkeit, damit umzugehen (Selbstmanagement). Dazu gehören folgende Fähigkeiten: –– eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, –– die Praxis emotionaler Selbstbeherrschung, –– Verantwortlichkeit und Zuverlässigkeit, –– optimistisch und initiativ sein, –– der Umgang mit Motivation und Antrieb, –– Toleranz für Chaos und Veränderung, –– Anpassungsfähigkeit und Einfallsreichtum.

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Stufe 1: Auf Gedeih und Verderb den eigenen Emotionen ausgeliefert Das eigene Innenleben ist einem selbst weitgehend unbekannt und andere Menschen oder äußere Umstände werden als die Ursache eigener Gefühle betrachtet. Gefühle werden eher als von außen verursacht als von innen erzeugt erfahren. Graduelle Unterschiede zwischen den Emotionen werden ebenso wenig erkannt wie die eigenen »Knöpfe«, die einen reagieren lassen. Stufe 2: Fähigkeit der Selbstkontrolle15 Auf dieser Ebene der emotionalen Entwicklung gibt es ein allgemeines Verständnis für die herrschenden sozialen Regeln, innerhalb derer akzeptables Verhalten und Kommunikation stattfinden. Menschen dieser Entwicklungsstufe beginnen die Vorteile von Austausch und Interaktion zu schätzen. Unpassende Kommentare, unkontrollierte emotionale Ausbrüche oder das Ausagieren negativer Impulse werden vermieden. Stufe 3: Die Fähigkeit, Rückmeldungen zu akzeptieren und aufzunehmen Auf dieser Ebene bestehen bereits eine Vertrautheit mit den eigenen Emotionen und ein Kennen der eigenen Auslöser und »Knöpfe«, die bestimmte emotionale Reaktionen hervorrufen. Feinabstufungen von Emotionen werden erkannt sowie ihr Einfluss auf das Denken und Verhalten. Menschen auf dieser Entwicklungsstufe beginnen sich selbst zu verstehen, ihre Art und Vorlieben, ihre Stärken und Schwächen, und konstruktive Kritik wird nicht mehr personalisiert. Kränkungen und Beleidigungen werden ertragen und ihnen wird angemessen begegnet. Rückmeldungen sind willkommen und eine Gelegenheit zum Lernen und für Veränderungen. Stufe 4: Die Fähigkeit, emotionale Antworten als Referenzpunkte zu betrachten Menschen auf dieser Ebene sind sich ihrer eigenen Innerlichkeit in hohem Maße bewusst. Sie bleiben emotional ruhig und positiv, auch inmitten von Stress und Konflikt. Diese Menschen sind meist sehr motiviert und initiativ. Stufe 5: Die Fähigkeit, als ein »Container« und Rahmen zu wirken, in dem die emotionale Entwicklung anderer stattfinden kann Diese Menschen können sich leidenschaftlich in ihrem Beruf oder in einer Aufgabe engagieren, jedoch ohne sich darin zu verlieren. Innere Erfahrungen werden erfolgreich gestaltet, es herrschen eine große Transparenz nach innen und außen sowie eine optimistische und engagierte Grundstimmung, die weitgehend unabhängig ist von äußeren Umständen. Die eigenen Stärken und Grenzen sind bekannt und die Kommunikation ist ein lebendiges Geben und Nehmen, ohne Arroganz und Abwehrhaltung. Diese 15 Nicht zu verwechseln mit Verdrängung. Bei der hier gemeinten Selbstkontrolle werden die Emotionen innerlich wahrgenommen, als etwas Eigenes erkannt, und können in der Wahrnehmung »gehalten« werden.

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Menschen sind »transparent« gegenüber sich selbst und verkörpern Eigenschaften wie Optimismus, Offenheit und Leidenschaftlichkeit. Sie sind in der Lage, die schwierigen Emotionen anderer (aus) zu halten, ohne reflexartig zu reagieren oder den Gleichmut zu verlieren. Ihre Interaktion unterstützt emotionale Bewusstheit und ein gutes Gefühl derer, die sich um sie herum befinden. Positive emotionale Zustände werden kultiviert und bei anderen gefördert. Schritt 2: Nach diesem Lernen dessen, was kognitive Entwicklung beim Menschen ist, auch unter Heranziehung weiterer Modelle, besteht der zweite Schritt für den Coach darin, sich selbst realistisch einzuschätzen, auch unter Zuhilfenahme von Fremdeinschätzungen: Wo stehe ich selbst schwerpunktmäßig in meiner emotionalen Entwicklung? Mit dem 3. Schritt wird dann die Entscheidung getroffen, ob man sich zutraut (und ob man das möchte), an der Entwicklung dieser Kompetenz mit anderen Menschen zu arbeiten. Wenn das der Fall ist, dann kann im 4. Schritt daran gegangen werden, sich Methoden und das entsprechende Einfühlungsvermögen zu erarbeiten, das es einem ermöglicht, die emotionale Entwicklung anderer einzuschätzen. Dazu gehört zuallererst, sich klarzumachen, nach welchen Kriterien man das bereits ad hoc tut (Verhalten, Aussageninhalte, grammatischer Stil, Aussehen, eigenes Gefühl, biografische Erfahrungen usw.), und diese Einschätzungen dann zu erweitern um objektivere Kriterien, zum Beispiel unter Heranziehung psychometrischer Messmethoden der Entwicklungspsychologie. Im 5. Schritt schließlich geht es darum, wie man Menschen auf den unterschiedlichen Stufen dabei begleiten kann, den Schritt zur jeweils nächsten Stufe zu tun. Allgemein gesprochen geht es bei dem Schritt von Stufe 1 zu Stufe 2 darum, Menschen überhaupt erst einmal den Zugang zu ihrer eigenen emotionalen Innerlichkeit zu eröffnen und es ihnen zu ermöglichen, sich zu öffnen und von innen her kennenzulernen, auch und gerade ihre schwierigen Emotionen betreffend (Angst, Gier Neid, Missgunst, Unversöhnlichkeit …). Wenn das erreicht ist, was eine Zeit dauern kann (Entwicklungsprozesse messen sich in Monaten und Jahren), geht es darum, zu lernen, mit den Inhalten der eigenen Innerlichkeit und des eigenen Bewusstseins umzugehen – das heißt, diese weder zu verdrängen noch sie auf Kosten anderer auszuleben, sondern sie kreativ im eigenen Leben zum Ausdruck zu bringen. Ist das geschafft, befindet man sich bereits in der obigen Entwicklungsskala auf Stufe 2 und kann daran gehen, den eigenen Innenraum immer mehr zu erweitern, so dass nicht nur die eigene Innerlichkeit darin ausreichend Platz hat, sondern immer mehr auch schwierige und kritische Rückmeldungen anderer. Man hält dann, vereinfacht gesprochen, nicht nur sich selbst in unterschiedlichsten Lebenssituationen aus, sondern auch immer mehr andere Menschen, insbesondere Mitmenschen, die man als schwierig empfindet und die Reaktionen wie Abwehr und Ablehnung hervorrufen (Stufe 3). Diese Fähigkeit kann dann noch weiter ausgebaut

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werden, so dass man mehr und mehr die Chancen und Wachstumsgelegenheiten zu schätzen weiß, die einem schwierige emotionale Erlebensinhalte bieten, egal ob diese von innen kommen oder einem im Außen begegnen (Stufe 4). Schließlich ist man ein Experte auf diesem Gebiet und wird gern von anderen um Rat gefragt und aufgesucht, weil diese spüren, dass sie bezüglich ihrer eigenen emotionalen Entwicklung bei einem gut aufgehoben sind (Stufe 5). Aus dem Gesagten ergibt sich eine wesentliche Grundvoraussetzung eines jeden Entwicklungs-Coaching: Ein Coach sollte dabei (auch spirituell) in den für das Coaching-Anliegen wichtigen Linien weiter entwickelt sein als der Klient, um »auf« ihn oder sie schauen und helfen zu können. Der Schattenweg von Entwicklung und Bewusstwerdung

Der eingangs dieses Entwicklungsabschnitts beschriebene Weg durch die Zustandsbereiche öffnet unsere Wahrnehmung für die großen Erfahrensdimensionen und alles das, was sie für unser Menschsein und Leben bereithalten. Der danach beschriebene Entwicklungsweg, auf dem wir im Verlauf unserer Biografie unsere Persönlichkeitsstrukturen bilden, mit denen wir uns selbst, unsere Mitmenschen und die Welt wahrnehmen und interpretieren, macht uns unsere Einzigartigkeit bewusst und hilft uns, uns selbst und andere Menschen dort abzuholen, wo sie sich in ihrer Entwicklung (auf unterschiedlichen Linien oder Kompetenzen) gerade befinden. Es gibt jedoch noch einen dritten Aspekt oder Weg, der gleichermaßen wichtig ist und dessen Bedeutung als eine weitere und auch spirituelle Dimension des Coaching erst in den letzten Jahrzehnten hervorgetreten ist, und das ist der Schattenweg (oder der Weg der Psychodynamik). Die moderne Psychologie und ihre Erforschung des Unbewussten haben uns eine Fülle von psychodynamischen Mechanismen aufgezeigt, die ständig in uns arbeiten und damit einen enormen Einfluss auf uns ausüben, von denen wir jedoch, wenn wir uns nicht damit beschäftigen, nichts wissen. Von Abspaltung über Adaption und Fehlleistung weiter zu Kompensation, Neurose, Projektion, Regression und Sublimierung bis hin zu Suggestion, Tabu, Übertragung, Verschiebung und Zwang hat die menschliche Psyche im Laufe ihrer Entwicklung eine Reihe von Mechanismen entwickelt, um in der Welt besser zurechtzukommen, die jedoch alle einen Preis haben, und zwar den einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung. Die Aufdeckung und Lösung dieser Mechanismen erfordern bestimmte Methodiken und Techniken und sind weder durch die Entwicklung in den Zustandsbereichen noch durch die Entwicklung durch die Bewusstseinsstufen zu ersetzen. Dies ist der Schattenweg der Bewusstwerdung, er führt uns mythologisch in die Unterwelt und modern ausgedrückt in die Schattenbereiche unseres Seins, wo wir Dingen begegnen, die wir auf unserem Entwicklungsweg liegengelassen oder verdrängt haben, die jedoch zu uns gehören und auf ihre Integration warten. Dazu ein bekanntes Beispiel: Schon in der Bibel wird durch das Gleichnis vom Splitter und dem Balken im Auge auf das grundlegende Phänomen von Wahrnehmungsverzerrung durch Verdrängung und Projektion

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

hingewiesen. Was ich bei mir nicht sehen will (z. B. Arroganz), als ein Balken im eigenen Auge, projiziere ich auf andere und rege mich dann über deren »Splitter« auf. Doch es ist nicht so sehr die Arroganz der anderen (die natürlich auch real sein kann), die mich auf die Palme bringt und alle möglichen Abwehrreaktionen hervorruft, sondern es ist in diesem Fall meine eigene verdrängte Arroganz, die ich im Außen bekämpfe. Es gibt wohl kaum einen anderen Mechanismus in der Welt, der zu so viel Leid (einschließlich Völkermord) beigetragen hat, wie der von (individueller und kollektiver) Verdrängung und Projektion. Auf der persönlichen Ebene bedeutet dies, jede Aufregung im Inneren als einen Anlass zu nehmen, um nachzuschauen, ob dabei nicht auch ein Stück eigene Verdrängung und Projektion mitschwingt. Somit wird jede Irritation im Leben zu einer Gelegenheit, Abgespaltenes anzunehmen und zu integrieren, um so ein Stück ganzer und vollständiger zu werden. Dabei hilft einem ein Schatten-Coaching, welches, als eine spirituelle Komponente, auch zu mehr Licht führt, und zwar dem Licht der eigenen Ehrlichkeit, Integrität, Größe und Ganzheit.

Typologisches Coaching als ein Weg zu mehr Freiheit in der Vielfalt Geht es beim Entwicklungs-Coaching in erster Linie um Transformation als eine vertikale Bewegung, trägt ein typologisches Coaching der horizontalen Vielfalt, Fülle und Breite der Erscheinungswelt Rechnung. (In der Praxis werden beide Coaching-Formen oft miteinander vermischt.) Typologien in diesem Sinne sind unterschiedliche, aber gleichwertige Merkmalsausprägungen. Das Coaching-Ziel dabei ist, dem Klienten Alternativen an die Hand zu geben, um in gegebenen Situationen ein Repertoire von Möglichkeiten zu haben und nicht (unbewusst) auf einen Typus festgelegt zu sein. Es gibt eine große Anzahl von typologischen Systemen, hier eine sehr kleine Auswahl, geordnet nach der Anzahl der Merkmalsausprägungen:   2 Yin/Yang; aktiv/passiv; introvertiert/extrovertiert; maskulin/feminin; analytisch/ synthetisch   3 Kapha/Pita/Vata (Ernährung)   4 Elemente; Temperamente   5 chinesische Elemente  8 Myers-Briggs-Typ-Indikator  9 Enneagramm 38 Bachblüten Ein typologisches System haben wir bereits angesprochen, und zwar die Quadranten, die man als gleichwertige, aber unterschiedliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit, also als eine Typologie betrachten kann. Auch dort ging es darum, durch die Berücksichtigung aller (oder möglichst vieler) Perspektiven/Quadranten auf eine Situation eine möglichst umfassende Sicht zu erhalten, was zu mehr Bewusstheit, Information und damit auch Entscheidungsfreiheit führt.

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Michael Habecker: Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension

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Ich möchte nun, wie schon bei der Vorstellung eines Entwicklungs-Coaching, für das typologische Coaching Vorgehensschritte vorstellen und diese dann an einem Beispiel erläutern. Die Schritte eines typologischen Coaching

–– Schritt 1: Die Auswahl einer (oder mehrerer) Typologie(n), mit der man arbeiten möchte, die einem liegt und mit der man vielleicht schon gute Erfahrung gemacht hat. –– Schritt 2: Die Selbsteinschätzung nach dieser Typologie. Reflexion: Nehmen Sie eine Typologie Ihrer Wahl (z. B. introvertiert/extrovertiert) und reflektieren Sie darüber, wie sich beide Ausprägungen in Ihrem Leben zeigen. Wo sind dabei Ihre Stärken, wo Ihre Schwächen? Wie zeigen sich beide Ausprägungen a) in Ihrem Bewusstsein (gedanklich, gefühlt, körperlich)?, b) in Ihrem Verhalten?, c) in Ihren Beziehungen? Ziehen Sie gegebenenfalls auch Menschen Ihres Vertrauens hinzu und bitten Sie diese um eine diesbezügliche Einschätzung Ihrer Person. Woran möchten Sie hinsichtlich dieser Typologie an sich arbeiten? –– Schritt 3: Nach einer erfolgten Selbsteinschätzung kann eine Auswahl getroffen werden, welche Typologie in welcher Coaching-Situation zum Einsatz kommen soll (das kann von Klient zu Klient und Fall zu Fall unterschiedlich sein). –– Schritt 4: Daran anschließend können geeignete Diagnoseverfahren entwickelt werden, die es ermöglichen, das typologische Profil eines Menschen realistisch einzuschätzen – wo liegen seine Stärken und Schwerpunkte, welche Eigenschaften sind vernachlässigt und welche Merkmalsausprägungen werden auf eine ungesunde oder ineffiziente Weise gelebt? –– Schritt 5: Darauf aufbauend können geeignete Methoden entwickelt oder übernommen werden, die es dem Klienten ermöglichen, eine gesundere, effizientere und größere typologische Breite und Vielfalt zu leben. Ein Beispiel mit der Typologie der vier Elemente

Schritt 1 besteht in der Auswahl dieser Typologie in einer Coaching-Situation, mit der Voraussetzung, dass man bereits selbst genügend Erfahrung damit gemacht hat, selbst ein klares Verständnis der vier Merkmalsausprägungen (Erde, Wasser, Feuer, Luft) hat und eine realistische Selbsteinschätzung vorgenommen hat (Schritt 2).

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Luft

Ausdauer, Stärke, »steter Tropfen …« Naturgewalt, Tod/Ertrinken, Lebenselixier, Jungbrunnen, Gewalt

Energie Transformation Leidenschaft Verbrennung/Angst

Feuer

Wasser

Beweglichkeit, Lebendigkeit, Veränderung, Wind, Atem, »in der Luft hängen«, Luftikus, Illusion (Luftschloss), Oberflächlichkeit (»heiße Luft«)

Beständigkeit, Bodenhaftung, Heimat, Zuverlässigkeit, Halt, Enge, Monotonie, Lebenskraft, traditionelle Starre, Unbeweglichkeit Erde Abbildung 8: Persönliches Assoziationsfeld zu den vier Elementen

Nach erfolgter Selbsteinschätzung und der Entscheidung, dass diese Typologie auch für den Klienten mit seiner Themenstellung geeignet ist (Schritt 3), kann man damit beginnen, mit dem Klienten an seinem Assoziationsfeld zu den vier Merkmalsausprägungen zu arbeiten (Abb. 8). Eine Möglichkeit, die Assoziationen des Klienten zu differenzieren, ist die Unterscheidung nach positiven, neutralen und negativen Assoziationen. Diese persönlichen Assoziationen können dann in einen Bezug zu einer konkreten Aufgabenstellung (z. B.: »Was bedeuten die Eigenschaften der vier Elemente für Sie in Bezug auf Ihr Thema der Verbesserung Ihrer Durchsetzungsfähigkeiten?«) gesetzt werden (Schritt 4) und danach folgt dann die konkrete Arbeit an bestimmter Eigenschaften, die z. B. bisher vernachlässigt wurden, für die konkrete Themenstellung aber wichtig sind (Schritt 5). Soweit ein kurzer Einblick in eine Art und Methode des Coaching, die auf Varianz, Vielfalt und Ressourcen- und Alternativfindung angelegt sind. Die spirituelle Dimension liegt dabei für mich in genau diesen Eigenschaften, der Erschließung der Breite und Fülle des Daseins in all seinen unterschiedlichen Merkmalsausprägungen und Erfahrens- und Handlungsmöglichkeiten für den Klienten.

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Michael Habecker: Integrale Perspektiven auf ein Coaching mit spiritueller Dimension

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Ausblick Ein integrales Coaching mit spiritueller Dimension, als ein metasystemisches Coaching, welches die Stärken aller bestehenden Coaching-Ansätze vereint und deren jeweilige Begrenzungen erkennt und damit überwindet, steckt noch in den Kinderschuhen und gewinnt gleichzeitig immer mehr an Bedeutung. Es erfordert nicht nur ein neues, integrales Instrumentarium, aufbauend auf dem Methodenschatz bestehender Praktiken und ergänzt um neu entwickelte Methoden, sondern auch einen entsprechend informierten und entwickelten Coach. Das Thema Entwicklung in seinen unterschiedlichen Aspekten ist dabei ebenso zentral wie die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und Typenvielfalt. Die spirituelle Dimension ist unverzichtbar. Sie eröffnet uns sowohl die Absolutheitsdimension und Ewigkeit der Existenz wie auch die ganze Tiefe und Breite der manifesten Vergänglichkeit. Für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und wertvolle Anregungen dazu bedanke ich mich bei Rolf Lutterbeck.

Literatur Küstenmacher, M., Haberer, T., Küstenmacher, W. (2010). Gott 9.0. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lutterbeck, R. (2009). Eine Plauderei über Integrales Coaching. Integral informiert. Online Journal Ausgabe 20. Zugriff am 16. 1. 2012 unter: www.rolflutterbeck.de Marshall, I.; Zohar, D. (2010). IQ? EQ? SQ!: Spirituelle Intelligenz – das unentdeckte Potenzial. Bielefeld: Kamphausen Teresa von Avila (1979). Die innere Burg. Zürich: Diogenes. Thomas, B.; Forman, J. (2005). Introduction to the Integral Psychograph. Unveröffentlichtes Manuskript. Wilber, K. (2001). Integrale Spiritualität. München: Kösel. Wilber, K. Patten, T., Leonard, A., Morelli, M. (2010). Integrale Lebenspraxis. München: Kösel.

Michael Habecker, Jahrgang 1953, Diplom-Wirtschaftsingenieur, ist seit 1993 selbständig tätig als Seminarleiter, Berater, Autor und Musiker. Er beschäftigt sich mit Ken Wilbers Werk seit 1985, ist Gründungsmitglied der Integralen Initiative Frankfurt Main e.V. (IIF) und von Die Integrale Akademie (DIA), Mitarbeit im Integralen Forum (www.integralesforum.org).

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Der Ansatz des generativen Coaching Stephen Gilligan im Interview 16

M. H.17: Wie steht dein Ansatz des generativen Coaching in der Tradition der Hypnotherapie Milton Ericksons? S. G.: Ich habe Psychotherapie als Student von Milton Erickson, dem Gründer der modernen Hypnotherapie, gelernt. Erickson ging radikal von der Intelligenz des Unbewussten aus und seine therapeutischen Sprachmuster waren darauf ausgelegt, in vielfältiger Weise mit dem Unbewussten des Klienten zu kommunizieren. Milton Erickson hatte eine einzigartige Fähigkeit, sein eigenes Bewusstsein so zu organisieren, dass es optimal mit den Mustern des Unbewussten seiner Patienten kooperierte. Gleichzeitig war ich ein Kind der Sechzigerjahre, der Human-potential-Bewegung, und habe früh gelernt, wie hilfreich es ist, Menschen im Lichte ihrer Fähigkeiten und Potenziale zu betrachten, statt ausschließlich unter dem Label ihrer Pathologie oder Probleme. Ericksons Arbeit eröffnete auf der einen Seite einen Zugang zu den Potenzialen des Unbewussten, ordnete aber auf der anderen Seite die Fähigkeit, diese Potenziale in einer Krise oder Problemsituation zu nutzen, hauptsächlich dem Therapeuten zu. Der Therapeut hatte aus dieser Haltung die Aufgabe, das Bewusstsein des Klienten quasi auszuschalten, um mit dem Unbewussten arbeiten zu können, was ich als inkongruent zu einer potenzialorientierten Sichtweise erlebte. Ich versuchte also Wege zu finden, um das, was der Hypnotherapeut tat, was ich manchmal die »Erickson-Funktion« nenne, dem Klienten zu vermitteln, so dass er diese Fähigkeiten selbst entwickeln und für sich nutzen konnte. Generatives Coaching fördert also die Fähigkeit des Klienten, selbst auf konstruktive Weise mit dem eigenen Unbewussten zu kommunizieren, um dessen Potenziale für Lösung und Entwicklung voll zu nutzen. M. H.: Du nanntest die Entwicklung von Bewusstsein und Selbstbeziehung als zentrales Anliegen deines Ansatzes von Coaching. Kannst du das noch weiter ausführen? S. G.: Der Ansatz des generativen Coaching arbeitet mit Bewusstsein und Selbstbeziehung als zentralem Raum für Erleben, Handeln und damit auch Entwicklung. Als Arbeitsmodell unterscheide ich drei Bewusstseinsebenen, die somatische Ebene, die 16 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 16. Mai 2011 in Köln geführt. 17 M. H. = Markus Hänsel. – S. G. = Stephen Gilligan.

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Stephen Gilligan im Interview: Der Ansatz des generativen Coaching

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kognitive Ebene oder Ego und die generative Ebene. Diese Unterscheidung ist als Hilfsmodell für die Praxis gedacht. Der entscheidende Faktor ist die Beziehung zwischen dem, was ich kognitives Selbst (cognitive self) nenne, was wir normalerweise als Bewusstsein bezeichnen, und dem, was ich den somatischen Geist (somatic mind) nenne, einem Teil des Unbewussten, der alle Funktionen des Organismus automatisch regelt und stark körperlich verankert ist. Wenn wir eine gute Beziehung zwischen diesen beiden Bewusstseinszuständen haben, entsteht etwas Drittes, ein Beziehungsselbst, das ich das generative Selbst (generative self) nenne. Dies ist ein neuartiger, veränderter Bewusstseinszustand, in der Hypnotherapie sprechen wir von einer Trance, in der uns kreative Fähigkeiten zur Verfügung stehen, die sehr hilfreich für Veränderung und Transformation sind. Um dieses generative Selbst zu entwickeln, müssen wir lernen, die Wahrnehmung gleichermaßen nach innen und nach außen zu richten. Der nach innen gerichtete Aufmerksamkeitsfokus ist auf die körperliche Erfahrung gerichtet, darauf, wie das Unbewusste somatische Phänomene erfährt. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst werden, wie wir Gefühle und Geistiges als Verkörperung wahrnehmen. Eugene Gendlin prägte dafür den passenden Begriff des Felt-Sense. Aus anderen Ausdruckformen wie darstellender Kunst, improvisierender Musik oder auch Sport wissen wir allerdings, dass für Kreativität und Veränderung ein nach außen gerichteter Aufmerksamkeitsfokus wichtig ist, in dem wir eine wache und gleichzeitig entspannte Konzentration aufrechterhalten können. Das ist ähnlich der Flow-Erfahrung, in der wir gleichzeitig klar außenorientiert und in gutem Kontakt mit dem eigenen Körper sind und gerade dadurch zu außerordentlichen Leistungen fähig sind. Die Ausrichtung von Trance-Zuständen nach innen und nach außen gleichzeitig ermöglicht es dem Coach, sowohl in eine starke Verbindung mit dem Klienten im Coaching zu gehen als auch zugleich mit der Kreativität des eigenen Unbewussten verbunden zu sein. M. H.: Welche Veränderung im Verständnis von Problem und Lösung im Coaching bringt dies mit sich? S. G.: Ein Grundverständnis im generativen Coaching besteht darin, konkrete Probleme oder Symptome, wie etwa Anspannung, Burnout und Depression, nicht einfach nur als Krankheit zu sehen, sondern als Anzeichen und Bedingungen von Veränderung und Entwicklung. Dieser tiefgreifende Prozess fordert den Menschen dazu auf, sich neu zu orientieren und auszurichten. Die Lösung ist aus dieser Sicht eng mit einer Entwicklung des Bewusstseins verknüpft. Eine Krise des Einzelnen oder auch eines ganzen Systems ist eine Gelegenheit für Veränderungen und manchmal sogar nötige Bedingung, um das alte dysfunktionale Muster aufzubrechen. Damit diese Entwicklung wirklich tragfähig ist, braucht es analog zu den drei Juwelen, also den zentralen Prinzipien im Buddhismus, drei Ansätze im Coaching: erstens den Kontakt zu einer tieferen sinnstiftenden Ebene, zweitens praktische Wege und Ansätze, dies im eigenen Leben umzusetzen, und drittens die Gemeinschaft von Men-

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

schen, die dies unterstützen, die eine ähnliche Ausrichtung haben und auf einem ähnlichen Weg sind. Gleichzeitig kann eine tiefgreifende Veränderung immer eine Phase von Einsamkeit, Isolation und Leid mit sich bringen, wenn man die eingefahrenen, bewährten Pfade verlässt. Thomas Merton sagte einmal: Ich bin nicht Mönch geworden, um mehr als andere zu leiden, ich bin Mönch geworden, um effektiver zu leiden. Ich denke, das drückt aus, dass es im Leben immer ein Maß an Leid gibt, das wir zu bewältigen haben, insbesondere weil sich alles ständig verändert. Effektives Leiden hieße dann, aus dieser Situation zu lernen, zu wachsen und transformiert hervorzugehen. Im Coaching versuchen wir den Klienten zu unterstützen, diesen Zustand aktiv zu durchleben und als Startpunkt für eine neue Phase im Leben zu nutzen und sich so wieder der Welt zu öffnen. Gerade aus Krisen und schwierigen Berufs- und Lebensphasen gehen meiner Erfahrung nach viele wichtige Samen für kreative Weiterentwicklungen hervor. Auch führt es oft dazu, dass hinderliche Gewohnheiten, wie Ablenkung oder Sucht, genauso wie hinderliche Einstellungen, wie »Ich muss immer aktiv sein« oder »Ich bin nur, was ich leiste«, in Frage gestellt werden. Das generative Coaching versucht Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, die diesen Prozess unterstützen und fördern. Daneben können wir ebenfalls eine entwicklungspsychologische Veränderung sehen, wenn ein Mensch in verschiedenen Phasen des Lebens verschiedene typische Herausforderungen und Probleme erfährt und sich dadurch entwickelt. Forscher wie Erik Erikson oder Ken Wilber haben hier sehr brauchbare Modelle eingeführt. Wilber weist darauf hin, dass es gerade in Übergängen von Lebensphasen zu Krisen und Problemen kommt. Der Prozess der Entwicklung vollzieht im Wesentlichen zwei Aufgaben, nämlich die alte Struktur zu integrieren und gleichzeitig in ein neues Muster zu transzendieren. Diese Entwicklung kann einen gesunden konstruktiven Verlauf nehmen und nach einer Phase von Turbulenz und Unsicherheit wird eine neue und funktionalere Ordnung erreicht oder es kann zu einer Dissoziation kommen, bei der alte Verhaltensmuster aus Gewohnheit oder Sicherheitsbestreben beibehalten werden. Oft wird dann das alte Muster auf einer unbewusst-somatischen Ebene erlebt, während sich die bewusst-kognitive Entwicklung davon löst. Die körperlichen oder emotionalen Phänomene werden dann von der bewussten Identität abgespalten, was die Spannung und das Problemerleben noch verstärkt. Im Coaching versuchen wir daher eine neue Ebene von Bewusstsein, das generative Selbst, zu entwickeln, in der ein Klient wieder Zugang zu beiden Bewusstseinsebenen erhält und sozusagen unterschiedliche Ebenen des eigenen Geistes bewusst in Kontakt bringt und einen kreativen Prozess initiiert. Bei Milton Erickson war dies die Kernidee des kreativen Unbewussten, das im Mittelpunkt der hypnotherapeutischen Veränderung stand. M. H.: Welche Rolle spielt eine spirituelle Haltung im generativen Coaching? S. G.: Ich selbst kam mit Meditation in Kontakt, als ich 25 Jahre alt war und Psychologie studierte. Im Kalifornien der Sechzigerjahre konnte man fast nicht anders, als mit östlichen Wegen der Spiritualität in Kontakt zu kommen. Wir sollten uns aber auch

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Stephen Gilligan im Interview: Der Ansatz des generativen Coaching

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bewusst sein, welche Konnotationen der Begriff Spiritualität sonst noch hat. Für viele Menschen, gerade in Amerika, ist Spiritualität gleichbedeutend mit Religion, womit meist sehr traditionelle Weltsichten und Glaubenssysteme verbunden werden. Aus diesem Grund habe ich das Wort Spiritualität lange Zeit nicht benutzt. In den letzten Jahren habe ich es dann wieder neu entdeckt, in der Bedeutung einer systemischen Verbundenheit allen Lebens. Auf einer tiefen Erfahrungsebene, die uns in unserer Kultur eher abhanden gekommen ist, können wir eine Beziehung zwischen allem, was lebt, sogar allem, was ist, empfinden. Sich in Beziehung zu einem größeren Ganzen zu erleben und daraus zu handeln, würde ich daher am ehesten unter Spiritualität verstehen. Viele Menschen erleben dies zum Beispiel in der Natur, in Gruppen oder in der Stille. Aus dieser Erfahrung heraus können wir in Therapie und Coaching ein Gefühl dafür entwickeln, auf welche Weise sowohl gute als auch schwierige Erfahrungen zur Entwicklung gehören und wie wir beides als Entwicklungsimpulse begrüßen und nutzen können. M. H.: Wie steht Spiritualität in Beziehung zu deiner Verwendung des Feldbegriffs? S. G.: Die Eingebundenheit des Menschen in seine Umwelt auf ganz vielen unterschiedlichen Ebenen, beispielsweise der Kultur, der Familie, des Arbeitsplatzes oder auch der persönlichen Geschichte, bezeichne ich im generativen Coaching als das Erleben eines Felds. All diese Felder haben einen intensiven Einfluss auf unser Bewusstsein. Felder können sehr unterschiedlich wirken und oftmals erleben wir sie in Problemzuständen als negativ und einengend, wenn sich beispielsweise jemand nicht aus dem Bannkreis der Herkunftsfamilie lösen kann oder sich in die Gewohnheiten seiner Arbeitsumgebung verstrickt. Wir können das Bewusstsein aber auch weit über diese begrenzten Felder hinaus ausdehnen und uns in Verbindung mit einer anderen Lebendigkeit erleben. Dies passiert oft spontan, etwa wenn wir Musik hören und sich dabei unsere Aufmerksamkeit weitet oder wenn wir in der Natur sind und ein Gefühl der Offenheit und Zugehörigkeit zu etwas Größerem erleben. Für die meisten Menschen ist dieses Erleben zunächst abhängig von bestimmten positiven Umständen oder speziellen Orten. Im generativen Coaching versuchen wir Bedingungen zu schaffen, unter denen der Klient Zugang zu dieser Felderfahrung von Verbundenheit und Wohlbefinden, gerade in schwierigen und negativen Situationen, schaffen kann, so dass er sich selber und das Problem als einen Teil eines umfassenden, kreativen Prozesses erlebt. Wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit, während er ein Problem erlebt, weit und offen zu halten, statt in eine beschränkende Problemtrance zu geraten, dann tritt eine Dynamik ein, die alte Verhaltens- und Emotionsmuster verändert und neue, kreative Lösungsimpulse entstehen lässt. M. H.: Dieses Vorgehen knüpft auch wieder an die hypnotherapeutische Tradition der Utilisation an? S. G.: Durchaus. Im Ansatz des generativen Coaching sehen und nutzen wir prinzipiell dieses positive Potenzial von Problemen und Symptomen – wir versuchen in Kontakt mit

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

der Entwicklung zu gelangen, die durch solche Störungen des üblichen Alltags ins Leben und ins Bewusstsein kommen will. Natürlich können die Auswirkungen von Krisen und Umbrüchen für den Klienten schwierig und destruktiv sein, aber sie bergen immer auch Chancen für Wachstum und Änderung. Die meisten Menschen können wahrnehmen, dass Krisen im Beruf oder im Leben allgemein, ob das der Verlust eines Jobs, die Beendigung einer Partnerschaft oder ein gesundheitlicher Einbruch ist, das Leben in positiver Weise verändern können. Im generativen Coaching wäre der wesentliche Unterschied, ob wir im Erleben solcher problematischen Phasen oder Zustände in einem positiven Kontakt und einer heilsamen Präsenz mit uns selbst bleiben können. Ich nenne dieses Prinzip Sponsorship – es bezeichnet sowohl die Rolle des Coach zum Klienten als auch die Fähigkeit des Klienten zu einer bestimmten Art von Selbstbeziehung. Wie ein Sponsor versuchen wir Ereignisse und die damit verbundenen Erfahrungen so zu nutzen, dass sie zu Ressourcen werden, die das Leben des Klienten bereichern können. Dieses Potenzial zu bergen, ist bei schwierigen Erfahrungen und bei belastenden Erlebnissen durchaus eine große Herausforderung für Coach und Klient. Deshalb sollten wir sehr viel Wert darauf legen, ein geeignetes Umfeld, Setting und einen fast rituellen Raum zu schaffen, in dem diese Transformation passieren kann. M. H.: Wie stehen westliche Ansätze wie Psychotherapie und Coaching mit östlichen spirituellen Formen in Beziehung? S. G.: Ich glaube, dass die Kulturen sich in dieser Hinsicht ergänzen können. In östlichen Traditionen wird die transzendierende Ganzheit und Einheit betont, während die westliche Psychologie und all ihre Anwendungen eher die Entwicklung des Individuums in den Vordergrund gestellt haben. Die westliche Sicht betrachtet Spiritualität eher in ihrer immanenten Dimension, in der es darauf ankommt, das alltägliche Leben gut zu gestalten. Psychotherapie und Coaching haben hier viele gute Werkzeuge entwickelt. Dabei scheint mir die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Einstellung entscheidend zu sein. Der amerikanische Autor Joseph Chilton Pearce beschreibt in seinem Buch »The Bond of Power« (1981) das aktuelle kulturelle Paradigma als »error-correction error« (Problemlösungs-Problem). Nach dieser Vorstellung sehen Menschen ihr Leben primär als eine endlose Kette zu lösender Probleme und Schwierigkeiten. Das löst nicht nur eine andauernde Anspannung, Druck und Angst aus, sondern lenkt auch die Wahrnehmung auf Fehler, Versagen und Misserfolg, die es vermeintlich zu vermeiden gilt. Dagegen ist es laut Pearce eigentlich die wichtigste Aufgabe des menschlichen Bewusstseins, schöpferisch zu sein und eine lebenslange Entwicklung zu vollziehen. Er beschreibt dies metaphorisch in dem Entwicklungsprozess eines Kindes, das laufen lernt, ohne dass seine Umwelt oder seine Erziehung es explizit dazu auffordern würden. Um Laufen zu lernen, ist das Fallen eine immer wiederkehrende und notwendige Erfahrung, denn nur darüber lernt das Kind Balance, Motorik und alle Fähigkeiten, die für das Laufen nötig sind. Das Entscheidende in diesem Beispiel ist, dass das Kind sich nicht lange mit dem Fallen aufhält, sondern die Erfahrung unmit-

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Stephen Gilligan im Interview: Der Ansatz des generativen Coaching

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telbar in der Weiterentwicklung, also weiteren Laufversuchen, fortführt. Laut Pearce kehrt dieses Muster im Leben schließlich immer wieder, mit dem Unterschied, dass wir mit zunehmender kognitiver Entwicklung das Fallen mit sekundären Bewertungen belegen und als persönliches Scheitern oder als Inkompetenz erleben. Wenn wir dann aus dieser Erfahrung das Lebensmotto »Ich darf nicht fallen – ich darf nicht versagen« ableiten und unsere Wahrnehmung damit genau auf mögliche Misserfolge richten, verringert sich die Fähigkeit, mit Krisen und Rückschlägen kreativ umzugehen, drastisch. M. H.: Wie lässt sich dies in einem beruflich und wirtschaftlich orientierten Kontext von Coaching umsetzen? S. G.: In einer zunehmend komplexen Umwelt ist nach meiner Überzeugung eine Lösung von Problemen allein durch Wettbewerb und kompetitives Denken nicht mehr möglich, sondern kann nur durch Kooperation im Bewusstsein der systemischen Verbindungen geschehen. Es bildet sich nach meiner Beobachtung eine zunehmende Einsicht, dass eine rein auf Profit und Materielles ausgerichtete Wirtschaft nicht nur gegen die Interessen der Allgemeinheit geht, sondern langfristig auch den Unternehmen selbst schadet. Die aktuelle Krise in der Bankenwelt oder der zunehmende Zusammenfall der amerikanischen Mittelklasse sind typische Symptome dafür. Letztendlich kann ein Wirtschaftssystem nur funktionieren, wenn es den meisten Menschen dient und wenn es den Menschen, aus denen es besteht, hinreichend gut geht. Zudem wird das traditionelle Wertegerüst in Amerika, nach dem nur der, der am besten verdient und am meisten hat, auch am glücklichsten ist, zunehmend brüchig. Positive Veränderung und Entwicklung in einem Coaching-Prozess gehen daher oft damit einher, dass ein Mensch, gerade weil er in seinem Beruf viel leisten will, zu neuen, stimmigeren Werten und zu einer besseren Balance seiner Lebensbereiche kommt. M. H.: Stephen, vielen Dank.

Literatur Erickson, M. H., Rossi, E. L. (1981). Hypnotherapie: Aufbau, Beispiele, Forschungen. München: Pfeiffer. Erikson, E. (1966). Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gilligan, S. (1999). Liebe dich selbst wie deinen Nächsten: Die Psychotherapie der Selbstbeziehung. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag. Pearce, J. C. (1981). The bond of power. New York: E. P. Dutton. Wilber, K. (2001). Integrale Psychologie. Freiamt: Arbor. Dr. Stephen Gilligan ist praktizierender Psychologe in Encinitas, Kalifornien. Er war Schüler von Milton Erickson und Gregory Bateson und war in den letzten 30 Jahren als Hypnotherapeut, Coach und Lehrtrainer international tätig. 2004 wurde er von der amerikanischen Milton H. Erickson Foundation mit dem renommierten Lifetime Achievement Award für seine Forschungsbeiträge ausgezeichnet. www.stephengilligan.com

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Torsten Jung

Achtsamkeit in systemischer Beratung und Coaching

Es gibt es zwei Irrtümer über Spiritualität: Der erste Irrtum über Spiritualität ist, dass man nicht spirituell sein kann. Der zweite Irrtum über Spiritualität ist, dass man nicht nicht spirituell sein kann. Matthias Varga von Kibéd

Teil 1: Begriffsabgrenzung der Achtsamkeit – Worauf schauen wir? Als mich Markus Hänsel fragte, ob ich einen Beitrag in dem Band »Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung« schreiben würde, sagte ich freudig zu. Um zu beantworten, was das ist, diese »spirituelle Dimension«, muss man vielleicht zunächst einmal klären, was die »nichtspirituelle Dimension« ist. Dazu fällt mir eine Geschichte ein: Fragt ein Klient in dieser Sache seinen Berater: »Was ist der Unterschied zwischen der spirituellen Dimension und der nichtspirituellen Dimension?« Entgegnet der Berater: »Die nichtspirituelle Dimension glaubt, es gäbe einen.« Jeder Artikel über Spiritualität in Beratung und Coaching müsste eigentlich hier enden, da mit dieser kurzen Antwort alles über das Thema gesagt ist. Der Rest ist die Erfahrung. Die Entfaltung der Ereignisse im Beratungsprozess. Die Erfahrung von Gelingen oder Misslingen, Inspiration, Verbundenheit und Trennung. Der Begriff spirituelle Erfahrung ist eine Eingrenzung der Erfahrungsebene, die eine Trennlinie markiert und gewisse Erfahrungen als nichtspirituelle denunziert. Damit unterliegen wir schon der ersten Täuschung, um die es unter anderem in diesem Beitrag gehen soll. Der Zen-Patriarch Dajian Huineng (638–713) hat an dieser Stelle gesagt, der reine Geist finde sich in unserem unreinen Geist. Beides ist eins. Die Unterscheidung treffen wir (vgl. McRae, 2000). Für eine differenziertere Annäherung braucht es etwas mehr Raum, um uns dem Kern der Aussage zu nähern. Dies ist eine Art Kreisbewegung, die diese einfache Aussage aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Daher muss ich Sie schon zu Beginn warnen. Sie werden nach der Lektüre nicht mehr wissen als nach diesen ersten Zeilen. Seien Sie bitte nicht enttäuscht! Es muss uns bewusst sein, dass Ausführungen über das Thema immer eine Annäherung bleiben. Nehmen Sie sich Zeit für diese Annäherung.

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Torsten Jung: Achtsamkeit in systemischer Beratung und Coaching

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Vielleicht verweilen Sie mit der einen oder anderen Frage in der Meditation, geben Ihren Resonanzen Raum. Für die Annäherung an das Thema habe ich mich hier bewusst für die Perspektive der persönlichen Erfahrung entschieden. Die Erfahrungsebene ist von Bedeutung, da sich jegliche Spiritualität in der Erfahrung gründet. Die Deutung dieser Erfahrung ist dann eine Bewusstseinsleistung, die Theorien und Konzepte hervorbringt. In der Menschheitsgeschichte hat die Deutung der spirituellen Erfahrungsebene zu den Weisheitslehren und Religionen geführt (vgl. Jäger, 2000, S. 59–79). Durch die Säkularisierungstendenz, die durch die Aufklärung ausgelöst wurde, gründen sich auf diesen Weisheitslehren Erkenntnistheorien, die sich fragen, wie Erkennen stattfindet, wo die Grenzen des Erkennens sind und wer erkennt. In der systemischen Theorie beziehen wir uns auf den Konstruktivismus als Erkenntnistheorie. Über der Ebene der Erkenntnistheorien liegen die Basistheorien der Wissenschaft (Physik, Biologie, Kybernetik etc.). Die nächste Ebene der Theorie befasst sich mit der Frage, wie diese Basistheorien in verschiedenen Feldern zur Anwendung kommen (z. B. Neurobiologie und Führung etc.). Diese Ebene benennen wir als Anwendungstheorien. Auf Basis der Anwendungstheorien entwickeln wir dann Werkzeuge, Methoden, Tools, die zum Einsatz kommen. Natürlich sind wir als Berater und Coaches an Werkzeugen und Tools interessiert. Für uns ist es allerdings wichtig, uns die darunterliegenden Ebenen der Theorie zu verdeutlichen. Auf welche Erkenntnistheorie stützen wir uns? Folgen wir dem Konstruktivismus oder dem Positivismus? Welche Basistheorien beziehe ich in mein Wirtschaften und mein Verständnis von Organisationen mit ein? Welche grenze ich aus? Genauso wichtig scheint mir zu sein, dass wir uns immer wieder auf der Erfahrungsebene gründen. Manchmal sind wir gar nicht ganz anwesend in der Situation, uns fehlt echte Präsenz. Wir sind innerlich in der Zukunft und planen schon die nächste Intervention oder wir sind noch in der Vergangenheit und bewerten, wie wir die letzte Herausforderung gemeistert haben. Was in der systemischen Theorie kaum stattgefunden hat, ist die Integration der spirituellen Erfahrungsebene in die Theorie. Vielleicht könnte man den unausgesprochenen Konsens in der systemischen Szene so beschreiben, dass Gott ein Konstrukt sozialer Wirklichkeit ist. Wie hat es Wolf Singer, Leiter des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt/Main, in einem der Waldzell-Dialoge gesagt? »Gott existiert. Er ist das Ergebnis sozialer Bedeutungsgebung und damit unserer Wirklichkeit.« Die erwähnten Waldzell-Dialoge fanden in den Jahren zwischen 2004 und 2008 statt und ich hatte die Ehre, sie gemeinsam mit Alan Webber zu moderieren. Hier kamen über fünf Jahre führende Denker, Wissenschaftler, Nobelpreisträger, Autoren und spirituelle Leitfiguren wie seine Heiligkeit der Dalai Lama, Rupert Sheldrake, Peter Senge, Paulo Coelho, Isabel Allende, Craig Venter, Wolf Singer, Donald Hoffman, Willigis Jäger, Bruder David, Paramahamsa-ji und viele andere zusammen, um elementare (Sinn-) Fragen des Lebens zu diskutieren. Ich hatte unter anderem die Ehre, einen Dialog zu dem Thema »Neue Wissenschaft trifft alte Weisheit« (»new science meets old wisdom«)

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

zu moderieren, in dem die Fragen, was das Bewusstsein sei, wo es zu finden ist und wie Erkennen stattfindet, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wurden. Es zeichneten sich schon in den Wochen der Vorbereitungsinterviews extrem gegensätzliche Positionen ab und ich erinnere mich noch gut an die leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Wolf Singer und Rupert Sheldrake (Erforscher »morphogenetischer Felder«). Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen wurde jedoch eine Gemeinsamkeit deutlich. Alle waren sich darin einig, dass man nach wie vor nicht wisse, wie das Bewusstsein beschaffen sei und wo der Sitz des Bewusstseins sei. Es ist bemerkenswert, aber es ist wissenschaftlicher Konsens unserer geistigen Elite, dass uns diese gemeinsame Basis für die Erkenntnistheorie fehlt. Dieser Beitrag setzt daher auf einer anderen Ebene an. Er führt uns zurück auf die Erfahrungsebene selbst, da alle Theorien letztlich Deutungsmodelle unserer Erfahrungswelten sind. Ich will mich dem Phänomen der spirituellen Dimension also bewusst in der Enthaltung von Deutung nähern. Es geht um die Frage, auf welcher Ebene wir überhaupt Erfahrungen machen können und wie diese unsere Beratungskonzepte und unsere Wirklichkeit prägen können. Etwas, was man vielleicht mit Walter Link als inspirierten Pragmatismus (»inspired pragmatism« in »Leadership is Global«, Link et al., 2007) bezeichnen könnte. Ich versuche mich auf einige ganz zentrale Punkte systemischer Paradigmen und Unterschiede zu konzentrieren und sie von der Perspektive der Meditations- oder Achtsamkeitserfahrung her zu beleuchten. –– Was, wenn wir nicht das systemische Konzept »Der Beobachter prägt die Beobachtung« zitieren, sondern diese Wahrheit in der Meditation erfahren? –– Was, wenn wir Konstruktivismus nicht als Konzept zitieren, sondern die wechselseitige Verbundenheit allen Seins als Erfahrung machen? –– Was, wenn wir nicht mehr um die Entschleunigung mit dem Klienten ringen, sondern eine andere Zeitqualität verkörpern? –– Was, wenn ich mich nicht mehr um die Enthaltung einer Wertung bemühen muss, sondern mich zutiefst als Teil des Lebensprozesses mit beiden sich wechselseitig bedingenden Polen der Lebenswidersprüche erfahre? –– Kurzum: Was, wenn ich das Systemische nicht zitiere, sondern systemisch bin? Natürlich sind das Gipfelerlebnisse, die uns geschenkt werden. Diese Geschenke tragen wir allerdings ein Leben lang mit uns, in uns. Sie verlassen uns nicht mehr. Sie werden immer mehr zu unserer wahren Identität, auch wenn sie sich manchmal den Weg in unser Leben kämpfen müssen. Fast so, als müssten wir uns vor der besten Version unseres Selbst schützen, aus Angst, was es mit unserem Leben macht. Reduktion und Fülle – zwei Pole der Achtsamkeit

Wenn wir zu solchen Einheitserfahrungen durchbrechen, ist das Geschenk der Fülle auch immer eine Zumutung. Ich bitte Sie, diesen Beitrag von der Perspektive dieser Zumutung der Fülle her zu lesen. Lesen Sie von dieser Erfahrungsebene her. Gleichzeitig

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bietet der Beitrag zunächst eine Perspektive der Reduktion an, da Achtsamkeit immer heißt, auf der Erfahrungsebene zu bleiben. Somit enthalten wir uns in der Haltung der Achtsamkeit der Deutung und Einordnung der Erfahrungen in theoretische Konzepte. Abbildung 1 verdeutlicht diesen Zusammenhang.

Abbildung 1: Tendenzen der Enthaltung und der Entfaltung von Deutung

Die Reduktion scheint mir jedoch wesentlich. Durch die Reduktion wird uns in der spirituellen Übung oft eine Intensität der Erfahrung geschenkt, die unserem Tagesbewusstsein zunächst fremd erscheint. Trotz, oder gerade wegen, der Eingrenzung auf einen klaren Fokus ist es, als wachten wir auf, kämen ganz zu unserer Entfaltung. Diese Intensität kann uns durch die Reduktion der Erfahrung auf einen bestimmten Aspekt des Geschehens (z. B. das Atmen, das Sitzen, das Gehen, das Stehen etc.) jederzeit geschenkt werden. Der zentrale Punkt an der Achtsamkeitspraxis ist, diese Haltung der Reduktion auch im Sinne der Enthaltung von Deutung in unseren Berateralltag zu integrieren. Statt mit der Einordnung unserer Erfahrung in Konzepte beschäftigt zu sein, sind wir offen für den nächsten Moment und seine ganz eigene Wirklichkeit. Diese Ebene der Reduktion kann uns in eine Tiefe der Entfaltung und Fülle führen, die uns selbst überrascht, vielleicht sogar erschreckt. Aber genau diese Erfahrungsebene ist es, die uns Einsichten schenkt, die unsere systemische Beraterhaltung zu etwas machen, das wir zutiefst sind und nicht nur denken. Diese Ebene der Verbundenheit zu erleben ist transformierend, verändert uns und beheimatet uns im Leben. Vielleicht wird die Begegnung mit den Kunden dann vom Mittel zum Zweck, der nächste Agendapunkt zum Zentrum meines spirituellen Übens. Was auch immer es für Sie persönlich ist, es macht Achtsamkeit in systemischer Beratung zu einem Faszinosum, das zur Lebenseinstellung wird. Leben wir die systemische Haltung als ein Zitat, bleibt sie letztlich hohl,

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haben wir uns die systemische Haltung zutiefst eingefleischt, darf sie uns verändern. Die Achtsamkeitspraxis scheint mir vor dem Hintergrund meiner Erfahrung ein wirksames Mittel zu sein, um uns dabei zu unterstützen. In diesem Rahmen habe ich nicht den Raum, verschiedene Übungen, zum Beispiel Sitzen in der Stille (Zazen), meditatives Gehen (Kinhin), achtsames Stehen und Liegen (Body-Scan), näher zu beschreiben (vgl. Kabat-Zinn, 2000; Wild, 2011). Ich bin davon ausgegangen, dass viele von Ihnen diese Übungen kennen und ermessen können, wie hilfreich sie sind, um die Achtsamkeitserfahrung in immer mehr Lebensbereiche zu integrieren. Für diejenigen, die noch nicht so viel Erfahrung mit der Achtsamkeitspraxis haben, möchte ich andeuten, dass diese Techniken an vielen Stellen sehr gut und leicht verständlich beschrieben sind. Durch den Erfahrungsfokus ist für mich dieser Beitrag zu etwas sehr Persönlichem geworden. Ich hoffe, ich dränge mich nicht auf. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen habe ich versucht, meine Überlegungen in kleine Modelle zu gießen, um sie Ihnen für die eigene Beratungspraxis besser verfügbar zu machen. Achtsamkeit im Kontext dieses Beitrags heißt damit aber auch, mich selbst als Beobachter mit all meinen spirituellen Prägungen und Erfahrungen mit zu reflektieren. Ich muss explizieren, welche Bilder und Erfahrungen mich prägen, um dem Leser zu ermöglichen, diese Deutungsfilter mitzudenken. Einen kurzen Einblick zu meinem persönlichen Weg in die Achtsamkeitspraxis gibt der Beitrag »Den Schleier zerreißen – Mein Weg zur Achtsamkeit in systemischer Beratung« im Buch »Zen@Work« von Willigis Jäger und Paul Kohtes (2009). Achtsamkeit als spirituelle Dimension in Beratung und Coaching

Mein Herz ist weit, vieles hat darin Platz. Walt Whitman

Mir scheint zunächst eine Begriffsabgrenzung in dem Thema hilfreich zu sein, da Achtsamkeit zwei Dimensionen beinhaltet. Diese zwei Dimensionen beleuchten die Pole der Reduktion und Fülle nochmals von einer anderen Seite. Die personale Dimension von Achtsamkeit: Hier erlebt sich das psychische System als Entität und sagt »Ich«. Mit diesem Ich wird in der Regel die als durchgängig erlebte Identität oder personale Struktur benannt. In der Psychologie benennen wir diese Perspektive als das personale Selbst, als Ego oder als Psychostruktur. In dieser Dimension bedeutet Achtsamkeit die bewusste Wahrnehmung der Verbundenheit oder Trennung auf den folgenden vier Ebenen: –– körperlich, –– emotional, –– energetisch, –– geistig.

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All diese Ebenen können wir liebevoll in unser Gewahrsein nehmen und beobachten, während wir uns in einem Beratungs- oder Coaching-Prozess befinden. Hier geht es immer um sinnliche Wahrnehmung, keine Vorstellungen von etwas. Die Tibeter beschreiben den Geist als sechsten Sinn, also selbst auf dieser Ebene bleiben wir sinnlich. Wichtig ist, dass wir stets bei der sinnlichen Wahrnehmung der Erfahrung bleiben, da uns sonst leicht unsere Vorstellungen und Konzepte der spirituellen Dimension einen Streich spielen können. Dann sitzen wir unseren Projektionen auf und bewegen uns im Feld der Vermutung und der Glaubenssätze. In der aktuellen Diskussion um das Thema der Achtsamkeit, scheint mir, schleichen sich ganz subtile Wertungen ein, die man vielleicht wie folgt beschreiben könnte: Achtsam ist liebevoll, zugewandt und irgendwie nett. Wir wissen dann genau, wie wir uns zu fühlen haben oder was wir tun sollten, um richtig achtsam zu sein. Manchmal verkommt Achtsamkeit in dieser Lesart fast zu einer Art Taschenbuchausgabe von Freundlichkeit und wird dann nur als weiteres Etikett genutzt, um Beobachtungen zu kategorisieren und fein säuberlich in Schubladen zu verfrachten. Dann kommt die Killerphrase » … das fand ich aber nicht sehr achtsam von dir …« nur in einem Deckmäntelchen daher, das uns die Verantwortung der anderen Person umhängen will. Achtsamkeit ist bei Weitem offener und radikaler als das. Die transpersonale Dimension der Achtsamkeit: Dies ist die Ebene der Achtsamkeit selbst, die unsere personalen Grenzen transzendiert. Diese Ebene wird in der transpersonalen Psychologie auch als das große Selbst beschrieben, als Ozean der kollektiven Bewusstheit. Die personale Dimension der Achtsamkeit führt uns unweigerlich in die transpersonale Dimension, denn Achtsamkeit ist letztlich die Fähigkeit unseres Bewusstseins zur Beobachtung seiner selbst. Achtsamkeit ist unser wahres Wesen, denn in ihr löst sich der Beobachter auf und die Grenzen der Trennung verschwinden. Aus dieser tief beglückenden, verstörenden Grunderfahrung der Verbundenheit und Einheit entstehen andere Bilder des Coaching- und Beratungsbegriffs, da wir erleben, wie diese Erfahrungsebene der transpersonalen Verbundenheit uns jederzeit offen steht und einlädt. Achtsamkeit ist somit auf der einen Seite die Grundhaltung der liebevollen, zugewandten Selbst-Beobachtung, auf der anderen Seite ist sie die radikale und zutiefst transformierende Erfahrungsebene der Verbundenheit selbst. Achtsamkeit ist somit »Zeugenschaft«, in der sich der Zeuge im Erleben der Beobachtung auflöst. Spirituelle Traditionen bezeichnen dies als Gewahrsein, als Systemiker würden wir vermutlich fragen: »Wer ist der Beobachter, der den Beobachter zweiter Ordnung beobachtet?«, wobei wir hier dem Irrtum aufsitzen, den Beobachter als getrennte Entität zu denken. Abbildung 2 verdeutlicht diese zwei Aspekte der Achtsamkeit. Diese Paradoxie des Bildes könnte man vielleicht so beschreiben: Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die genannten vier Ebenen der Erfahrung und haben so einen klaren Fokus. Wir beobachten unsere Gedanken und stellen im Rahmen dieser Erfahrung

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Abbildung 2: Aspekte der Achtsamkeit © Thomas Franz Cerny

fest, dass wir nicht unsere Gedanken, unser Körper, unsere Emotionen sind. Unsere Gedanken ziehen durch unser Bewusstsein, während unser Bewusstsein darauf ausgerichtet ist, den diskursiven Geist zu beobachten. Damit haben wir uns aber in der eigentlichen Qualität unseres Bewusstseins, dem Gewahrsein selbst, verankert. Je umfassender und stabiler unser Gewahrsein wird, desto tiefer erkennen wir, dass wir nicht der Beobachter, sondern das Licht der Taschenlampe sind. Machen wir diese Erfahrung, erleben wir Entgrenzung und Fülle. Zunächst erleben wir diese beiden Pole von der Reduktion auf bestimmte Beobachtungen vielleicht als Eingrenzung, uns ungewohnt. Dann beginnen wir aber zu erkennen, dass das Licht der beiden Taschenlampen eins ist und sich nicht trennen lässt. Teresa von Avila beschreibt dieses mystische Einheitserleben und die sehr subtilen Unterschiede in den Phasen auf dem Weg zur Verbundenheit in anschaulichen Bildern. Sie unterscheidet in ihrem Buch »Die innere Burg« die Verlobung und das Einswerden als zwei verschiedene Ebenen der Verbundenheit, die man in der siebten Wohnung erfahren kann. »Mit dem Einswerden wäre es so, wie wenn 2 Wachskerzen so nahe zusammengebracht wären, dass sie ein Licht werden […] Nachher kann man die eine jedoch von der Anderen lösen und so das Licht trennen« (Verlobung). »Im Einswerden ist es aber so, wie wenn Wasser vom Himmel in einen Fluss oder eine Quelle fällt, so dass man es nicht mehr voneinander trennen kann […] oder wie wenn ein Raum 2 Fenster hätte.

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Auch wenn das Licht getrennt einfällt, wird es doch zu einem Licht, dass wir nicht mehr trennen können« (Einheit) (Teresa von Avila, 1577/1979). Das Licht der beiden Taschenlampen fällt durch die beiden Fenster unserer inneren Burg. In der Achtsamkeit erleben wir, dass wir die Beobachter, die Beobachtung, die Taschenlampe und das Licht sind. Verbundenheit und die transpersonale Selbst-Erfahrungsebene

Manchmal bricht die transpersonale Ebene der Achtsamkeit vollkommen überraschend in unser Leben ein und wir brauchen Jahre, um unsere Erfahrungen zu deuten und zu integrieren. Manchmal sind lange Jahre stetigen Bemühens und Übens die Grundlage der Erfahrung von transpersonaler Verbundenheit. Letztlich bleibt die Integration von Achtsamkeit in unser Leben und Handeln aber immer Lebensaufgabe, da sie sich nur von Moment zu Moment bewerkstelligen lässt. Jede Form von Konzept oder Vorstellung, der ich folge, geht an wahrer Achtsamkeit vorbei. In diesem Sinne ist jeder Versuch, die Achtsamkeit als spirituelle Dimension von Beratung und Coaching in ein Konzept zu pferchen, ein Vorgaukeln von Sicherheit, die es so nicht gibt. Natürlich gibt es Näherungen und Beschreibungen dieser unmittelbaren Erfahrungsebene aus den spirituellen Traditionen und Weisheitslehren, letztlich bleiben sie aber immer Symbole und Deutungen. Wollten wir Modelle und Bilder von dieser Ebene der Wirklichkeit anfertigen und so eine Orientierung geben, bewegten wir uns letztlich auf dem Terrain der Religion, die uns bildhaft diese mystische Ebene vermitteln will. Wie kann der Versuch also gelingen, diese Ebene zu beschreiben, ohne dass wir sie zu unserer Projektion schrumpfen lassen? Uns muss bewusst sein, dass der Finger, mit dem wir auf den Mond deuten, immer der Fingerzeig als Orientierung bleibt. Er ist nicht der Mond, geschweige denn die Sonne, deren Licht er reflektiert. Versuchen wir die Erfahrungsebene der Achtsamkeit in ein Konzept zu schnüren, erstickt sie an diesem Korsett und mit ihr stirbt unsere lebendige Erfahrung. Zu oft beobachte ich, dass dieser Versuch im Beratungskontext unternommen wird, wenn Achtsamkeit vor den Karren der nächsten Beratungsmode gespannt wird. Im Zen sagt man, dass man sich nicht zwei Mal die Füße in einem Fluss waschen kann. Das hat mich zunächst verwirrt. Ich komme aus Hamburg und habe mir schon mehr als zwei Mal die Füße in der Elbe gewaschen. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass das Fließen des Wassers für die Flüchtigkeit des Moments steht. Der Fluss ist unser Konzept von Wasser in Grenzen. Wir machen in unserer Vorstellung etwas Festes aus dem Fluss, in dem wir uns dann zwei Mal waschen können. Das Wasser, in dem wir uns das erste Mal die Füße gewaschen haben, ist längst in der Nordsee, wenn wir uns daran machen, die Füße ein weiteres Mal darin zu baden. Letztlich geht es um die lebendige Erfahrung des Wassers, nicht um die Begegnung mit meinem Konzept vom Fluss. Ein eigener Erfahrungsbericht kann vielleicht erläutern, was ich damit meine:

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Mitgefühl als transzendente Qualität in Beratung und Coaching Leg deine Bitterkeit ab, denn du warst nur nicht der Größe des Schmerzes gewachsen, der dir anvertraut war. In deinem Herzen trägst du den Schmerz der Weltmutter. Sufi-Weisheit

Ich erinnere mich an eine Begebenheit aus einer meiner eigenen Coaching-Ausbildungen. Zwischen 1999 und 2002 absolvierte ich eine dreijährige Ausbildung »Meditation und Heilen«. Ein Schwerpunkt war die Vertiefung der eigenen Meditationspraxis, ein zweiter Schwerpunkt die sich daraus ergebende Sensibilität für eigene und fremde energetische Prozesse und ein dritter Schwerpunkt die Vertiefung der eigenen Coaching-Praxis auf dieser Basis. Ich lag bei einer geführten Entspannung neben meinem Meditationslehrer, Peter Wild, der auf seinem Kissen in Stille Platz genommen hatte und eine geführte Trance anleitete. Immer tiefer wurde die Entspannung, breitete sich sinnlich durch den ganzen Körper aus. Nur noch die Atembewegung wog meine Aufmerksamkeit in der Stille hin und her. Kein Gedanke, außer Entspannung. Auf einmal war es, als würde sich eine leise Spannung aufbauen, ein wortloses Festhalten. Es war, als verschlösse sich mein Körper, noch tiefer in diesen wortlosen dunklen Raum der Entspannung zu sinken. Es war, als stiegen wortlose Ängste und Erinnerungen an einen Unfall und ein Nahtoderlebnis meiner Jugendzeit in mir auf. Schwer einzuordnen, wie eine ganz entfernte Enge, die mich nun berührte und von der ich spürte, wie sie mich ganz körperlich prägte. In feinsten Nuancen erlebte ich, was Wilhelm Reich vermutlich den »Charakterpanzer« nennen würde: die muskuläre Manifestation innerer Einstellungen und Haltungen. Ich war einerseits bestürzt über diese Ebene der Erfahrung, andererseits wurde eine Erinnerung an eine zutiefst transformierende und heilende Begegnung in meinem Leben wach und ich sehnte mich danach, diesen alten Panzer abzustreifen. Ein tiefes Schluchzen entwich meinem Körper, begleitet von einer Art Zucken meines »Muskelpanzers«, den ich im Begriff war loszulassen. Ich verspürte eine Hand auf meiner rechten Schulter, Peters Hand. Im nächsten Moment ging von dieser Hand ein Strom pulsierender Hitze aus, die sich durch meinen ganzen Körper ausbreitete. Ich erinnere mich an die Überraschung, fühlte ich mich doch, als würde mir jemand ein Bügeleisen auf die Schulter halten. Gleichzeitig blieb ich in der Selbstbeobachtung, während sich in meinem ganzen Körper diese tiefe Entspannung und Hitze ausbreiteten. Das körperliche Zucken, der emotionale Schmerz lösten sich. So, als würde ich mit diesen subtilen Muskelspannungen auch die damit zusammenhängenden, offensichtlich nichtsprachlichen Emotionen loslassen, kehrte wieder tiefe Ruhe ein. Noch tiefer sank ich in die wortlose Tiefe der Entspannung, von einem unglaublichen Glücksgefühl durchströmt. Die Hand löste sich wieder von meiner Schulter. Nach der Abschlussmeditation am letzten Tag der Woche las Peter Wild ein Gedicht, was mich zu Tränen rührte:

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Als die Sternschnuppe an meine Schulter rührte, erwachte ich. Das Schauen wurde Gewährung, das Hören ein Gebet. Ich hatte keine Zeit mehr zum Lernen, weil ich das Licht bewirten musste, das bei mir wohnte. (Cyrus Atabay, 1929–1996)

Nie verloren wir ein weiteres Wort über diese Begebenheit. Denn er wusste, dass ich wusste, dass er wusste. Dieser Moment hat sich mir tief in mein Körpergedächtnis eingebrannt und vermutlich auch mein Coaching-Verständnis geprägt. Kein Wort war hierzu nötig. Immer wenn wir einander begegnen, ist diese Energie des Mitgefühls, die Buddhisten nennen sie Boddhichitta, im Spiel. Die Frage im Beratungs- und Coaching-Setting ist, ob wir sie zum Spieler oder zur Spielerin werden lassen. Natürlich hat das auch immer mit der Offenheit des Klienten, der Situation und der Offenheit des Beraters zu tun. Ich habe aber inzwischen gelernt, dass wir immer mit dieser transzendenten Qualität des Mitgefühls rechnen können. Sie ist nichts, was wir uns erarbeiten könnten. Es gibt nicht das Rezept für das gelungene Beratungs-Setting, das sie herbeilockt. Gleichzeitig steht sie uns jederzeit als Raum der Möglichkeit zur Verfügung und ist damit auch eine Aufforderung und Zumutung an uns als Coaches und Berater. Jedes Setting, jede Intervention, kann von dieser Qualität her gedacht und angelegt werden. Da wahres Mitgefühl frei von Wollen ist, steht es in keinerlei Widerspruch zu unserem systemischen Beratungsverständnis. Wir versuchen nicht, dem Klienten etwas beizubringen, was er nicht lernen will. Wir erleben von dieser Perspektive aus keinen Mangel, haben daher auch kein Bestreben, einen »Mangel« (z. B. an Mitgefühl) im Klientensystem zu füllen. Wir ziehen lediglich in Betracht, dass es eine verbindende Energie zwischen allen Lebewesen gibt, die uns über das Teilen von Sauerstoff und Raum im Beratungsprozess verbindet. Es macht einen Unterschied, den Beratungs- und Coaching-Prozess von dieser Ebene aus zu denken und anzulegen. Vielleicht verdeutlicht eine andere Erfahrung die Ebene der energetischen Verbundenheit, von der ich spreche. Verbundenheit und Mitgefühl

Leiden ist das Tor, durch das Mitgefühl unser Herz betritt. Ich lebte derzeit in Hamburg und hatte die erste Stunde des Tages in meiner Morgenmeditation, dem stillen Sitzen (Zazen), zugebracht, bevor ich Brötchen holte. Ich erinnere mich noch gut an den Sommertag, meine Tochter war in dem Jahr geboren, ich war voller Dankbarkeit. Eine Woche intensiver Meditation und der Stille, im Rahmen einer Einkehrwoche, schwangen in mir nach. In dieser Offenheit, Dankbarkeit und in der tiefen Verbundenheit mit mir selbst machte ich mich auf den Weg. Ich ging ins Blumengeschäft, um Blumen für meine Frau zu kaufen. Ich war in der Gegend groß geworden, die Blumenverkäuferin kannte ich

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vom Sehen über einige Jahre, ohne je ein längeres Gespräch mit ihr gehabt zu haben. Sie stellte mir meinen Strauß zusammen und beim Zahlen passierte es dann. Sie sah mich an, als ich ihr das Geld gab, und in einem Bruchteil einer Sekunde übermannten mich das ganze Leid und die Trauer dieser Frau. So, als ginge eine energetische Welle vom Herzen dieser Frau aus, erreichte mich ihre Trauer. All ihr wortloses Leid ging mir buchstäblich unter die Haut. Es war, als wäre eine neue Tür, wie eine andere Dimension zu meinem Erleben, aufgestoßen. Ich sah ihr in die Augen und musste erkennen, dass ihr nicht bewusst war, was gerade geschehen war. Ich sah ihr in die Augen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war sprachlos, sagte nichts. Ich war wie vom Donner gerührt und musste an dem kleinen Park, der an unserer Straße lag, von meinem Fahrrad absteigen. Mir zitterten die Knie. Ich musste mich auf eine Parkbank setzen und konnte für eine geschlagene Viertelstunde nicht aufhören zu weinen. Das Verstörende war für mich, dass ich nicht einmal genau wusste, was mich da erreicht hatte. Erst ein paar Wochen später erfuhr ich von meiner Mutter, die die Dame besser kannte, dass man bei ihr ein Krebsleiden diagnostiziert hatte. Ich fühlte in dem Moment nur ihre Trauer und ein grenzenloses Mitgefühl, als eine Art wortlose Antwort auf eine Frage, die ich noch nicht einmal vernommen hatte. Gleichzeitig wusste ich nicht, ob ich über diese Erfahrung lachen oder weinen sollte, so verbunden fühlte ich mich mit dem Leben mit all seinen Facetten. Schlagartig wurde mir bewusst, dass diese Ebene der feinstofflichen, energetischen Verbundenheit immer da ist, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. Letztlich macht jeder Mensch ihre Erfahrung, hat eine Ahnung davon oder zumindest die Sehnsucht danach. Letztlich ist unsere Sehnsucht im Leben eine Resonanz auf die Anwesenheit dieser transzendenten Ebene (Jäger, 2007). Nicht unsere Sehnsucht lässt uns suchen und finden, diese Ebene sucht durch uns nach sich selbst. Sie will sich selbst in uns erkennen. Diese Ebene speist unsere Intuition und lässt in uns Resonanzen wach werden, die auf der geistigen, körperlichen, emotionalen oder energetischen Ebene zu Übertragung und Gegenübertragung führen. Immer bewusster diese verschiedenen Ebenen zu differenzieren ist ein integraler Bestandteil gelungener Berater- und Coaching-Ausbildung, der oft vernachlässigt wird. Auf der Ebene der Worte und Konzepte ist dies zunächst sehr leicht nachvollziehbar. Die Achtsamkeitsausbildung ist gewissermaßen wie ein Training, das unseren Achtsamkeitsmuskel übt. Nur hat paradoxerweise das Training dieses Muskels eher mit Loslassen denn mit angestrengter Aktivität zu tun. Indem wir uns immer mehr einlassen auf ein liebevolles, bejahendes Beobachten, kann unsere Achtsamkeit immer mehr Bereiche unserer Beratungserfahrung erfassen. Wir können dieses Licht der Achtsamkeit auf innere Anteile lenken und schmerzhafte Erfahrungen transformieren. Gleichzeitig ist es für uns als Berater auch immer die Frage, wie groß die innere Distanz ist, die wir zum Beratungsprozess aufbauen, und wo wir in die Identifikation kippen. Im folgenden Abschnitt versuche ich noch stärker auf die Implikationen des zuvor Gesagten für die Beratungs- und Coaching-Praxis einzugehen. Mir ist sehr bewusst,

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dass sich die angedeutete transzendente Ebene jeweils anders zeigen wird, für jeden Berater, für jeden Coach. Insofern ist jeder Versuch der Annäherung eine Zumutung für den Leser und natürlich auch für mich, da ich mir der Unzulänglichkeit der Modelle in jedem Moment bewusst bin. Letztlich ist es paradox zu versuchen, eine nichtgegenständliche Erfahrung in Modellen zu beschreiben. Vielleicht sind die kleinen Gedankensplitter aber Anhaltspunkte, die es in der Beratungspraxis ermöglichen, den einen oder anderen Aspekt in der Reflexion zu vertiefen.

Teil 2: Achtsamkeit und die Implikationen für die Beratungs- und Coaching-Praxis Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg. Willigis Jäger

Da der bewusste Umgang mit der eigenen Haltung für mich die Basis jeglichen Tuns darstellt, will ich ein Grundmodell vorstellen, dass ich für die Auseinandersetzung mit diesem Thema entwickelt habe. Das folgende Modell ist aus einer Synthese entstanden. Einer Synthese aus meinen Meditationserfahrungen, Erfahrungen als Coach und Berater und vielen Erfahrungen, die Führungskräfte aus ihrem ganz persönlichen Umgang mit Veränderung beigetragen haben. Aktion und Kontemplation – zwei Pole im Umgang mit Veränderungen

Letztlich geht es in der Beratung und im Coaching immer wieder um die Gestaltung von Übergangssituationen oder Veränderungen. Zwei innere Dimensionen können für die Reflexion von (Führungs-)Handeln im Umgang mit Veränderung hilfreich sein: Inneres Engagement und innerer Abstand Gleichzeitig kann es für unser (Berater-/Coaching-)Handeln eine Grundlage der Reflexion und Fallsupervision sein, da uns als Berater/Coach ebendiese zwei Pole stets begegnen. Wir alle kennen diese beiden Pole aus unserem inneren Erleben: Manchmal sind wir voll »Feuer und Flamme« für etwas und »brennen« richtig dafür, manchmal können wir uns nicht so recht begeistern (fehlendes inneres Engagement). In manchen Situationen spüren wir vielleicht, dass es ratsamer ist, etwas vorsichtig zu sein und sich »nicht so auf die Situation einzulassen«. Obwohl eine Situation oder Person attraktiv erscheint, sagt uns eine innere Stimme, »zuerst noch etwas Abstand zu wahren« und zu warten, wie sich die Situation entwickelt (innerer Abstand). Oft sitzen wir dem Irrtum auf, dass uns das innere Engagement in die Haltung der Aktion führt und die innere Distanz in die Haltung der Kontemplation oder Meditation. Die Hingabe an den Moment, die Achtsamkeit, transzendiert diese beiden Pole und löst einen scheinbaren Gegensatz.

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Wir wissen vielleicht aus unserem eigenen Erleben, dass diese zwei Pole sehr relevant sein können für unser inneres Erleben einer Situation und wie wir uns zu der Situation in Beziehung setzen und sie gestalten. Haltungen im Umgang mit Veränderung Wenn ich mit diesem Modell in Workshops, Coachings oder Trainings arbeite, lasse ich die Klienten zunächst brainstormen, wie sie die vier Haltungen beschreiben würden, die sich aus der Kreuzung dieser zwei Dimensionen ergeben. Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Begriffen, die relevante Aspekte dieser Haltung beschreiben. Auf den Punkt gebracht würde ich die vier Felder wie folgt bezeichnen: –– Die Verbindung von hohem inneren Engagement und niedrigem inneren Abstand: »Identifikation«. –– Die Verbindung von niedrigem inneren Engagement und niedrigem inneren Abstand: »Resignation« oder »Depression«. –– Die Verbindung von niedrigem inneren Engagement und hohem inneren Abstand: »Zynismus«. –– Die Verbindung von hohem inneren Engagement und hohem inneren Abstand: »Hingabe«.

Das Feld der Achtsamkeit geht durch all diese Felder, oder besser gesagt, umschließt sie alle. Abbildung 3 verdeutlicht diesen Zusammenhang:

Abbildung 3: Feld der Achtsamkeit

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Ein Vorstand, den ich beraten durfte, brachte das Dilemma von innerem Engagement und innerer Distanz für mein Empfinden einmal in einem erfrischenden Bild auf den Punkt: »Wissen Sie«, sagte er, »jahrelang habe ich auf den Vorstands-Job hingearbeitet, da ich immer all die Hebel in der Hand haben wollte, um das Unternehmen zu steuern. Voller Vorfreude setzte ich mich an die Hebel und begann zu steuern. Nach einiger Zeit blickte ich nach unten und sah, dass keiner dieser Hebel wirklich mit der Firma verbunden war. Ich war frustriert und kam mir vor wie damals, als ich noch ein kleiner Junge war und mit einem Pappteller in der Hand, neben meinem Vater auf dem Beifahrersitz sitzend, das Auto lenken wollte. Tief enttäuscht habe ich damals erkennen müssen, dass das Auto nicht dahin fahren wollte, wohin ich es lenkte …« Das Dilemma vieler Führungskräfte in Veränderungsprozessen, das in diesem Bild zum Ausdruck kommt, lässt sich vielleicht so beschreiben: Einerseits habe ich alle (Entscheidungs-)Hebel in der Hand und erlebe mich als gut ausgebildeten, kraftvollen Gestalter. Ich werde gemessen an Zielen und deren Erreichung und werde dafür gut bezahlt. Andererseits bin ich eingebettet in eine Komplexität und Unternehmensdynamik, die sich meiner Einflussnahme entzieht, in der ich nur noch meine Illusion von linearer Wirksamkeit loslassen kann. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass fast alle Führungskräfte dieses Dilemma früher oder später erleben und ganz unterschiedlich darauf reagieren. Im Folgenden sollen kurz die jeweiligen Licht- und Schattenseiten der vier Haltungen beschrieben werden. Letztlich ist natürlich immer vom Kontext her zu bewerten, welche funktionalen bzw. dysfunktionalen Aspekte diese Haltung in einer gegebenen Situation hat. Identifikation Die Lichtseite dieser Haltung lässt sich vielleicht am besten so beschreiben, dass wir von einer großen Leidenschaft für eine Herausforderung getragen werden. Das hohe Maß an Identifikation führt hier zu einer großen Motivation und Leidenschaft. Diese Haltung spornt zu herausragenden Ergebnissen an, der Erfolg ist nur eine Frage der Zeit. Wir erleben uns als kraftvoll und haben Freude am Gelingen und Gestalten. Wir schätzen die Möglichkeit, uns in unserer Aufgabe kreativ ausdrücken zu können, und erlebten Stress als etwas Positives. In Veränderungsprozessen wird diese Qualität immer wieder benötigt, gerade wenn es darum geht, die Ziele der Veränderung authentisch und charismatisch zu vermitteln. Die Schattenseite dieser Haltung kann dazu führen, dass im Verlauf unserer Karriere oder des Projekts die Distanz zur Aufgabe ein gesundes Maß unterschreitet. Wir werden dann geradezu aufgesogen von der Aufgabe und merken erst zu spät, wie wir von einem brennenden Wollen getrieben sind, dass uns bis ins Burnout führen kann. Oder wir haben uns in einem Maß mit unserer Aufgabe und unserer Rolle identifiziert, dass unser Innenleben dabei auf der Strecke geblieben ist. Wir sind dann so mit unserer Aufgabe identifiziert, dass wir zwar sehr effektiv und diszipliniert in ihrer Erledigung sind, unsere Bedürfnisse oder die unserer Familien und Freunde allerdings kaum

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noch Raum haben. Es ist dann, als verlören wir den Kontakt zu uns selbst, fühlen uns selbst fremd und scheinen mehr von unserer Rolle her geprägt zu sein als von unserem authentischen Selbst. Unser Umfeld erlebt uns dann oft als maskenhaft. Zynismus

Die Lichtseite des Zynismus kennen wir alle: Wer kennt nicht die Kollegen, die mit ihrem beißenden Humor ein Lachen in die ausweglosesten Situationen bringen? An der Stelle, wo alle anderen verzweifeln, ist der Zyniker in der Lage, das Groteske in der Situation auf eine Weise zu betonen, die der Situation die Schwere nimmt. Die innere Distanz ermöglicht dem Zyniker zudem, in der Beobachterperspektive zu bleiben, in der viele andere innerlich schon Reißaus nehmen. Seine scharfe Beobachtungsgabe benennt die Begebenheiten, wie sie sind, und im besten Fall eröffnet der schwarze Humor eine neue innere Freiheit in der Situation, die neue Kreativität und Handlungsoptionen eröffnet. Zynismus ist immer auch ein Schutz davor, mit den leidvollen Aspekten einer aktuellen oder vergangenen Situation in Kontakt zu kommen, und somit sinnvoll zur Abgrenzung. Die Schattenseite dieser Haltung zeigt sich in der scheinbaren Unerreichbarkeit des Zynikers. Alles lässt ihn kalt, nichts scheint ihn zu berühren. Der beißende Witz wird dann oft verletzend und destruktiv. Zynismus führt uns dann die vermeintliche Hoffnungslosigkeit der Situation in einer Art und Weise vor Augen, die frustriert, demotiviert und verletzt. Dann führt der innere Abstand oft zu einer Art Isolation, wie in einer inneren Burg. Oft hat eine tiefe Enttäuschung oder Verletzung in diese Haltung geführt. Andere erleben die Haltung dann als eine Art der Verbitterung, die eine Opferhaltung zum Ausdruck bringt. Die Haltung ist dann fast schon zu einem Schutzreflex geworden, der alles beängstigende Neue oder Leidvolle in einer Situation abwehrt. Veränderung, und damit Leben, wird so unmöglich. In dieser Haltung ziehen wir es vor, an unseren Bildern und Konzepten des Lebens festzuhalten, statt uns in die Lebendigkeit der aktuellen Situation fallen zu lassen. Resignation

Die Lichtseite in dieser Haltung ist gar nicht so leicht zu finden, insbesondere für diejenigen, die sich gerade in ihr aufhalten. Resignation und Depression signalisieren: »So geht es nicht weiter.« Diese Phase der tiefen Dunkelheit und Trauer macht Raum für eine neue Identität und bildet so oft als Krise den Ausgangspunkt für eine Neuausrichtung und Transformation. Da in dieser Haltung das eigene Wollen fast unmöglich geworden ist, entsteht eine größere Offenheit für das Gnadenhafte einer Situation. Obwohl es scheint, als seien wir in einer Ausweglosigkeit gefangen, eröffnen sich neue Perspektiven, an denen wir (scheinbar) keinen Anteil haben, die uns gnadenhaft geschenkt werden. Wie sagt Dostojewski in »Der Idiot«? »Ein Mensch, der sich vor nichts verneigt, kann niemals seine eigene Last tragen.« Die Erfahrung unserer eigenen Last oder die Last einer Krise kann uns in eine neue Qualität der Demut und Dankbarkeit führen, die uns eine tiefe Verneigung vor dem Leben ermöglicht.

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Die Schattenseite der Resignation ist es, dass das innere Engagement für eine kraftvolle Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens in dieser Haltung zu fehlen scheint. Antriebslosigkeit ist die Folge. Vielleicht könnte man diese Haltung auch als »Acedia« bezeichnen, als Trägheit, die Kierkegaard (1844/1849) als verzweifelter Versuch des Menschen beschreibt, nicht er selbst sein zu müssen. Die Verzweiflung drängt sich einem in dieser Haltung auf, da auch der innere Abstand zur Situation fehlt. Man überlässt sich dem Fluss der Ereignisse und ist eher geneigt, die Wut zu internalisieren und gegen sich selbst zu richten, als die Aggression zur Grenzziehung und Gestaltung der Situation konstruktiv zu nutzen. Das Erleben in dieser Haltung ist vom Dunkel geprägt, wie in der Depression befürchten wir ein Fortdauern dieses Zustandes, ohne einen Ausweg für uns zu erkennen. Hingabe

Die Lichtseite dieser Haltung ist die Fähigkeit, die Dinge so annehmen zu können, wie sie sind. Wir sind voll engagiert und bei der Sache, haben gleichzeitig eine hohe innere Distanz und müssen so nicht an den Ergebnissen unseres Tuns haften. Uns ist bewusst, dass die Qualität unseres Inputs den Output der Situation (mit-)bestimmt, ohne zu ignorieren, dass unzählige andere Faktoren des Kontextes auf das Ergebnis einwirken, die wir nicht beeinflussen können. In dieser Haltung versuchen wir folglich nicht mehr der Situation unseren eigenen Stempel auf zu drücken, sondern lassen den Moment voll zur Entfaltung kommen, ohne krampfhaft an unseren Projektionen festzuhalten, wie der Moment eigentlich zu sein hätte. Wer buddhistische Mönche einmal dabei beobachtet hat, mit welcher akribischen Disziplin sie über Wochen Mandalas erzeugen und in dem Moment, da der letzte Stein gesetzt ist, das ganze Meisterwerk zusammenfegen, bekommt ein gutes Bild dieser Haltung. Die Schattenseite dieser Haltung liegt vielleicht in der Gefahr, den eigenen Fokus aus den Augen zu verlieren. Indem wir uns der Situation von Moment zu Moment hingeben, fühlt es sich manchmal vielleicht so an, als blieben unsere eigenen Ziele auf der Strecke. Für andere werden wir schwer greifbar. Das führt unweigerlich dazu, dass wir beginnen zu zweifeln. Zweifeln an der Haltung der Hingabe als Weg. So kraftvoll die Hingabe in ihrem langen Atem sein kann, so nagend kann der Zweifel sein. Oder in einem Bild gesagt: »Der Glaube versetzt zwar Berge, aber der Zweifel besteigt sie.« Letztlich bedeutet Hingabe auch, sich diesem Zweifel zu stellen. Denn sonst ist unsere Haltung das Konzept der Hingabe, nicht die Erfahrung selbst. Letztlich bevorzugen wir es dann, es uns in einer stoischen Haltung gemütlich zu machen, in der uns nichts mehr berührt. Hingabe sprengt immer unser duales Entweder-oder-Denken. Achtsamkeit, als Hingabe an den Moment, transzendiert die beiden Pole von Aktion und Kontemplation im Punkt des größten inneren Engagements und der größten inneren Distanz. Daher umfasst Achtsamkeit alle vier Quadranten, denn sie beinhaltet die Fähigkeit, mich wahrzunehmen, während ich mich in einer bestimmten Haltung befinde, oder verschiedene

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persönliche Anteile in verschiedenen Quadranten. Achtsamkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass ich mich jederzeit für eine neue Tendenz entscheiden kann und dass ich Widersprüchlichkeiten, unter denen ich leide, integrieren kann. Daher kann dieses Modell in Veränderungsprozessen hilfreich sein, da es dem Klienten erleichtern kann, die Situation zu reflektieren und zu hinterfragen, wo er sich mehr/ weniger inneres Engagement zumuten möchte bzw. mehr/weniger inneren Abstand. Als Berater kann ich das Modell jederzeit als Kompass nutzen, um zu hinterfragen, ob ich gerade in eine (Über-)Identifikation kippe oder mich innerlich zynisch abschotte, um mich vor einer leidvollen Erfahrung oder einem Misserfolg zu schützen. Es geht nicht darum, die eine oder andere Haltung zu glorifizieren oder abzuwerten. Es geht vielmehr darum, mehr Bewusstheit zu schaffen und so mehr Handlungsoptionen für den Klienten und uns selbst zu kreieren. Wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, kann jeder Beratungsprozess eine Reise durch alle vier Quadranten bedeuten. Mit jeder Intervention kann sich die Situation vollständig ändern. Hier kann die Achtsamkeit uns helfen, weder in die (Über-)Identifikation zu kippen, noch uns innerlich kalt und zynisch abzugrenzen. Bleibe ich im Feld der Achtsamkeit, erhöhe ich letztlich die Wahrscheinlichkeit, dass ich im nächsten Moment für den Klienten hilfreich sein kann und mit Phänomenen wie Übertragung, Gegenübertragung und Resonanz konstruktiv umzugehen vermag.

Berateridentität – Wer sind wir und wie können wir das Nicht-Wollen wollen? Als systemische Berater ist vermutlich ein Teil unserer professionellen Identität, dass wir uns in der Haltung der Absichtslosigkeit üben. Absichtslosigkeit ist für uns so zentral, da das Wollen und Entscheiden im Klientensystem bleiben muss. Überschreite ich diese Grenze und versuche ich, mein Wollen zum Wollen des Systems zu machen, bin ich im Geschäft der Missionierung. Mache ich das Wollen des Auftraggebers zu meinem Wollen und renne ich damit gegen den Widerstand im Klientensystem an, bin ich im Motivationsgeschäft. Beide Perspektiven sind nicht wirklich verlockend. Wenn wir das Paradigma der Autonomie des Klienten wirklich ernst nehmen, bedeutet das für uns immer wieder, in die Distanz zu eigenen inneren Impulsen zu gehen. Unser diskursives Denken und unsere Emotionen liefern uns permanent ein weites Feld an Bewertungen, die letztlich immer auch auf ein eigenes Wollen deuten. Als systemische Berater haben wir allerdings auch eine Art Ventil für unser Wollen: die Allparteilichkeit. Wir enthalten uns nicht dem Wollen, sondern wir identifizieren uns mit dem Wollen verschiedener Stakeholder bzw. relevanter Umwelten. Was bedeutet das? Das heißt ganz konkret, dass wir zum Beispiel in einem Interview mit einer Fokusgruppe, die gegen die Veränderung ist, gänzlich mitfühlen und in positive Resonanz mit deren Argumenten gehen, eine halbe Stunde später sind wir vielleicht

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in einer Fokusgruppe, die die Veränderung befürwortet, und wir lassen uns ganz auf diese Perspektive ein. Das hat mit Beliebigkeit nichts zu tun, sondern mit der Fähigkeit, die eigenen Identifizierungen und Fixierungen loszulassen, während wir an einer übergeordneten Absicht, dem Anliegen des Klientensystems zur Veränderung, festhalten. Nun drängt sich die Frage auf, wie wir an einer Absicht oder Intention festhalten können, ohne zu wollen, und wie wir dabei nicht verloren gehen, sondern uns finden können. Genau dieses Übungsfeld eröffnet die Achtsamkeitspraxis für systemische Berater und Coaches. Sie führt uns direkt in den Kern der Frage, wer wir sind. Was ist unser wahres Wesen? Auf einer sehr grundlegenden Ebene scheint sehr leicht nachvollziehbar zu sein, dass wir erst die Frage nach unserer Identität entschlüsseln müssen, bevor wir über unsere Berater- und Coach-Identität reflektieren. Die Achtsamkeitspraxis gibt uns den Raum, diese Frage sehr grundlegend zu beleuchten.

Unsere wahre Identität jenseits des begrifflichen Denkens Im 1. Teil wurde die Ebene der Achtsamkeit als transzendente Qualität unseres Bewusstseins, als Gewahrsein, bereits angedeutet. Vielleicht kann man, konstruktivistisch gedacht, selbst hier sagen: Der Beobachter prägt die Beobachtung. Wir müssen also einen kurzen Exkurs vornehmen, wie uns die Meditation diese Erfahrungsebene eröffnen kann (vgl. Singer u. Ricard, 2006). Die mystischen Wege Zen, Vipassana, Kriya-Yoga etc. sind nichtgegenständliche Formen der Meditation. Das heißt, ich versuche in der Meditationserfahrung meinen diskursiven Geist zur Ruhe zu bringen, so dass die tragende Qualität unseres Bewusstseins, in dem sich der diskursive Geist bewegt, zum Vorschein kommt. Um ein altes mystisches Zen-Bild zu gebrauchen: Wir sind wie eine Welle, die sich im Ozean ausformt, und nehmen nur sehr selten wahr, dass unsere wahre Identität die Verbundenheit mit dem Ozean, der Ozean selbst ist (vgl. Jäger, 2000). Wenn wir diese Metapher in neueste neurologische Erkenntnisse übersetzen, bedeutet das, dass wir unser gegenständliches Denken, das von Formen und Begriffen geprägt ist, zur Ruhe bringen können, indem wir uns zum Beispiel auf nichtgegenständliche Wahrnehmungen wie etwa die der Nahsinne (Propriozeption) einstellen können. Kehren wir in der Übung immer wieder zu unserem Atem und der Wahrnehmung unserer Nahsinne zurück, kehrt unweigerlich Ruhe in unseren diskursiven Geist ein. So, als könne man auf einmal die Leinwand sehen, auf der unsere Lieblingsfilme des Lebens projiziert werden, erkennen wir die Qualität der Leinwand, auf der sich unser Leben abspielt. Dieses Erleben der Bewusstseinsvereinheitlichung ist eine Erfahrung, die man nicht sprachlich vermitteln kann. Daher ist das Achtsamkeitstraining ein Übungsweg, der immer wieder intensive Phasen der Meditation beinhaltet, um an diese Erfahrung anknüpfen zu können. Gleichzeitig ist dieser Übungsweg in seiner Einfachheit so kraftvoll, da er uns erleben lässt, wie wir mit unseren begrifflichen Vorstellungen und Zielsetzungen immer wieder an Grenzen stoßen.

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Die moderne Neurobiologie weist nach, warum wir tiefgreifende Veränderungen, die unsere Identität und damit unser Selbst-Bild betreffen, nicht bewusst im Bereich des kognitiven Denkens vornehmen können. Eigentlich müssen wir zugeben, dass wir das schon immer gewusst (oder zumindest geahnt?) haben, auch ohne Neurowissenschaften. Sonst würden nicht so viele Neujahresvorsätze nicht funktionieren. Sonst würden positives Denken und NLP (Neurolinguistisches Programmieren) nicht an die Grenzen des Glücks stoßen. Jeder, der schon einmal versucht hat, sich nachhaltig mit positiven Affirmationen zu verändern, weiß, was ich meine. Wenn wir uns morgens im Spiegel anschauen und freudig zurufen, »ich bin liebenswert, erfolgreich und begegne meinem Leben ohne Vorbehalte«, macht es oft die ganze Misere nur schlimmer! Die Neurowissenschaften weisen inzwischen nach, dass wir unsere Glaubenssätze tatsächlich verkörpern. Wir prägen in frühester Kindheit unsere Glaubenssätze aus und fortan prägen sie uns. Unsere Glaubenssätze prägen uns bis in unsere Körperlichkeit hinein und determinieren in einem wesentlichen Maß, wie viel Glück wir erleben (vgl. Ricard, 2009, S. 263–283). Sie sind eine subtile Verbindung von Körperlichkeit, Emotion, die im limbischen System zu Hause ist, und Deutungen im präfrontalen Kortex, der unser begriffliches Denken beheimatet. Unser Gehirn ist viel mehr Körperlichkeit, als wir glauben. Unsere Glaubenssätze wirken viel stärker aus dem nichtsprachlichen, nichtgegenständlichen Teil unseres Bewusstseins heraus. Um mit Gerald Hüther (2006) zu sprechen: »Arbeiten Sie körperlich an Ihren Haltungen und Glaubenssätzen und Sie bekommen ein neues Gehirn.«

Achtsamkeit und Veränderung – wie der Fokus auf Intentionen Transformation ermöglicht Wir wissen als Systemiker natürlich, dass soziale Identität von außen nach innen entsteht. Über das Ineinandergreifen der relevanten Faktoren kreieren wir ein Selbst, das wir und andere als mehr oder weniger stabil erleben. Als Konstruktivisten wissen wir jedoch gleichzeitig, dass all diese relevanten Teile unserer Identität (Körper, Familie, Rolle, Beruf, Werte etc.) sich jederzeit ändern und somit nicht die Identität als etwas Festes, in sich Beständiges konstituieren können. In unserem Innenleben lässt sich unsere Identität vielleicht am besten durch die Glaubenssätze beschreiben, die wir uns sagen. Gleichzeitig gibt es in jedem von uns eine Art tiefste Sehnsucht oder Veränderungsintention, die jenseits unserer Vorstellungen von uns selbst ist (vgl. Ray, 2004). Genau hier kommt das Feld der Achtsamkeit ins Spiel. Indem wir durch die Achtsamkeitspraxis den Fokus vom gegenständlichen, diskursiven Denken auf unser Feld der Absicht lenken, kreieren wir ein höheres Maß an Wahrscheinlichkeit, unsere Intentionen zu verkörpern. Die Kraft der Achtsamkeit schafft eine neue Identität, indem sie das Feld der Intention stärkt. Man könnte meinen, dies ist paradox, da die Intention ja von einem Wollen geprägt sein muss und die Achtsamkeit per se absichtslos ist. In der Haltung der Hingabe transzendieren wir die

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beiden Pole von Aktion (Wollen) und Kontemplation (Absichtslosigkeit, Nicht-Wollen). Abbildung 4 verdeutlicht diesen Zusammenhang.

Abbildung 4: Feld der Achtsamkeit

Baker Roshi, ein Zen-Meister aus den USA, Nachfolger von Suzuki Roshi, hat diesen Zusammenhang in einem seiner Retreats sehr deutlich herausgearbeitet. Er betonte an dieser Stelle immer: »Don’t invite your thoughts for tea«, man solle seine Gedanken nicht zum Tee einladen. Wir müssen uns immer wieder eingestehen, dass wir das tun. Wir sind gute Gastgeber. Zu dem Tee reichen wir dann noch ein Stück Kuchen, und schon ist aus dem einen Gedanken, der in unserem Bewusstseinsfeld aufgetaucht ist und sich eigentlich gerade wieder verabschieden wollte, eine ganze Geschichte geworden. An diese Geschichte hängen sich dann wieder weitere Gedanken und bevor wir uns versehen, haben wir auf einmal eine ganze Teegesellschaft zu einer munteren Plauderei zusammen. Einige Gäste sind uns nicht so ganz angenehm und kommen komischerweise uneingeladen immer wieder. Wir sind uns hier sehr unsicher, wie wir sie wieder loswerden können. Vielleicht werden wir dann wütend auf unsere Gäste, dass sie so unhöflich sind. Oder wir werden wütend auf uns selbst, da wir so unzulänglich sind und sie nicht einfach hinauswerfen. Oder wir sind enttäuscht, da wir uns wieder bewerten und uns etwas anderes wünschen von unserer Teerunde. Andere Gäste. Inspirierendere Gäste vielleicht? … und so geht es dahin, von Tee-Party zu Tee-Party. Daher ist es in der Praxis so wichtig, sich immer wieder in sinnliche Wahrnehmungen zu bergen, zum Beispiel den Atem, der uns an dieser Stelle gleichzeitig viel Information über unsere Gestimmtheit geben kann, ohne dass wir uns darin verstricken. Der Atem kommt und geht. So wie unsere Gäste. Wir lassen ihn einfach kommen und gehen, ohne ihn zu kontrollieren. So lassen wir auch unsere Gäste einfach kommen und gehen. Wir wehren sie nicht ab, halten die besonders angeneh-

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men Gäste aber auch nicht fest oder versuchen sie zu überreden, länger zu bleiben. In dieser Haltung sind wir wie ein offenes Haus, jeder darf kommen und gehen. In dieser Praxis merken wir vielleicht, wie unsere Haltung immer offener wird. Gäste, denen wir noch vor einiger Zeit die Tür nicht geöffnet hätten, spazieren nun mit großem Brimborium durch die Vordertür, allerdings genauso schnell auch wieder durch die Hintertür hinaus. Wir erkennen, dass die ganzen Tee-Partys in unserem Leben, all die Geschichten, nur wie unsere Lieblingsfilme sind, die sich auf der Leinwand abspielen. Ob nun gerade »Aschenputtel« oder »Terminator« im Kino läuft, ist der Leinwand egal. Die Frage ist, fühlen wir uns in unserem Film wohl, oder wollen wir einmal die Rolle wechseln? Hier kommt die Intention ist Spiel, unser Feld der Absicht. Manchmal ist es ein fast schmerzhafter Prozess, sich die eigenen Sehnsüchte und Wünsche zuzugestehen. Je tiefer wir uns ahnend in das Feld der Achtsamkeit vortasten und mit ihm in Berührung kommen, desto stärker transformiert es auch unser Bild unserer Identität. Nelson Mandela hat das für mich treffend beschrieben: Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir der Sache nicht gewachsen sind. Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich mächtig sind. Es ist unser Licht, das wir fürchten, nicht unsere Dunkelheit (Williamson, 1993 zitiert in Mandela, 1994).

Nur vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte können wir ahnen, von welcher Kraft er spricht, die ihn selbst immer wieder gestärkt und getragen hat. Die ganze Tiefe und Weite dieses Satzes ist eine Zumutung an uns. In unseren spirituellen Gipfelerlebnissen erkennen wir: Wir müssen uns zunächst ganz uns selbst zumuten, bevor sich das Selbst uns zumutet. Wir sind immer unterwegs zu dieser Einheit. Baker Roshi betont an dieser Stelle immer, wie wichtig Gelübde sind, da sie den Geist der Absicht aktivieren. Gelübde haben eine transformierende Kraft, da sie uns unsere Identität im Spiegel des noch nicht vorhalten und uns gleichzeitig ein schon jetzt verheißen. Insofern ist für mich die Arbeit an einem persönlichen Mantra auch in der Beraterausbildung und Führungskräftearbeit bedeutsam. Ein Klang in Verbindung mit einem Wort oder einem Satz, der das Beste in uns, unsere Lebensintention als tiefste Sehnsucht, ausdrückt, kann transformierend sein. So, als würden wir uns unsere Absichten in einem ganz persönlichen Gelübde zumuten. Zudem kann uns als Beratern in der spirituellen Erfahrung deutlich werden, dass nicht unsere Rollen, Kompetenzen, Erfahrungen, Theoriemodelle, Tools usw. unsere Identität ausmachen. Erst wenn wir diese Ebene des diskursiven Denkens loslassen,

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eröffnet sich eine neue Weite, die zutiefst beglückend ist. Aus dieser Erfahrung gehen wir gestärkt hervor, um auch in Beratungsprozessen die konstruktive Spannung des noch nicht und schon jetzt aushalten zu können. Vielleicht gelingt es uns, soviel Vertrauen zu verkörpern, dass auch im System, im Coachee, die beste aller Identitäten zum Vorschein kommt. So schaffen wir Felder der Ermöglichung, die jenseits der Konzepte liegen.

Die Intention in Beratungs- und Coaching-Prozessen Wenn wir uns auf die geschilderte Erfahrungsebene wirklich einlassen, wird uns vielleicht immer stärker bewusst, wie die Intention auf den Beratungsprozess zurückwirkt. Gerade da die Wirkung der Intervention nicht vorhersehbar ist, ist unsere Intention umso bedeutender. Interessanterweise wird in der tibetischen Ethik ganz starker Wert auf die Intention als Motivation der Handlung gelegt. Der ethische Wert bemisst sich hier nach der Absicht (tibetisch: kun long), nicht nach der Wirkung einer Handlung. Die Handlung selbst hat in dieser Theorie zwar eine ethische Substanz (Leben schützen vor Leben zerstören etc.), allerdings ist man sich in dieser Haltung bewusst, dass man die Folgen seiner eigenen Handlung nur sehr begrenzt steuern kann. Dies ist eine zutiefst systemische Sicht und vor diesem Hintergrund rückt die Absicht, mit der ich handle, viel stärker in das Zentrum des Interesses. Im tibetischen bezeichnet man Lo als Geisteshaltung der Einheit von Herz und Geist. Für mich ließe sich diese Geisteshaltung der Einheit von Herz und Geist am treffendsten mit »Achtsamkeit« beschreiben. Abbildung 5 verdeutlicht diesen Zusammenhang:

Abbildung 5: Intention, Intervention, Wirkung

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Die Intention ist also für den Berater und Coach in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Erstens unterstützt sie uns, die eigene Identität in einer Weise auszurichten, die uns hilft, die eigenen Geister zu scheiden und den konstruktiven Impulsen in unserem Bewusstseinsfeld immer mehr Raum zu geben. Damit kann uns die Intention immer heilsamere Geisteshaltungen kultivieren, die positiv auf unsere Identität zurückwirken (im Innen und im Außen). Zweitens wirkt sie feinstofflich, also energetisch, direkt auf den Klienten und die Situation zurück und kann so ein Feld der Ermöglichung schaffen, das Veränderungen unterstützt. Frei nach dem Motto von Gunther Schmidt »Ich bin eine Ganzkörper-Intervention« schaffen wir als Berater und Coach immer auch Felder der Ermöglichung, die jenseits der Worte liegen. Wenn wir in der Achtsamkeit sind, machen unsere Coachees manchmal die stärksten Erfahrungen in der Stille. In den Pausen. Im Raum zwischen den Deutungsangeboten. In der nichtgegenständlichen Welt, jenseits der Konzepte und Gedanken. Aber wie wirkt diese energetische Ebene in uns, durch uns? Wie können wir etwas beschreiben, was so subtil ist, ohne in Vermutungen abzugleiten? Wie können wir auch auf dieser Ebene Phänomene ganz sinnlich beschreiben, damit diese Wahrnehmungen uns als Berater und Coaches als Ressource zur Verfügung stehen? Oft ist es so, als trauten wir unseren Sinnen nicht, wenn wir die Tür zu neuen Erfahrungswelten aufstoßen. Manchmal sinken diese Erfahrungen sogar wieder ins Unbewusste zurück. Vielleicht laden die Schilderungen und Bilder Sie auch ein, Ihren eigenen Erfahrungen noch mehr zu trauen und sie in Ihre Beratungs- und CoachingPraxis zu integrieren. So sehr wir in der Achtsamkeitspraxis um das nichtgegenständliche Erkennen ringen, so wichtig ist es doch, auch Sprache für diese Erfahrungsebene zu suchen. Letztlich geht es in diesem Feld immer um ein Wieder-Erkennen. Sind wir in der Erfahrung, ist es das natürlichste der Welt, so als wären wir nie getrennt gewesen von dieser Erfahrungsebene. Sprache kann uns als Erinnerung und Einladung zugleich dienen.

Resonanz in Beratungs- und Coaching-Prozessen Resonanz ist ein universelles Prinzip, dem wir auch als Menschen unterliegen. Die Quantenphysik lehrt uns, dass es zu jedem Teilchen ein Antiteilchen gibt. So, als gäbe es zu jeder These gleichzeitig eine Antithese. Diese Teilchen stehen in Beziehung. Die Bewegung des einen Teilchens bewirkt eine Bewegung des anderen Teilchens. Oft sind diese Phänomene für unser Tagesbewusstsein, das uns eine Welt in linearen Ursacheund-Wirkungs-Zusammenhängen vorgaukelt, nicht so leicht fassbar. Eine wissenschaftliche Hypothese derzeit lautet, dass diese Antiteilchen sich unter anderem auch in der sogenannten dunklen Materie befinden. Derzeit wird angenommen, dass sich über 95 Prozent der Materie in unserem Universum in einer Art gekrümmtem Raum, in schwarzen Löchern, befindet.

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Kommen wir vom Kosmos näher zur Erde, finden wir auch hier viele Phänomene der Verbundenheit, die wir noch vor zwanzig Jahren wissenschaftlich nicht hätten nachweisen können. So hat zum Beispiel die Forschung an Stammzellen das Forschungsfeld der Epigenetik hervorgebracht. Die Silbe »epi« deutet an, dass es sich um eine Disziplin handelt, die über der Genetik liegt und sich mit der Frage beschäftigt, wie der Kontext auf die Proteinsynthese unserer Zellen wirkt. Bisher hatte man angenommen, dass die Proteinsynthese, und damit auch das Auftreten und der Verlauf von Erkrankungen wie Krebs etc., durch den genetischen Code festgeschrieben ist. In der Epigenetik hat man nachgewiesen, wie der Kontext auf das An- und Ausschalten der Zellproduktion wirkt. So zählen natürlich die Lebensumstände zum Kontext (Ernährung, Strahlung etc.), es werden aber auch unsere Glaubenssätze (engl. beliefs) zu unserem Kontext gerechnet. Über die Epigenetik können also die geistigen Haltungen und Glaubenssätze bis tief hinein in die Proteinsynthese wirken (Lipton, 2008). Da die Resonanz ganz offensichtlich ein so zentrales Lebensphänomen ist, zeigt sie sich in verschiedensten Arten und Weisen. Als Kompanie darf man zum Beispiel nicht im Gleichschritt über eine Brücke marschieren, da diese sonst in Resonanz geraten kann und die Schwingungen zum Einsturz führen können. So geht es uns als Coaches und Beraterinnen auch manchmal. Wir wissen oft nicht genau, was die Resonanz ausgelöst hat. Wir erkennen nur, wenn wir uns gerade wieder einmal in einer Resonanzkatastrophe im Beratungsprozess befinden. Kein angenehmes Gefühl. Natürlich wirkt dieses Prinzip auch auf der Ebene der Person. Daher muss ein Teil der Achtsamkeitsausbildung auch immer das Bewussterwerden für Resonanzen beinhalten. Denn so, wie wir als Materie in Resonanz, in Verbindung mit anderen Teilchen stehen, stehen wir auch als geistige Wesen permanent in Resonanz. Als Menschen erleben wir Resonanz auf den vier Ebenen, die eingangs schon erwähnt wurden: –– körperlich, –– emotional, –– energetisch, –– geistig. Wichtig ist zu verstehen, wie stark diese Ebenen miteinander in Beziehung stehen und wie sich die Resonanzen wechselseitig stärken. Bevor wir uns eingehender damit befassen, wollen wir noch eine Einteilung der Phänomene anhand einer Matrix, angelehnt an Ken Wilber (2004), vornehmen. Diese Matrix erscheint mir hilfreich, da sie uns die Möglichkeit gibt, individuelle (Fokus Person) und kollektive (Fokus Gruppe) Phänomene zu beschreiben, die uns im Feld der Resonanz begegnen. Abbildung 6 verdeutlicht diesen Zusammenhang:

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Abbildung 6: Resonanz

Individuelle energetische Resonanz

Zunächst scheint es mir wichtig, kurz darzulegen, was die neuesten Forschungsergebnisse zu der Frage sagen, wie sich die Resonanz zwischen den verschiedenen Feldern überträgt. Im Fall der individuellen emotionalen Resonanz ist das recht gut beforscht. Die Wissenschaften haben hier nachgewiesen, dass zum Beispiel die emotionalen Resonanzen letztlich ganz feine körperliche Spannungsmuster sind, die wir erzeugen und über unsere Nahsinne wahrnehmen, wenn wir einem sinnlichen Reiz (visuell, auditiv etc.) ausgesetzt werden. Sie kennen das alle aus eigener Erfahrung: Sie müssen nur an eine Person denken, die mit Leichtigkeit Ihre »roten Knöpfe« drückt, und schon passiert es: Ihr Blutdruck steigt, die Oberflächenspannung Ihrer Haut und der Muskeltonus und die Herzfrequenz erhöhen sich usw. Diese Reaktion wird über unsere Nahsinne an den frontalen Kortex zurückgemeldet und dort als Gefühl interpretiert und in eine begriffliche Schublade getan (Angst, Ärger, Erregung etc.). Emotionen sind immer ganzkörperlich. Dieses Feld ist gut beforscht und dokumentiert. Die Phänomene sind gut beschrieben und die hypnosystemische Therapie bietet ein weites Feld an Erklärungsmodellen und Werkzeugen in der Beratung und im Coaching an. Daher ist es für mich persönlich auch so wichtig, in verfahrenen Beratungssituationen körperlich in Bewegung zu bleiben; entweder durch eine leichte Bewegung auf dem Stuhl, eine Bewegung im Stehen oder sei es das Öffnen eines Fensters. Diese körperlichen Bewegungen beeinflussen in meinem Erleben das Maß, in welchem mir meine Ressourcen zur Verfügung stehen, positiv. Probieren Sie es aus!

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Die Ebene, auf die ich im Folgenden eingehen möchte, scheint mir noch nicht so gut beschrieben, vielleicht auch aufgrund der Befürchtungen, zu »esoterisch« zu wirken. Gleichzeitig ist es eine Ebene, die alle Menschen erleben, die unsere Intuition speist. Woher wissen wir, dass in einer Gruppe »dicke Luft« ist, noch bevor wir den Raum betreten? Woher speist sich unser Empathievermögen über unsere Spiegelneuronen (vgl. Bauer, 2006) hinaus? So, wie die ganz subtilen körperlichen Spannungszustände eine Art Trägerfrequenz für unsere Emotionen bilden, scheinen sogenannte Biophotonen unter anderem die Trägerfrequenz für energetische Resonanz zu sein. Ein deutscher Biophysiker, Fritz-Albert Popp (geb. 1938), hat die Existenz dieser Teilchen nachgewiesen, die er auch als kohärente ultraschwache Photonenemission beschreibt. Bereits vor drei Jahrzehnten wurde Popp aufgrund dieser Entdeckung als Nobelpreis-Kandidat gehandelt. Die Existenz dieser Teilchen ist inzwischen unumstritten, auch wenn sich die Experten noch über deren Herkunft und Bedeutung streiten. Eine Bedeutung, die ich den Biophotonen für mich habe geben können, ist, dass sie gewisse energetische Phänomene, die ich wahrnehme, erklärbar machen. Was diese feinstoffliche Energie letztlich transportiert, kann für mich offen bleiben. Mich bestärken diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nur, meiner Wahrnehmung von mir selbst und in Gruppen zu trauen. An erster Stelle steht auch hier die Erfahrung. So will ich ein paar Übungen und Erfahrungen teilen, die diese Erfahrungsebene andeuten. Experimentieren Sie damit! Vielleicht sind meine Schilderungen auch hilfreich, um eigene Erfahrungen mit Gruppen besser einordnen zu können. Zunächst kann es hilfreich sein, sich diese feinstoffliche Ebene ganz sinnlich zu vergegenwärtigen. In meiner Achtsamkeitsausbildung ist eine der ersten Übungen im zweiten Modul der »Energieball«. Aus der Meditation kommend, konzentrieren sich die Teilnehmer auf ihren Atem und den Herzraum. So, als könnten Sie Ihren Atem durch die Arme fließen lassen, atmen Sie in Ihrer Vorstellung durch die Hände aus. Nach ein paar Minuten führen sie die Hände zusammen und nehmen die Unterschiede wahr. Probieren Sie es aus. Was nehmen Sie wahr? Die Hände sind verbunden mit dem, was in der energetischen Pflegewissenschaft als das »vierte Center« beschrieben wird. Dolores Krieger, Dozentin an der New Yorker Universität für Pflegewissenschaften, hat in Zusammenarbeit mit Dora van Gelder Kunz die Methode des Therapeutic Touch (TT) entwickelt, die besonders im angloamerikanischen Sprachraum durch die Arbeit der New Yorker Pflegewissenschaftlerin Martha Rogers (1914–1994) große Bekanntheit erlangt hat (vgl. Krieger, 1995). Durch die breite Anwendung und Relevanz im Pflegealltag ist es gelungen, in vielen Studien die Wirkungen von TT nachzuweisen. Das Modell beschreibt die Qualitäten von sieben energetischen Zentren (Centers) des Menschen, die im Prozess der Energiearbeit mit Individuen oder Gruppen interagieren. Für mich persönlich war es beeindruckend, wie mir in der Zen-Meditation die Qualität und körperliche Verortung dieser sieben

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Zentren immer stärker zu Bewusstsein kamen und mir das Modell eine Sprache und Einordnung für meine Erfahrungen bot. In der bewussten Arbeit mit Resonanz kann der anatomische Sitz der Centers einen Hinweis geben, an welcher Stelle wir körperlich in Resonanz geraten. Dies kann sich durch ein Gefühl der Weite oder Enge, des Fließens oder der Stagnation, des Drucks oder Ziehens oder auf andere Art und Weise zeigen. Wichtig ist für die Beraterqualifizierung, immer bewusster wahrzunehmen, was von mir ausgeht und welche Qualitäten auf mich durch eine Gruppe zukommen. Die sieben Centers sind hinreichend beschrieben. Falls es Sie interessiert, gibt es ein weites Feld an Literatur und Studien, die diese Menschheitserfahrung einordnen und hinreichend beschreiben: beginnend bei der Traditionellen Chinesischen Medizin, dem Hinduismus, Yoga und Buddhismus, über christliche Mystik – erste Aufzeichnungen durch Georg Gichtel (1634–1710), der in der Tradition des deutschen Mystikers Jakob Böhme (1575–1624) stand – bis hin zu modernen Abhandlungen (vgl. Vollmar, 1994; Pollock, 2000). Tabelle 1 gibt einen knappen Überblick, wie wir als Personen die Licht- und Schattenseiten der jeweiligen energetischen Zentren erleben können. Wie erleben wir Resonanz? Wie stehen individuelle und kollektive energetische Prozesse miteinander in Beziehung und welche Implikationen hat das für eine fundierte Beraterausbildung, die Resonanz in Betracht zieht? Kollektive energetische Resonanz

Wie die Abbildung der adaptierten Wilber-Matrix verdeutlicht (Abb. 6, S. 170), hat jede Gruppe ein kollektives Innenleben. Dieses kollektive Innenleben könnte man vielleicht auch als Gruppenkultur oder kollektive Muster beschreiben. Diese Muster prägen sich im Verlauf des Lebensweges der Gruppe aus und machen gewisses Verhalten wahrscheinlicher als andere Verhaltensoptionen. Für soziale Systeme beschreiben Exner, Exner und Hochreiter (2009) diese Muster als Teil des Lebensweges und damit als ein Phänomen der Unternehmensselbststeuerung. Rupert Sheldrake (2008) spricht in diesem Kontext der Wahrscheinlichkeit von morphischer Resonanz. Ich beschränke mich in diesem Beitrag bewusst auf Gruppen. Andere Phänomene würden in diesem Rahmen zu weit führen. Diese Gruppenkultur ist auch geprägt durch kollektive Emotionen, die wirken. Immer wieder stelle ich fest, wie anders verschiedene Teams auf ganz ähnliche Umstände reagieren. Welche kollektiven Emotionen durch Fehler, äußere Bedrohungen oder Chancen etc. ausgelöst werden, ist sehr unterschiedlich. Sie kennen dieses Phänomen aus Ihrer Beratungspraxis. Wichtig ist nun zu wissen, dass unsere körperliche, geistige, emotionale und feinstoffliche Verfassung gewisse Resonanzen wahrscheinlicher macht als andere. Achtsamkeitspraxis heißt, sich zunächst also möglichst bewusst zu sein, was in mir auf den verschiedenen Ebenen lebendig ist und Wirkung hat (Intention, Biografie, Lebensweg,

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Tabelle 1: Licht- und Schattenseiten der sieben energetischen Zentren

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Familie, Werte, Abneigungen und Vorlieben, Stärken und Schwächen, Wahrnehmungen etc.). Achtsamkeitspraxis heißt aber auch, sich nicht mit der kollektiven Resonanz der Gruppe zu verwechseln. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen. Wir gestalten einen Strategieworkshop mit der Einheit, die für globale Kundenzufriedenheit bei einem Automobilbauer zuständig ist. Es geht neben den Aspekten der inhaltlichen Ausrichtung für die nächsten zwei bis drei Jahre auch um Fragen der Kooperation und Aufgabenteilung. Es soll eine Synthese aus inhaltlicher Arbeit und Teambuilding gelingen. In den Vorbereitungsinterviews werden die Widersprüchlichkeiten, in denen die Gruppe strukturell steckt, deutlich. Zudem lassen sie die persönlichen Spannungen zwischen verschiedenen Gruppenteilen untereinander und der Führung spürbar werden. Ein gewisses Gefühl der Bedrohung hat durch den Umstand, dass die Abteilung grundsätzlich in Frage gestellt wird, um sich gegriffen. Aus dieser existenziellen Angst ist etwas entstanden, das die Teilnehmer als blame culture beschreiben: wechselseitige Schuldzuweisungen mit allen damit verbundenen Phänomenen. Wir betreten den Workshopraum. Es herrscht eine sehr ausgelassene Stimmung. Die Teilnehmer witzeln miteinander, es fällt fast schwer, den Workshop offiziell zu beginnen. Kaum ist der Workshop eröffnet, noch vor der Rückspiegelung der geplanten Diagnose, wird alles noch ausgelassener. Es gibt einen Grund zu feiern: den gemeinsamen Erfolg. Ungeplant kreist die Sektflasche und es wird im Stehen auf den Erfolg der vergangenen Jahre angestoßen. Wären wir bei dieser manifesten Ebene geblieben, hätten wir vielleicht die falschen Schlüsse gezogen. Energetisch waren ganz stark die Latenzen oder latenten Emotionen und Dynamiken spürbar. Schon bei Betreten des Raums waren deutlich eine latente Aggression und Wut auf Ebene des zweiten Centers spürbar. Unter der ausgelassenen glatten Oberfläche gab es immer wieder Abwertungen, Übergriffe und Schuldzuweisungen, begleitet von der kollektiven Angst vor einer emotionalen Eruption. Nach der Rückspiegelung der Diagnose wurden einige dieser Dinge besprechbar und im Verlauf der Workshop-Tage kamen nun zunehmend Identitätsthemen zum Vorschein, die für mich immer wieder auf der Ebene des dritten Centers spürbar wurden. Eine energetische Enge und ein Ziehen waren zu spüren im Zusammenhang des Ringens der Gruppe um die Frage »Wofür stehen wir und wer wollen wir in Zukunft sein?«. Was die ganzen Tage über feinstofflich nicht gelungen ist, ist, eine Art Fließen zu ermöglichen. Wenn es auf der Ebene der Gruppenintention eine Art von gemeinsamer Ausrichtung und Kohärenz gibt, stellt sich energetisch für mich eine Art von Fließen ein. Gelingt es zum Beispiel einer Gruppe, in einen Prozess der wechselseitigen Wertschätzung zu gelangen, erlebe ich das stark als Strömen auf der Ebene des vierten Centers. Im Rahmen eines anderen Prozesses erinnere mich noch gut an folgende Situation: Wir arbeiteten in einem Projektteam eines global agierenden Chemieunternehmens. Das gesamte Projektteam bestand aus über 100 Personen, der Workshop war für die erweiterte Projektleitung, 16 Personen, konzipiert. Es ging darum, ein gemeinsames Bild der Ausrichtung in einer immensen Komplexität und Widersprüchlichkeit zu

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finden. Die Ebene persönlicher Konflikte hatten wir in vorangegangenen Workshops bearbeitet und gelöst, gleichzeitig beschäftigte das Team seit Monaten die Frage »Wofür stehen wir?«. Natürlich gab es die Ebene der formalen Projektziele, die gemeinsame Projektintention war jedoch nie so recht greifbar geworden, was sich im zähen Ringen um einen Slogan zeigte. Als wir wieder drohten, in einer rigiden Schleife um diesen Symptomträger des Slogans zu kreisen, entschlossen wir uns zur analogen, energetischen Arbeit an der Gruppenintention. Barbara Ann Brennan beschreibt diese Übung als Ausrichtung einer Gruppe auf den Gruppenzweck (Brennan, 1994, S. 655). Da es ein ausgeprägtes wechselseitiges Vertrauen im intern-externen Berater-Staff gab, bildete das eine gute Voraussetzung für die Übung. Wir standen mit der Gruppe im Kreis, wiesen die Zentrierung auf verschiedene Körperregionen und den Atem an. Binnen weniger Minuten war eine energetische Ausrichtung auf der Ebene des zweiten Centers spürbar, ein Fließen und intensive Hitze. Nach kurzer anfänglicher Unsicherheit und einem Kichern in der Gruppe wurde es nun still. Es war so, als ob sich die Stille ganz wahrnehmbar zwischen den Teilnehmern in der Gruppe manifestierte und immer tiefer wurde. Nach einigen Minuten des bewussten Atmens schlossen wir die Übung ab. In einer kurzen Reflexion berichteten die Teilnehmer vom Erleben intensiver Hitze, teilweise Strömen. Ein Teilnehmer beschrieb sein Erleben so: »Ich bin sicher, hätte ich in dem Moment eine Glühbirne in die Mitte der Gruppe gehalten, sie hätte geglüht.« Zwei Wirkungen waren danach in der Gruppe zu beobachten. Erstens hatte die Frage nach dem Slogan an Bedeutung verloren. Zweitens war es nun kein Problem mehr, ihn zu finden. Diese beiden kurzen Beispiele machen vielleicht deutlich, wie unterschiedlich die feinstofflichen Resonanzen sein können, wenn wir an der Gruppenintention arbeiten. Die Gruppenresonanzen bewusst (für) wahr zu nehmen, macht es uns leichter, die angemessene Intervention zu finden und uns nicht mit der Gruppe zu verwechseln. Eine Abwertung in einem Feld der Schuldzuweisung verletzt uns als Berater dann nicht mehr ganz so stark und die euphorische Rückmeldung im Feld der Wertschätzung des Kunden lässt unser Ego etwas leiser schmatzen. Meine Erfahrung aus dem eigenen Arbeiten ist, dass es wichtig ist, die eigene Intention, und damit feinstoffliche Ausrichtung, geklärt zu haben. Daher habe ich diesen Teil im Vorfeld so betont.

Intuition und Intention im Coaching Sie kennen die beschriebene Tatsache vielleicht aus eigener Erfahrung. Unsere energetische Qualität wird über unsere körperlichen Grenzen hinaus spürbar. Diese Ebene der energetischen Verbundenheit ist eine Quelle, aus der sich unsere Intuition speist. Ein wichtiger Punkt im Rahmen der Arbeit mit Intuition scheint mir zu sein, dass wir uns als Berater immer stärker enthalten. Wir haften nicht an den Impulsen und Wahrnehmungen, die durch unser Bewusstseinsfeld gehen, und bewerten sie nicht. Wir gründen

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uns in der klaren Intention, für den Prozess hilfreich zu sein, ohne dies zu wollen. Wir verweilen in dieser Offenheit und warten mit Hingabe, hundertprozentig engagiert, hundertprozentig distanziert. Wenn wir in dieser Art und Weise bei der Sache sind, ermöglicht es uns, dass unsere ganze Intuition wach wird, welche Beratungsintervention wir auch gerade gewählt haben. Manchmal sprengen wir dann die Grenzen unseres Tagesbewusstseins, wie wir sie für gewöhnlich erleben. Einer meiner Meditationslehrer, Peter Wild, gab während seiner Zeit im Kloster Einsiedeln einer Klientin eine Shiatsu-Behandlung. Während dieser Zeit der Entspannung, in der er in einer meditativen inneren Haltung verweilte, hörte er Stimmen, eine ganze Konversation. Da er sich als recht gegründet erlebte, vermutete er, dass diese Konversation nichts mit ihm zu tun hatte, und stellte sie seiner Klientin zur Verfügung. Diese war sehr überrascht, da sich diese Unterhaltung vor mehreren Jahren mit ihrer Mutter zugetragen hatte. Im gemeinsamen Gespräch klärten sie den Zusammenhang dieser Konversation mit den energetischen Mustern, die in bestimmten Körperregionen gespeichert waren und nun wachgerufen wurden. Der Zusammenhang dieser Konversation, der damit verbundenen Haltungen und Glaubenssätze und deren Auswirkungen auf die aktuelle Situation der Klientin wurden deutlich und konnten geklärt werden. Die Klientin hat dies als sehr hilfreich erlebt, fühlte sich beschenkt, auch von ihrer Mutter. Diese kleine Episode verdeutlicht für mich die Erfahrungen, die ich phasenweise in der Körpertherapie, als Begleitung und Klärung meiner Meditationserfahrungen, machte. Wir haben ein Körperbewusstsein, das unsere Erfahrungen speichert. Leidvolle und freudvolle Erfahrungen sind uns zutiefst eingefleischt. Das Licht und die Dunkelheit der damit verbundenen Emotionen haben in uns eine körperliche Entsprechung. In subtilen Spannungsmustern und emotionalen Resonanzen hängen die Bilder und Erfahrungen, die wir von uns Selbst haben, mit den Glaubenssätzen über uns, andere und das Leben zusammen. Wir (re-)kreieren unsere Lebensmuster entlang unserer oft unbewussten, im Körperbewusstsein gespeicherten Intentionen. Für mich ist inspirierend, wie Michael Ray (2004) in seinem Buch »The Highest Goal« genau auf diese Ebene der Intention abzielt. Als Professor in Stanford hat er viele Studenten in seinen Kursen zu Kreativität angeleitet, ein besonderes Anliegen schien ihm allerdings stets diese Ebene der Intention zu sein. Er beschreibt, wie das höchste unserer Ziele, unsere tiefste Sehnsucht, oft mit ganz prägenden Lebenserfahrungen in der Kindheit zu tun hat, die er als nichtsprachlich klassifiziert. Es scheint vielmehr so zu sein, als ahnten wir unseren tiefsten Lebenssinn in unseren besten Stunden und Gipfelerlebnissen. Diese Ahnung immer wieder in uns wachzurufen und zu bekräftigen, ist für mich Teil der Achtsamkeitspraxis und Meditation. Gleichzeitig bedeutet es für den Coaching-Prozess, dass es für den Coachee sehr hilfreich sein kann, sich dieser nichtsprachlichen Ebene zu nähern. Manche Dinge erhellen sich im Licht des nichtgegenständlichen Dunkels. Oft liegt unsere Lebensintention zunächst jenseits der Worte und unsere tiefste Sehnsucht ist der Kompass, der zitternd auf dieses Geheimnis weist. Oft ist es ein

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langer Weg, diese Intention klar in Worte zu fassen. Daher halte ich für die Arbeit an der Intention auch nichtsprachliche Coaching-Interventionen für hilfreich. Denn oft kommen Klienten, die einen Mangel erleben. Den Mangel an tiefster innerer Ausrichtung und Sinn. Dieser Mangel zeigt sich in einer latenten Unzufriedenheit, die über die gesteckten, durchaus herausfordernden und »sinnvollen« Lebensziele hinausweist. Irgendetwas fehlt, so geschliffen die Ziele auch formuliert sein mögen, es entstehen keine tiefe Verbundenheit und emotionale Resonanz damit. (Etwas, was man im Übrigen auch oft im Zusammenhang mit dem emotionalen Erleben von Mitarbeitern und den Firmenzielen/Leitbildern beobachten kann.) Vor diesem Hintergrund möchte ich eine Coaching-Intervention vorstellen, die es dem Coachee über körperliche Resonanz ermöglicht, Zugang zur eigenen Intention zu finden. Im Feld der Intuition liegen die Hinweise oder Lösungen zunächst oft jenseits der Worte. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Erfahrungen der Intuition immer wieder auch in den Dialog mit dem Coachee bringen, damit die volle (Deutungs-)Autonomie beim Coachee bleibt. Die Freiheit und der Schutz des Coachee stehen stets an erster Stelle, damit es nicht zu Übergriffen kommt. Fragen, die jeder Coach im Vorfeld mit sich klären können muss, sind: –– In welcher (Interventions-)Form will ich der nichtsprachlichen bzw. nichtgegenständlichen Erfahrung im Coachee Raum geben? –– Wie viel Platz soll diese nichtsprachliche Erfahrung im Vorfeld unseres sprachlichen Austauschs haben? –– An welcher Stelle leiste ich (oder nicht) Übersetzungshilfe in die konkreten Lebensbezüge des Coachee? –– Welches Verhältnis habe ich selbst zur nichtsprachlichen Erfahrung? –– Welche Erfahrungen der Stille oder der Kommunikation prägen mich? –– Für welche Inhalte ist es aus meiner Sicht hilfreich, diese Ebene des nichtsprachlichen Bewusstseins zu berühren? –– Ist es von meinem Erleben der Psychostruktur des Coachee her »sicher« für ihn, sich auf dieser Ebene zu bewegen? –– Gibt er seine »Erlaubnis«? Ganz elementar scheint mir in diesem Zusammenhang, meine energetischen Prägungen und die sich daraus ergebenden energetischen Interaktionsmuster mitzudenken. Daher ist Selbsterfahrung in der Beraterausbildung so zentral. Für mich bietet hier die Analytische Bioenergetik ein hilfreiches Modell, das fünf Charakterstrukturen eingehend beschreibt (vgl. Dietrich, 2004). Um die Wirkung und Dynamik der eigenen Struktur besser zu verstehen, bieten sich verschiedene Formen der Körpertherapie und Energiearbeit an, da die Beschreibungen in Modellen stets an ihre Grenzen stoßen. Die typischen energetischen Interaktionsmuster zwischen zwei Charakterstrukturen (Abwehr, Angriff etc.) beschreibt Brennan ausführlich (vgl. Brennan, 1994, S. 467–565).

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Energiearbeit an der Intention im Coaching-Kontext Die Achtsamkeitspraxis kann hilfreich sein, zunächst unsere eigenen feinstofflichen Prozesse und dann die energetische Interaktion mit anderen immer bewusster wahrzunehmen. Zunächst nehmen wir bei einer Begegnung vielleicht nur ein Prickeln oder Ziehen an der Stirn oder im Oberbauch war, dann werden unsere Wahrnehmungen immer feiner, umfassender. Wie sich diese Informationen in unserem Bewusstsein melden, ist sehr persönlich. Es ist ein lebenslanger Weg, unserer Intuition immer wieder zu folgen, ihr zu vertrauen und unsere Wahrnehmungen von uns und anderen immer ganzheitlicher werden zu lassen. Ich erlebe diesen energetischen Austausch am stärksten als Resonanz an verschiedenen Stellen der Körpervorderseite und an den Händen. Meiner Intuition folgend habe ich diese Sensibilität für das Wahrnehmen energetischer Prozesse über die Hände in den letzten Jahren über eine Therapeutic-Touch (TT)-Ausbildung weiterentwickelt. An diese einfache und leicht erlernbare Form knüpft die folgende Coaching-Intervention an und orientiert sich an den TT-Phasen. Da es bei dieser Intervention stark um das Innenleben des Coachee und die Wirkung der Intervention geht, habe ich mich entschlossen, die Coachees selbst zu Wort kommen zu lassen. Mit zwei Coachees, einem Vorstand einer IT-Software-Firma und einer Geschäftsführerin einer Kommunikationsfirma, habe ich nach mehreren Jahren nach Abschluss des Coaching-Prozesses ein Gespräch anhand von vier Leitfragen geführt: 1. Wie hast du das Setting erlebt? 2. Was hast du erlebt? 3. Wie war die Wirkung? 4. Wie würdest du den Unterschied zu einem »klassischen« Coaching beschreiben? Da es mir bei dieser Art von Arbeit stark um Vertrauen geht, habe ich das Vertrauen als Leitdifferenz zur Auswahl der Interviewten gewählt. Bei einem Coachee handelte es sich um einen meiner besten Freunde, bei dem anderen Coachee handelte es sich um ein Coaching über eine Empfehlung. Ich sage das vorab, da ich selbst das Gefühl habe, mit dieser Arbeit immer wieder ganz am Anfang zu stehen. Gerade da diese Arbeit die Grenze des körperlichen Kontakts überschreitet und die Arbeitshypothese der transpersonalen Verbundenheit implizit unterstellt, ist sie für viele Klienten eine Zumutung. Daher müssen wir als Coaches sehr auf die Anschlussfähigkeit dieser Interventionsform achten, bei der Vertrauen eine so große Rolle spielt. Versuchen wir etwas zu erzwingen (auch wenn wir dabei vielleicht einer Eingebung unserer Intuition folgen), tun wir weder dem Coachee noch uns noch der Sache einen Gefallen. Absichtsloses Warten ist an dieser Stelle eine große Kraft. In der Ausbildung »Achtsamkeit in systemischer Beratung und Coaching« berühre ich mit den Teilnehmern immer wieder diese Frage. Wann können, wann müssen wir

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uns herauswagen und eine gewisse Intervention, zum Beispiel Energiearbeit, anbieten? Hier kommt unsere Intuition ins Spiel. Wir geben uns vertrauend der Ahnung hin, dass wir bei vollem inneren Engagement und voller innerer Distanz letztlich wissen werden, wann es soweit ist. Die Suche nach der passenden Intervention bleibt ein Ringen um den nächsten Schritt. Wohin dieser uns führt und wie er jeweils aussieht, können wir nicht wissen. Daher ist es nicht möglich, einfache Rezepte zu vermitteln. Wir bleiben immer in einer wachen Suche nach der nächsten angemessenen Intervention. Vielleicht können wir mit Suzuki Roshi über Achtsamkeit im Coaching sagen: Coaching-Geist ist Anfänger-Geist (Suzuki, 1975). Zunächst will ich mir die vier Leitfragen selbst stellen und das Setting anhand der kurzen Antworten skizzenhaft beschreiben. Wie würde ich die Intervention aus meiner Perspektive beschreiben?

Räumlich ist es so, dass der Coachee liegt und der Coach idealerweise freien Zugang zu allen Seiten hat. Ich selbst arbeite in dieser Form gern im Stehen, daher empfinde ich das Arbeiten auf einer hohen Liege (z. B. Massageliege) als ideal. Eines der beiden Beispiele spielte sich im Liegen auf einer Couch ab. Hier war nur eine Seite des Coachee zugängig. Die liegende Position scheint mir jedoch zwingend zu sein, da es die Tiefenentspannung des Coachee unterstützt. Zeitlich ist es so, dass die Arbeit auf der Liege ca. 45 Minuten umfasst. Die Vor- und Nachbesprechung benötigen entsprechenden Raum. Das eine Coaching dauerte zwei Stunden und war Teil von zwei Coachings mit einem jeweils klaren Fokus und Anliegen. Das zweite Coaching war Teil eines intensiveren Prozesses über mehrere Jahre und dauerte mit Vor- und Nachbesprechung einen halben Tag. Inhaltlich ging es im weitesten Sinne um die Arbeit an der Intention und Ausrichtung. Die Fragen orientieren sich an Themenfeldern der Intention, des Lebenszwecks und tiefster Sehnsucht. Zur Formulierung derartiger Fragen finden Sie einen reichen Fundus in der Trance-Arbeit und dem hypnosystemischen Coaching. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Sie die Fragen und die Wirkung der Fragen einmal am eigenen Leib erfahren haben und sich sicher sein können, was zu Ihnen passt. Sie müssen sich mit den Fragen wohl fühlen und genügend Fragen im Köcher haben, damit Sie sich im Prozess vollständig Ihrer Intuition überlassen können. Bei dieser Art der Arbeit formuliere ich keine Fragen vor. Die erste Frage entsteht mit der ersten Berührung. Das bedeutet aber, dass wir die Grammatik der Fragen verinnerlicht haben müssen, wenn sie den Coachee immer tiefer in die Entspannung mitnehmen sollen. Struktur/Phasen: Der Coach arbeitet ganz stark mit der Intuition und über die Wahrnehmung der Hände. Zunächst wird der Coachee unterstützt, gut im Liegen anzukommen. In der Regel führt bereits das Ausrichten des Coachee zu einer Entspannung. Dann spürt der Coach mit den Händen der feinstofflichen Resonanz im energetischen Feld über dem Körper des Coachee nach. Hier erleben Sie als Coach vielleicht Hitze, Druck, ein Ziehen, Kribbeln etc. Vielleicht nehmen Sie auch eine energetische Asym-

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metrie beim Coachee wahr (oben/unten, rechts/ links, Verschiebungen um verschiedene Achsen). Dieses Assessment des energetischen Felds führt in der Regel bereits zu einem noch tieferen Entspannen beim Coachee. Dann begleiten Sie den Coachee durch Sprache und gegebenenfalls durch Handauflegen an verschiedenen Stellen bei einem Body-Scan. Diese Form ist sehr gut in der Achtsamkeitsbasierten Stressprophylaxe (Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR) von Jon Kabat-Zinn beschrieben. Sie gründet sich auf Formen der Vipassana-Meditation und lässt den Coachee ganz stark die Nahsinne und den Körper zu Bewusstsein kommen. Diese Entspannungsform geht den Körper von den Füßen bis zum Scheitel durch und legt Wert auf die Wahrnehmung der Atembewegung in den verschiedenen Körperräumen (Brust, Oberbauch, Unterbauch, Nase, Luftröhre etc.). An dieser Stelle werden, je nach Anliegen des Coachee, bereits gewisse Bilder mit den Körperräumen verbunden. Das führt in der Regel zu einer noch tieferen Entspannung beim Coachee. Dann stellt der Coach, orientiert am Anliegen und geleitet von seiner Intuition, dem Coachee Fragen, die ganz stark auf körperliche Resonanz abzielen. Zum Beispiel: Welche Körperräume sind jetzt stark in deinem Bewusstsein? Wo würdest du die tiefste Sehnsucht körperlich spüren? Welches Wort würde in deinem Bewusstsein aufsteigen, wenn du ihr einen Namen geben solltest? Welche Erfahrungen sind mit dieser Intention verbunden? Was, wenn diese Absicht den Körperraum ganz ausfüllen könnte? Wie will sich diese Absicht in deinem Leben zeigen? Wo spürst du körperliche Resonanzen? Wofür stehen diese? Wo würdest du die Intention noch gerne körperlich spüren? Was hält dich zurück? Wovor schützt dich das? Wie würde es sich anfühlen, in vollkommener Sicherheit diese Absicht überall zu erleben? usw. An dieser Stelle ist es nun wichtig, dass der Coachee unterstützt wird, neue körperliche Erfahrungen zu machen. Mit einiger Übung werden Sie sehen, dass Sie im Energiefeld des Coachee über die Hände ganz klare Wahrnehmungen haben werden. Diese Wahrnehmungen stehen in der Regel mit den körperlich gespeicherten Erfahrungen und Resonanzen in Beziehung. So können Sie zum Beispiel Angst und Stagnation genauso wie ein Fließen voller Dankbarkeit wahrnehmen. Die Aufgabe des Coach ist an der Stelle einfach, energetisch den Raum der Ermöglichung zu schaffen und offen zu halten, in dem sich der Coachee bewegt. Gründen und zentrieren Sie sich als Coach immer wieder und achten darauf, dass Sie weder den Coachee noch sich selbst überfordern. Es ist ein ganz behutsames, vertrauensvolles, gemeinsames Tasten. Sie werden wissen, wenn der Prozess abgeschlossen ist und der Coachee die inneren Antworten gefunden hat, nach denen er gesucht hat. An dieser Stelle geht es dann eher darum, durch weitere Trance-Induktionen die Erfahrung körperlich zu ankern (z. B.: »Wenn dies eine gute Erfahrung war, prägst du dir die Entspannung und das damit verbundene Gefühl gut in dein Bewusstsein ein, damit du zu jederzeit an diesen Ort zurückkehren kannst« oder »immer wieder kehrst du zurück zum Atem in dem Bewusstsein, dich jederzeit wieder mit der Atembewegung verbinden zu können« etc.). Zudem können wir, falls das gewünscht ist, den Transfer

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in den Alltag anstoßen. Wir schließen die Übung ganz behutsam ab, indem wir den Wunsch nach Bewegung im Coachee wach werden lassen. Die Wirkung auf mich selbst würde ich so beschreiben: Ich erlebe während und nach der Intervention eine tiefe Entspannung und große Klarheit. Gleichzeitig erlebe ich eine tiefe Verbundenheit zum Coachee, die noch unterschiedlich lange nachklingt. Das Ganze geht in der Regel mit einem Empfinden von tiefer Dankbarkeit und Freude einher, so arbeiten zu können. Das Kribbeln und Strömen in meinem Körper, das ich als Resonanz erlebe, lässt mit der Zeit langsam nach. Die Einordnung der Unterschiede zu den gängigen Coaching-Ansätzen können Sie selbst vornehmen, je nachdem, welcher Schule Sie folgen. Ein wesentlicher Unterschied scheinen mir jedoch die bewusste Intervention und Unterstützung des Coachee auf der feinstofflichen Ebene, im energetischen Feld, zu sein. Wie haben die Coachees die Intervention erlebt?

Wie hast du das Setting erlebt? Coachee 1: »Es war für mich absolut faszinierend, wie wir jenseits der Worte kommuniziert haben. Du hast nur gefragt, und ich habe ja gar nichts gesagt. Ich war ganz im Fühlen und Denken … Dennoch war es irgendwie wie ein tiefer innerer Dialog …« »Zunächst einmal war es sehr entspannend und gleichzeitig ist überraschend, wie gut ich mich an viele Einzelheiten noch erinnern kann. In der Trance habe ich viele Bilder gesehen und ›visuelle Erlebnisse‹ gehabt, habe einen Strand, die Steine ganz sinnlich erlebt. Und dann war es wie ein Kratzen am Eisberg unterhalb der Oberfläche. Es gab Fragen, die haben in mir rumort und waren noch nicht im Tagesbewusstsein angekommen. Irgendwie hat der Prozess einen gewissen Fokus gesetzt und dazu geführt, dass mir diese Dinge bewusster geworden sind. Coachee 2: »Zunächst muss ich sagen, dass ich schon früher mit Körperarbeit zu tun hatte. Für mich sind die Wirkungen so einfach am unmittelbarsten, da ich keine kognitiven Schranken habe … Ich war sehr offen, der Erfahrung stand nichts im Wege … Allerdings muss ich sagen, dass es für diese Art des Arbeitens schon viel Vertrauen braucht … Bei uns gab es nach dem ersten Coaching doch schon ein längeres Kennen und eine wechselseitige Sympathie. Das hat mich vertrauen lassen, denn da muss man schon aufmachen, sonst macht das keinen Sinn …« Was war der Unterschied? Coachee 2: »Da ist nicht so viel Distanz wie in einem normalen Coaching, wenn man sich gegenübersitzt. Das Liegen allein ist schon ein Kontrollverlust und Ausgeliefertsein. Das braucht noch mehr Vertrauen … Es ist wie ein absolutes sich darauf Einlassen … Coachee 1: »… da weiß ich nicht, wo ich anfangen soll … das war total anders …« Was hast du erlebt? Coachee 2: »… Ich hatte ganz starke körperliche Wahrnehmungen, dafür habe ich sehr

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sensitive Sensoren. Ich habe einen starken Energiefluss und Wärme gespürt. In meiner Erinnerung bist du in einiger Entfernung über den Körper gefahren und da habe ich dann die Wärme und das Fließen gespürt. Es war eine viel tiefere Kommunikation als in einem herkömmlichen Coaching, obwohl wir kaum geredet haben. Ich erinnere mich noch an ein ganz verrücktes Muskelzucken im Körper und dann die irrsinnige Entspannung.« Wie war die Wirkung auf dich? Coachee 1: »Lachen: … Zunächst einmal sehr überraschend … Für mich ist die Frage, ob man für so etwas offen ist und sich einlassen kann. Ich habe mich hingegeben und habe einiges fallen lassen … die Intervention selbst war sehr beruhigend, obwohl die Fragezeichen zunächst natürlich geblieben sind … Mir ist deutlich geworden, dass mir die Tat fehlt und etwas passieren musste. Zwei Monate später habe ich mir dann eine Auszeit genommen. Es gab viele Elemente, die in mir steckten und so sichtbar für mich wurden. Mir ist klar geworden, dass es ein großes Fragezeichen gab, dem ich mich stellen musste …« Coachee 2: »… zunächst einmal eine unglaubliche Entspannung. Ich fühlte mich wie nach zehn Stunden Massage. Ich war total entspannt. Körperlich, aber auch im Kopf. Meine Gedanken hatten keine Schwere mehr. Der Unterschied vom Zustand davor und danach war extrem. Es war wie eine Wiedergeburt und ich fühlte mich total offen und gereinigt. Der Wunsch nach ›mehr‹ war da …« »Rückblickend sage ich, es war ein Teil des Schrittes, wo ich jetzt bin (in der Zwischenzeit hat ein Jobwechsel stattgefunden und die neue Situation wird als sehr befriedigend erlebt). Damals war ich zu sehr verstrickt. Ich war abgekoppelt von meinem Leben und war wie in einem anderen Film. Dort habe ich erlebt, dass es ein anderes Gefühl gibt, einen anderen Film, in dem ich ganz bei mir bin. Das hat mich gestärkt und ermutigt.«

Achtsamkeit und die zeitliche Dimension in Beratung und Coaching In der systemischen Beratung legen wir bei der Gestaltung von Interventionsarchitekturen und Interventionen Wert auf die zeitliche, inhaltliche, räumliche und soziale Dimension (vgl. Königswieser u. Exner, 2008). All diese Ebenen fügen sich in ihrer Bedeutung zur symbolischen Dimension der Intervention (vgl. Hochreiter, 2006). Gerade die Achtsamkeitspraxis führt uns allerdings in ein Zeiterleben, dass unsere ganzen Vorstellungen von Prozessen auf den Kopf stellt. Denn letztlich sind wir in unserer Gestaltung von Interventionsarchitekturen ganz stark in einem linearen Zeitverständnis gefangen. Wir stellen uns einen gewissen Verlauf von Veränderung und idealtypischen Phasen vor, anhand derer wir dann die Planung unserer Interventionen ausrichten. Achtsamkeit in systemischer Beratung heißt für mich auch, andere Zeithorizonte in Betracht zu ziehen und mich zumindest den Fragen zu stellen: »Was wäre, wenn mein

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Zeitverständnis ein Teil des Problems ist?«, »Was wäre, wenn meine Haltung zurzeit schon eine Intervention ins Klientensystem ist?« (Gemäß der systemischen Prämisse »der Beobachter prägt die Beobachtung« müsste das eigentlich so sein!) »Was, wenn meine Haltung zu Problem und Lösung im zeitlichen Kontext einen positiven Unterschied beim Auffinden rascher, effektiver Lösungen darstellen könnte?«, »Was wenn mir die Achtsamkeitspraxis ein Zeiterleben eröffnet, in dem ich unendlich viel Zeit für die nächste Intervention habe?« Vielleicht machen Ihnen die Fragen Lust, sich auf eine ganz substanzielle Frage im nächsten Abschnitt einzulassen.

Beratung, eine Reise ins Nirgendwo Verkürzt könnte man vielleicht sagen: Eine gute Beratung führt uns »Irgendwo« hin (zum Anliegen des Klienten). Eine spirituelle Beratung führt uns »Nirgendwo« hin. Wie ist das zu verstehen? Für mich macht die englische Sprache diesen Zusammenhang leichter erklärbar. Der Weg nach Irgendwo (somewhere) ist gekennzeichnet von einem Ausgangspunkt (here) und einem Zielpunkt (there). Zwischen dem Hier und dem Dort entsteht eine strukturelle Spannung, die der Klient im Beratungsprozess zu lösen versucht. Im Beratungsprozess erarbeiten wir folglich entweder Maßnahmen, die diese Lücke schließen bzw. diese Spannung abbauen, oder wir arbeiten daran, sich mit dieser Spannung auszusöhnen (Ambiguitätstoleranz). Kommt der Klient dann irgendwann im there an, wird er erkennen, dass sich das t am Anfang des Wortes verflüchtigt hat – (t)here. Er ist wieder im here und sucht ein neues there. Abbildung 7 verdeutlicht diesen einfachen Zusammenhang im linearen Zeitverständnis:

Abbildung 7: Lineares Zeitverständnis

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Die Reise ins Nirgendwo (nowhere) ist eine Abkürzung, denn auf ihr erkennen wir schlagartig, dass wir uns nirgendwo hin bewegen müssen. Wir sind bereits dort. Wir sind immer now here (vgl. Ferrini, 2011). Wir sind immer jetzt hier. Im now here, im Nirgendwo, verlieren sich die Gegensätze von Aktion und Kontemplation. Im now here erleben wir die ekstatische Fülle des Moments. Die Reise ins Nirgendwo ist kein stoisches Vor-sich-hin-Dümpeln in fatalistischer Kraftlosigkeit. Im Nirgendwo erkennen wir, dass unser wahres Wesen das Gewahrsein, die Achtsamkeit selbst ist. Unsere personalen Grenzen weiten sich, bis sie sich im Moment des Erkennens in sich Selbst verlieren. Das Nirgendwo ist das ekstatische Erleben von Fülle im Jetzt. Für mich hat Bruder David, ein inspirierender Mystiker unserer Zeit und Teilnehmer an den Waldzell-Dialogen, versucht, diese Qualität in einem schlagend einfachen Bild zu beschreiben. Er sagte: »Solange das Jetzt eine Strecke ist, kann ich es teilen in Zukunft und Vergangenheit. Wenn ich mein ganzes Bewusstsein im Jetzt sammle und es so unteilbar wird, lebe ich in der Ewigkeit. Unser wahres Wesen ist die Ewigkeit. Unser wahres Wesen ist reines Bewusstsein.« Vielleicht lässt sich so das unterschiedliche Zeiterleben, das mit unseren Gipfelerlebnissen einhergeht, erklären. Je mehr wir unser Bewusstsein im Jetzt sammeln, desto mehr Ewigkeit erleben wir. Die Zeit dehnt sich, der Raum weitet sich, wir kommen ganz in unserem Tun an (Tenge, 2008). Diese Zeitqualität wird auch als »räumliche Zeit« (spacial time) beschrieben. Die Frage ist, ob wir es als Feld der Möglichkeit und Intention in unserem Bewusstseinsfeld tragen, den Beratungsprozess zu so einem Gipfelerlebnis werden zu lassen. Haben wir diese Erfahrung vom Jetzt als einer räumlichen Zeitqualität, entstehen andere Bilder von Intervention, Wirkung und Dienst. Claus Eurich (2004) bezeichnet diese Zeitqualität in seinem Buch »Wege zur Achtsamkeit« als »Kairos-Zeit«, in Anlehnung an die griechische Mythologie, der diese verschiedenen Qualitäten geläufig waren, bevor Einstein mit der allgemeinen Relativitätstheorie die Existenz dieser Zeitqualität untermauerte. Der Gott Kairos wurde dargestellt mit einem geschorenen Kopf. Nur aus der Stirn wuchs ein kräftiger Zopf, das heißt, man musste die Gelegenheit beim Schopfe packen. Ist Kairos an uns vorbeigelaufen, haben wir die Gelegenheit verpasst. Nur wenn wir Kairos von Angesicht zu Angesicht begegnen, wird der Moment zum Tor in die Ewigkeit. Das Tor ins nowhere. Nicht umsonst wird in der mystischen Zen-Tradition dieses Tor als »Mumonkan« beschrieben, als eine »torlose Schranke« (Yamada, 2004). Erst wenn wir durch dieses Tor gegangen sind, erkennen wir, dass dort niemals ein Tor existiert hat. Die Schranke vor dem torlosen Tor ist unser Konzept von Raum, Zeit und uns Selbst, wie wir uns in diesen Dimensionen bewegen. Erst wenn wir Kairos beim Schopfe packen, erleben wir, wie er sich auflöst in dem Moment, wo wir ganz eins sind mit dem Griff, ganz eins mit unserem Tun. Wir stehen in Beratungsprozessen und Coachings jederzeit direkt vor dieser »torlosen Schranke«. Wir müssen zunächst innerlich still werden, um Kairos’ Klopfen an der Tür zu vernehmen. Wenn wir Kairos in den jetzigen Moment einladen, entfaltet

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das Jetzt sein volles Potenzial. Indem ich dieses Bewusstsein in den Moment einlade, entfaltet sich der volle Ermöglichungsraum für den Klienten und für den Berater wird die Intervention, die jetzt vor ihm liegt, zur spirituellen Aufgabe. Abbildung 8 verdeutlicht diesen Zusammenhang.

Abbildung 8: Räumliches Zeitverständnis

Natürlich fallen wir immer wieder aus dem Flow-Erleben heraus, natürlich müssen wir den Gipfel wieder verlassen. Andere Vorstellungen sind die Sehnsuchtsprojektionen von Suchenden, die zwar hilfreich für die Suche sind, dem Finden aber im Wege stehen. Natürlich erleben wir immer wieder das Jetzt als Strecke und fallen aus der Einheitserfahrung der Ewigkeit. So ist unser personales Bewusstsein über Jahrtausende der Evolution konditioniert. Unser Jetzt zerfällt immer wieder in Vergangenheit und Zukunft. Wir sind ins Leben geworfen und befinden uns also immer wieder auf der Reise nach Irgendwo (here → there). Unser Bestreben jedoch, nirgendwo anzukommen, kann uns tiefer in ein neues Paradigma führen, das die Beratung viel mehr vom Sein denn vom Tun her anlegt. Beratung, die uns nirgendwo hinführt, denkt den gesamten Prozess der Kommunikation und Entscheidung von der Fragestellung her, welche Keime der zukünftigen Identität im Jetzt schon vorhanden sind und wachsen wollen. Wir tun das in einer Haltung, in der wir mehr auf die Verbundenheit und die Kräfte der Kooperation schauen als auf das Trennende und Defizitäre. Was wäre, wenn wir jetzt schon am Ziel all unserer Träume wären? Was, wenn uns nicht ein Wunder vom angestrebten Zustand trennt (wie bei der Wunderfrage), sondern wir schon der Zielzustand sind, es nichts zu erreichen gibt? Wenn wir in dieses Nirgendwo fallen, löst sich ein weiterer Widerspruch auf: Verändern–Bewahren. Viel von der Kraft des Nirgendwo entfaltet sich dadurch, dass wir nicht mehr wirklich versuchen, die Dinge zu verändern, da wir unseren Anteil an

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

beiden Seiten erleben. Wir erfahren im Nirgendwo, dass unsere Ehrlichkeit die Lüge hervorbringt und umgekehrt. Indem wir ehrlich sind, haben wir Anteil an der Lüge. Indem wir frei sind, kreieren wir den Unterschied der Gefangenschaft. Indem wir liebevoll sind, haben wir Anteil daran, den Hass beschreibbar zu machen. Von der Ebene der Verbundenheit her können wir uns nicht als Richter aufschwingen, ohne über uns selbst zu Gericht zu sitzen.

Verändern und Bewahren jenseits von »Richtig« und »Falsch« – Achtsamkeit als Anteil am Leben Wu-Wei ist Handeln und Nicht-Handeln im Geist der Verbundenheit. Taoismus

Wir sind ins Leben geworfen und müssen handeln. Indem wir handeln, haben wir immer auch Anteil an der anderen Seite der Medaille. Die Frage ist, ob wir beide Seiten der Medaille in den Blick nehmen können und so erkennen, dass wir die Medaille selbst sind, in der sich die Gegensätze vereinen. Diese Erfahrungsebene ist die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung. Alle ausführlichen Konzepte, die eine Einordnung dieser Erfahrung versuchen, sind eine Engführung. Diese Erfahrungsebene hat eine Weite, die unseren diskursiven Geist sprengt. Wenn wir von dieser Ebene aus handeln, fallen auch die Gegensätze von Aktion und Kontemplation ineinander. Wir machen den Unterschied. Er existiert nicht jenseits von uns. Die spirituelle Dimension in Beratung und Coaching kommt uns immer dann in einer Situation entgegen, wenn wir bereit sind, den Prozess von dieser Erfahrung her zu denken. Wenn wir diese Haltung der radikalen Offenheit verinnerlichen, kommen wir zu der tiefen Einsicht, dass die Veränderung das Bewahren hervorbringt. Je mehr wir an der Qualität der Veränderung haften, desto stärker werden die Kräfte des Bewahrens. Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um, da wir als Berater doch in der Regel für die Veränderung bezahlt werden? Die Beraterkunst ist an dieser Stelle, die Ausrichtung ganz klar auf die Veränderungsintention zu halten, sich darunter aber der Wertung von »richtig« und »falsch« zu enthalten. Haben wir es uns angewöhnt, in der Haltung des Nicht-Wertens Platz zu nehmen, machen wir es den bewahrenden und nach Veränderung strebenden Kräften leichter, in den Dialog zu kommen. Tragen wir den Samen der Bewertung in uns, wird diese Frucht aufgehen und vermutlich allen bitter schmecken, die sich mit »dem Alten« identifizieren. Verankern wir uns allerdings fest in unserer Intention und lassen die Wertung los, machen wir einen konstruktiven Dialog zwischen bewahrenden und verändernden Kräften wahrscheinlicher. Sie merken, dass wir ganz grundlegende Widersprüchlichkeiten im Leben berühren. Verändern–Bewahren ist eine davon. Ich hoffe, dass Sie diese ganz grundsätzlichen

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Überlegungen nicht als zu weit hergeholt empfinden. Als etwas, das keinen Bezug zu Ihrem Berateralltag hat. Es ist inzwischen vielleicht deutlich geworden, dass Achtsamkeit, als Hingabe an den Moment, kein Coaching- oder Beraterwerkzeug ist, das wir uns zu eigen machen können, sondern eine lebenslange Praxis im Umgang mit den Lebenswidersprüchen schlechthin. Daher ist die Achtsamkeitspraxis so kraftvoll. Ändern Sie die Art und Weise, wie Sie auf Widersprüche an und für sich reagieren, und Sie werden Veränderungen in vielen Lebensbereichen feststellen. Zudem ist vielleicht auch deutlich geworden, dass Achtsamkeit uns in eine Erfahrungsebene führen kann bzw. letztlich diese Erfahrungsebene ist, der unterschiedliche spirituelle Traditionen verschiedene Namen gegeben haben. Die Hindus nennen es Brahman (als großes Selbst im Gegensatz zu Atman, der personalen Seele), die Buddhisten nennen es Buddha-Natur (und betonen die Bedeutung von Bodhichitta, dem Erleuchtungsgeist), christliche Mystiker nennen es den »Christus in dir«, Urgrund oder Nada (»Nichts«, Johannes vom Kreuz), die mystische Tradition des Islam, der Sufismus, spricht von dieser Ebene in verzückter Liebesmystik. Beratung und Coaching als Raum der Ermöglichung zu verstehen, der in Betracht zieht, dass diese Ebene jederzeit in unserem Leben wirkt, ist Teil der Achtsamkeitspraxis und damit Teil der spirituellen Dimension in Beratung und Coaching. Diese Dimension transzendiert die Pole von Richtig und Falsch. Es ist vielleicht eine Zumutung für unseren bewertenden Geist, aber diese Dimension ist der einzige Ausweg aus dem Dilemma der Schuldzuweisung, das letztlich nur die Kräfte der Rechtfertigung und des Bewahrens auf den Plan ruft. In der Achtsamkeit selbst erleben wir die Ebene der Verbundenheit, auf der die Instanz der Wertung, unser Ego, stirbt. Auf dieser Ebene des transzendenten Mitgefühls erleben wir nur noch Anteil am Leben. Wir sind das Leben. Diese Erfahrung will uns prägen. Deutlich wird das vielleicht in einem Ausschnitt aus einem gedichthaften Text von Thich Nhat Hanh. Er lässt nur erahnen, wie tief das Mitgefühl und die damit verbundenen Schmerzen sind und wie tief das Erleben der Solidarität auf dieser Ebene der Verbundenheit geht. Thich Nhat Hanh beschreibt in dem Text »Ich bin« (1996) zunächst eine tiefe Sehnsucht, immer tiefer ins Leben zu gelangen, wirklich anzukommen und zu verweilen. Er beschreibt die Flüchtigkeit des Moments und lässt die mystische Einheitserfahrung in dem Satz aufblitzen: »[…] der Schlag meines Herzens ist die Geburt und der Tod von allem, was lebt.« Da nimmt der Text eine Wendung und er beschreibt die verschiedenen Ausprägungen des Leidens und deren Wechselwirkungen. Stets beginnt er mit »Ich bin«. Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen mit Beinen so dünn wie Stöcke aus Bambus und ich bin der Kaufmann, der tödliche Waffen nach Uganda verkauft.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Ich bin das zwölfjährige Mädchen, Flüchtling in einem kleinen Boot, das sich in den Ozean wirft, nachdem es von einem Seepiraten vergewaltigt wurde, und ich bin der Pirat, mein Herz noch nicht fähig, zu sehen und zu lieben. […] Mein Schmerz ist wie ein Fluss von Tränen, so voll, dass er die vier Meere füllt. Bitte rufe mich bei meinem wahren Namen, damit ich all meine Schreie und mein Lachen, zur selben Zeit hören kann, damit ich sehen kann, dass meine Freude und mein Schmerz eins sind. Bitte rufe mich bei meinem wahren Namen, damit ich aufwachen kann, und das Tor meines Herzens offen bleiben kann. Das Tor des Mitgefühls. (Nhat Hanh, 1996, S. 145)

Wenn wir diese Ebene des Mitgefühls erleben, kommen uns die Wertungen nicht mehr so leicht über die Lippen. Letztlich erleben wir hier, dass Wertungen nur unsere fein säuberlich gepflegte Seifenblase des Egos zum Wachsen bringt. Diese Ebene des Mitgefühls lädt uns ein zu erfahren, dass in der Blase und außerhalb der Blase das Gleiche ist. Die dünne Haut unseres Egos, an der wir so krampfhaft festhalten, suggeriert uns ein Sterben, wenn die Hülle platzt. In Wahrheit weiten wir uns in die Erfahrung der grenzenlosen Verbundenheit, wenn unsere Ego-Blase platzt. Wir müssen nicht mehr irgendwo hinkommen, um diese Erfahrung zu machen. Wir müssen nichts verändern. Wir müssen nur innerlich still werden und uns ahnend dem Geheimnis nähern, dass die Innenseite gleich der Außenseite der Dinge ist. Die Leere kommt in der Form der Seifenblase zum Ausdruck und erst durch die Form der Seifenblase werden wir zum Unterschied, vor dem sich der weite Raum abgrenzen kann und damit erlebbar wird. Wir könnten die Leere des weiten Raums, der durch die Seifenblase geht, nicht ohne die Blase wahrnehmen. Insofern ist es so paradox, dass wir so leidenschaftlich gegen unser Leiden und alles, was diese Blase zum Platzen bringen könnte, ankämpfen. Es hat vor diesem Hintergrund schon fast tragische Züge, mit welcher Vehemenz wir mehr von den »guten« Erfahrungen machen wollen, die letztlich nur unsere Haut der Seifenblase fester machen und unser Ego bestätigen. Alles, was wir tun müssen, ist im Jetzt Platz zu nehmen. Wir müssen nirgendwo mehr hingelangen. Jack Kornfield nennt das, »den einen Sitz einnehmen« (Kornfield, 1995). Diese tiefe Solidarität mit dem Leben kommt durch uns in der Haltung der Achtsamkeit zum Ausdruck. Deswegen nennt Jon Kabat-Zinn das Sitzen in Stille einen

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»radikalen Akt der Liebe« (Kabat-Zinn, 2008). Im stillen achtsamen Sitzen kommt der Entschluss zum Ausdruck, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Es ist der feste Entschluss, dass wir in dieser liebevollen, zarten Verbundenheit mit dem Leben verweilen wollen, auch in Anbetracht von Leiden und Ungemach. Dem Leben ist letztlich egal, wie wir auf seine Herausforderungen reagieren. Durch die Achtsamkeitspraxis sind wir es, die aus unserem Lebensvollzug eine spirituelle Praxis machen, ein heiliges Abenteuer. Im Lichte dieser tief empfundenen Solidarität mit dem Leben drängen sich uns vielleicht neue Prioritäten für Veränderungen auf. Wir wollen gestalten und zu Nachhaltigkeit im Wirtschaften beitragen. Wir wünschen uns, das Leid zu vermindern, das aufgrund von unverantwortlichem Wirtschaften entsteht. Wir wünschen uns, zu Lösungen beizutragen, die Ungerechtigkeit vermindern. Gleichzeitig muss uns bewusst sein, dass wir durch unser Bemühen die Widersprüchlichkeiten des Lebens nicht lösen. Unsere Lösungen und Konzepte können immer nur Annäherungen sein. Die spirituelle Dimension von Beratung und Coaching steht vollkommen jenseits dieser Sinnfragen. Wir sind es, die die Vorläufigkeit nicht ertragen. Trotzdem bleibt für mich im Wirtschaftskontext die Frage zentral, was die spirituelle Tiefenerfahrung mit unserer Persönlichkeitsstruktur macht und welche Wirkungen sie im beruflichen Umfeld haben kann. Bleibt sie Privatsache, wird nicht das ganze Potenzial der Person abgerufen. Oft erleben das die Betroffenen als Mangel an Authentizität und Freude im beruflichen Umfeld. Wird die Tiefenerfahrung für die Gestaltung der Rolle relevant, tritt die spirituelle Erfahrung in die Arena des Wirtschaftens. Schlagartig müssen wir uns der Frage stellen, wie wir die Intensität der spirituellen Erfahrung in den beruflichen Alltag transportieren, ohne sie zu trivialisieren oder in esoterische Patentrezepte zu verfallen. Denn letztlich werden wir im Prozess des Suchens und Findens immer verletzlicher und unternehmen ein Wagnis, wenn wir uns im beruflichen Umfeld dieser Ebene öffnen. Uns muss bewusst sein, dass wir immer auch Suchende bleiben, auf der Suche nach der angemessenen Intervention und Sprache, um diese Ebene anzudeuten. Dieser Prozess braucht Schutz und wechselseitige Unterstützung, um angemessene Interventionen, Formen der Kommunikation und Lösungen zu finden. Die Achtsamkeitsausbildung in der Wirtschaft und die Vernetzung inspirierter Persönlichkeiten in diesem Feld werden daher immer wichtiger, um nachhaltige Impulse zu setzen und diesen Weg weiterzugehen. Vielleicht können wir dann mit Laotse im Erleben der Verbundenheit sagen: »Jeder Schritt ein Sieg.«

Literatur Bauer, J. (2006). Warum ich fühle, was du fühlst. München: Heyne. Brennan, B. (1994). Licht-Heilung. München: Goldmann. Dietrich, R. (2004). Analytische Bioenergetik. Salzburg: Dietrich Verlag.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Eurich, C. (2004). Wege der Achtsamkeit. Über die Ethik der gewaltfreien Kommunikation. Petersberg: Vianova. Exner, A., Exner, H., Hochreiter, G. (2009). Selbststeuerung von Unternehmen. Das Konzept der Beratergruppe Neuwaldegg. Frankfurt a. M.: Campus. Ferrini, P. (2011). Unterwegs nach Nirgendwo. Bielefeld: Kamphausen. Hochreiter, G. (2006). Die Choreografien von Veränderungsprozessen. Die Gestaltung komplexer Organisationsentwicklung (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. Hüther, G. (2006). Brainwash: Einführung in die Neurobiologie für Pädagogen, Therapeuten und Lehrer. Vortrags-Exzerpt. Müllheim: Auditorium. Jäger, W. (2000). Die Welle ist das Meer. Mystische Spiritualität (5. Aufl.). Freiburg: Herder. Jäger, W. (2007). Wohin unsere Sehnsucht führt. Petersberg: Vianova. Jäger, W., Kohtes, P. (2009). Zen@Work. Bielefeld: Kamphausen. Kabat-Zinn, J. (2000). Gesund durch Meditation. München: Knaur. Kabat-Zinn, J. (2008). Zur Besinnung kommen. Freiamt: Arbor. Kierkegaard, S. (1844/1849/2011). Der Begriff Angst/Die Krankheit zum Tode. Wiesbaden: Marix Verlag. Königswieser, R., Exner, A. (2008). Systemische Intervention. Architekturen und Designs für Berater und Veränderungsmanager (9. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Kornfield, J. (1995). Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens. München: Kösel. Krieger, D. (1995). Therapeutic Touch. Die Heilkraft unserer Hände. Freiburg: Bauer. Link, W., Corral, T., Gerzon, M. (2007). Leadership is global. Shinnyo-en Foundation. Lipton, B. (2008). The biology of belief. Hay House. Mandela, N. (1994). Unveröffentlichter Vortrag in Pretoria. McRae, J. (2000). The Platform Sutra of the Sixth Patriarch. Tokyo: Numata Center for Buddhist Translation and Research. Nhat Hanh, T. (1996). Zeiten der Achtsamkeit. Freiburg: Herder. Pollock, M. (2000). Vom Herzen durch die Hände. Bedingungslose Liebe und Therapeutic Touch. Freiburg: Bauer. Popp, F. A., Chang, J. J., Herzog, A., Yan, A., Yan, Y. (2002). Evidence of non-classical (squeezed) light in biological systems. Physics Letters A 293, 98–102. Popp, F. A., Yan, Y. (2002). Delayed luminescence of biological systems in terms of coherent states. Physics Letters A 293, 93–97. Ray, M. (2004). The highest goal – The secret that sustains you in every moment. Blacklick: McgrawHill Professional. Ricard, M. (2009). Glück. München: Knaur. Suzuki, S. (1975). Zen-Geist, Anfänger-Geist. Berlin: Theseus. Sheldrake, R. (2008). Das schöpferische Universum. Die Theorie der morphogenetischen Felder und der morphischen Resonanz. Berlin: Ullstein. Singer, W., Ricard, M. (2006). Hirnforschung und Meditation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tenge, S. (2008). Flow im Business. Spielregeln für Erfolg und Freude im Berufsleben. Bielefeld: Kamphausen. Teresa von Avila (1577/1979). Die innere Burg. Zürich: Diogenes. Vollmar, K. (1994). Chakra-Arbeit. München: Goldmann. Wilber, K. (2004). Eine kurze Geschichte des Kosmos. Frankfurt a. M.: Fischer. Wild, P. (2000). Finde die Stille. Spiritualität im Alltag. Freiburg: Herder. Wild, P. (2008). Vom Glück vorzukommen. Einführung in die Spiritualität. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. Wild, P. (2011). Schritte in die Stille. Das große Buch der Meditation. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag.

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Torsten Jung: Achtsamkeit in systemischer Beratung und Coaching

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Williamson, M. (1993). Rückkehr zur Liebe. München: Goldmann Verlag. Yamada, K. (2004). Mumonkan. Zen-Meister Mumonkans Koan-Sammlung. Die torlose Schranke. München: Kösel.

Torsten Jung, Studium der Wirtschaftsingenieurwissenschaften an der Technischen Universität in Hamburg, langjährige Beratungserfahrung bei Pricewaterhouse-Coopers und IBM. Seit 2003 ist er geschäftsführender Gesellschafter bei der Beratergruppe Neuwaldegg. Er ist Gründer des Innovationscenter »SISSY« – Spiritualität in sozialen Systemen sowie Lehrer für Meditation und Angebote zu Achtsamkeit in systemischer Beratung am Benediktushof Holzkirchen. www.neuwaldegg.at/beratergruppe/team/torsten-jung

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Günther Mohr

Spiritualität und transaktionsanalytisches Coaching

Die Transaktionsanalyse (TA) blickt nun auf über fünfzig Jahre stetige Weiterentwicklung in den Feldern Psychotherapie, Organisationsberatung und Coaching, Pädagogik und sonstige Beratungsfelder zurück. Schon von Beginn an spielte Spiritualität für die Transaktionsanalytiker eine große Rolle. Die amerikanische Theologin Muriel James verfasste schon in den Anfängen der TA eine Monografie zum Thema TA und Spiritualität (James, 1973). Mittlerweile sind Beiträge zu spirituellen Themen feste Bestandteile von Tagungen und TA-Zeitschriften in aller Welt geworden. Die »Zeitschrift der Europäischen Gesellschaft für Transaktionsanalyse« veröffentlichte eine Serie zum Vergleich der Konzepte von Berne und Buddha. Die internationale Verbindung der TA-Praktiker und darin insbesondere die indischen Kollegen geben zum Thema TA und Spiritualität wesentliche Impulse (Radhakrishnan, 2006).

Transaktionsanalytisches Coaching Transaktionsanalyse lässt sich wie andere Verfahren auch in ihren Grundaussagen in einer integrierten Professionalität aufzeigen. Über sein Menschenbild, Persönlichkeitsmodell, Beziehungskonzept, die Ideen zu Entwicklung und Veränderung sowie spezifische sichtbare Professionsmethoden lässt sich ein Verfahren kennzeichnen. Zunächst ist das Menschenbild zu betrachten. Für die TA ist vor allem die Formulierung »Ich bin o. k. und du bist o. k.« (Harris, 1973) sehr populär geworden. Sie klingt simpel, aber gerade in dieser Maxime zeigt sich schon die Radikalität der Herausforderung. Wo hört beispielsweise das »Du« auf? Die Antwort ist: Es gibt keine Grenze für das O.k.-Sein. Mit dem Postulat einer respektvollen Haltung gegenüber allen Menschen ist man sofort auch bei der Verbundenheit mit allen Menschen. Auch das schon vom Begründer der TA, Eric Berne, für alle Menschen postulierte Bedürfnis nach Erkanntwerden (hunger for recognition; Berne, 1966/2005) geht sehr weit in die spirituelle Dimension. Hinsichtlich eines Persönlichkeitsmodells lebt der transaktionsanalytische Coach von der Grundidee der Persönlichkeit aus Teilpersönlichkeiten (Ich-Zuständen). Aus diesen kohärenten Teilmustern von Fühlen, Verhalten und Körper heraus leben Menschen Beziehungen und kommunizieren miteinander. So kommen gelungene und irri-

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tierte Begegnungen zustande je nachdem, ob die adressierte Teilpersönlichkeit antwortet oder ein anderer Teil des Gegenübers. Bekannt ist hier die Clusterung der Ich-Zustände in die drei Ich-Zustandssysteme Eltern-Ich, Kindheits-Ich und Erwachsenen-Ich. Im Gegensatz zum psychoanalytischen Über-Ich, Es und Ich spiegeln diese drei Systeme konkrete Erfahrungen wider, wie der Freud-Schüler und Lehrer von Berne, Paul Federn, herausarbeitete (Federn, 1956). In der TA gab es dazu auch schon einmal die Idee eines zusätzlichen spirituellen Ich-Zustandssystems, das über den aus der persönlichen Beziehungsgeschichte gewonnenen Teilpersönlichkeiten steht. Entwicklung und Veränderung werden in der TA über das sogenannte Skript erklärt, das »Drehbuch«, das ein Mensch in seinen frühen Jahren für sein Leben entwickelt (Steiner, 1974). Dieser »Reim aufs Leben«, den der kleine Mensch sich macht, wirkt dann bald wie ein unbewusster Lebensplan, der später bestimmte Beziehungen, Lebensbühnen, Entscheidungen aufsuchen und andere vermeiden lässt. Je nach Rigidität, mit der ein solcher Lebensplan fixiert ist oder Möglichkeiten lässt, macht sich dann auch die psychische Gesundheit fest. Ein wichtiger Bestandteil des Skripts ist auch, wie spirituell »musikalisch« jemand wird, ob er sich für Spirituelles zu interessieren beginnt oder nicht. Hinsichtlich des systemischen Paradigmenwechsels von etwa 1980 und der dazu notwendigen Stellungnahme jedes psychologischen oder professionellen Verfahrens zur Frage der Wirklichkeitskonstruktion und zur Wirkung der Systemkontexte ist die TA vor allem durch das psychologische Rollenweltenmodell und das Konzept der Systemdynamiken positioniert. Das Rollenweltenmodell gibt Hinweise zum Einfluss, zum Agieren und zu den Konflikten des Menschen in Organisations-, Professions-, Privat- und Gemeinwesenwelt (B. Schmid, 1994; Mohr, 2000; Mohr u. Steinert, 2006). Vielleicht kann man die spirituelle Welt auch als eine solche Perspektive wählen, in der ein Mensch sich auf die Welt bezieht. Das Systemdynamikenmodell erfasst Einheiten über die einzelne Person hinaus und beschreibt Organisationen oder Teile davon in zehn handlichen Dimensionen, die dann Grundlage für eine Interventionsarchitektur sein können (Mohr, 2006). Auch spirituelle Gemeinschaften, etwa buddhistische Sanghas, lassen sich damit beschreiben (Mohr, 2011). Im Sektor Professionsmethoden ist die TA außerordentlich offen. Man erkennt den transaktionsanalytischen Coach nicht anhand bestimmter Rituale wie Aufstellungen, einer Couch oder bestimmter Sprachfiguren (Wunderfrage etc.). TAler sprechen Umgangssprache und integrieren gern Methodiken aus vielen Verfahren. Allenfalls die Bedeutung des »Vertrags«, das Treffens von bewussten Vereinbarungen mit dem Coachee, ist typisch für TAler, obwohl das die meisten anderen Verfahren heute ebenfalls übernommen haben. Der transaktionsanalytische Coach ist in seiner Beziehungsgestaltung von den drei »P«, Protection (Schutz für den Klienten und die ihm Anvertrauten), Permission (Erlaubnis zum Wachsen, Experimentieren und zur Autonomie) und Potency (persönliche Stärke, Standpunkt und Ermutigung) getragen. Gerade die

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Potency unterscheidet die TA von sehr nondirektiven Beratungsansätzen. Dies ergibt den folgenden Überblick. Alle Seiten lassen sich dabei vielfach weiter auffächern. Ich verweise dazu auf die einschlägige Literatur (Stewart u. Joines, 1975; Hennig u. Pelz, 2002; Mohr, 2008). Ken Wilber, der spirituell sehr interessierte Philosoph, äußert zur TA: »Die Methode der Wahl scheint, zumindest für mich, die Transaktionsanalyse zu sein. Sie behält das Wesentliche von Freud bei, setzt es aber in einen Zusammenhang, der einfach, klar und knapp ist. Außerdem erkennt sie allgemein die Möglichkeit tieferer Ebenen des Menschen an und sabotiert daher tiefere Einsichten nicht offenkundig« (Wilber, 1991, S. 138).

Integration der Spiritualität in transaktionsanalytisches Coaching Aufmerksamkeit

Achtsamkeit für die verschiedenen Bezüge der menschlichen Aufmerksamkeit ist die Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung, die im Coaching stattfindet. Das kostbare Gut Aufmerksamkeit (W. Schmid, 2004) ist die Grundeinheit der Lenkung der mentalen und aktionsbezogenen Kräfte von Menschen. Dort, wo die Aufmerksamkeit hingelenkt wird, findet die Welt für einen Menschen statt. Aus den Erkenntnissen westlicher Wissenschaft sowie östlicher und westlicher Weisheitslehren ist für das transaktionsanalytische Coaching ein Modell entstanden, das sechs verschiedene Perspektiven der Aufmerksamkeit des Menschen unterscheidet (Abb. 1). Das Wissen um die verschiedenen Ebenen der Aufmerksamkeit hilft Menschen, ihre Persönlichkeit zu erkennen und Wege zur Veränderung zu finden.

Abbildung 1: Die Treppe der Aufmerksamkeit – Das BE-REAL-Modell

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Günther Mohr: Spiritualität und transaktionsanalytisches Coaching

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Man kann die Treppe von unten nach oben oder von oben nach unten gehen. Der Körper als biologische Grundlage des menschlichen Lebens ist wesentliche Voraussetzung für menschliche Aufmerksamkeit. Aber auch die oberste Treppenstufe, die nonduale Aufmerksamkeit, ist eine Grundlage. Nonduale Aufmerksamkeit ist der Zustand der Nichttrennung, der liebenden Zugewandtheit zu allem. Mystische Wege und Meditation haben schon immer versucht, diese Aufmerksamkeit zu fördern. Ebenen der Aufmerksamkeit

Ich will die Aufmerksamkeitsbezüge erläutern, wie sie sich in der menschlichen Entwicklung normalerweise in der Reihenfolge zunehmend offenbaren und damit der stetigen Erweiterung der Bewusstseinsperspektive dienen. Die Transaktionsanalyse fokussiert in ihrer Arbeit mit Ich-Zuständen die ersten drei Aufmerksamkeitsebenen. Der IchZustand als kohärentes Muster aus Denken, Fühlen, Verhalten und Körper (ChristophLemke u. Weil, 1997) entsteht aus dem Zusammenwirken der unteren drei Ebenen. Körperliche Aufmerksamkeit: Aufwachsen, Ernährung, körperliches Befinden, Krankheiten, Schmerzen, Sport, Altern … Zunächst ist das körperliche Bewusstsein da. Entwicklungspsychologisch ist es nach unserem heutigen Wissen die erste Wahrnehmung im Leben eines Menschen. Dieses Bewusstsein bleibt in der Regel das ganze Leben lang erhalten. Vielleicht unterscheiden wir zunächst nur kalt und warm, Schmerz und kein Schmerz, hungrig und satt. Dies differenziert sich zunehmend aus und entfaltet sich während unseres ganzen Lebens in vielen weiteren Punkten. Emotionale Aufmerksamkeit: Differenzierung der Gefühle, Stimmungen aus persönlichen biografischen Erlebnissen, aktuelle Gefühlsreaktionen … Aus der anfänglich noch von der körperlichen Verfassung bestimmten Einordnung »angenehm« und »unangenehm« differenzieren sich unterschiedliche Gefühle wie Freude, Trauer und Ärger heraus. Einzelne davon werden uns mehr vertraut als andere. Dies macht bald einen Teil des Typischen eines Menschen aus. Auch traumatische Erfahrungen sind sehr stark auf dieser Ebene geankert, wie die »Schwester« der TA, die hypnotherapeutische Ego-State-Therapie besonders betont (Fritzsche u. Hartman, 2010). Denkerische Aufmerksamkeit: Logik und Regeln, Rollenebene, Auftreten auf den Alltagsbühnen des Lebens wie Beruf, Partnerschaft oder Erziehung nach deren jeweiligen Spielregeln … Mit der Sprache entwickelt sich rationale, denkerische Kompetenz. Denken ist die Verknüpfung einzelner Ereignisse und Aspekte miteinander. Das Verbinden gemachter Erfahrungen mit aktuell anstehenden Aufgaben bildet den Kern dieser Wahrnehmungsebene. Ich-Konstrukt-Aufmerksamkeit: Selbstbild, Persönlichkeitsausdruck, Bezugsrahmen, Lebensskript … Durch wachsende Erfahrung mit sich selbst und mit dem, wie andere auf einen reagieren, werden bald Schlussfolgerungen über das Leben gezogen, »persönliche Konstrukte«, wie sie der erste konstruktivistische Persönlichkeitspsychologe George Kelly beschrieb (Kelly in Hjelle u. Ziegler, 1976). Aus der Vielzahl von Ich-Zuständen kann man bestimmte Cluster betrachten, Kindheits-Ich-Zustände, Eltern-Ich-

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Zustände und Erwachsenen-Ich-Zustände. In gewisser Weise bedeuten diese unterschiedlichen Ich-Zustände schon eine Spaltung des Einzelnen aus seiner Einheit heraus (Little, 2005). Was sich dann nach außen von einem Menschen zeigt, ist ein Ergebnis der inneren Interaktion der Ich-Zustände im inneren Team (Schulz von Thun, 1998; Mohr, 2003) miteinander und gibt als »Orchester« eine bestimmte Musik der Person, »personare«, also das, was hindurchtönt. Dies hat unendlich viele Möglichkeiten und kann durchaus sehr »schräg« für die Umwelt, aber auch für den Menschen selbst sein. Das Konzert der Ich-Zustände überlagert leicht das Potenzial des Menschen inklusive der nonduale Ebene. Eine gewisse Logik bringt die Skript-Bildung. Der Mensch hält kognitive Dissonanzen nicht gut aus (Festinger, 1978). So macht sich der kleine Mensch, das Kind, einen fundamentalen »Reim« auf die Welt, auf alles, was er erlebt (Berne, 1972; Steiner, 1974). Er konstruiert eine Geschichte, ein Skript, über sich und das Leben. Dies geschieht mit den Fähigkeiten, die der kleine Mensch hat. Und die sind anders als bei Erwachsenen. Sie sind durch vielerlei kindtypische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen geprägt (Piaget, 1948). So entsteht eine Art Selbstbildprägung, die dem Menschen für sein gesamtes Leben eine Struktur für die eigene Person gibt: das Ich. Dieses Ich ist und bleibt eine – wenn auch bald gut trainierte, aber dennoch – Konstruktion. Es ist ein Lernergebnis, noch strenger ausgedrückt: ein Konditionierungsergebnis, und entsteht aus dem häufiger erlebten Zusammentreffen körperlicher, emotionaler und denkerischer Reaktionen. Somit ist es ein Gewohnheitsergebnis. Man erkennt sich dadurch jeden Morgen wieder, was einen Vorteil darstellt. Daraus etwas Besonderes, die Identität Beschreibendes zu konstruieren, ist nachvollziehbar, aber keineswegs zwingend. Es scheint eher dem menschlichen Grundbedürfnis nach Struktur (Berne, 1966/2005) geschuldet. Das konstruierte mentale Vorstellungsbild über das eigene Ich gibt Sicherheit, schränkt aber ebenso ein. Prinzipiell eröffnet das Ich-Konstrukt-Modell für das Coaching eine Menge Möglichkeiten, was durch die neueren neurophysiologischen Forschungsergebnisse der Neuroplastizität sehr gestützt wird. Mehrgenerationale Aufmerksamkeit: übernommene Aufträge im Leben aus der eigenen Sippe, der Kultur, Archetypen, frühere Leben, Kinder, Enkel … Die nächste Aufmerksamkeitsebene, die mehrgenerationale Ebene, geht über das eigene Ich hinaus. Sie enthüllt sich in ihrer konkreten Wirkung einem Menschen erst, wenn er sich aktiv damit beschäftigt. Sie besteht in Impulsen und Prägungselementen aus der Kultur, wie die indische Transaktionsanalytikerin und »Ecocommunity«-Aktivistin Pearl Drego (1993; 2005), der italienische Arzt und Transaktionsanalytiker Marco Mazzetti (2010), der deutsche Organisationsberater Bernd Schmid (2010) für das Milieu und die moderne Familientherapie für die eigene Sippe beschreiben (Weber, 1993). Selbst wenn Menschen sich von ihrer Familie abwenden und deren Werte ablehnen, ist diese mehrgenerationale Aufmerksamkeit vorhanden. Durch die Ergebnisse der modernen Familienforschung (Boszormenyi-Nagy u. Spark, 1973; Hellinger, 2010; Noriega, 2004) ist diese Aufmerksamkeitsebene heute in ihrer Wirksamkeit belegt. In asiatischen Ländern wird

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dieses Bewusstsein noch um ein Element ergänzt, das über Sippe, Familie und Kultur hinausgeht: der Glaube an die Reinkarnation (Govinda, 2007; Ricard, 2009). Er ist dort ganz selbstverständlicher Bestandteil des kollektiven und individuellen Bewusstseins. Realistisch erscheint die Position des Dalai Lama (2009), der genauso viele Belege für Reinkarnation wie dagegen sieht. Nonduale Aufmerksamkeit: Erfahren der Verbindung von allem, Erfahren der Einheit von allem, Erfahren der »Leerheit« aller Formen … Ganz unterschiedlich zeigt sich den Menschen jedoch die nonduale Ebene. Der Begriff nondual vermeidet das Wort »spirituell«, das oft die Assoziation zu religiösen Systemen auslöst. Gerade die mystischen Richtungen der Religionen versuchen nonduale Zustände zu erreichen. Dennoch ist im nondualen Sinne »spirituell« erst einmal unabhängig von einer bestimmten Religion. Nondual meint einen erfahrbaren Zustand der inneren Stille, Verbundenheit mit allem, Offenheit und Orientierung auf den jetzigen Moment. Diese Erfahrung ist frei von Trennung (Dualität) wie auch von Bezeichnung und Einordnung von Aspekten. Insbesondere in der Meditation, aber auch in der Tiefenentspannung, bei körperlicher Betätigung, durch Musik, durch die Wirkung einer Landschaft oder eines Gebäudes, aber auch in mancher Alltagsversunkenheit in einem Tagtraum oder im Gebet kann Nondualität erlebt werden. Diese Ebene ist nicht so leicht zu beschreiben, weil sie jenseits der Formenwahrnehmung liegt. Jede Beschreibung stellt aber schon eine Form dar, lässt ein inneres Bild entstehen. Nonduale Aufmerksamkeit kann erfahren werden als Verbundenheit mit allem und gleichzeitig als tiefe Erkenntnis der »Leerheit« aller Dinge. Damit ist gemeint, dass die Dinge, die wir wahrnehmen, eigentlich nur durch unsere relativ groben Sinnes- und Informationsverarbeitungsorgane definiert sind. Zwar sind hier einzelne Menschen Naturtalente. In deren Präsenz fühlen sich andere Menschen geborgen und wohl. Die meisten dürfen sich die nonduale Aufmerksamkeit erarbeiten, indem sie Zugang zu Meditation oder Kontemplation nehmen und sich darin regelmäßig üben. Ohne die nonduale Aufmerksamkeit gibt es keine Achtsamkeit. Es ist nicht nur so, dass sich jeder aufgrund seiner Erfahrungen seine Welt selbst konstruiert, sondern die Konstruktionsmechanismen selbst sind schon eine arge Begrenzung. Ein Tisch ist nicht per se so, wie wir ihn wahrnehmen, man könnte auch Atome und viel freien Raum sehen. Eine Mikrobe beispielsweise nimmt keine Körpergrenzen von und zwischen Menschen wahr und fliegt durch sie hindurch. Dies ist völlig anders, als wir selbst uns als menschliches Individuum wahrnehmen. Wohlgemerkt: Unsere Sinnes- und Informationsverarbeitungsweise hat sich bisher für unser Überleben auf dem Planeten hervorragend entwickelt. Und im Alltag brauchen wir diese Hilfsmittel. Dennoch wissen wir heute viel mehr über das Relative dieser Vorstellung. Was bleibt und gesichert ist, ist lediglich, dass wir Aufmerksamkeit sind. Wir registrieren uns und die Welt. So war es für den Menschen immer. Alles Weitere im Leben ist wenig überdauernd. Interessant ist, dass diese hier aufgrund unserer heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse argumentativ hergeleiteten Phänomene von Menschen mit ausführlicher Meditationserfahrung auch schon seit Menschengedenken als Erleben berichtet werden.

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Nonduales Erleben heißt hinter alle Kulissen schauen und mit der Quelle und dem Lebensstrom der Aufmerksamkeit in Kontakt zu sein. Nonduales Erleben bedeutet Freiheit erleben von engen Ich- und Selbstbildgrenzen, von rationalen Bewertungen, von einschränkenden Körper- und Gefühlszuständen und sogar von vielen Werten. Manche Menschen empfinden dann ein Gefühl der umfassenden Liebe. Allerdings ist das Erleben großer oder überwältigender Gefühlsregungen überhaupt nicht zwingend. Die meisten Menschen beschreiben es eher als einen inneren Frieden und innere Ausgeglichenheit, mithin einen eher sanften Zustand auf der Gefühlsebene. Durch die Erkenntnisse der Meditationsforschung (Ricard, 2009; Singer, 2009; Hilbrecht, 2010) ist die nonduale Ebene mittlerweile wissenschaftlich belegbar. Nondualität ist keine Gedankenkonstruktion, sondern eine psychologische Erlebensdimension. Das ist wichtig zu wissen, sonst ordnet man sein Erleben aus Mangel an einem guten Konzept falsch ein. Im Zweifelsfall wehrt man die wohltuende Wirkung dieser Erlebensebene sogar ab oder bekommt Angst davor, weil sie nicht denkerisch ist. Denn die Gedanken haben dann »Sendepause«. Deshalb ist diese Ebene für viele Menschen, die durch Körper, Ratio oder Gefühle, ein ganz bestimmtes Selbstbild oder auch durch die Botschaften ihrer Kultur und ihres Milieus sehr stark geprägt sind, äußerst schwer wahrnehmbar und befremdlich. Das Erleben der nondualen Aufmerksamkeit kann man nicht herbeizaubern. Aber Meditation hilft, den Boden für nonduales Erfahren zu bereiten. Übung

Nimm für einen Moment einmal Folgendes an: Du fühlst dich auf deinem Weg angekommen. Du brauchst nicht dies und dies noch zu erreichen, um vollwertig zu sein. Du bist so, wie du bist, gewollt und in Ordnung. Du fühlst dich befreit vom dauernden »Ändern«, »Anders-sein-Wollen« und »Weiterkommen-Müssen«. Du bist auf deinem Weg und kannst die Schönheit der Welt auf deine Weise begreifen und genießen. Alles ist da. Du hast Vertrauen, dass das, was du brauchst, im rechten Moment auf dich zukommt. Du kannst auf einmal auch andere Menschen so sein lassen, wie sie sind, und kannst dich selbst so akzeptieren, wie du bist. Stell dir das nur einen Moment vor, auch wenn es ein wenig Überwindung kostet. Wäre das nicht wunderbar? Dieses Gefühl der inneren Ruhe finden sicher viele Menschen erstrebenswert. Das Gefühl innerer Ruhe und tiefen Friedens. Es begegnet jedem Menschen irgendwann; jeder von uns hat es schon erlebt. Aber haben wir es bemerkt, haben wir zugelassen, dass dieser Moment eine Zeitlang bleibt und zu einem Anker (Bandler u. Grinder, 1981) wird? Meist erleben wir ihn von außen verursacht. Vielleicht war es in der Natur, auf einem Feld, einer Wiese oder im Wald, im Urlaub oder in einem speziellen Gebäude wie einer alten Kirche. Es gibt viele Orte, die uns mit dieser Kraft in Verbindung bringen können. Sie helfen uns, die Stille in uns zu bemerken. Jeder hat Situationen erlebt, in denen plötzlich alles in Ordnung war. Alles so war, wie es sein soll. Dieses Gefühl der inneren Ruhe ist nicht immer da, aber die Kraft ist immer da.

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Die fundamentale Entscheidung treffen – Ein Weg mit zehn Elementen Coaching ist eine Vorgehensweise, die sich aus einer entwicklungsorientierten Haltung und bestimmten Beratungstechniken, insbesondere Frageformen, zusammensetzt. Sie wird in der Regel in der Beziehung zwischen Coach und Coachee, einer Person mit einem Beratungsanliegen, realisiert. Langfristig ist die Zielsetzung des Coaching, dass der Einzelne zunehmend sein eigener Coach wird (Mohr, 2008). Im Folgenden werden zehn Elemente dargestellt, die sowohl im Coaching, aber auch im Selbst-Coaching Richtschnur sein können. Den Geschmack der inneren Quelle kosten und Bindung erleben

Wenn es um den Weg zu innerer Ruhe und Erkenntnis geht, dann erwarten viele Menschen einen großen, spektakulären Durchbruch, ein riesiges Aha-Erlebnis. Die plötzliche Erleuchtung ist äußerst selten, eher in das Reich von Geschichten und Mythen zu verweisen. Zudem gibt die Erleuchtungserwartung oft einen Irrweg vor, weil sie vor der Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt eher ausweichen lässt. Die Frage im Coaching ist: »Wie erreicht man die innere Stille und führt gleichzeitig ein normales Leben?« Es geht über den Weg der Mitte. Er poltert nicht durchs Leben. Er lässt Platz für jeden, denn das innere Selbst ist still und zart, es bringt sanfte, atmosphärische Impulse. Dies zu spüren ist ein Eckpfeiler für Coaching. Die wichtigste Errungenschaft auf dem Weg ist das Erfahren der nondualen Wirklichkeit. Das heißt, man wird sich immer noch getrennt von anderen wahrnehmen, aber man hat eine zusätzliche Perspektive, schaut auf das Verbindende und nicht mehr so sehr darauf, was unterscheidet. Jeder kann diese Erfahrung machen. Die Entscheidung gegen »erst wenn« und für Selbstentwicklung treffen

Es ist ein entscheidender Schritt im Leben eines Menschen, zu erkennen, im integrierten Selbst anzukommen. Es bedeutet, sich als so in Ordnung, so gewollt zu definieren, wie man ist. Es bedeutet, die anhaltende Soll-Ist-Spannung, wie Sloterdijk (2009) die Grundlage der gängigen Denkmodelle beschreibt, aufzugeben. Der »Erst-wenn«-Mechanismus (Berne, 1972) ist aufgehoben. Dies ist nicht das Ende des Lernens, sondern seine Befreiung. Dann werden viele Lernprozesse auf den Lebensbühnen Arbeit, Partnerschaft oder Erziehung leichter. Diese Perspektive auf das Leben steht immer offen und bringt unmittelbar den Geschmack der inneren Stille und Ruhe. Das Ziel des Menschseins kann nur etwas sein, das schon von Anfang an in jedem Menschen vorhanden ist, aber durch »Störfeuer« überlagert ist. Hat man dies erkannt, wird vieles bedeutend einfacher. Diese grundlegende Erkenntnis ist ein Erwachen aus der unbewussten Fixierung an Körper, Gefühle, Denken und bisheriges Selbstbild. Es ist das gleichzeitige, innere In-eine-Beobachterposition-Kommen und ein Erschließen neuer Dimensionen. Dabei bleibt der Zugang zu den bisher geübten Aufmerksamkeitsebenen (Körper, Denken, Fühlen, Ich-Konstrukt) erhalten, sogar freier steuerbar. Was wegfällt, ist die einseitige,

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unbewusste Identifikation mit den vier genannten Perspektiven. Wenn diese grundlegende Erkenntnis einmal im Bewusstsein war, bleibt der Geschmack davon erhalten. Selbst wenn Stress, Gewohnheitsmuster und die äußeren Lebensbühnen die Aufmerksamkeit mit Macht an sich reißen, bleibt die Erinnerung erhalten. Den Veränderungsprozess auf mehreren Ebenen synchronisieren

Ein fundamentaler Veränderungsprozess betrifft mehrere Aufmerksamkeitsebenen. Er kann durch eine plötzliche Erkenntnis auf einer Bewusstseinsebene ausgelöst werden. Aber auch Veränderung bedeutet Arbeit. Sie kann durch ein Aufgabenprogramm auf mehreren Ebenen angestoßen werden. Dann ist vielleicht die körperliche Ebene mit einem Lauftraining, die emotionale mit einem psychotherapeutischen Aufarbeiten einer alten Situation, die rationale Rollenebene mit einer Erweiterung der eigenen Fähigkeiten in einem Berufsfeld, die Ich-Ebene mit einer Neudefinition des eigenen Beitrags zur Gesellschaft beschäftigt. Die mehrgenerationale Ebene kann man in ihrer westlichen Form über die Analyse der eigenen Familiensippe betrachten. Die Gewohnheitswirklichkeit überwinden

Als erwachsener Mensch sind wir durch die Art der Lern- und Erfahrungsprozesse unserer frühen individuellen Lebensgeschichte gefärbt (Piaget, 1948). Denken und Fühlen können allerdings unmerklich eine Art Eigendynamik entwickeln, zu einem geschlossenen System werden und dann ihr »Wirtstier«, den einzelnen Menschen, total beherrschen. Der Gedanken-Emotions-Apparat hat eine Tendenz zur Eigendynamik (Balsekar, 2001) und dann geht der schöpferische Verstand verloren. An seine Stelle tritt die Identifikation mit dem Gedanken-Emotions-Apparat. Dahinter steht auch eine Sehnsucht des Menschen, sich selbst zu verstehen. Gravierender ist allerdings, dass die Menschen die Auffassung entwickeln, sie seien so, wie sie sich denken und fühlen. Sie identifizieren sich mit ihren eigenen Einstellungen und ihren Denkgebäuden. Sie bilden eine Ich-Vorstellung. Diese Ich-Vorstellung ist permanent bedroht und in Gefahr, weil sie eine reine Denkkonstruktion ist. Erwachsene Menschen lassen sich aufgrund eines eigenentwickelten inneren Programms in alles Mögliche hineinziehen, schaffen sich Lebensbedingungen, die zu ihrer Ich-Vorstellung passen, oder klagen dauernd darüber, dass sie nicht die Lebensbedingungen haben, die sie eigentlich haben müssten (Dehner, 2006). Die Ablenkung, das Involviertwerden in die Belange anderer Menschen ist eine große Versuchung. Eine Unterstützungsvariante wählen

»Jeder, der heute in einem anspruchsvollen Beruf arbeitet, braucht Coaching.« So habe ich es einmal für den Deutschen Bundesverband Coaching (DBVC) formuliert (Mohr, 2008a). Aber dies gilt nicht ständig. Was ich meine, ist, dass jeder mit der Erfahrung vertraut sein sollte, was Therapie und Coaching bewirken kann, und sich dies ohne Zögern, wenn nötig, gönnen kann. So ist beispielsweise oft, bevor die nonduale Ebene betreten werden kann, eine Ich-Stärkung nötig. Wenn ich mich auf unsichereres Gelände

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wage, ist eine Absicherung ähnlich wie bei einem Bergsteiger sinnvoll. Alle Ideologien von »man muss sich nur fallen lassen« sind fahrlässig. Im Prozess der Öffnung des integrierten Selbst werden außerdem oft alte Themen wach, die es noch zu »erlösen« gilt. Deshalb sollten gerade die, die sich auf einen Weisheitsweg begeben, darauf gefasst sein und sich Therapie gönnen, wenn Aufarbeitung nötig ist. Die Vulkanmetapher veranschaulicht dies. Da ist einiges an flüssigem, heißem Magma in der Erde, das nach oben kommen kann und erst dort erkaltet. Und gerade wenn man sich nach innen immer weiter öffnet, dann kommen frühere, ungelöste Situationen zum Vorschein. Damit ist zu rechnen und darauf sollte man sich vorbereiten. Das eigene Leben als Geschenk verstehen

Tatsache ist, dass kein Mensch die wesentlichen Entscheidungen seines Lebens bewusst selbst gefällt hat. Er hat nicht entschieden, heute in unserer Zeit zu leben. Er hat sich nicht für das Land oder für die soziale Schicht entschieden, in denen er geboren ist. Er hat sich nicht für die Grundausstattung des Körpers und seiner Gene, damit auch den Großteil seiner intellektuellen Fähigkeiten entschieden. Es gibt wenig, auf das man sich selbst etwas einbilden könnte. Von daher sind alle gleich. Da dem Einzelnen das Leben geschenkt ist, stellt sich dann die Frage, was daraus zu machen ist. Das Geschenk des menschlichen Lebens mit seiner Wahrnehmungsfähigkeit kann man sogar als eine ganz außergewöhnliche, wertvolle Möglichkeit betrachten. Dich selbst nicht vergleichen

»Erkenne dich selbst« rät schon das Orakel von Delphi. Dabei gilt die grundsätzliche Wertschätzung menschlichen Lebens und die eigenen eingeschliffenen Muster zu erkennen. Diese beiden Einsichten sind nicht einfach zu erlangen, weil es sehr viel Konkurrenz gibt. Man kann sich beispielsweise das ganze Leben lang etwas auf seine tolle (körperliche oder intellektuelle oder abstammungsmäßige) Ausstattung einbilden. Oder man kann ständig suchen. Man kann sich auch fortwährend über sein Schicksal beschweren oder man kann die Möglichkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Person übersehen. Der Mechanismus dazu ist immer zu vergleichen. Vergleichen ist die Wurzel vieler unangenehmer Gefühle. Der Vergleich führt vom Einzelnen und der Gegenwart weg. Er schaut auf andere, auf früher oder in eine imaginierte Zukunft. Je nachdem, wie diese Vergleiche ausfallen, werden Gefühle geweckt, oft negative. Diese werden dann sogar zum Verhaltensimpuls und zum Kampf für eine vermeintliche Gerechtigkeit genutzt. Der zunächst bewertende Vergleich gipfelt in einem Gefühl, das dann die Energie für Verhalten zur Verfügung stellt. Solide Wege nutzen

Es ist interessant, zu beobachten, welche Wege das Spirituelle heute in das Bewusstsein der Öffentlichkeit findet. Es gibt Weisheitslehrer, die marketingmäßig und didaktisch geschult oder begabt sind, die ihre Heilslehre in Büchern, Seminaren und Vorträgen

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transportieren. Menschen, die sich davon angesprochen fühlen, folgen deren Weg. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden, solange keine horrenden Summen für die »Events« verlangt werden und die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft sich erkauft werden muss. Sicherlich gibt es auch die Wellness-Spiritualität. Nachdem man schon alles andere ausprobiert und sämtliche Wege absolviert hat und dies alles gelangweilt hinter sich gelassen hat, folgt man dem spirituellen Weg. Aber es gibt nichts Spirituelles und nichts Nicht-Spirituelles. Und die Reize der spirituellen Perspektive powern nicht, sie sind nicht so auffordernd wie die zahllosen Ablenkungstechniken der Neuzeit. Wenn die Konditionierungsmuster der Menschen auf hohe Reizintensität programmiert sind, schneidet Spiritualität oft schlecht ab. Und die spirituelle Perspektive des wahren Selbst tritt sehr leise auf. Ein nützliches Konzept des Selbst finden

Moderne christliche Theologen wie Anselm Grün und Eugen Drewermann interpretieren das Christentum so, dass eine von Gott eingesetzte Person ein bestimmtes Thema im Leben hat. Dieses wird mit den tiefenpsychologischen Thesen von C. G. Jung, der die Hin-Entwicklung zu einer bestimmten Person als Prozess begreift, verknüpft. Die Problematik dieses Konzeptes ist die Unterscheidung zwischen den Ego-Strukturen, die ein Mensch sich zugelegt hat und die er auch zur Abgrenzung und Abwehr von Impulsen von außen benutzt, und dem, was die eigentliche Person ist. Daneben gibt es die aus den fernöstlichen Religionen stammende Vorstellung, dass das Selbst bei allen Menschen gleich ist, auf dieser Ebene auch weder Unterschied noch Trennung zwischen den Menschen vorliegen. Trennung entsteht allein durch unsere Art der Wahrnehmung und die Funktion unserer Sinnesorgane. In der menschlichen Psyche erlebt sich der Einzelne gewohnheitsmäßig als ein getrenntes Wesen. Aber schon in der Kommunikation und erst recht in der Liebe zwischen Menschen ist das Vorstellungsbild der Grenzen schon aufgelöst. Das Erleben wird plötzlich anders. Wenn der Advaita-Lehrer Ramana Maharshi die Frage gestellt bekam »Wie komme ich in meinem Leben als Manager, als Vater oder in einer anderen Rolle mit der Spiritualität zurecht oder muss ich nicht Mönch werden, um das zu leben?«, hat er sinngemäß geantwortet: »Du denkst nur, dass du Manager bist. Du denkst, dass du Vater bist« (Maharshi, 2009). Natürlich beruht das gesamte Verantwortungssystem unserer Gesellschaft auf der Konvention, dass man einzelne Taten oder Rollen isoliert betrachten kann. Aber mit dem Libet-Experiment hat die These des freien Willens einen Schlag versetzt bekommen. Der Physiologe Benjamin Libet konnte bereits 1979 nachweisen, dass ein Gedankenimpuls schon eine halbe Sekunde vorher messbar ist, bevor er bewusst vorhanden ist. Das Unbewusste regiert uns also sehr stark. Das könnte denen, die sich etwas auf ihr bewusstes Denken einbilden, zu denken geben. Sich an das Wesentliche erinnern

Erwachen ist nicht, irgendwo neu hinkommen. Es bedeutet festzustellen, dass man schon lange da ist. Die meisten haben es vergessen. Menschen haben ihre ursprüngliche Art

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vergessen. Das Knappheits- und Kampfparadigma beherrscht die Verstandeswelt. Das am meisten verbreitete Denken ist, dass wir in der Evolution dadurch überlebt haben, dass wir gekämpft und gesiegt haben. Wer nicht frisst, der wird gefressen. Zaghafte Versuche von Wissenschaftlern nachzuweisen, dass im Wesentlichen das Kooperative, die Zusammenarbeit das Überleben der Menschheit gesichert hat (Maturana u. Varela, 1987), werden schnell als Seitenmeinung dargestellt. Das andere ist vertrauter. Schon der kleine Mensch bekommt beigebracht, sich im Leben zu behaupten. Unterschwellig wird dadurch ein Weltbild transportiert, das ein Ego in den Vordergrund stellt. »Erinnere dich an das Wesentliche« ist die Aufforderung. Es geht um das Erinnern an das, was hinter dem Ego ist. Nur ganz wenige wollen in der Arbeit, in der sie gerade sind, ewig bleiben. Einige Glückliche haben Berufe und Arbeit erwischt, die sie mögen. Aber auch hier ist oft zu prüfen, ob der Job tatsächlich zum persönlichen Gedeihen beiträgt. Dabei zieht sich eine Grenze durch die Arbeitswelt. Auf der einen Seite sind die, die glauben, sich in der Arbeit verwirklichen zu können. Auf der anderen sind die, die allein arbeiten müssen, um Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Politik macht die erste Gruppe. Politiker haben Spaß an ihrer Arbeit. Sie machen die Politik für die zweite Gruppe. Aber sie verstehen die anderen eigentlich nicht. Denn sie haben innerlich ein vollkommen anderes Bild konditioniert. Dies kann man daran sehen, dass viele Politiker ihre Möglichkeit zur Einflussnahme viel höheren Gehältern vorziehen, die sie etwa in der Wirtschaft bekommen würden. Die Mischung aus Reiz und Selbstbeweis, die die Arbeit für die erfolgreichen Profis in vielen Managementjobs und verwandten Arbeiten auszeichnen, ist der Köder. Er verführt dazu, am eigentlichen Leben vorbeizugehen. Du kannst dir so viel leisten, bist wie auf einem längeren Drogentrip, hältst diese Form von Leben, die durch mannigfaltige Rituale der Arbeit und der korrespondierenden Unterhaltungsindustrie unterstützt werden, für das wahre Leben. Dennoch spüren sehr viele Menschen, dass sie an ihrem Selbst vorbeileben, aber sie überhören den Ruf. Sie richten sich nach dem, was die soziale Umwelt gerade von ihnen verlangt.

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Günther Mohr, Jahrgang 1956, hat 25 Jahre Praxiserfahrung als Coach und Organisationsberater. Er berät Organisationen und unterstützt Führungskräfte in ihrer beruflichen und privaten Entwicklung. Als Volkswirt und Psychologe integriert er wesentliche Aspekte des Wirtschaftslebens mit der persönlichen und der Beziehungsperspektive. Als Senior-Coach im Deutschen Bundesverband Coaching (DBVC) wirkt er an der Weiterentwicklung von Standards für gutes Coaching mit. Im Rahmen seiner Lehrberechtigung als Transaktionsanalytiker im Berufsfeld Organisation bildet er zudem Coaches, Berater und Organisationsentwickler aus. Mit Meditation und Spiritualität hat er seit über 20 Jahren Erfahrung und nutzt diese in der Beratung. www.mohr-coaching.de

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Hans Kreis

Wie der Sehnsucht Wurzeln wachsen Durch Coaching zur Lebenskunst

Wie geht es weiter, wenn es so nicht mehr weiter gehen kann? Es begann mit Chiron. Zwar hatte ich mich schon viele Jahre im Rahmen einer über zehnjährigen Lehranalyse mit Mythen und Märchen beschäftigt, hatte mehr als 15 Jahre eine an C. G. Jung-orientierte Traum- und Skriptarbeit hinter mir, war durch unterschiedlich lange Körpertherapien gegangen, war von mehreren Jahren Gestalttherapie, Familienstellen und vielen Jahren weiterer Fortbildungen in unterschiedlichen Richtungen geprägt, nicht zu vergessen die mir so wichtige Meditation, die sich wie ein Basso continuo durch diese langen Zeiten schwang. Aber was hatte sich seit dem Verkauf meiner Firmen denn wirklich getan? Immer noch war ich ein erfolgsorientierter Macher, der immer mehr des Gleichen suchte. Ich brauchte nicht mehr Monat für Monat dafür zu sorgen, dass die Millionen an Fixkosten hereinkamen. Ich hatte nicht mehr so viel Verantwortung für die mir anvertrauten Werbeetats aus verschiedenen Ländern. Außerdem war ich durch den Verkauf meiner Firmen in einer entspannten finanziellen Situation. Aber was war darüber hinaus in mir Wesentliches geschehen? Wie nahe war ich meiner tiefsten Sehnsucht in diesem Niemandsland zwischen altem und neuem Leben wirklich gekommen? Ich konnte von mir in den Medien lesen, dass ich Deutschlands erster Coach war, und das von mir entwickelte Verfahren, das ich Visionscoaching nannte, war das erste Verfahren, das erfolgreich die Kraft der Sehnsucht im Coaching nutzte. Ich war, als sichtbares Zeichen meines äußeren Erfolgs, über lange Zeit im Voraus ausgebucht. Aber was bedeutete das für meine eigene tiefste Sehnsucht? Ich spürte auch als Coach weiterhin die Verantwortung für viele Menschen. Ich spürte auch wie eh und je die Verantwortung für die kreativen Konzepte meiner Kunden. Vor allem aber spürte ich immer mehr die Verantwortung für den Entwicklungsprozess meines Verfahrens, das den Menschen und seinen Erfolg in den Mittelpunkt stellte. Erfolg und die Folgen des Erfolgs war für mich immer noch ein Maß. Schließlich waren die Erfolgreichen dieser Zeit nicht umsonst meine Kunden. Meine Arbeit erlebten viele meiner erfolgreichen Klienten zwar als heilsam. Aber war das meine einzige Intention? Ich war als Coach von meinem Selbstverständnis her ja etwas ganz anderes als ein Heiler. Also: Was wollte jetzt wirklich aus mir heraus werden? Ich war einmal mehr alten Fragen

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ausgesetzt und suchte nach neuen Antworten. In mir aber blieb es antwortlos, bis Folgendes geschah. Ich las diese viele tausend Jahre alte Geschichte von Chiron eher zufällig, als ich mich mit tiefenpsychologisch orientierter Astrologie beschäftigte. Chiron galt in diesem Kontext als der Repräsentant eines freien Geistes, der philosophischen Unabhängigkeit, des universellen Mitgefühls und des Vertrauens in das eigene Selbst. Getreu dem Motto: Alles ist möglich, aber nicht alles ist machbar. Chiron galt auch als der Archetypus des verletzten Heilers oder Schamanen in uns. Ich wusste: Wenn wir uns mit solchen archetypischen Gestalten beschäftigen, ist es zuerst wichtig, sie als Symbole zu begreifen. Als Symbol für die transpersonalen, aber auch personalen, zeitlosen Entwicklungsdynamiken des menschlichen Werdens im Streben nach Vollständigkeit, also nicht nach Vollkommenheit. Symbole auch deshalb, weil sie wegen ihrer Komplexität nie ganz fassbar sind. Alle diese Symbole haben immer einen personalen und gleichzeitig einen transpersonalen Aspekt in sich. Als Coach wusste ich auch: Bei so viel Komplexität ist es sinnvoll, wie bei der Traumarbeit vorzugehen und sich in der Deutung auf einen dieser Aspekte zu konzentrieren, den mit der meisten Kraft, also dem tiefsten Berührtsein. Das galt natürlich auch für meine Arbeit mit Chiron. Ich wusste schon aus früherer Mythenarbeit: Dieser Held konnte alle heilen, nur sich selbst nicht. Aber im Suchen und Beschäftigen mit den unterschiedlichsten Methoden wuchs sein Wissen. Das Suchen nach Wissen wurde zum Schicksal. Das Schicksal wollte es, dass aus dem Suchen ein Erfahrungsschatz wurde, der allen Menschen zur Verfügung stand. War es meine Sehnsucht oder war es die andere Seite der Sehnsucht, war es meine Angst? Die Geschichte ließ mich nicht mehr los. Ich erfuhr, dass dieser Chiron mit den Kentauren in Beziehung gebracht wird, jenen mythischen Gestalten, die halb Pferd, halb Mensch sind. Ich wusste aus der Traumarbeit, dass Pferde für unseren unreifen, instinkthaften Anteil stehen, im Gegensatz zu unserem reiferen, menschlichen, oder genauer, im Menschsein verbundenen Teil. Ich lernte, dass Chiron sein Leben einem Verrat verdankte, genauer, einer Täuschung. Chiron wuchs, als Teil dieses Schicksals, bei Apoll auf, der ihm nicht nur Ziehvater, sondern auch Mentor und Lehrer wurde. Was aber war die ewig blutende Wunde, die sich nicht schließen wollte? Was war die Quelle des unbewussten Leids, die schmerzhaft durch alle Adern floss? Wie lässt sich so eine Wunde wohl heilen und wie komme ich zur Kraft, die in solchen Wunden liegt? Eines Tages wollte es der Zufall, dass ich einen Vortrag zu diesem Thema halten sollte. Ein Grund mehr, mich intensiv mit der archetypischen Familie Chirons zu beschäftigen. Ich recherchierte sein erweitertes Familienumfeld aus Göttern, Halbgöttern, aus Gottgleichen und Gottähnlichen. In meinem Vortrag erklärte ich dann zuerst die Vorgehensweise des Visionscoaching bei solchen und ähnlichen Fragestellungen. Im Visionscoaching folgen wir in Prozessen, in denen es um Erkennen, Benennen, Verstehen und Verändern geht, mit frei schwebender Aufmerksamkeit, genau so wie

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in der Traumdeutung oder vielen ganzheitlichen Kreativtechniken, nicht dem Mangel, sondern der Fülle, genauer der Sehnsucht nach Erfüllung. Vor der Sehnsucht steht das Suchen. Dieses Suchen beginnt in den meisten Verfahren bei der Angst. An der Größe unserer Angst erkennen wir die Größe unserer Sehnsucht. Die Wandlung von der Angst in Sehnsucht ist ein Prozess, bei dem alles möglich ist, aber nicht alles machbar. Prozesse verstehe ich als sich selbst verstärkende Kräfte. Das Ergebnis dieser sich selbstverstärkenden Kräfte geht in eine Richtung, die Schritt für Schritt zur Lösung führt. Lösung ist hier wörtlich gemeint. Aber vor der Lösung kommt die Krise. Durch diese Krise bleibt nichts, wie es war. Das Altbekannte soll aufgegeben werden, aber das Neue ist noch nicht sichtbar. Dies ist der Zwischenraum für heilsames Wirken. Glückt diese Wirkung, dann wird der nächste Schritt deutlich, der zur Lösung oder Auflösung der Stagnation führt. Diese Lösung erleuchtet den Weg zu dem, was durch diese Krise wirklich werden will. Durch Fragen der Zuhörer inspiriert, wagte ich in diesem Vortrag dann das Experiment, mit Hilfe eines systemischen Stellens, an Chirons heilsamen Zwischenraum heranzugelangen. Vielleicht würden wir so eine Ahnung für einen nächsten heilsamen Schritt bekommen. Ein Stellvertreter für Chiron fand sich schnell im Publikum. Für all die archetypischen Gestalten in seinem Umfeld suchte dieser Chiron sich seine Stellvertreter. Danach überließen wir die Antwort dem geheimnisvollen Prozess des systemischen Stellens. Bald wurde erlebbar, wie unbedeutend sich Chiron im Kreis all dieser Unsterblichen fand. »Ich bin besser als du! Ich bin wichtiger als du! Ich bin bedeutender als du!«, hörten wir es um Chiron herum rufen. Dieser wurde immer kleiner und unsicherer, je mehr er nach Verbündeten und Unterstützern suchte. Immer hilfloser klammerten sich seine Augen an seinen Mentor Apoll. »Ich bin weniger wert als die anderen, ich bin minderwertiger.« Der weise Apoll führte ihn zu einem Spiegel, der an der Wand neben Chiron hing. Lange betrachtete Chiron sein Spiegelbild. Dann sagte er, zuerst leise zu sich, dann zu Apoll: »Ich bin eben so, wie ich bin.« Ich ermunterte den Stellvertreter Chirons, diesen Satz zu wiederholen. »Ich bin so, wie ich bin!«, wiederholte Chiron immer lauter. Apoll, der durch seine Weissagungen Geschulte, antwortete: »Und das ist gut so!« Dann kam von hinten eine Stimme: »Ja, so ist es.« Es war Chirons Mutter, die ihren Sohn einst verstoßen hatte. Dieser Satz tat Chiron sichtlich gut. Lange schauten sich die beiden in die Augen. Mehr war noch nicht möglich. Aber der erste Schritt im heilsamen, geschützten Zwischenraum war getan. Die Stille im Auditorium ließ mich erahnen, dass dieses »Ich bin, wie ich bin – und das ist gut so« einen größeren heilsamen Prozess in Gang gesetzt hatte, in dem jeder Anwesende auf seine eigene Art die Kraft der Wandlung spüren konnte. Bei der Arbeit mit Chiron ging es in diesem beschriebenen Teil um eine neue Einstellung zum eigenen Wert, raus aus dem Vergleichszwang mit den sogenannten Besseren, Erfolgreicheren, Mächtigeren oder Liebenswerteren. Es ging also um eine Einstellung, die zu einer neuen Antwort auf das persönliche Schicksal werden kann. Das Schicksal

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zuerst anzunehmen, zu achten, sich von alten Einstellungen zu trennen und in eine neue Einstellung hineinzuwachsen, dies ist der Weg, der durch heilsame Räume hinaus in eine neue Freiheit führt. Dieser Weg ist nicht einforderbar, nicht erzwingbar, er ist Gnade, die aus einer neuen Freiheit kommt. Denn in dem Maß, in dem wir annehmen können, dass unser Schicksal immer größer ist als wir, erlösen wir zugleich mehr und mehr auch unsere Schuldgefühle. Freiheit und Verantwortung sind Geschwister, die sich gemeinsam entwickeln wollen. Die neue Einstellung »Ich bin so, wie ich bin« hat immer auch eine spirituelle Komponente, das wissen wir aus der Schematherapie. Ein Einstellungswechsel findet seine Bedeutung weit über die individuellen Anlagen, Begabungen und Fähigleiten hinaus. Das schließt auch Dankbarkeit und Vertrauen mit ein. Niemand kann ein anderer sein, aber er kann anders in der Welt sein. Das Was bedenke, mehr bedenke das Wie, heißt es im »Faust« dazu.

Die Freiheit im Schicksal Wer gelernt hat, vaterlos wie Chiron seine Welt und seine Bedeutung in dieser Welt zu erkennen, zu verstehen und zu leben, weiß um die Schwierigkeit, seine Vatersehnsucht zu erlösen. Wer gelernt hat, in einer vaterlosen Gesellschaft sich selbst ein guter Vater zu sein, der kann auch anderen ein guter Vater, Lehrer, Mentor oder Coach sein. Er kann darüber hinaus sich selbst auch eine gute Mutter sein und seine eigenen Bedürfnisse nach Schutz, Fürsorge, Sicherheit und Hingabe an seinen Beruf annehmen, achten, fördern und sich darin auch fordern. Denn auch diese Erfahrungen, die normalerweise eine liebende Mutter ihrem Kind vermittelt, dieses »Ich bin liebenswert, so wie ich bin, und nicht nur gegen Bedingungen« waren Chiron schicksalhaft verwehrt. Durch Erkenntnisse, die uns ein individuelles Schicksal vermittelt, bekommen wir in unserem Coach-Sein mit der Arbeit an einer neuen Einstellung oft Zugang zu einem Sinn, der über das Persönliche hinausgeht. Sinnstiftend wirken ist nicht nur für Coaches eine heilsame Erfahrung. Der Coach kann in solch einer Arbeit auch seine eigenen beiden großen Sehnsüchte, die mütterliche und väterliche Sehnsucht, verbinden und das innere Kind, das Kreatürliche bzw. Intuitive in sich entfalten, er kann so auch sich selbst ein wirklich guter Coach werden. Dies ist zugleich die beste Burnout-Prävention für engagierte Coaches. Interessant ist in diesem Zusammenhang das, was uns der Chiron-Mythos als Lösung anbietet. Erst als Chiron sein Schicksal mit einem gewöhnlichen Sterblichen tauschte, also Mitgefühl zeigte, und dadurch seinen Anspruch auf Unsterblichkeit mit Prometheus, einem Sterblichen, tauschte, fand er durch dieses praktizierte Mitgefühl zur Hoffnung auf ein Ende seines Leids zurück. So wurde Kronos, der scheinbare Verräter-Vater, durch seine »Untaten« zum Gehilfen des Schicksals. Weil in den Mythen unsere archetypischen, also transpersonalen Entwicklungsdynamiken immer Götterstatus haben, dürfen wir davon ausgehen, dass der Verrat auch göttlich und somit im

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Dienst eines größeren Schicksals ist. In diesem höheren Kontext ist auch für den Täter Erlösung möglich. Die Parallele zum Christus-Mythos findet sich im Satz, der auf den Judas-Verrat abzielt: Erlösung dem Erlöser!

Die magische Kraft eines Selbstbildes Eine alte Einstellung ist die Leistung eines Kindes im Dienste des eigenen Überlebens. Sie will zuallererst gewürdigt werden, bevor sie in eine neue – oft auch sinnvollere, der eigenen Größe und Reife entsprechende Einstellung – hineinwachsen darf. Für mich ist das gelebte Spiritualität. Was so ein Weg bewirkt, erkennen wir auch bei einem anderen bekannten Mythos, bei Sisyphos. Als er bereit war, sein Schicksal anzunehmen und über das Jammern hinauszuwachsen, berührte er eine neue Freiheit. »Ihr Götter könnt mir zwar ein Schicksal aufzwingen, aber die Freiheit, wie ich damit umgehe, ist größer als ihr.« Michelangelo zeigt in seinem berühmten Bild, in dem der Finger Gottes sich dem Finger des Menschen entgegenstreckt, diesen aber nicht berührt, was ich unter dieser Freiheit verstehe. Sich dem Göttlichen entgegenstrecken trauen, lässt uns nicht nur diese neue Freiheit ahnen, es zeugt auch von einem neuen Selbstbewusstsein, verbunden mit der beginnenden Erlösung unseres Minderwertigkeitsgefühls. Minderwertigkeitsgefühle sind oft der Nährboden für Fremdbestimmung. »Ich muss beweisen, dass ich nicht minderwertig bin.« Introjekte wie diese geben unserer Fantasie freien Lauf und führen in einen Beweiszwang, in Schuldgefühle und Versagensängste. Auch das ist ein Prozess, der allerdings in die Unfreiheit führt. Er endet meist im Introjekt der »armen Sau«. Das war das Ergebnis einer anderen Arbeit, bei der es um diesen Sisyphos-Mythos ging. Aus der Schema-Arbeit weiß ich seit langem, dass eine neue Einstellung nicht nur vom Kopf, sondern aus dem Ganzen, dem Numinosen kommen muss. Zuerst will die alte Einstellung wertgeschätzt werden, weil sie, wie wir wissen, ja immer die Leistung des kleinen Kindes im Dienste des eigenen Überlebens ist. Nur sind wir irgendwann über diese infantile Einstellung hinausgewachsen wie aus Kinderschuhen. Wir jammern, dass uns die Füße schmerzen, statt die viel zu klein gewordenen Schuhe zu wechseln. So wie ich damals die Antwort auf meine Frage nach der Ursache und der Erlösung von Chirons Leid beim ersten systemischen Stellen vor mir sah, erlebe ich es seitdem bei ähnlichen systemischen Arbeiten auf Kongressen und Workshops. Irgendwann erkannte ich, dass unter den »Chirons« auffallend viele Menschen aus heilenden und helfenden Berufen waren. Auch sie fühlen sich oft minderwertig und in ihrer Arbeit wenig geachtet bzw. beachtet. Durch diese Minderwertigkeitsbrille gelangte ich oft zum Quell aller Schmerzen. Es ist immer wieder der Vergleich mit den anderen, den »Besseren«, zum Beispiel den »Göttern in Weiß«, denen es vermeintlich besser geht. Erkennen, verstehen, verändern. Dieser Weg bleibt auch hier keinem erspart. Erkennen und verstehen. Vielleicht ist dann eine neue Einstellung der Lohn: »Ich bin ein ganz

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normaler Mensch unter ganz normalen Menschen, die in unterschiedlichen Funktionen ihren Dienst tun oder unbewusst ihre Rollen spielen. Ich stehe zu mir, so wie ich jetzt noch bin, ich stehe zu meinen Schwächen, meinen Bedürfnissen, meinen schicksalhaften Begrenztheiten.«

Wenn der Sehnsucht Wurzeln wachsen Ende der 1980er Jahre kam ich, initiiert durch einen meiner Kunden, mit dem schamanischen Gedankengut der Visionssuche – in Abgrenzung zu Visionsfindung – in Verbindung. Dieses Wissen vertiefte sich zu Beginn der 1990er Jahre durch einen anderen Kunden, der sich sehr mit tiefenökologischen Ansätzen beschäftigte. In all diesem Gedankengut geht es letztlich um die Wiederherstellung der Einheit mit allem, was lebt und den entsprechenden Gesetzen, die sich gut im alten griechischen Satz zusammenfassen lassen: »Alles fließt.« Es ging aber auch um die gefühlte Trennung zwischen der sichtbaren Ego-Welt und dem Unsichtbaren, Wesentlichen, das manche auch heute noch als die eigentliche Welt definieren. Es ging um das uralte Bemühen, die Einheit hinter den Gegensätzen wiederzuerkennen. In den langen Nächten, in denen wir gemeinsam über dieses uralte, fast verloren gegangene Wissen diskutierten, entstand dann der erste Ansatz für mein späteres Visionscoaching, bei dem es um das Finden von Visionen und nicht um das Suchen ging. Finden kann ich etwas, das verloren ging. Das Wissen um die Vision von dem, was durch uns werden will, tragen wir als Geheimnis schon in uns, wir haben nur den Weg dorthin, wo das Geheimnis verborgen liegt, oder den, meist in Symbolen versteckten, Sinn vergessen. Um diesen Weg wiederzufinden, helfen mir die über zwanzig Jahre an Erfahrung in praktiziertem Visionscoaching. Ich nutze dabei neben den vielen Tools, die ich aus dem therapeutischen Kontext kennenlernen durfte, auch viele schamanische Techniken. Eine ganz einfache Technik ist dabei das ergebnisoffene Beobachten des eigenen Atmens, das wir aus dem Zen kennen. Ich nenne es das Nicht-Tun. All diese Techniken geben uns Zugang zum wissenden Feld, dort, wo die Intuition zu Hause ist. Die Intuition führt uns in einen zeitlosen Raum zwischen der Sehnsucht nach Vergangenheit und der Sehnsucht nach Zukunft. In diesem werdenden Jetzt finden sich zeitlose Antworten auch auf ganz konkrete zeitliche Fragen: Was will aus unserer Beziehung wirklich werden? Was will durch meine jetzige persönliche Krise werden? Was will durch meine Unternehmenskrise mit meinem Unternehmen werden? Was ist der Sinn hinter meinen Schwierigkeiten mit meinen Mitarbeitern, mit meiner Frau? Wo halte ich noch fest, statt geschehen zu lassen? An welchem Selbstbild und welchem Fremdbild?

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Vom Sterben und Werden Jedes Lebewesen ist belebt. Immer geht es im Leben nach den Gesetzen von »stirb und werde«. Dieses Werden und Vergehen hat eine Richtung, wie der Samen einer Pflanze. Oft liegen Probleme darin, zu glauben, als Gegenleistung für mein Leben Erwartungen erfüllen zu müssen, die ich aber nicht erfüllen kann. Eine Rose kann kaum Schatten spenden, sehr wohl kann sie aber erfreuen. Oft geht es um das Erkennen solcher Irrtümer, zum Beispiel der vermeintlichen Schuld. Das Leben wurde uns nicht von einem anderen Lebewesen geschenkt, selbst von unserer Mutter nicht. Unsere Mutter war Kanal für dieses Geschenk. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Unser Leben wurde uns vom großen Leben bedingungslos geschenkt. Was wir mit diesem Leben machen, ist unsere Verantwortung. Wir brauchen keine Gegenleistung zu erbringen. Das ist immer wieder das Thema meiner Coachings. Viele Krisen sind entstanden, weil wir uns von einfachen Erkenntnissen getrennt haben. Dabei ist die Erkenntnis über die Gesetze der Schöpfung so alt wie die Menschheit, genauer, so alt wie das schamanische Wissen. Ich bin immer wieder neu über den Wissensreichtum der alten Schamanen erstaunt und frage mich: Was wussten die Schamanen von diesen und anderen großen Geheimnissen, die oft tief ins Unbewusste abgerutscht sind? Was wussten unsere Ahnen über alle Kulturen und Zeiten hinweg von den Geheimnissen des nicht Sichtbaren, des Unbewussten, der Kräfte hinter der scheinbaren Wirklichkeit? Was wussten sie von der Dynamik unseres Wachsens und der Wachstumskrisen? Auf jeden Fall so viel, dass es in allen alten Kulturen ähnliche Rituale gibt, die den Menschen an den Sollbruchstellen ihres Lebens helfen sollen. Beim tieferen Beschäftigen erkannte ich: Es gibt nicht nur ähnliche Rituale, es gibt auch ein ähnliches zeitloses, raumübergreifendes Schema, das all diesen Übergangsritualen innewohnt. Dieses Schema ist: 1. Das Alte, Gewohnte trägt nicht mehr oder hat den Sinn verloren. 2. Etwas Neues ist nicht in Sicht. In diesem Zwischenraum oder Bardo18 irren wir hin und her. 3. Die Erfahrungen in diesem Zwischenland führen dazu, das Neue zu erkennen. Schamanen waren Menschen, die diese Dramaturgie am eigenen Leib bewusst durchlaufen haben und diese Erfahrungen in Rituale verpackt weitergaben. Nicht selten erfuhren sie am eigenen Leib Grenzerfahrungen, schwankten im Bardo zwischen Leben und Tod, Aufstieg und Untergang. Sie mussten am eigenen Leib Macht und Ohnmacht erleben, ehe sie weise Ratgeber wurden. Narren nannte man diese Spezies im Mittelalter. Sie waren es, die als Einzige dem König die Wahrheit sagen durften. Auch ich bin als Coach für meine Kunden immer wieder der Narr. 18 Tibetisch für »Zwischenzustand«.

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Ich denke da an einen erfolgreichen Mann, der die Firma seines Vaters nach dessen Tod übernahm und zu ungeahnter Größe führte. Er galt als Wundermann, dem keiner gewachsen war. In einem längeren Coaching, bei dem es um die Nachfolgeregelung ging, waren wir uns sehr vertraut geworden. Dann kam plötzlich eine Krise. Anlass war ein schwerer Unfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. In dieser Krise kam er mit einem Traum im Gepäck zu mir. »Sie wissen, dass ich Coach bin und kein Therapeut«, sagte ich. Er nickte. »Aber ich sehe Sie neben dieser Funktion auch als Menschen und Freund.« Nach einigen klärenden Vorgesprächen begann er seinen Traum zu erzählen. Der Traum spielte auf einer Bühne. Der Mann spielte die Rolle Siegfrieds, des Drachentöters. Der Spielplan stand also fest. Auch die Rollenverteilung. Er würde als tragischer Held in die Geschichte eingehen. Mitten im Bühnenspiel wollte er plötzlich ausreißen, aber er konnte nicht. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Sein Leben hatte sich seit diesem Traum geändert. Er spürte Angst vor dem Tod, reagierte dünnhäutig auf Kritik und witterte überall Verrat. Kurzgefasst: Er war nicht mehr der Alte. Er fühlte sich nicht mehr als Held. Er erkannte, dass auch er eine verletzbare Seite hatte. So ein Erkennen ist oft der erste Schritt, der aus dem Niemandsland in eine neue Welt führt. In dieser neuen Welt wollen wir neue Rollen spielen. In dieser neuen Welt wollen wir den Drachen Angst vielleicht nicht mehr als Feind, sondern friedlich mit ihm zusammenleben. Wir wollen kein Leben aus zweiter Hand mehr leben, in dem es nur darum geht, sich nach den Erwartungen anderer auszurichten. Wir wollen unbewusst kein Fremdbild mehr erfüllen, kein Image, wie mein Kunde es nannte. Wir wollen wirklich selbständig sein, dem eigenen Rhythmus lauschen. Wir wollen die Heldensehnsucht in uns töten und den Verräter in uns als unseren Befreier von Heldenzwängen feiern! Wir wollen zu einer neuen Lebenseinstellung finden, die unsere Angst ernst nimmt und als Freund anerkennt. Wir wollen milde und demütig der Macht und Ohnmacht in die Augen schauen. Aber so ein Findungsprozess ist keine Autobahn.

Das Geheimnis des Kreuzes Manchmal führt der Weg zu einer neuen Einstellung recht schnell aus der Krise, aber manchmal führt dieser innere Weg zuerst so richtig hinein. Dann nämlich, wenn es darum geht, zuerst unser wirkliches Maß oder unsere wirkliche Mitte wiederzufinden, die wir irgendwann beim Jagen nach Erfolg und Anerkennung verloren haben. »Wer bin ich dann, wenn ich mich nicht mehr nur auf Heldenrollen festlege?« oder »Wo ist meine wirkliche Mitte, wenn ich erkannt habe, dass ich meine Mitte verloren habe, weil ich ver-zogen wurde?« Mit solchen und ähnlichen Fragen werde ich sehr oft als Coach konfrontiert. Dann komme ich mit meinen Kunden irgendwann an die tiefsten Einsichten menschlichen Seins. Dabei helfen mir immer wieder die Symbole. In unserer westlichen Welt nutzen wir oft das Symbol des Kreuzes. Für mich ist dieses Symbol der Einstieg in einen wunderbaren Pfad, der uns aus unserer gewohnten Welt in eine neue Wirklichkeit führen kann, jenseits der Ego-Welt und doch mit ihr

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geheimnisvoll verbunden. Ich nutze dazu seit Jahren neben dem Pfad, den das Tibetanische Totenbuch oder die chinesische Ochsentour vorgeben, auch die Dramaturgie der Heldenreise, wie sie von Joseph Campbell und anderen beschrieben wird. Sie ergänzt und differenziert die oben dargestellte schamanische Denkweise wunderbar. Vor einiger Zeit hielt ich dazu, gemeinsam mit einem der besten Kenner der mythologischen Heldenreisen, einen Workshop. Einmal mehr war die Arbeit mit der Matrix der Heldenreise für mich und die Gruppe ein großes Geschenk. Es zeigte sich wieder einmal, dass wir Menschen durch die Heldenreise eine Landkarte geschenkt bekamen, die uns aus dem gefährlichen Niemandsland der Krise in neue Wirklichkeiten führen kann. Eine dieser beispielhaften Heldenreisen, die unser westliches Denken seit hunderten von Jahren prägt, ist neben der altbekannten Odyssee der Parzival-Mythos. An ihm lässt sich das Schema der Heldenreise einfach erklären. Dieses Schema nutzte ich auch, als ich meinem Klienten zuerst die Parzival-Geschichte erzählte.

Wie Blei zu Gold wird Parzival wuchs als kleiner Junge, weit ab von jeder Zivilisation im undurchdringlichen Wald auf. Seine einzige Bezugsperson war seine Mutter. Der Vater war als Ritter fern der Heimat in einer Schlacht gefallen. Das brachte das Leben der Mutter vollkommen aus der Bahn. Schon in frühester Kinderzeit verbot die Mutter deshalb dem kleinen Parzival, sich außerhalb des schützenden Waldes zu bewegen. Vor allen aber sollte er sich vor den Menschen in Acht nehmen, die in der Sonne wie Lichtgestalten glitzerten. Mit jeder erneuten Warnung bemerkte der Sohn jedoch auch immer stärker die heimliche Sehnsucht nach einem Helden in den Augen der Mutter. Der kleine Sohn verhielt sich wie alle Kinder. Er erfüllte die Erwartungshaltungen der Mutter und wurde dafür gelobt und geliebt. Gleichzeitig machte es ihn neugierig, welche Lichtgestalten ihn da draußen vor dem Wald wohl erwarten könnten. Zugleich wogen das Verbot und die Angst vor Strafe bei Überschreitung des Verbots schwer, wie bei vielen Kindern, die wissen, dass sie ohne diese eine mütterliche Bezugsperson hoffnungslos verloren wären. Denn schließlich geht es ja bei Verlust dieser Person oder ihrer Liebe um Leben und Tod. Brave Kinder, die alle Erwartungen erfüllen, nur um geliebt zu werden, finde ich oft in Coachings. Sie erfüllen auch noch als Erwachsene die Erwartungen ihrer Chefs, ihrer Bank, ihrer Kunden, ihrer Familie. Irgendwann fantasieren sie auch verinnerlichte Erwartungen im vorauseilenden Gehorsam. Dabei werden sie immer mehr zu Musterschülern im Erfüllen von eingebildeten oder tatsächlichen Erwartungen. Manche dieser Klienten glauben allerdings, dass es genügt, aus Protest das Gegenteil des Erwarteten zu tun, um frei zu sein. Das sind dann die tragischen Helden. Ob Musterschüler oder Protestler, beide Lebenskonzepte machen unfrei und haben den gleichen Nachteil: Sie verlieren schon sehr früh ihr eigenes Leben. Sie werden nur noch gelebt. »Wenn ich könnte, wie ich wollte« oder »wenn ich in Pension bin …«. Mit

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solchen Sätzen verschieben sie so lange wie möglich ihre ganz eigenen Bedürfnisse, bis sie endlich scheitern. Dann spätestens fragen sie sich: Wie geht es weiter, wenn es so nicht mehr weiter gehen kann? Meist hilft dann das Schicksal bei der Antwort. Manchmal versteckt es sich in Sehnsucht weckenden Gestalten. Parzival wäre wohl ohne so eine schicksalhafte Begegnung bis zum letzten Atemzug ein Erfüllungsgehilfe von Mutters Erwartungen geblieben. Vielleicht wäre er für uns alle unbedeutend geblieben, wenn er diesen heiligen Verrat nicht begangen und sich über Mutters Verbot oder Erwartung hinweggesetzt hätte. Und Parzivals Mutter wäre wohl immer frustrierter und ängstlicher geworden, weil sie irgendwann geahnt hätte, dass sie mit ihrer Angst und ihrem Frust verhindert hat, dass das Leben ihres Sohnes glückt. Mütter haben oft ein feines Gespür dafür, welches Glückskind ihr Kind wirklich ist. Nur möchten sie, dass der Glanz des Glücks auch auf sie scheinen möge. Das glückt manchmal, aber manchmal glückt es nicht. Zurück bleibt das Introjekt: »Ich muss die Erwartungen anderer erfüllen, so wie ich es auch von anderen erwarte.« Sogar die – fantasierte – Angst vor Strafe bleibt erhalten, getreu der Erkenntnis Machiavellis, der daraus seine berühmte Machtphilosophie formulierte. So bleiben selbst die klügsten Menschen Opfer ihrer eigenen Prägung. Nicht nur aus den Märchen wissen wir, wie hartnäckig wir es gern überhören, wenn das Schicksal das erste Mal bei uns anklopft und um Einlass bittet, bevor es das zweite Mal heftiger klopft. Manchmal klopft das Schicksal allerdings glücklicherweise schon so früh das erste Mal an die innere Tür, dass wir nicht anders können, als der kindlichen Intuition zu folgen. Auch bei Parzival war es so. Eines Tages verirrte er sich im Wald und begegnete zufällig den Lichtgestalten, vor denen die Mutter warnte. Er aber war von diesen Gestalten fasziniert. Er schloss sich ihnen an und wurde irgendwann zu deren Knappen. In seiner unbeschwerten jugendlichen Leichtigkeit errang er bald Sieg um Sieg, bis sein Image als jugendlicher Draufgänger seine stärkste Waffe wurde. Weil er gelernt hatte, die Erwartungshaltungen anderer zu erfüllen, blieb ihm dies als Begabung auch erhalten und wurde zur Fähigkeit. Sein König war mit ihm zufrieden. Allmählich rückte er zum damaligen Zentrum der Macht, in König Artus’ Tafelrunde, auf und wurde mehr denn je unbewusst zum Erfüllungsgehilfen fremder Erwartungen. Und das mit allen Licht- und Schattenseiten. »Es gibt zwei wirkliche Tragödien«, weissagte schon lange vorher der alte Coach Sokrates. »Die erste Tragödie ist, sein Ziel zu verfehlen. Die zweite Tragödie ist es, sein Ziel zu erreichen. Von beiden ist die letztere Tragödie die Schlimmere.« Das erfuhr auch Parzival und damit begann die zweite Krise. Wir erfahren im Mythos, wie er im Wald – in der Traumarbeit ist der Wald Symbol für das Unbekannte – nach einem Ausweg suchte und dabei den archetypischen Gestalten der Heldenreise begegnete. Parzival war zwar in Schlachten und Turnieren erprobt, konnte kämpfen und gewinnen, aber es wollte noch mehr Leben ins Leben gelangen. Auch das ungelebte Leben will irgendwann gelebt werden und wartet immer ungeduldiger auf Antworten seiner wirklich wichtigen Fragen: »Wer bin ich noch, wenn

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ich nicht nur immer neue Herausforderungen annehme und zu erfüllen versuche? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr funktionieren muss? Wer bin ich in der Krankheit, in der Niederlage, in meiner Angst vor dem Versagen? Was heißt Versagen für mich? Was will jetzt wirklich werden? Zuerst verirrte sich Parzival mit diesen Fragen, wie in der frühen Jugend, einmal mehr im Wald und entdeckte zufällig eine Burg, auf der in einer großen, wehklagenden Prozession ein kranker Mensch an ihm vorbeigetragen wurde, sein Oheim. Aber er vergaß die entscheidende Frage zu stellen. Es war die Frage des Mitgefühls. Was fehlt dir wirklich? Wie sollte er bei diesem wilden Ritterleben auch Mitgefühl entwickelt haben? Aber das Schicksal gibt uns nicht auf. Im Mythos schafft es Parzival wieder in die äußere, gewohnte Welt zurück. Er wollte es, nachdem er der Gefahr des Verirrtseins entronnen war, noch einmal wissen. Er wurde noch einmal zum Haudegen und Draufgänger. Mehr des Gleichen zu machen, es noch einmal wissen zu wollen, diesen Fehler machen viele ehemalige Haudegen und Draufgänger nach der Krise. Aber sie zahlen einen hohen Preis. Meist werden sie dann lange und treue Kunden ihrer Coaches. Vielleicht bekommen sie sogar vom Schicksal eine dritte Chance. Denn das Schicksal ist meist gnädiger als wir selbst zu uns. Wenn wir die Chance, die wir das erste Mal auf dem goldenen Tablett bekamen, um uns wesensgemäß zu erfüllen, verweigerten, serviert uns eine unbekannte Kraft eine zweite Chance auf dem silbernen Tablett. Ignorieren wir auch diese, bleibt schließlich nur noch das blecherne Tablett. Dann ist es meist fünf vor zwölf. Aber es ist alles noch möglich, nur nicht immer machbar. So war es auch bei Parzival. Auch er bekam diese dritte Chance und nutzte sie, wie mein Kunde, dessen Seele nicht mehr nur Erfüllungsgehilfe fremder, weltlicher Erwartungen sein wollte. Im Coaching wurde ihm bewusst: Er hatte den Dienstleister in sich zu wahrer Meisterschaft entwickelt. Er konnte den Kunden die Erwartungen von den Augen ablesen, er konnte mit den unerfüllten Sehnsüchten seiner Klienten meisterhaft spielen. Es gelang ihm, mit den Erwartungen und der Gier seiner Kunden große Geschäfte zu machen, bis ihn das Schicksal durch seinen Traum in die neue Krise schickte. Nun wollte er nach einem erfolgreichen Leben, in dem er es, wie Parzival, als unbesiegbarer Held zu Ruhm und Erfolg gebracht hatte, wirklich erfolgreich werden. Aber vorher sollte er die alchimistische Erfahrung machen, bei der es darum geht, das Geheimnis des Satzes »Euer Gold ist nicht unser Gold« zu ergründen.

Wirklich erfolgreich werden Oft erfüllen Menschen sogar Erwartungen anderer wider besseres inneres Wissen, wie es beim Märchen vom Fischer und seiner Frau beschrieben ist. Der Fischer und seine Frau lebten armselig in einer kleinen Hütte an einem großen See. Der See versorgte sie mit dem Nötigsten zum Leben. Sie hatten alles, was sie wirklich brauchten, und mussten nicht hungern. Eines Tages ging dem Fischer ein großer Fisch ins Netz. Es war nicht irgendein großer Fisch, sondern ein Fisch, der sprechen

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konnte und um sein Leben flehte. Er wollte dem Fischer sogar drei Wünsche dafür erfüllen, wenn er sich nur erbarmte und Mitgefühl zeigen würde. Der Fischer fühlte mit dem armen Fisch und warf ihn ins Wasser zurück. Als der Mann zu Hause diese Geschichte erzählte, machte ihm die Frau Vorwürfe wegen seiner Dummheit, gleich drei Wünsche zu verschenken. Sie drängte ihn, wenigstens einen Wunsch zu äußern. Also ging der Fischer, um die Erwartungen seiner Frau zu erfüllen. Der erste Wunsch war kaum erfüllt, folgte der zweite, wesentlich größere und schließlich der dritte und extremste Wunsch. Oft verlieren wir im Erfüllen von Erwartungshaltungen unser Maß und werden maßlos. »Was ist das Maß Ihres Körpers, wenn Sie sich auf den Boden legen, Arme und Beine ausbreiten und in sich hineinspüren?« Diese Frage ist für die meisten meiner Klienten leichter zu beantworten als die Frage nach ihren inneren Maßen, die sich durch die Anlagen, Begabungen, Fähigkeiten zeigen oder wie sie durch die Werte oder Prägungen oder die Projektionen oder Introjekten erlebbar werden. Erwartungen, die wir unbewusst an uns oder andere haben, führen zur Selbsterkenntnis, wenn wir uns diese bewusst machen. Manchmal helfen sie dann, unser Selbstbild zu korrigieren. Einmal bekam ich Besuch von einem Kunden aus der Werbebranche. Er galt als schwierig, aber ungewöhnlich kreativ. Er beschwerte sich zuerst lange, dass er immer allein die tollen Ideen bringen müsse, obwohl er in seiner Firma doch nur so umringt sei von hoch bezahlten kreativen Köpfen. Nach langen Diskussionen müssten die anderen dann doch immer zugeben, dass seine Idee die beste sei. Im Coaching erfuhr ich dann von ihm, dass er, während er den anderen seine Ideen erklärte, durch deren Fragen und Einwände die eigenen Ideen klärte, schärfte und verbesserte. Aber das war für ihn kein Wert, weil es ihm nicht bewusst war. Seine Erwartungshaltung aus der Vergangenheit war, immer der Beste sein zu müssen. So war auch keine Wertschätzung für andere Ideen möglich. Diese Erkenntnis sollte zu einer neuen Tür in einen neuen Raum werden. Im Coaching-Prozess wurde ihm mehr und mehr bewusst, dass er ein Ko-Kreativer ist, der die anderen um sich herum braucht, um seine Kreativität zur Entfaltung zu bringen. Ich bat den Mann um eine Kerze. Dann bat ich ihn, diese Kerze anzuzünden. »Dass diese Kerze brennt und den Raum erhellt, ist Ihr Verdienst«, sagte ich. »Wenn sich Ihre Mitarbeiter von dieser Kerze auch ihre Kerze anzünden, wird der Raum noch heller. Das ist möglich, weil Sie einverstanden waren, dass andere an Ihrer Kerze ihre Kerzen entzünden. Der Raum ist dann durch die zusätzlichen brennenden Kerzen der anderen zwar heller, aber das Licht kommt von Ihrer Kerze. Das Geschenk, das Sie bekommen, wenn Sie bereit sind, dass andere sich an Ihrem Licht entzünden, ist ein hellerer Raum.« Der Kunde nickte: »So habe ich das noch nicht gesehen. Es stimmt schon, dass meine Ideen durch diese Meetings meist dazugewonnen haben.« Im Licht der Erkenntnis wird manches Blei zu Gold. Immer der Beste sein zu müssen, ist eine Erwartungshaltung, die das Leben oft bleiern schwer macht. Immer etwas Besonderes sein zu müssen, tötet Lebensfreude und Wertschätzung. Jeder hat seinen

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Anteil an den Ideen, die aus kreativen Prozessen entstanden sind. Wer als Ko-Kreativer seine Idee in ein Meeting einbringt, erwartet am Ende einen Mehrwert durch das Team. Alle sind dann Diener dieser Idee und diese Ideen sind meist größer als die eines Einzelnen. Wer durch so eine Erkenntnis ging, geht mit Erwartungen an sich und an das Leben anders um als vor dieser Erkenntnis. Er lernt sich und die Menschen um ihn herum besser verstehen und handelt meist anders als vor dem Verstehen. Er lernt auch zu verstehen, dass Menschen oft solche Spiele spielen, weil sie Angst vor ihrer wirklichen Größe haben und weniger vor ihrer Bedeutungslosigkeit. Die Angst vor der eigenen Größe hat nichts mit Rang und Status, nichts mit Orden und Ehrenzeichen zu tun, sondern mit dem Ruf, der Berufung, dem Wert, dem man dem eigenen Licht gibt. Wer sich traut, in seinem eigenen Licht zu strahlen, kann sich nicht mehr verstecken. Er sagt zu sich: Ich stehe zu mir. Ich bin Schicksalsträger meines eigenen Schicksals. Ja, ich bin ein Lichtträger. Ich bin mir meines eigenen Lichts bewusst und das führt mich zu meiner wahren Aufgabe. Ich bin kein Bedenkenträger, kein Zweifler, kein Heuchler mehr, auch wenn ich die Angst neben der Sehnsucht in mir spüre.

Lichtträger Dies erinnert mich auch an einen anderen Kunden, den ich jahrelang bei der Entwicklung seiner Expansionsstrategien begleitet hatte. Immer ging es darum, dass er einen neuen Markt entwickeln wollte, um eine kritische Größe zu erreichen, damit er weiter eigenständig im Markt überleben könnte. Eigenständigkeit und Kontrolle waren ihm wichtiger als das Abenteuer der offenen Entwicklung. »Das kommt später. Jetzt müssen wir erst einmal wachsen, wachsen, wachsen« war sein Mantra. Irgendwann wollte er nach Fernost. Auch hier wollte er, dass ich ihn im Coaching begleite, weil ich für diesen Markt sehr viel gewachsenes Know-how mitbrachte. Danach, so versprach er sich selbst, würde er alles verkaufen und sich seinen wirklich großen Aufgaben widmen. Bei einer Einladung seines neuen Geschäftspartners in dessen Heimat in Fernost lernte er die Kultur dort kennen und immer mehr schätzen. Der Geschäftspartner zeigte ihm die alten Tempel und das Land der vielen Klöster. Dieses Land brachte ihn mit einer ganz neuen Art des Denkens in Kontakt. Er lernte die Gesetze der Natur vom ewigen Werden und Vergehen, von Yin und Yang, von chinesischer Astrologie und I Ging. Er lernte viel über das Erden-Chi und das Himmels-Chi und dass in jedem Ablauf Gesetzmäßigkeiten stecken, die sich immer wiederholen und entsprechen. Ich konnte schon bei seiner Rückkehr erkennen: Die Zeit war reif für eine neue Etappe der Heldenreise. Was ich ihm in all den Jahren nicht vermitteln durfte, war jetzt zum Aufnehmen bereit. Der Kunde, der längst ein Freund geworden war, wollte das Spiel auf Leben und Tod, das Spiel, bei dem es immer wieder nur um »größer, schneller, mächtiger« ging, nicht mehr weiterspielen. Er wollte sein Leben nicht mehr mit dem Wecken und Erfüllen von Erwartungen verbringen, sondern seinem eigenen Bedürfnis nach Sinn und Erfüllung gerecht werden. Er wollte nur noch die Erwartungen erfüllen,

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zu denen es in ihm ja sagte, und sein Wissen zur Weisheit verdichten. Kurz: Er wollte ein Lebenskünstler werden. Aber zuerst kamen die vielen Ausreden. Da war die Verantwortung für die vielen Mitarbeiter, da waren die Banken, die Kunden, die Familie, die Sorgen. Ein Ausstieg aus all den Verpflichtungen und Verbindlichkeiten schien ihm unmöglich. Aber all das sind für mich Scheinargumente für Erfolgreiche, die ihre Mitte verloren haben. So übte sich der Freund unbewusst im Vertrauen an ein Schicksal, das größer war als er, und ich übte mit. Manchmal brauchen wir Abstand, in dem das wirklich Wesentliche im Verborgenen wachsen kann. Es kam eine Zeit, da hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich las nur noch in der Zeitung von ihm, von seinen neuen Erfolgen rund um den Globus, und wunderte mich. Sollte der Freund im Kampf zwischen Macht und Ohnmacht im Raum zwischen der äußeren und der wirklichen Welt hängengeblieben sein? Brauchte er vielleicht einen Freund, der ihn an das Geheimnis des Kreuzes erinnerte? Brauchte er einen Verräter, der ihn zum Erlöser reifen ließ? Da kam »aus heiteren Himmel« sein Anruf. Er wollte mit mir reden, weil ihm, bei allem Erfolg, etwas fehlte. Wir sprachen über die Ochsentour, so nannte er seit seinem ersten Besuch in Fernost die chinesische Variante der Heldenreise. »Wann erkannte der Hirte, dass ihm etwas fehlt?«, fragte ich vorsichtig. Der Freund schwieg. Ich fuhr fort: »Als er zu fragen begann, warum man ihn eigentlich Hirte nannte, wenngleich er doch keine Herde, nicht einmal einen einzigen Ochsen hatte.« Der Freund hakte ein: »Stimmt! Noch nie vorher hatte er den Ochsen vermisst.« Nachdenklich fragte er: »Wofür steht denn der Ochse?« Meine Antwort: »Für die Seele. Die Seele ist stärker und größer als wir. Wenn uns das bewusst wird, können wir auch die Krise des Hirten verstehen.« Ich erlebte die Stille am Telefon und dann ein leises Weinen. Es folgte ein längeres Coaching, genau an seinem Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde, in der Mitte des symbolischen Kreuzes, das ich in ihm wahrnehmen konnte. Diesen Schnittpunkt erleben wir oft als Krise, weil die Werte der materiellen Welt nicht mit den Werten der wirklichen Welt identisch sind. Wenn es in der materiellen Welt primär um äußeren Erfolg und Besitz geht, sind in der wirklichen Welt Mitgefühl oder Vertrauen das Maß. Es geht dann darum, eine neue Beziehung zwischen diesen Gegensätzen herzustellen. In der Ochsentour bedeutet das, anzuerkennen, dass im Zweifel der Ochse stärker als der Hirte ist. Deshalb liegt für mich an dieser Stelle nicht nur das Scheitern, sondern vor allem auch das goldene Tablett, auf dem der Samen des Neuen für uns bereit liegt. »Wo warst du dem Ochsen in deinem Leben bisher am Nächsten?« Der Freund schwieg. Ich fragte nach einiger Zeit nach: »Was war das Motiv, als du im Hinterhof eines alten Hauses mit deiner selbständigen Arbeit begonnen hast? Ging es darum, eine Vision zu erfüllen oder sich zum Sklaven des Bankkontos zu machen?« Die Frage genügte dem Freund für seine Entscheidung, noch einmal nach Fernost zu reisen. Er ahnte, dass er den Ochsen deshalb nicht mehr vermisste, weil er sich von sich selbst abgewandt hatte. Niemand ist uns dann so fern, wie wir uns selbst fern

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geworden sind. Und für seine Reise gab ich ihm noch mit auf den Weg: »Achte auf den Zwischenraum, in dem wir uns gleichzeitig nötig und unnötig werden.« Wir sprachen noch über den Unterschied von wirklicher Welt und materieller Welt. »Wirklichkeit ist das, was wirkt«, gab ich zu bedenken. »Wie die Wirklichkeit numinos, also geheimnisvoll auf die materielle Welt einwirkt, steht nicht in unserer Macht. Wie wir mit dieser geheimnisvollen Energie umgehen, ist unsere Freiheit und zugleich unsere schicksalhafte, weil unbewusste Unfreiheit. Diese Unfreiheit, also den Schleier in aller Demut zu aufzulösen, ist unser tieferes Anliegen.« Ich wollte eine kurze Pause. Dann schlug ich ihm noch vor, auf seiner Reise nicht nur darauf zu achten, was möglich ist, wenn Menschen nicht in Einklang mit der größeren Wirklichkeit leben, sondern auch darauf, was möglich ist, wenn Menschen in der Fülle leben, also ihr Dasein in den Dienst des Seins stellen. Möglich, aber nicht einforderbar. Ich dachte nicht zuletzt auch an die vielen Bücher, die in bester Absicht geschrieben wurden und die nicht den gewünschten Erfolg hatten. Dann sagte ich, mehr zu mir als zu ihm: »So ähnlich gilt das auch für uns Coaches. Aber dazu kommt noch: Wie unser Coaching wirkt, liegt nicht in unserer Hand, genau so wenig wie der Zeitpunkt, zu dem es wirkt.« Stille. Dann sollte geschehen, was geschehen wollte. Ich ließ los.

Das Ende der Trennung Als der Reisende von seiner Ochsentour zurückkam, fand er plötzlich in seinem Briefkasten ein Angebot, seine Firma zu verkaufen. Dies war für ihn ein goldenes Tablett, auf dem ihm das Schicksal das Neue als Chance präsentierte, aber auch neue Fragen stellte. Aber dieses Neue hatte plötzlich nichts mehr mit der Mehrung von Besitz und Erfolg zu tun, sondern mit einem neuen Geist, den er durch die Ochsentour kennenlernte: dem Movere. Dieser neue Geist stellte seine Fragen anders: Was bewegt mich zu meinem Tun? Was ist meine Vision wirklich? Das waren jetzt die wesentlich interessanteren Fragen. Auf dieser letzten Ochsentour erkannte er auch, dass er schon immer auf seiner Tour, seiner Visionstour war. Nur das Motiv hatte sich verändert. Wollte er als junger Mann durch sein Tun seinen Seelenauftrag erfüllen, ging es ihm irgendwann mehr und mehr um Geld und Geltung. Jetzt ahnte er, dass ein Motiv darüber entscheiden kann, ob wir glücklich oder unglücklich sind. Jetzt lernte er, wie sich das Tun auch im Nichttun erfüllen kann: in der Freude am Dasein, im Ausprobieren. Im Bewusstwerden dessen, was Liebe und Freiheit bewirken. Jetzt war er bei sich angekommen. Jetzt ahnte er, dass wir auch Geld brauchen, aber nicht mehr um der Geltung willen, sondern um des Lebens willen. Er wollte all das, was sich so an neuen Impulsen meldete, vertiefen. Er würde gute Lehrer finden, das Wesentliche lernen und dann selbst als Lehrer oder Mentor dem großen Leben dienen: So würde er mehr und mehr sein Leben in den Dienst des großen Lebens stellen.

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Irgendwann fragte er mich, wie er mit den Erwartungen der vielen Menschen um ihn herum umgehen solle, die ihn immer wieder hinderten, Träger seines eigenen Lichts zu sein. Ich ließ ihm Raum, seine Antwort selbst zu finden, und schwieg bewusst weiter. Er suchte wieder in sich nach der für ihn richtigen Antwort. »Vielleicht waren es nur Scheinriesen, die in Wirklichkeit kleine Ego-Zwerge sind. Aber Ego-Zwerge ändern sich nicht, die wollen immer nur Scheinriesen bleiben«, redete er halblaut vor sich hin. Ich schaute ihm tief in die Augen: »Bei dir war es möglich. Was wäre möglich, wenn alles möglich wäre? Was wäre zum Beispiel möglich, wenn du nur noch bewusster Träger deines eigenen Lichts wärst?« Der Freund antwortete spontan: »Dann könnte ich mit diesem Licht ja auch die Schatten anderer erhellen, indem ich ihnen Hoffnung mache.« Danach begann eine andere »Erleuchtung«: Mein Kunde wollte zwar schon lange etwas anderes machen, jetzt aber war er überzeugt, dass er auch etwas anders machen musste. Er war gefordert, dem Leben die entscheidenden Antworten zu geben. Aus einem Helden, der glaubt, Heldentaten vollbringen zu müssen, um die Erwartungen eingebildeter Könige zu erfüllen, wollte ein Souverän werden, der nicht abhängig ist vom Klatschen und von Lobpreisungen anderer, auch nicht von Neidern und Heuchlern. Jetzt ging es um Erlösung, um Befreiung. Wie bei Parzival, als er noch einmal in den Wald ging, um nach Erlösung zu suchen. »Ich werde den Menschen nicht mehr einreden, dass sie etwas brauchen, das ich ihnen verkaufen will. Ich werde fragen, was sie wirklich brauchen«, hörte ich ihn noch sagen, bevor es still in ihm wurde. Unwesentliche Sehnsüchte wecken, das konnte er. Wesentliche Sehnsüchte wecken, das wollte er jetzt lernen.

Dankbarkeit als Schlüssel Auch Parzival wurde erst zum Lichtträger, indem er sich und den anderen die entscheidende Frage stellte: »Was fehlt dir wirklich?« Es ist immer wieder die Frage des Mitgefühls, die zur Liebe führt, auch zur Liebe zum Leben. Eines Tages war ich mit diesem Freund zur Visionsfindung in einer einsamen Hütte. Kaum angekommen waren wir bereits einem gewaltigen Unwetter ausgesetzt. Wir waren nicht nur dem Wetter, sondern auch unserer Ohnmacht und unserer Angst in dieser Einsamkeit ausgesetzt. Es war stockdunkel. Da hörte ich ihn beten. Wie ein Kind betete er. Dann war nichts als die Stille. »Ich möchte dir eine Freude machen. Egal was es kostet. Was brauchst du?«, fragte er mich. Stille. Mit dieser Frage hatte ich von ihm, diesem sparsamen Mann, der immer Angst hatte, dass es nicht reichen könnte, und der deshalb oft als gierig und geizig verschrien war, wirklich nicht gerechnet. Dann antwortete ich: »Dies war die Frage, die auch Parzival erlöste und unzählig viele Menschen vor ihm und nach ihm. Dies ist die heilsamste aller Fragen, wenn wir sie uns selbst zuerst stellen.« Der Freund antwortete nachdenklich: »Ich weiß: Dies ist die Frage, die uns auch mit allem verbindet, das zeitlos, raumlos und gestaltlos ist. Es ist die Frage an die Liebe. Die Frage des Verbundenseins, mit allem, was ist und werden will. Hörst du auch die Antwort aus der Stille: Mich gibt es schon, auch wenn ich noch

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nicht sichtbar für dich bin. Vielleicht siehst du mich schon in deinen Tränen. Als Kind hattest du schöne Namen für mich ausgedacht, als junger Mann hattest du mir schöne Gedichte geschrieben. Jetzt sprichst du im Gebet mit mir und dieses Gebet ist die Stille und ich bin dein Atem.« Als Coach erleben wir manchmal, wie sich im Coaching unsere Rollen vertauschen. Dies ist dann keine Frage mehr, die etwas mit Tagessätzen oder Geld zu tun hat. Geld ist dann vielleicht eine Folge der Wertschätzung so einer Zusammenarbeit, die manche Menschen Arbeit nennen. Ich erlebe mich in solchen Augenblicken als Träger eines Lichts, das größer ist als ich. Und das ist Gnade, nicht machbar.

Die heilige Hochzeit Lichtträger sind für mich Coaches, die den Weg von der Horizontalen zur Vertikalen gegangen sind und ihre Mitte gefunden haben. Vor vielen Jahren hörte ich bei einem meiner Workshops einen Satz, der mich zutiefst berührte: »Es gibt nichts Schlimmeres, als seine Mitte, sein eigenes Maß verloren zu haben.« Dieser Satz wühlte mich damals auf. Es war die Zeit, in der ich mich kurz davor intensiv mit dem Chiron-Mythos beschäftigt hatte. Besonders interessierte mich die Stelle, in der es um Apoll geht. Apoll wird da als der Lehrer und Mentor von Chiron beschrieben. Apoll ist darüber hinaus auch Hüter der rechten Ordnung und des rechten Maßes in allem. Vor allem in der Kunst, auch der Lebenskunst. Könnte es sein, fragte ich mich damals, dass Kunst und Lebenskunst die gleiche Wurzel haben, nämlich die Frage nach dem rechten Maß? Heute weiß ich: Diesem Maß zu entsprechen, hält uns in Balance. Gesundheit, Zufriedenheit und Lebensfreude sind die Folge dieses maßvollen Lebens. Ich lernte damals, dass es für uns alle darum geht, dieses Maß zu finden und zu leben.

Coaching als Weg zur Lebenskunst Eines Tages fragte mich ein Journalist in einer Livesendung über die Bedeutung des Motivs für mein Tun. In diesem Zusammenhang ging es dann auch um die Bedeutung von Lebenskunst in unserer Zeit. Ich erzählte kurz von meinen Erfahrungen beim Finden meines rechten Maßes, vor allem aber auch des Motivs für mein Tun. Der Journalist wollte mehr wissen. Ich erinnerte ihn an den alten Goethe-Satz aus dem »Faust«: Das Was ist wichtig, mehr bedenke das Wie. Unser Interview wurde immer lebendiger. Ich ahnte den Grund seiner Neugierde. Ganz schnell waren wir bei Macht und Ohnmacht, bei der Schicksalhaftigkeit und unserer Freiheit, die wir bei all unserer Unfreiheit noch leben können. Bald ging es um Fragen wie: Was ist mir wichtig? Was macht mir wirklich Freude und wie macht es mir Freude? Wie gehe ich mit Beziehungen um? Wie mit Trennungen? Wie glückt mein Leben trotz der Schicksalsschläge, von denen keiner verschont bleibt?

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Irgendwann kamen wir auf den alten Seneca und seine klugen, fast zweitausend Jahre alte Schriften. Seneca war immerhin der »Coach« von Menschen im Zentrum der Macht des alten Roms. Seine Gedanken über das rechte Maß und die Lebenskunst sind für mich auch heute noch brandaktuell. Am Ende der Sendung ging es dann noch darum, wie wir unsere Mitte wiederfinden können, wenn wir sie irgendwann beim Jagen nach Erfolg verloren haben.

Antworten aus der Mitte Als wir nicht mehr auf Sendung waren, wollte der Journalist noch ein paar private Worte reden. Er lud mich zu sich ein. Ein schickes Haus, inmitten einer Siedlung voller wunderbarer, großzügig angelegter Gärten. Als wir bei ihm angekommen waren, bat er mich, an einem Tisch an der Grenze zum Nachbargrundstück Platz zu nehmen. Er holte etwas zu trinken, setze sich zu mir und begann sogleich mit einer für ihn brennenden Frage: »Was ist meine Mitte?« Er redete so laut, dass es der Gärtner hören musste, der im Nachbargarten beim Umgraben war. Der bemerkte ihn und grüßte freundlich. Dann steckte er weiter seine Zwiebeln. Ich bemerkte, wie der Journalist dem Gärtner scheinbar gedankenverloren zusah, und versuchte den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen: Mein Blick mäanderte zwischen dem Journalisten und dem Gärtner, der mir irgendwie bekannt vorkam. »Als Gärtnersohn weiß ich, dass für die Zwiebel die Mitte das innere Maß ist, nach der sie sich, wie auch immer, ausrichtet, um eine Zwiebel zu sein. Sie wird kein Apfelbaum werden. Das ist ihr Schicksal. Auch kein Gänseblümchen. Analoges gilt für einen Menschen. Aus dem Schnittpunkt seines Kreuzes heraus sich gleichmäßig zu entfalten, bedeutet für den Menschen, sich seiner Mitte bewusst zu sein und sich daraus, seiner eigenen Art, also seinem Maß entsprechend, nach allen Seiten, sowohl nach oben und unten, aber auch horizontal zu entfalten. Den Fahrplan dazu erkennen wir durch die Heldenreise.« Der Journalist fragte interessiert nach. Der Gärtner stand dabei interessiert am Zaun und hörte aufmerksam zu: »Das Maß, nachdem sich unsere Heldenreise ausrichtet, ist also die Mitte. Aus dieser Mitte heraus kommen dann die Antworten aus dem zeitlosen Raum: Wer bin ich, warum bin ich hier, wohin gehe ich?« Dabei schaute er dem Gärtner zu, wie er einen Apfel aufhob. Jetzt erkannte ich den Gärtner wieder. Vor vielen Jahren bat er mich, im Anschluss an einen Vortrag, um ein Gespräch. Er war ein bekannter Schauspieler, der schon in vielen Rollen glänzte. Durch diese Rollenvielfalt hatte er zwar viele Preise gewonnen, aber sich selbst verloren. Dann war es still um ihn geworden. War es gesteuerter Zufall, dass wir uns hier wieder begegneten? Der Gärtner fühlte sich aufgefordert, dem Journalisten zu antworten: »Ich kenne da einen Coach, der hat mir auf ähnliche Fragen wie folgt geantwortet: ›Ihre Fragen sind so alt wie die Menschheit. Wenn ich darauf schnelle Antworten gebe, bin ich genauso schnell fertig und habe trotzdem wenig gesagt. Wir alle sind Sterbliche im Lauf unserer Zeit. Ich bin hier, weil sonst das Ganze nicht vollständig

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wäre. Gleichzeitig bin ich Träger des Lichts, aus dem ich kam, weil es meine Heimat ist. Heimat, weil ich dorthin auch wieder zurückkehre. Damals half mir diese Antwort sehr. Ich wusste, dass mein Leben sich durch die Krankheit meiner Frau radikal ändern würde, und suchte nach einer Kraft, die mir Unmögliches möglich machen sollte. Es war die Liebe, das andere Wort für Licht und für das Göttliche. Das Maß der Liebe ist das Übermaß. Und jede Angst ist in Sehnsucht verpackte Liebe. Angst, die sich noch nicht traut, in Liebe aufzugehen. Dann kamen die sieben Jahre Pflege meiner Frau. Der Tod wurde zum Freund. Er war immer dabei, bis er sich zum Erlöser wandelte. Seitdem habe ich keine Angst mehr vor ihm. Danke!‹« Die Stimme war sanft und klar. Der Gärtner wandte sich jetzt direkt dem Journalisten zu, reichte ihm einen Apfel, als ob es der Apfel der Erkenntnis wäre. »Für mich ist dies ein ganz normaler Apfel«, sagte er dann. »Als Fachmann weiß ich, das ist ein Boskop-Apfel. Für mich ist es die Apfelsorte vom letzten Baum, den mein Vater pflanzte, bevor er starb. Er erinnert mich also an meine Kindheit und zugleich erinnert er mich an den letzten Spruch meines Vaters. Er sagte zu mir, so als ob es ein Vermächtnis wäre: ›Weißt du, was aus einem Apfelkern werden will? Ein neuer Apfelkern. Deshalb nimmt er so viele scheinbare Umwege in Kauf. Zuerst will er – wie beim Kreuz – zeigen, wie breit er werden kann. Damit will er seine Bedeutung in der Welt durch seine Größe unterstreichen. Dann will er sich verwurzeln, um seiner Sehnsucht nach Verwurzelung in der Welt gerecht zu werden. Schließlich erinnert sich etwas in ihm an seine Angst vor der Vergänglichkeit und gleichzeitig an seine Sehnsucht nach Ewigkeit. Da geschieht im Fallen vom Baum das Wunder: Auf dem Boden aufschlagend, fällt ein Apfelkern aus dem Apfel ins Gras und macht so ein neues Werden möglich.‹« Der Gärtner schaute mich lange an. »Ich bin vielleicht einen langen Weg gegangen, aber keinen falschen, mein Freund. Irgendwann müssen wir alle Entscheidungen treffen. Ich musste mich zwischen Nero und Seneca entscheiden. Ich entschied mich für den Lebenskünstler Seneca. Der durfte sogar wählen, wie er sterben will. Das Wie ist für Lebenskünstler wichtig!« Ich schaute den Journalisten an. Der antwortet schneller, als ich dachte: »Das hatten wir doch heute schon mal. Bin ich von Lebenskünstlern umgeben?« Der Gärtner war schon einige Zeit in seinem Haus verschwunden, da saß ich immer noch angeregt mit dem Journalisten zusammen. Er fragte nach zur Bedeutung der kleinen Pausen, zu meinem neuen Buch »Vom großen Geheimnis der kleinen Pausen«. Über Entschleunigung und Achtsamkeit redeten wir. Irgendwann ahnte ich den eigentlichen Grund der Einladung. Der Journalist war in großer innerer Not, seit sich seine langjährige Lebensgefährtin der Karriere wegen von ihm getrennt hatte. Vorsichtig ging ich darauf ein: »Im Interview glaubte ich zu erkennen, dass diese Trennung wie ein kleiner Tod für Sie ist.« Der Journalist nickte heftig. »Es tut mir gut, darüber mit Ihnen zu reden.« Dann sprachen wir über seine Todesängste, seine Realitätsverweigerung, sein Nein zu allem, was außerhalb seiner Macht ist. »Was soll von Ihnen über den Tod hinaus bleiben? Manchmal ist es auch gut zu fragen: Was möchte ich erlösen?« Der Journalist schwieg und schien nach innen zu fragen. Als Coach ist es

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manchmal gut, dem Schweigen zu vertrauen. »Reden wir von meiner Todesangst.« Ich spürte seine Hand, wie sie die meine suchte. »Was wäre möglich, wenn Sie weniger Angst vor dem Verlassenwerden hätten?« – Ich sah ihm bei dieser Frage bewusst tief in die Augen. »Dann würde ich meiner Sehnsucht nach einer wirklich guten Beziehung leichter folgen können.« Seine Augen wanderten und suchten den Himmel. »Und was wäre möglich, wenn Sie dieser Sehnsucht leichter folgen könnten?« Der Blick blieb an einer einzeln dahinziehenden Wolke hängen. »Dann könnte ich freier lieben.« Der Blick rutschte nach unten. »Und was wäre dann möglich?« Ein Vogel dicht über unserem Kopf. »Dann würden mir Flügel wachsen und ich würde meiner Seele vor Glück entgegenfliegen.« Er bemerkte den Rosenstock. Eine Rose blühte noch. Die anderen waren verblüht. »Und wie glückt dieser erste Flügelschlag?« Der Journalist schaute sinnend in die dunkle Scheibe seines Gartenhauses. Sein Gesicht spiegelte sich darin. Er schaute sein Spiegelbild lange und liebevoll an. Da begannen seine Augen plötzlich zu leuchten. Er antwortete leise: »So wie es in Ihrem Buch von der kleinen Pause steht: durch ein von Wertschätzung erfülltes Danke.« Für einen Augenblick, glaubte ich das Lächeln Chirons im Spiegelbild zu erkennen. Mit dem Staunen beginnt eben das, was ich seit dieser Zeit Lebenskunst nenne.

Hans Kreis ist Inhaber der IMACO Beratungsgesellschaft mbH. Er baute innerhalb weniger Jahre eines der erfolgreichsten Unternehmen in der Kommunikationsbranche auf. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verkaufte er seine Firma und ist seit dieser Zeit ein gefragter Coach. Das von ihm entwickelte Visions-Coaching, das auf die Kraft der Sehnsucht und der Achtsamkeit ausgerichtet ist, wird mittlerweile selbst im klinischen Kontext eingesetzt. Der Pauseprofi weiß nicht nur aus seiner Arbeit mit Leistungsträgern, sondern auch aus eigener Erfahrung, wie wichtig die kleine Pause für das persönliche Lebensglück ist. Er lebt und arbeitet in Italien und Deutschland. www.imaco.de

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Klaus Renn und Silvia Bickel-Renn

Innere Achtsamkeit in Kontext und Situation Ein systemisch-Focusing-orientierter Ansatz

Magic Moments Nach einer keinen Stille erhellen sich die eben noch nach innen gerichteten Augen, begleitet von einem Atemzug, der die Qualität eines Aha in sich trägt. Herrn Mustermann, leitender Angestellter in der Gesundheitsbranche, wird gerade etwas klar. Meine Focusing-spezifische Intervention in diesem Augenblick: »Bleiben Sie noch einen Moment in dieser Erfahrung – lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit weiter im Körper und kosten Sie dieses Empfinden und alles, was damit verbunden ist, eine kleine Zeit aus.« Was vorher noch unklar und widersprüchlich, noch offen und ohne Lösung war, hat offensichtlich von innen her einen Schritt gemacht. In solch einem intuitiven Schritt ist die gesamte Komplexität der Problemstellung neu verbunden, neu strukturiert und für bisher nicht denkbare Wege geöffnet worden. Neben dem kognitiven Outcome dieses Magic Moment hat der gesamte Organismus einen Schritt gemacht: Der Klient fühlt sich körperlich frischer, energievoller, klare Gedanken folgen und der intentionale Spannungsbogen hin zur Lösung schwingt im Raum. In dieser Erfahrung der Stimmigkeit sind zugleich alle persönlichen Aspekte des Klienten mit eingerechnet, von seiner Werteorientierung bis hin zu seinem Arbeitszeitkontingent. Für mich ist damit die Arbeit getan! Herr Mustermann braucht jetzt »nur noch« Raum für sich und meine verstehende Aufmerksamkeit, um dieses klare Gesamtgefühl erst einmal in Sprache zu fassen und dann von innen her eine Handlungsstrategie Gestalt werden zu lassen. Dieser Magic Moment kommt aus einem Erleben, den man im Focusing FeltSense nennt. Damit ist eine körperliche Empfindung gemeint, die hinter den Worten und Bildern liegt und von Fühlen, Spüren und der Ahnung von etwas ganz Neuem bestimmt ist. Immer wenn Sie erleben, dass Sie etwas genau wissen, aber nicht sagen können, es Ihnen auf der Zunge liegt, nur die Worte dazu fehlen, dann handelt es sich um diesen Felt-Sense. Der Körper weiß etwas, was wir noch nicht in Sprache bringen können. Und Sie werden es selbst kennen: Entfaltet sich dann dieses wissende Gefühl in Sprache und Erkenntnis, so geht eine gesamtkörperliche Entspannung damit einher und so etwas wie ein Aha-Atemzug steigt auf. Der gesamte Organismus ist an dieser Geburt beteiligt.

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Klaus Renn und Silvia Bickel-Renn: Innere Achtsamkeit in Kontext und Situation

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Focusing (vgl. Renn, 2011) handelt in seinen Konzepten und Haltungen davon, was wir brauchen, damit dieser bestimmte Klick, dieser Magic Moment entsteht und wir für das noch Unbekannte, das Neue oder die Lösung ein Gefühl der Stimmigkeit finden. Focusing wurde von Eugene T. Gendlin (1926 in Wien geboren), von Haus aus Philosophieprofessor an der Universität Chicago, dazu auch Psychologe und Psychotherapeut, entwickelt (Gendlin, 1998). Sein philosophisches und therapeutisches Arbeiten verdankt sich seiner Faszination von dem sich Einlassen auf das, was schon gespürt, aber noch nicht bewusst gewusst wird, dem, was über die Sprache, über Konzepte und Methoden hinausgeht. Veränderungsschritte sind bei ihm zugleich Denk- und Heilungsschritte. Heute ist Focusing ein Vehikel des Denkens und des Philosophierens, eine Methode der Selbsthilfe und eine Methode der Psychotherapie und Beratung, ein Werkzeug für Kreativität und Entscheidungsfindung und nicht zuletzt auch ein Weg, um spirituelle Dimensionen zu erkunden. Im Focusing verlieren die Ihnen bisher bekannten Identitäten ihre illusionäre Mächtigkeit zugunsten der Erfahrung, lebendig mit sich selbst und der gegenwärtigen Umwelt verbunden zu sein. Focusing bringt zu Bewusstsein, wie ich mich selbst wahrnehme. Die innere Achtsamkeit, die zum Abenteuer der Selbstbegegnung werden kann, erschließt uns den inneren Erlebensraum mit seinen vielen impliziten – im Sinne von: noch eingefalteten – Facetten von Bedeutungsangeboten. So ist Focusing ein Weg, um einen körperlichen Zugang zu sich selbst zu finden. Gleichzeitig öffnet sich im Mich-selbstAnnehmen die Erfahrung einer existenziellen Lebenstiefe (vgl. Renn, 2006, S. 10). Das führt zum Stichwort Spiritualität. Denn diese Erfahrung des stimmigen nächsten Schrittes wird von einem Gefühl getragen – ein »ganz bei mir«, das als so etwas wie Sinnhaftigkeit und Vorwärts-getragen-Werden empfunden werden kann, ein energetisierendes, entspannendes Spüren von ganzheitlichem Verbundensein. Dieser Aspekt des Veränderungsprozesses wird von Gendlin als spiritueller Oberton bezeichnet. Damit will er hervorheben, dass in jedem stimmig erlebten inneren Schritt ein größeres Ganzes als mitschwingend erlebt werden kann. Diese Beschreibung des Veränderungsprozesses ist keineswegs esoterisch im abgehobenen Sinne gemeint. Gewinnen Sie überraschend beim Kartenspiel oder hatten Sie gerade an der Börse einen guten Gewinn und würden diesem Gefühl Aufmerksamkeit geben und es auskosten, so würde es sich wohl in ähnlichen Worten beschreiben lassen. Bedeutsam an dieser Art des Lösungsfindens ist, dass der Berater dem Klienten nicht die eigenen Lieblingslösungen und Konzepte verkauft. Der Klient wird nicht zu einer Lösung manipuliert, es wird ihm keine Lösung angeschraubt. Im Focusing setzen wir auf das ganz eigene innere Streben, auf die Intentionalität, die unserem Leben innewohnt. Diese körperliche Kraft strebt nach Lösungen und hat die Eigenschaft, den ganzen Menschen in seiner gegenwärtigen Situation mitzunehmen und gerecht zu werden. Im Focusing haben wir für diesen Lebensprozess das Konzept the order of carrying forward (vgl. Wilschko, 2011). Verkürzt ausgedrückt meint es, dass der nächste stimmige Schritt in einer gesamtorganismischen Logik folgen möchte. Die Bedingung dabei ist nur, dass wir als Berater unser supergescheites Besserwissen und

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unser hartnäckiges Bedürfnis, unbedingt etwas machen und bewirken zu müssen, zur Seite stellen, um diesen Prozess nicht zu stören. Diese Phase des Veränderungsprozesses lebt vom Dabeibleiben und dem Nichttun, dem Bloß-präsent-Sein. Betrachten wir eine Pflanze, die unter den ungünstigsten Bedingungen in einer Mauerritze wächst, so kann uns deutlich werden, welche Lebenskraft und Überlebenskraft im Organismus wirkt. Diese natürliche Kraft, dieses Streben, dieses carrying forward wirkt in jedem Individuum ebenso wie in jeder Gruppe, jeder Institution und jedem Betrieb. Stellen Sie sich wieder die oben beschriebene Coaching-Szene vor: Der Klient, Herr Mustermann, hat neben sich ein Flipchart mit einem Organigramm seines Betriebes stehen und ebenso nehmen seine Ehefrau und seine Kinder, symbolisiert und verortet durch Kissen im Raum, an dem Prozess teil. Der erste Teil der Sitzung bestand darin, zu sammeln und zu klären, wer und was an dem Problemthema beteiligt sind und was auch nur randständig mitschwingt. Die Themenstellung wurde so langsam genauer und klarer. In dieser Phase ist es meine Aufgabe, das übliche Handwerkzeug eines Beraters dabeizuhaben und den Coachee mit seinem Kontext möglichst genau zu verstehen. Nach einer gewissen Zeit lade ich den Coachee in den Bewusstseinszustand der Inneren Achtsamkeit ein. Das heißt, ich schlage vor, Herr Mustermann möge seine Aufmerksamkeit von der Themenstellung und von allem, was wir bisher dazu ausgearbeitet haben, zu sich hinzulenken, mit seinem gegenwärtigen körperlichen Erleben zu verbinden, sich einige entspannende Atemzüge zu gönnen und das ganze Problem draußen zu belassen. Nach diesem Frei-Raum-Schaffen, einem wichtigen Konzept im Focusing (vgl. Renn, 2006), schlage ich Herrn Mustermann vor, er möge alles in ein Ganzes fassen, was wir bislang erarbeitet haben (alles Gesagte, auf dem Flipchart Gezeichnete, im Raum Symbolisierte). Er möge auch noch all das dazunehmen, was er nicht weiß und doch zum Thema dazu gehört … und auch noch alles, was kommen wird … alles Zukünftige dieses Themas. »Lassen Sie das alles ein Ganzes werden und halten Sie ihre Aufmerksamkeit im Brust- und Bauchraum – und verweilen Sie mit dem Ganzen eine kleine Weile.« So oder ähnlich hört sich dann diese Focusing-Intervention an, die den Felt-Sense aktiviert, das Körperwissen anregt – um sich nach einem kurzen Verweilen in konkreten Gedanken, Bildern, Strategien zu entfalten. Wichtig ist, dass wir als Berater über kompetente Konzepte verfügen, unsere Empathie geben, der Klient sich bei uns verstanden und aufgehoben erlebt – und wichtig sind die Bescheidenheit und das Vertrauen, dass der tatsächlich neue Schritt aus dem körperlich achtsamen Verweilen des Klienten kommt. Dass der wichtigste Schritt aus dem Klienten selbst kommt. Diese von der körperlichen Intelligenz getragenen Schritte sind genauer, präziser und stimmiger als das, was wir als Berater herausfinden könnten. Die umfassendste Erkenntnis seiner selbst, seines Betriebes mit all dem notwendigen Detailwissen hat nun mal nur der Körper des Klienten. Also lasst uns auf diese Ressource setzen!

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Der Körper als eigentlicher Ort der Ereignisse Der Körper des Coachee bringt sein Thema, alles, was damit zu tun hat, sein ganz persönliches Umfeld, einfach alles mit hinein in die Beratungssituation. Dies zu wissen, kann beide Seiten eminent entlasten. Als Berater brauche ich nicht alles zu erfragen, es liegt nicht an mir, dass auch tatsächlich alle Aspekte kognitiv benannt werden. Sowie der Coachee den Raum betritt, ist schon alles vorhanden. Unser Körper hat die Eigenschaft, Situationen einzuverleiben, sie leibhaftig zu verkörpern. Im Bild gesprochen: Im Körper des Chefs ist die gesamte Firma einverleibt. Vielleicht hört sich das zunächst etwas wunderlich an. Die Wurzeln dieser Sichtweise finden sich bei dem phänomenologischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (vgl. Fuchs, 2008; 2010). Er beschreibt einen Fußballspieler, der, sobald er das Spielfeld betritt, die gesamte Situation einverleibt hat. Seine von innen her gespürte Körperraumerfahrung schließt das gesamte Fußballfeld mit ein. Er weiß körperlich immer um den Ort des gegnerischen Tores. Ebenso weiß er körperlich um den Platz seiner Mit- und Gegenspieler und um die Regeln, die hier gelten. Der Körper kann frei agieren, ohne dass der Spieler viel nachzudenken hat. Oder denken Sie an ein Tennismatch, mit welcher Präzision hier der Körper den ankommenden Ball »berechnet« und mit dem gewissen Effet und genau der Kraft in genau berechneten Winkeln wieder zurückspielt. Der Körper hat nicht nur die Möglichkeit, einen Tennis- oder Golfball genau zu berechnen, er kennt sich ebenso in den diversen Situationen, in denen er sich jeweils befindet, aus. Von Geburt an lebt unser Körper immer in andauernd unterschiedlichen Situationen und ist bestens gewohnt, mit ihnen zurechtzukommen. Denn unseren Körper ohne Situation gibt es nicht – höchstens als blasses Abstraktum. Die Innere Achtsamkeit eröffnet den inneren Think-Tank, unseren Kreativraum, und lässt den Körper alle möglichen Ahnungen, Gefühle, Informationen und den Kontext in einer neuen Weise kreuzen und verarbeiten. Focusing ist der Weg, wie Intuition nüchtern und klar erlernbar und lehrbar wird.

Übung 1: Felt-Sense Vielleicht möchten Sie die Annahme »Der Körper meines Coachees trägt alle notwendigen Informationen in sich!« etwas auf sich wirken lassen. Wenn das tatsächlich so wäre, wie würden Sie sich in einer Coaching-Situation fühlen? Sie können sich vielleicht an eine Beratung der letzten Tage erinnern, sie bildhaft herholen und etwas mit ihr experimentieren. Okay, falls Sie sich jetzt etwas Zeit nehmen, dann gehen Sie in der imaginierten Beratung nochmals zu der Annahme: »Der Körper meines Coachees trägt alle notwendigen Informationen in sich!« Verweilen Sie ruhig noch etwas in dieser Vorstellung und bemerken Sie, wie sich Ihre Haltung zum Gegenüber verändert … Und welche Atmosphäre der Beziehungsraum bekommt … Welche Qualität von Beziehung steigt auf? Vielleicht bemerken Sie auch, wie Ihr eigener Körper sich entspannt und

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Ihr Atem für Sie selbst fließend wahrnehmbar wird … Wie Sie gleichzeitig sich selbst spüren und fühlen … Wie würden Sie diese Haltung zu sich selbst, zu Ihrem Coachee benennen? Wie würden Sie diese spezielle Beziehung benennen? Jetzt, in dieser Haltung, könnten Sie einen Moment den Coachee in Verbindung mit dem Thema, welches gerade zwischen Ihnen dran ist, auf sich wirken lassen. Dieses Focusing-orientierte Wirkenlassen geht so: Sie geben Ihre Aufmerksamkeit in den Brust- und Bauchraum, um den Felt-Sense (im Sinne von: das Alles der gegenwärtigen Situation) als körperliche Resonanz in sich entstehen zu lassen. Verweilen Sie jetzt noch ca. eine Minute, dann haben Sie eine gewisse Chance, dass sich etwas Wesentliches in Ihrem inneren Erlebensraum in Form von Gedanken, Worten oder einem Bild meldet. Diese neue »Erkenntnis« können Sie, falls Sie es für sinnvoll erachten, Ihrem Coachee zur Verfügung stellen. Natürlich wünsche ich Ihnen, dass, während Sie das hier lesen, auch für Sie eine kleine rückblickende und entsprechend spürbare Erkenntnis entstanden sein möge. Erwähnenswert im Zusammenhang des Einverleibens von Institutionen ist vielleicht folgende Hypothese: Körperliches Unwohlsein bis hin zu Krankheiten der Führungskraft sind Symbolisierungen von Spannungen, Konflikten und Beziehungsstörungen innerhalb des Betriebssystems. Natürlich hat es keinen Sinn, diese Aussage naiv zu glauben; sie würde uns auf komische Abwege führen. Doch lohnt es sich, manchmal mit dieser Hypothese zu spielen und dem Coachee in Innerer Achtsamkeit diese Behauptung zu geben – und zu warten, was sich möglicherweise doch überraschenderweise meldet. Im Zustand Innerer Achtsamkeit können dem Körper Hypothesen und auch Fragen vorgelegt werden. Die Antwort kann dann aus dem Felt-Sense heraus erfolgen.

Übung 2: Wenn alles gut wäre – den Betrieb »einverleiben« Vielleicht mögen Sie sich auf eine kleine Übung zum Thema Institution/Organisation und körperlicher Achtsamkeit einlassen. Wir möchten Sie zuerst fragen, wie es sich anfühlen würde, wenn Ihr Verantwortungsbereich und darüber hinaus die gesamte Organisation nicht nur in bester Ordnung wären, sondern darüber hinaus alle Arbeitsbereiche optimal funktionierten. Alles würde stimmen: Kommunikation, Produktivität und Strukturen. Unter den Mitarbeitern herrschte eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung; alle fänden Sinn und Spaß bei der Arbeit und setzten sich mit einem Optimum an Intelligenz, Kreativität und Kommunikationskompetenz zum Wohl der Company ein. Alles wäre einfach gut. Stellen Sie sich für einige Momente diesen Traumzustand vor. Währenddessen geben Sie Ihre Aufmerksamkeit in Richtung Brust und Bauchraum und verweilen dort eine kleine Weile … Lassen Sie die Organisation ein Ganzes werden – ein Gesamtgefühl: Wenn alles einfach gut wäre und alle Problem gelöst wären – wir wissen jetzt nicht, wie es geht –, aber wenn alles gelöst wäre: Welches Empfinden spüren Sie mit dieser Vorstellung im Körper?

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Erlauben Sie es sich, dieses Gefühl noch für einige Momente auszukosten – und erlauben Sie diesem Empfinden, sich im Körper auszubreiten. Vielleicht bemerken Sie dabei einen tieferen entspannenden Atemzug. Fragen Sie sich jetzt in Richtung Körper – wie Sie einen anderen Menschen fragen könnten: »Wenn dieses Gefühl sich in ein Bild übersetzen würde, wie sieht das aus …?« Falls nach einigen Momenten ein Bild in Ihnen erscheint, verweilen Sie dabei und lassen Sie das auf sich wirken. Sie könnten sich auch so weiterfragen: »Wenn dieses gute Gefühl eine Überschrift hätte?« Vielleicht entstehen ein Wort, ein Satz oder eine Geste, die dieses optimale Gefühl symbolisieren … Ein Wort können Sie sich selbst wieder in Richtung Brust und Bauchraum zurücksagen, um es »spürig« zu entfalten. Eine Geste können Sie körperlich von innen ausspüren und deren Bedeutung kommen lassen. Bleiben Sie noch eine Weile bei dieser Erfahrung. Freilich: Manchmal geht so eine Übung auch nicht auf Anhieb – vielleicht versuchen Sie es ein andermal. Jetzt möchte ich Ihnen eine weitere Frage geben, die Sie ausprobieren können: »Was wäre ein kleiner Minischritt in Richtung auf das Optimum – hin zu dem Bild, dem Wort, der Geste von eben?« Aber bitte denken Sie nicht mit dem Kopf, sondern geben Sie Ihre Aufmerksamkeit mit der Frage in den Körper und warten Sie eine kleine Weile darauf, was da von selbst entsteht. Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich nochmals anfragen: »Was wäre eine kleine Handlung in diese Richtung, die ich in den nächsten Minuten tun kann und die keines Aufwands bedarf …?« Aber bitte keine Vorsätze, sondern: tief durchatmen oder jemanden anrufen. Also etwas, das sich in den nächsten zwei Minuten tun lässt. Verweilen Sie noch etwas bei dem, was für Sie durch diese Übung irgendwie bemerkenswert geworden ist. Tun Sie Ihr Mini-Ding und machen Sie dann, was immer für Sie dran ist.

Die Hoffnung stirbt zuletzt Einen unserer deutschen Topmanager fragte ich anlässlich dieses Beitrags, wie er die spirituelle Dimension seiner Organisation benennen würde. Er antwortete: »Die wichtigste spirituelle Dimension in der Arbeit ist die Hoffnung. Und das gilt für den Betrieb genauso wie für den Indianer am Marterpfahl: Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Hoffnung ist die Hintergrunderfahrung, die von allen geteilt wird, die (noch) aktiv im Betrieb mitarbeiten. Mitarbeiter, die mit dem und für den Betrieb hoffen, sind aktiv. Dabei ist egal, ob es sich um Verkaufs- oder sonstige Zahlen handelt oder um die Zukunft des eigenen Arbeitsplatzes. Hoffnung steht immer in Verbindung mit etwas Größerem, was über das Individuum hinausgeht und für den Einzelnen nicht machbar ist. Etwas, zu dem andere gebraucht werden und was damit über sich selbst hinaus weist. Aus dieser Qualität von Hoffnung kann der Vorstand des Betriebes ebenso schöpfen wie auch der ungelernte Arbeiter am Fließband. Über das Handeln im gemeinsamen betrieblichen Zusammenhang entsteht eine intensivere unterschwellige Verbindung,

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als wir alltäglich wahrnehmen und vermuten. Falls Ihnen als Chef bei einer wichtigen Entscheidung Ihre direkten Kollegen nicht weiterhelfen können, dann gehen Sie an den »Rand« ihrer Organisation. Unterhalten Sie sich mit einer langjährigen Putzfrau oder einem altgedienten Hausmeister und holen Sie deren Meinung dazu ein. Denn auch im Betriebskörper sind die relevanten Informationen nicht unbedingt im Kopf angesiedelt. Hoffen und Verbundenheit sind in einem Betrieb vielleicht die wichtigsten prozessfördernden spirituellen Dimensionen. Aus diesem Stoff – vernetzt mit Werten und Inhalten – kreiert sich ein konkreter Betriebsgeist, auch als Unternehmenskultur bekannt. Als Coach und als Führungskraft ist es unsere Aufgabe, diesen Geist vor allem durch kleine alltägliche Handlungen zu nähren. Eine Gruppe oder Organisation kann schnell so dumm werden und handeln wie das dümmste Mitglied. Durch nährendes Handeln, das den Geist im Betriebskörper erfrischt, wird aus einer Gruppe eine intelligente Gruppe und aus einer Organisation eine intelligente Organisation werden.

Der Mensch als Mittelpunkt oder: Der Mensch als Mittel – Punkt! Gesprochen ist der Unterschied der Aussagen kaum merkbar: Der Mensch als Mittelpunkt oder der Mensch als Mittel – Punkt. Leicht täuschen wir uns und lassen uns täuschen über die Werte, die implizit in einer Entscheidung wirksam sind. In spiritueller Sicht plädieren wir für das Unterscheiden der Geister19: das Prüfen der Bedeutung einer Entscheidung nach Kriterien der Nachhaltigkeit und Menschlichkeit. Sicher hat ein Coach nicht die Aufgabe, zum moralischen Gewissen zu werden. Aber zu seiner Aufgabe gehört es, für Bewusstheit im Blick auf das zu sorgen, was gerade geschieht und welche Konsequenzen Entwicklungen haben, die gerade eingeschlagen werden. So wird die Geschichte berichtet, dass während des Absolutismus am französischen Hof jeder geköpft wurde, der dem König die Wahrheit sagte – nur der Hofnarr nicht; er wurde geköpft, wenn er dem König nicht die Wahrheit sagte. Narren hatten zu Zeiten an Fürstenhöfen auch die politische Funktion, zu Zeiten absolutistischer Herrschaft die Einzigen zu sein, die dem Fürsten noch die Wahrheit übermittelten, ihn an das Geschehen in seinem Herrschaftsbereich ankoppelten. Sei es, dass sie selbst als Spaßmacher oder Künstler scharfe Beobachter des Zeitgeschehens waren oder aber sich von Ratgebern und Hofleuten zur Übermittlung von Informationen oder Meinungen instrumentalisieren ließen, um dem Fürsten notwendige und bedenkenswerte Wahrheiten zu übermitteln. Es ging dabei um Dinge, die ein normaler Mensch wegen des Risikos sich damals nicht vor Publikum oder Zeugen zu sagen getraut hätte. Deshalb schickte man den Narren vor. Wenn dessen Botschaft der königlichen Hoheit nicht genehm war, tat man sie als Narretei ab. Nicht umsonst ist der Narr ein alter spiritueller Archetyp, den wir auf Tarotkarten finden. Selbst das Neue Testament spricht von »Narren 19 In den »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola ist die Unterscheidung der Geister die zentrale Übung.

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Christi« (1. Kor 4, 10). Vielleicht haben Sie Lust, sich auf diesen Narren einzulassen und mit dieser Haltung zu experimentieren, die uns ein kreatives Gegenüber sein lässt und zugleich kreative und authentische Antworten ermöglicht.

Die Sehnsucht nach Sinn – eine Kraft, die uns vorwärtsbringt Es gibt Zeiten im Leben, da braucht ein Coachee mehr als gute Analysen und Lösungsideen in seinem Coaching, sondern einen Raum, in dem eine ganz spezifische Tiefe des Suchens und Fragens möglich ist. Einen Raum, indem es nicht nur um den Arbeitsplatz und dessen Gestaltung geht, sondern um existenzielle Fragen wie: Bin ich an diesem Platz richtig? Wohin geht mein Sehnen, was will ich gestalten? Erfüllt mich meine Arbeit? Kann und will ich diese meine Firma in der eingeschlagenen Richtung unterstützen? Ist das, was ich tue, sinnvoll? Solche tiefgehenden Fragen werden meist durch Krisen ausgelöst: wirtschaftlicher, politischer oder persönlicher Art. Irgendwie spürt man, dass bestimmte Grenzen erreicht worden sind. Vielleicht kommt dem Coachee sein Leben vor wie Schuhe, die nicht mehr passen. Das Gehalt kann wunderbar sein, die Position einflussreich, aber die Freude an der Arbeit ist verflogen. Ich spreche hier nicht von dem sattsam bekannten Burnout-Syndrom: ausgepowert zu sein, nicht mehr schlafen zu können, sich selbst als wirkungslos zu erleben. Vielmehr meine ich ein bestimmtes oder auch diffuses inneres Gefühl, dass etwas im (Berufs-) Leben in eine Richtung läuft, wohin der Coachee nicht will. Dieses mögliche Erleben ist nicht nur ein individuelles, sondern kann von ganzen Systemen oder Teilsystemen geteilt werden.

Ein Fallbeispiel Das Leitungsteam eines Wohlfahrtverbandes kommt durch diverse wirtschaftliche und sozialpolitische Herausforderungen und Veränderungen immer weniger zu seinen Kernaufgaben. Immer mehr juristische Fachfragen sind zu lösen und administrative Vorgänge zu erledigen. Das Team beantragt ein Coaching beim Arbeitgeber. Dieser empfiehlt allerdings eine Fortbildung in Zeitmanagement zur Effektivitätssteigerung, genehmigt jedoch das Coaching als zusätzliche Maßnahme. Nun wurde ein Coach gesucht, der oder die bereit wäre, mit dem Team konzeptionelle Überlegungen anzustellen, Sinn und Ziele der Arbeit zu reflektieren und das Erleben der Teammitglieder in den Mittelpunkt zu stellen. In den folgenden Coachings sollte es demnach nicht nur um das Auspacken von Unzufriedenheit gehen, sondern eine Ebene gefunden werden, auf der die Teammitglieder in die Tiefe gehen können, dabei ihre Lebendigkeit wiederzuentdecken und zu frischer Kreativität angeregt zu werden. Gleichzeitig kann es um das »Transzendente«, die Sinn- und Wertdimension der Arbeit gehen, so dass der sozialpolitische und auch spirituelle Auftrag der Einrichtung im Kontext der heutigen Zeit in den Blick kommen.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Auf dem Hintergrund der über das Alltagsgeschäft hinausgehenden Fragestellung fand das Team innovative Antworten, die über den eigenen Bereich hinausgingen, zugleich realistisch, innovativ und spannend waren. Gleichzeitig konnten sich die Teilnehmer des Coaching wieder besser mit ihrer Arbeit identifizieren, was sich konstruktiv mit der Offenheit des Arbeitgebers für Veränderungskonzepte verband. Sie erlebten sich nicht nur wieder als selbstwirksam, sondern zugleich kam es damit zu einem positiven Veränderungslernen in diesem Teilsektor des Verbands. Konkret: Es wurde nach neuen Geldquellen für Projekte gesucht und Neuanstellungen wurden gewagt. Das Team erlebte sein Tun wieder als sinnvoll gleichzeitig hatte es der Organisation wertvolle Anstöße zur Weiterentwicklung gegeben. Erlebter und gespürter Sinn konstituiert Systeme, hält sie zusammen und lässt sie wachsen. Sinn wirkt wie eine implizite Kraft, die dem Ganzen wichtige Impulse gibt und dazu ermutigt, Schritte in eine neue Richtung zu gehen.

Kontext und System Um so etwas wie spirituelle Obertöne zu ermöglichen, sind im Coaching über Wissen, Erfahrung und Handwerkszeug hinaus weitere Gesichtspunkte wesentlich: der Kontext eines Coaching und die konkrete, erlebte Situation im Coaching. Der Kontext, in dem ein Coaching stattfindet, besteht aus verschiedenen Systemen, die alle auf die Situation einwirken: zum Beispiel das System der Beratung selbst, also Coach und Coachee. Weiter die Organisation mit ihren Strukturen, in der die Problemstellung entstand, das private System des Coachee, das wirtschaftliche und politische System und schließlich das Sinnsystem mit seinen Grundwerten und inspirierenden Idealen. Nicht zu vergessen die speziellen Mythen der Firma. Hier ist ein Coach gefragt, der die spirituellen Obertöne von Fragestellungen heraushört und bereit ist, mit ihnen zu arbeiten. Auf Spiritualität abzielenden Fragen könnten sein: –– Welches umfassende Ziel hat Ihre Firma? –– Was ist Ihre Firmenphilosophie? –– Welchen Anfängergeist hatte sie und ist der noch lebendig? –– Weist die Einrichtung über sich hinaus? –– Welchen Platz haben Mitarbeiter und Kunden? –– Steht der Mensch wirklich oder nur auf Ihrem Leitbild im Mittelpunkt? Oder ist er lediglich Mittel zum Zweck?

Fallbeispiele Die zwei Chefs einer mittelständischen Firma stecken in einer Sackgasse. Dafür werden folgende Gründe angeführt: Die Verkaufszahlen seien rückläufig und die Arbeitsbelastung sei zu ungleich verteilt. Chef A habe schon lange nicht mehr genügend Motivation, nur Chef B sei Chef, Motor, Verkaufsleiter und Visionär. Wie auch immer: Irgendwie

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war die Luft draußen, es fehlte an Ideen, Schwung und Zielen. Der wirtschaftliche Erfolg war abhandengekommen. Zunächst sollte es im Coaching um bessere Kommunikation und gerechtere Arbeitsverteilung zwischen beiden gehen. Beide spürten, dass die dauernde Auseinandersetzung nicht weiter führte: Chef A hatte genau feststehende Vorstellungen davon, wie sein Partner zu arbeiten hätte; Chef B hingegen fühlte sich nur als unzulänglich und mangelhaft kritisiert. Zu einer ersten Veränderung kam es, als im Coaching der Anfängergeist zum Thema wurde. Was inspirierte die beiden Firmengründer damals, was waren da ihre Ziele und was hat sie erfolgreich gemacht? Wo ist nun die Begeisterung abgeblieben? Es stellte sich heraus, dass der heute »mangelhafte« Chef der ehemalige Visionär der Firma war. Mit seiner etwas merkwürdigen Art, Ideen zu generieren, hatte er die Gründung und den Aufstieg der Firma beflügelt. Als dies im gemeinsamen Coaching wieder vergegenwärtigt wurde, kamen sein Stolz und auch sein Kompetenzgefühl zurück. Alle Beteiligten, einschließlich er selbst, erlebten ihn plötzlich aufgeweckt, erfrischt, hoffnungsvoll, wach. Ein Gefühl von »Ja, so könnte es wieder gehen«. Den Anfängergeist eines Systems zu befragen, ist eine Möglichkeit, mit dem latenten Sinnsystem in Kontakt zu kommen. Dazu gehören Fragen wie: Woher kommen wir eigentlich? Wo wollten wir hin? Was sind unsere Kernkompetenzen? Was können wir, was andere nicht können? Wo sie nicht gestellt werden, ist es für Coachees schwer, in festgefahrenen, scheinbar aussichtslosen Situationen neue Hoffnung zu schöpfen. Um diese Hoffnung wiederfinden zu können, ist – wie unser Beispiel zeigt – eine Fragerichtung hilfreich, die solche spirituellen Obertöne anspricht. Wie wichtig es für Arbeitszufriedenheit und Motivation eines Mitarbeiters ist, sich mit den Idealen, Zielen und Werten – sprich der Firmenphilosophie – zu identifizieren, soll das nächste Beispiel zeigen. Herr O., Mitarbeiter im mittleren Management, war sehr zufrieden mit seiner Arbeit und auch irgendwie stolz auf seine Firma. Er bewarb sich jedoch aus Gründen eines möglichen Karrieresprungs bei einer Tochterfirma. Es war ein guter Zeitpunkt für ihn, etwas Neues zu wagen. Die beiden Firmen standen im Ruf der Mitarbeiterfreundlichkeit und optimaler Teamarbeit; selbständiges und innovatives Arbeiten war erwünscht. So hatte es Herr O. auch selbst erfahren. Nach einer ersten Zeit im neuen Job meldete er sich zu einem dringenden Coaching, da er seine Wahrnehmung überprüfen wollte: Diese Tochterfirma schien ganz anders zu ticken, als er es sich vorgestellt hatte. Die Ideale waren in seiner Wahrnehmung nur Papier. Die Chefetage hatte einen isolierenden, kontrollierenden Leitungsstil, was aber vertuscht und verleugnet wurde. Vom alten Geist der Firma war hier nichts mehr zu spüren. Nach dieser Entmystifizierung suchte Herr O. ernüchtert nach Lösungen, denn hier fühlte er sich fehl am Platz und sah in seiner Arbeit keinen rechten Sinn mehr, obwohl er die Karriereleiter hochgeklettert war. Er entschied sich für die alten Ideale, tatsächliche Teamarbeit, innovatives Arbeiten in menschenfreundlicher Atmosphäre.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Die spirituelle Dimension jedes Systems kann im Coaching angefragt werden. Sie kann – wie im letzten Beispiel angedeutet – ein über das System hinausweisendes Ziel sein, etwa eine gute Arbeitsatmosphäre, verbunden mit demokratischen Strukturen. Werden sie im Coaching-Prozess neu entdeckt, sorgen sie für Inspiration und ermöglichen Veränderungsschritte.

Methodisches (1): der Kontext Um den Kontext einer Beratung genauer in den Blick nehmen zu können, arbeite ich gern mit einem Systembrett. Damit kann die spirituelle Dimension externalisiert, also zu einem Objekt gemacht, ein Etwas werden. Über diese Visualisierung und Verortung wird offensichtlich, wie das System aussieht und wie es um die Beziehungen darin steht. Herr O. betrachtete mit Hilfe des Systembretts sein altes Team und seine neue Abteilung. Dabei wurden die sinnstiftenden Werte als Firmenphilosophie zu diesem Etwas gemacht und neben den Personen auf das Brett gestellt.20 Zuerst das alte Team – das Team der Zufriedenheit (Abb. 1):

Abbildung 1 20 Mit Hilfe eines Systembretts können Systeme sichtbar gemacht werden. Ähnlich wie auf einem Schachbrett werden Figuren aufgestellt. Dabei sind sowohl der Blickwinkel als auch der Abstand von Bedeutung. Es gibt nur vier Unterschiede: kleine, große, runde und eckige Figuren. Das Brett ist quadratisch (ca. 50 x 50 cm) und hat am Rand eine Grenze, so kann Zugehörigkeit markiert werden. Die Arbeit mit diesem Brett dient dem Überblick und erleichtert Zugang zum Thema.

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Die Firmenphilosophie war im Zentrum und für alle Teammitglieder sichtbar. Der Chef zugehörig und nah.

Abbildung 2

Nun die neue Abteilung und das Pseudoteam der Tochterfirma (Abb. 2): Die Firmenphilosophie war außerhalb des Systems, fast schon vom Brett gerutscht und schwebte gleichsam nach außen, der Blick nach außen gedreht, und der Chef auch außerhalb. Die Arbeit mit dem Brett half Herrn O., seine inneren Eindrücke sichtbar zu machen, sie gleichsam sinnlich erlebbar werden zu lassen.

Methodisches (2): die Situation – In innerer Achtsamkeit mit dem Erleben arbeiten Der Kontext des Teams war nun herausgearbeitet. Der nächste Schritt ist für mich die Frage, was diese Klarheit hier und jetzt im Raum mit mir, dem Coach, in der konkreten, körperlich erlebten Situation bei Herrn O. bewirkt. Deshalb folgten Fragen zur gegenwärtigen Situation hier und jetzt; beispielsweise die Frage danach, was im Moment die Erkenntnis über den Unterschied der zwei Teams in ihm bewirkt oder der Irrtum, sich auf die neue Stelle beworben zu haben etc. Herrn O. halte ich an, das Ganze seiner Eindrücke und Gefühle auf sich wirken zulassen. Für mich ist es spannend, mit in der Situation zu sein, und ich frage mich, was Herr O. wohl fühlen, denken, bewerten wird, was geschieht, wenn er in einer achtsamen Weise bei dem bleibt, was immer entsteht.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Die ganze Situation ist nun im Körper des Coachee anwesend. Es folgt die Aufforderung: »Stellen Sie sich in Richtung Körper die Frage: Wenn ich mit dem Ganzen verweile, was entsteht in mir zu dem Ganzen? Welches Bild, welche Überschrift?« Nach einer Weile des Wartens auf den Magic Moment entsteht in Herrn O. das Bild eines Fesselballons. Herr O. saß im Korb und holte die alten Werte vom Himmel herunter, in den Alltag des neuen Teams. Nach einem Impuls gefragt, sagte er: » Ich bin ein Kämpfer, nicht aufgeben, ich gebe mir zwei Jahre.« Er kostet im ganzen Körper und zugleich im Atem die Energie und die Kraft dieser von innen entstandenen Antwort aus. Als konkreten Handlungsschritt schlug er vor: »Ein Betriebsausflug in einem Fesselballon oder Ähnliches.« Herr O. war ernüchtert und zugleich hellauf begeistert.

Zum Schluss Tipps für achtsamkeitsbasiertes Coaching: –– sei dir immer des Kontextes der Arbeit bzw. der Fragestellung bewusst; –– bringe den Kontext in die Situation, konkret in den Beziehungsraum mit dir und deinem Coachee; –– bleibe achtsam für euer gemeinsames Erleben und eure körperliche Gegenwart. Kontext und Situation sind zwei bedeutungsvolle Säulen für das Arbeiten mit der spirituellen Dimension im Coaching.

Vorlage zur Selbstbefragung – Fragen zum Sinn-Kontext 1. Wie ist der Kontext meiner Fragestellung? In welchem System arbeite ich? Wie beeinflusst das größere System (z. B. Politik, Finanzen etc.) mein System? Wie wirkt mein privates System in meine Fragestellung? 2. Welche Ziele, Hoffnungen nehme ich bei den jeweiligen Systemen wahr? Welchen über sie hinausweisenden Sinn? Habe ich ein Bild, eine Metapher, ein Symbol für diese Ideale? 3. Werden diese Ideale gelebt oder sind sie zum Mythos geworden? 4. Was sind meine persönlichen Ziele, die ich in meiner Arbeit verfolge? Welche Werte sind mir wichtig? 5. Was stiftet mir Sinn? (z. B. Freunde, Leistung, Erfolg, Partnerschaft, Kinder … welche Reihenfolge stimmt für mich?)

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Der Krealog fürs Coaching21 Nicht immer steht bei Bedarf ein Coach für die Führungskraft oder ein Supervisor für den Coach zur Verfügung. Der Krealog ist ein Werkzeug zur Selbsthilfe, ein Tool für Selbst-Empowering und auch für kollegiale Unterstützung bzw. Co-Counceling. Der Krealog-Leitfaden eröffnet Ihnen zunächst verschiedene Perspektiven zu einem bestimmten Thema in Ihrem Arbeitszusammenhang. Sodann werden Sie in den Bewusstseinszustand der Inneren Achtsamkeit eingeladen, um die verschiedensten Bereiche, Beziehungen etc. miteinander zu kreuzen, um so einen kreativen (daher auch Krealog!) Prozess vorzubereiten. Anschließend werden Sie zu hier und jetzt für Sie stimmigen Haltungen, neuen Bildern und kleinen konkreten Handlungen angefragt werden.

Der Leitfaden zum Krealog Für den Krealog22 mit sich selbst benötigen Sie Schreibzeug und Stift. Bitte schreiben Sie kurz und knapp Stichpunkte zu den verschiedenen Fragen auf. Das Schreiben hat den Sinn, den Prozess zu verlangsamen. Zugleich können Sie später alles noch einmal nachlesen. Und es wird damit die Entstehung einer körperlichen Resonanz unterstützt. 0. Freiraum schaffen: steigen Sie aus Ihrem gegenwärtigen Tun aus. Bewegen Sie sich oder setzen Sie sich gemütlich hin, atmen Sie durch, strecken Sie sich … 1. Was ist Ihr Thema, mit dem Sie jetzt eine Runde gehen wollen? 1.1 Was ist die Crux (das Problem im Problem) Ihres Problems? 1.2 Was ist Ihr Wunsch, Ihr Ziel mit dem Problem? 2. Welche Gefühle löst dieses Problem bei Ihnen aus? Welche Körperempfindungen löst dieses Thema im Moment aus? Wo im Körper bemerken Sie es gerade? 3. Welcher Kontext ist mit Ihrem Thema verbunden: 3.1 Wer und welche Beziehungen sind mit dem Thema verbunden? 3.2 Welche Organisationsstrukturen (über- und untergeordnete) sind mit dem Thema verbunden? 3.3 Wer alles hat Macht und/oder Entscheidungsbefugnis, um auf das Thema bestimmend einzuwirken? 3.4 Welche Ihrer Werte und Ideale sind mit dem Thema verbunden? 3.5 Welchen Nutzen hätten Sie persönlich von der Bewältigung, von der Lösung?

21 Eine ausführliche Beschreibung des Krealogs in: S. Bickel-Renn, K. Renn (2011). Küsst die Liebe wach. Der kreative Dialog für Paare. Stuttgart: Klett-Cotta. Alle Rechte für die Krealog-Leitfäden liegen bei den Autoren. 22 Dieses und andere Krealog-Formulare können Sie kostenlos downloaden: www.secret-friend.de

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

4. Mit der Intuition zaubern: 4.1 Halten Sie inne, lesen Sie sich Ihre Stichpunkte, wenn es die Umstände erlauben, laut vor – so, als ob Sie sich von innen zuhören könnten. 4.2 Lehnen Sie sich zurück, nehmen Sie eine entspannte Haltung ein und lassen Sie alles, was Sie eben gelesen, gehört haben, auf sich wirken. Nehmen Sie die Aufmerksamkeit in den Brust- und Bauchraum und lassen Sie die verschiedenen Aspekte ein Ganzes werden. Nehmen Sie noch all das dazu, an was Sie nicht gedacht haben, auch alles, was Sie nicht wissen und auch nie wissen werden. Nehmen Sie alles dazu, was mit dem Thema zu tun hat. Lassen Sie das alles ein Ganzes werden … Und nehmen Sie auch alles, was sich zukünftig aus dem Thema noch ergeben könnte, mit dazu, all die unbekannten Entwicklungsmöglichkeiten … Schweben Sie über diesen verschiedenen Aspekte und verweilen Sie ca. eine Minute dabei. Vielleicht entsteht in Ihnen ein vages Gefühl, irgendein Geschmack von dem ganzen Thema … 4.3 Nun können Sie sich Fragen in Richtung Brust und Bauchraum stellen. Sie fragen sich nach innen und warten eine kleine Weile auf das, was immer in Ihnen entsteht: 4.3.1 Welches Bild entsteht in Ihnen zum Ganzen des Themas? 4.3.2 Oder welche Überschrift bildet sich dazu? 4.3.3 Wieder in Richtung Körper gefragt: Was brauche ich von mir (für mich selbst) bei und mit diesem Thema? Oder: Was brauche ich von mir selbst, da dieses Thema nun mal da ist? 5. Welche Geste oder Körperimpuls entsteht zu dem Thema? Wonach ist Ihnen körperlich zumute? Welche (Körper-)Haltung haben Sie zum Thema? 6. Was wäre ein ganz kleiner Handlungsschritt, der in Ihnen gerade entsteht, während Sie weiter ihre Aufmerksamkeit im Körper halten? Was könnten Sie in den nächsten Minuten mühelos in Bezug zu dem Thema tun? 7. Fragen Sie sich, was jetzt möglicherweise anders ist, was Ihnen als neu, als noch nicht Gewusstes entstanden ist. Verweilen Sie noch kurz anerkennend mit sich selbst – und tun Sie bitte Ihre Mini-Handlung. 8. Machen Sie dann, was immer dran ist …

Literatur Bickel-Renn, S. (2010). Wenn es »klick« macht: Intuition und innere Achtsamkeit in der systemischen Praxis. Kontext – Zeitschrift für Systemische Therapie, 3, 189–199. Bickel-Renn, S., Renn, K. (2011). Küsst die Liebe wach. Der kreative Dialog für Paare. Stuttgart: KlettCotta. Fuchs, T. (2008). Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays. Kusterdingen: Die Graue Edition. Fuchs, T. (2010). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer. Gendlin, E. T. (1998). Focusing. Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Reinbek: Rowohlt.

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Klaus Renn und Silvia Bickel-Renn: Innere Achtsamkeit in Kontext und Situation

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Renn, K. (2006). Dein Körper sagt dir, wer du werden kannst. Focusing. Weg der Inneren Achtsamkeit. Freiburg: Herder. Renn, K. (2011). Focusing: Psychotherapie in innerer Achtsamkeit. In L. Reddemann (Hrsg.), Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (S. 84–94). Stuttgart: Kohlhammer.

Klaus Renn, Approbierter Psychotherapeut, Focusing-Therapeut, Coach. Er leitet mit Johannes Wiltschko das Deutsche Ausbildungsinstitut für Focusing und Focusing-Therapie (DAF) in Würzburg und die Internationale Focusing-Sommerschule, gemeinsam entwickel(te)n sie Focusing zur Focusing-Therapie. Er lernte Focusing bei Eugene Gendlin und Friedhelm Köhne und ist Koordinator am Focusing Institute New York. Er sieht im Focusing einen Weg, der es in Psychotherapie und Coaching ermöglicht, östliche und westliche körperorientierte Achtsamkeitspraktiken sowie analytische, verhaltenstherapeutische und systemische Konzepte fließend in den Veränderungsprozess zu integrieren. www.focusing-daf.de Silvia Bickel-Renn, Diplom-Pädagogin, Lehrtherapeutin (DGSF), Familien- und Systemtherapeutin
(DGSF), Approbation als Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin, heilkundliche Erlaubnis für
Psychotherapie mit Erwachsenen, Supervisorin (DGSF). Sie arbeitet in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Paar- und Einzeltherapie, Supervision und Coaching. Zusammen mit Sylvia Betscher-Ott leitet sie das Würzburger Institut für systemisches Denken und Handeln (systemische Weiterbildungen). Sie bildet Kollegen zu Ehe-, Familien- und Lebensberatern aus. Integration von
körperorientierten Verfahren:
Focusing, Körpertherapie, Tanztherapie, Systemische Familienaufstellung. www.wuerzburger-institut.de

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Eine spirituelle Perspektive im Ansatz des hypnosystemischen Coaching Gunther Schmidt im Interview 23

M. H.: Welches Verständnis von Spiritualität hast du – allgemein und in deiner Rolle als Berater und Coach? G. S.:24 Der Begriff Spiritualität ist natürlich mittlerweile etwas inflationär geworden, denn wenn ich sage, ich bin spirituell, was heißt das konkret? Ich spreche eher von Erfahrungen, die über die Gewohnheitswirklichkeit, ein Begriff, den Bernd Schmid einmal geprägt hat, hinausgehen, in denen das Ich in einen größeren Zusammenhang transzendiert wird. Wie man sich diesen Zusammenhang vorstellt, kann unterschiedlich sein, also ob man das als Kosmos, das Göttliche oder ein Eingebettetsein in eine Gemeinschaft erlebt. Die Zuordnungen sehe ich eher als persönliche Deutung. Der Bezug auf eine göttliche Entität oder Ähnliches wäre für mich eher die Frage einer persönlichen Wahl für eine bestimmte Weltsicht. Da solche Fragen, um mit Heinz von Foerster zu sprechen, prinzipiell unentscheidbar sind, gibt es hier für mich keine verbindliche Aussage darüber, wie es wirklich ist. Aber die prinzipielle Erfahrung, die über das normale Ich-Erleben hinausgeht und es in einen größeren Zusammenhang bringt, wäre für mich eine spirituelle Qualität. Diese Erfahrung ist trotzdem immer noch sinnlich repräsentiert, geht aber über die gewohnten Qualitäten der Sinneswahrnehmung hinaus. Selbst außergewöhnliche Erfahrungen, wie Nahtoderlebnisse oder out-of-body-experiences, die ich selbst schon erlebt habe, brauchen als Kontrast die Körperempfindung, denn man nimmt ja irgendwie wahr. Ich glaube nicht, dass ich diese Erfahrungen auf etwas außerhalb der Sinne zurückführen könnte, auch wenn ich es so erlebe – aber das bleibt letztlich offen. In Coaching und Beratung verändert dies dann die Sichtweise, die ich auf den Coaching-Prozess habe. Gerade in der lösungsorientierten Szene erlebe ich oft eine sehr technische, pragmatische Ausrichtung – wenn ich zum Beispiel Steve de Shazer gefragt habe, wie er sich die Probleme der Menschen erklärt, sagte er nur lapidar »shit happens«. Mit dieser Herangehensweise hat man eher eine Art Techniker-Auftrag für die Beseitigung eines Problems, der Rest, der damit zusammenhängt, ginge mich als Coach nichts an. Aus meiner hypnosystemischen Sicht jedoch verstehe ich ein Problem, 23 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 14. Februar 2012 in Heidelberg geführt. 24 M. H. = Markus Hänsel. – G. S. = Gunther Schmidt.

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unter dem jemand leidet, eher als ein kluges Feedback aus dem unbewussten Wissen, das anzeigt, dass es an etwas Wichtigem mangelt. Im Coaching kann ich dann helfen, zu übersetzen, welche wertvollen Informationen und Kompetenzen aus dem Problem herausdestilliert werden können. Wenn man so mit Menschen arbeitet, kommt man häufig auf zentrale Sinnfragen zu sprechen. Denn die ursprünglichen Sehnsüchte und Bedürfnisse danach, was später zu Problemen führt, sind oft transzendierende Erfahrungen, die über das Ich hinausgehen und in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Im Beratungskontext muss ich diese Themen natürlich mit einem Auftrag in Verbindung bringen. Das heißt, ich muss abwägen, ob ich schon einen Auftrag in die Richtung habe, ob ich den eventuell akquirieren will oder ob ich das Thema überhaupt ansprechen möchte. Nehmen wir an, es käme jemand mit einer Burnout-Problematik, was ja zunehmend häufiger vorkommt. Wenn wir dann übersetzen, wofür diese Symptome da sein können, entsteht fast immer eine Sinnfrage: »Hat das, was ich hier tue und getan habe, noch Sinn?« Fast alle Fälle von Burnout-Symptomatik, von denen ich in der Klinik aktuell sehr viele erlebe, haben auf den ersten Blick mit einer Überforderung von außen zu tun – aber wenn man die Prozesse, wie es dazu kam, rekonstruiert, dann sieht man, dass die eigentliche Erschöpfung aufgrund eines inneren Kampfs im Umgang mit den äußeren Bedingungen entsteht. Eine Seite der Menschen sagt meistens schon lange »Das hat keinen Sinn mehr, so geht’s nicht weiter« – aber eine andere Seite, die eher aus der Sozialisation und den Erwartungen der anderen kommt, versucht gegen diese Sinnfrage anzugehen, verbunden mit Angstfantasien, was passiert, wenn man bestimmten Anforderungen nicht gerecht wird. Das ist, wie wenn zwei Seelen miteinander ringen, und die ganze Energie, die in diesem inneren Kampf verbraucht wird, führt zur Erschöpfung. Darin liegt dann schließlich auch die Lösung. Die Burnout-Situation wird wie eine Aufgabe, die zur Frage führt, was denn im Leben wieder Sinn und Erfüllung geben würde – also eine Krise, die eine Chance enthält, wenn man sie zum Ausgangspunkt für eine neue Sinnbestimmung macht. Die Frage nach einem neuen Sinn ist allerdings nicht immer leicht zu beantworten, da der Druck der Anforderungen von außen ja nicht weg ist. Ich würde mich daher als Coach auch nicht einseitig für diese sinnorientierte Seite oder andere spirituelle Aspekte einsetzen, sondern immer schauen, wie die mit anderen Teilen des inneren Systems in eine gute Balance kommen. Wenn wir also nur lösungsorientiert fragen, woran wir das gewünschte Ziel erkennen würden, und darauf hinarbeiten, reicht es noch nicht aus. Fragen wir dagegen, was die innere Seite, die nicht auf die Sinnfrage gehört hat, eigentlich will und sich ersehnt, dann kommt oft eine Botschaft nach dem Motto: »Wenn ich alles geleistet habe und allem gerecht geworden bin, kann ich endlich loslassen und entspannen.« Wenn man dieser Sehnsucht weiter folgt, führt sie in der Fantasie meist dahin, dass, wenn alles geleistet ist, man endlich angenommen ist, eine bedingungslose Form der Liebe erfährt, Geborgenheit, ein Aufgehobensein, mit der Bestätigung, etwas wirklich Sinnvolles getan zu

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haben. Nur der Lösungsweg, um sich diese Sehnsüchte zu erfüllen, den die Menschen oft unbewusst gewählt haben, war eben, sich auszubeuten. Im Beratungsprozess zeigt sich also oft, dass beide Seiten die gleichen Sehnsüchte nach Verbundenheit und Sinnentfaltung haben. M. H.: In deinem Ansatz geht es also darum, die Verbundenheit und Integrität des Menschen mit sich selbst wiederherzustellen, also eher im Innen als im Außen? G. S.: Wenn man aus der Tradition der Erickson’schen Hypnotherapie eine erfüllende Trance-Erfahrung macht, dann geht diese Erfahrung damit einher, dass eine bestimmte Beziehungsgestaltung zwischen dem bewussten, kognitiven Teil und dem umfassenden, unwillkürlichen Teil des Menschen entsteht. Das Gewohnheits-Ich ist also durchaus noch anwesend, aber eingebettet in einen größeren Zusammenhang. Das Ich versucht nicht mehr die Kontrolle zu behalten, sondern kann sich dieser Weisheit des Unwillkürlichen anvertrauen. Es geht dabei um die grundlegende Interaktionshaltung, dass sich das Ich einer größeren Kraft anvertraut, in dem Vertrauen, dass dies eine gute Wirkung hat – ganz gleich, ob man diese Kraft dann das Unbewusste, Gott oder Kosmos nennt, das Entscheidende wäre dieses Interaktionsmuster. Da bedingen sich Innenund Außenwelt, denn wenn die Integration im Inneren nicht gelingt, wird auch die Erfahrung einer Verbundenheit im Außen nicht gelingen. Die Voraussetzung ist diese integrierende Erfahrung, in der es um die Synergie unterschiedlicher Bereiche geht, sowohl im Innen wie im Außen. M. H.: Du hast dieses Prinzip der Utilisation, also das Nutzen, gerade von Problemerfahrungen, auf die Frage nach dem sogenannten Bösen bezogen, als ein Konstrukt, das eher die Trennung fördert. Wie hast du das gemeint? G. S.: Diese Vorstellung des sogenannten Bösen gibt es ja nur, wenn es auch das Gute gibt, beides steht dialektisch in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Etwas wird zum Bösen, wenn es eine Bewertungsinstanz in uns gibt, die sich dann der anderen Seite zuwendet, also eine Spaltung herstellt, die meist einen hohen Preis hat. Diese Spaltung bewirkt also das Gegenteil der Integration, in dem Moment, in dem wir das Gute schaffen, erschaffen wir gleichzeitig das Böse. Das Prinzip der Utilisation würde also versuchen, wieder eine Beziehung aufzubauen zu dem, was man ablehnt und als Symptom oder Problem weghaben will, so dass wieder eine Kooperation möglich wird. Sonst entsteht daraus eine Art Guerilla, die unterdrückt oder ständig kontrolliert werden muss, was enorm anstrengend ist und meist ohnehin nicht klappt. M. H.: Du bist ja in einer Doppelrolle als Berater/Coach und gleichzeitig als Führungskraft in deiner Klinik tätig. Wo begegnen sich Führung und Spiritualität und welche Rolle hat darin der Berater, der ja oft Führungskräfte als Kunden hat? G. S.: Wenn ich mit mir selber anfange, kann ich sagen, dass ich durch die hohe Arbeitsanforderung aufgrund der Erweiterung der Systelios-Klinik natürlich auch oft

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an meine Grenze komme. Gleichzeitig hat mich das nie wirklich belastet oder gestresst, weil ich immer diesen Sinnaspekt sehen konnte, als eine Art Leuchtfeuer, wofür ich das Ganze mache. Die Sinnkomponente gibt mir also Orientierung und vor allem auch eine Würdigung für das, was ich mache – dann kann es immer noch manchmal zu viel sein, aber es kostet in diesem Sinne keine Mühe. Das hat weniger mit der Quantität der Arbeit oder den Inhalten zu tun als eben damit, dass es einen klaren Sinnbezug gibt. Das erlebe ich sehr ähnlich im Coaching von Führungskräften, die ja immer bestimmte Ziele anstreben, die den Sinn für ihre Tätigkeit ausmachen. Dieser Zielbezug, der ja auch den Sinn der Beratung ergibt, kann unterschiedlich weit gefasst sein. Oft stehen am Anfang eher pragmatische Ziele, etwa wenn eine Führungskraft effektiver im Umgang mit Mitarbeitern sein will. In der Auftragsklärung kann ich dann nachfragen, ob es für denjenigen auch nützlich wäre, dieses Ziel in einem größeren Zusammenhang zu sehen, also wofür will er oder sie das, warum ist das wichtig. Dafür werbe ich dann gerne, weil nach meiner Erfahrung dieser größere Sinnbezug eine Kraftbasis und Rückenstärkung für die Führungskraft darstellt. Wenn jemand allerdings nicht interessiert ist, werde ich auch niemanden behelligen – aber nach meiner Erfahrung ist das Interesse, mit diesen Themen zu arbeiten, deutlich größer geworden. Viele Menschen fragen sich, vielleicht auch auf dem Hintergrund dieser verschiedenen Krisen der letzten Zeit, wofür sie eigentlich so immens viel arbeiten, sie kommen sich vor wie in einer großen Tretmühle und laufen wie automatisiert immer weiter. Da ist es eine Erleichterung, diese Dynamik und die Frage nach dem Sinn des Ganzen überhaupt erst mal anzusprechen. Mir ist nur als Coach wichtig, solche Themen immer auftragsbezogen einzuführen, daher verwende ich gerne zunächst hypothetischen Fragen, also wenn wir uns damit beschäftigen würden, wie würde sich das auswirken – wenn jemand dann eine positive Wirkung für sich sieht und sein Einverständnis gibt, kann ich einen Auftrag in diese Richtung einholen. M. H.: Siehst du die Beschäftigung mit dem Sinn und Spiritualität eher als Thema von Einzelnen an oder auch als Thema der Organisationen, als wesentlichen Kontext für Führung und für viele Coaching- und Beratungsprozesse? G. S.: Ich erlebe da mehr Offenheit, seitdem Themen wie Stakeholder-Value stärker geworden sind. Auch in Organisationen fragen sich die Menschen, durch den Einfluss der Krisen, in welchem Spiel sie eigentlich mitwirken, wenn eine bestimmte Art zu wirtschaften eigentlich nicht mehr für die Menschen da ist, sondern wie ein Moloch alle Ressourcen, auch die Menschen, im Dienste einer Profitmaximierung verschleißt. Ohne da in sozialistische Klischees zu geraten, fragen sich anscheinend bei dieser Form von Kapitalismus zunehmend mehr Menschen nach dem Sinn dieses gesamten Systems. Auch die, die nicht direkt von einer Krise betroffen sind, nehmen ja Anteil durch die Medien, durch Freunde, Verwandte. In den Organisationen entsteht dann oft eine ähnliche Spaltung wie in den Menschen, denn schließlich muss ja Geld zum Überleben verdient werden, gleichzeitig wird immer fraglicher, ob das Ganze auch

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eine sinnerfüllende Tätigkeit ist. Die Menschen, denen ich in der Beratung begegne, erleben daher mehr Entfremdung als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, was auch mit einem Verlust von Loyalität zur Firma und des Gefühls, die Firma ist loyal zu den Mitarbeitern, einhergeht. M. H.: Das betrifft ja das eingangs erwähnte Prinzip der Verbundenheit – kann man als Berater, aus einer spirituellen oder auch einer systemischen Haltung, damit arbeiten bzw. bekommst du dafür von einer Organisation dazu einen Auftrag? Oder musst du als Berater in solchen ethischen Fragen völlig neutral bleiben? G. S.: Im Gegensatz zu der Auffassung, dass der Berater immer neutral bleiben sollte, die gerade im systemischen Kontext häufig besteht, bin ich dagegen der Überzeugung, dass wir viel mehr Stellung beziehen sollten. Denn wenn ich Beratung in einem größeren Kontext verstehe, in dem ich natürlich selbst auch enthalten bin, dann betrachte ich natürlich auch genau, woran ich mitwirke – und ich persönlich will nicht an allem mitwirken –, und ich muss mir, wie bereits gesagt, einen Auftrag so akquirieren, dass ich damit auch wirklich arbeiten kann. Wenn ich zum Beispiel von Firmen zu dem Thema Burnout eingeladen werde, dann sind die durchaus daran interessiert, mit diesem Thema institutionalisiert zu arbeiten. Aber der erste Impuls ist natürlich nicht eine Sinnfrage, sondern der pragmatische Versuch, zum Beispiel die Fehlzeiten zu reduzieren. Wenn ich dann vor Ort Beispiele einbringe, die zeigen, dass die Menschen nicht aus individuellem Versagen in ein Burnout geraten, sondern weil sie in dem Wechselspiel mit den Anforderungen der Organisation in eine Sinnkrise kommen, ist diese Sichtweise meist nachvollziehbar und es entstehen die Offenheit und Bereitschaft, die Sinnkomponente und auch Aspekte wie Sicherheit und Zugehörigkeit als Teil einer Burnout-Prophylaxe einzubeziehen. M. H.: Du würdest also davon ausgehen, dass der Berater durchaus ein bestimmtes ethisches Selbstverständnis einbringen kann, wenn er es transparent macht? G. S.: Ich stehe auf dem Standpunkt, dass man keine kraftvolle Beziehung mit jemandem leben kann, wenn die Beteiligten nicht klar Stellung beziehen. Deswegen glaube ich, dass man in einer Beziehung nie wirklich neutral sein kann. Für mich ist die Frage aber auch weniger, ob man als Berater neutral ist oder nicht, sondern eher, ob man transparent ist, in der Selbstverantwortung bleibt und Beziehungsangebote mit Wahlfreiheit macht. Dann kann ich durchaus sagen, hier stehe ich, werbe für meinen Standpunkt und respektiere gleichzeitig einen anderen Standpunkt meines Gegenübers. Dafür gibt es diesen schönen Begriff des Realitäten-Kellners. Letztlich ist Beratung immer eine Art Joint Venture, ein gemeinsamer Prozess, in dem der Klient natürlich die Autorität für seine Ziele ist. Der Berater hingegen ist von vornherein in einer Zwickmühle, denn um überhaupt wirksam zu werden, muss er in der Beratung ein Produzent von Unterschieden sein. Diese passen aber eventuell noch nicht in das Weltmodell oder Identitätsschema des Auftraggebers. Wenn der Berater dagegen nur mit dem einhergeht, was

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der Auftraggeber einbringt, und keine Unterschiede bildet, wird er nicht nützlich sein, da keine neue Information entsteht. Wenn er also Unterschiede einbringt, ist er nicht mehr neutral, sondern parteiisch für seine Art der Unterschiedsbildung. Diese Zwickmühle wird dann konstruktiv aufgelöst, wenn man dem Klienten seine Sicht sozusagen als Multiple-Choice-Optionen anbietet und ihn dabei unterstützt, nachzuspüren, welche Option er als stimmigste empfindet und auswählt. Hier ist das Entscheidungskriterium wiederum ein sinnliches, was man in der Hirnforschung als somatischen Marker bezeichnet, das anzeigt, dass etwas Sinn hat. Dazu ist es sogar notwendig, dass der Berater klare Angebote macht und auch Ratschläge geben kann, wenn der Klient ihn dazu auffordert. M. H.: Das heißt, dass der Berater einen guten Zugang zu seinen eigenen inneren Wahrnehmungen und Impulsen haben sollte und ihnen auch vertrauen muss. G. S.: Ja, aber von der konstruktivistischen Denkrichtung her gehe ich davon aus, dass meine Eindrücke nicht von vornherein auch für den Klienten interessant und sinnvoll sind, sondern dass diese Bedeutung, wenn ich sie anbiete, im Dialog gegeben werden kann. Ich fordere daher mein Gegenüber immer auf, meine Ideen kritisch zu prüfen und dann auszuwählen. M. H.: Du arbeitest in Coaching und Beratung auch mit Träumen. Wie beziehst du das in die Arbeit ein? G. S.: Träume sind für mich ein Beispiel für die Interaktion zwischen Ich und Es. Ich verstehe Träume als Kontakt mit den intuitiven, unwillkürlichen Prozessen, die durchaus auch tagsüber aktiv sind, aber eben nachts während des Träumens intensiver erlebt werden. Auch der Traum ist eine Form der Erfahrung, die über das gewohnte Ich hinausgeht. Ich kann daher mit den Traumerfahrungen in eine dialogische Beziehung treten. Die Frage, was ein Traum per se bedeutet, ist dabei weniger sinnvoll als die Frage, welche Bedeutung ich ihm geben will – es geht darum, den Traum als eine vielschichtige Interpretationsebene und Projektionsfläche zu nutzen. In Träumen wird auch die Erfahrung des Eingebettetseins in einen größeren Zusammenhang meist viel sinnlicher und intensiver wahrgenommen. Das Erleben beim Träumen ist nicht »ich mache« den Traum, sondern vielmehr »ich werde gemacht«. Der Fokus liegt darauf, wie ich meine Träume als Begleiter und Botschafter aus dem klugen Unbewussten für den Alltag nutzen kann. Dadurch gebe ich dem Ich eine zweite Instanz, mit dem es in Dialog gehen kann. Ich biete den Menschen zum Beispiel an, Träume wie ein Symbol für Aufmerksamkeitsfokussierung mit in den Alltag zu nehmen und sich so einer vielschichtigeren Wirklichkeit anzuvertrauen. Letztlich sind das alles Ich-transzendierende Prozesse, die eine neue Beziehung der gewohnten Ich-Instanz zu einem größeren Zusammenhang, den wir hier eben das Unbewusste nennen, anlegen – der wiederum als Organismus in den weiteren Zusammenhang zum Beispiel der sozialen und ökologischen Umwelt eingebettet ist.

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M. H.: Eine solche Vorgehensweise wird auch Auswirkungen auf das Verständnis vom eigenen Ich haben. G. S.: Es gibt ja mittlerweile viele Hinweise aus der Hirnforschung, die zeigen, dass unser gewohntes Ich ebenfalls nur ein Konstrukt darstellt – ein eher fließendes und manchmal brüchiges Konzept. Eine spirituelle Frage wäre hier, wie kann ich mein Ich so erweitern, dass es einen bewussten Zugang dazu bekommt, selbst nur ein Konstrukt zu sein, das eine künstliche Trennung zu dem größeren Zusammenhang schafft. Diese Trennung ist durchaus notwendig für die Orientierung im Alltag, aber gleichzeitig ist sie ein selbstgeschaffenes Konstrukt. Hier gilt es, die richtige Balance finden, in der das Ich genug abgegrenzt ist und gleichzeitig die Wechselwirkung mit dem größeren Zusammenhang erleben kann. M. H.: Die Professionen Coaching und Beratung haben in den letzten Jahren ein enormes Repertoire an Wissen und Kompetenzen bezüglich Veränderung entwickelt – gleichzeitig stehen diese Ressourcen oft nur einer kleinen Gruppe von, meist zahlungskräftigen, Kunden zur Verfügung. Wäre es nicht notwendig, diese Ressourcen stärker in die Gesellschaft zu tragen? G. S.: In der Systelios-Klinik versuchen wir zum einen gerade einen Akademiebereich zu installieren, in dem solche Angebote gemacht werden. Zum anderen versuchen wir mit unseren Mitarbeitern, auch aus dem Servicebereich, in Meetings und anderen Kontexten, die alltäglichen Themen und Konflikte so anzusprechen, dass ein Bewusstsein und eine Selbstverantwortung für die Gestaltung von Wahrnehmung und Kommunikation entstehen. Das braucht natürlich Zeit, aber wir machen die Erfahrung, dass solche Impulse nach und nach in die Selbstorganisation der Mitarbeiter Einzug halten. Wenn die Mitarbeiter dann einen Konflikt erleben, wird mittlerweile eher von den unterschiedlichen Sichtweisen gesprochen und die Frage gestellt, wie man damit dann umgehen kann, gleichzeitig wird weniger getuschelt und hintenrum agiert. Ich kann mir darüber hinaus sehr gut vorstellen, dass man hypnosystemische Ansätze, gerade im Umgang mit Stress oder Lernherausforderungen in vielen Kontexten, wie zum Beispiel in einer Grundschule, gut nutzen kann. Vielleicht könnte man eine Schule gewinnen, die das als Zusatzprogramm anbietet, daran wäre ich sehr interessiert. M. H.: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.

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Literatur Schmidt, G. (2010). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag. Schmidt, G. (2011). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: CarlAuer-Systeme-Verlag. Schmidt, G. (2011). Von Stress und Burnout zur optimalen Lebensbalance, DVD/Seminarhörbuch. Mühlheim: Auditorium-Netzwerk-Verlag und Jokers/Weltbild.

Dr. med. Gunther Schmidt, Diplom-Volkswirt, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, ist Gründer und Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg (seit 1983). Er gilt als Pionier der systemischen und hypnotherapeutischen Beratungsansätze und als Begründer der hypnosystemischen Konzeption in Therapie, Coaching und Beratung. Er steht selbst in Führungsverantwortung als Begründer und Leiter der Systelios-Klinik Siedelsbrunn für optimales Gesundheits-Coaching (speziell für Führungskräfte). Internationale Lehr- und Beratungstätigkeit. Mitbegründer und Lehrtherapeut der Internationalen Gesellschaft für Systemische Beratung und Therapie (IGST), Mitbegründer und Lehrtherapeut des Helm-Stierlin-Instituts für systemische Beratung, Forschung und Therapie (hsi). Mitbegründer und Senior-Coach des Deutschen Bundesverbands Coaching (DBVC). Träger des Life Achievement Awards 2011 der deutschen Weiterbildungsbranche. www.meihei.de

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Matthias Tholen

»Die Quelle kann man nicht austrinken!« Glaubenspolaritäten im Coaching

Fasziniert umschritt ich vor Jahren das Centre Pompidou in Paris. Ein Museum von innen nach außen gekrempelt. Inspiriert schlenderte ich in das Musée National d’Art Moderne. Ein Frauenbildnis von Pablo Picasso fesselte meine Aufmerksamkeit. Lange betrachtete ich das Bild und experimentierte mit Perspektiven. Lauthals überfiel mich eine anhaltende Heiterkeit. Die kubistische Zerlegung seiner Frauendarstellung mit überdimensionierten Händen und Füßen öffnete ein Ordnungsverständnis, vergleichbar einem brillant erzählten Witz. Die Pointe wirkt seither verlässlich. Ich hatte zuvor geometrische Formen und Körper nicht in dieser Verbindung erfahren. Jetzt ahnte ich etwas vom heiteren Zauber der Begegnung zwischen zuvor für unvereinbar gehaltenen Ansichten. Die Heiterkeit erhellte sich Jahre später in einer Entdeckung von bleibender Faszination.

Die Entdeckung In Zeiten, als mich die Ungewissheiten meines Lebens auf neue Wege führten, entdeckte ich eine Fortbildung von Matthias Varga von Kibéd und seiner Frau Insa Sparrer. Sie gründeten zu dieser Zeit das Institut für Systemische Ausbildung, Fortbildung und Forschung zur systemischen Strukturaufstellung (SyST München). Es gab keine Schriften, Bücher und fertige Konzepte, einzig ein drangvoller Forscher- und Gründergeist bewegte sie, ihre Entdeckungen für Menschen zugänglich zu machen. Heute ist das Verfahren der Strukturaufstellungen einer der kreativsten und ergiebigsten Ansätze in der Beratungslandschaft. Als eigenständige systemisch-konstruktivistische Interventionsmethode arbeitet sie mit der räumlichen Darstellung von Modellen und Systemen, die wir uns von der Welt bilden. Personen stellen als Repräsentanten Teile des Systems dar. Das vom Klienten gestellte Bild zeigt uns, ob im abgebildeten System etwas fehlt. Die Beachtung von ausgeschlossenen Elementen und Themen ermöglicht ungewöhnliche Lösungen. Diese Lösungen verändern Haltungen und Einstellungen und wirken über den Klienten wieder zurück in das System. Systemische Strukturaufstellungen können als Sprache aufgefasst werden, mit der alles »Ausdrückbare« symbolisiert werden kann (Sparrer, 2006). Als Grundlage werden ein grammatisches Regelsystem und systemische Basisannahmen verwendet. Die Anwendung erlaubt, nahezu jede Art von Zusammenhang zu betrachten.

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Matthias Tholen: »Die Quelle kann man nicht austrinken!«

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Das Vorgehen umfasst die Klärung, welches System verändert werden soll, die anschließende Symbolisierung von Elementen des Systems, die Veränderung des symbolisierten Systems durch Intervention und den Transfer in das System des Klienten. Die Besonderheit dieses Verfahren ist die Fähigkeit, Systeme mittels repräsentierender Wahrnehmung zu simulieren. Diese Art Wahrnehmung wirkt über spontane Unterschiede in der Körperwahrnehmung. Repräsentanten, die Elemente eines Systems symbolisieren, entwickeln Wahrnehmungen und Gefühle, die in verblüffender Weise zum aufgestellten System passen. In ersten empirischen Nachweisen, die mit naturwissenschaftlicher »Härte« angewandt wurden, konnte mit hohem Signifikanzniveau belegt werden, dass repräsentierende Wahrnehmung kein Zufallsprodukt ist (Schlötter, 2005). Die Bezeichnung Strukturaufstellung verweist auf den Umstand, dass wir keine Systeme, sondern Strukturen von Systemen aufstellen. Welche Teile des Systems in einer Struktur auftauchen, hängt vom Thema und den Absichten ab. Die Formate richten sich an den Themen und ihrer innewohnenden Struktur aus. Mit diesem Vorgehen ist ein weitgehender Verzicht auf vorschnelle Deutungen möglich. Es ist davon auszugehen, dass implizit ein relevantes System des Klienten mit analoger Struktur zeitgleich wirksam sein kann. Damit kann auf mehreren Strukturebenen in einem Prozess gearbeitet werden. Bezeichnete Systemelemente können konkrete Personen aus Familie oder Berufsfeld, innere Anteile, Symptome oder Körperteile repräsentieren. Alle Ebenen gehören zum Klienten, welche Strukturebene sich gerade zeigt, bleibt offen. Die Offenheit erlaubt die Möglichkeit, implizit oder explizit mit Strukturebenenwechseln zu arbeiten. Systemische Strukturaufstellungen wurzeln in zwei Bereichen: systemische und hypnotherapeutische Ansätze aus Therapie und Beratung sowie philosophische und logische Ansätze (Sparrer, 2006).

Das Modell der Glaubenspolaritäten Aus den über hundert bisher entwickelten Formaten wähle ich eins der inspirierenden und vielfältigen Anwendung zugänglichen Basisformate. Wert und Gehalt dieses Formats lassen sich in einem Buchbeitrag nur als rationale Außenseite beschreiben. Ihnen als Leser ist damit ein Aufgabe gestellt, die J. W. von Goethe für das Verstehen eines Kunstwerkes einfordert: »Den Inhalt erkennt wohl gar leicht ein Jeder. Den Gehalt nur der, der etwas von sich dazuzugeben hat. Und die Form bleibt ein Geheimnis den Meisten« (Goethe, 1989, S. 471). Es ist die Sache wert, auf den »Versuch hin zu schreiben«, etwas von der Form sichtbar zu machen. Ist Ihre Neugier geweckt und zum Nachforschen erwacht, ist der Versuch gelungen. Das hier vorgestellte Format bezeichnen wir als Glaubenspolaritäten-Schema. Es ist inspiriert aus der Yoga-Philosophie nach Patanjali, die verschiedene Schulungsaspekte in ihrer Betonung unterschied: Der Bhakti-Aspekt betont die Liebe, das Mitgefühl und das Vertrauen, der Jnana-Aspekt die Erkenntnis, das Wissen und die Einsicht, der Karma-Aspekt die Ordnung, die Verantwortung, die Handlung. Der Religions-

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

philosoph Fritjof Schuon entwickelte daraus ein Einteilungsschema und wandte es auf den interreligiösen Dialog an. Sparrer und Varga von Kibéd entwickelten diese Einteilung als logisches Schema weiter und nennen das Format GlaubenspolaritätenAufstellung (GPA; Abb. 1). Die Grundstruktur ist auf vielfältige Weise über Strukturaufstellungen hinaus anwendbar. Als grundlegendes Schema bildet es ein triadisches Wertsystem und bindet sich damit zurück an kulturell bekannte und verwandte »Geschwister«. Denken Sie an Kopf, Herz und Hand; das Wahre, das Schöne und das Gute; Denken, Fühlen und Handeln; Strategie, Kultur und Struktur. Als Schema systematisiert es das Themenfeld immaterieller Werte und bildet eine Art Landkarte, um die Vielfalt der Werte in ein dialogisches Verhältnis zu setzen. Auf welche Weise geschieht dies? Das GPA-Schema lässt sich als einen Raum vorstellen, der von einem gleichseitigen Dreieck aufgespannt wird. Die drei Ecken bilden die Pole, daher die Bezeichnung Glaubenspolarität.

Abbildung 1: Das Modell der Glaubenspolaritäten

Die drei Pole sind gleichwertig und folgen keiner Hierarchie oder Rangfolge. Die Gleichwertigkeit der Pole ist zentral für dieses Format. Dreiecksbeziehungen tendieren zu intensiver Dynamik. Aus Beziehungssystemen kennen wir Eifersucht, Koalition und Rivalität. Der Begriff Glaubenspolarität deutet darauf hin, das die Werte entsprechend in ein Spannungsfeld zueinander geraten können. Wird in einem Unternehmen beispielsweise der Ordnungspol vernachlässigt, kann es zu vermehrten Konflikten kommen. Die

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Vernachlässigung von Vertrauen kann zu Loyalitätsverlust führen. Zur Auflösung von Ungleichgewichten kann die fraktale Eigenschaft des Schemas wirksame Ideen liefern (siehe Abb. 2, S. 258). Die Pole bilden die Türen zu diesem Werteraum. Im Inneren dieses Raumes können Klienten Werte positionieren. Das Besondere an diesem Schema ist das Grundverständnis der Pole. Bevor Sie weiterlesen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit für diese Frage: Woher beziehen Sie Ihre Werte, Überzeugungen, Prinzipien und Haltungen, nach denen Sie Entscheidungen treffen? Im Verständnis des GPA-Schemas werden die Pole als eine Art übergeordnete Kraftquelle verstanden, aus denen wir unsere Werte bilden. Sie weisen auf immer vorhandene Ressourcen, also Quellen hin. Es geht um Kraftquellen, von denen wir nehmen und leben. Ohne Zuwendung, Wertschätzung und Anerkennung können wir kein Leben erhalten. So wie es niemanden von uns ohne Atemluft gäbe (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2009). Nehmen Sie eine Alltagserfahrung: Freude ist eine Quelle, die ich als Mensch erleben kann. So reichlich ich auch davon nehme – Freude wird nicht weniger, wenn ich sie erlebe. So wie wir ohne Atemluft nicht leben können, gäbe es auch uns nicht ohne Freude. Erweitern Sie diesen Bezug auf andere Quellen in Ihrem Leben. Welche werden Ihnen bewusst? Vertrauen, Wissen, Ordnung – wie viel Sie auch nehmen, diese überpersönlichen Kräfte sind »unaustrinkbar«. So verstanden bezeichnen die Pole ewige Quellen, aus denen wir Werte ableiten und erfahren. Werte wiederum weisen auf die immer vorhandenen Ressourcen wie Wissen, Vertrauen und Ordnung zurück. Diese Sichtweise entspricht Werten als Fluss aus einer Quelle. In Analogie zum Theater wird es einen Unterschied ausmachen, ob Sie ein freudiges Verhalten spielen oder die Freude selbst als Gestalt darstellen (Ferrari, 2011).

Das Bild von Quelle und Fluss In der Metapher von Quelle und Fluss können wir die Werte auch als Uferlandschaft beschreiben. Wie der Fluss strömt, weil er von festen Ufern gelenkt wird, lenken Werte die Fließrichtung der Quelle. Der Fluss ringt mit dem, was seinen Lauf stört, verströmt sich an manchen Hindernissen, mäandert in endlosen Schleifen, wehrt sich als dünnes Rinnsal dem Versiegen. Ausgetrocknete Flussbetten erinnern an ehemals verschwenderisch strömende Quellen. So sind auch Wasser zuweilen nicht zu halten und überströmen Landschaften und widerstehen allen Dämmen. So mancher feste Grund wird unterspült und muss sich dem Verschwinden beugen. Am Ende ergießen sich die Fluten ins unendliche Meer, verschwimmen ihre Grenzen ins Offene. Wehre, Katarakte und Stromschnellen, welche die Strömung brechen, bilden die Orte des Widerstreits zwischen Flüssigem und Festem. Diese Spannung bildet die GPA in ihrem Verständnis von Quelle und Fluss ab. Werte als feste Landschaft der Orientierung brechen sich

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an den unendlichen Strömen der Quelle. Wo die Läufe zu verrinnen drohen, lässt die Verbindung zur Quelle den Strom wieder fließen.

Wortfelder der Pole Die Pole können sinnvoll als Wortfelder verstanden werden. Je nach Kontext der Anwendung kann ich für den Pol des Vertrauens auch die Begriffe Liebe, Beziehung, Mitgefühl, Wertschätzung oder Gemeinschaft wählen. Für den Pol des Wissens kann ich Erkenntnis, Klarheit, Einsicht, Theorie oder Logik verwenden. Entsprechend für den Pol der Ordnung die Begriffe Struktur, Verantwortung, Tat, Handlung oder Praxis. Die drei Pole, verstanden als überpersönliche Kraftquellen, spannen einen dreidimensionalen Raum auf. Pole können vernachlässigt oder überbetont werden. Der sprichwörtliche Volksmund benennt diese Überbetonung von Aspekten mit Begriffen wie Ordnungspedant, Kopfmensch oder hoffnungsloser Romantiker. Das bedeutet, dass wir beispielsweise Ordnung ohne den Aspekt der Liebe nicht förderlich leben können. Laotse versprachlicht diese Erfahrung in dem Gedicht »Pflicht ohne Liebe macht verdrießlich« (zit. nach Jäger, 2000): Pflicht ohne Liebe macht verdrießlich. Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos. Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart. Wahrheit ohne Liebe macht kritiksüchtig. Erziehung ohne Liebe macht widerspruchsvoll. Klugheit ohne Liebe macht gerissen. Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch. Ordnung ohne Liebe macht kleinlich. Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch. Macht ohne Liebe macht gewalttätig. Ehre ohne Liebe macht hochmütig. Besitz ohne Liebe macht geizig. Glaube ohne Liebe macht fanatisch. Ist ein Pol nicht zugänglich, fehlt nicht nur dieser Pol als Kraftquelle, es verfällt auch die Dimension des Raumes. Die daraus resultierenden Möglichkeiten begrenzen sich auf eine zweidimensionale Linie. Einsatzmöglichkeiten für das GPA-Schema ergeben sich in der Überprüfung von Werten und Glaubenssätzen, als Metarahmen zur Unterstützung belasteter Systeme oder zur Stärkung von Ressourcen (Ferrari, 2011).

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Fallbeispiel: Die Integration der Ressource Ordnung Ich suche nicht – ich finde. Suchen, das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. (Picasso, 1988, S. 12)

Werte und Glaubenssätze bilden die Basis für unsere Überzeugungen. Wenn wir folglich die Überzeugungen ändern, ändern wir die Wahrnehmung und beeinflussen damit unsere Möglichkeiten des Handelns. Denn unsere Wahrnehmungen begrenzen und erweitern. Unsere Überzeugungen und Werte leiten wir aus den drei Quellen Wissen, Vertrauen und Ordnung ab. Anhand einer Fallarbeit zur Integration der Ressource Ordnung beschreibe ich nun eine bewährte Anwendung des GPA-Schemas. Eine Klientin, erfolgreiche Unternehmensberaterin, wandte sich mit einem persönlichen Anliegen an mich. Sie lebt seit zwölf Jahren in Deutschland und emigrierte aus Osteuropa. Mit ihrer internationalen Ausrichtung ist sie seit fünf Jahren erfolgreich selbständig. Engagiert und offen berichtet sie von ihrer Arbeit und beschenkt mich mit Temperament und Charme. Als sie auf ihr Anliegen zu sprechen kommt, wirkt sie angespannt und bedrängt. Ihr sichtbar inneres Ringen kündet von jener Suche, die im bereits allzu Bekannten eine Antwort ersehnt. »Manchmal verzweifle ich«, sagt sie. »Alles läuft super – ich bin erfolgreich, die Aufträge reichen auf Jahre. Meine Kollegen beneiden mich. Alles scheint leicht und dann sitze ich morgens am Schreibtisch und halte es nicht aus. Panisch fertige ich Listen an und fange an zu arbeiten, als könnte ich alles verlieren. Heute an diesem Tag.« Als sie die Worte »alles verlieren« ausspricht, empfinde ich starke Körperreaktionen. Die Empfindung von Schauer und Kühle lässt in mir die Vermutung entstehen, dass der befürchtete Verlust in Verbindung zu einer Loyalität stehen könnte. Ich entscheide, das Anliegen der Klientin mit dem GPA-Schema zu bearbeiten, um meine Loyalitätsvermutung zu überprüfen. Das zukünftige Ziel benennen wir mit dem Satz: Wie aus Listen Lust werden kann! Das Vorgehen

Ich stelle drei Stühle im Raum als Dreieck angeordnet auf. Auf jedem Stuhl liegt ein Papier mit der Benennung der Quelle. Die Stühle ankern die oben beschriebenen Pole im Raum. Als gleichseitiges Dreieck platziert, markieren die Stühle den Werteraum. Ich erläutere meiner Klientin das Vorgehen. Die Klienten äußert spontan völlige Zustimmung, jedoch sagt sie, dass Ordnung keine Quelle sei, sondern eine Qual. Diese Aussage verstärkt meine Vermutung einer belasteten Loyalität. Ich bitte die Klientin, sich nun in diesem Raum des Dreiecks einen Platz zu suchen und dort stehen zu bleiben und ihre Körperempfindungen wahrzunehmen. Für die Einzelarbeit mit symbolischen Gegenständen (hier die Werte-Pole) nutze ich meine Hände als Repräsentant für die einzelnen Pole. Die Hand wird dabei in einer

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seltsam anmutenden kataleptischen Haltung verwendet. Eine »Handkatalepsie« ist eine Technik, die der Erickson’schen Hypnotherapie entstammt. Dabei wird die Hand teilweise aus der willentlichen Kontrolle entlassen und vom eigenen Körper »abgespalten«. In dieser speziellen Handhaltung lasse ich hinter den Polen in Blickhöhe der Klientin meine Hand auftauchen. Durch die Aufnahme von Blickkontakt zwischen Klientin und Hand entsteht ein intensives Erleben von Verbindung. Der Klient nimmt die Hand als Repräsentant so wahr, als ob sie nicht zu meinen Körper gehörte. Dadurch kann die Art und Weise der Bezogenheit zu den Quellen erlebt werden, ohne von meiner Person abgelenkt zu sein (Sparrer, 2009). Der Prozess

Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis – ein heiliges Abenteuer. (Picasso, 1988, S. 12)

Ich frage die Klientin, durch welche Tür sie ihren Werteraum bevorzugt betritt. Sie wählt die Türe des Vertrauens. Mit großer Wachsamkeit bewegt sie sich behutsam in diesem Raum. Dann bleibt sie zwischen den Polen Wissen und Vertrauen stehen. Ich trete zuerst hinter den Pol Vertrauen und lasse hinter dem Stuhl meine Hand als Repräsentant für den Pol Vertrauen auftauchen. Ich bitte die Klientin, zu diesem Pol Kontakt aufzunehmen. Sie blickt darauf und sagt: »Das ist gut. Ich bin gerne mit Menschen in Beziehung. Sie schätzen meine Aufmerksamkeit. Ich habe vielfältige Kontakte und Verbindungen. In Netzwerken übernehme ich schnell Verantwortung. An diesem Pol fühle ich mich zu Hause.« Aus ihren Äußerungen schließe ich auf einen ungehinderten Zugang zu dieser Quelle. Meine eigenen Empfindungen unterstützen diesen Eindruck. Dann gehe ich weiter und lasse hinter dem Pol Wissen meine Hand auftauchen. Die Klientin wendet sich dem Pol zu und gibt einen leichten Seufzer von sich. »Hier bin ich auch gerne, aber manchmal schleicht sich der Anspruch ein, mehr zu wissen. Es ist gut hier, aber auch ein wenig anstrengend.« Der Zugang zur Quelle Wissen ist da; eine milde Einschränkung zeigt sich in ihrem formulierten Selbstanspruch, die ich in Verbindung mit ihrem Atem wahrnehme. Ich entscheide, diesen Selbstanspruch nicht aufzugreifen und den Prozess weiterzuführen. Nun wende ich mich dem Pol Ordnung zu. Die Klientin mag nicht hinsehen. Tränen rinnen über ihr Gesicht. Sie kann für einen Moment nicht sprechen. Der Kontakt zu diesem Pol ist eingeschränkt, bildlich gesprochen: Die Werte-Tür klemmt. Bei vielen Menschen ist häufig der Zugang zu einem der Pole erschwert. Manchmal auch zu zwei Polen. Sie singen ihren Lebensakkord zuweilen auf zwei oder einem Ton. Wenn der Zugang zu einem Pol verhindert ist, sprechen wir von einem »überlagerten« Pol. Häufig sind es belastende biografische Erfahrungen, die den freien Zugang zu einer Quelle verhindern. Die Pole und daraus resultierende Werte werden dann mit diesen

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belastenden Erfahrungen assoziiert. Unbewusst vermeiden wir Menschen dann, von dieser Quelle zu nehmen. Hier kann die Aufhebung der Überlagerung helfen. In der Arbeit mit klemmenden Türen unterscheiden Sparrer und Varga von Kibéd fünf Überlagerungsformen (Sparrer, 2006). Wir können auch sagen, Türen klemmen auf fünf Arten: –– Verlust: Der Kontakt ist so stark belastet, dass die Tür vergessen wird. –– Verstellung: Ein dichter Vorhang verhindert den Blick auf die Tür. –– Verschleierung: Manchmal weht ein Wind den Vorhang zu Seite und gibt einen Blick auf die Tür frei. –– Verwechselung: Eine Person wird mit der Tür verwechselt. –– Vermischung: Die Tür wird gesehen, aber manchmal verliert man die Verbindung. Aufhebung einer Verwechselung

Die Klientin blickt auf. Ich bitte sie, ihren Blick auf meine Hand zu richten und tief zu atmen. Dann lasse ich hinter der Hand meine andere Hand langsam auftauchen. Dabei sage ich die Worte: »Und manchmal könnte es sein, dass du die Quelle mit etwas anderem Wichtigen verwechselt hast. Und du erlaubst dir nun, wie ein staunendes Kind wahrzunehmen, was da hinter der Ordnung auftaucht und von dir gesehen werden will.« Dabei lasse ich hinter meiner repräsentierenden Hand langsam die andere Hand auftauchen. Die Klienten erschrickt und ruft laut: »Meine Oma.« Sie weint und schluchzt abwechselnd. »Sie ist so wichtig für mich. Und gleichzeitig war sie oft so hart. Ich musste so schrecklich diszipliniert sein. In ihren Regeln war sie unerbittlich.« Ich halte zum vertieften Atem und Blickkontakt an. »Schau zu ihr hin. Sag ihr mit deinen Worten, was es für dich bedeutet hat.« Sie blickt zur Oma. Ich sage ihr noch, dass sie sich aufrichten und mit klarer Stimme sprechen kann. »Oma – du warst so hart. Für mich war das …« Ich unterstütze sie mit Worten als Angebot: »schlimm!« – »Das traue ich mich nicht zu sagen!«, erwidert die Klientin. Ich mache erneut einen Vorschlag: »Oma – du bist so wichtig für mich. Ich traue mich nicht, dir zu sagen, dass du soviel für mich bedeutest und dass deine oft harte Art mich sehr verletzt hat.« Jetzt löst sich die Spannung in der Klientin. Sie seufzt tief und spricht mit großer Klarheit einen ähnlichen Satz. Dann lasse ich sie wieder auf den Pol Ordnung schauen. »Du darfst trinken aus diesem Pol, wann immer du es brauchst. Besonders am Morgen, wenn du am Schreibtisch Listen anfertigst, erinnere dich an die Quelle. Du willst gestalten, nicht abarbeiten. Deine Oma schaut mit Wohlwollen auf deine Liste. Lass sie diese Woche innerlich die Liste abhaken.« Die Klientin muss lachen. Sie rückt unaufgefordert in die Mitte des Dreiecks. Sie dreht sich um und schaut erleichtert und bewegt umher. Ich lasse sie noch eine Weile dort trinken aus den Quellen der Ordnung. In der biografischen Nacharbeit berichtet die Klientin vom Schicksal der Großeltern. Vertreibung, Heimatverlust und Hunger prägen die Erfahrung der Großmutter. Ihre

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erlebte Härte wird als Überlebensmuster verständlich. Zugleich erzählt die Klientin von wärmenden Zeiten in der Gegenwart der Großmutter. Die Klientin kann nun freier die unverzichtbare Qualität Ordnung kosten. – Wer von uns hat schon in seiner Kindheit Ordnung als Kraftquelle erfahren?

Die fraktale Eigenschaft des GPA-Schemas Das GPA-Schema repräsentiert als fraktale Struktur ein nach dem Mathematiker Waclaw Sierpinski benanntes Sierpinski-Dreieck (Ferrari, 2011). Im Inneren des Dreiecks finden sich kleinere Dreiecke, die selbstähnlich das Muster des Ganzen enthalten (Abb. 2). Diese fraktale Eigenschaft ermöglicht es, die Verbindung der Pole in Bewegungen auszudrücken. Trete ich durch die Tür der Ordnung (O), ergeben sich drei Bewegungsrichtungen. Ich kann mich in Richtung Vertrauen (V) bewegen, in Richtung Wissen (E) oder zum Pol der Ordnung (O) selbst, im Sinne einer Vertiefung. Daraus ergeben sich interessante Fragestellungen: Wie kann ich durch Handlungen Vertrauen stärken? Was ermöglicht Vertrauen in Bezug auf Wissen? Wie unterstützt Wissen die Ordnung?

Abbildung 2: Fraktales Modell der Glaubenspolaritäten

Die fraktale Eigenschaft des GPA-Raumes kann auf jede Art von Prinzipien-Triade angewandt werden. Sie erhalten dann neun Punkte (E, V, O), die sich für Lernprozesse und Veränderungen einsetzen lassen. Bei Eintritt durch O-Tür können beispielsweise Einsichten gewonnen werden, die über verlässliche Handlungen Vertrauen (V-Tür) hervorrufen.

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Bezogen auf den Coaching-Prozess der Klientin arbeitete ich abschließend an einer Integration der Quellen. Durch den wieder offenen Zugang der Ordnung (O-Tür) konnte die Klientin aus den Verbindungen der drei Quellen untereinander neue Ideen kreieren. Ihr Anliegen »Wie aus Listen Lust werden kann« beantwortete sich durch den intensiven Kontakt vom Pol der Ordnung zum Pol des Vertrauens (V-Tür). Sie erlebte Vertrauen als erneuerten Schutz vor überforderten Selbstansprüchen. Sie fand ein Symbol für diese Verbindung – ihre russische Muttersprache. Ich erinnerte sie an einen Spruch: »Woanders weißt du selber, wer du bist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.«

Die Weisheit des Scheiterns Eine bereichernde Erweiterung des GPA-Schemas verdeutlicht der Einbezug der Weisheit. Verwenden Sie hierzu eine hilfreiche Metapher. Ordnen Sie den Polen jeweils eine der drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau zu. Jetzt stellen Sie sich vor, dass sich jede Farbe in das Dreieck ergießt. Dann mischen sich die Grundfarben in dem Raum in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Jeder Punkt im Dreieck stellt eine Mischung aus den drei Polen dar. Kein Punkt ist mit dem anderen identisch. Der Mittelpunkt symbolisiert dann den Zustand, in dem alle drei Pole in gleichem Maß farblich vertreten sind. Dies können wir als Balance und ruhende Weisheit bezeichnen (Ferrari, 2011). In ihrem dynamischen Aspekt können wir uns die Weisheit als von diesem Punkt ausgehende Spirale vorstellen, welche die Pole in einer umgreifenden Bewegung erfasst. Weisheit erschließt Reflexion und Veränderung, weil ihr zu jedem Pol eine Art Gegenposition innewohnt. So ist jede Form von Wissen umgeben von Nicht-Wissen. Dieser oftmals verkannte Zustand, etwas »nicht zu wissen«, ist bei näherer Betrachtung die Voraussetzung für neues Lernen und Wissen. Denn Erkenntnis ist kein abschließbarer Prozess. Es braucht immer die Erfahrung, scheinbar Bewährtes neu zu reflektieren und zu verändern. Nicht-Wissen ist somit die Schwelle zu neuer Erkenntnis und bringt eine leere Leinwand hervor, auf der ein neues Bild entstehen kann. Denn »der Gedanke ist schon vernudelt und lässt sich nicht mehr gebrauchen […] Wie Silberpapier, das einmal verknittert ist, sich nie mehr ganz glätten lässt« (Wittgenstein, 1994, S. 140). Entsprechend braucht es zuweilen in Beziehungen Missverständnis und Verwirrung, damit Vertrautes in neuer Weise erlebt werden kann. In welchen Gewändern zeigt sich der dynamische Aspekt der Weisheit? Beispielsweise in humorvollen Weisen, die bisherige Ordnungsvorstellungen in neuem Licht erscheinen lassen. Erinnern Sie sich an Picassos Bildnis? Diese grenzüberschreitende Qualität der Weisheit habe ich in den geometrischen Sichtungen der Frau heiter und absichtslos erfahren. Es war der unverfügbare Zustand Heiterkeit, welcher mir in einem schöpferischen Moment die Grundlagen gewohnten Sehens entzog und in der Verschiebung aller Proportionen neue Einblicke darbot. Dahinter erschien eine neue virtuose

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Sichtbarkeit. Nicht, dass ich jetzt darüber verfügen könnte, aber die Erinnerung daran markiert diesen dynamischen Aspekt der Weisheit. In der Sprache des Kunstbetrachters heißt es: »Der große Künstler ist derjenige, der uns von seiner subjektiven Wahrheit so zu überzeugen weiß, dass wir den Gegenstand mit seinen Augen zu sehen beginnen, ja, dass er für uns eine neue Erscheinungsform und daher eine metaphysische Qualität gewinnt« (Hildesheimer, 1997, S. 127). In diesem Sinne können wir von der Weisheit des Scheiterns sprechen, die in der Möglichkeit grundlegender Infragestellung und Veränderung enthalten ist. Bezogen auf die Arbeit mit dem GPA-Schema kann die Weisheit als »freies Element« symbolisiert und einbezogen werden (Sparrer, 2006).

Wieder mehr Glauben wagen? – Quellenarbeit und Spiritualität Ein vormoderner Grundsatz lautete: Es kommt anders, als man denkt! Es ging sprichwörtlich mit rechten Dingen zu, wenn die Folgen der Taten und Pläne nicht den Erwartungen entsprachen. Aus dieser Erfahrung widmete man sich mit besonderer Aufmerksamkeit den Schicksalsmächten. Der Moderne, verstanden als Selbstermächtigung des Menschen, wurde dies zum Ärgernis. Es musste nun so kommen, wie der Mensch es will! Nicht mehr Zufall, sondern die »Gesetze des Erfolgs« ermöglichten dem Menschen, dass es so kommt, wie man denkt. Zukunft wurde eine Sache der Methode. Daraus entstand unser auf Fortschritt getrimmtes Denken mit jener Mischung aus Optimismus und Aggressivität, die erfolgreiche Menschen auszeichnet: »Du schaffst es!« Die Moderne war erfolgreich und folgenreich. In postmoderner Zeit ist diese Überzeugung geschichtliche Ruine geworden. Dass es wieder anders kommt als gedacht, erhellt nahezu jede Nachricht der Gegenwart. Wer vermochte ernstlich der »Insolvenz« eines Staates das Wort zu reden? Dass die Verselbständigung wirtschaftlichen Handelns heute einer Eigendynamik folgt, die Ziel und Mittel schlicht verkehrt, ist Alltagsroutine eines Coach. Folgenreich arbeiten wir an der alten Frage, ob die Wirtschaft für den Menschen oder der Mensch für die Wirtschaft da sei. Jenseits dieser geläufigen Gesellschafts- und Kulturkritik erscheint mir die Frage der Neu-Verbindung von Mensch und Wirtschaft Zusammenhänge aufzurufen, die unser Bewusstsein weiten und integrieren. Im Kern geht es um die Überschreitung der personalen Ebenen und Strukturen unseres Bewusstseins. Ein Weg der Bewusstwerdung, der uns im Angesicht der neuen Frage nach Integration herausfordert. Das große Bild ist das Bild einer sich veränderten Welt als evolutionäre Transformation. Die Arbeit mit dem GPA-Schema verstehe ich als praktische Anleitung zu diesem neuen Denken, welches auf dem Weg der Bewusstwerdung orientieren hilft. Die Vielfalt und der Reichtum der Anwendungsmöglichkeiten basieren auf der Rückbindung an überpersönliche Kräfte, die allen Menschen zugänglich sind. So wie ein Kirchenfenster das einfallende Licht in Farben bricht und es dadurch sichtbar macht, erlaubt die Arbeit mit Quellen, die überpersönlichen Kräfte des Lebens, unsere Lebensquellen,

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spürbar werden zu lassen. Das Licht können wir mit unseren Augen nicht sehen. Licht macht sichtbar, ist aber selbst unsichtbar. Sichtbar wird es nur, wenn es in Farben zerlegt und strukturiert wird. So erfahren wir auch die Quellen des Lebens. Unabhängig von Anschauungen, Überzeugungen, Herkünften oder Werten. Wir müssen keine Wahrheit behaupten, um den Horizont zu gewinnen, auf den es hier ankommt. Wir alle spüren und nehmen von diesen Quellen: Liebe, Freude, Vertrauen, Ordnung. Und wir alle können zustimmen, dass sie nicht weniger werden, wenn wir von ihnen nehmen. Damit überschreiten wir die Schwelle von der Endlichkeit in die Unendlichkeit – die unaustrinkbaren Quellen. Hier sprechen wir von Transzendenz, im Wortsinne des lateinischen transcendere: das Überschreiten. Zugleich ist das Nehmen aus den Quellen eine unerschöpfliche Energie, die zu Sinn-erfülltem Leben führt. Erinnern Sie sich: Verliebte Menschen stellen keine Sinnfragen! Die Dimension der Transzendenz bringt uns mit Kräften in Berührung, die über den Horizont der modernen Endlichkeit hinausweisen. Es kommt schlicht nicht nur auf uns selbst an (nach dem Motto »Du schaffst es!«). Wer den Horizont über das Sichtbare zu spannen weiß, kann die Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen, Schicksal und Kosmos in einer anderen Dimension vermuten, der all das anvertraut werden kann, was unserer Einsicht unzugänglich bleibt. Mögen Sie Menschen Ihre Trauerrede am Ende des Lebens anvertrauen, die nur die Endlichkeit der Erde für wahr halten? Der Zauber der Möglichkeiten: Wer zu den erlebten Wirklichkeiten einen übergreifenden Horizont zu spannen weiß, darf gespannt bleiben. Denn es ist uns dann gegeben, Möglichkeiten zu erfahren, unsere selbst gesetzten Grenzen zu überschreiten. Den Reichtum des Lebens kann man nicht in Grenzen halten. Ein erfülltes Leben bleibt nicht auf das menschliche Maß begrenzt. Nehmen aus den Quellen, überschreitet alle Maße. Wer wollte oder könnte der Liebe Grenzen setzen? Arbeit mit Quellen macht uns nachdenklich: Ist es sinnvoll, den Menschen vom modernen Mangeldenken her zu verstehen? (Gronemeyer, 2002). Ist die Zuwendung zu den Quellen im tieferen Sinne Martin Bubers nicht eine »auf Heimkehr gerichtete Bewegung«? Die Erinnerung an die Fülle unserer Existenz, das Wiederfinden eines Zugangs zu dem, was mich ausmacht, die Wiedererinnerung an die Quellen erneuern den Bezug zu mir selbst wie ein morgendlicher Sprung in den spiegelklaren See – erfrischend und belebend. Lassen Sie sich einladen, Ihrer Quellen gewiss zu werden.

Literatur Ferrari, E. (2011). Führung im Raum der Werte: Das GPA-Schema nach SySt. Aachen: Ferrari Media. Goethe, J. W. von (1989). Werke, Bd. VII: Schriften zur Kunst. Hrsg. von E. Trunz. München: Beck. Gronemeyer, M. (2002). Die Macht der Bedürfnisse. Überfluss und Knappheit. Darmstadt: Primus. Hildesheimer, W. (1997). Schule des Sehens. Leipzig: Insel. Jäger, W. (2000). Mystische Spiritualität. Holzkirchen: Eigenverlag.

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Picasso, P. (1988). Über Kunst. Zürich: Diogenes. Schlötter, P. (2005). Vertraute Sprache und ihre Entdeckung. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. Sparrer, I. (2006). Systemische Strukturaufstellungen. Heidelberg: Carl Auer. Sparrer, I. (2009). Wunder, Lösung und System. Heidelberg: Carl Auer. Varga von Kibéd, M., Sparrer, I. (2009). Ganz im Gegenteil. Heidelberg: Carl Auer. Wittgenstein, L. (1994). Vermischte Bemerkungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Matthias Tholen hat Erziehungswissenschaften studiert (M. A.) und ist ausgebildet als Psychotherapeut (HPG), Transformal Leadership, Systemischer Berater (hsi) und Coach (ECA). Er ist seit über 12 Jahren tätig als Psychotherapeut und Erwachsenenbildner; seit 2009 in eigener Praxis für Beratung und Coaching; Tholen-Beratung (Executive Coach, Trainer und Organisationsberater). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Orientierung in Beruf und Alltag, Spannungsfelder zwischen Individuum und System, Veränderung und Wandlung, die Heldenreise und Rituale. www.tholen-beratung.de

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Sylvia Kéré Wellensiek

Den »ganzen Menschen« begleiten Gezieltes Bewusstseinstraining im Coaching-Prozess

Die gleichzeitige Wahrnehmung von Körper, Verstand, Herz, Seele und Bewusstsein Wir Menschen sind komplexe Wunderwerke. Mit größter Individualität ausgestattet, ähneln wir uns doch frappierend. Wir alle sehnen uns nach Liebe, Anerkennung und Wertschätzung, nach Gesundheit und Bewegungsfreiheit, nach respektvollen Begegnungen, die Raum zur Entfaltung offerieren, und nach sinnhafter Tätigkeit. Neben diesen elementaren Lebensthemen gibt es darüber hinaus eine Vielzahl von Aspekten, die in der individuellen Struktur des Einzelnen wurzeln. In der Begleitung von Personen war es mir immer ein wichtiges Anliegen, einen umfassenden Überblick über die Vielschichtigkeit der eingebrachten Themen, Inhalte und ihrer Bearbeitung zu erzielen. Besonders interessierten mich dabei die Brauchbarkeit der jeweiligen Arbeitsweise und die Möglichkeit ihrer komplementären Ergänzung. Durch meine unterschiedlichen Ausbildungen konnte ich auf ein reiches Repertoire von Methoden und Ansätzen zurückgreifen. Um meine Arbeit noch weitergehender zu erforschen, gewöhnte ich mir zudem an, all meine Sitzungen detailliert aufzuschlüsseln und auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Bei allen Unterschieden stellte sich bald heraus, dass sich bestimmte Motive immer wiederholten. Gleich, wie unterschiedlich sich die Biografie und die Lebensumstände meiner Klienten darstellten, in ihren Grundbedürfnissen und tiefen Anliegen schienen sie sehr ähnlich. Diese wiederkehrenden Inhalte stellte ich zunächst sinnhaft als Orientierung für Seminare zusammen, mit dem Hauptanliegen, den Menschen umfassend in seiner Ganzheit ansprechen zu können. Mit der Zeit entwickelte sich ein kompaktes und tragfähiges Modell, das »Human-Balance-Training« (H.B.T.) mit seinen HumanBalance-Kompassen. Der Grundkompass beschreibt den Menschen in den Dimensionen von Körper, Herz, Verstand und Seele. Betrachtet man die großen Philosophien von Beginn der Geschichtsaufzeichnung an, stößt man auf immer die gleichen, universellen Dimensionen: die physische, die mentale, die emotionale und die geistige/spirituelle. Auch wenn die Begrifflichkeiten zum Teil unterschiedlich gewählt sind, reflektieren sie doch die grundlegenden Bedürfnisse und Motivationen aller Menschen. Um eine Person

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in ihrer ganzen Kraft und Befähigung freizusetzen, gilt es, sie auf allen Ebenen anzusprechen. Und so sollten wir gesellschaftlich einen Paradigmenwechsel vornehmen: Der Mensch besteht nicht aus Einzelfunktionen, die getrennt voneinander behandelt werden können. Er ist ein Ganzes, und all seine Fähigkeiten und Eigenschaften wollen beachtet und gefördert werden. Das Schaubild (Abb. 1) ist eine Orientierungshilfe und Landkarte, die erlaubt, die unterschiedlichen Lebensthemen, die einen Menschen oder auch ein Unternehmen bewegen, übersichtlich zu visualisieren. Gleichzeitig weist es auf die zentrale Bedeutung des Bewusstseins hin, das als ruhiger, reflektierender Spiegel in der Mitte all dieser Lebensbewegungen liegt.

Abbildung 1: Der Human-Balance-Kompass

Im Kontext eines Führungskräfte-Coaching werden diese Grundthemen, die sich im Leben der meisten Menschen finden, in der Struktur des Kompasses spezifiziert, um die relevanten Themen und Herausforderungen herausfiltern (Abb. 2). Auf Basis der Inhalte des Kompasses kann ein Coaching-Prozess ganzheitlich angelegt werden. Auch im Kontext einer Unternehmensberatung kann zum Beispiel die Personalabteilung direkt von dieser Struktur profitieren und schlüssige Personalentwicklungsmaßnahmen ableiten. Die Kreation eines genauen, umfassenden Kompetenzprofils kann Grundlage sein von Stellenanzeigen und Assessmentcentern, Einstellungsverträgen und Einarbeitung, Weiterbildung, Beurteilung etc. Die Ausarbeitung dieser vielschichtigen Führungskultur sollte natürlich in Abstimmung mit der allgemeinen Unternehmenskultur konzipiert werden. Da die Grundmatrix des Kompasses sehr offen gehalten ist, lässt sie sich jederzeit auf die Herausforderungen anderer Berufsbilder übertragen.

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Sylvia Kéré Wellensiek: Den »ganzen Menschen« begleiten

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Abbildung 2: Der Human-Balance-Kompass im Führungskräfte-Coaching

Vom Symptom zur Wurzel Die übersichtliche Darstellung im Human-Balance-Kompass hilft, den Klienten von Anfang an mit den Grundzügen ganzheitlichen, systemischen Denkens vertraut zu machen (systemisch kommt aus dem Griechischen und bedeutet das Zusammengestellte, das Verbundene). Durch die Sichtbarmachung fällt es leicht, einzelne Probleme und Themenfelder in einem größeren Kontext wahrzunehmen und genau zu untersuchen. Es liegt auf der Hand, dass viele der abgebildeten Inhalte in einer direkten Abhängigkeit zueinander stehen. Einstein formulierte den wunderbaren Satz: »Die signifikanten Probleme, vor denen wir stehen, lassen sich nicht auf derselben Ebene lösen, auf der wir sie geschaffen haben.« Seine Aussage beinhaltet zwei wesentliche Aspekte: Probleme sind in ihrer Darstellung und Auswirkung auf verschiedenen Ebenen wahrnehmbar, das heißt, dass wir Ebenen definieren müssen, auf denen wir die Effekte eines Themas untersuchen können.

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Die bestehenden Probleme sind von uns selbst erschaffen worden. Diese Annahme gibt uns die gewaltige Freiheit, auf genaue Spurensuche zu gehen: Mit welcher meiner Denk-, Fühl- oder Verhaltensweise erschaffe ich mir eine Realität, die mir zum Problem wird? Und welche Handlungsspielräume besitze ich, um zu einem tragenden Lösungsweg zu gelangen? Um dies als umfassende und präzise Erkundungsarbeit durchführen zu können, erscheint es hilfreich, die natürlichen Fähigkeiten unseres Bewusstseins zu studieren, zu erkennen und umfassend zu nutzen. Bei der Arbeit mit den Klienten setze ich das Konzept des reflektierenden Bewusstseinsraums als Ausgangspunkt ein, um aufmerksam die Körperebene, den Verstand, die Gefühle und die Bewegung der Seele zu studieren und in den Coaching-Prozess gleichzeitig mit einbeziehen zu können. All diese Ebenen sind eng miteinander verbunden und agieren bzw. reagieren immer im Verbund. Eine unangenehme Emotion färbt unmittelbar die Gedankenwelt. Auch drückt sie sich direkt im Körper aus – durch Veränderung der Haltung, Spannung und des Atems. Die Seele – dieser hochsensibel und fein gestimmte Kern unserer Person – ist mit ein wenig Übung deutlich wahrzunehmen. Bei Wohlbefinden zeigt sich unser innerster Kern wach und lebendig. Diese intensive Präsenz können wir wunderbar beobachten, sobald wir flirten. Steht uns ein Mensch gegenüber, den wir besonders schätzen und in dessen Umgebung wir uns aufgeregtwohl fühlen, blüht unser Innerstes auf, und wir können vor Eloquenz und Heiterkeit sprühen. Unsere Augen, als direkte Spiegel unserer Seele, leuchten von innen. Genauso können sie sich in Zeiten des Kummers und der Enttäuschung mit einem traurigen Schleier verhüllen. Dann hängen auch die Schultern und die Stimme klingt belegt. Alle Ebenen und Sinneskanäle unseres gesamten Organismus sind miteinander verknüpft und reagieren in einer Sprache. Die Einbeziehung all dieser unmittelbaren, authentischen Regungen und Äußerungen sehe ich für einen tiefgehenden CoachingProzess als unerlässlich an. Um einen Veränderungs- und Lernprozess nachhaltig verankern zu können, braucht es die Beteiligung von Emotionen, was die Neurobiologie derweilen eindrucksvoll darlegt. Aus meiner Sicht erscheint es dazu unentbehrlich, neben der Verstandesebene ganz bewusst die Körperwahrnehmung, die Gefühlsebene und auch noch tiefer liegende Empfindungen, Ahnungen und Sehnsüchte der seelischen Ebene anzusprechen und mit einzubeziehen. Die gemeinsame und bewusste Aktivierung all dieser Erlebensebenen schafft immense Vorteile und Möglichkeiten für: –– Analyse: Der Coach erhält eine Vielzahl von Informationen, die den bewussten und unbewussten Ebenen des Klienten entspringen. –– Selbststeuerung des Coach: Der Coach kann sich selbst und seine Stimmungen auf allen Ebenen beobachten. Dadurch erhält er frühzeitig Hinweise, wenn er sich zum Beispiel in einer Übertragungssituation befindet. –– Beziehung zwischen Coach und Klienten: Der Coach kann dem Klienten auf verschiedenen Sinneskanälen Inhalte vermitteln, durch bewusst eingesetzte Körpersprache,

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Mimik, Wortwahl, Sprachmodulation, Ausdruck der Gefühle, körperlicher und seelischer Empfindungen – und auf den gleichen Kanälen empfangen. –– Prozessablauf: Der Coach kann die Arbeitsebene wählen, die für die Struktur des Klienten und den jeweiligen Prozessverlauf angemessen ist. Er kann wechseln zum Beispiel zwischen Gespräch, Übungen mit Körperwahrnehmung, Übungen mit nach innen oder nach außen gerichtetem Bewusstsein, feinenergetischen Prozessen etc. –– Persönliche Entwicklung und Selbstwirksamkeit des Klienten: Der Klient kann die dominante Vormachtstellung des Verstandes wahrnehmen und sich Schritt für Schritt mit den Regungen seiner anderen Dimensionen vertraut machen. Er lernt, auf vielen Ebenen gleichzeitig bewusst zu kommunizieren. Die Einbeziehung vieler Sinneskanäle schafft die Möglichkeit, neuronale Verschaltungen schnell und dauerhaft umzubauen. Zur neurobiologischen Grundlage dieses Prozess möchte ich auf den Hirnforscher Gerald Hüther verweisen: »Ein menschliches Gehirn ist in der Lage, einmal entstandene Programme wieder aufzulösen oder zu überschreiben, sobald sie die weitere Entfaltung der geistigen und emotionalen Potenzen zu behindern beginnen. Um derartige Programmierungen wieder aufzulösen, müssen sie als bereits erfolgte Installationen bewusst gemacht und erkannt werden« (Hüther, 2009, S. 23).

Tragfähige Entwicklung durch Veränderung neuronaler Verschaltungen Die organische Struktur des Gehirns kann durch Therapie und Coaching, ich nenne es auch Bewusstseinsarbeit, definitiv verändert werden. Die Aktivierung möglichst aller sensomotorischen und affektiven Elemente des neuronalen Geschehens begünstigt nicht nur den Abruf von Erinnerungen, sondern gestattet ein umfassendes Erleben und Verstehen von Mustern und Prägungen. Ziel dieser Wahrnehmung ist die Erweiterung eines alten neuronalen Musters, das dann durch wiederholte, intensive affektiv-sensomotorische Neuerfahrungen umgeschrieben werden kann. Dies illustriert ein Erfahrungsbericht von Christian Gottwald, Begründer der bewusstseinszentrierten Körperpsychotherapie: »Der Körper, oder besser gesagt, der Leib bietet einen leichten Zugang zu allen Phänomenen und Ebenen des Erlebens und Verhaltens, also den Sinneswahrnehmungen, den Affekten, den motorischen Impulsen, den Gefühlen, aber auch zu Erinnerungen aus allen Altersstufen einschließlich der begleitenden historischen Gefühle und der zugehörigen historischen Objekterfahrungen. […] Patienten erfahren, dass sie ihre innere Wahrheit erspüren, ertasten und begreifen können. Sie merken, wie ihnen diese Qualitäten zu Einsichten verhelfen, die ihr gesamtes Menschsein umfassen. Sogar basale Grunderfahrungen, die Menschen häufig unbewusst seit ihrer Säuglingszeit ein Leben lang gesucht haben, können auch im späteren Leben noch bis zu einem gewissen Grad erfahren werden. […] Sie spüren nicht nur im übertragenen Sinn, sondern verkörpert, dass sie ein Rückgrat haben, und beginnen, sich und den eigenen Standort zu vertreten. Sie können erfahren, wie ihr Umgang mit Balance auch im übertragenen Sinne ihr

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inneres Gleichgewicht beeinflusst. Mit mehr Rückgrat in der Balance wagen sie es dann leichter, auch einmal Distanz zu anderen zu halten und ein getrenntes Gegenüber zu werden. Solche grundlegenden Selbst- und Beziehungserfahrungen sind über bloßes Reden nicht in der gleichen Qualität vermittelbar« (Gottwald, 2011, S. 1). Nun hat man es als Coach, besonders im wirtschaftlichen Kontext, oft mit Klienten zu tun, die lange darauf getrimmt wurden, die Botschaften von Körper, Gefühl und Seele zu verdrängen und zu negieren. Gerade in diesen Situationen braucht es das natürliche Selbstverständnis und die überzeugende Ausstrahlung des Coach, um ein umfassendes, integriertes Menschenbild praktisch vorzuleben sowie verständlich und ausdrucksstark erklären zu können. Dabei spielen die Klarheit und Verständlichkeit der Worte, Bilder und praktischen Beispiele eine große Rolle. Ob die Einladung zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung abschreckt oder neugierig macht, liegt zu großen Teilen an der Art der Vermittlung. Es lohnt sich an dieser Stelle, kreativ zu sein, denn der Bedarf an einer solchen Form von ganzheitlicher Arbeit ist ungemein groß.

Die Potenziale unseres Bewusstseins entdecken Menschen sind durch ihre Gene und sozial-kulturellen Einflüsse in vielen Denk-, Fühlund Handlungsweisen unterschiedlich geprägt. Trotz aller Verschiedenheiten verbindet uns eine Fähigkeit, die jedem Erdenbürger innewohnt: Wir sind mit einem reflektierenden Bewusstsein ausgestattet, das uns die Möglichkeit schenkt, uns unserer selbst gewahr zu werden. Wir alle besitzen die Kraft der Selbstreflexion, die es uns ermöglicht, uns in unseren vielschichtigen Regungen wahrzunehmen, zu hinterfragen und gezielt weiterzuentwickeln. Diese Begabung muss allerdings trainiert werden, damit sie Schritt für Schritt ihre volle Wirkung entfalten kann. Die Fähigkeit, unserer selbst gewahr zu sein, unser Bewusstsein zu erweitern und dadurch in neue Qualitäten des Seins vorzustoßen, wurde in vielen Kulturepochen der Menschenentwicklung hervorgehoben und zumeist im religiösen Kontext gepflegt. Sie wurde und wird mit den Begriffen Meditation oder Kontemplation beschrieben. Das Wort Meditation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Ausrichtung zur Mitte«, auch in der Konnotation »das Nachdenken über«. Durch Achtsamkeits- und Konzentrationsübung soll sich der Geist beruhigen und sammeln. In östlichen Kulturen gilt sie als eine grundlegende und zentrale Übung der Bewusstseinserweiterung. Die angestrebten Bewusstseinszustände werden, je nach Tradition, mit Begriffen wie Stille, Leere, Panorama-Bewusstsein, Einssein, im Hier und Jetzt sein oder frei von Gedanken sein beschrieben. Gerade im Osten wurde der Erforschung des Geistes größte Aufmerksamkeit gewidmet. Das Bewusstsein des Menschen galt als ein wissenschaftliches Labor, in dem er subjektive Experimente durchführen konnte. Durch akribische Aufzeichnungen wurde klar, dass sich bestimmte Wahrnehmungen nicht nur bei einer Person, sondern bei vielen anderen wiederholten, so dass man von einem kollektiven Erfahren sprechen kann.

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Perspektivwechsel Nicht glauben, sondern eigene Erfahrungen sammeln – das ist eine Grundhaltung des Human-Balance-Trainings. Da jeder Klient mit einer anderen Vorgeschichte, einem anderen Glauben oder Weltverständnis ausgestattet ist, liegt es mir besonders am Herzen, ein Bewusstseinstraining losgelöst von jeder religiösen oder spirituellen Zuordnung zu vermitteln. Um meinen Klienten und Seminarteilnehmern diese Grundbefähigung der Selbstreflexion möglichst schnell erfahrbar zu machen, stelle ich ihnen Fragen, deren Beantwortung eine differenzierte Wahrnehmung verlangt: –– Was erleben Sie in einem Moment tiefen Glücks? –– Wie fühlt sich in diesem Moment Ihr Körper an, welche Gefühle und Gedanken durchstreifen Sie, was spricht Ihre Seele? Die meisten Teilnehmer sind in der Lage, ihre Erinnerungen mit Hilfe der Anleitung genau zu schildern. Sie berichten von ihren Eindrücken auf den verschiedenen Ebenen und bemerken, dass sie im Alltagsgeschehen diese meistens als Gesamteindruck erfahren. Die Aufschlüsselung fällt ihnen aber nicht schwer. Mit ein wenig Abstand können sie sehr klar die Verflechtung von Körperempfindungen, Emotionen, seelischer Stimmung und Verstandestätigkeit wahrnehmen – auch auf die Fragen: –– Was erleben Sie im Moment eines tiefen Unwohlseins? –– Können Sie Ihre diversen Empfindungen vielschichtig beschreiben? Nun kommt die dritte Fragerunde, auf die sie in den meisten Fällen nicht so schnell eine Antwort finden: –– Wer beobachtet den Körper, die Gefühle, den Verstand und die Seele? –– Wer beschreibt die einzelnen Regungen? –– Wer ist wach, wenn ich glücklich bin und vor Freude die Welt umarmen möchte? –– Wer ist wach, wenn ich traurig bin und pochenden Schmerz in meinem Inneren erfahre? Sobald diese offenen Fragen im Raum stehen, stellt sich bei den Teilnehmern eine intensive Aufmerksamkeitssteigerung ein, eine Qualität des In-sich-Lauschens und des Hinspürens. Die meisten bemerken, dass sie tatsächlich aus verschiedenen Dimensionen bestehen, die sie alle als Ausdruck ihres persönlichen Seins erleben. Eine zentrale Dimension ist schließlich die reine Beobachterperspektive, die Geschehnisse und Empfindungen wie ein ruhiger Spiegel neutral wiedergeben kann. Um diese Ebene zu erfahren, stelle ich eine zentrale Frage: –– Wer sind Sie – sind Sie Ihr Gefühl, Ihre Gedanken, Ihr Körper, Ihre Seele oder ein Bewusstsein jenseits davon?

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Hierzu gibt es keine ausschließlichen Antworten, sondern eher eine einschließliche: Ich bin nicht nur ein Teil meiner Selbst, vielmehr bin ich alles zugleich und kann gleichzeitig aus allem heraustreten. In diesem Zustand der Betrachtung bin ich mit mir selbst verbunden, aber nicht zwangsläufig mit jeder meiner Regungen identifiziert. Mit Hilfe dieser Des-Identifikation kann ich meine übliche Art der Interpretationen, meiner Wirklichkeitskonstrukte und Konzepte genau untersuchen und hinterfragen. Diese Möglichkeit des Perspektivwechsels vom Erleben des Inhalts zum Beobachten des Inhalts ist für viele Menschen ein einschneidendes Aha-Erlebnis.

Offenes Gewahrsein im Coaching-Prozess Die gleichzeitige Präsenz in der personalen und transpersonalen Struktur bildet eine breite, weitgespannte Basis, um jeden noch so komplexen Entwicklungsprozess umfassend begleiten zu können. Der Zugang zu dieser umfassenden Präsenz kann durch eine gezielte Schulung des Bewusstseins jedem Klienten – auch ohne Vorkenntnis – schrittweise vermittelt werden. Ich bezeichne diese Schulung extra als Bewusstseinstraining, um damit die Abkoppelung von religiösen und spirituellen Inhalten klar zu verdeutlichen. Ein Coach sollte damit vertraut sein, im Bewusstseinsraum des offenen Gewahrseins verankert zu sein. Von hier aus kann er Schritt für Schritt den Klienten mit der Erfahrung der Bewusstseinsweite vertraut machen. Durch vertiefende Übungen kann auch der Coach eine stete Verbindung zu dieser Ebene aufbauen. Daraus ergeben sich folgende Möglichkeiten und Vorteile: –– Für die Analyse: Da dieser offene Bewusstseinsraum nicht mit einer einzelnen Perspektive identifiziert ist, kann der Coach Zusammenhänge mehrperspektivisch untersuchen und komplexe Umstände wie in einem Forschungslabor untersuchen. –– Für die Selbststeuerung des Coach: Die Verankerung im offenen Bewusstseinsraum schafft eine Verbindung zu einer tieferen Seinsebene der Ganzheit und Einheit. Schicksalhafte Umstände in der Biografie des Klienten können in einem anderen, existenzielleren Licht gesehen und bezeugt werden. –– Für die Beziehung zwischen Coach und Klient: Aus dieser Seinshaltung entsteht ein Feld, das inneres Wissen und Heilkraft freisetzt. Durch die Einbettung in einem höheren Seinszustand können schmerzhafte Geschehnisse eine Verortung in einer größeren Ordnung erfahren. Die Beziehung zwischen Coach und Klient ist in einem größeren existenziellen Kontext eingebettet. –– Für den Prozessablauf: Aus dieser offenen Schau lässt sich die Abfolge eines Prozesses fließend gestalten. Kein Blickwinkel bleibt dabei ausgeschlossen, alles ist willkommen, die Gewichtung der Inhalte folgt achtsam dem Erleben des Klienten. Durch das Heraustreten aus dem emotionalen, körperlichen, mentalen und seelischen Geschehen können sich verstrickte Situationen entwirren und in ihrer Verflechtung

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transparent werden. Für die persönliche Entwicklung und Selbstwirksamkeit des Klienten können Muster und Prägungen von außen betrachtet werden, lassen so das Reaktive und Zwanghafte deutlich werden und neue, freiere Handlungspfade erkennen. Durch die Verankerung im »neutralen Raum« können emotional aufgeheizte, dynamische Situationen heruntergekühlt und entschleunigt werden. Achtsamkeit bedeutet auf neurobiologischer Ebene eine Vorerregung der involvierten Hirnareale und lässt so den Coaching-Prozess tiefer wirken. Achtsamkeit und Meditation verändern Funktion und Struktur des Gehirns, das heißt, die im Coaching erarbeiteten Inhalte verankern sich nachhaltig im Alltag des Klienten. Neben dieser Vielzahl der möglichen Wirkungen möchte ich noch einen anderen, grundsätzlichen Effekt beschreiben. Bin ich als Coach im offenen Gewahrsein verankert, trete ich meinem Klienten immer mit Respekt und großer Aufmerksamkeit entgegen. Ich begrüße ihn durch meine innere Haltung von Seinsgrund zu Seinsgrund. Dieses offene, achtsame Geschehen kommt bei meinem Gegenüber immer an – selbst wenn ich es in einer Gruppe mit einer Vielzahl von Teilnehmern zu tun habe. Persönlichkeitsmerkmale wie Alter, Geschlecht, Status verschwinden in den Hintergrund und es öffnet sich spontan ein Raum der Neugierde, des Interesses, der natürlichen Erforschung. Diese intuitive Öffnung habe ich schon oft erleben können und ich bin jedes Mal erstaunt und berührt, in welch kurzer Zeit dadurch Vertrauen wachsen kann. Vertrauen ist hierbei kein Zufallsprodukt, sondern entsteht durch Resonanz. Die Gedanken, die Gefühle, die Schwingungen, die sich in mir bewegen und die ich ausstrahle, kommen beim anderen an – und lösen bei ihm in Bruchteilen eine Reaktion aus. Fühlt sich mein Klient oder der Teilnehmer eines Seminars in seiner ureigenen Wesensart gesehen und geachtet, hat er ebenfalls die Motivation, mit mir in ehrlichen Austausch zu treten. Diese Art des Zusammenseins bildet die beste Ausgangsposition für einen fundierten, zügigen, effektiven Prozess. Sie ist Ausdruck einer neuen Kultur des Bewusstseins, die nicht nur im Coaching, sondern in vielen anderen Gesellschaftsfeldern dringend gebraucht wird. Bewusstes Sein als Quelle immanenter Kraft und Ganzheit

Wohin auch meine Seele Segelt, wandert oder fliegt, alles, alles Gehört ihr. Welche Stille Allenthalben, immer; Jetzt auf dem hohen Bug, der das dunkle Blau in zwei Silberhälften teilt, in die Tiefe sinkend oder in den Himmel steigend! Oh, wie gelassen die Seele, wenn sie – gleich einer reinen Und einsamen Königin – Ihr unendliches Reich in Besitz nimmt! Juan Ramón Jiménez (1987)

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Die Gleichzeitigkeit von Bewegung und Ruhe erfahrbar machen

Neben der Erfahrung des offenen Gewahrseins birgt der Bewusstseinsraum noch eine ganz andere Kostbarkeit – das Erleben von Ruhe und Stille in der eigenen Wesensmitte. Stille liegt im Wesensgrund eines jeden Menschen verborgen. Mit Hilfe einfacher Übungen lässt sich diese immanente Ruhe für jeden Menschen erfahrbar machen.

Übung: Bewegung und Ruhe Beobachten Sie sich selbst: Da ist Ihr Körper mit seinen sich schnell wandelnden Empfindungen und Befindlichkeiten, die unablässig zwischen Wohl- und Unwohlsein hin und her pendeln. Mal ist es dem Körper warm oder kalt, er fühlt sich wach oder müde, verspürt Hunger oder Durst. Er kann angespannt sein und sich überfordert fühlen – dann wieder brummt er selig und entspannt. Eng verknüpft mit den Körperempfindungen wandern auch die Gefühle und Gedanken unentwegt zwischen den Polen des Wohlergehens und der Missstimmung hin und her. Ein bedrückender Gedanke der Sorge oder Angst trägt immer auch ein beengendes Gefühl im Schlepptau, das sich blitzschnell auf den Körper niederschlägt. Genauso verbinden auch Glück und Freude diese Ebenen in Ihrer Befindlichkeit. In der weiteren Betrachtung bezeichne ich dieses unablässige Schwingen zwischen hell und dunkel als Dualität. Sobald Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen wenden, wie zum Beispiel während einer Meditation, können Sie Ihre sich schnell verändernden Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen sorgfältig beobachten. Sie werden feststellen, dass diese spontan kommen und gehen, ohne dass Sie darauf Einfluss nehmen können. Betrachten Sie diese Informations- und Empfindungsketten genauer, entdecken Sie Zwischenräume. Gedanken und Gefühle haben einen Anfang und ein Ende. Dazwischen liegt eine Pause, ein schmaler Spalt, in dem Stille aufblitzt. Bei genauer Beobachtung entdecken Sie neben der unablässigen Bewegung der dualen Ebenen auch eine beständige Ruhe in sich. In diesen Raum können Sie sich regelrecht hineinsinken lassen. Während Sie sich auf physischer, mentaler und emotionaler Ebene in relativ gut greifbaren Bildern, Definitionen und Konzepten wahrnehmen und beschreiben können, betreten Sie nun einen anderen Bereich Ihrer selbst (vgl. Abb. 3). Der Raum der Stille schwingt in einem ruhigen Strom, der alle Polaritäten und Gegensätze vereint. Das persönliche Empfinden definiert sich nun nicht mehr über Eigenschaften wie: Ich bin eine Frau, ich bin ein Mann, ich bin Deutsche(r), ich bin verheiratet, berufstätig, habe Kinder etc. In diesem Bewusstseinsraum entfallen all diese Attribute, er ist Erleben im Sein.

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Dualität und Einheit Die Ebenen der ständigen Veränderung und der Raum der Stille

Abbildung 3: Dualität und Einheit 1

Diese Wahrnehmung mag ungewohnt sein, aber sie ist nicht mehr als ein Blickpunktwechsel: vom Tun zum Sein. Während sich die dualen Ebenen – Körper, Gedanken und Gefühle – wie eine Sinuswelle beständig heben und senken, herrscht in unserem Wesenskern tiefe Stille. Diese Wesensmitte ist wie das Auge im Zyklon – sie ist der einzig ruhende Pol im Trubel des stetig vorandrängenden Lebens (vgl. Abb. 4). Dualität und Einheit Die Ebenen der ständigen Veränderung und der Raum der Stille

Abbildung 4: Dualität und Einheit 2

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Ein erweitertes Verstehen der Welt Vielleicht kennen Sie den niederländischen Künstler M. C. Escher. Er hatte sich ganz und gar darauf spezialisiert, die Wahrnehmung des Bildbetrachters aus ihrer normalen Bahn zu werfen. Ich entsinne mich einer Zeichnung, die mich schon als Kind faszinierte. Sie zeigt einen Schwarm Fische, der sich von der einen Seite des Bildrandes zur anderen bewegt. Doch das ist nur die eine Wahrheit dieses Bildes. Dort, wo man gerade eben einen Fisch zu sehen glaubte, entdeckt man nun einen Vogel, der sich in die andere Richtung bewegt, und tritt man einen Schritt zurück, sieht man sogar einen ganzen Schwarm Vögel, der über die Leinwand zieht. Die Fische sind verschwunden und man registriert nichts als Flügelschlagen. Je mehr sich das Auge an den Bildaufbau gewöhnt, desto mehr kann es die zwei Erlebnisebenen gleichzeitig identifizieren, die nahtlos ineinandergreifen. Letztendlich entscheidet der Blickpunkt darüber, welche der verschiedenen Wirklichkeiten in den Vordergrund tritt. Ich kann mich dem Himmel, der Welt der Vögel, zuwenden oder dem Wasser – es ist immer das gleiche Bild, das vor mir liegt. Ich kann aber auch beide Welten gemeinsam betrachten und es entsteht in mir ein gänzlich neues Begreifen. Füge ich diese zwei Dimensionen, die diametral auseinanderzustreben scheinen, in eine einzige Wirklichkeit, schenkt sich mir ein erweitertes Verstehen der Welt. Genau das gleiche passiert im Coaching-Prozess, sobald ich einem Klienten den Zugang zu seinem innersten Raum der Stille erfahrbar mache. Für manchen Menschen ist es das erste Mal, dass er in sich selbst tiefen Frieden und Geborgenheit spüren kann. Einfach da sein können, ohne etwas zu tun – in sich selbst hineinlauschen, die eigenen Präsenz erforschen und sich selbst genug sein. Diese Erfahrung ist für viele neu und wichtig, denn im Alltagsgeschehen gründet unser Selbstbild auf unserer Leistungsfähigkeit, auf das, was wir sind und was wir haben. Unser Erfolg und Ansehen spielen dabei eine Rolle, genauso wie familiäre und gesellschaftliche Zugehörigkeit. Im Alltag müssen wir handeln und uns darstellen, Position beziehen, kämpfen, gewinnen und verlieren. Wir verletzen und werden verletzt, berühren, erschaffen, gehen unter und tauchen unverhofft wieder auf. Diese Dualität ist unser normaler, vertrauter Schauplatz, zum Teil auch Kampfplatz, auf dem wir uns selbst erleben und wahrnehmen. Der innere Bewusstseinsraum dagegen ruht in sich selbst. Diese Ebene des Formlosen versammelt all die unzähligen Erscheinungen der Welt und verbindet sie zu einer einzigen Kraft – der Einheit. Konzentrieren wir unsere Wahrnehmung auf diese Ebene, gibt es für uns nichts zu tun. Wir können spüren, dass unser eigentliches Wesen ganz aus sich selbst heraus existiert. Tauchen wir in den Strom des Sein-Lassens ein, entdecken wir, dass unser Leben in einer gewaltigen Dimension verwurzelt liegt. Joachim Galuska, Gründer und Leiter der Klinikgruppe Heiligenfeld, schreibt dazu: »Das transpersonale Bewusstsein ist losgelöst und frei von den einzelnen Eigenschaften, Bildern und Konzepten, die wir mit uns selbst und anderen verbinden. Damit überschreitet es unser Ich-Bewusstsein, unser personales Erleben, und ist somit trans-ichhaft,

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transpersonal […] Neben seiner Leere wird es weit, unendlich weit, unbegrenzt weit und raumhaft erlebt, so dass es auch als Bewusstseinsraum beschrieben werden kann. Dieser Bewusstseinsraum ruht in sich selbst, er trägt in sich selbst Frieden und Stille. So wirkt er zentriert, wie eine Art Mittelpunkt oder Nullpunkt für die Inhalte unseres Erlebens. Gleichzeitig wird das transpersonale Bewusstsein transparent und durchlässig für energetische Empfindungen, Jenseitiges, Höheres und Transzendentes. In seiner Offenheit erfährt es Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt. In ihm haben wir das Gefühl, unserem Wesen nahe zu sein und mit unserem Wesen verbunden zu sein. Der Grund unserer Wahrnehmung und unseren Erlebens kann erfahren werden und erscheint dann als Seinsgrund, als transzendenter Urgrund« (Galuska, 2011a, S. 3).

Die Seele – Resonanzboden unserer Potenziale und Berufung Wie Sie an meinen Kompassen und Schaubildern sehen, unterscheide ich bei der Betrachtung der einzelnen Wahrnehmungsebenen zwischen Seele und Bewusstsein. Diese Differenzierung ist in meiner praktischen Arbeit über viele Jahre gewachsen und ich möchte sie an dieser Stelle genauer erklären. Das Wort Seele wird heutzutage in verschiedenen Kontexten verwendet. Abhängig davon, ob es im religiösen, philosophischen, psychologischen oder neurowissenschaftlichen Zusammenhang gebraucht wird, verwandelt sich die Deutung seines Inhalts. Im normalen Sprachgebrauch wird die Seele als etwas Immaterielles und Unsterbliches verstanden, das aus dem Ewigen kommend den Körper belebt und nach dem Tod wieder ins Ewige geht. Somit bezieht sich der Seelenbegriff auf eine Art unsterbliche Identität. In der deutschen Dichtung wird die Seele metaphorisch interpretiert, als Bild der Sehnsucht nach dem Unendlichen und Ewigen. Die Seele kann wandern, segeln, fliegen – sie ist frei, um sich in die Lüfte zu schwingen und sich dorthin zu begeben, wo sie sich beheimatet fühlt. Sie dient als ein Resonanzboden für feinste Schwingungen und als Ausdruck eines höheren Selbst. Diese Beschreibungen klingen zunächst ungreifbar, geheimnisvoll und abstrakt, aber in der Begleitung von Menschen wird diese Seelenebene sehr konkret, zwar nicht in einer Weise fassbar wie Körper, Gefühle und Gedanken, doch mit ein wenig Empfindungsfähigkeit deutlich spürbar und auch beschreibbar. In vielen Coaching-Gesprächen wiederholte sich folgendes Phänomen: Mein Gegenüber beschreibt zunächst sich und seine Lebenssituation in klaren Bildern, Konzepten und Zuordnungen. Im Laufe der Erforschung verändert sich die Beschreibung seiner selbst. In seine Darstellung, wie er sich bisher im Leben aufgestellt hat, schwingt mehr und mehr die Ebene seiner Möglichkeiten, seiner Potenziale, seiner Berufung und seiner Sehnsucht hinein. Auf diese Weise beginnt die Seele zu sprechen und wenn sie bemerkt, dass ihr Raum und Aufmerksamkeit geschenkt werden, beginnt sie sich weiter zu öffnen. Oft kommt es vor, als hätte die Seele des Menschen viele Jahre darauf gewartet, sich endlich zeigen zu können und einen offenen, wertfreien Spiegel zu finden, in dem sie sich selbst betrachten kann.

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Sobald ein Mensch seiner Seele Raum gibt, weiß er, mit welchen Befähigungen er von der Natur ausgerüstet wurde, was seine authentische Art ist, sich in die Welt einzubringen. Er weiß um seine Werte und um seine Kraft, diese auch umzusetzen. In meiner Wahrnehmung ist ein Mensch stark, leistungsfähig, kreativ, belastbar, gesund, erfüllt und auch glücklich, sobald er sich in Deckungsgleichheit mit diesem ursprünglichen, ureigenen Wesenskern befindet. An dieser Stelle liegen seine dauerhafteste Stärke verborgen und auch seine größte Motivation. Möchte ein einzelner Mensch, ein Team oder ein Unternehmen diese schlummernden Potenziale erwecken, muss er/es sich seiner Seele zuwenden, auf individueller oder auch kollektiver Ebene. Dieser Zusammenhang ist für die meisten Klienten schnell wahrnehmbar, selbst wenn sie eher rationale Menschen sind. Die Wahrnehmung der eigenen Seelenkraft ist nichts Abgehobenes, ganz im Gegenteil. Sie wirkt im Moment der Erfahrung als selbstverständlich und vertraut – sie schließt sich eher dem gesunden Menschenverstand an als einer übernatürlichen Erfahrung. Wir alle besitzen die Erfahrung, was ein beseelter Mensch alles in Bewegung setzen kann – berühmte Beispiele hierfür sind Martin Luther King, Nelson Mandela oder Muhammad Yunus. Aber auch in unserem direkten Umfeld gibt es viele Beispiele für beseeltes Handeln. Besonders oft finden sie sich bezeichnenderweise im Ehrenamt. Hat ein Klient erst einmal sein wahres Selbst erlebt, gehe ich mit ihm auf Spurensuche, an welchen Ecken und Enden er sich im Leben davor versteckt hat und wann genau er sich aus seiner eigenen Wesensmitte herausbegeben hat. Diesen Prozess der eigenen Entfremdung durchlaufen wahrscheinlich fast alle Menschen. Es gehört zum Lebensprozess dazu, dass wir diese Enteignung unserer selbst erkennen und den Weg zu uns selbst wieder zurückfinden. An dieser Stelle weiß der Klient selbst meist am besten, wie der Weg seiner Potenzialentfaltung am schnellsten vonstatten gehen kann. Besser gesagt, nicht er weiß – seine Seele kennt den Weg. Deshalb ist die Seele meines Klienten für mich als Coach der wichtigste Sparringspartner. Auf ihre Empfindungen, Bewegungen und Regungen achte ich ganz besonders, denn hier offenbart sich mein Klient direkt und natürlich.

Die Seele – Schwingtür zwischen Dualität und Einheit In der Seele schlummern unendliche Weisheit, Heilkraft und auch die nötige Geduld, um den Weg einer fundierten Persönlichkeitsentwicklung zu beschreiten. Aus meiner Sicht fungiert sie wie eine Schwingtür zwischen der Dualität und der Einheit. Damit sich die Seele erfüllen und entspannen kann, braucht sie den ihr angemessenen Ausdruck in der Welt der Formen und Gegensätze. Gleichzeitig wird sie gespeist von einer größeren Wahrheit und Weisheit, die alle Gegensätze vereint und das Leben aus anderer Perspektive erleben lässt. Joachim Galuska plädiert in seinem Artikel »Die erwachte Seele und ihre transpersonale Struktur« für einen neuen Seelenbegriff. Er versteht diesen Begriff als kein

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abbildendes, sondern als ein verweisendes Konzept, das etwas anstoßen soll, eine Anmutung wecken soll, etwas spürbar machen soll: »Diese Struktur, die man auch als Wesen, als Essenz, als offenes Selbst, wahres Selbst oder höheres Selbst bezeichnen könnte, ist transparent sowohl für das Persönliche als auch das Überpersönliche. […] Da sie in ihrer Tiefe offen für das Absolute und Universelle ist, könnte man sie auch betrachten als die individuelle und persönliche Art und Weise, wie das Absolute sich eben in diesem Menschen manifestiert. Nach Wilber ist die Seele der bedeutende Vermittler und Bote zwischen reinem Geist und individuellem Sein« (Galuska, 2011b, S. 8). Vielleicht kommen wir an dieser Stelle noch einmal zu der Frage: Was hat diese tiefe Dimension des Menschseins mit Coaching zu tun? Aus meiner Erfahrung sehr viel, denn im Coaching sitzt immer ein ganzer Mensch vor mir, der auf allen Ebenen wahrgenommen sein möchte. Gleich, ob es sich um ein Gespräch über eine Karriereentwicklung handelt oder um die Verarbeitung einer beruflichen oder privaten Trennungssituation, ob es um bessere Kommunikation geht oder überzeugendes Führungsverhalten – der Schlüssel zu einer nachhaltigen Veränderung und einem wahrhaften Reifeprozess ruht in der Seele des Menschen. Kann die Seele verletzt werden? Viele Klienten tragen psychische Verletzungen in sich, die sie im Laufe ihrer Kleinkind-, Jugend- oder Erwachsenenzeit erlitten haben. Diese Verletzungen entstehen, wenn sich der Mensch nicht wahrgenommen fühlt und ihm keine entsprechende Aufmerksamkeit zuteil wird. Wenn er sich nicht mitteilen kann. Wenn er keine Liebe und Zärtlichkeit erfährt. Wenn ihm kein Vertrauen entgegengebracht wird und ihm keine Fairness geschenkt wird. Wenn er sich an Umstände anpassen muss, die nicht tatsächlich seiner Wesensart entsprechen. Wenn er körperliche oder psychische Gewalt erfährt. Wenn er missbraucht wird. Wenn er gekränkt und gedemütigt wird. Wenn er sich in unsicheren, instabilen Verhältnissen bewegt. Wir alle kennen solche Verletzungen aus unserer eigenen Lebensgeschichte und wissen nur zu gut, welche Wirkungen sie auf unser Selbstvertrauen und unsere Selbstwirksamkeit haben. Trotz dieser Wunden und Einschränkungen, die wir als Mensch in uns tragen, besitzen wir jedoch auch Anteile, die niemals verletzt wurden und die ganz und gar heil sind. Diese Anteile sind unsere größten Kraftspeicher, unsere Ressource, um uns aus uns selbst heraus zu heilen. Sie sind wie eine grüne Sommerwiese, in die wir uns hineinlegen können, wie ein warmes Wasser, das uns trägt und hält, wie ein starker Fels, auf dem wir ausruhen können. Alle Menschen, denen ich begegnet bin, haben diese ureigene Kraft der Heilung, des Heilseins unbewusst in sich angezapft – sonst hätten sie viele ihrer Lebenseindrücke nicht verarbeiten können. Die Wissenschaft beschreibt diese Fähigkeit, aus sich selbst heraus Krisen zu bewältigen und daran zu wachsen, mit dem Wort »Resilienz«, ein Synonym für Widerstandskraft, Belastungsfähigkeit und Flexibilität. Gerade traumatisierte Menschen können, neben dem Mechanismus der Verdrängung und Abspaltung, einen unglaublichen Lebenswillen generieren. Oft sind sie durchdrungen von einer tiefen Sehnsucht, in ein gutes, erfülltes Leben zu finden. Obwohl ihr Selbstver-

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

trauen unzählige Male erschüttert wurde, haben sie dennoch das Vertrauen ins Leben nicht verloren. Ganz im Gegenteil. In vielen Menschen schwingt trotz ihres Schmerzes eine bemerkenswerte Kraft der Versöhnung, die sie Schritt für Schritt wieder heil werden lässt. Auch in diesem Kontext erscheint mir die Seele als Vermittler zwischen den geprägten, von der Dualität gezeichneten, verletzten Anteilen einer Person und ihrem unverletzten, reinen Bewusstsein, das Geschehnisse bezeugt, aber von ihnen unberührt bleibt. So birgt die Seele gleichzeitig die Erschütterung der Verletzung in sich als auch das Wissen um ihre Heilung sowie ebenfalls das Heilsein an sich. Dies ist eine wunderbare Ebene unserer selbst, der nichts fremd ist, weder das menschliche noch das göttliche Prinzip. Eine Seele, die sich von Kummer und Anspannung befreit, leuchtet aus sich selbst und verschenkt Liebe, Großzügigkeit, Verstehen. In diesen Augenblicken entfaltet das ganzheitliche Coaching eine besondere Tiefe und Tragfähigkeit.

Verankerung im heilen und heilenden Raum In der Coaching-Sitzung möchte ich meinen Klienten auf eine natürliche, angenehme Art und Weise mit dem stillen Innenraum des Bewusstseins vertraut machen. So habe ich über die Jahre zu verschiedenen Übungen gefunden, die für viele Personen sehr schnell zugänglich und nachvollziehbar sind. Zum einen schenken sie die Erfahrung des ruhigen Beobachters. Zum anderen verknüpfen sie dieses Erleben mit intensiven, einprägsamen Wahrnehmungen auf körperlicher und feinstofflicher Ebene. Der Klient lernt, sich diesen Innenraum selbständig zu erschließen. Durch regelmäßige Übungen, die ihn pro Tag nur zehn bis zwanzig Minuten abverlangen, wird ihm die Möglichkeit des inneren Ausruhens immer vertrauter. Nach und nach kann er die gleichzeitige Wahrnehmung von Bewegung und Stille vertiefen. Daraus ergeben sich folgende Vorteile und Potenziale: –– Für die Analyse: Während der genauen Standortbestimmung können »anstrengende Themen« angerührt werden. Die Verankerung im Raum der Stille schenkt dem Klienten einen Moment des Ausruhens und Innehaltens. –– Für die Selbststeuerung des Coach: Auch der Coach, der oft in Berührung steht mit schwerwiegenden Lebensthemen, kann sich in diesem übergeordneten Raum der Einheit ausruhen. Dadurch vermeidet er unbewusstes Schutzverhalten und Abstumpfen. Er kann dem Schicksalsweg des Klienten gegenüber geöffnet bleiben, ohne dass er sich selbst überlastet. –– Für die Beziehung zwischen Coach und Klient: Das gemeinsame Erleben des stillen Raums schenkt der Beziehung eine andere Dimension. –– Für den Prozessablauf: Durch die Verankerung in dem inneren Raum der Ruhe steht dem Klienten eine beständige Ressource zur Verfügung. Gerät er in eine emotionale Übererregung, kann ihn der Coach direkt an diese Ressource anschließen. Daraus bildet sich eine sichere Prozesssteuerung, die selbst intensive, emotional aufgeladene Arbeitsschritte stabilisiert.

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Sylvia Kéré Wellensiek: Den »ganzen Menschen« begleiten

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–– Für die persönlichen Entwicklung und Selbstwirksamkeit des Klienten: Mit dem Zugang zu seiner inneren Mitte besitzt der Klient ein machtvolles Handwerkszeug der eigenen Selbstheilung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit.

Die Entmystifizierung des Spirituellen Aus meinem täglichen Erleben in Einzel-Coachings, Seminaren, Teamtrainings und Unternehmensberatungen kann ich nur betonen, dass für einen profunden Entwicklungsprozess die Erschließung des Bewusstseinsraums ungemein hilfreich ist. Viele Menschen haben spontane Berührungsängste, wenn sie Worte wie Spiritualität, Bewusstseinserweiterung oder Meditation hören. Sie verbinden damit Bilder und Vorstellungen, die sich bei genauerer Hinterfragung oft als ungenau und wenig tragfähig erweisen, doch bilden diese »Vor-Urteile« eine gewaltige Hürde, die zunächst im Weg steht. Heute kann ich mein Erleben von innerer Verbundenheit zu mir selbst, zu anderen und zu der höheren Schöpferkraft in sehr einfachen, klaren Bildern beschreiben. Diese Entmystifizierung tut mir selbst sehr gut und auch all meinen Klienten. So schließe ich meinen Beitrag mit den zeitlos schönen Worten von Bodhidharma: »Offene Weite – nichts von heilig.«

Literatur Galuska, J. (2011a). Grundprinzipien der transpersonal orientierten Psychotherapie. Zugriff am 27. 10. 2011 unter: www.heiligenfeld.org/kliniken/Fachvortraege Galuska, J. (2011b). Die erwachte Seele und ihre transpersonale Struktur. Zugriff am 27. 10. 2011 unter: www.heiligenfeld.org/kliniken/Fachvortraege Gottwald, C. (2011). Neurobiologische Aspekte einer bewusstseinszentrierten Psychotherapie. Zugriff am 27. 10. 2011 unter: www.gehirnundkoerper.de/artikel/IV-Gottwald.pdf. Hüther, G. (2009). Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Jiménez, J. R. (1987). Herz, stirb oder singe. Zürich: Diogenes. Wellensiek, S. K. (2010). Handbuch Integrales Coaching. Praxis und Theorie für fundierte Einzelbegleitung. Hintergrundwissen, Tools und Übungen. Weinheim: Beltz.

Sylvia Kéré Wellensiek ist international erfolgreiche Trainerin, Coach, Autorin, Expertin für Unternehmensresilienz, Führungskräfte- und Teamentwicklung, Veränderung und Komplexität, Referentin zahlreicher renommierter Bildungseinrichtungen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Veränderungs- und Wachstumsprozesse, basierend auf zunehmender Bewusstwerdung im von ihr entwickelten Human-Balance-Training. Die ausgebildete Diplom-Ingenieurin, Physio- und Psychotherapeutin leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein Trainings-, Beratungs- und Ausbildungsinstitut und begleitet Hochleister aus Wirtschaft und Spitzensport in ihrer individuellen Potenzialentwicklung. www.whtraining.de

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Manfred Zink

Zen im Coaching Von der Inneren Form® zur äußeren Form der Bewusstseinsarbeit

Status Quo im Coaching In den vergangenen Jahren findet im Coaching ein Prozess statt, der, blickt man nur oberflächlich auf die Dinge, zunächst irritiert, weil er unter anderem auch die klassische Trennung von Therapie und Coaching aufzuheben scheint – es zumindest zu starken Überschneidungen der beiden Beratungsformen kommt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieser Prozess einen Zustand unserer Zeit spiegelt und gleichzeitig ein Bedürfnis der Menschen ausdrückt und in das Coaching transportiert. Es ist das Bedürfnis nach Sinn, der Wunsch, das Wesentliche zu erkennen, zu benennen und im Alltag, insbesondere in der Arbeit, wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen. Immer mehr Menschen erleben die tiefe Sehnsucht nach einem sinnhaften Tun, nach einem sinnhaften Sein und damit verbunden den Wunsch, sich zu führen, sich selbst zu bestimmen und im Dialog mit anderen ihr Wesen zum Ausdruck zu bringen. Es ist der Wunsch, nicht zu reagieren und von außen getrieben zu sein – Giddens (2001) spricht in diesem Zusammenhang von einer entfesselten Welt –, sondern reflektierend aus dem Inneren heraus zu agieren, zur Besinnung zu kommen, angesichts einer besinnungslosen Zeit, die scheinbar unaufhaltsam beschleunigt und verdichtet. Ein Zustand, der viele Menschen unzufrieden macht und unter dem viele leiden. Der Wunsch, der eigene Beweger zu sein, kraftvoll und mutig die Regie im Leben zu übernehmen, ist angesichts der Instabilität und des Chaos als Ausdruck einer Krise unserer Zeit eine sehr große Herausforderung. Diese Krise ist keine Krise des Äußeren, es ist eine Krise des Inneren, des Bewusstseins, und damit auch des Umgangs mit dem Selbst. Aufgrund eigener Erfahrungen in den vergangenen Jahren im Coaching bin ich davon überzeugt, dass diese Entwicklung das Coaching sowohl von den Inhalten als auch im Prozess zukünftig massiv verändern wird. Diese Veränderung wird auch eine Erweiterung der Professionalität von Coaches in der bisherigen Form zur Folge haben. Das Bedürfnis vieler Menschen, »ganz sich selbst zu sein«, wird mittlerweile ganz offen, zunehmend bereits im ersten Kontakt mit dem Coach, manchmal aber auch erst zeitversetzt bei der zweiten Coaching-Sitzung angesprochen. Zum Teil wird das Bedürfnis aber auch verdeckt zum Ausdruck gebracht, als Ziele werden dann oft zunächst

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Manfred Zink: Zen im Coaching

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»eine Verbesserung der Fähigkeit X« oder »eine Veränderung der Arbeitssituation Y« als Ziel des Coaching genannt. Bei genauer Betrachtung im Kontakt mit dem Coachee ergibt sich dann ganz häufig, dass die erstgenannten Gründe für den Anlass oft nur oberflächlich und vorgeschoben sind und von dem tiefer liegenden Wunsch nach einem »ganz anders« bzw. einem »so nicht mehr« geprägt sind. Immer mehr Menschen befinden sich in der Ausnahmesituation des »ich kann nicht mehr und will nicht mehr«. Das Selbst im Belagerungszustand der neurotischen Konkurrenz mit sich selbst und allen anderen ist getrieben durch die Angst, etwas zu versäumen, der Angst vor dem Verlust von Aufmerksamkeit und der Angst vor mangelnder Anerkennung. Die negativen Folgen der hurry-sickness, der krankhaften Neigung, alles gleichzeitig und sofort zu tun, sind bekannt. Viele Menschen halten diesen Belastungen nicht mehr stand. Es verwundert nicht, dass der Anteil von Menschen, die aufgrund einer chronisch körperlichen oder psychischen Erschöpfung (Burnout) Coaching in Anspruch nehmen, rasant ansteigt. Die Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen und die zunehmenden Frühverrentungen auf Grundlage psychischer Störungen haben enorme Zuwachsraten. Gerade im viel verwendeten und in der letzten Zeit heftig diskutierten Begriff des Burnout-Syndroms, ein Begriff, den

Abbildung 1: Status Quo

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

viele Mediziner zwar so nicht verwenden, zeigen sich aus der praktischen Erfahrung mit Coachees zwei zentrale Phänomene: –– ein Zuviel an Reizen und damit verbunden die unzureichende Fähigkeit, mit der Sinnesüberflutung zurechtzukommen; –– ein Zuwenig an Sinn im Leben und die mangelnde Fähigkeit, Sinn für sich zu erzeugen. Die Fähigkeit zur Resilienz, der Widerstandskraft, die es uns erlaubt, sowohl die Dauerbelastungen des Alltags als auch die Auswirkungen einschneidender Lebensereignisse so zu bewältigen, dass wir nicht darunter dauerhaft leiden oder gar zerbrechen, schwindet. Wie immer man den Begriff nun letztendlich definiert, ich verwende der Einfachheit wegen den Begriff Burnout, zeigt sich, das Burnout mehr ist als nur ein kosmetisches Problem aufgrund einer vorübergehenden Arbeitsüberlastung. Burnout ist das Symptom eines Zustands unserer Gesellschaft, der uns vor Augen führt, dass die bisherige Art und Weise, wie wir der Welt und den Dingen begegnen, nicht geeignet ist, dass sich Erfolg und Erfüllung in dem Maße einstellen, wie es sich viele wünschen. Scheinbar ist die Depression, die ja ganz häufig im Zusammenhang mit dem Begriff des Burnouts auftritt, Ausdruck und Begleiterscheinung einer ruhe- und rastlosen Welt – einer Welt der inneren Leere mit einem Zuviel an Aufmerksamkeit im Äußeren und einem Zuwenig, einem Mangel an Innerlichkeit. Nietzsche warnte bereits vor über hundert Jahren, dass wir aus einem Mangel an Ruhe in die Barbarei laufen. Bei steigendem äußeren Wohlstand stagniert das innere Wohlbefinden. Ein hoher Anteil von Arbeitnehmern ist am Arbeitsplatz frustriert, die alljährlich stattfindenden Gallup-Studien belegen dies. Es gilt, in dieser nervösen Welt, die von einer zunehmenden Komplexität und Dynamik und einem Verlust an Stabilität geprägt ist, die Orientierung und Handlungsfähigkeit zu erhalten, um sich nicht im Hamsterrad des Unwesentlichen zu verlieren und am Belanglosen zu scheitern. Um die Orientierung und Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund zunehmender Veränderungen zu gewährleisten, reicht es nicht aus, legt man das Kompetenzmodell zugrunde, den Fokus ausschließlich auf die Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz zu richten. Dies ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. In den Zeiten des Wandels, der geprägt ist durch eine hohe Unsicherheit, durch Ungewissheit und durch eine neue Unübersichtlichkeit, benötigen wir ein erweitertes Verständnis der Handlungskompetenz, einen paradigmatischen Musterwechsel (vgl. Klitzke, 2010, S. 51). Dieser um den Aspekt der personalen Kompetenz erweiterte Begriff der Handlungskompetenz beinhaltet mehr als reines Wissen. Es geht entscheidend darum, die Verantwortung für sich selbst, für die Führung der eigenen Person zu übernehmen. Das beinhaltet auch die Fähigkeit, vor dem Hintergrund der Instabilität selbstorganisiert (vgl. Erpenbeck u. Heyse, 1999 in Klitzke, 2010) zu handeln, eigene Werte und Selbstbilder zu reflektieren und sich auf der Basis seines Potenzials selbst zu entwickeln.

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Abbildung 2: Personale Kompetenzen

Coaching quo vadis – Bewusstsein des Selbst – sich seiner selbst bewusst sein Das Coaching der Zukunft wird integrales Coaching sein, das die Dimensionen Hirn (Bewusstsein, Geist), Herz, Hara (Kraft und Energie) berücksichtigt. Es wird die Frage »Wie wollen wir leben und arbeiten?« stärker fokussieren. Die WHO hat bereits 1946 Gesundheit als den Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen definiert. Laut einer Studie von 2011 (vgl. Frankfurter Rundschau vom 29. 12. 2011) fühlen sich in Deutschland nur noch 64,7 Prozent der Menschen gesund, ein Wert, der mit Blick zu unseren europäischen Nachbarn bescheiden und im direkten Vergleichswert zum OECD-Schnitt unterdurchschnittlich ausfällt. So wird sich zukünftig auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit mit allen geistigseelischen und körperlichen Aspekten in Organisationen noch mehr intensivieren, mit Auswirkungen auch auf den Coaching-Bedarf. Coaching, das die Dimension des Ganzseins, des Heilseins in diesem erweiterten Verständnis begreift, wird sich dann auch mit den Aspekten von Beziehung und Bindung zu sich selbst, mit den zugrundeliegenden Denk- und Handlungsmustern und Emotionen auseinandersetzen. Die Bedeutung dieser Form des Coaching, eines Coaching der

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Inneren Form, mit den Aspekten der personalen Kompetenz, die über das rationale Wissen, das Menschen von sich besitzen, hinausgeht, und das direkt den Kern des Inneren berührt, dringt langsam ins Bewusstsein der Szene (vgl. Linder-Hofmann u. Zink, 2002). Natürlich werden auch zukünftig die Themen der äußeren Form, die sich traditionell stärker mit der Erweiterung und Anpassung von Fähigkeiten und Fertigkeiten auseinandersetzen, Gegenstand von Coachings sein. Die Themen der Inneren Form, Fragen, die das eigene Selbst betreffen, die sich intensiv mit der Erfahrung der Subjektivität der Konstruktion von Wirklichkeit beschäftigen, werden verstärkt Gegenstand von Coaching sein. Themen der Eigenreflexion, der Akzeptanz des Selbst, des respektvollen Umgangs mit sich, der Fähigkeit, seine eigenen Potenziale zu erkennen und zu verwirklichen, gewinnen an Bedeutung(vgl. Abb. 3). Im Verständnis des Coaching der Inneren Form stellen sich dann Fragen wie »Wer bin ich?«, »Wer glaube ich zu sein?«, »Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin?« und insbesondere die Frage »Wer will ich sein, für wen und wozu?«. Bleibt Coaching hier an der Oberfläche und lüftet nicht den Schleier des Vordergründigen, werden sich die Aspekte der personalen Kompetenz nicht entwickeln.

Abbildung 3: Selbstmodell Innere Form

Folgende drei Aspekte sind die Landkarte verschiedener Perspektiven des Selbst. (Eine ausführliche Darstellung und aller damit verbundenen Differenzierungen findet sich bei Klein, Limberg-Strohmeier, Linder-Hofmann u. Zink, 2010, S. 188 ff.)

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–– Selbstbewusstsein ist die Fähigkeit, sich seiner selbst und seines Selbst bewusst zu sein, sich selbst wahrzunehmen und sich selbst zu reflektieren. –– Selbstwert bedeutet, sich selbst etwas wert zu sein, sich zu akzeptieren, sich zu achten, sich zu respektieren. –– Selbstverwirklichung ist das Vermögen, sich selbst und sein Selbst ins Leben zu bringen, sich zu verwirklichen und sich selbst zu aktualisieren. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Auseinandersetzung mit dem Selbst, die »organisierte Selbstverwirklichung« (vgl. Honneth, 2010), nicht zu einer Selbstausbeutung des Einzelnen führt. Carles Taylor warnt in seinem wegweisenden Werk »Das Unbehagen an der Moderne« vor einer Trivialisierung des Selbst, die als Übersteigerung nur noch zu einer Ich-Idealisierung führt und in dieser neurotischen Selbstfindung der Ich-AG die »dialogischen, kommunikativen Bezüge zum anderen verliert« (Taylor, 1995, S. 67 ff.). Die Erweiterung des Selbst setzt immer auch die Erweiterung des »in der Welt mit anderen sein« unabdingbar voraus, will man kein Eremitenleben führen. Deshalb ist Vorsicht geboten vor einer Trivialisierung und Banalisierung, die in einer zunehmenden Glücksindustrie das Heil außerhalb der Arbeit sucht bzw. in allzu simplen Work-Life-Balancing-Rezepten eine Linderung verspricht. Die nachhaltige Auseinandersetzung und Entwicklung des Selbst gelingen selten innerhalb eines Wellness-Wochenendes. So laufen denn auch alle Bemühungen, die Erfüllung ausschließlich außerhalb der Arbeit zu finden, im Grunde am Problem vorbei. Es geht nicht darum, wie oft propagiert wird, weniger zu arbeiten, es geht schlicht darum, sinnvoller zu arbeiten, die Bedeutung von Arbeit in unserem Leben zu erkennen und ihr den ganz individuellen Stellenwert einzuräumen. Das bedeutet, Erfolg und Erfüllung auch und gerade in der alltäglichen Arbeit zu empfinden und das Glück und die Zufriedenheit nicht auf den Fluchtpunkt Feierabend oder die Rente zu verschieben. Wer so lebt, lebt ständig in der Konstruktion eines Später. Dante beschrieb bereits vor 700 Jahren sinngemäß, dass die Menschen »ihr Glück immer an das Ersehnte knüpfen«. Das sich Einlassen auf das, was ist, weitgehend frei von der ständigen Suche nach dem Nicht-Erreichten oder dem Noch-nicht-Eingetretenen, ist das Ziel und nicht SuchtFlucht in das Gewesene des Vergangenen oder das anstehende Zukünftige. Sich Einlassen auf sich selbst, auf andere und auf die Situation setzt immer auch die vollständige Präsenz im Alltag und die Resilienz des Selbst voraus. Auf welchem Weg lässt sich das nun erreichen? Ein Weg ist der Weg des Zen.

Zen – was ist das? »Dynamisches und unabgelenktes Handeln im Alltag ist der Schlüssel zu privatem und beruflichem Erfolg, es ist das tiefe Ruhen in mir selbst und der offenen Weite«, sagt

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Hinnerk Polenski (zit. nach Linder-Hofmann u. Zink, 2002, S. 146), ein Zen-Meister der jüngeren Generation und Begründer des DaiShin-Zen, einer Linie des Rinzai-Zen. Was ist Zen? Zen ist ein bewährter Weg, mit einer seit tausenden Jahren bestehenden Praxis, die es dem Übenden erlaubt, durch die Klarheit des Geistes präsent, gelassen und wirkungsvoll zu handeln. Der Zen-Weg ist heute ebenso wie früher ein individueller Weg der unmittelbaren Erfahrung, der die Essenz des Selbst erfasst und nicht nur oberflächlich streift. Zen ist ein Weg zur Entwicklung der Inneren Form, zur Spiritualität im Alltäglichen. Zentrale Praxis des Zen ist das Zazen, das absichtslose Sitzen in der Stille, die Meditation. Nur sitzen, den Atem beobachten, still werden, sich selbst Raum geben. Warum meditieren Menschen überhaupt, welche Bedeutung und welchen Nutzen hat das Zen für das Coaching, den Coachee und den Coach? Um die Frage zu beantworten, werden zunächst einmal komprimiert mögliche Gründe, Zen zu praktizieren, als Orientierung im Anschluss an die Taxonomie von Hinnerk Polenski (2010, S. 39 ff.) beispielhaft dargestellt.

Die Wege des Zen – Wege zur Inneren Form® Der funktionale Weg – Bonpu-Zen

Immer dann, wenn es darum geht, die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir im Berufsalltag nutzen, zu verbessern, beschreiten wir den funktionalen Weg des Zen. Es geht darum, das Alltägliche zu vervollkommnen, es ist eine Form des Zen, die sich auf das Konkrete der Ziele und Aufgaben richtet. Wir stehen zum Beispiel vor der Herausforderung, eine wichtige Präsentation erfolgreich zu bewältigen, deren erfolgreicher Ausgang für uns von Bedeutung ist. Bestimmte praktische Zen-Übungen, bei denen es unter anderem um Kraft und Konzentration geht, können im Coaching dazu dienen, sich mit der entsprechenden Präsenz zu positionieren und das Thema der Präsentation wirkungsvoll zu präsentieren. Die Zen-Praxis berücksichtigt dabei im Verständnis der Handlungskompetenzen alle Ebenen einer Person in der Arbeit, sowohl die geistig-mentale, die körperliche als auch die emotionale Ebene. Gerade weil sich der Erfolg, um beim Beispiel der Präsentation zu bleiben, nicht nur über die Qualität der Folien und die Stringenz des Aufbaus der Präsentation allein einstellt, sondern vielmehr über die Präsenz im Auftreten, werden Fragen der eigenen Wirkung in der Präsentation, energetische Aspekte, die es erlauben, dynamisch-gelassen zu agieren, aber auch die Frage der eigenen Haltung in der Präsentation gegenüber den Adressaten integriert. Über Gelassenheit zu reden und dynamisch-gelassen zu sein, ist ein großer Unterschied. Das eigene Potenzial wirkungsvoll zu entfalten, gelassen zu bleiben, auch angesichts sehr kritischer Äußerungen oder verbaler Angriffe in einer Präsentation, ist entscheidend – nicht das Wissen dazu. Um in kritischen Situationen adäquat zu handeln, bedarf es mehr als nur der intellektuellen Vorbereitung. Achtsamkeitsübun-

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gen aus dem Zen sind hier sehr gut geeignet, die Impulskontrolle und Handlungsregulation, die in kritischen Situationen notwendig sind, zu gewinnen. Es ist bekannt, dass bei Stress, ausgelöst zum Beispiel durch verbale Attacken Dritter, die Fähigkeit, gelassen zu agieren, sinkt. Hervorgerufen durch bestimmte Stresshormone und durch Hirnwellen im schnellen Beta-Rhythmus (40 Hz), geht die Fähigkeit, souverän zu agieren, schnell verloren. Je intensiver die eigene Erregung, desto größer sind Angst oder Wut und desto geringer ist unsere Fähigkeit der Impulskontrolle. Es folgen nur noch reaktive Handlungen. Meditationsübungen führen dagegen in einen Zustand von konzentrierter Wachheit und Entspannung zugleich und befähigen uns, bei zunehmender Übungspraxis immer besser, nicht nur präsent zu wirken, sondern auch mit achtsamer Offenheit, Mitgefühl und Verbundenheit dem anderen gegenüberzutreten – auch in schwierigen Situationen. Meister Eckhart hat einmal gesagt: Der wichtigste Mensch ist der, der dir gerade gegenübersteht, das Wichtigste, was du tust, ist das, was du gerade tust. Der Weg des Potenzials und der Persönlichkeit – Gedo-Zen

Gedo-Zen beschreibt einen Weg, in dem es nicht mehr um das Bekannte, sondern um das Unbekannte der eigenen Person, die Terra incognita geht. Nicht die Frage »Wie werde ich besser?«, sondern die Frage »Wer will ich sein?« steht hier im Vordergrund. Das zentrale Thema vieler Coachees sind nicht mehr Fragen wie »Mache ich das richtig?« oder »Wie kann ich meine Technik vervollkommnen, um erfolgreich zu sein?«, viele stellen sich zunehmend die Frage »Ist das, was ich tue, auch das, was ich wirklich will?«, das heißt: »Ist mein Beruf auch meine Berufung und meine Bestimmung?« Aus meiner persönlichen Erfahrung mit Coachees treffe ich immer häufiger auf Menschen, die zwar erfolgreich, aber nicht wirklich erfüllt sind. Sie tun das, was sie gut können, was sie irgendwann einmal mal begonnen haben zu tun, und sie tun es zum Teil unreflektiert, begünstigt durch die Routine des Hamsterrads. Die Frage, ob es »ihr Ding ist«, ob sie das realisieren, was ihren Potenzialen entspricht und nicht nur ihren Fähigkeiten, stellt sich ganz lange nicht. Den Weg des Gedo-Zen zu beschreiten bedeutet Arbeit am Selbst. Das ist kein rein intellektueller Prozess, der sich erlesen oder nur herbeireden lässt, das ist ein Weg, der zum innersten Kern der eigenen Person führt, ein Punkt, wo wir unsere Mitte erfahren, dort, wo die eigene Einheit spürbar wird und wo die Antworten, die wir erhalten, aus dem Herzen kommen. Der Weg des Gedo-Zen öffnet uns für uns selbst. Die Meditation, das absichtslose achtsame Sitzen in der Stille – nur atmen, nur wahrnehmen, nur präsent sein im Hier und Jetzt –, leistet einen essenziellen Beitrag dazu, um sein Bewusstsein zu erfahren und Bewusstsein im Sinne der Salutogenese sinnvoll zu formen. Der offene Weg – Daijo-Zen

Dieser Weg geht über das eigene Selbst weit hinaus. Es ist ein Weg ohne Ziele, ohne Begrenzungen, ein Weg, wo die Vorstellungen über die Konstrukte der eigenen Person

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

und die Alltagskonstrukte über die Welt, die im Bonpu-Zen und Gedo-Zen noch vorhanden sind, keine Gültigkeit mehr haben. Dieser Weg geht über die Persönlichkeit hinaus, denn auch das Konzept der Persönlichkeit, darauf weist Hinnerk Polenski immer wieder in seinen Vorträgen hin, ist eine Illusion. Es geht auf diesem Weg nicht mehr um die Erfahrung des Relativen, des Unterscheidens, des Wertens, sondern um die Erfahrung des Absoluten. Hier suchen wir nicht mehr und finden nicht mehr. Im Verständnis der Logik des Nagarjuna könnte man dazu auch sagen, dass es weder ein Weg noch kein Weg ist und noch nicht einmal dies – eine Form, die das Verständnis des uns bekannten westlichen Dualismus überwindet. Das zu begreifen, ist deutlich mehr als ein intellektueller Verstehensprozess, es ist eine existenzielle Schwellenerfahrung, deren Erfahrung mit Worten nur verkürzt transportiert werden kann. Es ist mehr als das cogito ergo sum, ich denke, also bin ich, des Descartes, es ist eher ein ergo sum. Diese drei Wege, Zen zu praktizieren, liefern uns auch eine Zustandsbeschreibung des Coaching. Stand in der Vergangenheit der funktionale Aspekt des Coaching im Vordergrund, so gewinnt das Coaching der Person im Verständnis des Gedo-Zen zunehmend an Bedeutung. Aspekte des offenen Weges tauchen vereinzelt auf, sind aber aufgrund der besonderen Anforderungen an den Coach nicht beliebig leistbar. Hier geht es nicht mehr um Zen im Coaching-Prozess. Zen-Lehrer und Zen-Meister sind dann die verlässlichen Begleiter. Die Meditation in der Tradition des DaiShin-Zen, ein Weg, der in der Praxis den Kontext der westlichen Welt berücksichtigt und der Herzweisheit eine besondere Beachtung widmet, ist hervorragend geeignet, Menschen bei der Entwicklung ihres Selbst zu begleiten. Auf die vielfältigen positiven Auswirkungen der Meditation auf Körper und Geist will ich an dieser Stelle nicht eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Zu den mittlerweile umfangreich vorliegenden Forschungsergebnissen, insbesondere zu dem Aspekt der kognitiven und emotionalen Bewusstheit, sei stellvertretend auf den Stand der Forschung aus Sicht der Neurowissenschaftler verwiesen (vgl. Ott, 2010).

Schritte im Zen – Die Verhaltensdimensionen der Inneren Form® Ich möchte nun das Modell der sechs Verhaltensdimensionen der Inneren Form vorstellen, das am Institut für Innere Form entwickelt wurde und als Basis für das Coaching, insbesondere im Anschluss an die Arbeit am Selbst im Verständnis des Gedo-Zen, zugrunde liegt. Coaching ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, das am Ende des Coaching etwas anderes ist als zu Beginn des Prozesses. Ohne eine Veränderung, bei einem Verharren im Status quo, wäre Coaching sinnlos. Veränderungen bedeuten meist auch, dass wir Dinge loslassen und uns auf etwas Neues einlassen. Ich möchte zunächst diese beiden Dimensionen des Coaching erläutern.

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Manfred Zink: Zen im Coaching

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Das Loslassen

Ich treffe immer wieder auf Menschen im Coaching, denen es sehr schwer fällt, von gelernten Routinen loszulassen. Das ist nachvollziehbar, da Routinen, die sich über längere Zeit bewährt haben, eine stabilisierende Wirkung mit Wiederholungstendenz im Verhalten besitzen. Die Gefahr besteht allerdings, dass wir dabei reflexhaft vorgehen, die Dinge nicht mehr hinterfragen. Was gestern noch tauglich war zur Lösung und Bewältigung des Alltags, kann heute bereits schädlich und wirkungslos sein. Das Nicht-loslassen-Können, das Anhaften am Alten stellt dann oft ein großes Hindernis dar, wenn es darum geht, neue Dinge auszuprobieren, sich auf Neues einzulassen. Zwei Aspekte des Anhaftens, des Nicht-loslassen-Könnens sind im Coaching von besonderer Bedeutung: Der erste Aspekt betrifft das bewusste Loslassen liebgewonnener Vorstellungen unseres Selbst. Im Laufe unseres Lebens ranken sich oft aufgrund der Sozialisation ganz eigene Geschichten um uns. Wir glauben an diese Geschichten und Zuschreibungen, wir und auch andere pflegen und tradieren sie ständig weiter. Oft kennen wir nach einiger Zeit noch nicht einmal den Ursprung davon. Irgendwann im Laufe der Zeit hinterfragen wir die Geschichten dann überhaupt nicht mehr. Auch wenn diese Geschichten und Zuschreibungen keinerlei Realitätsgehalt mehr besitzen, wirken sie dennoch. Eine der Wirkung ist die, dass wir uns nur noch durch einen Schleier wahrnehmen. Der zweite Aspekt betrifft die oft eingeschränkte Fähigkeit, von materiellen Objekten des Äußeren loszulassen. Viele Klienten haben, wenn sie ins Coaching kommen, durchaus bereits die Erkenntnis und Klarheit des »Ich weiß und müsste – aber ich schaffe das irgendwie nicht«. Hinter diesem »ich schaffe das irgendwie nicht« verbirgt sich häufig die Unfähigkeit, von konkreten Dingen loszulassen, dies können materielle Objekte sein, aber auch andere Personen, Beziehungen zu Personen, Bindungen zu Organisationen etc. Ein Grund, warum uns das Loslassen so schwerfällt, ist der, dass uns insbesondere materielle Objekte eine vordergründige Sicherheit und Stabilität suggerieren, was sich bei näherer Betrachtung aber meist als Chimäre erweist. Loslassen zu können, sich von den Dingen zu lösen, erfordert viel Mut. Das Sich-Einlassen

Sich auf sich selbst, auf andere und die Gegenwart einzulassen, setzt häufig das Loslassen voraus. Da, wo wir nicht loslassen, mangelt es uns häufig auch an der Fähigkeit, weniger an der Bereitschaft, uns auf das veränderte Neue einzulassen. Sich auf sich selbst einzulassen ist der Kern der Arbeit am Selbst und der zentrale Aspekt der Arbeit im Gedo-Zen. Das Sich-auf-sich-selbst-Einlassen bedeutet immer auch, sich achtsam auf die Gegenwart einzulassen. So wie es unmöglich ist, eine Tasse Tee in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu trinken – wir können dazu lediglich eine Vorstellung entwickeln –, ist es auch nicht möglich, ganz selbst zu sein, wenn wir die Gegenwart aus-

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

blenden. Wer nur in der Vorstellung des Nicht-Mehr der Vergangenheit lebt oder in der Zukunft, die noch nicht eingetreten ist, blendet die einzige Realität des Seins, die der Gegenwart und damit sich selbst als Quelle aus. Im Coaching bedeutet dies eine feine Balance in den Anteilen des Rückblicks und der Vorausschau mit dem Klienten hinsichtlich dessen Vergangenheits- bzw. Zukunftsbezugs. Sich lediglich rückwärts oder vorwärts zu konstruieren ist oft leichter, als die Realität des Augenblicks, dessen, was ist, zu akzeptieren und sich auf das Jetzt einzulassen. Einlassen erfordert darüber hinaus auch die Beantwortung der Frage, auf wen (Personen) und auf was (Sachen) ich mich denn überhaupt einlasse. Wird die Frage im Coaching nicht ausreichend thematisiert, führt das ganz oft nur zu einem Pseudosich-Einlassen. Aus meiner Erfahrung sind es insbesondere zwei primäre und zwei sekundäre Aspekte, die es Klienten erschweren, loszulassen und sich einzulassen (vgl. Abb. 4, S. 293). Die primären sind das Anhalten und Innehalten. Anhalten – Voraussetzung, um innezuhalten

Anzuhalten ist die Fähigkeit, die Geschwindigkeit, mit der wir durch die Welt und um uns selbst rasen, zu verringern bzw. vorübergehend zum Stillstand zu bringen. In einer Befragung des Magazins »Geo« aus dem Jahre 2009 stand als oberster Wunsch der Menschen die Sehnsucht nach Ruhe – verständlich angesichts einer Gesellschaft im permanenten Beschleunigungsmodus. Das accelero ergo sum – ich beschleunige, also bin ich – ist zur Leitmaxime einer ganzen Generation geworden. Gerade aber diese manische Beschleunigung der Bewegung hinterlässt in uns deutliche Spuren. Regelmäßig finden sich in den unzähligen Artikeln und Büchern über Stress und Burnout die Aussagen von »zu wenig Zeit« – »keine Zeit haben« – »Hektik erleben«. Wir sind scheinbar auf einen Aktionismus konditioniert, der das Qualitative zugunsten des Quantitativen immer mehr ausblendet. Die Verdichtung von Zeit und Raum verhindert ein Ankommen bei uns und beraubt uns der Fähigkeit, uns auf uns selbst einzulassen. Beziehung und Bindung setzen ein Minimum an Raum und Zeit in der Begegnung voraus. Wie soll das bei Tempo 280 realisiert werden? Wir können uns nicht selbst begegnen, Beziehung und Bindung zu uns aufbauen, wenn wir nicht die Bereitschaft mitbringen anzuhalten. Für die Anfangssituation im Coaching hat das Anhalten eine fundamentale Bedeutung. Oft erlebe ich Klienten, die völlig gehetzt ins Coaching kommen, die äußerlich vorhanden, aber innerlich noch nicht angekommen sind. Ein sinnvoller Kontakt und ein erfolgreicher Kontrakt im Coaching setzen aber die Präsenz des Klienten von Beginn an voraus. Mit wem oder was arbeiten wir eigentlich, wenn sich der Klient noch im Modus des Hyper-Speed befindet und gedanklich noch im Büro sitzt? Ohne Ankommen – kein professionelles Arbeiten, ohne Anhalten – kein Ankommen. Deshalb achten wir, insbesondere im Zen-Coaching, immer darauf, das Tempo runterzufahren, in einen Rhythmus zu gelangen, der eine Resonanz zwischen Coach und

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Coachee ermöglicht, ohne die ein gelungener Kontakt und sinnvolles Miteinander nicht möglich sind. Die konkreten Möglichkeiten, dies zu tun, zu entschleunigen, sind unter anderem: –– Reduzierung des Tempos – Person sich ausbewegen, ausreden, ankommen lassen, –– Reduzierung des Sprechtempos, der eigenen Bewegung, –– bewusste Verlangsamung der Warming-up-Phase, –– bewusste kurze Atemmediation. Insbesondere die Atemmeditation, dazu benötigt man weder eine Sitzmatte noch sonst irgendetwas, hilft dem Klienten, achtsam in der Gegenwart anzukommen, um so offen für den Prozess zu sein. Die Atemübung als bewusster Unterbrecher kann immer dann angewandt werden, wenn die Geschwindigkeit zu groß ist, um uns durch ein bewusstes Entschleunigen wieder in der Gegenwart zu verankern. Das Anhalten als ein Loslassen von Geschwindigkeit ist auch die Voraussetzung zum Innehalten, ohne das ein wirkliches Loslassen und Einlassen nicht möglich sind. Innehalten – Voraussetzung, um loszulassen, sich einzulassen

Im Verhaltensmodell der Inneren Form wird zwischen dem Anhalten und Innehalten differenziert. Anhalten ist die Verlangsamung der Geschwindigkeit, das Stoppen. Innehalten bedeutet, sich selbst Raum zu geben. Es ist der Weg der Stille zu uns selbst. Innehalten führt auch zu einer verschärften Wahrnehmung der eigenen Gedanken, von Emotionen und körperlichen Aspekten. Erst durch das Innehalten, das intensive Wahrnehmen von Gedanken und Gefühlen entdecken wir uns selbst, wir stellen quasi die Verbindung zu uns her. Innehalten ist ein bewusstes Hineinhören, Hineinschauen und Hineinspüren durch Reflexion und Meditation. Klienten, die sich auf diesen Weg begeben, die sich das Innehalten erlauben, sind oft überrascht, manchmal irritiert, wenn sie der Person, von der sie glauben, sie schon lange zu kennen, auf dieser Reise neu begegnen. Oft sind es aber gerade diese kleinen Erschütterungen, die es dem Klienten erlauben, von Dingen loszulassen, sich zu lösen und neu einzulassen. Ohne eine gewisse Intensität in der Begegnung mit sich selbst ist dies nicht möglich. Nietzsche sagte dazu sinngemäß, dass der Weg zu allem Großen über die Stille geht. Stille ist mehr als nur die Abwesenheit von Lärm. Das Eingangstor zum Innehalten ist die Reflexion, insbesondere aber die Meditation, die uns eine noch intensivere Tiefe in der Erfahrung ermöglicht. Entscheidend ist, dass die Meditationsübungen stimmig mit dem Klienten, dem Coach und dem Coaching-Prozess sind. Das setzt neben der allgemeinen Coaching-Professionalität auch die eigene Erfahrung mit Meditation voraus. Im Rahmen eines funktionalen Coaching – Bonpu-Zen – bedeutet dies etwas anderes als in der intensiven Arbeit im Gedo-Zen. Hier sind eigene intensive Meditationserfahrungen unabdingbare Voraussetzung. Die beiden sekundären Dimensionen sind das Zulassen und Aushalten.

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

Das Zulassen – gelassen die Dinge annehmen

Wir sind geprägt von der Vorstellung nahezu unbegrenzter Machbarkeit eines gesteuerten Alltags, der in unserer Wahrnehmung kaum Raum für das Widerfahrnis lässt. Es geschehen Dinge, ohne dass wir darauf einen Einfluss haben und die sich unserer Planbarkeit entziehen. Das Nicht-Planbare, das Nicht-Beherrschbare führt oft zu einem Kontrollverlust und bei vielen Menschen zu Ängsten, die sich auch im Coaching widerspiegeln. Die Omipotenz des »das kann doch nicht sein« – »das muss doch« wirkt dann als stabiles dysfunktionales Muster und begrenzt unser Handeln. Wirklicher Frieden und Freiheit des Selbst verlangen allerdings auch, die Grenzen der Machbarkeit zu erkennen, Widerfahrnisse nicht zu verleugnen oder zu verdrängen, sondern anzunehmen. Die Fähigkeit, Dinge, die wir nicht beeinflussen können, gelassen anzunehmen, ist eine große Kunst. Das Bewusstsein des Klienten dahingehend zu schärfen, und ihm auch den Raum dazu zu ermöglichen, die Fähigkeit des Zulassens für sich zu entwickeln, erleichtert einiges, da keine unnötige Energie für Abwehrprozesse aufgewendet wird. Oft wird diese Art der Gelassenheit mit Passivität verwechselt. Wirkliche Gelassenheit gerät aber nie in die Gefahr, darin abzugleiten, ganz im Gegenteil. Sie schafft erst die Voraussetzung dafür, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Das Aushalten

Was wir nicht ändern können oder wollen, müssen wir aushalten. Was wir nicht aushalten, daran können wir zerbrechen. Aushalten, die umfassende Resilienz sich selbst, den anderen auszuhalten, ohne zu leiden, ohne zu zerbrechen, ist der energetische Aspekt der Arbeit am Selbst. Die Auseinandersetzung mit dem Selbst setzt voraus, dass wir uns unsere ganz persönlichen Fragen stellen, darauf eine Antwort finden und diese Antwort auch konsequent leben. Dazu müssen wir unsere Fragen ebenso wie die Antworten, die wir darauf haben, aushalten, ebenso wie die Umsetzung der Antworten im Leben selbst. Gleichzeitig gilt es, das Fremde, den anderen auszuhalten, trotz all der Ablehnung und Abneigung, die wir gelegentlich empfinden, und es gilt auch, die Widersprüche einer zunehmend komplexer werdenden Welt auszuhalten. Das Leiden an sich selbst und an der Welt, das Gefühl, aus welchen Gründen auch immer, überfordert zu sein, nehmen zu. Dabei spielt es für das Erleben der Menschen und die Begrenzungen, die sie dabei spüren, nur eine untergeordnete Rolle, wie im Einzelnen dieses »Nichtmehr-aushalten-Können« medizinisch bezeichnet wird. Die Wirklichkeit wirkt, auch wenn wir das Sprachspiel »Burnout« – »Krise« – »Depression« – »Erschöpfung« mit all seinen Wortkombinationen noch nicht definitiv abgeschlossen haben. Es bleibt die Tatsache, dass das Ich vielfach überfordert ist und dass ein erfolgreiches und erfülltes Sein, egal, was wir tun, dann scheitert, wenn unsere Resilienz versagt. Resilienz ist eine der zentralen Aspekte der Handlungskompetenz und Schlüsselqualifikation der Zukunft.

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Manfred Zink: Zen im Coaching

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Abbildung 4: Verhaltensdimensionen

Achtsamkeit im Coaching Das Thema Achtsamkeit nimmt mittlerweile in der Literatur einen breiteren Raum ein, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Das gilt zusehends auch im Zusammenhang mit den Themen Beratung, Coaching, Therapie. Für die Professionalität des Coach allgemein, für Zen-Coaching in besonderem Maße, ist die Achtsamkeit einer der zentralen Pfeiler. Achtsamkeit, ein Begriff, der bereits in der Tradition des VipassanaBuddhismus vor über 2500 Jahren verwendet wurde, ist mehr als reine Aufmerksamkeit und bezeichnet einen Bewusstseinszustand, des nicht urteilenden, offenen Gewahrseins der Gegenwart, frei von emotionalen und kognitiven Verzerrungen, der versucht heilsame Zustände zu erhalten und unheilsamen Zuständen entgegenzuwirken. Achtsamkeit in diesem Verständnis ist keine Technik, es ist ein Bewusstseinszustand vollständiger Präsenz im Augenblick, eine Geisteshaltung, die es dem Coach erlaubt, in offener Weite und Herzgeist dem Klienten zu begegnen. Jeder Coach weiß um die Bedeutung von Begegnung, Beziehung und Bindung zu seinem Coachee. Die Forschung hat dies auch bestätigt (vgl. Miller, Duncan u. Hubble, 2001; Klein, Limberg-Strohmeier, Linder-Hofmann u. Zink, 2010, S. 22 ff.). Die Kooperation, das Miteinander mit dem Klienten, ist einer der zentralen Erfolgsfaktoren von Coaching. Vor dem Hintergrund der systemischen Aussage von Maturana, dass sich

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Die spirituelle Dimension in spezifischen Ansätzen des Coaching

autonome lebende Systeme nicht von außen determinieren lassen, gewinnt darüber hinaus das Neutralitätsprinzip zusätzlich an Bedeutung. Mit dem Coachee verbunden zu sein, nicht entbunden, aber auch nicht verstrickt zu sein, zu erkennen, dass Coach und Coachee ihre eigenen Konstruktionen haben und unterschiedlichen Landkarten folgen, setzt in der realen Anwendung eine hohe Achtsamkeit voraus. Das Wissen um diese Sachverhalte ist das eine, das achtsame Umgehen damit, die Unterschiedlichkeit des Coachee im Coaching-Prozess zu akzeptieren und die eigenen Annahmen vorübergehend zu suspendieren, das andere. In dem Moment, wo wir die Gegensätze unterschiedlicher subjektiver Konstrukte überschreiten und erkennen, dass Konzepte und Konstruktionen nur Konzepte und Konstruktionen sind, findet eine Identifizierung mit uns, dem Coachee und dem Prozess statt, der keine hinderlichen Begrenzungen mehr kennt. Gerade im Coaching der Zukunft, wo intensiv an persönlichen Themen gearbeitet wird, gilt es, sehr sensibel vorzugehen, dem anderen Raum zu lassen. Das erfordert vom Coach, sich selbst zurückzunehmen, eine Achtsamkeit zu entwickeln, die spürt, wo es erforderlich ist, etwas zu tun oder nicht zu tun, die spürt, wo Dinge zu beschleunigen oder zu verlangsamen sind, die spürt, wo etwas anderes als bisher getan werden sollte. »Ein guter Dirigent«, so Herbert von Karajan, »zeichnet sich dadurch aus, dass er weiß, wann er das Orchester nicht stören soll« (zit. nach Gansch, 2006, S. 16). Im Zustand der Achtsamkeit sind wir intuitiv in der Lage, den inneren Dialog mit uns, dort, wo notwendig, zu führen oder zur Ruhe zu bringen. Alle Vorannahmen, Vorurteile und Vorerfahrungen können hier bei unachtsamer Haltung dazu führen, dass die notwendige vollständige Präsenz und Offenheit gegenüber dem Coachee verloren gehen. Achtsamkeit ist der Schlüssel zum Anhalten, Innehalten, Loslassen, Einlassen, Zulassen und Aushalten. »Der Geist des Anfängers hat alle Möglichkeiten, der Geist des Experten dagegen nur wenige«, sagt der Zen-Meister Suzuki Roshi (Suzuki, 2000, S. 22). Gelingt es, diesen Anfängergeist aufrechtzuerhalten, achtsam zu coachen, gleicht der Coaching-Prozess einem Tanz. Coaching der Zukunft wird verstärkt ein Coaching des Selbst sein. Die Arbeit am Selbst ist Bewusstseinsarbeit. Eine Bewusstseinsarbeit, die es erlaubt, aus einer »Kultur der Stille die eigene Stimme zu finden« (vgl. Bieri, 2011, S. 1). Die Zen-Meditation ist hervorragend geeignet, sich seines Bewusstseins quasi zu bedienen, diesen Raum des Selbst zu erkennen, zu betreten, darin zu verweilen und mit ihm zu arbeiten. Lassen wir am Ende zwei europäische Zen-Meister zu Wort kommen: Zen, so Willigis Jäger, »ist die Essenz der Erfahrung der Wirklichkeit, die ewige Weisheit im Einklang mit dem Leben und mit dem Urgrund des Seins und macht uns mit der Erfahrung der eigentlichen Bedeutung unseres Menschseins vertraut« (vgl. Jäger, 2010, Cover). »Zen kennt keinen festen Rahmen wie Funktionalität, Ideologie oder Religion, es dient einzig dem Menschen« (vgl. Polenski, zit. nach Linder-Hofmann u. Zink, 2002, Cover). Es gibt keinen Weg, nur Schritte.

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Literatur Bieri, P. (2011). Wie wollen wir leben? St. Pölten: Residenz-Verlag. Honneth, A. (2010). Organisierte Selbstverwirklichung – Paradoxien der Individualisierung. In C. Menke, J. Rebentisch (Hrsg.), Kreation und Depression. Berlin: Kadmos. Gansch, C. (2006). Vom Solo zur Sinfonie. Frankfurt a. M.: Eichborn. Giddens, A. (2001). Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Jäger, W. (2010). Ewige Weisheit. Das Geheimnis hinter allen spirituellen Wegen. München: Kösel. Klein, P., Limberg-Strohmeier, S., Linder-Hofmann, B., Zink, M. (2010). Integrale Aufstellungen. Methoden und Modelle der Inneren Form®. Schriftenreihe Innere Form, Bd. 2. Oberrohrbach: Arcus-Lucis-Verlag. Klitzke, N. (2010). Führung im Wandel – Handlungskompetenzen von Führungskräften. Taunusstein: Verlag Dr. H. H. Driessen. Linder-Hofmann, B., Zink, M. (2002). Die Innere Form – Zen im Management. Herrsching: Gellius. Linder-Hofmann, B., Zink, M. (2003). In gesunden Organisationen steckt ein gesunder Geist. Management & Training 9. Linder-Hofmann, B., Zink, M. (2005). Konstruktivismus und Zen – radikal betrachtet. Lernende Organisation, 26. Ott, U. (2010). Meditation für Skeptiker. München: O. W. Barth. Polenski, H. (2010). Die Linie im Chaos – Zen Ethik und Leadership. Bielefeld: Kamphausen. Spiegel-Wissen (2011). Das überforderte ICH. Nr. 1/2011. Hamburg: Verlag Rudolf Augstein. Suzuki, S. (2000). Zen-Geist, Anfänger-Geist. Berlin: Theseus. Tylor, C. (1995). Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zink, M. (2004). Jeder Tag ist ein guter Tag – Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Newsletter perfect-match, Ausgabe 1/2004. Zink, M. (2005). Warum Manager mit Zen-Philosophie erfolgreich sind. Hamburger Abendblatt 10/2005.

Manfred Zink, Studium der Personalwirtschaft, Betriebspädagogik, Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften, mit Zusatzausbildung als Systemischer Organisationsberater, Familientherapeut und Dialogue Facilitator. Er ist Mitbegründer des Instituts für Innere Form®. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Organisationsberatung e.V. und Gründungsmitglied der Deutschen Zukunftsakademie e.V. Er hat mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Personal- und Organisationsentwicklung und in der Führungskräfteentwicklung in verschiedenen Branchen und Funktionen, unter anderem als Direktor Change Management, als Trainer und Coach. Er ist Zen-Dharma-Schüler des DaiShin-Zen bei Hinnerk Sobu Polenski, Zen-Trainer der Zen-Leadership-Akademie. www.die-innere-form.de

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III Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

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Matthias zur Bonsen und Myriam Mathys

Inseln der Lebendigkeit

Das soziale Betriebssystem von Organisationen bewusst gestalten

Viele Menschen bauen in ihr Leben regelmäßige Zeiten erhöhter Bewusstheit ein. Die Formen dafür sind unterschiedlich. Der eine wählt Meditation, der andere eine Art der Körperarbeit wie Yoga, der dritte die stille Reflexion, vielleicht mit einem Tagebuch. Andere tun etwas Künstlerisches oder gehen ganz einfach in Stille spazieren. In jedem Fall wollen Menschen, die solches tun, achtsamer und mehr in Kontakt mit sich sein, als sie es im Alltag oft sind. Dadurch öffnen sie einen inneren Raum für ihre Entwicklung. Für Organisationen ist der Weg der Entwicklung vom Prinzip her der gleiche. Auch ihre Entwicklung wird gefördert, wenn sie in ihren Alltag regelmäßig wiederkehrende Zeiten erhöhter Bewusstheit integrieren – Zeiten, die einen Raum für Entwicklung öffnen und Wachstumsprozesse in Fluss bringen. Damit sind nicht Zeiten gemeint, in denen jeder Einzelne für sich allein eine meditative Auszeit nimmt. Das wird wohl überwiegend Privatsache bleiben und im Privatleben stattfinden. Vielmehr denken wir dabei an Zeiten, zu denen sich Menschen in Organisationen treffen. Sie treffen sich in Meetings, um sich abzustimmen, Probleme zu lösen, Ziele festzulegen, Entscheidungen zu fällen, ihre Arbeitsweisen zu überdenken und ihre Arbeit voranzubringen. Oder sie treffen sich, um zu feiern, oder für andere Arten von Veranstaltungen. Doch meistens geht es um die Arbeit. Diese Treffen sind in der Praxis keinesfalls immer so, dass man sie als »Zeiten erhöhter Bewusstheit« bezeichnen könnte. Wenn sie jedoch gezielt so gestaltet werden, dass sie den Raum dafür geben, dass die Lebenskraft der Beteiligten sich entfalten und die gemeinsame Energie in einen schöpferischen Fluss kommen kann, dann könnte man sie Inseln der Lebendigkeit nennen. Dann sind sie erholsame Oasen im Getriebe eines Alltags, der die Menschen oft aus ihrer Mitte geraten lässt. Dann sind sie erquickende und belebende Inseln, auf denen die Beteiligten entspannter und achtsamer als üblich sind und auf denen sie wieder mehr als sonst in Kontakt mit ihrer Mitte, ihrer Inspiration und ihrer Intuition kommen. Man könnte sie auch Inseln der Entschleunigung nennen, da in ihnen die Beteiligten konzentriert und ruhig miteinander sprechen, reflektieren und Einsichten gewinnen. Interessanterweise lassen sie sich gleichermaßen aber auch als Inseln der Beschleunigung bezeichnen, weil sie jenseits der zahlreichen einengenden Strukturen, die es besonders in alten Organisationen gibt, offene Räume schaffen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen oder aus unterschied-

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Matthias zur Bonsen und Myriam Mathys: Inseln der Lebendigkeit

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lichen Bereichen sich vernetzen, austauschen und Neues entwickeln können. Und weil in ihnen zeitraubende zwischenmenschliche Interferenzen aufgelöst werden. In unseren oft überstrukturierten Organisationen braucht es solche Inseln der Lebendigkeit, in denen in gewisser Weise dem Leben Raum gegeben wird, in denen auch Chaos in Form eines freien Dialogs geschehen darf und in denen man sich die Zeit nimmt, um kreative Lösungen entstehen zu lassen, die aus einem Gefühl wirklicher Einmütigkeit erwachsen sind und daher kraftvoll umgesetzt werden. Metaphorisch gesprochen ist es notwendig, die harten Gitterstäbe der vielen einengenden Strukturen und der engen Taktung des Alltags immer wieder aufzubiegen, so dass Räume entstehen, in denen eine lebendige Energie in Fluss kommen kann. Natürlich hat es einen großen Einfluss auf die Organisation, wenn vor allem die Meetings der Geschäftsleitung zu solchen Inseln der Lebendigkeit, der Ent- und Beschleunigung werden. Denn dann kommen dort produktive Gespräche in Gang, die große Auswirkungen auf das Ganze haben können. Doch im Grunde können alle Meetings auf allen Ebenen solche Inseln werden – sofern wir diese bewusst gestalten. Und das erzeugt dann eine profunde Veränderung und Verlebendigung der ganzen Organisation. Zu Meetings zählen wir dabei einerseits die kleinen Meetings mit drei bis 15 Teilnehmern, wie sie täglich in großer Zahl in unseren Unternehmen und Organisationen stattfinden. Andererseits gehören aber auch mittelgroße Meetings mit 15 bis 50 Teilnehmern und große Meetings mit 50 bis 2000+ Teilnehmern – sogenannte Großgruppenkonferenzen – dazu. Neben Meetings können zudem auch Rituale, die ja ebenfalls Treffpunkte von Menschen sind, zu Inseln der Lebendigkeit werden, wenn sie entsprechend gestaltet werden. Sie lassen sich unterteilen in Mikrorituale, die innerhalb von Meetings geschehen und oft nur wenige Minuten dauern, und in Makrorituale, an denen die ganze Organisation (oder ein ganzer Bereich) teilnimmt, wie beispielsweise ein Fest. Betrachten wir allerdings die heutige Realität von Unternehmen und Organisationen, dann gibt es dort zwar viele Meetings (vor allem die kleinen) und das ein oder andere Ritual, doch von Inseln der Lebendigkeit ist nicht viel zu spüren. Im Folgenden sei skizziert, was den meisten Organisationen in dieser Hinsicht fehlt: –– Kleine Meetings werden natürlich auf unterschiedliche Weise durchgeführt, daher ist es kaum zulässig, generalisierende Aussagen zu treffen. Doch die allgemeine Unzufriedenheit mit Meetings ist unübersehbar. Sie scheinen Menschen nicht Energie zu geben, sondern zu entziehen. Sie sind lange nicht immer die produktiven und schöpferischen Orte, die sie sein könnten. Dem ist, wie wir weiter unten noch zeigen werden, mit dem Einhalten von ein paar Meeting-Regeln – so sinnvoll solche auch sein mögen – nicht beizukommen. Es braucht weiter reichende Veränderungen. –– Wenn auch täglich viele Meetings abgehalten werden, so dienen diese doch überwiegend dem Arbeiten »im System«. Die Aufgaben des operativen Alltags werden in ihnen erledigt. Was meistens fehlt, sind regelmäßige Meetings, die ganz bewusst dafür geschaffen wurden, um »am System« zu arbeiten. Am System arbeiten heißt, Strukturen, Prozesse, Arbeitsweisen und eingeschliffene Denk- und Verhaltens-

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weisen zu hinterfragen und zu verändern. Da es die »Inseln« für das Arbeiten am System oft nicht gibt, geschieht diese Arbeit zu selten. Man versucht vielleicht, sie in den Meetings, die den operativen Themen gewidmet sind, unterzubringen. Doch dort stören sie, weil sie einen anderen Gesprächsmodus benötigen. In Organisationen wird generell zu wenig reflektiert. Reflexion – das Nachdenken über das eigene Denken und Handeln – ist nicht selten unerwünscht, weil sie nicht nach Arbeit aussieht und nicht dem bevorzugten Muster »kurz reden, dann rasch entscheiden und handeln« entspricht. Doch Reflexion ist eine Qualität, die es für das Arbeiten am System braucht. Durch Reflexion machen wir uns beispielsweise dysfunktionale Muster bewusst. Durch Reflexion finden wir sowohl als einzelne Menschen wie als Organisationen wieder in unsere Mitte. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass beim Reflektieren Irritationen und innere Abweichungen einen Ausdruck erhalten und nicht mehr unbewusst oder bewusst verheimlicht bleiben. Da es auch organisationsweite dysfunktionale Muster geben kann, sollten Organisationen zuweilen auch in großen Gruppen reflektieren. Doch auch das geschieht heute kaum. Üblicherweise führen wir mehr mit Antworten als mit Fragen. Doch Antworten inspirieren nicht. Sie öffnen keinen Raum. Gute Fragen dagegen öffnen einen Raum, in den hinein sich Lebenskraft in Form unerwarteter Antworten entfalten kann. Fragen evozieren Lebendigkeit, wenn der Fragende die Antwort nicht kennt und ehrliches Interesse daran hat, eine Antwort zu bekommen. Viele Führungskräfte meinen, dass sie immer schon die Antworten parat haben müssen. Werden deshalb in Meetings zu wenig echte Fragen gestellt? Und zu echten Fragen zu wenig Meetings durchgeführt? Das Potenzial, das in mittelgroßen und großen Meetings steckt, wird zu wenig genutzt. Das Know-how, wie man mit Gruppen dieser Größe interaktiv auf eine sehr lebendige und inspirierende Weise arbeiten kann, ist noch zu wenig verbreitet. In mittelgroßen und großen Meetings oder Konferenzen kann – wie eben erwähnt – reflektiert werden, doch sie können auch dazu dienen, Mitarbeiter über die Grenzen von Silos hinweg zu vernetzen, sie voneinander lernen zu lassen, sie komplexe Aufgaben bearbeiten zu lassen, ihnen die gemeinsame Realität bewusst zu machen, sie auf gemeinsame Ziele auszurichten, ihnen Raum für ihre Initiativen und damit für intrinsische Motivation zu geben, ihr Gemeinschaftsgefühl zu stärken und ihre Energie zu erneuern. Mittelgroße und große Meetings – interaktive Großgruppenkonferenzen – können kraftvolle Inseln der Lebendigkeit, der Entschleunigung und Beschleunigung sein. Schließlich werden Rituale nicht bewusst genug gestaltet oder gar nicht erst durchgeführt. Sie laufen unter dem Druck der vielen anstehenden Aufgaben immer Gefahr, als Zeit- und Geldverschwendung angesehen zu werden. Das gilt sowohl für die kleinen Mikrorituale innerhalb von Meetings als auch für die Makrorituale, an denen die ganze Organisation teilnehmen kann. Mehr zu ihrem – im Grunde kaum verzichtbaren – Wert weiter unten.

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Unsere Organisationen sind also weit davon entfernt, bewusst Inseln der Lebendigkeit zu gestalten. Dadurch verzichten sie auf ein Mehr an Lebenskraft, das sie haben könnten. Unsere Unternehmen und Organisationen erreichen daher oft nicht die Anpassungsfähigkeit, Lernfähigkeit, Veränderungsfreude, Dynamik und Innovationskraft, die heute mehr denn je benötigt werden. Das Fehlen solcher Inseln ist auch deshalb gravierend, weil Menschen in Organisationen heutzutage immer häufiger abgelenkt, unkonzentriert, gestresst, unter Druck bis hin zu erschöpft oder im (häufiger werdenden) Extremfall ausgebrannt sind. Auch aus diesem Grund braucht es regelmäßige Räume, die Auftanken und Arbeiten auf gute Weise miteinander verbinden. Daher besteht eine der wichtigsten Führungsaufgaben darin, sich zu überlegen, welche Arten von Inseln der Lebendigkeit in der eigenen Organisation benötigt werden und in welcher Abfolge, Häufigkeit und aufeinander aufbauenden Wechselwirkung diese wiederkehrend stattfinden sollten. Führungskräfte sollten sich als Architekten eines sozialen Betriebssystems oder einer sozialen Architektur verstehen – eines Systems von Ereignissen, das genau auf die Größe, Art und Arbeitsweise der Organisation abgestimmt ist und dessen Ereignisse alle Inseln der Lebendigkeit im oben beschriebenen Sinne sind. Diese Forderung gilt unabhängig von der Größe der Organisation. Schon ein Team von sieben Personen braucht ein zu ihm passendes soziales Betriebssystem, ebenso eine Organisation von 70.000 oder mehr Personen. Auch temporäre Organisationen wie Projekte benötigen ein durchdachtes System von speziellen Meetings, die den Projektfortschritt fördern und Inseln der Lebendigkeit sind. Bevor wir nun Beispiele für soziale Betriebssysteme darstellen, sollen zunächst die Bausteine beschrieben werden, aus denen diese zusammengesetzt werden können. Denn es braucht einfache und gute Methoden, um Inseln der Lebendigkeit zu schaffen. Allerdings sind diese nie nur Methoden. Ihnen liegen immer Haltungen zugrunde, wie beispielsweise gelebte Wertschätzung und das Vertrauen in die kollektive Intelligenz einer Gruppe. Im Folgenden sollen die aus unserer Sicht wesentlichsten Methoden kurz skizziert (in einigen Fällen kaum mehr als erwähnt) werden. Die Beschreibungen müssen im Rahmen dieses Beitrags unvollständig bleiben. Zu den meisten dieser Methoden gibt es immerhin ganze Bücher.

Methoden für kleine bis mittelgroße Meetings Der wichtigste Faktor für den Erfolg eines Meetings ist die Energie (oder Lebenskraft oder Lebendigkeit) der Teilnehmenden. In diesem Punkt verhält es sich mit Meetings ganz genau so wie mit einem Fußballspiel. Hier hat diejenige Mannschaft die größten Chancen zu gewinnen, die nicht nur gemäß den Regeln spielt, sondern die hochfokussiert – voller Präsenz – auf den Platz geht. Jeder Spieler sollte von der ersten bis zur letzten Minute »ganz da« sein. Für ein Meeting ist es natürlich förderlich, wenn MeetingRegeln eingehalten werden – doch eben lange nicht ausreichend. Eine Besprechung und

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ihre Ergebnisse werden ebenfalls umso besser, je mehr die Teilnehmenden »ganz da« sind – je entspannter und positiver gestimmt, je achtsamer und fokussierter sie sind. Es ist eine Aufgabe des Prozesses, diese Qualitäten zu fördern. Das wichtigste Resultat eines Meetings ist neben den materiellen Ergebnissen – Entscheidungen, Pläne, Maßnahmen – ebenfalls die Energie (oder Lebenskraft oder Lebendigkeit) der Teilnehmer. Nur wenn die Beteiligten sich vom Prozess und den Ergebnissen des Meetings inspiriert fühlen und wenn sie sich im Einklang mit dem Beschlossenen empfinden, werden sie die vereinbarten Maßnahmen mit vollem Engagement umsetzen. Nur wenn bei aller Ermüdung (die bei längeren Meetings nicht ausbleibt) positive Gefühle entstanden sind, werden sie das Meeting als ein gutes in Erinnerung behalten. Und auch nur dann wird das Selbstvertrauen der Gruppe wachsen. Es sind zwei Methoden, die insbesondere für kleine Gruppen geeignet sind, diese Energie zu schaffen und inspirierte Ergebnisse zu fördern: Circle und Dynamic Facilitation. Circle

Das auf den ersten Blick hervorstechendste Merkmal der Methode Circle besteht darin, dass das Meeting in einem Kreis stattfindet. Der Kreis ist nicht nur die optimale Form für Kommunikation – eine Form, in der jeder jeden sehen kann und in der die Gleichwertigkeit jedes Teilnehmers betont wird –, der Kreis evoziert Präsenz. Menschen sind in Kreisen viel mehr »da«. Sie spüren stärker, dass sie Teil des Geschehens sind, und klinken sich weniger aus. Für Menschen, die an rechteckigen Tischen sitzen, ist es leichter, sich innerlich zurückzuziehen, sich hinter einem aufgeklappten Laptop zu verbergen oder sich mit dem Smartphone zu beschäftigen – was erschreckend häufig geschieht. Wenn man Inseln der Lebendigkeit schaffen will, ist der Kreis (ohne Tisch) ein Basiselement. Das kontrastiert natürlich stark mit dem Faktum, dass fast alle Meeting-Räume in Unternehmen und Organisationen mit großen Tischen vollgestellt sind und das Sitzen im Kreis schlichtweg nicht ermöglichen. Zur Methode Circle, die von Christina Baldwin und Ann Linnea (2010) für den Gebrauch in Organisationen aufbereitet wurde, gehört allerdings weit mehr dazu, als nur in einem Kreis zu sitzen. Entscheidend ist beispielsweise ein bewusst gestalteter ritualisierter Einstieg in das Meeting, der von Anfang an ein eine erhöhte Bewusstheit und intensiveres In-Kontakt-Kommen mit sich selbst und den anderen fördert. Ebenso ein entsprechender Ausstieg. Des Weiteren geht es bei Circle um eine hohe Dialogqualität. Sobald diese erodiert, wird das Gespräch deutlich verlangsamt. Dazu kann unter anderem ein Redeobjekt genutzt werden. Neben dem Leiter des Meetings gibt es hier immer auch einen Wächter, der auf die Energie und Gesprächsqualität der Gruppe achtet und interveniert, wenn diese absinken. Circle ist in vielem deckungsgleich mit der Methode Dialog (im Sinne von David Bohm). Denn in beiden geht es darum, eine exquisite Qualität des Dialogs herzustellen. Dialog wird allerdings von seinen Befürwortern als Methode für besondere Gelegenheiten dargestellt – für Situationen, in denen nicht Lösungen für konkrete und drängende

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Probleme gefunden und Entscheidungen getroffen werden müssen, sondern in denen ohne diesen Druck in Ruhe über wichtige, auch konfliktbeladene Fragen reflektiert werden kann. Der Dialog im Kreis kann wesentlich mehr. Mit ihm können durchaus Lösungen zu konkreten Problemen, sogar sehr kreative Lösungen gefunden werden. Und dann müssen oft gar keine Entscheidungen mehr getroffen werden, weil die ganze Gruppe in dem Moment einfach weiß, dass die gefundene Lösung genau die richtige ist. Man könnte sagen, dass Lösungen und Entscheidungen emergieren. Sie sind, wenn ihnen Raum gegeben wird, eine Folge der selbstorganisierenden Dynamik des Lebens, das ständig nach höheren Ordnungen strebt. Circle ist daher für alle Meetings kleiner Gruppen geeignet und kann, wenn es von der Aufgabe her passt, auch mit mittelgroßen Gruppen (bis 40+ Personen) eingesetzt werden. Circle ist aus unserer Sicht ein Basiswerkzeug ganzheitlichen Führens und sollte von jeder Führungskraft – tatsächlich jeder Führungskraft – beherrscht werden. Davon sind wir heute allerdings noch sehr weit entfernt. Dynamic Facilitation

Mit der von Jim Rough (2002) entwickelten Methode Dynamic Facilitation wird Ähnliches erreicht, wie mit Circle. Während es bei Circle jedoch wichtig ist, die Beteiligten lernen zu lassen, was es von ihnen braucht, damit im Kreis ein gutes Gespräch entstehen kann, kann man mit Dynamic Facilitation mit den Menschen so arbeiten, wie sie jetzt gerade sind. Man muss sie vorher nicht für förderliche Einstellungen und Verhaltensweisen gewinnen. Der Moderator hat dementsprechend eine deutlich aktivere Rolle als bei Circle. Man könnte ihn als ein »Redeobjekt« auf zwei Beinen sehen, das von Teilnehmer zu Teilnehmer wandert und deren Ideen und Bedenken aus ihnen »heraushört«. Er verlangsamt das Gespräch und steigert die Qualität des Zuhörens. Die Teilnehmer sitzen nicht im Kreis, sondern im Halbkreis, wobei ein zweiter Halbkreis aus vier Flipcharts gebildet wird. Circle und Dynamic Facilitation verstrukturieren die Teilnehmenden nicht, wie das andere Moderationsformen oft tun. Ihnen wird vielmehr der Raum gegeben, das Gespräch so zu entwickeln, wie sie das selbst wollen. In beiden Fällen wird ein Gefäß hergestellt, das eine hohe Qualität des Denkens und Sprechens ermöglicht. So kann die selbstorganisierende Dynamik des Lebens bewirken, dass neue Einsichten entstehen, gute Lösungen entdeckt werden und ein Gefühl von Gemeinschaft wächst – wichtige Ergebnisse, die durch Inseln der Lebendigkeit ermöglicht werden.

Methoden für mittelgroße bis große Meetings Mittelgroße Meetings mit 15 bis 50 Teilnehmenden können im Kreis abgehalten werden, wenn es wichtig ist, dass die ganze Gruppe plenar über eine gemeinsame Fragestellung reflektiert. Weitere Meeting-Werkzeuge für diese Gruppengröße sind

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die bereits recht bekannt gewordenen Methoden Open Space Technology (Owen, 2011) und World Café (Brown u. Isaacs, 2007) über die an anderer Stelle schon ausführlich veröffentlicht wurde. Hier sei nur hervorgehoben, dass beide aus unserer Sicht zu sehr als Großgruppenmethoden wahrgenommen und daher zu selten für mittelgroße Gruppen eingesetzt werden. Beide Methoden lassen sich jedoch auch sehr gut mit zwölf oder 15 Teilnehmern durchführen. Beide geben viel Raum und beide erzeugen ein hohes Maß an Lebendigkeit. Mit beiden lassen sich hocheffiziente Inseln der Lebendigkeit schaffen. Sie sollten viel stärker Teil des Meeting-Gewebes von Organisationen werden. Großgruppenkonferenzen

Unter diesem Begriff seien jene interaktiven Konferenzformen zusammengefasst, die inhaltlich durchgeplanter als Open Space Technology vorgehen: Real Time Strategic Change, Appreciative Inquiry Summit, Zukunftskonferenz. Diese Konferenzformen werden oft nicht »sortenrein« angewandt, sondern es werden Elemente von ihnen gemischt und neue Elemente entwickelt, um passgenaue Konferenzformen zu schneidern. Aus diesen Elementen lassen sich auch Konzepte für regelmäßig wiederkehrende Konferenzen in Organisationen entwickeln. Rat der Weisen

Um ihre eingeschliffenen Muster zu erkennen, zu hinterfragen und neue Verhaltensoptionen zu entwickeln, sollten in bestimmten Abständen auch ganze Organisationen zusammen reflektieren. Dabei stellt sich jedoch das ganz praktische Problem, dass es aufwendig und vom praktischen Betriebsablauf schwer machbar ist, alle Mitarbeiter einer Organisation in regelmäßigen Abständen für einen oder zwei Tage aus dem normalen Betrieb herauszunehmen. Der Rat der Weisen ermöglicht es jedoch einer großen Gruppe, in nur zwei bis drei Stunden zu reflektieren und dabei gegebenenfalls blinde Flecken zu erkennen, Tabus zu erlösen und neue Einsichten zu gewinnen, um nur einige Möglichkeiten zu benennen. Dies ist in der kurzen Zeit möglich, weil eine kleine, nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Gruppe – der Rat der Weisen – einen oder eineinhalb Tage vorarbeitet. Der Rat erarbeitet Impulse, die er anschließend der sehr viel größeren Gruppe vorstellt. Dies geschieht häufig mit einer humorvollen Präsentation, in der beispielsweise auch kleine Sketche vorgeführt werden. Diese Präsentation geht der großen Gruppe immer wieder sehr unter die Haut und macht sie nachdenklich. Anschließend reflektiert die große Gruppe über das, was sie gehört hat. Aus dieser Reflexion nimmt jeder Impulse mit, die er im Nachgang in seinem Team bespricht und woraus er neues Handeln ableitet. Und selbst wenn ein Unternehmen zu groß ist, um alle Mitarbeiter zur Präsentation des Rates der Weisen zusammenzuholen, gibt es beispielsweise die Möglichkeit, mit einem kurzen Video alle im Unternehmen zu erreichen und Umsetzungsimpulse über anschließende lokale Reflexionen zu setzen.

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Mikrorituale

Mikrorituale sind kurze Rituale, die in Meetings integriert werden und die innerhalb dieser Meetings die Achtsamkeit steigern, das Mit-sich- und Miteinander-in-KontaktKommen fördern und die die Stimmung heben. Sie sind Inseln der Lebendigkeit innerhalb von Inseln der Lebendigkeit. Im Folgenden ein paar Beispiele: –– Beginn mit einem Moment der Präsenz: Um zu Beginn eines Meetings den Übergang von Smalltalk in einen Raum hoher Achtsamkeit zu markieren, wird mit einem Moment der Stille und Konzentration begonnen. Das kann schlichtweg ein kurzer Moment des Schweigens sein. Genauso wäre es möglich, ein Zitat, eine kurze Geschichte oder ein Gedicht vorzulesen, ein Musikstück zu hören – oder einfach eine Glocke anzuschlagen. –– Check-In-Runde: Nach dem kleinen Moment der Sammlung reflektiert jeder kurz über eine Frage (z. B.: Welche Hoffnungen habe ich für dieses Meeting? Oder: Wie bin ich heute hier?), was wieder einen Moment des Innehaltens bedeutet, woraufhin einer nach dem anderen der Gruppe seine Antwort mitteilt. –– Erfolge und Fortschritte hervorheben: Ein Schritt, der vielleicht nicht wöchentlich, sondern einmal im Monat stattfindet. Die Gruppe sammelt, was aus ihrer Sicht Fortschritte und Erfolge in den letzten vier Wochen waren. Diese könnten auch mit Applaus bedacht werden. –– Dank ausdrücken: Jeder überlegt, ob er einem anderen Mitglied der Gruppe für seine Unterstützung Dank sagen möchte, und tut es dann. Wenn es ein Leitungsteam ist, können auch Mitarbeiter erwähnt werden, die nicht an dem Meeting teilnehmen. Anschließend sollte jemand die Aufgabe übernehmen, dem oder den Nicht-Anwesenden den Dank zu übermitteln. Auch das ist ein Ritual, das sicher nicht wöchentlich, aber dennoch regelmäßig stattfinden kann. Makrorituale

An Makroritualen nehmen große Gruppen bis zu allen Mitarbeitern der Organisation teil. Es gibt Makrorituale, die Teil von Großgruppenkonferenzen sind. Beispiele: Alle trommeln zusammen, alle entzünden ein Feuer, alle ziehen zusammen einen schweren Baumstamm, alle bauen eine Brücke … Das sind Aktionen, die oft viel Energie erzeugen. Sie sind in vielen Varianten denkbar. In einem bekannten Gastronomie-, Catering- und Feinkostunternehmen haben die Mitarbeiter auf einem Werte-Tag Stücke einer riesigen Werte-Torte dekoriert und dann zu einem großen Torten-WIR zusammengesetzt. Dann gibt es Makrorituale, die ganz eigene Veranstaltungen sind. Auch hierzu ein paar Beispiele: –– Frühjahrsputz: An einem Tag im Frühjahr räumt jeder in der Organisation seinen Arbeitsplatz auf. Aktenschränke werden entleert, Ablagen ausgemistet, Schreibtische aufgeräumt – und natürlich auch Arbeitsplätze in Laboren, in der Produktion, überall. Aufräumen erzeugt – das weiß jeder, der es gemacht hat – ein Gefühl von Erleichterung. An diesem Tag im Frühjahr könnten auch Projekte, die nicht mehr

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notwendig sind und vielleicht eh nur mit halber Kraft verfolgt werden, »ausgemistet« werden. Jedes Team könnte sich fragen, »was bei uns aufgeräumt werden könnte«. Die Leitung der Organisation könnte Container für den Abfall bereitstellen. Und vielleicht gibt es am Ende des Aufräumens einen Umtrunk mit allen – am Container. Fest: Feste in Organisationen gibt es häufig. Und zugleich ist das bewusste Gestalten und Feiern eines Festes auch eine Kunst. Es geht dabei um mehr als um Geselligkeit und Essen und Trinken. Es geht darum, Menschen in eine festliche Stimmung zu versetzen. Lebenskraft soll freigesetzt werden. Ein sorgfältig gestalteter Rahmen, Wertschätzung, Humor, Spiel … Das sind Elemente, die diese Stimmung erzeugen können. Tag der Freundlichkeit: Dieser wurde in dem Werk eines Unternehmens, in dem es tatsächlich nicht immer sehr freundlich zuging, als jährliches Ereignis ausgerufen. Buttons wurden verteilt und jeder sollte an diesem Tag mindestens drei anderen etwas Wertschätzendes sagen. Der Werkleiter, der viele Mitarbeiter kannte (obwohl es mehr als 1000 Werker waren), ging den ganzen Tag durch das Werk und dankte und würdigte. Initiation der Neuen: Alle, die im letzten Jahr ihre Probezeit beendet haben, werden in einer Feier rituell aufgenommen. Vielleicht lässt man die Neuen dabei symbolisch durch ein Tor gehen, vielleicht werden sie auf irgendeine andere Weise »initiiert«, vielleicht werden sie aufgefordert, eine Geschichte aus der Organisation zu erzählen, die für sie am meisten deren positiven Kern zum Ausdruck bringt. Vielleicht erhalten alle ein künstlerisch gestaltetes Objekt, das für den Zweck und die Werte der Organisation steht. Tag des Helfens: Einmal im Jahr spendieren alle Mitarbeiter der Organisation einen Tag, um mit konkretem Tun ganz praktisch eine hilfsbedürftige Institution zu unterstützen. Das könnte beispielsweise die Renovierung eines Kinderdorfs sein. Vielleicht hat man auch vorher Geld gesammelt, um diese Institution zu unterstützen.

Teilsysteme sozialer Betriebssysteme Solche Makrorituale sind dann, wenn sie regelmäßig durchgeführt werden, bereits Teile eines sozialen Betriebssystems. Nun sollen weitere Beispiele dargestellt werden. Auch bei diesen handelt es sich nicht um vollständige soziale Betriebssysteme, sondern um regelmäßig durchgeführte Elemente davon. Immer wenn eine bestimmte Art von Meeting oder Ritual regelmäßig stattfinden, kann man bereits von einem System sprechen. Die nachfolgenden Beispiele sind sehr unterschiedlich und zeigen dadurch gut die Bandbreite der Möglichkeiten auf. Monatliches Open-Space-Meeting in einer Non-Profit-Organisation

Birgitt Williams war Geschäftsführerin einer Non-Profit-Organisation mit 80 Mitarbeitern, die sich um benachteiligte Gruppen in Toronto kümmerte, als sie die Methode Open Space Technology kennenlernte. Nachdem sie mit ersten Open-Space-Meetings

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sehr positive Erfahrungen gesammelt hatte, institutionalisierte sie ein monatliches, ca. vierstündiges Open-Space-Meeting – jeweils mit einem eigenen Thema –, zu dem alle Mitarbeiter geladen waren. Selbstredend kamen nicht immer alle, einerseits weil die Aufgaben des Alltags zu erledigen waren und andererseits weil nicht jedes Thema jeden interessierte. Doch die am jeweiligen Thema Interessierten kamen. In der Summe haben die regelmäßigen Open-Space-Meetings in erheblichem Maße dazu beigetragen, in der Organisation Lebenskraft freizusetzen, das Potenzial aller zu nutzen und insgesamt schneller, lern- und leistungsfähiger zu werden. Wöchentliches Dynamic-Facilitation-Meeting in einem Sägewerk

Jim Rough, Entwickler der Methode Dynamic Facilitation, arbeitete in den 1980er Jahren in einem Sägewerk, das 300 Mitarbeiter hatte, die in zwei Schichten arbeiteten. Jim Rough moderierte einmal pro Woche je eine Gruppe von zwölf Personen aus den beiden Schichten. Anders als bei Qualitätszirkeln üblich, legte er der Gruppe keine Beschränkungen darüber auf, worüber sie sprechen darf, zum Beispiel nur über Probleme aus dem eigenen Arbeitsbereich und nur über sachliche Probleme. Er wollte vielmehr einen Raum für das öffnen, was sich entwickeln wollte … eine Insel der Lebendigkeit schaffen. (Und aus Frustration über die ihm damals bekannten Moderationsmethoden entwickelte er dabei Dynamic Facilitation.) Das Ergebnis der Arbeit dieser beiden Gruppen bestand nicht nur darin, dass erarbeitete Problemlösungen umgesetzt wurden, sondern die allgemeine Produktivität, die Qualität und die Mitarbeiterzufriedenheit des ganzen Werks stiegen deutlich an. Denn die Energie, die Ideen und Impulse der beiden Gruppen strahlten aus. Halbjährlicher Rat der Weisen

In einem Werk, das Aluminium-Halbzeuge herstellt, wird seit ca. zwei Jahren jedes halbe Jahr ein Rat der Weisen durchgeführt. Immer wieder andere zwölf Mitarbeiter werden dafür ausgelost. Diese diskutieren dann einen Tag lang, welche Impulse sie allen Mitarbeitern des Werks geben wollen, und erarbeiten eine Präsentation. Diese erfolgt einen Tag später – bisher jeweils an einem Samstagvormittag. Nach der Präsentation reflektieren die anwesenden Mitarbeiter über die Ergebnisse im World-Café-Format. Auf diesen Veranstaltungen machen sich die Mitarbeiter immer wieder gegenseitig bewusst, wo es produktivere Verhaltensweisen braucht. Es entstehen aber auch Impulse, die in Richtung der Führungskräfte und der Geschäftsleitung gehen. Tägliche Minuten der Besinnung

Wolfgang Gutberlet, langjähriger Inhaber und Vorstand des in Hessen sehr verbreiteten Lebensmittelfilialisten »Tegut«, versammelte jeden Morgen um acht Uhr diejenigen seiner obersten 20 Führungskräfte, die an dem Tag im Hause waren. Er las einen kurzen Text zur stillen Reflexion vor. Und wenn es gerade wichtig war, wurden ganz aktuelle Informationen ausgetauscht.

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Wöchentliche Arbeit »am System« in einem Automobilwerk

Der Werkleiter hatte mit seinen Führungskräften eine Vision für das Werk erarbeitet. Daraus entstand eine Gruppe, die sich aus den ihm direkt unterstellten Führungskräften und weiteren »Querdenkern« nachgeordneter Hierarchieebenen zusammensetzte. Diese Gruppe traf sich (und tut dies noch heute) regelmäßig einmal pro Woche ohne den Werkleiter, um zu überlegen, wie die gemeinsame Vision weiter zum Leben erweckt werden kann – was vor allem ein Arbeiten »am System« bedeutet. Parallel dazu gibt es das übliche wöchentliche Meeting des Werkleiters mit seinen direkt unterstellten Führungskräften, in dem überwiegend »im System« gearbeitet wird. Monatliches Treffen aller 60 Mitarbeiter einer Abteilung

Der Leiter einer Abteilung für Qualitätssicherung in einem Pharmakonzern holte jeden Monat seine 60 Mitarbeiter für ein dreistündiges interaktives Meeting zusammen. Als er damit begann, arbeiteten die Teams dieser Abteilung nicht gut zusammen und ihr Ruf im Unternehmen war schlecht. Bereits nach kurzer Zeit besserte sich dieser Ruf dramatisch. In der Folge bekam die Abteilung etwa 20 spontane Bewerbungen von Mitarbeitern anderer Teile des Unternehmens. Quartalsweises Open-Space-Meeting mit drei leeren Stühlen in einem Werk der Deutschen Post

Der Leiter eines Werks mit ca. 2000 Mitarbeitern lud einmal pro Quartal seine obersten 25 Führungskräfte zu einem ca. vierstündigen Open-Space-Meeting. Das Besondere dabei waren drei leere Stühle. Diese waren für Mitarbeitende reserviert, die dazukommen wollten. Jeder der 2000 Mitarbeiter konnte teilnehmen, wenn er wollte. Man musste sich allerdings vorher anmelden, damit nicht plötzlich 20 sich auf die drei Stühle setzen wollten. Die Mitarbeiter haben von dieser Möglichkeit regen Gebrauch gemacht und ihre Ideen eingebracht. Dieses Beispiel zeigt, dass man soziale Betriebssysteme auch so gestalten kann, dass Grenzen zwischen Hierarchieebenen durchlässiger werden. Tägliches Meeting in einem großen, komplexen Software-Projekt

Dee Hock, langjähriger CEO von Visa, beschreibt in seinem Buch »Die chaordische Organisation«, wie ein hochkomplexes, für das Unternehmen sehr wichtiges Softwareprojekt durch ein tägliches Meeting der Projektmitarbeiter enorm beflügelt wurde. Das Meeting fand in einem Raum statt, in dem an einer großen Wand auf Zetteln sämtliche Schritte des Projekts mit den Namen der jeweils Verantwortlichen hingen. An der Wand waren von links nach rechts die verbleibenden Tage eingetragen, und unter jedem Datum waren die Zettel mit den Aufgaben befestigt, die bis zu diesem Tag erledigt werden mussten. Jemand hatte am aktuellen Datum eine lange Schnur befestigt, die von einer daran hängenden Kaffeetasse senkrecht nach unten gezogen wurde. Jeden Tag wanderte die Schnur mit der Kaffeetasse unaufhaltsam einen Tag nach rechts. Die Zettel erledigter Aufgaben wurden abgenommen, und so wurde sichtbar, was links von

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der Schnur als unerledigt hängen blieb. In den täglichen Meetings, die sehr informell vor der großen Wand abliefen, fanden sich immer wieder spontan Gruppen von Freiwilligen, die die erforderliche Arbeit leisteten. Wie in Open-Space-Meetings tauchten Führer und Unterstützer auf. Dee Hock (1999) schrieb dazu: »Nichts war unter Kontrolle, doch alles war in Ordnung. Der Einfallsreichtum explodierte. Individualität und Vielfalt blühten. Die Leute überraschten sich mit dem, was sie erreichen konnten, und staunten über die unterdrückten Talente, die bei anderen zum Vorschein kamen. Rang und Position wurden bedeutungslos. Die Macht über andere wurde bedeutungslos. Zeit wurde bedeutungslos. Die Begeisterung, das Unmögliche möglich zu machen, wuchs, und es entstand eine Gemeinschaft, die auf einem gemeinsamen großen Ziel, auf Werten und auf Menschen basierte.« Das hier Beschriebene geschah in den 1970er Jahren. Erst gegen Ende der 1990er Jahre entwickelte sich eine neue Philosophie für die Abwicklung komplexer Software-Projekte, »Agile Software-Entwicklung« genannt. In dieser spielen tägliche Treffen, sogenannte daily scrums, eine wichtige Rolle.

Soziale Betriebssysteme für unterschiedliche Systemgrößen, für dauerhafte und temporäre Organisationen Soziale Betriebssysteme, die aus Inseln der Lebendigkeit bestehen, braucht es auf allen Ebenen einer Organisation, für das ganze Unternehmen genau so wie für einen Bereich oder ein einzelnes Team, sei es ein Team an der Basis oder das Geschäftsleitungsteam. Im Folgenden skizzieren wir soziale Betriebssysteme für die Ebenen Team, Unternehmen, Konzern und Projekt. Soziales Betriebssystem für ein Team

Zum sozialen Betriebssystem eines Teams könnte ein tägliches, morgendliches Treffen von zehn Minuten Dauer gehören, das der gemeinsamen Einstimmung in den Tag (und danach dem Austausch aktueller, für den Tag wichtiger Informationen) dient. Vielleicht sitzt man dabei nicht, sondern steht. Vielleicht wird ein Satz über einen Wert der Organisation vorgelesen und einen Augenblick still oder auch verbal reflektiert. Rituale wie dieses können helfen, im ablenkenden Alltag auch das Wichtige im Sinn zu behalten. Dann könnte es ein wöchentliches zweistündiges Meeting geben, um »im System« zu arbeiten. Dieses Meeting wird bewusst auf kurze Abstimmungen zu operativen Themen begrenzt und straff geleitet. Es gibt vielleicht kurze Runden, in denen jeder den anderen bestimmte Informationen gibt. Da man sich auf kleine operative Themen des Tages beschränkt und die größeren Themen in andere »Gefäße« verschiebt, kommt man mit zwei Stunden (vielleicht sogar weniger) aus. Doch in jedem Fall beginnt es mit einem Check-In, der den Übergang in einen Raum besonderer Präsenz markiert, und endet es mit einem Check-Out, in dem man sagt, was man mitnimmt, wie man das Meeting erlebt hat oder was auch immer am Schluss noch gesagt sein will. Die Methode Circle ist die Basis der Meetings des Teams.

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Dann kann es in diesem Team ein monatliches Meeting geben, um »am System« zu arbeiten. Hier steht mehr Zeit zur Verfügung, um zu reflektieren. Was lernt man aus aufgetauchten Problemen? Wie können die Aufgabenverteilung, Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen verbessert werden? Hierfür werden vielleicht zwei Stunden vorgesehen. Zum einen werden von Einzelnen vorbereitete Vorschläge diskutiert. Zum anderen erarbeitet das Team sich zusammen die Lösungen. Auch dieses Meeting findet im Kreis statt, hat einen Check-In und Check-Out. Da jeder weiß, dass es das monatliche Meeting für das Arbeiten »am System« gibt, bleibt das wöchentliche Meeting von dessen Themen unbehelligt. Und da es dieses monatliche Meeting gibt, ist die Chance viel größer, dass die Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen kontinuierlich verbessert werden – dass also die Organisation lernt. Der amerikanische Unternehmer Brian Robertson (2007) hat die Teams in seinem Software-Unternehmen regelmäßig solche Meetings durchführen lassen und damit sehr positive Erfahrungen gesammelt. Dann gibt es vielleicht noch ein jährliches zweitägiges Meeting, das der grundsätzlichen Positionsbestimmung und Reflexion dient. (Bei dem Liechtensteiner Unternehmen Hilti führt jedes Team des gesamten Unternehmens einmal im Jahr einen solchen zweitägigen »Boxenstopp« durch – eine enorme finanzielle Investition, an der Hilti sogar in flauen Zeiten festhält.) Hier kann die gemeinsame Realität untersucht werden, hier kann man sich Ziele setzen und die gemeinsame Vision erneuern, hier kann man herausarbeiten, welches die wirklich großen Fragen sind, an denen man arbeiten sollte … und dann gemeinsam über diese nachdenken und Initiativen dazu entwickeln. Das hier vorgestellte System von Meetings stellt nur eine Möglichkeit dar. Letztlich muss in jedem Fall überlegt werden, was sinnvoll und praktikabel ist. Es kann beispielsweise reichen, die wöchentlichen Meetings nur alle zwei Wochen durchzuführen oder mehr Strategie-Meetings pro Jahr abzuhalten, wenn es sich etwa um ein Geschäftsleitungsteam handelt. Soziales Betriebssystem für eine ganze Organisation

Das soziale Betriebssystem einer ganzen Organisation kann vielschichtig sein. Ein wichtiges Element davon ist das System der Meetings der Geschäftsleitung. Gibt es wöchentliche Meetings? Was genau passiert in diesen? Gibt es Retreats? Wie viele im Jahr? Haben diese bestimmte Fokusse? Wie ist der Prozess der strategischen Planung in diese integriert? Gibt es einen systematischen Prozess, um andere wichtige Fragen regelmäßig zu beleuchten, zum Beispiel Führung, Mitarbeiter, Kultur …? Wie wird immer wieder der Kontakt zum gemeinsamen Daseinszweck des Unternehmens, zu den Werten und zur Vision erneuert? Dann die Ebene der Führungskräfte. Wie oft gibt es Treffen mit allen oder mit den obersten 30 oder 50 Führungskräften? Wozu sollen diese dienen? Präsentiert dort nur die Geschäftsleitung (was sicher notwendig ist, doch allein wenig Raum für Lebendigkeit geben würde)? Können wichtige Fragen miteinander reflektiert werden? Gibt es Open-Space-mäßig Raum für die Initiativen der Teilnehmenden? Wird dem Lernen

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voneinander Raum gegeben? Werden Best Practices miteinander geteilt und wie? Werden Ergebnisse aus früheren Treffen vorgestellt? Gibt es Rituale, die dazu dienen, sich wieder neu mit der Vision, den Werten der Organisation und miteinander zu verbinden? Wird etwas gefeiert, wird jemand geehrt? Auf der Ebene der Mitarbeiter stellen sich ähnliche Fragen. Wie oft will man eine Veranstaltung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen? Vielleicht gibt es einen jährlichen Kick-Off, der einen ganzen Tag dauert. Die Präsentation des Rats der Weisen und der Dialog über dessen Impulse könnte ein wiederkehrender Teil eines solchen Kick-Offs sein. Vielleicht gibt es ein zweites Treffen aller Mitarbeiter pro Jahr, das nur zweieinhalb Stunden dauert und auf dem auch die Impulse eines weiteren Rats der Weisen reflektiert werden. Dann kann es weitere Meetings für Gruppen Freiwilliger geben: Dialoge im WorldCafé-Format oder im großen Kreis oder Open-Space-Meetings zu virulenten Fragen und Themen. Ein Beispiel: In einem Medienunternehmen wurde in den Pionierzeiten der »New Economy« um die Jahrtausendwende, als es für das Unternehmen darum ging, möglichst schnell sinnvolle Websites zu den vorhandenen Zeitungen und Zeitschriften zu entwickeln, ein monatliches, halbtägiges Meeting eingeführt, zu dem grundsätzlich alle, die von dem Thema irgendwie betroffen waren (gleich welcher Hierarchiestufe sie angehörten), eingeladen waren. Erwartet wurde, dass von jedem Titel jedes Mal mindestens eine Person dabei war und ein neues Projekt oder Tool vorstellte, das in der Zwischenzeit entwickelt worden war. Diese informellen und lebendigen Meetings beschleunigten sehr das gemeinsame Lernen und ließen bei den meist sehr jungen Mitarbeitern ein hohes Maß an Motivation entstehen. Weitere Bestandteile des sozialen Betriebssystems können regelmäßige Dialogveranstaltungen zwischen der Geschäftsleitung und Mitarbeiter- oder Führungskräftegruppen sein, wie es in Großunternehmen bereits üblich ist. Schließlich sollten auch Makrorituale, wie oben beschrieben, zum Betriebssystem gehören. Vielleicht wird an jedem 3. Februar ein Tag des Gründers gefeiert, der alle wieder mit dem verbindet, was schon dem Gründer wichtig war und was auch heute noch wichtig ist. Jede Organisation sollte ihr ganz eigenes System von Ritualen entwickeln. Beispiel eines sozialen Betriebssystems für einen Konzern

Eines der durchdachtesten sozialen Betriebssysteme für einen Konzern wurde in den 1980er und 1990er Jahren unter Jack Welch bei General Electric (GE) etabliert. Welch bezeichnete es selbst als das »operating system« seines Unternehmens und hielt es für so wichtig, dass er es in einem Geschäftsbericht ausführlich beschreiben ließ. Es bestand aus einem Zyklus sich jährlich wiederholender und aufeinander aufbauender Meetings auf Konzernebene. Ein wichtiges Element bestand darin, dass sich alle drei Monate die obersten 35 Führungskräfte von GE trafen. Sie bildeten den Corporate Executive Council, der zwar keine klare Entscheidungsbefugnis hatte, doch das politi-

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sche Zentrum von GE bildete. Dort wurden in informeller Runde (zwar nicht im Kreis, doch im mehrstufigen Halbkreis eines kleinen Amphitheaters) wesentliche Fragen des Unternehmens diskutiert und gemeinsame Linien gefunden. Best Practices wurden vorgestellt und damit das Lernen voneinander beschleunigt. Neue konzernweite Initiativen wurden hier erstmals vorgeschlagen und diskutiert. Nachdem sie beschlossen und ausgerollt waren, wurde im Corporate Executive Council zusammengetragen, wie sie tatsächlich umgesetzt wurden, welche Vorgehensweisen besonders gut funktioniert haben, welche Ergebnisse erzielt wurden und welche Hindernisse noch wie aus dem Weg geräumt werden müssen. Durch diese vierteljährlichen zweitägigen Treffen wuchsen die obersten Führungskräfte von GE zu einem Team zusammen. Zusätzlich führte GE jährlich je eine Konferenz mit den obersten 150 und mit den obersten 600 Führungskräften durch. In deren Mittelpunkt stand immer wieder eine konzernweite Initiative, die von allen Bereichen und Geschäften von GE umgesetzt werden sollte. Solche Initiativen waren beispielsweise Globalisierung, E-Business, Six Sigma und Services. Sie wurden auf diesen Konferenzen (nach Beschluss im Corporate Executive Council) gestartet. In den Jahren darauf wurden dort Best Practices präsentiert. Ziel war, das Lernen aller von allen anderen zu beschleunigen. Durch die jährlich wiederkehrenden Konferenzen, die vorhersagbar über einen Zyklus von mehreren Jahren ein konzernweites Thema fokussierten, wurde immer wieder die Aufmerksamkeit aller Führungskräfte auf das ausgerichtet, was für GE insgesamt wichtig war. Soziales Betriebssystem für Projekte

Meetings spielten in Projekten schon immer eine wichtige Rolle, doch das heißt weder, dass diese Meetings so gestaltet sind, dass sie wirklich Inseln der Lebendigkeit darstellen, noch dass sie zusammen ein durchdachtes System bilden. Generell lässt sich beobachten, dass Meetings zur Arbeit »im System« – also die Treffen, in denen das Projekt inhaltlich vorangebracht wird – stattfinden, doch dass zu wenig Augenmerk auf jene Meetings gelegt wird, in denen »am System« gearbeitet werden sollte. Damit sind vor allem der Anfang des Projekts gemeint – der Projekt-Kick-Off mit allen Beteiligten – und das Ende, an dem man das Projekt insgesamt Revue passieren, daraus lernen und es rituell – vielleicht sogar mit einer Feier – beenden sollte. Doch auch während eines Projekts braucht es in Abständen Räume – Inseln – zur Reflexion darüber, wie das Projekt läuft und welche Rolle die eigenen Arbeitsweisen oder die zwischenmenschlichen Beziehungen dabei spielen, damit man nicht nur in Form von »Feuerwehrübungen« auf plötzlich auftretende Probleme reagieren muss. Projekte sind heute in vielen Unternehmen selbstverständlicher Teil des Alltags. In der Informatik-, Bau-, Anlagenbau- und Verkehrstechnikbranche werden beispielsweise fast alle Kundenaufträge als Projekte abgewickelt. In solchen Unternehmen macht das parallele und serielle Leiten von verschiedenen Projekten oder die Mitarbeit in verschiedenen Projektteams die eigentliche Arbeit vieler Führungskräfte und Mitarbeitenden aus. Trotzdem fehlt oft ein soziales Betriebssystem, das auf diese Erfordernisse angepasst

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ist. Es fehlen beispielsweise projektübergreifende Meetings, die auch das gemeinsame Reflektieren und Lernen und eine Weiterentwicklung des Systems ermöglichen. Seit einigen Jahren wächst das Bewusstsein darüber, dass sich komplexe Entwicklungsprojekte (in denen z. B. ein Produkt entwickelt oder eine Software programmiert wird) nicht von Anfang an perfekt durchplanen lassen. Die Unwägbarkeiten, die im Laufe des Prozesses auftreten, verlangen nach einem hohen Grad an Interaktion zwischen den Beteiligten, damit man sich schnell auf neue Situationen einstellen und das Geschehen für alle transparent halten kann. Daher werden in komplexen Entwicklungsprojekten zunehmend tägliche Meetings (daily scrums) für erforderlich gehalten, die meist strikt auf 15 Minuten begrenzt sind – ein Element des sozialen Betriebssystems. Das Erfordernis nach einem weiteren ergibt sich daraus, dass es auch regelmäßige Rückkopplungen mit den künftigen Anwendern braucht. Auch hierfür müssen Räume geschaffen werden, die das ganze Nutzerspektrum iterativ einbeziehen. Die erwähnten Großgruppenmethoden (z. B. World Café) lassen sich hierfür nutzen. Bereichsübergreifende Veränderungsprojekte (wie Restrukturierungen oder die Einführung einer unternehmensweiten neuen Software) sind eine weitere Kategorie komplexer Projekte, die neue Arbeitsweisen für viele Menschen mit sich bringen. Hier ist deutlich geworden, dass in der Regel eine »Veränderungsarchitektur« notwendig ist. Damit ist ein temporäres soziales Betriebssystem gemeint, das die Veränderung befördert. Diese Architektur kann aus Workshops, Dialogveranstaltungen mit Mitarbeitern, Großgruppenkonferenzen, Sounding Boards und anderem mehr bestehen. Ein soziales Betriebssystem entwickeln

Ein bewusst gestaltetes soziales Betriebssystem ist aus unserer Sicht der Hebel zur nachhaltigen Transformation einer Organisation. Die Inseln der Lebendigkeit, aus denen es besteht, haben vielfache Wirkungen. Zusammenfassend könnte man sagen, sie erneuern und fokussieren Energie – Lebensenergie. Das soziale Betriebssystem zu gestalten bedeutet, den Spirit der Organisation zu managen – der sich natürlich nicht wirklich managen lässt, sondern für den man nur gute Bedingungen schaffen kann. Im Einzelnen werden in den Inseln der Lebendigkeit (Meetings und Ritualen) Probleme gelöst, Lernen befördert, Einsichten gewonnen, das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, Informationen ausgetauscht, gemeinsame Werte bewusst und die Vision lebendig gemacht, gemeinsame Ziele erarbeitet, Initiativen und Maßnahmen geplant, Emotionen geheilt, Wertschätzung ausgedrückt, Verbindungen über Grenzen hinweg geschaffen und noch einiges andere mehr. Ein gutes soziales Betriebssystem ist sowohl ein Burnout-Präventionsprogramm wie auch ein Mechanismus, der zum Entstehen einer Hochleistungsorganisation beiträgt. Soziale Betriebssysteme werden nicht – zumindest nicht in ihrer Gänze – zuerst auf dem Reißbrett geplant und dann eingeführt. Sie entwickeln sich vielmehr nach und nach. Jede Organisation muss ihren eigenen Weg finden. Jede muss dazu neue Wege ausprobieren und sehen, was für sie funktioniert.

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Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

Es gibt Unternehmer, die viel Energie in die Entwicklung ihrer Betriebssysteme gesteckt haben, diese als vorbildlich beschreiben und als Paket vermarkten. Dazu zählen der Holländer Gerard Endenburg (1998), der sein System Soziokratie nennt, und der Amerikaner Brian Robertson, der die Soziokratie in seinem Unternehmen zu Holacracy weiterentwickelt hat. Diese Betriebssysteme enthalten noch einiges, das hier nicht beschrieben wurde, und sie beinhalten vieles nicht, das hier als möglicher Bestandteil eines sozialen Betriebssystems dargestellt wurde. Auch der ägyptische Unternehmer Ibrahim Abouleish (2004) hat in seiner Unternehmensgruppe Sekem ein interessantes System von Inseln der Lebendigkeit geschaffen. Unternehmensbereiche und Teams beginnen jeden Tag in einer ritualisierten Form und beenden die Woche mit einem ritualisierten Ausklang. Immer wieder stehen dort auch Hunderte von Menschen zusammen in einem großen Kreis, was deutlich machen soll, dass alle zusammen eine große Gemeinschaft sind, zu der jeder beitragen kann und soll. Soziokratie, Holacracy oder das System von GE oder von Sekem sind sicher wichtige Inspirationsquellen für interessierte Organisationen. Doch letztlich wird jede ihr ureigenstes System entwickeln müssen. Führungskräfte müssen dazulernen, damit die Meetings, die die Elemente eines sozialen Betriebssystems bilden, tatsächlich zu Inseln der Lebendigkeit werden. Sie müssen lernen, zu Gastgebern exquisiter Dialoge zu werden. Und das verlangt von Führungskräften, sich Methoden wie Circle und Dynamic Facilitation anzueignen. Selbst Methoden, die auf mittelgroße bis große Gruppen abzielen, wie World Café und Open Space Technology, sollten nicht nur von professionellen Moderatoren beherrscht werden. Führungskräfte sollten sie sich ebenfalls aneignen. Denn nur dann werden sie regelmäßig auch für Gruppen, die »nur« 15 oder 25 Personen groß sind, genutzt werden. Neue Wege, Meetings durchzuführen, werden von der Spitze konsequent vorgelebt werden müssen. Weiter unten in der Hierarchie werden sich nicht viele im Kreis zusammensetzen, wenn es die Führungsspitze nicht tut. Vereinzelt haben Unternehmen rigorose Konsequenzen gezogen und die Tische aus Meetingräumen entfernt. Der dänische Hörgeräte-Hersteller Oticon hat sie durch kreisrunde Sofas ersetzt. Und natürlich können Coaches/Moderatoren Komponenten von sozialen Betriebssystemen vorschlagen. Sie haben eine wichtige Funktion dort, wo sie Meetings, Workshops oder Konferenzen gestalten und moderieren. Sie ermutigen, ungewohnte Wege zu gehen, die den Raum für Lebendigkeit öffnen. Sie halten an wesentlichen Ritualen fest, auch wenn die Zeit zu drängen scheint. Sie haben das Vertrauen, dass in einer Gruppe immer eine gute, von allen getragene Lösung emergiert, wenn die Bedingungen für einen guten Dialog hergestellt werden. Sie halten den Raum – das heißt, sie haben eine klare Intention und können zugleich loslassen, im Moment präsent sein und innerlich alles akzeptieren, was geschieht.

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Matthias zur Bonsen und Myriam Mathys: Inseln der Lebendigkeit

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Zum Schluss die Stimme eines CEO Mike Szymanczyk (2007), CEO von Philip Morris USA, fasst sein Denken wie folgt zusammen: »Im Grunde meines Herzens bin ich Architekt. Wer das Gespräch als Kernprozess nutzen will, muss auch bereit sein, Infrastrukturen zu schaffen, die die Leute dazu bewegen können, auf eine neue Weise miteinander zu denken und zu lernen. Wenn Sie als Führungskraft die persönliche Fähigkeit besitzen, ein gutes Gespräch zu begleiten, ist das eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es jedoch, innerhalb einer Organisation Arbeitsumgebungen und Infrastrukturen zu schaffen, in denen sich die kollektive Intelligenz der Mitarbeiter entfalten kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ganz normale Leute innerhalb einer guten Infrastruktur bessere Ergebnisse erzielen als hervorragende Experten in einem schlecht organisierten System.«

Literatur Abouleish, I. (2004). Die Sekem-Vision. Stuttgart u. Berlin: Mayer. Baldwin, C., Linnea, A. (2010). The Circle Way. A leader in every chair. San Francisco CA: Berrett Koehler. Endenburg, G. (1998). Sociocracy. A social design. Delft: Eburon; siehe auch www.sociocracy.biz und www.soziokratie.org Hock, D. (1999). Die chaordische Organisation. Stuttgart: Klett-Cotta. Owen, H. (2011). Open Space Technology. Stuttgart: Klett-Cotta. Robertson, B. J. (2007). Leading-edge organization: Einführung in Holacracy™. Download unter www. holacracy.org/resources/organization-leading-edge-introducing-holacracy-german Rough, J. (2002). Society’s breakthrough! Releasing essential wisdom and virtue in all people. Blooming, IN: 1st Books Library. Szymanczyk, M. (2007). Infrastrukturen für Kommunikation: Philip Morris, USA. In J. Brown, D. Isaacs, Das World Café. ����������������������������������������������������������������������� Kreative Zukunftsgestaltung in Organisationen und Gesellschaft. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. zur Bonsen, M. (2003). Real time strategic change. Schneller Wandel mit großen Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta. zur Bonsen, M. (2007). Dynamic Facilitation. ZOE – Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 3, 91–95. Download unter www.all-in-one-spirit.de/pdf/DynFac_ZOE.pdf zur Bonsen, M. (2011). Wisdom Council – Rat der Weisen. Download unter www.all-in-one-spirit. de/pdf/Rat_der_Weisen.pdf zur Bonsen, M., Herzog, J. I., Mathys, M. (2010). Leading with life. Lebendigkeit im Unternehmen freisetzen und nutzen. Wiesbaden: Gabler. zur Bonsen, M., Maleh, C. (2001). Appreciative inquiry: Der Weg zu Spitzenleistungen. Weinheim: Beltz.

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Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

Dr. Matthias zur Bonsen, Gründer der Beratergruppe »all in one spirit«. Lebt und arbeitet von Oberursel bei Frankfurt aus. Unterstützt Unternehmen darin, ihr gesamtes Potenzial freizusetzen und auf gemeinsame Ziele auszurichten, so dass ein kraftvoller Spirit entsteht – »all in one spirit«. Er hat ab 1994 wegweisende (im Beirag genannte) Methoden der Klein- und Großgruppenarbeit aus den USA nach Deutschland gebracht und lehrt diese Methoden in offenen Seminaren. www.all-in-one-spirit.de, www.leadingwithlife.com

Myriam Mathys lebt in Zürich und hat selbst während vieler Jahre Führungspositionen bis auf Stufe Vorstand sowie interne und externe Projektleitungsfunktionen wahrgenommen. Sie ist Gründerin der »all dimensions«, einem Beratungsunternehmen, das Führungsverantwortliche und Organisationen mit einem ganzheitlichen Ansatz in Veränderungs- und Entwicklungsprozessen begleitet. Sie hat Publizistik, europäische Ethnologie und Soziologie studiert und einen Executive MBA an der Universität St. Gallen absolviert. Sie hat sich in den im Beitrag genannten Moderationsmethoden weitergebildet und lehrt diese in offenen Seminaren. www.leadingwithlife.com, www.all-dimensions.com

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Max Schupbach

Worldwork – Transformation von Organisationen, Kollektiven, Unternehmen und der Öffentlichkeit 25

Kernpunkte der Worldwork-Theorie Im folgenden Abschnitt sind für diejenigen Leser, die gleich zu den später aufgeführten Fallbeschreibungen gehen möchten, einige Kernpunkte der Theorie und Methodik von Worldwork beschrieben. Wer an ausführlichen Informationen über Begriffe und Konzepte interessiert ist, findet im Abschnitt »Worldwork – Transformation in Organisationen, Kollektiven, Unternehmen und in der Öffentlichkeit« eine gründlichere Einführung. Innerhalb des Worldwork-Paradigmas funktioniert eine Organisation oder Gruppe auf verschiedenen Ebenen, die sich wie parallele Welten verhalten. Eine dieser Ebenen ist die der Alltagsrealität, zusammengesetzt aus die Organisation betreffenden Fakten, Menschen, Strukturen, Zielen, Strategien und zu lösenden Problemen. Auf einer anderen Ebene wird eine Gruppe durch ein organisierendes Prinzip, ein Feld, strukturiert. Das Feld verteilt die verschiedenen Polaritäten oder Positionen innerhalb der Gruppe. Auf einer selbstorganisierenden Ebene sind einige Themen, die als »Probleme« gelten, in Wirklichkeit Versuche des Systems, sich ins Gleichgewicht zu bringen. Einige dieser selbstausgleichenden Tendenzen beziehen sich auf Gegensätze, von denen nur eine Seite direkt sichtbar und die andere eine nichtlokale Präsenz innerhalb einer Gruppe ist. Hören Sie zum Beispiel eine Führungskraft sagen: »Wir sind stark und furchtlos und werden weitermachen, egal was auf uns zukommt«, so können Sie die Polarität innerhalb der Gruppe spüren: Es ist ein Zweifler und Skeptiker, an den diese Worte gerichtet sind, ein imaginärer Gegner, der glaubt, wir seien ohne Hoffnung und wollten nicht weitermachen. Als Facilitator können wir aus diesen Positionen Rollen machen, um sie sichtbarer werden zu lassen und ihnen die Möglichkeit der Interaktion zu geben. Stellen Sie sich vor, die Gruppe folge dem Drehbuch eines unsichtbaren Regisseurs – so etwas wie ein größerer nichtlokalen Gruppengeist –, um ein Theaterstück aufzuführen. Wenn Sie 25 Exzerpt aus: Schupbach, M. (2006). Worldwork – Transformation von Organisationen, Kollektiven, Unternehmen und der Öffentlichkeit. Eine Einführung und drei Fallstudien. Unveröffentlichtes Manuskript.

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versuchen, eine Gruppe zu leiten, spüren Sie möglicherweise so etwas wie eine unsichtbare Hand, die gegen Sie arbeitet. In Wirklichkeit ist es jedoch die selbstorganisierende Tendenz, die in eine andere Richtung zieht. Rollen lassen sich weiterhin in Rollen der Konsensrealität und Geistrollen unterteilen. Rollen der Konsensrealität (auch »KR-Rollen« genannt; manchmal benutze ich den allgemeinen Begriff »Rolle«) sind Positionen, die zum zentralen Glaubenssystem einer Kultur oder Gruppe gehören und daher generell von dieser Gruppe akzeptiert werden. Sie können ausgesprochen werden, ohne eine starke Gruppenreaktion auszulösen. Im Gegensatz dazu sind Geistrollen Verhaltensweisen, die wir nicht aussprechen können, weil sie innerhalb der jeweiligen Organisationskultur nicht als akzeptabel oder rational gelten oder sich außerhalb dessen befinden, was diese als Wirklichkeit betrachtet. Obwohl Geistrollen nicht offensichtlich sind, fühlt jeder ihre Anwesenheit und leidet unter ihnen. Geistrollen finden sich auch in unbeabsichtigter Kommunikation. Rollen der Konsensrealität und Geistrollen führen eine Art Schattentheater miteinander auf. Stellen Sie sich ein Marionettentheater vor, in dem sich zwei Marionetten miteinander unterhalten, und hinter einem erleuchteten Wandschirm sehen Sie die Umrisse einer dritten Marionette. Die beiden Marionetten im Vordergrund sind in ein Gespräch verwickelt, doch hin und wieder wirft die Marionette hinter der Stoffwand einen Satz ein. Die Marionetten im Vordergrund scheinen sich der Anwesenheit der Schattenmarionette nicht bewusst zu sein und glauben, die andere sichtbare Marionette habe die Bemerkung gemacht. In einem Marionettentheater führt dies zu lustigen Missverständnissen – belustigend zwar für die Zuschauer, doch nicht für die Marionetten, denn diese sind tatsächlich verstört! Die Ebene der verstörten Marionetten, die die Schattenmarionette nicht sehen können, entspricht der Ebene der Konsensrealität; die Ebene, die die Schattenmarionette mit einschließt, entspricht der selbstorganisierenden Ebene oder dem, was wir die Traumebene nennen. Das obige Beispiel, bei dem die Zuschauer, jedoch nicht die Marionetten das Stück genießen, trifft übrigens auch auf Gruppenprozesse zu. Viele Interaktionen, in denen Sie in einer Polarität oder Rolle gefangen sind, können sehr schmerzhaft sein. Doch sobald Sie die Struktur, sprich: die Geistrolle, hinter der Verwirrung, verstehen, könnte das sogar ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern. Wir alle sind uns dieser Mechanismen bewusst. Wenn wir darüber sprechen, was wirklich in einer Gruppe vorgeht, im Gegensatz zu dem, was an der Oberfläche gesprochen wird, befinden wir uns im Bereich von Rollen und Geistrollen. Die Rollen sprechen die angemessenen Sätze, benutzen den angemessenen Kommunikationsstil und haben die angemessenen Ansichten, was immer das auch in der jeweiligen Organisation sein mag, doch hören wir das Flüstern der Geistrollen in den Anspielungen, zwischen den Zeilen, dem Klatsch und dem Ausbleiben von Reaktionen auf einiges, was gesagt wird. Ein Grund, warum Gruppen oft vermeiden, unbeabsichtigte Botschaften offen auszusprechen oder den Geistrollen Stimmen zu geben, besteht in der Angst, die daraus entstehenden Konflikte könnten unlösbar sein. Auf der Ebene der Konsensrealität leuchtet

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Max Schupbach: Worldwork

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das ein, denn dort sind wir es gewöhnt, dass unsere Konflikte sich nicht auflösen und dass Beziehungen dauerhaften Schaden nehmen können, weil jemand »die Wahrheit« gesagt hat. Aus der Worldwork-Perspektive betrachtet, ergibt es jedoch noch aus einem anderen Grund einen Sinn. Rollen und Geistrollen sind nichtlokal in dem Sinne, dass sie zu jedermann gehören. Daher bedeutet das Prozessieren von Geistrollen, zu begreifen, dass man selbst genauso ist wie die Person, Rolle oder Gruppe, von der man angenommen hatte, sie sei für alle Schwierigkeiten verantwortlich. Das ist auch der Grund, warum eine unpopuläre Rolle oft von jemand anderem ganz oder in einigen ihrer Aspekte aufgegriffen wird, wenn die Person, die diese Rolle zuvor verkörperte, die Organisation verlässt. Obwohl Geistrollen sehr leicht auf andere Gruppen projiziert werden können, sind sie auch in der eigenen Gruppe vorhanden, wo sie ein Dasein am Rande fristen. In der Fallbeschreibung können Sie sehen, wie die beiden beschriebenen Untergruppen ein bestimmtes Verhalten ihrer eigenen Gruppe auf eine andere projizieren. Aufgrund dieser Mechanismen bedarf es häufig einer emotionalen oder geladenen Interaktion, um ganz zu verstehen, auf welche Weise diese Rollen in der eigenen Gruppe vorhanden sind. Der Prozess, in dessen Verlauf man Gewahrsein über das eigene Wesen erlangt, kann nicht einfach nur auf einer rationalen und linearen Ebene stattfinden, denn gerade diese Ebene enthält ja oftmals die Glaubenssysteme, welche genau das Thema marginalisieren, für das die betreffende Gruppe sensibler werden muss. Aufgrund dieser Spiegelungsprozesse besteht die einzige Lösung in diesem Sinne in einer erhöhten Wahrnehmung der Art und Weise, in der wir genau wie unser Gegenüber sind, in der wir selbst an den Dingen Anteil haben und zu ihnen beitragen, die uns am meisten aufregen. Kein Wunder, dass wir vor direkten Konfrontationen zurückschrecken. Der Prozess, durch den dieses Gewahrsein erreicht wird, kann hochemotional sein. Oft zwingt er uns, durch eine Zeit der Eskalation und Konfrontation zu gehen. Wenn wir dies tun und dabei gleichzeitig unserer vollständigen Erfahrung mit bewusster Aufmerksamkeit Schritt für Schritt folgen können, werden wir schließlich in der Lage sein, nachzuvollziehen, dass diese Rollen innerhalb des gesamten Systems präsent sind. Die vollständige Information bzw. das in den Rollen enthaltene Wissen tritt jetzt offen zutage und kann von der ganzen Gruppe kreativ genutzt werden. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Störungen oder Probleme Potenziale, die geradezu danach schreien, genutzt zu werden! Es ist die Aufgabe des Facilitators, ein sicheres Gefäß für die Teilnehmer zu schaffen und dafür zu sorgen, dass am Ende des Gruppenprozesses die Konflikte gelöst sind und dass alle Beteiligten neue Dimensionen der vorgetragenen Probleme verstanden haben. Teilnehmer und Klienten haben nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, skeptisch und besorgt um die Ergebnisse zu sein. Es gehört zur Arbeit der Facilitatorin, diese Ängste zu bemerken, sich darauf zu beziehen und dafür zu sorgen, dass alle geschützt sind. Tragfähige Facilitation beruht darauf, die grundlegenden selbstfacilitierenden Tendenzen des Kollektivs zu entdecken und zu unterstützen. Rollen, die tatsächlich den gesamten Prozess facilitieren, sind in allen Gruppen vorhanden; jedoch werden diese Rollen nicht immer erkannt oder von der Gruppe selbst ausgedrückt. Ein Beispiel

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Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

für eine solche Rolle ist der oder die Älteste. Ältestenschaft beruht auf einer Haltung warmherziger Losgelöstheit, die das Leben und die Menschen als ein sich ständig entwickelndes und entfaltendes Mysterium begreift und daher jede Person und Tendenz respektiert und unterstützt, aber dennoch auf eine nicht beleidigende Weise Grenzen setzen kann. Sie wurzelt in den Überzeugungen des oder der Ältesten über den Sinn des Lebens und die Rolle, die der Geist (Spirit) und die Natur spielen. Diese Überzeugungen müssen nicht unbedingt offensichtlich sein, sondern werden oft einfach nur im Herzen der Person gefühlt. Der oder die Älteste bleibt in den eigenen Glaubensvorstellungen über die Grundwerte zentriert, die das Zusammenleben auf diesem Planeten ermöglichen. Diese Glaubensvorstellungen werden anderen jedoch nicht aufgezwungen, sondern auf eine Weise vorgelebt, die andere zur Nachfolge inspirieren. Ältestenschaft ist keine Frage des Alters und wird genauso oft von normalen Menschen verkörpert wie von Führungspersonen und Facilitatoren.

Worldwork – Transformation von Organisationen, Kollektiven, Unternehmen und in der Öffentlichkeit Bewusstheit und soziales Feld

Worldwork – Weltarbeit – ist ein neues Paradigma, das es ermöglicht, im gesamten Spektrum von Organisationen und im öffentlichen Leben mit Wandel zu arbeiten. Die prozessorientierte Sichtweise von Worldwork führt neue, universell anwendbare Kriterien ein, um Veränderungen und Strömungen in Organisationen und der Gesellschaft insgesamt zu beschreiben und mit ihnen zu arbeiten. Sie betrachtet jeden Menschen gleichzeitig als Beobachter, Mitwirkenden, Moderator, Folgenden und Führenden, obwohl wir zeitweise nur mit einer oder einigen dieser Rollen identifiziert sind. Worldwork ermöglicht die Analyse und Moderation von Gruppen in unterschiedlichsten Größenordnungen und Zusammensetzungen, von globalen Prozessen bis zu lokalen Ereignissen, im öffentlichen Raum ebenso wie in verschiedenen Organisationsformen wie zum Beispiel Firmen, gemeinnützigen Organisationen, Regierungsorganen oder Glaubensgemeinschaften. In dieser Darstellung möchten wir zeigen, dass Diversität, tiefe Demokratie, Systemtheorie, Quantendenken und Bewusstseinsforschung untrennbar miteinander verbunden sind und zusammen ein neues Paradigma bilden – ein Paradigma, das nicht nur rational und wissenschaftlich, sondern auch nichtlinear und poetisch ist. Es umfasst exakte wissenschaftliche Theorie ebenso wie das pulsierende Herz von Gemeinschaften und ist geprägt von einer Haltung tiefen Respekts für die unterschiedlichen Selbstverwirklichungsprozesse der einzelnen Gruppenmitglieder ebenso wie für die unverzichtbaren Notwendigkeiten eines positiven Saldos in Organisationen. Genau diese Kombination gestattet es, die kreativen, überraschenden und oft heftigen Entstehungs- und Wachstumsprozesse von Organisationen zu unterstützen. Daraus entsteht eine von allen gemeinsam erschaffene Weltsymphonie, deren Rhythmus von einem unsichtbaren Dirigenten vorgegeben wird.

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Max Schupbach: Worldwork

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Messbare und nicht messbare Aspekte der Realität

In Worldwork, dem Modell, das von Arnold und Amy Mindell (1999) mit Hilfe ihres Teams entwickelt wurde, sind messbare und nicht messbare Aspekte der Realität gleichermaßen wichtig. Die beiden Teilrealitäten zusammen ermöglichen ein umfassenderes und vollständigeres Bild einer Organisation. Dieses scheinbar einfache Konzept kann in der Praxis auf ein weites Feld vielfältigster Situationen angewendet werden. Die messbaren und nicht messbaren Kategorien sind vergleichbar mit sichtbar und unsichtbar oder greifbar und nicht greifbar. So sind zum Beispiel bei der Arbeit an Diversitätsthemen messbare Komponenten wie Geschlecht, Rasse, Alter, Klasse, sexuelle Orientierung usw. genauso wichtig wie die nicht messbaren Diversitätsfaktoren wie zum Beispiel Ideen, Hoffnungen, Talente, Träume, Gefühle und andere Begabungen. Ebenso ist Macht, die auf einer bestimmten sozialen Position innerhalb einer Hierarchie oder auf dem jeweiligen sozioökonomischen Rang beruht, oft messbar, wogegen solche Machtaspekte wie zum Beispiel Ältestenweisheit, moralische Überzeugung oder »street power« weniger messbar, jedoch für die Bewertung der Machtverhältnisse genauso bedeutsam sind. Auf einem anderen Gebiet, zum Beispiel im Bereich von Unternehmen, kann die Gleichwertigkeit von messbaren und nicht messbaren Aspekten bedeuten, dass die Sachinformationen der Wertekette und die zahlenmäßig erfassbaren Aspekte des Kostenmanagements sich nicht von den unter den Mitarbeitern bzw. Abteilungen der jeweiligen Organisation vorhandenen Hoffnungen, Ängsten, Haltungen und Konflikten trennen lassen und dass all diese Facetten gemeinsam als eine unteilbare Realität betrachtet werden können. Wenn man einzelnen Teilen des Ganzen Vorrang vor anderen einräumt, entstehen unweigerlich Problembereiche, die von den an den Rand gedrängten Aspekten ausgehen. In diesem Zusammenhang erscheinen Tiefe Demokratie und Diversität als Prinzipien, die weit über soziale Gerechtigkeit, Political Correctness oder zahlenmäßige Gleichstellung – wie etwa die anteilmäßig gleiche Vertretung von Männern und Frauen in einem Ausschuss – hinausgehen. Wir ermutigen eher dazu, jeden einzelnen Menschen sowie alle organisatorischen Trends, Erfahrungen und Bewusstseinszustände zu respektieren. Wir halten dies für unerlässlich, um im jeweiligen System die notwendigen Informationen zu finden und zu nutzen. In diesem Sinne verbindet das Worldwork-Paradigma Natur- und Geisteswissenschaften, indem es einen Rahmen einführt, der beides beinhaltet und fördert. Im Zentrum des philosophischen Rahmens von Worldwork stehen Gewahrsein und die Erforschung von Bewusstsein. Von diesem Kern ausgehend verbindet Worldwork drei Hauptgebiete auf neue Weise: –– Es stellt eine Verbindung zu den Entdeckungen von Quantenmechanik, Chaostheorie und Netzwerktheorie her. –– Es integriert und nutzt postmoderne Konzepte aus der Soziologie, Politologie, Psychologie und Anthropologie.

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Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

–– Es umfasst die Weisheit und viele der Konzepte indigener und schamanischer Kulturen sowie deren Auffassung von der Bedeutsamkeit von Gemeinschaftsleben und Beziehungen. Die Theorie von Worldwork zeigt, wie die Erforschung von Bewusstsein diese verschiedenen Ansätze vereint. Worldwork als ein Pfad der Inspiration und persönlichen Entwicklung

Die Entscheidung eines Menschen, zu führen, zu moderieren und aktiv in einer Organisation oder einem Kollektiv mitzuwirken, beruht auf einer tiefen Inspiration. Der innere Ruf, der die Entscheidung auslöst, im Außen auf diesem Gebiet tätig zu werden, organisiert und unterstützt den Pfad der Lernerfahrung und die Richtung der persönlichen Entwicklung eines Menschen. Aus unserer Sicht lernen wir hauptsächlich dadurch, dass wir uns mit diesem inneren Prozess verbinden und entdecken, wie der eigene persönliche Mythos mit der Welt als Ganzem und mit einer bestimmten Organisation zusammenwirkt. Lehren ist die Unterstützung der Verbindung zwischen dem oder der Lernenden und seinem bzw. ihrem Weg. Dieser Pfad der Inspiration verbindet das Paradigma, die Methodik und die Persönlichkeit der Moderatorin/Leitenden/Ältesten zu einem nahtlosen Ganzen und ist die Quelle der Haltungen und Empfindungen, die jeder von uns in seine Arbeit einfließen lässt. Indem wir bewusstes Gewahrsein ins Zentrum unserer Beobachtungen und Forschungen sowie unseres zwischenmenschlichen Austauschs stellen, lernen wir, an die uns tatsächlich innewohnenden Möglichkeiten zu glauben, und können auf natürliche Weise die Authentizität und emotionale Intelligenz entwickeln, welche Methodik und Perspektive zu einer gelebten und gefühlten menschlichen Erfahrung verbinden. Unsere ureigenste Art zu arbeiten, zu unterstützen und zu leiten, ist nicht zu trennen von unseren tiefsten persönlichen Werten, mit denen wir dem Leben, der Gemeinschaft, unserer Rolle darin und der Welt als Ganzem begegnen. Die Geschichte der Entwicklung von Worldwork

Worldwork ist ein Tochterparadigma der Prozessarbeit. In beiden Paradigmen spielt das Gewahrsein oder die Bewusstheit (Awareness) darüber, welchen Wert wir den messbaren und nicht messbaren Aspekten der Realität geben, die zentrale Rolle. Prozessarbeit wurde von Arnold und Amy Mindell und ihren Kollegen entwickelt und hat sich in den letzten dreißig Jahren zu einem umfassenden Paradigma erweitert, das die Pionierarbeit in der Bewusstseinsforschung in das moderne Denken einführt, indem es der Physik, der Mathematik, der Medizin, der Psychologie und der Erforschung des Kollektivverhaltens neue Impulse gibt. Prozessarbeit ist zwar hauptsächlich als umfassendes psychotherapeutisches Modell für persönliche Entwicklung bekannt, kommt jedoch in einer Vielzahl unterschiedlichster Anwendungsbereiche zum Einsatz, so zum Beispiel in der Arbeit mit Körper-

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symptomen und komatösen Zuständen ebenso wie im Theater, beim Film und bei künstlerischen Performances. Worldwork hat sich vor ungefähr 15 Jahren aus dem Prozessarbeitsmodell entwickelt und ist seitdem von Arnold und Amy Mindell und dem Worldwork-Team erforscht, beschrieben, angewendet, getestet und entwickelt worden. Sowohl Prozessarbeit als auch Worldwork sind in der Entstehung begriffene Paradigmen, die ständig diskutiert werden und sich fortlaufend verändern (vgl. Mindell, 1992, 1997).

Wer ist der Schuldige? – Organisationsentwicklung in einem Gefängnis Einführung: Quantenverknüpfung – Organisationen als Hologramme

Die von der Quantentheorie geprägte Worldwork-Perspektive geht von der Existenz eines feldähnlichen, organisierenden Prinzips aus, das Organisationen strukturierend beeinflusst. Vergleichbar mit einem Magnetfeld, bei dem der Magnet nicht in direkten Kontakt mit den Eisenspänen kommt, kann es die Wirkung eines Feldes ausrichten. Diese Wirkung ist auf allen Ebenen der betreffenden Organisation spürbar, obwohl es häufig keine direkte kausale Verbindung zu irgendeiner Quelle zu geben scheint, die sie hervorrufen könnte. Auf jeder Ebene der Organisation oder auch in einer bestimmten Abteilung, Unter- oder Führungsgruppe können wir bestimmte lokale Ausformungen beobachten. Die Anstrengungen vieler Organisationen im Change Management könnten besser greifen, wenn dieser Hologrammeffekt bekannt wäre, in dem die Probleme einer bestimmten Abteilung oder Sektion einen Prozess spiegeln, der die gesamte Organisation betrifft. Dieselben Themen können auch oft in der Gesamtgesellschaft beobachtet werden. Manchmal hat die Gesellschaft noch keine Lösung für das Thema gefunden, an dem eine Organisation arbeitet. Dann wird die Organisation, indem sie einen neuen Weg bahnt, dem wir alle folgen können, zu einem Werkzeug kultureller Wandlung. Wenn eine Organisation diesen Aspekt ihrer Entwicklung kennengelernt hat, kann sie eigene Strategien entwickeln, um auf dieser Ebene effektiver zu werden. Dies wiederum wird einen produktiven Einfluss darauf haben, wie sie ihre Neuerungen auf den Markt bringt und wie gut sie ihre inneren Konflikte versteht. Unter den vielen Organisationen, in denen wir Wandlung facilitiert haben, befinden sich auch Vollzugs- und Gefängnissysteme. Wir haben in Strafanstalten in den USA, in Japan, Australien und einigen europäischen Ländern geforscht und gearbeitet. Der folgende Abschnitt vermittelt ein kurzes Schlaglicht auf diese Hologrammdynamik in unserer Arbeit innerhalb einer solchen Strafanstalt. Er demonstriert, wie der Prozess, mit innerem Wandel zu arbeiten, nicht nur neue und verbesserte Praktiken innerhalb des Gefängnisses hervorbringt, sondern auch die Grundlage für eine mögliche Werbekampagne zur Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins enthält. Darüber hinaus kann es zu besseren Strategien für den Umgang mit Geldgebern und den das Strafsystem kontrollierenden politischen Körperschaften führen.

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Eskalation und Deeskalation: Facilitatoren als Teilnehmende, Führende und Gefolgsleute

Ein weiterer wichtiger Aspekt jeder Facilitation ist die Entfaltung des Eskalations- und Deeskalationsprozesses. Jede Eskalation beruht auf dem Prozess einer Person oder einer Gruppe, die sich bedroht, nicht gehört oder nicht respektiert fühlt. Wenn wir es mit einem offenen Konflikt zu tun haben, brauchen wir daher Facilitierungsmethoden, die es uns erlauben, den Konflikt auf eine Weise zu eskalieren, die die Person oder Gruppe unterstützt und Selbstrespekt und Würde ermöglicht, während gleichzeitig Grenzen geschaffen werden, die eine weitere Eskalation des Konflikts verhindern. Worldwork betrachtet Eskalationen selbst als nützlich, da sie die Kraft und den Schwung enthalten, die es schließlich beiden Parteien gestatten werden, einander als Gleichgestellte zu begegnen und ihre Unterschiedlichkeit auf neue und kreative Weise zu nutzen. Wie wir den Eskalationsprozess zwischen zwei oder mehr Seiten verstehen und unterstützen, wenn wir uns in der Facilitator-Rolle befinden, ist bei jeder Facilitation ein entscheidendes Element. Das betrifft auch die Art, wie wir mit Eskalation arbeiten, wenn wir selbst persönlich angesprochen werden. Verschiedene Organisationskulturen haben häufig ihre eigenen Absprachen und Grundregeln für den Umgang mit eskalierenden Prozessen entwickelt. Diese Programme funktionieren für gewöhnlich bis zu einem gewissen Punkt, zum Beispiel dann, wenn das Brechen der Grundregeln zum Verlust des Arbeitsplatzes führen oder andere Konsequenzen nach sich ziehen kann. Worldwork wurde mit dem Gedanken an kriegführende Parteien entwickelt, für eine Situation also, in der die Grundregeln nicht befolgt werden und wo es keine Mittel gibt, deren Einhaltung durchzusetzen. Dies hat sich als großer Vorzug erwiesen, da wir herausgefunden haben, dass die Grundregeln nur so lange respektiert werden, wie ein Gleichgewicht der Kräfte besteht. So sind sich die Militärexperten wohl bewusst, dass die Genfer Konvention an dem Punkt eher nicht befolgt wird – nicht einmal von Gruppen mit einem ethischen Standpunkt –, an dem eine Partei das Gefühl hat, um ihr Überleben kämpfen zu müssen. Dies haben wir auch in Organisationen auf allen Ebenen bestätigt gefunden, wie in der folgenden Fallbeschreibung demonstriert wird. Hintergrund

Die Organisation, die wir hier vorstellen, ist ein Gefängnis, wo wir einige Tage lang arbeiten sollten. Unser Programm, das wir mit der verantwortlichen Person für Change Management entwickelt hatten, sah vor, eine Gruppe von Insassen des Hochsicherheitstrakts zu facilitieren und danach mit einer Gruppe der Belegschaft zu arbeiten, die sich aus Wachpersonal, medizinischem Pflegepersonal, Verwaltungspersonal und Beratenden zusammensetzte. Schließlich trafen wir uns mit einigen Mitgliedern der Leitungsebene. Unser Ansatz für Change Management im Gefängnis beschränkte sich nicht darauf, nur mit der Belegschaft zu arbeiten. Wir entwickelten auch einen prozessorientierten Beratungsansatz für die Insassen und ein prozessorientiertes CoachingModell für das Wachpersonal. Als Teil dieser Vorgehensweise versuchten wir, den

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Hologrammeffekt für alle Beteiligten sichtbar zu machen, um sowohl zu erreichen, dass die Gruppe einige ihrer Konflikte versteht, als auch den Zugang zu einer Parallelwelt zu eröffnen, in der jeder/jede die wichtige Rolle erkennt, die er oder sie für die Gesellschaft als Ganzes spielt. Dies half allen, gemeinsam für einen Wandel zu arbeiten, während sie gleichzeitig in einer Welt der festen Grenzen und Regeln blieben, die von einer Seite durchgesetzt werden. Das Folgende ist eine Zusammenfassung eines dieser Tage. Die Eröffnungssituation – Ein Fallbericht im Originalton

Die erste Gruppe, mit der wir arbeiteten, war eine Mischung aus Insassen, einigen Vollzugsangestellten und uns, den drei Facilitatoren. Als wir begannen, forderte mich einer der Insassen als den führenden Facilitator sofort heraus. Sein grundlegender Standpunkt: »Ich weiß, dass sie euch Typen aus den USA eingeflogen haben, weil sie (die Gefängnisleitung) Angst vor einem Gefangenenaufstand haben und weil es uns allen so stinkt, was hier drin passiert. Jetzt sollst du das verhindern, stimmt’s? Das wird nicht funktionieren, Kumpel!!« Instinktiv versuche ich zu deeskalieren und antworte wahrheitsgemäß, dass das nicht der Fall war und dass wir im Vorfeld von keiner Unruhe erfahren hätten. Insasse: »Na klar«, antwortet er, »entweder haben sie euch nicht erlaubt, uns das zu sagen, oder du wärst zu feige, es zuzugeben, wenn du es dürftest.« Analyse: Dies ist eine direkte Konfrontation und Eskalation, die jetzt nicht mehr vermieden werden kann, da mein Deeskalationsangebot nicht akzeptiert wurde. Ich muss zugeben, dass es ein wenig beängstigend war. Die Gefängniswelt unterstützt Interaktionen, wo man aus einer Position der Stärke und nicht der Schwäche heraus verhandelt. Dafür gibt es viele Gründe. Einer, der oft übersehen wird, ist der Verlust von Selbstachtung und Würde, der mit der Inhaftierung einhergeht und eine Subkultur oder Welt schafft, die teilweise brutalen Kampf zum Wiedererlangen von Selbstachtung und Würde billigt. Hinter dem Tyrannen, der jeden überrennt und kein Mitgefühl für die andere Seite zeigt, kann sich eine Geistrolle verbergen, die wir folgendermaßen beschreiben können: »Ich bin im Gefängnis und ich bin eingesperrt. Ich kann nicht handeln oder meinen Tag so planen, wie ich es will, trotzdem habe ich noch meine Selbstachtung und meine Kraft. Lieber riskiere ich etwas und zahle den Preis dafür, als diesen Glauben an mich selbst aufzugeben.« Auf der anderen Ebene spielen die Insassen und das Wachpersonal das Drama von Instinkt und Zähmung, von Macht und Begrenzung. Intervention: Dem Insassen muss in beiden Welten begegnet werden. Ich antworte: »Du bist furchteinflößend. Du musst es gewohnt sein, jeden hier herauszufordern und zu tyrannisieren und damit durchzukommen. Ich mache da nicht mit. Ich bewundere die Stärke und den Stolz, die ich hinter deinen Worten spüre – es ist unglaublich, das in dieser Umgebung zu erleben und zu sehen, wie frei dein Geist sich inmitten all dieser Schwierigkeiten aufschwingt –, aber es passt mir nicht, wie sich das als Angriff auf mich äußert. Ich bestehe darauf, dass wir uns als Gleiche begegnen, die einander respektieren, unabhängig davon, was du tust, weil ich weiß, dass dir das auch wichtig

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ist. Warum sonst würdest du so viel Stärke zeigen?« Einen langen Augenblick starren wir einander in die Augen. Dann breitet sich ein Grinsen über sein Gesicht und er sagt: »Du bist in Ordnung.« Alle atmen erleichtert aus! Analyse und Kommentar: Eine Deutung dieser Interaktion war, dass sowohl die Glaubwürdigkeit des Facilitators als auch der Respekt für den Insassen gleichermaßen ihren Platz fanden, so dass niemand zurückweichen musste. Es fühlte sich an wie ein Einweihungsritual und ein Test dafür, wie authentisch eine Beziehung innerhalb dieser speziellen Situation sein kann. Die Authentizität der Gefühle des Facilitators stand dabei im Mittelpunkt, wie das Zugeben der Angst oder der Möglichkeit, Fehler zu machen. Diese Ehrlichkeit und Direktheit unterstützen das Erreichen einer tragfähigen Lösung. In unserer Analyse ist der »Gefängnisaufstand« die Geistrolle. Die Eskalation, die gerade stattgefunden hat, kann als »der Gefängnisaufstand« gesehen werden, und da er auf einer persönlichen Ebene gelöst wurde, ist die Lösung auf Gruppenebene nun auch eher möglich geworden. Anfangsintervention: Herausbringen der Geistrolle des Aufständischen und desjenigen, gegen den der Aufstand sich richtet. Schlüsselfragen sind hier unter anderem: Wofür wollt ihr einen Aufstand machen? Was ist zu viel geworden? Es folgt eine Zusammenfassung des Verlaufs dieser Interaktion. Facilitator: »Wir möchten gern genau wissen, warum ein Gefängnisaufstand erwähnt wurde. Wer kann das am besten erklären?« Insassen (bestimmt): »Die Wärter hassen uns, sie machen uns das Leben so schwer wie möglich. Sie halten uns für den Abschaum der Menschheit und scheißen auf uns, wann immer sie können.« Einige Wärter protestieren: »Das stimmt nicht; wir befolgen nur Anweisungen. Wir wissen, dass es hier drin schwierig ist, aber wir respektieren euch als Menschen und möchten euch in eurem Rehabilitationsprozess unterstützen.« Insasse: »Nein, wollt ihr nicht. Gestern wollte ich zum Beispiel meine Familie anrufen, um meiner Tochter zum Geburtstag zu gratulieren, und ihr habt mich nicht gelassen. Wie soll das bei meiner Rehabilitation helfen?« Wache: »Du willst ständig anrufen, aber du weißt, dass du nur eine bestimmte Anzahl Anrufe machen kannst. Du musst besser planen.« Analyse: Die Geistrolle des Wärters, die die Gefangenen hasst und glaubt, dass sie »Abschaum« sind, schwebt immer noch im Feld. Sie kreist jetzt. Jeder Vorwurf von Seiten der Gefangenen soll zeigen, dass die Wachen sie hassen und sie schikanieren wollen. Jede Antwort darauf soll zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Es gibt viele Arten, diesen Prozess zu betrachten. Eine davon ist die Vorstellung, dass die Gefängnisinsassen als diejenigen mit weniger Status sich gegen diejenigen wehren, die mehr Status haben, und dass die selbstreflektierende Tendenz des Systems versucht, mehr Gewahrsein für die Statussituation zu schaffen, damit sie besser genutzt werden kann. Das war damals unsere Arbeitshypothese, und wir begannen die Statusposition zu entfalten, indem wir den Wärtern halfen, ihren Status zu zeigen.

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Intervention: »Wer auf der Seite der Wärter kann ein wenig und manchmal zugeben, dass der ursprüngliche Vorwurf zutrifft und dass es viele Arten gibt, wie er seine Macht einsetzen kann?« Nach einer langen Reise und der Überwindung vieler Grenzen gibt ein Wärter zu, dass der Vorwurf berechtigt ist. Dieser erstaunlich mutige Mann, der zuvor mehrfach über sein Mitgefühl für alle gesprochen hatte, gab zu, ein Teil der Geistrolle zu sein. Wärter: »Ja, oft finde ich es hier schrecklich, und an manchen Tagen verachte ich euch. An solchen Tagen betrachte ich euch tatsächlich als Abschaum. Ich will dann in meinem Büro sitzen und so wenig wie möglich mit euch zu tun haben. Wenn ich hier hereinkomme, kann ich es kaum erwarten, in meine kleine Kabine zu kommen und den Fernseher anzustellen, so dass ich keinen Kontakt mit euch aufnehmen muss.« Darauf folgt Schweigen und eine Veränderung in der Atmosphäre und unserem Gefühl nach auch eine Art Entspannung. Dann reagiert ein Insasse. Ruhig sagt er: Insasse: »Wenigstens bist du ehrlich. Seht ihr«, sagt er zu den anderen Gefangenen, »ich hab’s euch ja gesagt.« Andere nicken, und ein Gefangener fügt hinzu, er habe es schon die ganze Zeit gewusst. Die Stimmen sind jetzt nicht mehr so laut wie vorher. Das ist ein Zeichen der Deeskalation, das eine Facilitatorin aufgreift. Analyse: Wieder und wieder erstaunt es uns, wie das Zugeben einer Geistrolle tatsächlich einen deeskalierenden Effekt auf die Situation hat. Besonders hier, wo man instinktiv einen Aufstand erwarten würde, ließ die Anspannung in der Atmosphäre tatsächlich eher nach. Sich wandelnde Atmosphären zu entfalten, ist ein zentraler Teil unseres Facilitations-Modells. Eine Facilitatorin rahmt die gewandelte Atmosphäre und bittet um eine Erklärung für das, was vorgefallen ist. Facilitatorin: »Das scheint euch zu erleichtern«, sagt sie. »Könnt ihr mir sagen, warum?« Insasse: »Endlich hat mal jemand den Mut, mir das ins Gesicht zu sagen. Dieser Mann hat von heute an meinen Respekt. Hätten wir mehr Leute wie ihn hier drinnen, wäre dieser Ort nicht so eine Katastrophe. Es steht uns einfach bis hier, dass nie jemand irgendwas zugibt und alle immer so tun, als würden sie alles richtig machen. Es macht einen krank, wenn man den ganzen Tag wie Dreck behandelt wird, und es macht einen noch kränker, wenn sie es einem nie direkt ins Gesicht sagen, sondern einem bloß ständig ausweichen.« Einer der Wärter nickt unwillkürlich. Analyse: Ebenso wie in den anderen Fallbeispielen kann man hier sehen, wie ein organischer Rollenwechsel stattfindet, wenn ein Mitglied der gegnerischen Gruppe zustimmt. Bitte lesen Sie im theoretischen Abschnitt mehr darüber, wie der Quantenstandpunkt von Worldwork diese Rolleninvarianz als Teil einer innewohnenden Tendenz von Organisationen zur Selbstreflexion versteht. In dieser Situation können wir nun dem Rollenwechsel folgen und ihn weiter entfalten. Facilitator wendet sich an den Wärter, der genickt hat: »Du kennst das?«

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Wärter: »Ja, manchmal bin ich in einer ähnlichen Position, denn viele Menschen wenden sich von mir ab, wenn ich sage, dass ich im Gefängnis arbeite. Viele meiner Nachbarn gehen mir aus dem Weg. Wenn ich mich mit jemandem anfreunde, sagen mir die Leute manchmal ganz überrascht, sie hätten gar nicht gedacht, dass ein Gefängniswärter ein netter Mensch sein kann. Sogar die Gefangenen sagen, dass man schon ganz schön blöd sein muss, wenn man nicht woanders einen Job bekommen kann. Sie verachten uns, weil wir hier arbeiten.« Ein paar Gefangene nicken. Analyse: Die Geistrolle, als Abschaum gesehen zu werden, ist jetzt ausgefüllt, da beide Seiten nun dazugehören. Es wird ihnen bewusst, dass sie es wechselseitig miteinander machen, gleichzeitig aber auch vom Mainstream so gesehen werden. Dieser Internalisierungsprozess ist aus der Randgruppenforschung gut bekannt. Die Randgruppen internalisieren die Sichtweise des Mainstreams. Unwillkürlich wechseln sie die Rollen, indem sie sich selbst und einander auf ähnliche Weise wahrnehmen, wie sie glauben, vom Mainstream gesehen zu werden. Eine neue Geistrolle ist jetzt aufgetaucht: die des Mainstream-Zuschauers, der nichts mit Gefängnissen zu tun haben will und auf die Welt des Verbrechens, der Inhaftierung und des Strafvollzugs herabsieht. Hier kann man Rollenwechsel und Quantenverknüpfung sehen. Zuerst betrachtet der Wärter den Gefangenen als Abschaum, dann betrachtet der Gefangene den Wärter als Abschaum und jetzt betrachtet der Mainstream-Zuschauer das ganze System als Abschaum. Die Wachen, die Gefangenen und die Mainstream-Zuschauer verhalten sich wie miteinander verwobene Quantenobjekte, so dass sich ein Signal nicht mehr nur einer einzigen Gruppe zuordnen lässt. Alle Signale gehören zu allen Gruppen. Die Facilitatoren beginnen die Rollen zu spielen und nach einer Weile machen die Wärter und Insassen mit. Hier ist die Zusammenfassung dessen, was die Rolle sagte. Der Mainstream-Zuschauer (als Rolle gemeinsam gespielt von den Wärtern und Insassen, so wie sie die Rolle wahrnehmen): »Ich finde, Kriminelle sind Dreck, Gefängnisse sind Dreck, und ich will mich nicht damit befassen. Polizisten und Gefängniswärter sind brutal und genießen es, andere Menschen zu schikanieren und einzusperren. Es ist eine Welt von Perversen, ganz gleich, welche Seite man betrachtet. Ich will nichts damit zu tun haben. Ich will sie nicht sehen, nichts darüber lesen und nicht dafür bezahlen. Es ist wie eine Müllkippe. Haltet sie fern von mir.« Diejenigen, die für die Wachen und die Insassen sprechen, antworten dem Mainstream-Zuschauer: Insassen und Wachen (in einem Rollenspiel, das der Zuschauerrolle antwortet): »Du bist auch ein Verbrecher. Du mogelst hier ein bisschen, lügst da ein bisschen, du nimmst legale Drogen und wahrscheinlich auch noch einige illegale. Du bringst deine Freunde um, wenn es deine Karriere fördert, du betrügst deine Kinder, wenn dir das einen Vorteil bringt. Du bist nicht wirklich besser als wir, du hast nur mehr Glück oder bist einfach gerissener.« Analyse: Die Randgruppe entdeckt sich selbst in den flackernden Signalen dessen,

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der sie ausgrenzt. Der Zuschauer ist ebenfalls ein Verbrecher, indem er gesellschaftliche Themen ignoriert, seine Gewalt nicht prozessiert und vorgibt, nicht Teil des Systems zu sein. Die Gefängnisgemeinschaft, einschließlich der »Täter« und der Wärter, ist eine Geistrolle für die Gesellschaft, die sich nicht mit ihrer eigenen Aggression auseinandersetzt. Insassen und Wärter agieren sozusagen unser inneres und gesellschaftliches Drama vor unseren Augen aus und sorgen so dafür, dass wir selbst gesetzestreue Bürger und Bürgerinnen bleiben können. Von der anderen Seite, aus der Zuschauerrolle, kommt eine Antwort: Rolle des Mainstream-Zuschauers (ausgeführt von den Gefangenen und Wärtern): »Was ihr sagt, stimmt. Doch ist Verachtung nicht das Einzige, was ich für euch empfinde. Manchmal sehe ich einen Gefangenen und beneide ihn um seinen Mut, dass er es gewagt hat, die Regeln der Gesellschaft zu verlassen und seinen eigenen Regeln zu folgen. In diesen Augenblicken wirkt ihr für mich frei und ich fühle mich wie ein Gefangener.« Eine erstaunliche Stille breitet sich aus, dann sagt ein Gefangener mit Tränen in den Augen: »Danke!! Und ich habe euch um euren Mut beneidet, euren Impulsen zu widerstehen, so dass ihr ein Leben führen könnt, in dem ihr eure Familien unterstützen, Beziehungen haben und in der Natur spazieren gehen könnt. Das alles vermisse ich hier drinnen.« Eine Pause tritt ein. Alle sind still, viele wirken berührt und traurig. Einer der Facilitatoren fragt, ob jemand etwas zur Atmosphäre sagen kann. Ein weiterer Insasse sagt, es sei gut, zu wissen – selbst wenn es nur für einen kurzen Moment sei –, dass wir, ganz gleich, wie weit wir auch voneinander entfernt sein mögen, darunter doch irgendwie miteinander verbunden und einander gleich sind. Einige Wärter nicken. Dann sagt ein Insasse mit einem breiten Grinsen: »He, das ist klasse, was ihr da macht, wo können wir das lernen?« In einer weiteren gemeinsamen Diskussion wurde uns gesagt, das größte Problem dieser Gruppe bestehe in Langeweile und vielen sei klar geworden, wie sehr sie etwas lernen wollten. Wir verbrachten dann die restlichen Sitzungen damit, der Gruppe Konflikt-Facilitations- und Peer-Coaching-Techniken zu vermitteln. Das waren die Gebiete, auf denen wir Expertenwissen hatten. Wir hätten ihnen auch alles mögliche andere beibringen können, von Astronomie bis zu biologischem Gartenbau, so groß war ihr Lerneifer. Nachbetrachtung

Bei dem Belegschaftstreffen, das später am gleichen Tag stattfand, tauchten in einem sehr berührenden Prozess dieselben Geistrollen auf, dergestalt, dass die Wärter, das Pflegepersonal, die Berater und Verwaltungsangestellten darunter litten, für ihre Arbeit nicht respektiert zu werden und von der Öffentlichkeit keinen Dank zu ernten. Wir dankten allen Anwesenden dafür, dass sie unsere Straßen sicherer machen, dass wir uns dank ihrer Arbeit nicht so viele Sorgen über Kriminalität machen müssen, sowie für ihren Beitrag dazu, für die, die draußen leben, das Leben leichter zu machen. Ein Wärter sagte mit Tränen in den Augen, in 26 Arbeitsjahren habe ihm noch nie jemand

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Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

für seine Arbeit gedankt oder auch nur ihren Wert anerkannt. Er berichtete, dass manche Menschen mit Schweigen oder Feindseligkeit reagierten, wenn er zugab, im Gefängnis zu arbeiten, andere dagegen neugierig wurden und aufregende Geschichten hören wollten. Einige sagten dann, sie selbst könnten nie so eine Arbeit machen. Die Gruppe beschloss ihre Arbeit mit neuen Einsichten über die Bedeutung der Rolle, die sie in der Gesamtgesellschaft spielten, und einem wachsenden Gefühl der Selbstachtung für ihren Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft. Darüber hinaus brachten wir der Belegschaft Interventionen bei, die sie in Situationen einsetzen konnten, in denen sie sich von ihren Mainstream-Freunden marginalisiert fühlten, und begannen Strategien zu entwickeln, um die Öffentlichkeit über die tieferen Aspekte ihrer Arbeit zu informieren. Dies wurde als Teil einer Langzeitstrategie betrachtet, die Selbstachtung, Verbreitung von Ideen und Bewusstheit in der Gesellschaft, verbesserte Finanzierung und höhere Löhne miteinander verband und von der Organisation als Ganzes unterstützt werden musste. Schlussbemerkungen

In einem Treffen mit dem Direktor dankte ich ihm und bat ihn um Unterstützung bei diesen Langzeitprojekten. Seine Anliegen befanden sich zwar auf einer anderen Ebene, ähnelten jedoch sehr den Prozessen, die die Wärter, Insassen, Psychologen, Verwaltungsangestellten und andere Belegschaftsangehörige durchlaufen hatten. Im darauffolgenden Gespräch beklagte er sich über die mangelnde Unterstützung seiner Arbeit seitens der Politik und der Medien. Er übte scharfe Kritik an den Politikern, die nicht mit Kriminalität und Gefängnis in Zusammenhang gebracht werden wollten, weil sie es als schädlich für ihr Image empfanden, besonders in solchen Zeiten, in denen das Thema der öffentlichen Sicherheit eher im Hintergrund stand. In ähnlicher Weise, so klagte er, berichteten die Medien nur dann über Gefängnisthemen, wenn es sich um einen Skandal handle. Während unserer Diskussion sprachen wir darüber, wie die Politiker und die Medien selbst ein Teil eben jener Polarität sind, die wir während unserer Tage im Gefängnis beobachten konnten. Der Direktor wurde darin unterstützt, zu erkennen, dass er nicht nur einen Gefängniskomplex leitete, sondern gleichzeitig ein Vermittler für gesellschaftliches Bewusstsein in diesem Themenbereich sei. Der Direktor empfand diese Diskussion als sehr hilfreich und berichtete ebenfalls über die negative Haltung in der Gesellschaft und den Mangel an Anerkennung für seine Arbeit. Er drückte das folgendermaßen aus: »Diese Haltungen nagen an einem, und irgendwann fängt man selbst an zu glauben, dass das, was man tut, keinen wirklichen Wert hat.« Wir waren schockiert, aber auch nicht gerade überrascht, dass auch er sich nicht erinnern konnte, wann ihm jemand zuletzt öffentlich oder privat für seine Arbeit gedankt hatte. Wie in einigen der anderen Fälle schufen diese Tage eine Grundlage für einen neuen Prozess zur Visionsfindung in der Organisation. In einem der Länder, in denen wir arbeiteten, wurde einiges von unserer Arbeit auf Video aufgenommen und anderen

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Strafvollzugseinrichtungen zur Verfügung gestellt, um ihre Erfahrungen und Ergebnisse im gesamten System zu verbreiten. Wir waren selbst sehr bewegt und versuchen seitdem, das gesellschaftliche Bewusstsein für diese Themen zu erhöhen, wann immer wir die Gelegenheit dazu haben. Das Strafvollzugsystem spiegelt ein größeres Problem innerhalb der Gesellschaft als Ganzes wider und zeigt sowohl, dass es möglich ist, dieses Problem zu lösen, als auch die Art und Weise, in der das geschehen kann. Das Problem liegt weniger in den besonderen Merkmalen einer der beteiligten Rollen begründet, sondern vielmehr in der mangelnden Beziehung zwischen ihnen. Die Isolation, die die Insassen erfahren, wenn sie eingesperrt werden, führt zu komplizierten Reaktionen, die unsoziales Verhalten fördern und Rehabilitation verhindern oder hemmen. Diese Isolation ist ein umfassenderes Thema, wie man am obigen Fall sehen kann, da nicht nur der Insasse, sondern tatsächlich das gesamte System isoliert wird. Durch die Arbeit mit einem prozessorientierten Beratungsansatz ergeben sich eine Reihe von Veränderungen, wie zum Beispiel ein Wandel in der Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation und neue Strategien, um die Isolation zu durchbrechen. Dies spricht indirekt die Probleme des Direktors mit dem Mangel an finanzieller und politischer Unterstützung für seine Organisation an. Mit den inneren Veränderungen der Organisation werden deren Mythos und Vision klarer. Diese können dann in weiteren Sitzungen angesprochen und zu angemessenen Strategien für Öffentlichkeitsarbeit und Politik ausgearbeitet werden. Und schließlich wirft diese Arbeit ein neues Licht auf die Ausbildung der Mitarbeiter und die Betreuung der Insassen und schafft so die Grundlage für ein organisches Change Management.

Literatur Mindell, A. (1992). Traumkörper und Meditation. Zürich, Düsseldorf: Walter. Mindell, A. (1997). Der Weg durch den Sturm. Weltarbeit im Konfliktfeld der Zeitgeister. Petersberg: Vianova. Mindell, A. (1999). Mitten im Feuer. Gruppenkonflikte kreativ nutzen. München: Heinrich Hugendubel. Schupbach, M. (2007). Worldwork: ein multidimensionales Change Management Modell. Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 4.

Max Schupbach, Ph.D. lebt in Portland, Oregon und ist diplomierter ProcessworkFacilitator und international tätiger Trainer und Facilitator. Zusammen mit Arny und Amy Mindell hat er den Ansatz der prozessorientierten Arbeit (processwork) mit entwickelt. Er hat viele Ausbildungseinrichtungen in Nordamerika, Asien, Australien, Europa und Afrika gegründet und geleitet. Er ist Präsident von »maxfxx«, einer Beratergruppe, die weltweit mit Organisationen, auch Unternehmen der Fortune 100, NGOs, Regierungseinheiten und religiösen Gruppen arbeitet. Er hat Gruppen in unterschiedlichsten Kontexten begleitet, wie australische und nordamerikanische Stammesgruppen, multinationale Führungsteams oder Gruppen kurz nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. www.maxfxx.net, www.deepdemocracyinstitute.org

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Spiritualität in der Prozessarbeit Ellen Schupbach im Interview 26

M. H.: Wie würdest du den Ansatz der Prozessarbeit im Coaching beschreiben? E. S.:27 Der Ansatz baut vor allem auf der konkreten Erfahrung auf – er greift auf, was immer ein Mensch erlebt, ohne es in irgendeiner Weise zu pathologisieren. Der Coach hilft dem Klient, sich dafür zu öffnen und mehr über sein eigenes Erleben herauszufinden. Dafür gibt es in der Prozessarbeit vielfältige Methoden und Techniken. Ähnlich wie in der Tradition des Daoismus haben wir die Haltung »Was immer passiert, ist richtig«. Wir versuchen daher in den Fluss von Erfahrungen einzutreten und dann zu lernen, wie wir sie nutzen können. Prozessarbeit ist ein psychologischer Ansatz, der versucht wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Quantenphysik, Elemente künstlerischer Arbeit und Erkenntnisse ethnischer Kulturen miteinander zu verbinden. Sie hat viele Anwendungsbereiche in Organisationen, Coaching, Teamarbeit, Konfliktberatung etc. In gewisser Weise umfasst die prozessorientierte Sichtweise eher eine Lebenseinstellung, da sie Übungsformen anbietet, die jeder nutzen kann, um sich selbst besser kennenzulernen, sich weiterzuentwickeln und damit das Leben mehr zu genießen. Ein weiterer zentraler Aspekt der Prozessarbeit ist die Annahme, dass wir die Welt auf verschiedenen Erfahrungsebenen wahrnehmen, die wir alle als gleichermaßen wirklich betrachten, auch wenn manche Menschen eine bestimmte Erfahrungsebene bevorzugen mögen. In der westlichen Kultur etwa bevorzugt man die Ebene der sogenannten Konsensrealität, die sich auf die äußerliche Wahrnehmung der Welt stützt, die wir unmittelbar erfahren und messen können, während die zweite Erfahrungsebene des subjektiven Erlebens, wie Gefühle, Empfindungen oder Intuition, als weniger real angesehen wird. Die dritte Ebene nennen wir Essenzebene, sie umfasst spirituelle, visionäre Erfahrungen, die noch weniger in Alltagsbegriffen zu fassen und zu beschreiben sind, da sie einer nondualen Dimension entspringen, jenseits der gewohnten Bezüge von Zeit und Raum. Unser Konzept der Tiefen Demokratie sieht nun alle drei Erfahrungsebenen als gleichwertig und gleichermaßen wirklich an – während wir im Alltagsleben oft eine der Ebenen ausblenden.

26 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 11. November 2011 in Amsterdam geführt. 27 M. H. = Markus Hänsel. – E. S. = Ellen Schupbach.

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Ellen Schupbach im Interview: Spiritualität in der Prozessarbeit

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M. H.: Was ist die spirituelle Dimension in der Prozessarbeit? E. S.: Was ich grundlegend darunter verstehe, ist, dass wir Aspekte der Erfahrung wahrnehmen und in die Arbeit einbeziehen, die nicht messbar sind. Dazu müssen wir ein mentales Modell verlassen, das davon ausgeht, dass die Welt einfach gegeben ist und daher jeder weiß, wie die Dinge sind und sein sollten. Die Prozessarbeit stellt uns Techniken zur Verfügung, die uns darin unterstützen, Erfahrungen jenseits der Konsensrealität zu machen und dabei essenzielle Aspekte des Lebens zu berühren. In diesem Prozess tauchen grundlegende Fragen auf, etwa: »Warum sind wir hier auf der Erde?« Prozessarbeit vertieft unseren normalen Umgang mit solchen existenziellen Anliegen. Im Buddhismus spricht man in diesem Zusammenhang von den »vier edlen Wahrheiten«, die im Kern aussagen, dass das Leben aus Leiden besteht und dass es einen Weg da heraus gibt. Wenn wir das Leben nur als Leiden und Mühe verstehen, versuchen wir lediglich zu überleben oder dagegen anzukämpfen. Aber wenn wir annehmen, es gibt einen Weg, der aus dem Leiden herausführt, werden wir hellhörig und neugierig. In der Prozessarbeit beschäftigen wir uns mit Körperwahrnehmungen und Symptomen, bei denen mein normales Wachbewusstsein versucht, sie als Störungen zu marginalisieren, zu unterdrücken oder zu bekämpfen. Wir entwickeln dagegen ein Bewusstsein, in dem wir verstehen, dass wir diese Erfahrung nicht einfach nur erleiden müssen, sondern dass wir damit arbeiten können, um etwas Bedeutendes über uns und unser Leben zu erfahren. Der Begriff »spirituell« ist dabei manchmal etwas schwer und erhaben, so als müsste man besonders ruhig sein oder sich in einer bestimmten heiligen Weise verhalten. Die Prozessarbeit legt jedoch eine spirituelle Praxis nahe, die nicht an bestimmte Verhaltensmuster oder Vorstellungen gebunden ist, wie man zu sein hat. Statt Spiritualität in irgendeiner Weise vom Alltag abzutrennen, passiert hier die Praxis mitten im Geschehen. M. H.: Die Welt der Wirtschaft und Unternehmen bevorzugt ja eher die Konsensrealität der Zahlen und Fakten, wie verhält es sich da mit spiritueller Erfahrung? E. S.: Es scheint insgesamt die Natur unseres Geistes zu sein, einige Bereiche der Erfahrung zu marginalisieren, was auch verständlich ist, denn wenn wir die Straße überqueren, sollten wir uns eher auf die Autos und die rote Ampel fokussieren, weil wir sonst bald nicht mehr Teil dieser Realität wären. Aber außerdem ist es wichtig, neben dieser Wirklichkeit des konkret Sichtbaren, auch die anderen Erfahrungsbereiche mit einzubeziehen. Die Prozessarbeit ist ein Bewusstseinsweg, der einem Konzepte und Methoden zur Verfügung stellt, wahrzunehmen, auf welcher Ebene man sich befindet, und sich für die anderen Sicht- und Zugangsweisen zu öffnen. Oftmals realisieren wir dies durch Störungen. Wenn wir zum Beispiel im Verkehr aufgehalten werden und warten müssen, können wir fühlen, was uns in diesem Moment beschäftigt, wir können uns darüber klar werden, zu welchem Ziel und auf welchem Weg und wie wir gerade unterwegs sind – konkret und im übertragenen Sinne. Dadurch bekommt auch die Ebene des Konkreten eine neue Bedeutung.

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Die spirituelle Dimension in der Arbeit mit Teams und Organisationen

M. H.: Du sprichst davon, die Arbeit als eine Art Übungspraxis im spirituellen Sinne zu verstehen: Was verändert sich, wenn wir anfangen in diesem Sinne alle Erfahrungsebenen, insbesondere die essenzielle, einzubeziehen? E. S.: Einen Beruf auszuüben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist selbstverständlich notwendig, aber wenn das Leben darauf reduziert wird, kann es bald erschöpfend sein, man wird das eventuell so nicht lange durchhalten und ausgebrannt oder zumindest unglücklich werden. In der Arbeit sind wir ja oft auf eine spezifische Aufgabe ausgerichtet, die wir erledigen wollen, und versuchen unsere Sache gut zu machen und die Erwartungen zu erfüllen. Das ist okay, aber wenn unsere ganze Tätigkeit und sogar das ganze Leben so funktioniert, verpassen wir etwas Wesentliches im Leben. Wenn ich mich dagegen erinnere, dass das Leben und der Beruf immer eine spirituelle Übungspraxis sind, kann mein Erleben viel weiter und reicher werden. Als ich zum Beispiel gestern im Flugzeug zum Seminar anreiste, habe ich mich ziemlich schlecht gefühlt, meine Ohren waren zu und mein Kopf tat weh. Als ich das eine Weile einfach ertragen hatte, habe ich mich daran erinnert, dass ich mit dieser konkreten Erfahrung prozessorientiert arbeiten kann. Ich habe mich also ganz in die Situation hineinbegeben und meinen Körper eine spontane Ausdrucksweise dafür finden lassen – es entstand eine Handbewegung, die ausdrückte, wie sich mein Körper anfühlte, und die sich dann langsam öffnete. Ich habe mich dieser Bewegung ganz zugewandt und plötzlich entstand ein ganz erstaunliches Gefühl von Freiheit und Zeitlosigkeit, das einfach wunderbar war. Ich war auf einmal nicht mehr nur eine Person, eingesperrt in einem Körper und einem Flugzeug – ich fühlte mich vielmehr sehr frei und zugleich verbunden mit allem um mich herum. Ich bin überzeugt, dass wir auf diese Weise mit allen Erfahrungen arbeiten können, jederzeit! Ich glaube, wir lassen uns oftmals zu schnell vom Alltag absorbieren, und die wichtigste Aufgabe ist es, aufzumerken und zu erkennen, dass wir gerade schwierige, störende Erfahrungen nutzen können, um unser Leben zu bereichern und in gewisser Weise auch zu befreien. M. H.: Könntest du in diesem Zusammenhang etwas über das Konzept der Metaskills sagen, weil es eine Haltung und Methode insbesondere in der Selbstanwendung verbindet? E. S.: Metaskills beziehen sich sowohl auf eine spirituelle Haltung, die man dem Leben als Ganzem gegenüber hat, als auch auf eine Haltung, die wir zu unseren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten haben. Ähnlich wie in einer Improvisation, bei der wir all die situativen Faktoren wie Raum, Zeit, Beziehungen usw. nicht von der Aufführung selbst trennen können. Für mich ist es immer wieder erstaunlich zu erfahren, dass besonders wirksame Interventionen im Steuern von Prozessen weniger aufgrund von methodischem Können entstehen, sondern aufgrund einer intuitiven Wahrnehmung oder eines tiefen Gefühls in diesem Moment. Mein Partner Max Schupbach hat einmal gesagt, dass, obwohl wir als Menschen in unserer Freizeit oft einen Ort unberührter Natur suchen, wir doch als Spezies eher dafür sorgen, dass jedes letzte Stück unberührter Natur zerstört wird. Vielleicht führt das dazu,

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Ellen Schupbach im Interview: Spiritualität in der Prozessarbeit

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dass die Orte unberührter Natur nicht außerhalb, sondern nur noch innerhalb von uns Menschen zu finden sind – in den Aspekten unseres Selbst, die uns unbekannt sind und darauf warten, entdeckt zu werden. Wenn du ein echtes Interesse und tiefes Gespür für diese unberührten Orte in Menschen hast, was ich am ehesten als Liebe bezeichnen würde, dann wird es überhaupt möglich, diese Orte zu erfahren und miteinander zu teilen. Dafür können wir verschiedene Techniken und Methoden als Hilfestellung einsetzen, aber das Wichtigste ist die Offenheit für das Mysterium im Menschen selbst. Allein diese Haltung spricht die spirituelle Seite von Klienten an, auch wenn sie vielleicht vorher nicht bewusst geworden ist. Beim facilitieren von Gruppen geht es daher um eine gute Beziehung der Aspekte, die wir aktiv gestalten können, wie die Vorbereitung oder das Setting, mit den Aspekten, denen wir eher Raum geben können und die sich durch uns im gemeinsamen Prozess entfalten. M. H.: Die Prozessarbeit hat also ein durchaus praktisches Verständnis von Spiritualität? E. S.: Ja, in der Arbeit als Facilitator erlebt man ähnliche Qualitäten wie in der Meditation, wie beispielsweise eine große Offenheit der Wahrnehmung für alle Phänomene, ohne die Einschränkung, dabei still sitzen zu müssen (oder zu dürfen). Man versucht alle Erfahrungsebenen einzubeziehen und sie für den aktuellen Prozess zu nutzen, mit ihnen zu interagieren und zu tanzen. Also wenn etwas auftaucht, was dich irritiert, kannst du, anstatt es wegzuschieben, in dem Versuch, spirituell zu sein, die Erfahrung gerade als Material auf dem spirituellen Weg nutzen. Wir nennen das X-Energie, also die Erfahrungen, die wir nicht mögen, mit denen wir uns nicht identifizieren und die wir versuchen zu vermeiden – im Gegensatz zur U-Energie, die wir als zu uns zugehörig und angenehm erleben. Die Prozessarbeit gibt uns im Coaching die Möglichkeit, mit beiden Energien zu arbeiten und zu tanzen. Die spirituelle Haltung dahinter würde ich wiederum als Liebe bezeichnen, die all unsere Erfahrungen und Seiten umfasst – die schrecklichen, angsterregenden Seiten genauso wie die wundervollen, die wir genießen –, weil beide im übergeordneten Sinne Ausdruck des Lebens sind. Um sich mit dem Spirituellen oder dem Göttlichen zu verbinden, muss man also nicht in die Ferne auf einen Berg wandern – man findet es überall in der Welt, mitten im eigenen Selbst. M. H.: Ellen, vielen Dank!

Ellen Schupbach, Ph.D. ist diplomierter Processwork-Facilitator, die sich auf die persönliche Entwicklung von Führungskräften und Facilitatoren spezialisiert hat. Ihre Dissertation schrieb sie über die spirituelle Erfahrung als Facilitator. Ellen Schupbach lehrt mit ihrem Partner Max Schupbach zusammen Prozessarbeit im internationalen Rahmen. Als Coach und Psychologin ist sie in eigener Praxis tätig und bekleidet eine leitende Stellung im Deep Democracy Institute. www.eminee.net, www.deepdemocracyinstitute.org

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IV Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung

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Anna Gamma

»Das kann doch nicht alles gewesen sein!« Lehrgang und Modell am Lassalle-Institut Zen.Ethik.Leadership

»Das kann doch nicht alles gewesen sein!«, bekomme ich öfters zu hören, und das nicht selten von äußerst erfolgreichen Führungskräften. Wer in seiner Lebensbilanz zu dieser Feststellung kommt, hat ein ahnendes Wissen darüber, das »Beste« im eigenen Leben weder gefunden noch realisiert zu haben. Trotz Erfolg im Beruf und einem glücklichen Familienleben scheint Wesentliches zu fehlen. Diese Menschen bedrängt mal mehr, mal weniger eine innere Unruhe, in deren Mitte die Fragen stehen: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist meine Lebensaufgabe? Wo ist mein einzigartiger Platz in der Menschheitsfamilie? Was kann ich für das große Ganze tun? Diese Fragen lassen sich nicht mit rationalen Konzepten und rezepthaften Methoden klären. Es braucht Mut und entsprechenden Forschergeist, Vertrautes und Liebgewordenes zu verlassen und sich eines alten, inneren Wissens wieder zu besinnen – der Weisheit endlich Raum zu geben.

Das Lassalle-Institut – eine Antwort auf Anfragen von Führungskräften Im Jahre 1995 gründeten Niklaus Brantschen und Pia Gyger das »Institut zur spirituellen Bewusstseinsbildung in Politik und Wirtschaft«. Sie waren damals bereits mehrere Jahre als Zen-Lehrer und Zen-Lehrerin tätig. Teilnehmende der Zen-Kurse, insbesondere Führungskräfte, waren immer häufiger mit der Bitte an sie herangetreten, eine Plattform aufzubauen und anzubieten, in der sie ihre Erfahrung auf dem Weg nach innen thematisieren und mit Gleichgesinnten nach Möglichkeiten der Umsetzung in den Berufsalltag suchen konnten. Diese Anliegen nahmen Pia Gyger und Niklaus Brantschen im Institut auf. Sie hatten selbst seit langem zum Thema der Selbstorganisation der Menschheit geforscht und sich dabei von folgenden Fragen leiten lassen: –– Wie können Einzelne an der sinnvollen Organisation des globalen Dorfes mitwirken? –– Wie müssen die globalen Strukturen aussehen, damit Gerechtigkeit und Frieden auf unserem Planeten als zentrale Werte anerkannt und in realpolitischen Programmen umgesetzt werden? Bei der Eröffnung des Instituts ernteten die beiden während der Pressekonferenz bei den Journalisten kaum mehr als nur ein müdes Lächeln. Sie waren skeptisch gegenüber

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Anna Gamma: »Das kann doch nicht alles gewesen sein!«

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dem Vorhaben, Spiritualität in Verbindung mit Wirtschaft und Politik zu bringen. Sie konnten nicht glauben, dass sich jemals eine größere Anzahl von Führungskräften für diese Thematik gewinnen ließe. Zu weit schienen die Disziplinen auseinanderzuliegen. In der Zwischenzeit hat sich vieles geändert. Spiritualität ist nicht länger ein Tabuthema. Heute wird auch an einigen renommierten Ausbildungsstätten in Leadership-Trainings Spiritualität angeboten. In den ersten Jahren arbeiteten die beiden Gründerpersönlichkeiten vorwiegend an Grundlagen. Der Übergang ins neue Jahrtausend wurde für das Institut in vieler Hinsicht bedeutungsvoll. Es erhielt nicht nur den Ethikpreis der Schweizerischen Raiffeisengruppe, es wurde auch neu positioniert und in der Folge erhielt es einen neuen Namen: »Lassalle-Institut« mit dem Zusatz: Zen.Ethik.Leadership. Name und Claim sollten zum Programm werden. Lassalle steht für den Jesuitenpater Hugo Enomya Lassalle. Er war ein Brückenbauer zwischen Ost und West, zwischen der asiatischen und westlichen Kultur und zwischen Buddhismus und Christentum. In der Absicht, das Wesen der Japaner besser zu verstehen, ist er über viele Jahre den Weg des Zen gegangen. Später hat er diesen traditionsreichen spirituellen Weg aus dem chinesischjapanischen Buddhismus selbst vermittelt. So zählt er zu den Pionieren, die Zen nach Europa brachten. Sein besonderes Engagement als Überlebender der Atombombe in Hiroshima galt jedoch bis ins hohe Alter dem Weltfrieden. Die Zen-Meditationspraxis verbindet in einmaliger Weise den Weg nach innen mit dem Weg nach außen, die Innenwelt mit der Außenwelt, die Innenschau mit dem Blick in die Welt. Über die Jahre hat das Team des Instituts eine Ethikposition entwickelt, die zentrale Elemente der christlichen und buddhistischen Tradition aufnimmt und verbindet. Sie prägt die Unternehmenskultur des Instituts wesentlich mit und bildet zudem den Referenzrahmen für all unsere Aktivitäten im Bildungsbereich und in den einzelnen Projekten. Die Ethikposition diente insbesondere in den beiden Forschungsarbeiten von 2002 (Ethikbilanz in der Schweizer Wirtschaft) und 2006 (Ethikbilanz in der Schweizer Politik) als Matrix für die Entwicklung der Forschungsinstrumente und prägte die Interpretation der erhobenen Daten wesentlich mit. Sie lautet: »Ethik ist eine Kultur der Werte, die auf folgender Erfahrung basiert: Alles Leben ist miteinander verbunden und voneinander abhängig. Ethisches Verhalten beinhaltet achtsames Wahrnehmen des Lebens, kluges Urteilen und entsprechendes Handeln. Ethische Entscheide werden dialogisch erarbeitet. Sie dienen dem Wohl aller Lebewesen und dem System Erde« (Gamma, Eugster u. Grünenfelder, 2006, S. 13). Das Jahr 2000 war auch für das Institut ein Jahr der Wendezeit. Pia Gyger und Niklaus Brantschen legten eine erste Fassung des Lassalle-Institut-Modells® vor. Sie hatten es auf einer Studienreise nach Jerusalem erarbeitet, in der sie, von Bernie Glassman Roshi eingeladen, Zen-Meister und Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen religiösen Traditionen trafen. Das Modell, das in einer besonderen Weise eine moderne Zusammenfassung der Zen-Philosophie und Zen-Praxis ist, werde ich im Folgenden vorstellen und ergänzen durch erste Hinweise für einen spirituell orientierten Coach.

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Im Anschluss daran werde ich aufzeigen, wie das Modell im Lehrgang »Spirituelles Coaching« seine Umsetzung findet. Da die Übung der Zen-Meditation integraler Bestandteil aller Module ist, werde ich zudem darstellen, wie die Zen-Praxis die Wertekultur eines Coach prägen und seine Persönlichkeit, das wichtigste »Instrument« eines erfolgreichen Coach, fördern kann. In der Abschlussarbeit schildert eine Absolventin des Lehrgangs, die zugleich auch Zen-Schülerin ist, wie die spirituelle Dimension, als ein allen Menschen innewohnendes Potenzial, in Coaching und Beratung ganz selbstverständlich den ihr entsprechenden Platz findet.

Das Lassalle-Institut-Modell® – ein Orientierungsrahmen In der Einleitung zur ersten Vorstellung des Modells schreiben die beiden Autoren: »Je ganzheitlicher die Welt- und Selbstwahrnehmung ist, desto umfassender sind die Antworten auf die drängenden Probleme unserer Zeit (soziale Ungerechtigkeit, strukturell bedingte Arbeitslosigkeit, ökologische Krisen). Die Frage, von der sich das LassalleInstitut leiten lässt, lautet deshalb: Wie können Menschen aus ihrer konditionierten Denk- und Verhaltensstruktur befreit und zu tieferer Selbst- und Weltwahrnehmung geführt und zu verantwortungsvollerem Handeln befähigt werden?« (Brantschen u. Gyger, 2001, S. 2). Zu diesem global anstehenden Transformationsschritt gibt das Lassalle-Institut-Modell eine wegweisende Antwort. Auf die kürzeste Formel gebracht beinhaltet es 3 x 3 Elemente: –– drei Formen der Intelligenz – mentale, emotionale und spirituelle Intelligenz, –– drei Weisen des Seins – Einheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit, –– drei Ebenen des Handelns – Mikro-, Meso- und Makroebene.

Drei Formen der Intelligenz Was im Folgenden getrennt dargestellt wird, so betonen die Autoren, »sind Aspekte der einen menschlichen Fähigkeit, sich und die Welt zu sehen, zu verstehen und zu gestalten. Diese eine und dreifaltige Intelligenz schließt alle anderen Intelligenzformen ein, auch die sogenannte ›Körperintelligenz‹« (Brantschen u. Gyger, 2001, S. 3). Die mentale Intelligenz ist den meisten Menschen am vertrautesten, haben wir doch in die Förderung dieses Potenzials in unserem schulischen Werdegang am meisten investiert. Es geht dabei um Fähigkeiten wie: »– komplizierte Vorgänge in einzelne Schritte zu zerlegen, –– logische Abfolgen zu bilden, –– Situationen zu analysieren und geordnete Schlüsse daraus ziehen, –– vorausplanend und organisierend tätig zu sein, –– Leistungsbewusstsein zu entwickeln, das heißt, Tätigkeiten an zeitlichen Vorgaben, Verhaltensanweisungen und Bedürfnissen zu messen« (Gyger et al., 2003, S. 2).

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Abbildung 1: Das Lassalle-Institut-Modell

Die mentale Intelligenz wird durch das mentale Erfolgstraining, etwas salopp ausgedrückt durch das »Gehirn-Jogging«, gefördert (Fischer, Koch u. Loddenkemper, 1992). Mit Disziplin und einem starken Willen kann in der Entfaltung dieses Potenzials viel erreicht werden. Menschen jedoch, die einseitig auf die mentale Intelligenz setzen, haben wenig Zugang zu ihrer inneren Lebendigkeit und Tiefe. Angetrieben durch Leistungsdruck und wachsende Beschleunigung bzw. Zeitnot haben sie kaum eine Alternative zum Hamsterrad. Die mentale Intelligenz braucht dringend Ergänzung durch andere menschliche Potenziale, nicht erst dann, wenn die Dinge nicht mehr so gut laufen wie eh und je, der Körper zu streiken beginnt, die Karriereleiter keine weiteren Himmelssprossen mehr bietet oder die Partnerschaft in die Brüche zu gehen droht. Die emotionale Intelligenz wird landläufig mit sozialer Kompetenz gleichgesetzt. Das ist jedoch nur ein Aspekt dieses menschlichen Potenzials. Unter der emotionalen Intelligenz verstehen wir zunächst den emotional intelligenten Umgang mit uns selbst, die sogenannte intrapersonale Intelligenz. Sie befähigt uns zu immer tieferer Selbstwahrnehmung, die sich in einer stets wachsenden Selbstkompetenz erfüllt. Diese Intelligenz beinhaltet:

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»– die Fähigkeit, Gefühle wie Bejahung, Freude, Lust, aber auch Ablehnung, Trauer und Wut wahrzunehmen und damit umzugehen, –– die Fähigkeit zu Einsicht und Selbstkritik, –– die Fähigkeit zur Disidentifikation der eigenen Gefühle, –– die Fähigkeit, das Bedürfnis nach innerer und äußerer Abhängigkeit zu erkennen und damit umzugehen, –– die Fähigkeit zu Spontaneität, Selbstmotivation und Selbstdisziplin, –– die Fähigkeit, in kontinuierlicher Beziehung mit sich selbst zu sein« (Gyger et al., 2003, S. 3). Die emotionale Intelligenz beinhaltet neben der intrapersonalen auch die interpersonale Intelligenz bzw. soziale Kompetenz. Sie umfasst die Fähigkeit, mit Menschen, Dingen und der Natur in Beziehung zu sein. Zu den Kernkompetenzen gehören: –– Achtung, Vertrauen und Wertschätzung zum Ausdruck bringen, –– Temperament, Motivation und Emotionen anderer erkennen und adäquat reagieren, –– konstruktives, aufbauendes Feedback geben können, –– Empathie bzw. Einfühlungsvermögen zeigen, –– nonverbale Kommunikationsfähigkeit, das heißt, Körpersignale erkennen, deuten und sich entsprechend verhalten, –– Spannungen und Konflikte aushalten und konstruktiv damit umgehen, –– Toleranz als wesentliche Fähigkeit von interkultureller Kompetenz verkörpern, –– verlässliche Kooperationen eingehen. Emotionale Intelligenz entfaltet sich ganz einfach durch die Bereitschaft, sich je neu auf Menschen einzulassen und die Beziehung zu sich selbst und anderen Menschen zu pflegen. Martin Buber (1973) bringt diese Beziehungsdynamik kurz und schlüssig auf den Punkt: Ich werdend spreche ich Du. Die Kontakt- und Beziehungsfähigkeit ist für einen Coach ein wichtiges Instrument. Stehen diese jedoch nicht im Gleichklang mit mentaler und spiritueller Intelligenz, dann versumpfen diese wunderbaren Fähigkeiten gleichermaßen in neurotischer Abhängigkeit oder einem übersteigerten Harmoniebedürfnis. So wie Daniel Goleman (1996) der emotionalen Intelligenz auch in Psychologie-fernen Kreisen zum Durchbruch verhalf, stehen für die spirituelle Intelligenz die Namen Dana Zohar und Ian Marshall (2000). In der spirituellen Intelligenz werden die tiefsten Schichten unseres Menschseins angesprochen. Lin-chi I-hsüan, einer der berühmtesten Zen-Meister in der Blütezeit des alten China, sprach vom »Menschen ohne Rang und Namen«, der uns allen innewohnt und darauf wartet, sich im Lebensalltag zu manifestieren. Indem wir uns nach innen wenden, können die verschiedenen Zwiebelschalen, die uns von unserem wahren Wesen – dem Mensch ohne Rang und Namen – trennen, nach und nach transparent werden. Dies ist ein jahrelanger Reifungsprozess, der nie abgeschlossen werden kann. Denn Mystiker erkannten auf ihren inneren Forschungs-

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reisen, dass der Weltinnenraum tiefer und weiter ist als die ganze Welt (Meister Eckhart in Döll, 2005, S. 207). Menschen mit einer entfalteten spirituellen Intelligenz zeichnen sich durch folgende Grundhaltungen aus: –– Sie fühlen sich eins mit allem Leben. –– Sie entwickeln den nötigen Mut und das Durchhaltevermögen, der Einheit des Lebens in ihrem Denken und Handeln zu dienen. –– Sie spüren eine zunehmende Kraft, alte Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen loszulassen. –– Sie erfahren eine neue Flexibilität im Umgang mit den Problemen des Alltags. –– Sie werden immer fähiger, in Situationen mit existenziellen Lebensfragen und Nöten das Verbindende und Heilende hinter allen Ereignissen zu spüren, und sind daher immer häufiger zu unerwarteten Lösungsansätzen befähigt. –– Sie spüren eine wachsende, ihrem inneren Entwurf entsprechende Kreativität und haben immer mehr den Mut, ihre Einzigartigkeit zu entfalten (Gyger et al., 2003, S. 5 f.). Wer den Anspruch hat, spirituelles Coaching anzubieten, sollte aus meiner Sicht solche Qualitäten selbst verkörpern, um sie in den Coachees anzusprechen und fördern zu können. Mystiker aller Traditionen zeigen in einem dreifachen Schritt auf, wie das spirituelle Potenzial entwickelt werden kann: in der Hinwendung nach innen, in der Einkehr in den eigenen Grund, dann aber auch in der Assimilation der Welt, der Einswerdung mit ihr, die sich schlussendlich im konkreten Engagement für die Welt erfüllt.

Drei Weisen des Seins Die ganzheitlich entfaltete Intelligenz öffnet unseren Geist für die Grundstruktur von Mensch und Welt und lässt uns Einheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit – die drei Weisen des Seins – erfahren. Mich hat in den letzten Jahren immer wieder die Frage beschäftigt, warum wir in unserem westlichen Kulturraum schwer Zugang zu dieser Grundmatrix des Lebens finden und unser Handeln deshalb diesen Gesetzmäßigkeiten oft zuwiderläuft. Ein Wesensmerkmal des Menschen, sein Drang nach »mehr sein«, sein Bestreben zu wachsen und sich weiterzuentwickeln, kann uns im Blick auf unsere westliche Geistesgeschichte eine Spur zeigen. Ich orientiere mich dabei an der Arbeit von Jean Gebser, der in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts kulturelle Zeugnisse aus allen Kulturen sammelte. Ihn faszinierte, wie Künstler in Bildern und Plastiken Mensch und Welt, Mitund Umwelt zum Ausdruck brachten. Dabei machte er eine interessante Entdeckung. Er fand spezifische Merkmale in der Welterfassung und im Menschenverständnis und ordnete diese verschiedenen Bewusstseinsstrukturen zu. Er benennt sie mit archaischer,

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magischer, mythischer und mentaler Bewusstseinsstruktur (Gebser, 1978). Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins seit unseren Uranfängen wie auch in jedem einzelnen Menschenleben zeigt, dass der Drang nach »mehr sein« im Laufe der Zeit dazu führte, ein autonomes Ich herauszubilden. Der Mensch löste sich aus der Ureinheit bzw. Symbiose mit der Erde bzw. Mutter, fand sich im Wir des Stammes oder der Familie wieder, um allmählich zur Einzelseele zu erwachen. Daraus entwickelte sich das mentale Bewusstsein, das heißt der Verstand, und mit ihm die Möglichkeit, »ich« zu sagen. Der Preis für diese Entwicklung ist die wachsende Illusion der Getrenntheit mit den vertrauten Symptomen von Einsamkeit, Verlorenheit, Intoleranz, Extremismus, Depression, Sinnlosigkeit – Erfahrungen, die in eine »No Future«-Stimmung münden können. Heute stehen wir in der Dekadenz der mentalen Phase bzw. im Übergang zu einer neuen, integralen Bewusstseinsstruktur, deren besonderes Merkmal die Integration aller vorherigen Phasen ist. Obwohl dieser Prozess der Bewusstseinsveränderung seit Jahrzehnten im Gange ist, wird im Westen immer noch mehrheitlich der Schwerpunkt in die Verschiedenheit gelegt, als falsch verstandene Erfüllung der Sehnsucht, in der Einzigartigkeit erkannt zu sein. Das mentale Bewusstsein nahm in der Philosophie der großen griechischen Denker ihren Anfang und fand in den beiden Philosophen Descartes und Kant einen Höhepunkt. Descartes postulierte eine neue Ebene der Identität, die das spezifisch Menschliche auf das Denkvermögen reduziert: »Ich denke, also bin ich.« Auch Kant huldigte dem Verstand und mit ihm der Fähigkeit zu denken. Der Mensch, der seinen Verstand nutzt, wachse aus der Unmündigkeit gegenüber staatlichen und religiösen Obrigkeiten hinaus und werde fähig, ein autonomes, selbstbestimmendes Leben zu führen. Im Blick auf die heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen bleibt Kant mit seiner Forderung zum mündigen Denken nach wie vor modern. Damals leitete er zusammen mit anderen Pionieren der Aufklärung einen Säkularisierungsprozess ein, der bis heute anhält. Theologie und Wissenschaft trennten sich. Die objektive Wissenschaft begann mit ihrem Siegeszug und fand ihre vorläufige Hochblüte im Positivismus, in dem nur wirklich wirklich ist, was zähl-, wäg- und messbar ist. Alle anderen Erkenntnisse wurden als unwissenschaftlich abgetan. Immer noch staune ich darüber, dass im letzten Jahrhundert gerade jene Naturwissenschaftler, die sich mit den letzten Dingen der Materie auseinandersetzten, in einer neuen Weise über die ursächliche Wirklichkeit zu sprechen begannen. Den Nuklear- und Astrophysikern erschloss sie sich als Einheit, da alles mit allem verbunden ist. Der Astrophysiker Arnold Benz beschreibt diese Allverbundenheit auf der Ebene der Materie unseres Körpers wie folgt: »Unsere Erde mit allen Atomen, die schwerer als Lithium sind, zeugt von der Geschichte der Milchstraße. Der Kohlenstoff und der Sauerstoff in unseren Körpern stammen aus der Heliumbrennzone eines alten Sterns. Zwei Siliziumkerne verschmolzen kurz vor oder während einer Supernova aus Sauerstoff und Silizium. Fluor, mit dem wir die Zähen putzen, wurde in einer seltenen Neutrino-Wechselwirkung mit Neon produziert, und das Jod in unseren Schilddrüsen

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entstand, durch Neutrinoeinfang im Kollaps einer Supernova. Wir sind direkt mit der Sternenentwicklung verbunden und selbst Teil der kosmischen Geschichte« (Benz, 1998, S. 35). So gesehen ist jeder Körper eine kosmische Bibliothek. Doch für die meisten Menschen ist der Zugang zu dieser Fülle der Erkenntnis verschlossen. Der Nuklearphysiker Hans-Peter Dürr doppelt nach, indem er von der Wirklichkeit als Potenzialität spricht: »In der Quantenphysik gibt es das Teilchen im klassischen Sinne nicht mehr, das heißt, es existieren im alten klassischen Sinne keine (kleinsten) zeitlich mit sich selbst identischen Objekte. Damit geht die ontische Struktur der Wirklichkeit verloren. Die Frage: Was ist, was existiert? wird dynamisch verdrängt durch: Was passiert? Was wirkt? Das Primäre ist nicht mehr die reine Materie, die, selbst gestaltlos, den Raum besetzt; es gilt nicht mehr ›Wirklichkeit als Realität‹, sondern im Grunde dominiert die immaterielle Beziehung, reine Verbundenheit, das Dazwischen, die Veränderung, das Prozesshafte, das Werden, eine Wirklichkeit als Potenzialität« (Dürr, 2004, S. 27 f.). Solche Erkenntnisse inspirieren mich nicht nur als Mensch, sondern auch in meiner Arbeit als Coach: der Mensch, immer schon ein Werde-Wesen und in ständiger Veränderung begriffen. Öffnen wir uns für das »Dazwischen«, das »Prozesshafte«, kommen wir der Wirklichkeit, dem Leben selbst am nächsten. Alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe, gesellschaftlichem Status oder Bildungsniveau, tragen in sich die Sehnsucht, in ihrer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit erkannt und geliebt zu werden, noch bevor wir etwas geleistet haben, einfach weil wir sind und leben. Unsere Einzigartigkeit ist jedoch nicht etwas Statisches, sie ruht wie ein roher Diamant in uns, der im Laufe eines Lebens geschliffen werden und zum Leuchten kommen will. Das gelingt am besten in verbindlichen Beziehungen. Nicht nur kommen wir der letzten Wirklichkeit durch »reine Verbundenheit« am nächsten, ohne Erfahrung der Einheit und Verbundenheit – über alle Brüchigkeit und Unzulänglichkeiten menschlicher Beziehungen hinweg – kann sich die Einzigartigkeit einer Person nicht entfalten. Diese Entwicklungsdynamik ist eingebettet in den großen Strom der Evolution. Naturwissenschaftler verschiedenster Provenienz haben sie als Grundprinzip der Entwicklungsgeschichte unseres Universums beschrieben. Teilhard de Chardin, ein namhafter Paläontologe, Theologe und Mystiker, nannte diese Bewegung kurz »differenzierende Vereinigung«. Keine Entwicklung, kein nachhaltiger Fortschritt auf der persönlichen, unternehmerischen und globalen Ebene ohne die Bereitschaft, sich verbindlich einzulassen und je neu Beziehung zu wagen. Überall zeigen sich Ansätze eines neuen Bewusstseins. Allen voran sind es Künstler wie beispielsweise Pablo Picasso, der neben der Perspektive gleich weitere Dimensionen mit ins Bild aufnahm. Die Multiperspektivität war geboren und mit ihr die Fähigkeit, die Welt gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Teilhard de Chardin sagte in denselben Jahren voraus, dass sich im Menschen neue Sinne entwickeln werden. Zuerst werde sich das Verständnis von Sexualität verändern und damit auch die Beziehung der Geschlechter zueinander. Befreit vom primären Ziel der Arterhaltung werde sie

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die psychisch-geistige Entwicklung von Mann und Frau in einer noch nie dagewesenen Weise intensivieren: »Eines Tages, nach dem Äther, den Winden, den Gezeiten, der Schwerkraft werden wir für Gott die Energie der Liebe fassen – und alsdann, ein zweites Mal in der Geschichte der Welt, wird der Mensch das Feuer gefunden haben« (Teilhard de Chardin, 1973, S. 92, übersetzt von R. Brüchsel). Das neue Bewusstsein und Verhältnis der Geschlechter zueinander werden zum Nährboden für die Entfaltung von weiteren Sinnen, dem Sinn für die Menschheit, die Erde und das All. Der Mensch werde die Erde und Menschheit ganz selbstverständlich als einheitliche, komplexe Organismen erfahren. Schlussendlich werde er erwachen zum kosmischen Bewusstsein, das heißt, sich selbst als einzigartigen Ausdruck des Universums erkennen. Dann wird der Mensch den evolutiven Entwicklungsprozess von sagenhaften 15 Milliarden Jahren in sich bewusst erfahren. Er, sie ist nicht mehr länger nur Erdenbürger/-in, sondern seine, ihre Heimat ist von nun an das All. Die drei Weisen des Seins – Einheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit – können auch als integrales Problemlösungstool in Beratung und Coaching angewandt werden. Konflikte entstehen, wenn die drei Strukturelemente untereinander nicht in einem dynamischen Gleichgewicht sind. Die meisten Menschen, die ein Coaching in Anspruch nehmen, stehen in großen beruflichen Herausforderungen. Ihre Gefahr ist, dass sie sich im Vielerlei des Alltags verlieren. Damit wird die Verbindung zur eigenen Innenwelt geschwächt, dem Tor zur Einzigartigkeit der eigenen Persönlichkeit. Menschen in solchen Lebenssituationen fragt Meister Eckhart mahnend und gleichzeitig wegweisend an: »Warum geht ihr aus? Warum bleibt ihr nicht in euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch« (in Döll, 2005, S. 190). Im Kontext des interreligiösen Erfahrungsdialogs zwischen Christen und Buddhisten haben Pia Gyger, Niklaus Brantschen und ich Dialogkriterien erarbeitet, die sich auch in die Arbeitswelt, insbesondere auch in die Coaching-Praxis, gewinnbringend übertragen lassen. Sie fördern die dynamische Balance von Einheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit im eigenen Inneren wie auch in äußeren Teams. Die Dialogkriterien bieten kein Rezept. Sie regen vielmehr eine offene, lernbereite Haltung in Gesprächen und Begegnungen an. Es geht um die »1. Bereitschaft, offen und achtsam zuzuhören,  2. Bereitschaft, voneinander zu lernen,  3. Bereitschaft, die Ergänzungsmöglichkeiten in den Unterschieden und Widersprüchen wahrzunehmen und herauszuarbeiten,  4. Bereitschaft, sich an den nationalen, kulturellen, religiösen und wissenschaftlichen Unterschieden zu freuen und sie zu feiern,  5. Bereitschaft, auftauchende Konflikte und Spannungen auszuhalten und sie auf konstruktive Weise zu lösen,  6. Bereitschaft, die durch diesen Prozess in allen Beteiligten wachsende Versöhnungsfähigkeit und Seinsmacht so zu gestalten, dass sie allem Leben dient,

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 7. Bereitschaft, das durch diesen Prozess in allen Beteiligten emergierende Neue in das Projekt/Institut/Unternehmen zu integrieren« (Gyger, Brantschen u. Gamma, 2001, S. 2). Diese Dialogkriterien sind in verschiedenen Projekten im In- und Ausland erprobt worden. Sie schaffen eine Atmosphäre, in der Transformationsprozesse gefördert werden und Konkurrenzverhalten zugunsten von Kooperation und Ko-Kreation aufgegeben werden kann. Im Coaching können sie als Leitlinien dienen, Einheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit existenziell erfahrbar werden zu lassen.

Drei Ebenen des Handelns Neben dem menschlichen Potenzial und den Weisen des Seins nimmt das LassalleInstitut-Modell schlussendlich verantwortliches Handeln auf der individuellen Ebene (Mikro-), der institutionellen (Meso-) und globalen (Makro-)Ebene in den Blick. Jedes Tun, aber auch jede unterlassene Tat wirkt auf die drei Ebenen, die sich gegenseitig bedingen und durchdringen. Alle Handlungen haben Auswirkungen auf uns selbst, die unmittelbare Umgebung, aber auch auf das große Ganze. Wir tragen Ver-»Antwort«ung, das heißt, wir haben immer schon Macht zur Mitgestaltung im Kleinen wie im Großen. Es ist unsere Aufgabe, zu antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Das heißt für mich Verantwortung tragen. Wenn wir uns diesem Auftrag entziehen, dann überlassen wir unbewusst einen Teil unseres Machtbereichs anderen Menschen oder Institutionen. Und traurig genug, in den meisten Fällen sind wir unzufrieden, wie andere mit der von uns delegierten Macht umgehen. Die entscheidende Frage lautet also: Wie werden wir fähig, in diese Verantwortung hineinzuwachsen, darin zu stehen und machtvoll, dem Leben dienend, zu wirken? Wiederum unterstützt uns das Zusammenspiel von mentaler, emotionaler und spiritueller Intelligenz darin, unser Handeln unter das Primat der Liebe zum Leben zu stellen. Auf der individuellen, der Mikroebene geht es in besonderer Weise darum, verstehen zu lernen, welchen Einfluss unsere Gedanken auf unser Leben haben. So ermahnen spirituelle Lehrerinnen und Lehrer, unter anderem Maha Ghosananda: Denke nach, bevor du sprichst. Der Gedanke manifestiert sich im Wort. Das Wort manifestiert sich in der Tat. Die Tat entwickelt sich zur Gewohnheit. Die Gewohnheit gebiert das Schicksal. Darum achte ich sorgfältig auf meine Gedanken. Und lasse sie aus Liebe entstehen aus Achtung aller Lebewesen.

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Auf der Mesoebene gibt Ken Wilber (1997) einen hilfreichen Orientierungsrahmen für die Förderung der Verantwortung. Auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie des »Alles« fand er die sogenannten vier Quadranten des Kosmos (Abb. 2). Alle Theorien, die je zum Verständnis von Welt und Mensch in allen Kulturen entworfen wurden, lassen sich darin einordnen. Auf der Mesoebene wird der Mensch dann machtvoll wirken können, wenn er die Potenziale, die in den vier Quadranten angelegt sind, differenziert wahrnimmt und dafür Sorge trägt, dass die Entfaltung und Weiterentwicklung keiner dieser Fähigkeiten zu kurz kommen. Dazu gehören der entschlossene Weg nach innen und mit ihm die Weiterentwicklung der Selbstkompetenz zu innerer Autorität, Würde und Authentizität im Umgang mit Menschen und Dingen. Wer sich an diesem Modell orientiert, hört nie auf – auch über die eigene Fachdisziplin hinaus – zu lernen. Die Pflege einer Kultur der Werte ist ihm ebenso wichtig wie das Finden und Implementieren von Strukturen und Prozessen, die im Dienst des Lebens stehen (Gamma, 2008).

Abbildung 2: Vier Quadranten des Kosmos (nach Wilber, 1997, S. 103)

Und wie steht es um die Makroebene? Noch ist zu vielen Menschen die Tatsache, dass jedes Handeln globale Auswirkungen hat, suspekt. Diese Haltung zeugt davon, dass der eigene Weltinnenraum noch nicht in derselben Tiefe und Dynamik erfahren wird wie der Weltaußenraum. Die technologische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat dieses Ungleichgewicht massiv verstärkt. So sind beispielsweise Informationen über weit entfernte Ereignisse in der Jetztzeit erhältlich. Um auf solche Nachrichten eine (Ver-)Antwort(-ung) zu finden, bedarf es einer starken Verbindung von Kopf und

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Herz und für uns vorherrschend mental geprägte Europäer erst einmal eines mutigen Sprungs in die eigene Herzmitte, in den weiten Raum der bedingungslosen Liebe. Es steht an, dass wir Erde und Menschheit einen Platz in unserem Herzen geben. Dann wird die Globalisierung menschlichere Züge annehmen. Pioniere, die immer auch mutige Menschen sind, werden noch einmal Neuland forschend betreten. Sie werden sich nicht länger allein um die nationalen Vorteile kümmern, denn sie wissen aus innerer Erfahrung, dass Erde und Menschheit ein einzigartiger Organismus sind. Die eigene Identität wird dabei nicht geschwächt, ganz im Gegenteil. Denn Selbstfindung und Weltfindung sind unmittelbar miteinander verbunden (Gamma u. Gyger, 2002). Das eigene Glück und Wohlbefinden sind unmittelbar mit Freud und Leid von Erde und Menschheit verbunden. Für Teilhard de Chardin ist dieser Entwicklungsschritt geradezu ein Muss. Soll die Menschheit eine Zukunft haben, genüge es nicht mehr zu »lieben, um vollkommen zu sein. Eine gebieterische Stimme fügt hinzu: ›Liebet euch, oder ihr geht zugrunde.‹ Die ›realistischen‹ Geister mögen ruhig über die Träumer lächeln, die von einer nicht mehr durch Gewalt, sondern durch Liebe verkitteten […] Menschheit sprechen. Sie mögen ruhig leugnen, dass ein Höchstmaß an physischer Kraft mit einem Höchstmaß an Sanftmut und Güte zusammenfallen könne. Diese Skepsis und diese Kritiken werden nicht verhindern können, dass die Theorie und die Erfahrung der geistigen Energie sich einig sind, um uns zu sagen, dass wir an einen entscheidenden Punkt der menschlichen Evolution gelangt sind, wo das einzige Tor nach vorn in Richtung einer gemeinsamen Leidenschaft […] liegt« (Teilhard de Chardin, 1966, S. 207). Ein Coach, der die drei Ebenen des Handelns immer öfter in seine Wahrnehmung nimmt, ermutigt den Coachee, über den Tellerrand seiner eigenen Persönlichkeit und Geschichte, seiner Familie und seinem Arbeitsort hinauszusehen und sich auch für die globale Dimension zu öffnen. Er wächst dabei in eine neue Form der Leidenschaft hinein, die nie wirkungslos für den eigenen, »kleinen« Alltag bleibt. Er erlebt nicht selten inspirierende Parallelen zwischen den verschiedenen Handlungsebenen und findet neue Ansätze zur Lösung von Problemen, die er im Moment zu bewältigen hat.

Der Lehrgang Spirituelles Coaching Den Lehrgang »Spirituelles Coaching« haben Barbara von Meibom und ich in einem ko-kreativen Prozess gemeinsam entwickelt. Wir fanden uns im Anliegen, die Transformation, die wir selbst als Coach über den eigenen spirituellen Weg erfahren und reflektiert hatten, in einem Lehrgang für andere verfügbar zu machen. Meine Kollegin und Freundin ist wie ich von zwei großen Geistestraditionen geprägt: Sie vom Christlichen und Vedantischen (von Meibom, 2009), während ich mich in den vergangenen Jahrzehnten in der Mystik des Christentums und des Zen-Buddhismus schulte und mit den Jahren meine spirituelle Heimat fand. Bereits in der Entwicklung des Lehrgangs begann für uns eine spannende Reise. Hilfreich waren damals die oben dargestellten

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Dialogkriterien (S. 346 f.). Sie sind es heute noch in der konkreten Umsetzung der Themen in den einzelnen Modulen. Am Anfang standen die Fragen: Was heißt spirituelles Coaching? Wie unterscheidet es sich von traditionellen Angeboten? Aus unserer Sicht setzt spirituelles Coaching tiefer an als die klassische Coaching-Praxis, da die spirituelle Dimension des Menschen bewusst mit einbezogen wird. Der Entwicklungsprozess, in dem die Coachees begleitet und unterstützt werden, integriert die verschiedenen Dimensionen des Menschen, nämlich sein ganzheitliches Potenzial, seine differenzierte Weise, sich und die Welt verstehend zu erleben, und sein Handeln von der Mikro- bis zur Makroebene. Auf dem Hintergrund des Lassalle-Institut-Modells fokussiert der dreijährige Lehrgang nach Gamma und von Meibom drei Themenschwerpunkte (vgl. Tab. 1): –– Geist und Bewusstsein: Jedem Menschen stehen potenziell verschiedene Bewusstseinsstrukturen zur Verfügung. In dem Maße, wie wir sie erkennen und nutzen, wachsen Selbstbestimmung und Selbstkompetenz. –– Organisation und Kultur: Alles, was existiert, ist voneinander abhängig und in steter Veränderung begriffen. In dem wir dies wertschätzen, stärken wir nachhaltig die persönliche und unternehmerische Entwicklung. –– Zukunft und Verantwortung: Die Evolution unseres Planeten wird maßgeblich vom Menschen mitgestaltet. Indem wir Verantwortung für das Ganze übernehmen, gestalten wir die Zukunft mit und unterstützen die eigene Potenzialentwicklung (Gamma u. von Meibom, 2008, S. 5). Tabelle 1: Studienmodule des Lehrgangs am Lassalle-Institut Studienjahr

Kompaktseminar

Aufbauseminar

Aufbauseminar

Aufbauseminar

Teil I Geist und Bewusstsein

Bewusstsein entwickeln

Sinn erfahren

Raum schaffen

Wissen und Weisheit erlangen

Teil II Organisation und Kultur

Vom Leben lernen

Führungskompetenz gewinnen

Konflikte meistern

Wandel gestalten

Teil III Zukunft und Verantwortung

Frieden üben

Ohnmacht überwinden

Wertschätzung leben

Integral denken und handeln

Ziel des Lehrgangs ist erst einmal, sich des eigenen spirituellen Weges tiefer gewahr zu werden, ihn ernsthafter, verbunden mit Leichtigkeit und Freude, zu gehen. Nach und nach wachsen die Teilnehmenden in die spirituelle Autorität hinein, eine Zielsetzung, die wir in allen spirituell-mystischen Traditionen finden. Manchmal sind dazu auch die Ermutigung oder fordernde Liebe der Lehrgangleitung und Kollegen notwendig.

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Noch einmal bietet die Zen-Praxis ein hilfreiches Instrument, ein sogenanntes Upaya an, um auf diesem Weg voranzukommen. Es heißt: die drei Weisungen des Zen. Hinweise dazu finden sich bereits in alten, klassischen Zen-Texten. Es ist jedoch das Verdienst von Bernie Glassman Roshi und seiner zweiten, inzwischen verstorbenen Frau Jishu Holmes, eine auch für Coaches inspirierende Übertragung der wesentlichsten Elemente der ZenPraxis in die heutige Zeit zu schaffen (Glassman, 2001). Die drei Weisungen inspirieren zudem, Antworten auf die eingangs gestellte fragende Feststellung zu finden: »Das kann doch nicht alles gewesen sein«. Doch was bedeuten diese Weisungen und wie kann die Haltung von Not Knowing, Bearing Witness und Loving Action entwickelt werden?

Die drei Weisungen des Zen – die Haltung von Not Knowing, Bearing Witness und Loving Action Not Knowing ist eine Haltung der absoluten Offenheit allen Äußerungen des Lebens gegenüber, den Stärken wie den Schwächen, der Freude und dem Leid, dem Potenzial und den Grenzen. Es ist ein wacher, achtsamer Geisteszustand, in dem zwar wahrgenommen wird, jedoch die Funktionen des rationalen Verstandes, nämlich zu analysieren, bewerten, kategorisieren und planen, sozusagen passiv gelegt werden. Johannes Tauler, ein deutscher Mystiker, beschreibt diesen Zustand als »eine wahrnehmende Unwissenheit seiner selbst und aller Dinge« (in Döll, 2005, S. 23) in uns und um uns herum. Das Anhaften an Konzepten, Ideen, Vorstellungen und Meinungen über sich selbst, über die anderen Menschen und die Welt kann in der Schwebe gehalten oder gar losgelassen werden. Der plappernde, stetig kommentierende Alltagsgeist ist zur Ruhe gekommen. Damit öffnet sich ein Raum der schöpferischen Leere. Gelingen dem Coach diese schwebende Aufmerksamkeit und unmittelbare Präsenz, so tauchen beim Coachee nicht selten Themen auf, dürfen sich endlich zeigen, Themen, die in seinem Leben wirklich wesentlich sind. Um in die Erfahrung des Not Knowing einzutauchen, was nichts anderes heißt, als den Geist zu entleeren, bedarf es der Stille, das heißt Zeiten, in denen nichts geplant, getan oder kontrolliert werden muss. Solche Brachzeiten sind notwendig, damit sich der große Geist des Not Knowing in uns entfalten kann. Als Coach brauchen wir selbstverständlich einen Interpretationsrahmen für den Coaching-Prozess und um uns mit dem Coachee zu verständigen. Dazu eignet sich in besonderer Weise das LassalleInstitut-Modell. Ohne Deutung verlieren wir uns im Chaos. In der Haltung von Not Knowing bleibt jedoch jede Deutung vorläufig und mit einem Fragezeichen versehen. Sie verliert dadurch die begrenzende Einengung. Die Kategorien von richtig und falsch werden überwunden. Es geht insbesondere darum, neu zu lernen, sich vom Vertrauten überraschen zu lassen und sozusagen mit den unschuldigen, reinen Augen des kleinen Kindes wieder sehen und staunen zu lernen. Die Geschichte der großen Entdeckungen in Wissenschaft und Kultur zeigt, dass das Neue gefunden wird, wenn die Bereitschaft und Einsicht, nicht Recht zu haben, in den Forschenden lebendig sind. Betreten Coach

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Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung

und Coachee gemeinsam diesen Raum des nichtwissenden Wissens beginnt die Transzendenz, das wahre Wesen, die göttliche Dimension in beiden durchzuscheinen. Damit einher geht die Erfahrung der Dankbarkeit, Leichtigkeit und Freude. Sinn leuchtet auf, auch in schweren, harten Zeiten. Bernie Glassman lässt Bearing Witness mit Zeugnis ablegen übersetzen. Ich habe mich damit nie anfreunden können und übersetze lieber aus dem Englischen wortwörtlich Zeugnis tragen. Wer mutig genug ist, Zeugnis zu tragen, bewegt sich in zwei Richtungen: in die Begegnung zum Du und zum Ich. Im teilnehmenden Dasein berühren wir und lassen uns gleichzeitig berühren von Menschen, ihren Geschichten, den ausgesprochenen und unausgesprochenen. Bernie Glassman ermahnt in seinen Bearing-Witness-Retreats, nicht zu schnell in die Aktivität zu gehen. Er lädt ein, auszuhalten, in Berührung zu bleiben, und wenn wir an die Grenzen des Erträglichen stoßen, die Situation erleidend mitzutragen. Die Übung von Bearing Witness hilft dem Coach, die Falle des Ratschläge Erteilens zu umgehen. Es wird ein Raum der Selbsterkenntnis eröffnet, in dem sich der Coachee allen Aspekten seiner Persönlichkeit, auch den eigenen Schatten, in großem Vertrauen stellen kann. Der Prozess ist getragen vom Weisheitswissen, nämlich dass sich durch die seelische Berührung die Ganzheit des Coachee zeigen kann. Er oder sie wird frei loszulassen, was nicht wesentlich ist. Die Einzigartigkeit und Größe dürfen sich unmittelbar zeigen. Nicht selten ist diese Erfahrung begleitet von einer inneren Erschütterung und von Tränen des Glücks. Zum zweiten Schritt von Bearing Witness gehört die dritte Weisung Loving Action wesentlich dazu. Alle Erkenntnis, die nicht in eine liebevolle Tat mündet, ist kraftlos und hilft in der Lösung der existenziellen Fragen nicht weiter. Ich teile die Feststellung vieler spirituell Lehrenden, die sagen: Erkenntnis, die nicht in ein Handeln führt, ist bloß halbe Erkenntnis. Loving Action ist jedoch weit entfernt von »Aktionitis« und Hektik, die unsere heutige Zeit so sehr prägen und an denen viele Coachees leiden. Es ist ein Tun aus innerer Freiheit und tief verankertem Frieden. Die Schwierigkeiten des Alltags und Krisen werden in einer Haltung von Leichtigkeit gemeistert. Glücklich sein ist nicht mehr länger an die Sonnenstunden des Lebens gebunden. Glück kann auch in schweren Zeiten erfahren werden. So heißt denn auch ein geflügeltes Wort im Zen: Jeder Tag ein guter Tag (Yamada, 1989, S. 118).

Hinweis Der nachfolgende Erfahrungsbericht von Helen Lehmann, einer Absolventin des Lehrgangs und selbst Dozentin an einer Hochschule in der Zentralschweiz, beschreibt beispielhaft diesen Prozess der Selbstwerdung. Sie wird zu einer Persönlichkeit, die immer häufiger und tiefer verbunden mit der eigenen Wesensmitte lebt und arbeitet. Diese Verankerung im grundlosen Grund des eigenen Wesens befähigt sie dazu, das Beziehungsgeschehen im Coaching-Prozess und in Beratungen in der Haltung von Not Knowing und Bearing Witness begleitend mitzugestalten.

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Anna Gamma: »Das kann doch nicht alles gewesen sein!«

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Literatur Benz, A. (1998). Die Zukunft des Universums: Zufall, Chaos, Gott? (2. Aufl.). Düsseldorf: Patmos Verlag. Brantschen, N., Gyger, P. (2001). Lassalle-Institut-Modell®. Leitlinien für eine spirituell fundierte Dialog-, Beratungs- und Unternehmenskultur. Grundlagen von Lehrgängen im Lassalle-Institut. Unveröffentlichtes Manuskript. Buber, M. (1973/2001). Das dialogische Prinzip: Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Döll, E. (2005). Der Weg der Meister (2. Aufl.). Alle Rechte bei Meditationshaus St. Franziskus, Dietfurt/Altmühltal: Süddeutscher Zeitungsdienst. Dürr, H.-P. (2004). Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen. Freiburg: Herder. Fischer, B., Koch, G., Loddenkemper, H. (1992). Gehirn-Jogging: Geist und Gedächtnis erfolgreich trainieren (6. Aufl.). Oberursel: Mediteg. Gamma, A. (2008). Ruhig im Sturm. München: Kösel. Gamma, A., Eugster, J., Grünenfelder, R. (Hrsg.) (2006). Ethik 2006, Ethikbilanz in der Schweizer Politik. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung Gamma, A., Gyger, P. (2002). Selbstfindung ist Weltfindung – Weltfindung ist Selbstfindung. Perspectiva Hörbuch. Gamma, A., Meibom, B. von (2008). »Spirituelles Coaching« – Lehrgangbroschüre. Gebser, J. (1978). Ursprung und Gegenwart. (2. Aufl.). Schaffhausen: Novalis. Glassman, B. (2001). Zeugnis ablegen. Bielefeld: Theseus. Goleman, D. (1996). Emotionale Intelligenz. München: Hanser. Gyger, P., Brantschen, N., Gamma, A. (2001). Elemente einer Gesprächs-, Dialog- und Konfliktlösungskultur. Unveröffentlichtes Manuskript. Gyger, P., Brantschen, N., Saxer, M. (2003). »GEIST & Leadership®«. Begleitheft zur Ausbildung im Lassalle-Institut. Unveröffentlichtes Manuskript. Meibom, B. von (2009). Spirituelles Selbstmanagement. Bielefeld: J. Kamphausen. Teilhard de Chardin, P. (1966). Die menschliche Energie. Olten: Walter. Teilhard de Chardin, P. (1973). Les directions de l’avenir. Evolution de la chasteté. Œuvres de Teilhard de Chardin, 11. Paris: Editions du Seuil. Wilber, K. (1997). Eine kurze Geschichte des Kosmos. Frankfurt a. M.: Fischer. Yamada, K. (1989). Mumonkan. Zen-Meister Mumonkans Koan-Sammlung – Die torlose Schranke. München: Kösel. Zohar D., Marshall, I. (2000). Spirituelle Intelligenz. Bern u. a.: Scherz.

Dr. Anna Gamma ist Psychologin und Zen-Meisterin. Sie leitet das Lassalle-Institut für Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft in Edlibach (Schweiz) mit dem Schwerpunkt Zen, Ethik und Leadership. Das wichtigste Projekt des Instituts ist »Jerusalem – Offene Stadt zum Erlernen des Friedens in der Welt«. Auf der Basis des Lassalle-Institut-Modells® entwickelte sie zusammen mit Barbara von Meibom den Lehrgang »Spirituelles Coaching« und mit Dieter Wartenweiler den Lehrgang »ZEN & Profession«. Sie begleitet Unternehmen auf dem Weg zu einer ethisch getragenen Wertekultur. Den globalen Blick hat sie nicht nur durch ihre Arbeit mit Führungskräften, sondern auch aus eigener Erfahrung: Sie lehrte an einer Schule in einem Slum in Manila und leitete Internationale Peace-Camps im ehemaligen Jugoslawien. www.lassalle-institut.org

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Helen Lehmann

Spirituelles Coaching Ein Erfahrungsbericht

Wie wunderbar: draußen stehen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und das Geschaute sein, halten und gehalten werden. Meister Eckhart (zit. nach Döll, 2005, S. 290)

Im Zentrum dieses Erfahrungsberichts stehen einerseits meine spirituelle Entwicklung und andererseits die damit verbundene Erweiterung und Vertiefung meines Verständnisses von spirituellem Coaching. Das Gedicht »Wie wunderbar, draußen stehen wie drinnen« von Meister Eckhart begleitet mich seit ein paar Jahren. Ich hörte den Text und eine mögliche Auslegung ein erstes Mal in einem Zen-Sesshin im Lassalle-Haus von meiner Zen-Lehrerin Anna Gamma. Das Gedicht rührte eine Saite in mir, die bis heute schwingt und nach einem immer tieferen Verständnis, ja nach der Erfahrung dieser Gedichtzeilen ruft. In diesem Beitrag dient mir das Gedicht als Leitfaden bzw. als Leitmotiv für die Darstellung der gewählten Schwerpunkte. Es sei allerdings vorweggenommen, dass die beiden Themen, meine spirituelle Entwicklung sowie mein Verständnis von spirituellem Coaching, in einem starken Wechselbezug stehen.

Wie wunderbar In den 1960er und 1970er Jahren bin ich mit meinen Eltern, meiner Großmutter, einem landwirtschaftlichen Angestellten und vier Brüdern auf einem Bauernhof im katholischen Deutschfreiburg aufgewachsen. Spirituelle Fragen interessierten mich schon als kleines Mädchen. In unserem Alltag spielte die Religion eine prägende Rolle. Meine Mutter weckte mich mit »Der Herr sei mit dir«, vor jeder Mahlzeit hielten wir kurz inne und dankten dem Schöpfer für seine Gaben, wenn wir aus dem Haus gingen, wurden wir gesegnet mit geweihtem Wasser und der Tag schloss mit einem persönlichen Gebet. Der wöchentliche Kirchenbesuch war Gebot und in unserem Haus gingen viele Priester

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Helen Lehmann: Spirituelles Coaching. Ein Erfahrungsbericht

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und Nonnen ein und aus. Ich verdanke den kirchlichen Jugendvereinen Blauring und Jubla unzählige vielgestaltige und reiche außerschulische Erfahrungen. Ebenso war ich während langer Jahre begeistertes Mitglied eines Chores und lernte die Schönheit der Kirchenmusik kennen und schätzen. Als junge Frau gab es einen Bruch in dieser Entwicklung: Die Vertreter der katholischen Kirche verloren für mich mehr und mehr ihre Legitimität als spirituelle Leitfiguren. Die wirklich wichtigen religiösen Fragen, zentrale Sinnfragen wurden von ihnen nicht be­antwortet, ein Forum des gegenseitigen kritisch konstruktiven Austausches fehlte, ja wurde mehr und mehr verbaut. Im Jahr 1997 folgte mein Austritt aus der Kirche. Rund zehn Jahre später während meiner ersten Sesshins im Lassalle-Haus brachen Verletzungen auf. Durch die Begegnung mit neuen Formen von Gottesdiensten, mit Einblicken in eine sehr offene Bibeltextauslegung vergoss ich viele Tränen über meine durch den Katholizismus be- und verhinderte religiöse und spirituelle Entwicklung als erwachsene Frau. Für mich brauchte es den Weg über die Zen-Meditation, den Buddhismus, um mich in neuer Offenheit und Wachheit der christlichen Religion, von der ich tief geprägt bin, zuwenden zu können. Wichtig auf diesem Weg ist nebst den Begegnungen mit offenen Christinnen und Christen auch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Texten alter Mystiker wie Meister Eckhart, Johannes Tauler, Angelus Silesius und Heinrich Seuse (vgl. Döll, 2005). An die Stelle der Wut und des Ärgers über die Starrheit, ja gar die aktuelle Verstärkung konservativer und patriarchaler Züge in der katholischen Kirche treten heute mehr Toleranz und Gelassenheit. »Wie wunderbar«, dass mich meine spirituelle Suche zum Zen führte. Das Eintauchen in diese Meditationspraxis fühlt sich in verschiedenster Weise immer wieder als Heimkommen an. War es zunächst die Fremdheit und zugleich die Schlichtheit der äußeren Form eines Zen-Sesshins mit all seinen klar bestimmten Ritualen, welche mich faszinierten, verschob sich der Fokus zunehmend nach innen. Eine Woche sitzen dürfen, ist heute eine radikale Form der Selbstbegegnung. Ich brauche nur zu sitzen und möglichst präsent zu sein. Alles andere, das ist meine Hauptaufgabe, ist zu lassen bzw. loszulassen. Draußen stehen wie drinnen

Oft präsentiert sich mein Alltag in einer Missbalance zwischen inneren und äußeren Ansprüchen. Oft finde ich mich in einem Zustand, wo ich wie Sisyphus gegen viel Fremdbestimmung ankämpfe, wo ich mich im Draußen zu verlieren drohe. Yoga, Bewegung in freier Natur, gezielte Pausen, bewusstes Atmen sind wichtige Gegenpole zur alltäglichen Hektik. Die morgendliche und abendliche Meditation bringen mich oft wiederum in Kontakt mit meinem Inneren. Einen Teil meiner Faszination für die Mystikerinnen und Mystiker macht denn auch die Auflösung dieses Paradoxes aus. Sie geben uns Hinweise, wie sich »draußen stehen wie drinnen« erfahren lässt, wie sich diese Dualität auflöst. Zum ersten Mal selbst erfahren, was damit gemeint sein könnte, habe ich während des Jahreswechsels 2009/2010 in

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Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung

einem Sesshin. Kurz vor Mitternacht läuten die Glocken der Bad-Schönbrunn-Kapelle. Als diese verklingen, ertönt der große Gong vor dem Zendo. Ein Assistent des ZenLehrers treibt mit hundert lauten Schlägen das »Ochsenjahr« aus. Das Crescendo, die tanzenden Schallwellen des großen Gongs, lassen meinen ganzen Körpers erschauern. Plötzlich schwingt alles an mir mit. Das Brustbein beginnt zu vibrieren, dann der ganze Brustkorb, die Arme und Beine, der Kopf. Glück und Schmerzgefühle sind aufgehoben im Ich-bin-Klang. Anschließend und auch am nächsten Morgen schwingen der Körper und insbesondere das Herz beim Erklingen der Klangschalen ungewöhnlich stark mit. Allmählich stelle ich fest, dass ich »anders« höre. Der Klang ist nicht mehr nur außen, sondern auch innen. Wann immer eine äußere Saite in Schwingung gerät, klingt auch eine Saite in meinem Inneren mit. Begreifen und umgriffen werden

In einer ersten Annäherung lässt sich Begreifen als intellektueller bzw. rationaler Akt verstehen. Dieser Zugang ist mir sehr vertraut und vermittelt Sicherheit – ist es doch ein Gelände, in dem ich mich seit Jahrzehnten bewege und immer breiter abstützen kann. Ich kenne mich mittlerweile aus im Habitus und der Macht des Intellekts und genieße es auch, als gebildete und intelligente Frau wahrgenommen zu werden. Die Literaturliste, welche sich am Ende dieses Erfahrungsberichts befindet, ist nur ein kleiner Auszug von Schriften, mit denen ich mich im Verlauf der letzten Jahre intensiv beschäftigte. Ich habe daraus viele Erkenntnisse gezogen, habe Bestätigungen gefunden, wurde zu vielen Gesprächen angeregt und habe viele weiterführende Erfahrungen machen können. Und doch komme ich mir bei der Lektüre dieser Schriften immer wieder wie eine Sucherin nach dem Gral vor, die vergeblich nach dem geheimen Versteck der letzten Wahrheit sucht. Immer mehr erfasse ich, dass das Begreifen eben ein nichtintellektueller Vorgang ist. Vielmehr geht es um das Erfahren des Begreifens, um das Denken mit dem Herzen oder um das Herz als Zentrum der Erkenntnis (Gyger, 2006, S. 94 f.). Das Begreifen lässt sich also nicht wirklich adäquat mit den uns zur Verfügung stehenden Worten erklären und doch will das Begreifen begriffen sein. Eine zweite Annäherung an das Begreifen mache ich mit dem Ausdruck »Weisheit«. Es geht mir hier nicht um die Weisheit, wie wir sie gemeinhin definieren, sondern um die Weisheit des Nicht-Wissens, welche durch eine intensive Zen-Praxis erfahren werden kann. Anna Gamma formuliert dies folgendermaßen: »Die Übung des ›Nicht-Wissens‹ bringt uns, jenseits von Theorie und Spekulation, unmittelbar mit dem Leben selbst in Berührung und sie hilft uns, das innere Tor zur universellen Liebe und umfassenden Mitgefühl aufzustoßen« (Gamma, 2008, S. 9). Intensive Zen-Praxis kann uns also diese Form der Weisheit näher bringen. Dass dies kein Sonntagsspaziergang ist, beschreibt Lies Groening eindrücklich. Als eine der ersten Frauen der westlichen Welt lebte sie in den 1950er und 1960er Jahren in einem japanischen Kloster, wo sie die klassische Unterweisung in Zen erhielt. »Ich

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Helen Lehmann: Spirituelles Coaching. Ein Erfahrungsbericht

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hatte nicht ermessen können, was es bedeutet, über Jahre in eine Erfahrung hineingestellt zu sein, die jede Bindung, jedes Festhalten an etwas von vornherein zurückweist, einfach nicht zulässt. Wissenschaftliche Überlegungen haben im Zen gleichen Kurswert wie Glaubensinhalte, Weltanschauungen. Sie müssen zurückgestellt werden, will man ernsthaft in das Zen hineingehen. […] Wie in meiner ersten Zeit in Japan besann ich mich jetzt wieder darauf, dass ›über etwas denken‹ noch nicht ›denken‹ ist. Dass rationales, begriffliches Denken noch nicht die ganze Denkkraft beinhaltet, sondern nur ein Teildenken ist« (Groening, 1993, S. 128 f.). Die Arbeit mit Koan stellt mich immer wieder von Neuem in diese Erfahrung. Ist die Lösung zu einem Koan erfahren und im Dokusan – im Einzelgespräch – präzise und konkret aufgezeigt worden, folgt bereits das nächste. »Koan sind wohl die außergewöhnlichsten Mittel geistiger Schulung […]. Sie können mit begrifflichem Denken und rationalem Verstand nicht erfasst werden, denn das Wesentliche, der Kern jeder Geschichte, liegt im Paradox. Die Aufgabe lässt sich erst jenseits von logischen Abläufen und dualistischen Konzepten gleichsam nur durch das Loslassen der Ratio in einem beherzten, furchtlosen Sprung auf eine andere Ebene des Erkennens und Begreifens lösen« (Gamma, 2008, S. 121 f.). Was für eine Aufgabe! Groening beschreibt ihre Herangehensweise, welche mir zunehmend vertrauter wird, mit folgenden Worten: »Der Koan stand nicht mehr vor mir wie ein Berg, den ich nie ersteigen würde, der Koan war in mir, als hätte ich ihn aufgegessen und wäre nun dabei, ihn wiederzukäuen. Er war Teil meines Selbst. Ich selber war zur Aufgabe geworden« (Groening, 1993, S. 173). Wenn das beherzt gelingt, dann wird die Lösung des Koan in der Stille oder im Alltag urplötzlich erfahrbar. Der Sprung auf die Ebene des Begreifens, wie sie Meister Eckhart beschreibt, ist für einen begrenzten Moment möglich. Auch die Deutung des zweiten Teils der Gedichtzeile »begreifen und umgriffen werden« ist eine Herausforderung. So viel ich bis heute erfahren habe, hat »umgriffen werden« sehr viel mit zulassen und loslassen zu tun. Wie oben beschrieben, hat das Begreifen sehr viel mit einem beherzten Sprung auf eine andere Erkenntnisebene zu tun. Es ist ein Sprung in die Leere und bedingt den Verzicht auf Wissen und Kontrolle. Das fühlt sich im übertragenen Sinne an wie ein Sprung von einem Wohnhaus auf die aufgespannte Matte der Feuerwehr weit unten. Will und kann ich das, auch wenn mich kein Feuer dazu zwingt? Ja, ich will es immer öfter und hoffe immer mehr, aus der Illusion der Getrenntheit zu erwachen. Der mutige Sprung wird getragen vom Wissen und der Erfahrung, dass ich in einem Größeren geborgen und gehalten bin. Ich kann mich immer mehr zeigen, wie ich bin, den Panzer ablegen, Verletzlichkeit und Offenheit zulassen, weil ich mich umgriffen weiß. Meine von der westlichen Kultur geprägte Lebensart fokussiert auf die persönliche Dimension des Seins, des persönlichen Selbst. Durch meine Meditationspraxis und die Anregungen im Studiengang erfahre ich eine Erweiterung. »Unser Leben hat sowohl eine universelle als auch eine persönliche Dimension. Beide müssen respektiert werden, wenn wir frei und glücklich sein wollen« (Kornfield, 2008, S. 119). Es geht immer wieder darum zu erkennen, dass wir

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Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung

zum universellen Tanz des Lebens eingeladen sind. Die einzelnen Tanzschritte haben einen sehr persönlichen Charakter, sind aber immer eingebunden in eine Gesamtchoreografie des Ganzen, des Universums. Schauen und das Geschaute sein

In einem Teisho – einem Vortragsgespräch – beeindruckte mich der Zen-Lehrer Peter Widmer mit einer Aufzählung existenzieller, sozialer Grundbedürfnisse von uns Menschen. Sinngemäß sind dies, den eigenen Ausdruck finden, mit seinem Ausdruck gehört werden, Anerkennung erhalten, Spuren legen, für andere bedeutsam sein sowie geliebt werden. Diese Beschreibung der Grundbedürfnisse lässt sich sehr gut auf die Gedichtzeile »Schauen und das Geschaute sein« übertragen. Ich will schauen, erfahren, wahrnehmen, Zeichen setzen. Richtig entfalten kann sich dies allerdings nur, wenn ich im Austausch und Resonanz mit anderen bin. So ließe sich diese Zeile also auch rein sozialpsychologisch erklären. Da die Worte von einem Mystiker stammen, ist dies zwar eine grundlegende Bedingung des Menschseins, aber es geht auch hier um die Integration der spirituellen Dimension. Ein Versuch der Klärung geht in die folgende Richtung: Schauen ist einerseits der Blick nach außen auf das Tun anderer, auf das Geschehen in der Welt und mein Spurenlegen darin. Andererseits ist es das Wissen darum, dass ich mit meinem Sein, mit meinem Wirken und Tun auch geschaut und erkannt werde. Diese Anerkennung ist immer da, unabhängig von der erbrachten Leistung und der tiefen Sehnsucht, gesehen zu werden. Geschaut sein heißt dann, erkannt zu werden, Resonanz zu erfahren, in Schwingung zu sein mit dem Ganzen. Bis anhin habe ich viel Kraft, Elan und Willen darauf verwendet, in einem sozialpsychologischen Sinn zu schauen und geschaut zu werden, und habe dabei viele erfolgreiche Strategien entwickelt und angewendet. Im »Schauen und das Geschaute sein« auf einer spirituellen Ebene stehe ich immer wieder am Anfang und halte mich dabei an die Weisung von Shunryu Suzuki: Zen-Geist ist Anfänger-Geist (Suzuki, 2009). Er hebt damit die Klarheit und Einfachheit der Zen-Übung hervor. Es geht nicht um die Kenntnis neuer Konzepte und Theorien, sondern um das sich immer wieder neue und konsequente Zuwenden zum gegenwärtigen Augenblick: Ich atme, ich bin wach, jetzt. Für mich noch pointierter bringt dies ein weiterer Mystiker, Johannes Tauler, auf den Punkt: »Fleißige Übung macht zuletzt wesentlich. Man soll niedersinken in den allertiefsten Grund. In dem Grund entsinke in dein Nichts« (zit. nach Döll, 2005, S. 264). Eine sehr klare Anweisung, aber so unendlich anspruchsvoll in der Umsetzung. Halten und gehalten werden

Mit der letzten Gedichtzeile »halten und gehalten werden« assoziiere ich die Fähigkeit zur Autonomie und zur Bindung. Inwiefern gelingt es mir zu vertrauen und mich ganz auf Situationen und andere Menschen einzulassen? Wie in der Auslegung der vorangehenden Zeilen lässt sich auch diese psychologisch und spirituell deuten. So gelten denn auch hier viele Elemente, die bereits erwähnt wurden. Wenn ich den spirituellen Faden

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Helen Lehmann: Spirituelles Coaching. Ein Erfahrungsbericht

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weiterspinne, kann dies Folgendes bedeuten: Menschen können wirklich vertrauen und Vertrauen schenken und somit halten, wenn sie die Gewissheit haben, dass sie zutiefst auch gehalten sind in einem größeren, umfassenden, göttlichen bzw. spirituellen Sinn. Es geht also einmal um das Erlernen des Haltens bezogen auf sich selber. Wie wird ein Mensch autonom? Wie kann er sich in der eigenen Gesellschaft wohl fühlen? Wie gelingt es ihm, mit sich allein zu sein, ohne sich dabei einsam zu fühlen? Findet er Zugang zu seiner inneren Quelle und kann er daraus autonom Kraft schöpfen? Natürlich ist dies ein nie abgeschlossener Prozess. Aber wenn diese Entwicklung stattfindet, werden wirkliche Begegnungen mit anderen Menschen möglich. Ihre Einzigartigkeit und Verschiedenheit werden wertgeschätzt und wahrgenommen. Fremdheit wird ausgehalten und ist keine Bedrohung mehr. Auf der spirituellen Ebene spiegelt sich dasselbe Muster. Vertraue ich letztlich darauf, dass ich gehalten werde, obwohl diese Gewissheit nur erfahrbar, jedoch nicht wirklich mitteilbar ist? Ab und zu stellt sie sich im Alltag oder in der Meditation ein, um kurz darauf wieder zu ent­wischen, und das will ausgehalten sein. Wesentlich werden

Die bisherige Darstellung zur spirituellen Entwicklung lässt sich auch folgendermaßen beschreiben. Peter Bieri alias Pascal Mercier wirft in seinem Roman »Nachtzug nach Lissabon« folgende Frage auf: »Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht dann mit dem Rest?« (Mercier, 2004, S. 29). Die Antwort darauf hat mich lange umgetrieben. Ja, und was ist, wenn gerade in diesem Rest mein wesentliches Potenzial steckte und ich grade dieses nicht lebte? Wäre es dann ein »verpasstes« Leben? Durch meine spirituelle Praxis hat sich mein Zugang zu Bieris Frage verändert. Es ist mir klar, dass wir nur einen kleinen Teil von all dem leben können, was in uns angelegt ist. Mit der Einbettung in ein Ganzes, ein Größeres, mit dem Wissen um die Verbundenheit mit anderen verliert sich allerdings der Druck, das ganze Potenzial innerhalb eines Lebens realisieren zu müssen. Mit der regelmäßigen Zuwendung zur eigenen inneren Quelle in der Stille zeigt sich das gegenwärtig Wichtige und Wesentliche. Anspruchsvoll ist und bleibt die konkrete Umsetzung im oft unspektakulären Alltag. Es ist klar, dass ein solcher Prozess nicht linear verläuft. Roberto Assagioli hat ein hilfreiches und aussagekräftiges Orientierungsmodell zur spirituellen Entwicklung und damit verbundener Krisen entworfen (Assagioli, 2004, S. 77–101).

Coaching und Spiritualität Nach diesem ausführlichen Blick auf die spirituelle Entwicklung schlage ich nun den Bogen zu meinem Verständnis von spirituellem Coaching. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, gibt es zwischen diesen beiden Themen eine starke Wechselwirkung. Was ich in der Gedichtauslegung bezüglich meiner spirituellen Entwicklung gesagt habe, wirkt sich auch auf mein Coaching und Beratungsverständnis aus.

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Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung

Wo ich her komme

Meine Beratungen und Coachings stützten und stützen sich einerseits stark auf die humanistischen Ansätze der Gesprächs- und Familienpsychotherapie, welche maßgebend von Carl Rogers, Ruth Cohn und Virgina Satir geprägt worden sind (vgl. Rogers, 1997; Cohn, 1988; Satir, 2004). Andererseits inspirierte mich die systemisch-konstruktivistische Denkhaltung, wie diese beispielsweise von Sonja Radatz (2000) beschrieben wird. Dieser Ansatz geht davon aus, dass ich als Coach vor allem eine Unterstützungsfunktion anbiete, damit die Coachees eigenverantwortlich die Lösung zu ihren Problemen im privaten oder beruflichen Umfeld finden und Möglichkeiten entwickeln, wie sie diese auch umsetzen können. Bezogen auf die Haltung bedeutet dies in Anlehnung an Radatz Folgendes: Als Coach vermittle ich gegenüber Coachees und deren Situation Wertschätzung, höre ich gut zu, moderiere ich den Prozess, halte ich meine eigene Meinung zurück und vermeide Ratschläge, stelle ich kreative Fragen und behalte ich komplexe Zusammenhänge im Kopf oder auf dem Papier (Radatz, 2000, S. 109–112). Beide Denkrichtungen und damit verbundene Haltungen sind mir vor dem Hintergrund meines Wissens zu Lern-, Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorien sehr vertraut und ich habe damit in meinen Beratungen und Coachings sehr viele gute Erfahrungen gemacht. Trotzdem würde ich mich weder als »Rogerianerin« noch als systemischen Coach bezeichnen, weil mir beide Grundrichtungen zwar sehr lieb, jedoch in der konsequenten Anwendung zu einseitig und zu einengend wären. Nebst dem gezielten Einsatz von Methoden verließ und verlasse ich mich nie nur auf den Kopf, sondern ich schwinge mich mit dem Herz auf das Gegenüber ein und versuche auch sehr wach zu sein bezüglich meiner Intuition. Mich interessieren integrale Ansätze, welche unterschiedliche Zugangsweisen miteinander in Beziehung setzen und von da aus neue Formen der Synthese und der Ko-Kreation suchen und ermöglichen (vgl. Wilber, 2007). Wo ich hin gehe

Seit ich den Lehrgang »Spirituelles Coaching« besuche, haben sich meine Coachings und Beratungen bezüglich meines Methodenrepertoires nicht wesentlich verändert. Was sich aber für mich spürbar verändert hat, ist meine innere Haltung dazu. Ich vertraue mir, der Situation und dem Coachee mehr. Es ist eine Sicherheit in mir entstanden, dass sich die Dinge in der Regel in die »richtige« Richtung entwickeln, wenn ich im Coaching-Prozess wach und präsent bin. Ich fühle mich weniger gestresst, ob ich nun die richtigen Schritte aufeinanderfolgen lasse, ob ich adäquat moderiere, die passenden Impulse gebe. Kurz, ich vertraue darauf, dass es wird und dass ich im entscheidenden Moment weiß, was es braucht oder eben auch nicht braucht. Sicher spielt dabei das Konzept des Nicht-Wissens eine zentrale Rolle. Was so leicht formuliert daherkommt, verlangt in der konkreten Umsetzung eine ungeheure Präsenz und Wachheit, die mir selten gelingt. Und doch versuche ich mich im Kleinen, im Alltag, im Alltäglichen immer wieder daran zu erinnern. Der Anfang am Morgen gelingt oft; das Sitzen in der Stille ist zur lieben Gewohnheit geworden.

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Helen Lehmann: Spirituelles Coaching. Ein Erfahrungsbericht

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Und genau das tue ich auch mehr und mehr vor meinen Coachings. Meine Vorbereitung besteht neu also auch darin, dass ich vorher Momente der Stille einplane und dann möglichst in der Haltung der Nicht-bereits-Wissenden bleibe und im Coaching schaue, was ist und an welchem Thema gearbeitet werden soll und wie und wohin sich der Prozess entwickelt. Als Gesamtrahmung ist für mich das Lassalle-Institut-Modell® (LIM) wichtig und lieb geworden, welches von Anna Gamma im vorangehenden Beitrag beschrieben wird. Seit den letzten Seminarbesuchen nehme ich eine weitere Weitung meines Verständnisses wahr. Habe ich mich bis dahin als »weltlichen Coach« verstanden, welcher sich durch seine spirituelle Praxis im Privaten verankert, spüre ich mehr und mehr, dass dieses Bild nicht mehr ganz zu mir passt. Einen ersten Versuch, diese Erweiterung auszudrücken, stellt die bei einem Seminarabschluss formulierte Deklaration dar: »In deinem Namen bin ich ein spiritueller Coach.« Erst jetzt scheine ich im Coaching – zumindest intellektuell – dort angekommen zu sein, was Barbara von Meibom als den Startpunkt einer solchen Entwicklung bezeichnet: »Die höchste Wahrheit einmal gedanklich anzunehmen, dass ich das Höhere Selbst, Gott, Universales Bewusstsein bin, ist der Startpunkt des Spirituellen Selbstmanagements. Es ist der Start, weil diese Wahrheit noch nicht erfahren ist. Sie zu erfahren ist das Ziel des Spirituellen Selbstmanagements« (von Meibom, 2009, S. 122). Mit der Annahme und dem Öffentlichmachen dieser höchsten Wahrheit tue ich mich trotz konkreter Erfahrungen schwer. Ein Grund dafür ist sicher die Angst vor der eigenen Mächtigkeit und der damit verbundenen Verantwortung. Sehr treffend drückt dies Marianne Williamson aus: »Unsere größte Angst ist nicht, unzulänglich zu sein. Unsere größte Angst ist, grenzenlos mächtig zu sein. Unser Licht, nicht unsere Dunkelheit ängstigen uns am meisten« (zit. nach Meibom, 2009, S. 229). Eine meiner aktuellen Aufgaben ist es denn auch, mich mit dieser Angst auseinanderzusetzen. Ich suche in meinem professionellen und privaten Alltag immer wieder Übungsfelder, wo ich in die eigene Macht hinein stehe, den Raum und den Rahmen gestalte und mich selber ermächtige, mächtig zu sein. Ich versuche dabei gezielt(er), die Angst vor der eigenen Größe zu verlieren und mich weniger hinter Unsicherheit oder vorgeschobener Unzulänglichkeit zu verstecken, sondern ich versuche die Person zu sein, die ich bin, in der von Pia Gyger formulierten Gewissheit, welche sie in einem Seminar in Jerusalem mit uns teilte: »Die neue Macht wird geboren in der Stille des Herzens vor allem Tun.« Ein weiterer Schritt wird sein, meine Coachees explizit(er) auch in ihrer spirituellen Entwicklung zu begleiten, wenn dies von ihnen gewünscht wird oder in entsprechenden Situationen angezeigt ist. Eine große Hilfe für diese Form der Begleitung sind der in diesem Beitrag aufgezeigte persönliche Reifungsprozess und die damit verbundene Be­wusstwerdung. Im Zentrum dieses Erfahrungsberichts steht ein Eckhart-Gedicht, welches tief in mir innen eine Saite anrührt, die stets schwingt und nach einem immer tieferen Verständnis und entsprechenden Erfahrungen ruft. Dieses Gedicht ist für mich Wegwei-

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ser meiner spirituellen Entwicklung geworden und es stellt eine wichtige Rahmung in meinem Alltag und meinem Wirken in Coachings dar. Der Text enthält für mich ein lebenslanges Entwicklungsprogramm, das in unzähligen kleinen Schritten verstanden, erfahren und umgesetzt werden will. Viele Anregungen, wie diese Haltung im Alltag immer wieder von Neuem eingeübt werden kann, habe ich aus einer Publikation von Philipp Kapleau (1997) mit dem Titel »Der vierte Pfeiler des Zen. Der Weg, das Wunderbare im Alltäglichen zu entdecken.«

Literatur Assagioli R. (2004). Handbuch der Psychosynthese. Grundlagen. Methoden und Techniken (4. Aufl.). Zürich: Nawo. Cohn, R. (1988). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion (8. Aufl.). Stuttgart: KlettCotta. Döll, E. (2005). Der Weg der Meister (2. Aufl.). Alle Rechte bei Meditationshaus St. Fanziskus, Dietfurt/ Altmühltal: Süddeutscher Zeitungsdienst. Gamma, A. (2008). Ruhig im Sturm. Zen-Weisheiten für Menschen, die Verantwortung tragen. München: Kösel. Groening, L. (1993). Die lautlose Stimme der einen Hand. Zen-Erfahrungen in e­inem japanischen Kloster. Düsseldorf, Wien: Econ. Gyger, P. (2006). Hört die Stimme des Herzens. Werdet Priesterinnen und Priester der kosmischen Wandlung. München: Kösel. Kapleau, P. (1992). Die drei Pfeiler des Zen. Lehre – Übung – Erleuchtung (9. Aufl.). Bern u. a.: Otto Wilhelm Barth. Kapleau, P. (1997). Der vierte Pfeiler des Zen. Der Weg, das Wunderbare im Alltäglichen zu entdecken. Bern, München, Wien: Otto Wilhelm Barth. Kornfield, J. (2008). Das weise Herz. Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie. (2. Aufl.). München: Arkana. Meibom B. von (2009). Spirituelles Selbstmanagement. Ein Weg zur Versöh­nung von Macht und Liebe. Bielefeld: Kamphausen. Mercier, P. (2004). Nachtzug nach Lissabon. München, Wien: Carl Hanser. Radatz, S. (2000). Beratung ohne Ratschlag. Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen. Wien: Verlag Systemisches Management. Rogers, C. (1997). Die nicht-direktive Beratung. Frankfurt a. M.: Fischer. Satir, V. (2004). Kommunikation. Selbstwert. Kongruenz. Konzepte und Perspektiven familientherapeutischer Praxis. Paderborn: Junfermann Suzuki, S. (2009). Zen-Geist, Anfänger-Geist: Unterweisungen in Zen-Meditation. Freiburg u. a.: Herder. Wilber, K. (2007). Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt. München: Kösel.

Dr. Helen Lehmann, Erziehungswissenschaftlerin, arbeitet als Studienleiterin, Dozentin, Coach und Beraterin an Pädagogischen Hochschulen in der Aus- und Weiterbildung von Lehr- und Führungspersonen. Ihre Schwerpunkte sind Erwachsenen- und Berufsbildung, Führung, Gender, Kommunikation.

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Barbara von Meibom

Spirituelles Selbstmanagement Eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Albert Einstein

Grundlegender Wandel – individuell, organisatorisch, kollektiv Wandel geschieht immer. Grundlegender Wandel geschieht selten. Doch er ist notwendig. Heute mehr denn je. Wir sind individuell und kollektiv an die Grenzen unseres Modells von Wirtschaft und Gesellschaft, von uns selbst, von unseren Werten des immer schneller, höher, weiter und von der Art unseres Zusammenlebens gekommen. Soll tiefgreifender Wandel geschehen, dann sind wir gefordert, jede und jeder am eigenen Platz. Das wirft die Frage des Selbstmanagements auf. Doch welche Art von Selbstmanagement ist damit gemeint? »Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.« Diese Aussage von Albert Einstein verweist auf die Notwendigkeit eines Selbstmanagements, das eines nicht sein kann und darf: die mentale und emotionale Anpassung an Vorfindlichkeiten und Gegebenheiten, die unsere Probleme hervorgerufen haben. Genau dies hat aber Jahrzehnte lang die Konzepte des Selbstmanagements, wie sie in der Wirtschaft verfolgt wurden, geprägt. Es ging und geht dort darum, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu den Eins-a-Arbeitskräften zu machen, die für den raschen professionellen Erfolg gesucht werden: anpassungsfähig, flexibel, sozial kompetent, vielseitig verwendbar, kritik- und konfliktfähig, verbindlich und kommunikativ und vor allem loyal gegenüber den institutionellen Vorgaben und Interessen. Dagegen ist nichts zu sagen. Doch es ist nicht genug. Es hilft nicht aus der Misere heraus, in die wir uns hineinmanövriert haben. Auf der Mikroebene nehmen derzeit Angst und Unsicherheit, Burnout und Sinnkrisen dramatisch zu. Der »selbstgemanagte« Mensch scheint sich zunehmend den an ihn gestellten Anforderungen zu verweigern. Kein Wunder, denn wir Menschen sind mehr als nur eine »Human Ressource«, eine Arbeitskraft. Wir sind geistige Wesen auf der Suche nach Lebenssinn und Lebenserfüllung. Und wir sind ausgestattet mit der Fähigkeit, humane Zukünfte zu gestalten. Wo

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hingegen Anpassungsdruck und Anpassungsstrategien überwiegen, werden unsere kostbarsten Möglichkeiten vernachlässigt oder sogar unterbunden. Kreativität, Freude im Tun, Gelassenheit, Work-Life-Balance und Leistungsfähigkeit finden ihr Fundament in Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Und diese wiederum sind eine Frucht nicht von Anpassung, sondern von der Suche nach Sinn, dem Klären der eigenen Werte, von Erfahrungen im Umgang mit widrigen Situationen und von der Bereitschaft, mutig Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Auch auf der Mesoebene – in unseren Institutionen, Organisationen, Unternehmen – sind Anpassungsstrategien wenig hilfreich, um in einer Zeit extremer Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit grundlegende Notwendigkeiten der Transformation zu erkennen, wahrzunehmen und neue Antworten zu finden. Unsicherheit und Unwägbarkeiten fordern einen wachen Geist, unvoreingenommenes Beobachten, Entlernen von überholten Konzepten, Antworten aus einer Haltung des »not knowing« heraus und die Fähigkeit, aus einer inneren Verantwortung heraus neue Wege in die Zukunft zu ebnen. Last, but not least – die Makro- oder kollektive Ebene: Einsteins Eingangszitat hat hierzu alles gesagt. Was wir heute brauchen, sind nicht Anpassungsstrategien, sondern die Fähigkeit, alte Konzepte loszulassen, neu hinzuschauen und uns mutig den drängenden Wahrheiten über uns, über die Art unseres Zusammenlebens und den Zustand unseres Planeten zu stellen.

Was im Leben von Menschen und Organisationen wirklich zählt Es braucht also mehr in Training, Coaching und Weiterbildung bzw. generell in unseren Konzepten der Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung. Die herausfordernde Frage ist, was denn im Leben von Menschen und Organisationen wirklich zählt (vgl. Mettler-von Meibom, 2007, S. 60 ff.). Die nachfolgenden Stichworte und Erläuterungen liefern dazu erste Antworten: Sinn ist das orientierende und formgebende Prinzip für Menschen und Organisationen. Sinn gibt Ausrichtung, Gewissheit und Vertrauen auf der Basis von Werten. Wo Menschen sich im privaten oder beruflichen Alltag in ihrem Tun als sinnhaft erleben, verlieren Widrigkeiten ihre Schärfe; Gelassenheit stellt sich ein. Wo Menschen gemeinsamen Sinn konstituieren, kann sich eine ungeheure Entwicklungsdynamik entfalten, sofern die Energien auf ein gemeinsames Ziel fokussiert werden. Verantwortung ist die Antwort auf persönliche und organisatorische Herausforderungen. Verantwortung braucht Willenskraft. Sie überwindet Opferhaltung ebenso wie Allmachtswahn. Durch (Self-)Empowerment und (Selbst-)Management lernen Menschen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Gelebte Verantwortung, die mit Wertschätzung einhergeht, verleiht Menschen Vorbildcharakter – im Privaten ebenso wie in Organisationen oder in der Gesellschaft. Potenzialentwicklung. Menschen, Organisationen und lebendige Systeme verfügen über genuine Potenziale, die auf Entfaltung dringen. Äußere Umstände und innere

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­ lockaden stehen dem entgegen. Im individuellen Life-Management (Stephen Covey) B ebenso wie in der Führung von Organisationen und Menschen geht es darum, Potenziale wertzuschätzen und ihre Entfaltung zu unterstützen. Während problem- und defizitorientierte Strategien das vorhandene Kraftpotenzial mindern und Selbstverteidigung aktivieren, sind ressourcen- und lösungsorientierte Strategien eine Quelle der Inspiration, die den Prozess der Potenzialentwicklung und der Emergenz von Neuem fördert. Balance. Leben organisiert sich in Balancen. Wo einzelne Kräfte überhandnehmen, geraten Menschen, Organisationen, Unternehmen, Systeme in gefährliche Ungleichgewichte. Die richtigen Balancen herzustellen, ist eine genuine Aufgabe der Selbstführung und der Führung von anderen. Sie harmonisiert unterschiedliche Persönlichkeitsanteile/Lebensbereiche bzw. Anliegen/Strategiefelder. Wo Balancen beachtet werden, kommt es zu Not-wendenden Kurskorrekturen und zu nachhaltigem Wachstum aus der Mitte heraus. Wertschätzung – ein Aspekt der Liebeskraft – ist eine Haltung des Herzens, die sich in Einstellung, Führungsstil, Kommunikation, Verhalten und Strukturen niederschlägt. Entwickelte Wertschätzung richtet sich auf die eigene Person, auf die Person des anderen sowie auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen. In Organisationen haben Führungskräfte eine besondere Verantwortung dafür, dass sich eine Kultur der Wertschätzung etabliert, die die Grundlage für nachhaltigen Erfolg legt; in Familien sind es die Eltern und in der globalisierten (Welt-)Gesellschaft tragen alle Akteure gemeinsam die Verantwortung dafür, dass wir kollektiv zu einem nachhaltigen Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen gelangen. Furchtlosigkeit. Entwicklung jeglicher Art geschieht in einem Feld von Widerständen. Je herausragender die Ziele sind, umso mehr Furchtlosigkeit ist gefordert. Dies gilt in der Selbstführung ebenso wie in der Führung von anderen. Furchtlosigkeit ist gegründet in tief verankerten Werten und zeigt sich in dem Mut, für diese Werte im Denken, Fühlen und Handeln einzustehen. Herausragende Persönlichkeiten zeigen, dass Furchtlosigkeit eine wichtige Voraussetzung für Erfolg ist. Eingebundenheit. Menschen haben ein tiefgreifendes Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Zugehörigkeit. Der Mensch wird am Du zum Ich (Buber). Familie, Freundschaft, Partnerschaft sind die Formen, in denen Menschen Eingebundenheit suchen und leben. Das Bedürfnis nach Eingebundenheit beschränkt sich nicht auf den privaten Alltag. Ein Unternehmen, welches Work-Life-Balance und Zugehörigkeit unterstützt, schwächt Entfremdungstendenzen moderner Wirtschaftsprozesse ab und schafft hohe Identifikation mit dem Unternehmen. Damit legt es Grundlagen für Gesundheit, Erfolg und Nachhaltigkeit. Selbstvertrauen ist der Schlüssel zum Erfolg. Wo zu wenig Selbstvertrauen existiert, bleiben eigene Potenziale und Gestaltungsmöglichkeiten ungenutzt. Wo ein übersteigertes Selbstvertrauen vorherrscht, ist die Entwertung anderer die unausweichliche Folge. In der höchsten Stufe des Selbstvertrauens gehen Selbstvertrauen und Demut Hand in Hand. Dann richtet sich das Vertrauen nicht mehr auf das individuelle Ich/

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Ego, sondern auf das umfassende Selbst/Gott als der innewohnenden Kraft. In diesem Grund-legenden Selbstvertrauen wird der Weg frei zu dem Bewusstsein, dass wir alle eins sind und unser (Über-)Leben ein gemeinsames Anliegen ist. Gesundheit ist die Grundlage vitaler Kreativität und Gestaltungskraft. Körperlich wird sie durch die sogenannte Herzkohärenz (Childre u. Howard, 2000) unterstützt. Das Herz ist nicht nur ein Organ, sondern auch Sitz seelisch-geistiger Impulse. Es weist unbeirrbar die Richtung, da es verbunden ist mit dem Allwissen. Herzkohärenz tritt ein, wenn Herz, Verstand und Handeln kohärent sind. Dann schlägt das Herz als wichtigster Rhythmusgeber im Körper im Einklang mit den anderen Körperrhythmen. Solcher Einklang ist Ausdruck von Sinn stiftendem Tun und unterstützt die Exzellenz von Menschen und im übertragenen Sinn von Organisationen. Aufrichtigkeit ist die Grundlage gelingender Beziehung. Sie schafft Vertrauen und Verhaltenssicherheit. Aufrichtigkeit, das Gegenteil von »Politisieren«, verträgt sich nicht mit übler Nachrede oder Mobbing. Aufrichtigkeit entzieht Frustration, innerer Kündigung und Blockaden den Boden und unterstützt in Beziehungen und Organisationen ein Klima der Wertschätzung. Dialog ist die wesentliche Grundlage verständigungsorientierter Kommunikation. Im Dialog werden die eigenen Sichtweisen um die des anderen bereichert und gemeinsam neuer Sinn konstituiert, in dem die Unterschiede aufgehoben/enthalten sind. Dialogische Kommunikation verlangt eine Haltung des Lernens und radikalen Respekt. Wer sie erlernt, unterstützt Vertrauen, belastungsfähige Teambildung, eine wertschätzende Unternehmens- und Kommunikationskultur sowie weise Entscheidungen auf der Basis einer Harmonisierung unterschiedlicher Anliegen. Frieden im Innern stellt sich her, wenn Gedanke, Wort und Tat übereinstimmen. Frieden im Außen entsteht, wenn die eigenen Interessen, die Interessen von anderen sowie übergeordnete Lebens-Notwendigkeiten zu einem Ausgleich gebracht werden. Selbstwertschätzung, Wertschätzung von anderen, dialogische Kommunikation und die gemeinsame Suche nach Win-win-Lösungen sind entscheidende Stützen auf dem Weg.

Das Feld des Zukünftigen und die Öffnung zur eigenen Tiefe Wenn das, was wirklich im Leben von Menschen und Organisationen zählt, wirkmächtig werden soll, dann ist kein Selbstmanagement gefragt, das dem schönen Schein eines funktionstüchtigen Rädchens im Getriebe, beruflich wie privat, Vorschub leistet. Dann geht es darum, dass Menschen einen Weg finden zur eigenen Tiefe, zu den grundlegendsten eigenen Werten und zu dem, was ihrem Leben wirklich Sinn gibt. Unter Sinn verstehen wir heute viel: materielle Sicherheit und Wohlstand, Macht und Einfluss, Freiheit von äußeren Zwängen; Schönheit und Attraktivität. Spirituelle Traditionen aller Richtungen lehren uns, dass solche Sinnsuche nicht zum inneren Frieden führen kann. Innerer Frieden stellt sich dann ein, wenn wir einen Weg finden, unserem Herzen zuzuhören und in Übereinstimmung mit dem Herzen zu leben.

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Was ist das Herz? Das spirituelle Herz ist die Instanz in uns, die Zugang zum umfassenden Bewusstsein und zur umfassenden Liebeskraft hat. Es vermag alle Widersprüche und Ungereimtheiten harmonisieren, da es grundsätzlich integrierend und nicht trennend ist. Die Forscher vom Heart Math Institut28 (Childre u. Howard, 2000) haben in beeindruckender Weise deutlich gemacht, wie untrüglich das Herz in uns wirkt, wie wenig es zu betrügen ist und wie sehr die Beachtung seiner Botschaften unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit befördern. Die spirituelle Forderung nach dem Zusammenwirken von Heart, Head, Hands findet hier ihre moderne wissenschaftliche Begründung ebenso wie die spirituelle Aufforderung, die Einheit von Gedanke, Wort und Tat zu leben. In Zeiten kollektiver Unsicherheiten und eines wissenschaftlich-technologischen Projekts, das diese Unsicherheiten entscheidend mit verursacht hat und mit immer neuen Mitteln bekämpft und zugleich verschärft, hat das Herz noch eine ganz andere richtungweisende Kraft. Da wir nicht wissen, was die Zukunft bringt, da wir jedoch wissen, dass sich etwas ändern muss, wenn wir kollektiv überleben wollen, braucht es eine Instanz, die Zugang hat zu dem Quantenfeld des Bewusstseins, dem Feld der unbegrenzten schöpferischen Intelligenz. Diese Instanz ist nicht unser begrenzter Verstand, sondern unser spirituelles Herz. Dies zeigen auch die bewegenden und beeindruckenden Forschungen von Peter Senge, Otto Scharmer, Joseph Jaworski und Betty Sue Flowers (2004) zum Thema »Presence«. Dieses herausragende Forscher- und Praktikerteam zum Thema »Lernende Organisationen« hat rund 150 Top-Exekutives aus dem Businessbereich befragt, wann und wie das Feld des Zukünftigen in einer unsicheren und von Gefahren bedrohten Welt sichtbar wird. Das mehr oder weniger durchgängige Ergebnis: Das Feld des Zukünftigen kennen wir nicht und können es auch nicht vorherbestimmen; es will jedoch emergieren. Um Zugang zu ihm zu gewinnen, müssen wir lernen, die bisherigen Konzepte und Wahrnehmungen zurückzustellen und unsere Aufmerksamkeit neu auszurichten. Worauf sich die Hoffnung dann richtet, ist, dass es zum Presence kommt. Was damit gemeint ist, benennt Otto Scharmer mit den Worten: »To me, presencing is about ›pre-sensing‹ and bringing into presence – and into present – your highest future potential« (Senge et al., 2004, S. 220). Doch die Fähigkeit hierzu verlangt eine Herzöffnung (S. 53 ff.): »›Retreat and reflect‹ – allow inner knowing to emerge« (S. 88). Der Zugang zum Feld des Zukünftigen, den wir heute brauchen, führt also über die Herzöffnung. In der Theorie U (Senge et al., 2004, S. 83 ff.) ist dies der tiefste Punkt, der Punkt, auf dem ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen auf der Herzebene ankommt, mit dem Herzen sieht, hört, wahrnimmt und von diesem Punkt aus weiß und spürt, was in der Gegenwart das Not-Wendende ist bzw. was entstehen will. Am untersten Punkt des U anzukommen, an dem die Vision für das Neue sichtbar wird, heißt auf der individuellen Ebene in der eigenen Tiefe ankommen. Hier öffnet sich 28 Vgl. www.heartmath.org; www.heartmath.com

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zugleich der Zugang zum Höchsten, zum universalen Bewusstsein, das in Übereinstimmung mit den Notwendigkeiten des Lebens steht. Verblüffend an den Forschungen des Teams ist, dass vielen der Befragten dieser Zusammenhang bewusst ist. In vielfältigen Schattierungen berichten diese Menschen, die Verantwortung für große Unternehmen und große Menschengruppen tragen, welche Kraft und Dynamik freigesetzt werden, wenn Herzöffnung geschieht, wenn eine lebensgerechte Vision des Zukünftigen aufscheint und wenn die Bündelung der Energien (»crystallized intention«) und Synchronizitäten helfen, die Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

Spirituelles Selbstmanagement: Der Weg zur eigenen Tiefe Der Weg der Herzöffnung ist nicht einfach. Wir brauchen dazu Selbstvertrauen, Selbstverantwortung und Selbstbewusstsein. Wo diese fehlen, verfangen Strategien der Selbstbehauptung oder Selbstverteidigung, bauen eine Mauer um das Herz, um uns zu schützen, und reagieren aus allem – Angst, Furcht, Selbstüberschätzung, Überheblichkeit, Stolz, Abwehr –, nur nicht aus der Weisheit des Herzens. Dahinter stehen Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen, die nicht erfüllt werden und auf die wir mit Abwehrstrategien oder aggressiven Verhaltensweisen reagieren, getrieben von belastenden Gefühlen wie Ärger, Zorn, Hass, Neid, Eifersucht, Gier. Sie alle sind nur möglich, wenn das Herz sich schließt. Das Herz hingegen ist grundsätzlich einbeziehend und entgrenzend (Mettler-von Meibom, 2000). Solche Gefühle hindern uns daran, uns mit uns selbst und anderen wohl zu fühlen, partnerschaftlich miteinander umzugehen und den gemeinsamen Boden zu erkunden und zu bereiten, auf dem wir stehen. Eine Bahnung zur eigenen Tiefe hin, wie wir sie in der Weiterbildung zum Spirituellen Selbstmanagement vornehmen, erfolgt in sieben Schritten (von Meibom, 2009).29 Tabelle 1: Sieben Schritte im Spirituellen Selbstmanagement Modul 1: Einführung: »Werde, was du bist« (Ferruci)

Modul 2: Vom Ballast befreien, reinigen auf allen Ebenen

Modul 3: Gedanken transformieren; mentale Modelle erkennen, loslassen, verwandeln

Modul 4: Sich der inneren Führung öffnen; Vertrauen und Intuition zulassen

Modul 5: Einheit in Vielfalt; vom Konflikt zur Kooperation

Modul 6: Ruhe in der Bewegung: von Rhythmen und Balancen

Modul 7: Sich und andere führen; die eigenen Gaben in die Welt bringen

29 Vgl. www.communio-fuehrungskunst.de/de/termine/weiterbildungen/spirituelles_selbstmanagement.php

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Barbara von Meibom: Spirituelles Selbstmanagement

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Im ersten Modul geht es um das grundlegende spirituelle Menschenbild, das der Weiterbildung zugrunde liegt. Wir sind geistige Wesen in einem Körper. Wir sind Ausdruck Gottes, haben Zugang zum universalen Bewusstsein, sind mit einem freien Willen ausgestattet und können unserem Leben einen Sinn in Übereinstimmung mit unserer Existenz geben. »Finde, was dein Herz zum Singen bringt!« – in dieser Aufforderung Piero Ferrucis deuten sich Haltung und Lebensaufgabe an, um die herum sich Spirituelles Selbstmanagement konstituiert. Unser Geist ist klar und rein, doch verdunkelt durch Gefühle und mentale Konzepte. In der Sprache der indischen Veden heißt dies, wir sind geblendet von Maya, der großen Illusion über unsere Wirklichkeit. Im zweiten Modul geht es daher um Aspekte der Reinigung auf den verschiedensten Ebenen – als Hilfe, um den Weg frei zu machen für unsere innewohnende Weisheit. Dabei stehen die verschiedenen Körper im Mittelpunkt, der materielle Körper, der die richtige Nahrung verlangt (der Mensch ist, was er isst), der emotionale Körper mit seinen belastenden Gefühlen und der mentale Körper mit seinen Vorstellungen und Konzepten. Aber auch Kleidung, Wohnung, Wohnumfeld und soziale Beziehungen können unsere Mittekraft stärken oder aber uns aus der eigenen Mitte bringen. Das »Gerümpel des Alltags« (Kingston, 2000) zu erkennen, sich davon zu befreien, ist daher eine vordringliche Aufgabe. Unsere Gedanken prägen unsere Wahrnehmungen. Wer sich von Feinden, Konkurrenten und Neidern umgeben fühlt, wer meint, das Opfer der Verhältnisse zu sein und anderen die Schuld zuschieben zu müssen, kann den Weg zur Herzensweisheit nicht finden. Daher wird den mentalen Modellen und dem, was sie an Gefühlen und Verhaltensweisen hervorrufen, im dritten Modul Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Komplex ist von so überragender Bedeutung für jeglichen Fortschritt im Spirituellen Selbstmanagement, dass ihm eine besondere Bedeutung zukommt. Nach diesen Vorarbeiten suchen wir in der vierten Sitzung den entschiedenen Kontakt zur eigenen Mitte. Es ist – wenn man die Abfolge der Sitzungen mit dem Weg in ein Labyrinth vergleicht – das Ankommen in der Mitte, von wo aus der Weg unweigerlich wieder herausführen muss. Im Mittebewusstsein eröffnet sich der Zugang zur inneren Weisheit, zur inneren Gewissheit, zur Entschiedenheit und zur Gelassenheit. Wir lernen, uns anzunehmen, wie wir sind, geistige Wesen, die mit dem großen Schöpfungsgeist verbunden sind. Der Weg heraus aus der Mitte und hinein in die Welt ist notwendigerweise mit Konflikten verbunden. Angesichts solcher Konflikte den Mittekontakt zu halten und die Herzöffnung weiterhin zu wagen, ist die Aufgabe, die sich nun stellt. Sie fordert uns auf zur Kraft der Liebe, des Respekts für sich und andere, zur Bereitschaft, neu zu lernen, neu zu sehen, Lösungen zu finden und Verständigung zu ermöglichen. Das will im Alltag geübt und erprobt werden. Der Weg hinaus in die Welt ist nicht nur konfliktreich, er bringt uns auch – gerade angesichts der heutigen Beschleunigung – leicht außer Atem. Dann verlieren wir die Mitte. Deswegen ist es so wichtig, die Fähigkeit zum Innehalten zu entwickeln, heilende

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Rhythmen aufzuspüren und zu praktizieren, die Stille einzuladen und wirken zu lassen. Aus diesem Grund erschließen wir uns im sechsten Modul Praktiken, die die Ruhe in der Bewegung unterstützen. Das letzte Modul ist dem gewidmet, wozu Spirituelles Selbstmanagement verhelfen soll: zu einer Führung von sich und anderen, die verbunden ist mit der Herzkraft. Das Aktionsfeld ist für jede und jeden verschieden. Doch indem ich mich der Gruppe zeige, wird diese zum Spiegel und Resonanzraum, an welcher Stelle die Einzelnen im Prozess des Spirituellen Selbstmanagements angekommen sind. Die Weiterbildung ist auf ein Jahr angelegt und arbeitet mit Peer-Gruppen. Sie birgt in sich die Möglichkeit eines initiatischen Anstoßes dafür, dass hinfort ein Selbstmanagement aus der spirituellen Quelle den Lebensweg prägt. Sie ist ein Instrument der Persönlichkeitsentwicklung, das sich mitnichten nur auf den privaten Raum beschränkt. Ganz im Gegenteil, sie beweist sich nicht zuletzt darin, dass die »schizophrene« Spaltung zwischen der Erlaubnis zur Spiritualität im Privaten und dem Verbot von Spiritualität im Beruf aufgehoben wird. In der Verantwortung vor dem »Werde, was du bist« wächst der Mut, Verantwortung für die eigenen Werte und die Weisungen des Herzens zu übernehmen – wo auch immer. Diese Haltung und diese Kraft brauchen wir in unserer gefährdeten Welt, wenn wir eine Zukunft emergieren, entstehen lassen wollen, die nachhaltig und lebensgerecht ist.

Spirituelles Selbstmanagement und Psychosynthese Im Spirituellen Selbstmanagement, in Training, Beratung und Coaching schöpfen wir aus einer Fülle unterschiedlicher Methoden und Ansätze.30 Der Psychosynthese kommt in der Arbeit unseres Instituts jedoch eine besondere Bedeutung zu. Sie geht auf den italienischen Philosophen, Psychiater und Psychotherapeuten Roberto Assagioli (1888–1974) zurück (Assagioli, 2004). Er war ein Schüler Freuds, doch im Gegensatz zu ihm arbeitete er weniger analytisch als synthetisch, weniger problemzentriert als lösungszentriert, weniger mit den Schattenkräften als mit dem Willen und dem Höheren Selbst. Während er in den angelsächsischen Ländern breit rezipiert wird und in Coaching und Beratung mit großem Erfolg angewendet wird, steht seine Anwendung im deutschsprachigen Raum eher noch in den Anfängen (Dönges u. Brunner-Dubey, 2004; von Meibom, 2010; Pfluger-Heist, 2004).31 Die Psychosynthese arbeitet mit dem sogenannten Ei-Modell des Bewusstseins (Abb. 1), das für das Spirituelle Selbstmanagement in Training, Beratung und Coaching außerordentlich hilfreich ist (Mettler-von Meibom, 2008, S. 80). 30 Vgl. auch den Artikel von Anna Gamma zu der Weiterbildung zum Spirituellen Coaching, ein Lehrgang, der in Kooperation zwischen Lassalle-Institut und Communio-Institut für Führungskunst entwickelt wurde und durchführt wird. 31 Vgl. www.psychosynthese.de

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Barbara von Meibom: Spirituelles Selbstmanagement

Hier einige der wichtigsten Grundlagen dieses Modells: Jeder Mensch ist Ausdruck des höchsten Bewusstseins, das sich in ihm manifestiert. Er besitzt darüber hinaus ein bewusstes Ich und Schichten des mittleren, tiefen und höheren Unbewussten, die sein Verhalten in hohem Maße steuern. Die Einbettung in ein kollektives Unbewusstes sorgt dafür, dass diese Verhaltenssteuerung in weitgehender Übereinstimmung mit den Erwartungen des jeweiligen Umfeldes geschieht. Der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung besteht darin, zur »eigenen Wahrheit« vorzustoßen, zu werden, wer man ist (Ferruci, 1986).

1. Das tiefere Unbewusste 2. Das mittlere Unbewusste 3. Das höhere Unbewusste 4. Das Feld des Bewusstseins 5. Das bewusste Selbst oder Ich 6. Das transpersonale Selbst oder Höhere Selbst 7. Das kollektive Unbewusste

Abbildung 1: Ei-Modell des Bewusstseins

Jeder Mensch wird mit einer Vielzahl von Potenzialen geboren. Solange sie nicht bewusst sind oder – aus Scham, Schuld, Angst – ins Unbewusste abgespalten wurden, können sie dem bewussten Ich nicht zur Verfügung stehen. Potenziale werden vielfach nicht genuin gelebt, sondern existieren quasi »verkleidet«. Die Psychosynthese spricht dann von Teilpersönlichkeiten. Teilpersönlichkeiten sind Überlebensstrategien, die entwickelt wurden, um das Potenzial in einer Weise leben zu können, die die Umgebung toleriert. In der Persönlichkeitsentwicklung geht es darum, die Potenziale in ihrer ursprünglichen Form zu befreien und dem bewussten Ich zur Verfügung zu stellen. Die Integration einer Teilpersönlichkeit und ihrer Potenziale gelingt insbesondere dadurch, dass der Kern des Potenzials entdeckt und Kräfte in der Psyche aktiviert

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Die spirituelle Dimension in der Coaching-Ausbildung

werden, die zu einer inneren Balance führen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn ein Wechselspiel entsteht zwischen Macht und Liebe, Durchsetzungsfähigkeit und Achtsamkeit, Kreativität und Bodenhaftung, Beharrlichkeit und Leichtigkeit … Erst im Zusammenspiel der beiden Kräfte geschieht eine innere Synthese. Im Prozess der personalen Psychosynthese werden die unterschiedlichen Potenziale aus dem Unbewussten befreit und so aktiviert, dass sie dem bewussten Ich zur Verfügung stehen. Im Bild gesprochen: Ein Dirigent kann dann mit Hilfe der gut gestimmten Instrumente das Stück in großer Vollkommenheit zur Aufführung bringen (vgl. auch Schulz von Thun, 1998). Im Prozess der transpersonalen Psychosynthese entsteht ein Bewusstsein dafür, dass der Dirigent nicht der Komponist ist. Nicht das bewusste Ich ist die letztlich steuernde Instanz, sondern das Höhere Selbst, Gott in mir. Hier geht es also darum, das bewusste Ich unter die Führung des Höheren Selbst zu stellen, oder wie der Tiefenpsychologe C. G. Jung sagt, die Ich-Selbst-Achse zu entwickeln. Im Bild: Aufgabe des Dirigenten ist es, das Stück so zur Aufführung zu bringen, wie es der göttliche Komponist gemeint hat. Wer aus dieser Instanz handelt, kommt zu weisen Entscheidungen für sich und andere. Der Wille ist eine Funktion des Selbst. Er hat in diesem Prozess der Synthese eine entscheidende Steuerungsfunktion, das heißt, der Mensch kann seinen Willen aktivieren, um den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und Selbsttransformation zu durchlaufen.

Akzeptanz, Wertschätzung, mit dem Herzen wahrnehmen Menschen – Manager, Führungskräfte, Angestellte, Privatperson – kommen in sehr unterschiedlichen Phasen ihres Prozesses zu Training, Coaching und Beratung. Doch wenn Persönlichkeitsentwicklung gelingen soll, bedarf es einer entscheidenden Ressource: der Wertschätzung oder der Annahme dessen, was ist. Wertschätzung ist eine Haltung des Herzens, die weder bewertet noch verurteilt, weder in Schuld und Scham gefangen ist noch in Selbstverteidigung. Es ist eine Haltung, die einfach annimmt, was ist, und sich nicht (mehr) dagegen auflehnt. Wir finden sie in der Psychosynthese an entscheidender Stelle. Die Psychosynthese unterscheidet zwischen fünf Stufen: Erkennen  Verstehen  Akzeptieren  Integrieren  Synthese Abbildung 8: Fünf Stufen in der Psychosynthese

Hierzu ein typischer Coaching-Fall aus meiner Praxis: »Rufen Sie mich an, wenn Sie das Gefühl haben, es könnte Ihnen etwas nützen«, so hatte sie einem sehr erfolgreichen

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und dynamischen Manager bei der letzten Begegnung gesagt. Und nun saß er vor ihr. Gestern hatte ihm seine Frau bedeutet, dass sie sich trennen müssten, wenn sich nicht etwas Grundlegendes in ihrem Zusammenleben ändern würde. Ständig war er auf Reisen; wenn er zu Hause war, waren seine Gedanken im Büro oder bei seinen Kunden, das Telefon war für ihn mehr zu sprechen als sie; die Kinder kamen zu kurz und wurden älter, ohne ihren Vater erleben zu können. Und statt dass sich der Zustand besserte, wurde er nur schlimmer und schlimmer, je mehr Erfolg er hatte. Und er selbst? Er wusste sich keinen Rat. Gern hätte er eine Lösung gefunden. Doch wann immer er es sich fest vornahm, früher nach Hause zu gehen, das Handy abzuschalten, für das Büro nicht erreichbar zu sein, plagte ihn das schlechte Gewissen und er wurde seinen Vorsätzen untreu. Nun also war er gekommen und erhoffte sich eine Unterstützung in einer fast auswegslosen Situation. Dabei tat ihm die Zeit weh, die er hatte aufwenden müssen, um zum Coaching zu fahren. Er hätte sie lieber für seine Frau und die Kinder aufgewendet, wohl wissend, dass er dann doch irgendeinem dringenden Termin den Vorrang gegeben hätte. Zurück zu den Stufen der Psychosynthese: Mein Coachee hat mit Sicherheit sein Problem erkannt – ob er es bereits verstanden hat, ist eine andere Frage. Wenn er jedoch zu einem Verhalten kommen will, das für ihn und seine Familie und damit letztlich auch für das Unternehmen zuträglicher ist, dann braucht er die Kraft der Annahme dessen, was ist. Statt sich weiterhin ein X für ein U vorzumachen, darf er in einer Haltung der Liebe und Selbstwertschätzung akzeptieren, wo er jetzt gerade in seinem Leben steht. Erst wenn dies geschieht, werden die Kräfte für eine Änderung frei. In der liebenden Annahme seiner selbst kann er die Potenziale in seiner Psyche aktivieren, die ihm helfen, innerlich mehr in die Balance zu kommen und damit auch sein Leben im Außen mehr auszubalancieren. In einem anderen Fall mag die Herausforderung anders gelagert sein: Eine Führungskraft, die durch Anmaßung und Hochmut Widerstand im Außen provoziert, braucht nicht nur das Eingeständnis, dass dies so ist, sondern auch, dass sie sich selbst mit diesem unerwünschten Verhalten annehmen kann. Wer beständig als kleines Mäuschen auftritt und weit unter den eigenen Möglichkeiten bleibt, braucht die schmerzliche Selbsterkenntnis und Annahme, sich immer wieder klein gemacht und entwertet zu haben. Und dieser Mensch braucht die Kraft, sich so anzunehmen, wie er oder sie ist. Der Schritt der Selbstannahme, der Annahme der Verhältnisse, so wie sie sind, ist in jedem dieser Fälle zu leisten – egal, wie viel Scham, Schuld, Angst, Hochmut oder Anmaßung dem im Wege stehen. Erst dann kann sich der sanfte Transformationszyklus der Wertschätzung entfalten (Mettler-von Meibom, 2008, S. 93 ff.). Im Bild der Psychosynthese gesprochen: Die Teilpersönlichkeit legt ihren Mantel ab. Das bewusste Ich neigt sich akzeptierend dem dahinter verborgenen Potenzial zu, das bislang nicht leben durfte. Nun kann es dem bewussten Ich zur Verfügung stehen und in dem Konzert der Potenziale und im Zusammenspiel mit den anderen Potenzialen (Instrumenten) das (Lebens-)Stück zur Aufführung bringen.

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Menschen lernen nicht durch Druck, Schuld und Scham (Hüther, 2011). Wir sind zur Liebe geboren und zur Liebe fähig. Es ist die Liebeskraft, die letztlich verwandelt. Nur wenn wir mit ihr berühren und uns von ihr berühren lassen, werden unsere Potenziale und Fähigkeiten geweckt, so dass sie zum Ausdruck kommen wollen. Ein Manager/eine Managerin, der/die nicht nur managt, sondern führt, ist darauf angelegt, die Potenziale der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu wecken. Achtsamkeit und Wertschätzung, beides Qualitäten des Herzens, sind hierfür die Schlüssel. Doch die Führungskraft kann sie nur leben und vorleben, wenn sich ihr Herz geöffnet hat und sie Achtsamkeit und Wertschätzung für sich und andere entwickelt hat. Eine Führungskraft hingegen, die im inneren Ungleichgewicht ist und dies auch durch die Art ihres Lebens sichtbar macht, kann solche Vorbildfunktion schwerlich wahrnehmen. Sie wird dazu neigen, andere zu demselben Verhalten anzuregen, oder sich selbst in einen masochistischen Selbstbestrafungsmechanismus verstricken, um andere zu schonen. Mit einer balancierten Persönlichkeits- und Unternehmensentwicklung hat dies wenig zu tun.

Epilog: Als ich mich selbst zu lieben begann32 Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich verstanden, dass ich immer und bei jeder Gelegenheit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin und dass alles, was geschieht, richtig ist – von da an konnte ich ruhig sein. Heute weiß ich: Das nennt man »VERTR AUEN«. Als ich mich selbst zu lieben begann, konnte ich erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid nur Warnung für mich sind, gegen meine eigene Wahrheit zu leben. Heute weiß ich, das nennt man »AUTENTHISCH-SEIN«. Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich aufgehört, mich nach einem anderen Leben zu sehnen und konnte sehen, dass alles um mich herum 32 Dieser Text wird Charlie Chaplin an seinem 70.Geburtstag am 16. April 1959 zugeschrieben. Dort heißt es, dass es auch Stimmen gibt, die an dessen Urheberschaft zweifeln (Zugriff im September 2011: www.c-mmm.de/gedichte/chaplin.html).

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eine Aufforderung zum Wachsen war. Heute weiß ich, das nennt man »REIFE«. Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich aufgehört, mich meiner freien Zeit zu berauben, und ich habe aufgehört, weiter grandiose Projekte für die Zukunft zu entwerfen. Heute mache ich nur das, was mir Spaß und Freude bereitet, was ich liebe und mein Herz zum Lachen bringt, auf meine eigene Art und Weise und in meinem Tempo. Heute weiß ich, das nennt man »EHRLICHKEIT«. Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. Anfangs nannte ich das »GESUNDEN EGOISMUS«, aber heute weiß ich, das ist »SELBSTLIEBE«. Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich aufgehört, immer recht haben zu wollen, so habe ich mich weniger geirrt. Heute habe ich erkannt, das nennt man »DEMUT«. Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich mich geweigert, weiter in der Vergangenheit zu leben und mich um meine Zukunft zu sorgen. Jetzt lebe ich nur mehr in diesem Augenblick, wo ALLES stattfindet. So lebe ich heute jeden Tag und nenne es »BEWUSSTHEIT«. Als ich mich selbst zu lieben begann, da erkannte ich, dass mich mein Denken armselig und krank machen kann, als ich jedoch meine Herzenskräfte anforderte,

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bekam der Verstand einen wichtigen Partner. Diese Verbindung nenne ich heute »HERZENSWEISHEIT«. Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen zu fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten. Heute weiß ich, D AS I ST D AS L E B E N !

Literatur Assagioli, R. (2004). Psychosynthese. Handbuch der Methoden und Techniken. Neuedition von Ulla Pfluger-Heist. Rümlang/Zürich: Nawo. Childre, D.; Howard, M. (2000). Die HerzIntelligenz-Methode. Grundlagen, Anwendungen, Perspektiven. Kirchzarten bei Freiburg: VAK. Dönges, S.; Brunner-Dubey, C. (2005). Psychosynthese für die Praxis: Grundlagen, Methoden, Anwendungsgebiete. München: Kösel. Ferruci, P. (1986). Werde, was du bist: Selbstverwirklichung durch Psychosynthese. Reinbek: Rowohlt. Hüther, G. (2011). Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher. Frankfurt a. M.: Fischer. Kingston, K. (2000). Feng-shui gegen das Gerümpel des Alltags. Reinbek: Rowohlt. Mettler-von Meibom, B. (2000). Die kommunikative Kraft der Liebe. Petersburg: Via Nova. Mettler-von Meibom, B. (2007). Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Lernende Organisation, 38, Juli/Aug., 60 ff. Mettler-von Meibom, B. (2008). Wertschätzung. Wege zum Frieden mit der inneren und äußeren Natur (2. Aufl.). München: Kösel. Meibom, B. von (2009). Spirituelles Selbstmanagement. München: Kösel. Meibom, B. von (Hrsg.) (2010). Sich dem Leben öffnen. Festschrift für Kristina Brode. Köln: Deutsche Psychosynthese-Gesellschaft. Pfluger-Heist, U. (2004). In der Seele liegt die Kraft. Freiburg: Herder. Senge, P.; Scharmer, C. O., Jaworski, J., Flowers, B. (2004). Presence. Human purpose and the field of the future. New York: Doubleday. Schulz von Thun, F. (1998). Miteinander Reden. Band 3: Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek: Rowohlt.

Univ.-Prof. Dr. Barbara von Meibom ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin, Führungskräfte-Coach und Organisationsberaterin. Sie gründete 1997 Communio-Institut für Führungskunst, Berlin/Essen. 2005 wechselte sie in die Selbständigkeit aufgrund der Einsicht, dass eine ganzheitliche Bildung in der Universität mit ihrer primär mentalen und praxisfernen Orientierung nicht ausreichend zum Zuge kommen kann. Dies gilt insbesondere für die spirituelle Dimension von Arbeit, Leben und Wissenschaft. Ihr Institut konzentriert sich auf Weiterbildungen (Spirituelles Selbstmanagement, Spirituelles Coaching, Führungskunst), auf Coaching und auf ganzheitliche Organisationsentwicklung. In dem Team von Communio sind kommunikative, psychologisch-therapeutische und künstlerisch-kreative Kompetenzen ebenso vertreten wie kognitiv-mentale, interkulturelle und organisationssoziologische. www.communio-fuehrungskunst.de

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V Drei Perspektiven spiritueller Lehrer

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Kontakt zur inneren Quelle finden Pater Anselm Grün im Interview 33

M. H.: Was macht eine spirituelle Haltung in einer helfenden Profession wie Coaching und Beratung aus und welche Rolle spielt sie Ihrer Erfahrung nach? A. G.:34 Die spirituelle Haltung bei der Begleitung von Menschen ist vor allem die Achtsamkeit. Ich bin ganz präsent und achtsam. Ich achte nicht nur auf die Worte, sondern auf die Stimme, auf die Ausstrahlung des andern. Die zweite spirituelle Haltung ist: nicht bewerten. Ich höre mir alles an, ohne zu bewerten. Die dritte Haltung ist: Ich bin in Berührung mit meiner eigenen inneren Quelle. Ich setze mich nicht unter Druck, dem andern gute und intelligente Antworten geben zu müssen. Ich bin einfach da, höre auf den andern und höre auf meine eigenen inneren Impulse, die aus dieser inneren Quelle emporsprudeln. Die vierte Haltung: Ich bitte Gott um den Segen für den Menschen, den ich begleite. Ich vertraue darauf, dass Gott diesen Menschen segnet und dass die Begleitung für ihn ein Segen wird. Das entlastet mich von dem Druck, dass ich ein perfekter Coach sein muss. M. H.: Kann Coaching einen Beitrag zu einem spirituellen Weg leisten? A. G.: Beim Coaching geht es ja nicht nur um Effektivität in der Arbeit, sondern auch um die Arbeit an mir selbst. Und das ist letztlich eine spirituelle Arbeit. Sich selber kennenzulernen, seine eigene Wahrheit zu akzeptieren und Haltungen der Geduld, der Gelassenheit, der Hoffnung und des Vertrauens einzuüben, ist letztlich eine spirituelle Aufgabe. Und der Coach kann seinen Klienten einen Weg lehren, wie er mit seiner eigenen inneren Quelle in Berührung kommt. Das ist ja eine wichtige Frage vieler Führungskräfte: Wie kann ich arbeiten, ohne erschöpft zu sein? Das hängt immer mit der inneren Quelle zusammen. Wenn ich aus einer spirituellen Quelle – für uns Christen ist es die Quelle des Heiligen Geistes – schöpfe, dann werde ich nicht erschöpft. Denn diese Quelle ist unerschöpflich, weil sie göttlich ist. Aber ich kann diese Quelle nicht als Tank benutzen. Ich kann daraus nur schöpfen, wenn ich durchlässig bin, das heißt, wenn ich mein Ego loslasse. Und das ist letztlich eine spirituelle Haltung. 33 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 10. Januar 2012 online geführt. 34 M. H. = Markus Hänsel. – A. G. = Pater Anselm Grün.

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Pater Anselm Grün im Interview: Kontakt zur inneren Quelle finden

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M. H.: Welche Rolle spielen die spirituelle Praxis und Entwicklung des Coach und Beraters? A. G.: Der spirituelle Berater und Coach muss gut für sich selber sorgen. Und da ist der spirituelle Weg, auf dem er immer wieder in Berührung kommt mit seiner inneren Quelle, sehr wichtig. Normalerweise geht dieser Weg über Meditation, Stille und Gebet. Da komme ich in Berührung mit mir selbst, mit dem inneren Raum der Stille. Und in der Begleitung ist dieses Bild wichtig: Ich öffne mich emotional dem andern. Aber in mir ist ein Raum der Stille, zu dem der andere keinen Zutritt hat. M. H.: Welchen Beitrag können unsere spirituellen Traditionen in der Bewältigung der modernen beruflichen Herausforderungen leisten? A. G.: Die spirituelle Tradition – etwa Meditation, Gebet, Gottesdienst – bringt mich in Berührung mit dem inneren Raum der Stille. Und wenn ich mit diesem Raum in Berührung bin mitten in den Turbulenzen des Alltags, dann werde ich nicht erschöpft. Denn auf dem Grund der Seele ist die Quelle von Liebe, Vertrauen, Hoffnung, aus der ich schöpfen kann. Wenn ich in einen Gottesdienst gehe, tauche ich ein in die Welt des Heiligen. Das Heilige ist das, was der Welt entzogen ist. Es ist also ein Freiraum, in dem ich aufatmen kann. In den heiligen Raum hat die Welt mit ihren Erwartungen und Ansprüchen keinen Zutritt. Und die Griechen glauben, dass nur das Heilige zu heilen vermag. Für diese Heilung sind Rituale wichtig, die für mich eine heilige Zeit bedeuten, eine Zeit, die mir gehört. Rituale bringen mich in Berührung mit dem Heiligen in mir. Dort kann ich aufatmen. Dort bin ich frei von den Problemen in der Arbeit, frei von den Erwartungen der Mitarbeiter, frei von dem Druck der Konkurrenz. Wir brauchen solche heiligen Räume und heiligen Zeiten, um diese innere Freiheit zu spüren. Von dieser Freiheit aus können wir dann anders auf die Probleme in der Arbeit zugehen. Ein weiterer Weg der spirituellen Tradition geht über die Einübung von inneren Haltungen. Es sind die spirituellen Haltungen, die Jesus in der Bergpredigt fordert, wie: Barmherzigkeit, Geduld, Gelassenheit, Liebe, Frieden, Güte, ein weites Herz. Es ist eine lebenslange Aufgabe, diese Haltungen einzuüben. Sie tun mir selbst gut und den Mitarbeitern.

Pater Anselm Grün, Jahrgang 1945, er trat mit 19 Jahren in die Benediktinerabtei Münsterschwarzach bei Würzburg ein. Dort lernte er die Kunst der Menschenführung aus der Regel Benedikts von Nursia kennen und entdeckte bereits in den 1970er Jahren die Tradition der alten Mönchsväter wieder und deren Bedeutung besonders in Verbindung mit der modernen Psychologie. Seit 1977 ist er, nach dem Studium der Philosophie, Theologie und Betriebswirtschaft, der Cellerar (wirtschaftlicher Leiter) der Abtei Münsterschwarzach und damit für rund 300 Mitarbeiter in über 20 Betrieben verantwortlich. In seinen Kursen und Vorträgen versucht er, auf die Nöte und Fragen der Menschen einzugehen, und ist dadurch zum spirituellen Berater und geistlichen Begleiter von vielen Managern geworden. www.anselm-gruen.de

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Es geht ums Tun  Die spirituelle Praxis des sozial engagierten Buddhismus Bernie Glassman Roshi im Interview 35

Erfahrung als spirituelle Basis Ich bin seit über fünfzig Jahren Zen-Buddhist und habe dreißig Jahre als Lehrer in der Meditationshalle verbracht. Als ich anfing, Buddhismus zu lehren, tauchte immer wieder die Frage auf: Wie bringe ich die Praxis in den Alltag, wie kann ich das, was ich auf dem Kissen erlebe, hinüberbringen? Denn im Zen sagen wir, dass die Praxis im Alltag stattfinden muss, nicht nur auf dem Kissen. Ich habe dann in den 1980er Jahren verstärkt begonnen, mich auf soziales Handeln als einen Weg spiritueller Praxis zu konzentrieren. Die Schüler, die mit mir lernen wollten, habe ich eingeladen, mit mir in einem unserer Projekte zu arbeiten. Eines dieser Projekte ist die mittlerweile sehr bekannt gewordene Greyston-Bäckerei, in der wir mit Obdachlosen und aidsinfizierten Menschen eine der besten Bäckereien Brooklyns aufgezogen haben. Seit dieser Zeit hat kaum noch jemand gefragt, wie er die Praxis in den Alltag bringen kann. Die Frage birgt in sich eine Falle, denn sie geht davon aus, dass das spirituelle Leben und der Alltag voneinander getrennt sind. Wenn wir wirklich einen spirituellen Weg gehen, dann ist unser ganzes Sein davon verändert und die Frage verschwindet. Wenn also diese Frage auftaucht, tut man am besten einfach etwas Konkretes, was anderen Menschen dient. Meine Art, mit Menschen zu arbeiten, hat sich zunehmend auf gemeinsames Handeln ausgerichtet. Eine philosophische Beschäftigung mit Spiritualität und der Lehre der Meditation ist zwar gut, hat aber oftmals nur wenige Auswirkungen auf das Handeln der Menschen. Wenn wir dagegen auf eine Weise miteinander arbeiten, die uns als Menschen berührt und verändert, dann wirkt sich das direkt auf unser Handeln in der Welt aus. Das ist der Grund, warum ich in den letzten zwanzig Jahren versuche, Menschen zu Formen von gemeinsamer Praxis einzuladen, die anderen Menschen dienen, soziale Auswirkungen in der Welt haben und uns somit im konkreten Tun transformieren.

35 Interview und Vortragsexzerpt, Heidelberg, 21.–22. 10. 2011.

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Bernie Glassman Roshi im Interview: Es geht ums Tun

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Anweisungen für den Koch In meinem Buch »Anweisungen für den Koch« (Glassman, 1997/2010) habe ich das Kochen, Zubereiten und Darbieten einer Mahlzeit als zentrales Bild für alle Aktivitäten, Projekte und Aufgaben unseres Lebens genommen. Ich habe insbesondere viel Wert darauf gelegt, dass wir auf die Zutaten schauen, die uns zur Verfügung stehen, damit das bestmögliche Mahl zuzubereiten und es dann darzubieten. Eine übliche Herangehensweise ist jedoch, dass man eher auf das schaut, was man nicht hat, und den Mangel als Begründung anführt, etwas nicht zu tun. Wenn jemand also sagt: Ich habe nicht die Zeit, nicht das Geld oder nicht die Kompetenz, eine bestimmte Sache zu tun, dann sehe ich das als Begründung dafür, sich gut zu fühlen, etwas nicht zu tun. Es war sogar in meiner spirituellen Tradition üblich, dass man den Menschen gesagt hat: Bevor du nicht weit genug erleuchtet bist, handle nicht. Diese Haltung habe ich komplett verändert, einfach weil sie nicht funktioniert. Meine Empfehlung ist vielmehr: Was immer du tun willst, schau auf die Zutaten, die du schon hast. Wenn ich zwanzig Euro in der Tasche habe, kann ich damit etwas machen, wenn ich tausend Euro habe, kann ich etwas anderes machen. Wenn ich einen Vortrag halte, dann sind wir alle Teil der Zutaten, nicht nur meine Erfahrung und mein Wissen, sondern die Aufmerksamkeit der Menschen, der Raum und die Situation. Wenn ich auf mein gesamtes Leben schaue, dann sind meine Zutaten meine Herkunft, meine Familie, meine Ausbildung, meine Wünsche und so weiter. Da uns nur ein kleiner Teil unseres Lebens bewusst ist, haben wir auch immer mehr Zutaten, als uns bewusst ist. Wenn ich mir der Verbundenheit allen Lebens bewusst bin, dann wird die ganze Welt meine Zutat. Unsere Aufgabe ist es dann, aus dem, was uns zur Verfügung steht, das beste Mahl zu bereiten, das uns in diesem Moment möglich ist. Es hat wenig Sinn, mich für das zu kritisieren, was ich gerade zubereite. Denn was immer ich zubereite, es gibt auch all die anderen Mahlzeiten – Projekte, Aufgaben –, die ich dann nicht gemacht habe. Es ist müßig, sich dann damit zu beschäftigen, was nicht passiert ist. Ich gehe davon aus, dass jeder von uns lieber das Beste aus seinen Zutaten machen will, anstatt sich über das zu beklagen, was nicht passiert ist oder was uns nicht zur Verfügung steht. Das Wissen darüber ist nur in soweit hilfreich, wie es als neue Zutat in die nächste Mahlzeit einfließt. Wir versuchen also das zu würdigen und wertzuschätzen, was wir zubereiten und darbieten können – ebenso wie wir die Mahlzeiten aller anderen Menschen würdigen. Es kann sein, dass ich das nicht immer mag oder genieße, was ich oder andere zubereiten, was mich aber nicht davon abhält, zu würdigen, dass jeder aus seinen Zutaten das in diesem Moment Bestmögliche macht. Meine Mahlzeit biete ich dann mit dieser Haltung an. Wenn jemand empört oder abweisend reagiert und damit nicht zufrieden ist, dann wird dies Teil meiner Zutaten für die nächste Mahlzeit sein, die ich zubereite, genauso wie wenn jemand begeistert ist. Vielleicht ändern sich dadurch alle Zutaten, die ich verwende. Ich habe nicht die Erwartung, wenn ich die Mahlzeit zubereite, dass sie mir Spaß macht oder jedem

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schmecken muss. Ich habe lediglich das Gelöbnis, die beste Mahlzeit zuzubereiten, die mir im Moment möglich ist. Ich hoffe natürlich, dass sie alle Probleme und Schwierigkeiten, die ich kenne, lösen wird, aber hier ist der Unterschied zwischen Hoffnung und Erwartung sehr wichtig: Hoffnung entsteht ohne Ich-Bezug und aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Das Gelöbnis entsteht aus der Intention zu dienen. Erwartungen dagegen beziehen sich auf die Zukunft, sie sind ein Anhaften an die Ergebnisse der Ziele, die wir haben. Meine Erfahrung ist, dass diese Erwartungen meist zu Frustration führen.

Erleuchtung – Die Einheit des Lebens erkennen und Dienst am anderen Wir hören oft, dass spirituelle Wege und Praxis darauf ausgerichtet sind, Erleuchtung zu erlangen. Das stimmt, aber oftmals gibt es falsche Vorstellungen darüber, was Erleuchtung ist. Viele Menschen haben Vorstellungen von immerwährender Glückseligkeit oder Erlösung von allen Schwierigkeiten. Nach meinem Verständnis ist Erleuchtung die Erfahrung der Einheit des Lebens oder auch der Verbundenheit allen Lebens. Es hat nichts damit zu tun, nur noch glücklich oder zufrieden zu sein. Ich möchte das in einem Bild beschreiben: Alle Menschen erfahren die Einheit des eigenen Körpers, man unterteilt nicht in Magen und Arm oder eine Hand und die andere Hand. Wenn ihr jemanden trefft, der sagt, sein Arm gehöre nicht zu ihm selbst, würdet ihr sagen, er täuscht sich. Täuschung hieße in diesem Fall die Auffassung, es gäbe im Körper ein Anderes, mit dem wir nicht verbunden sind. Diese Erkenntnis fällt jedem leicht, weil wir diese Einheit ganz natürlich erleben und realisieren können. Das muss keineswegs heißen, damit zufrieden zu sein. Man mag unzufrieden mit dem eigenen Aussehen oder mit einem Zustand von Krankheit sein. Vielleicht versucht man etwas dagegen zu tun, etwa zum Arzt gehen. Das alles ändert nichts an dem Gefühl der Verbundenheit meines Körpers. Wenn ich also die Verbundenheit allen Lebens genauso realisiert hätte, wäre ich nicht unbedingt glücklich, denn ich würde auch alles Leid, alle Ungerechtigkeiten, alle Krankheiten usw. viel unmittelbarer spüren. Entscheidend ist, mit welcher Auswirkung: Ich würde wohl versuchen, daran etwas zu ändern, und ich würde mich nicht mehr so einfach abwenden können. Der Zen-Patriarch Kobodaishi sagt dazu: Man kann die Tiefe der Erleuchtung einer Person daran erkennen, inwieweit ihr Tun darauf ausgerichtet ist, anderen Menschen zu dienen. Wenn es also nur um mich geht, dann hafte ich daran an, dass ich erleuchtet sein will, ich möchte gesund sein, nett, stark und so weiter. Wenn ich also nur daran interessiert bin, diese Person hier zu verbessern, mich als Bernie, dann wird die Tiefe meiner Erleuchtungserfahrung auf die Realisierung der Verbundenheit von Bernie beschränkt sein. Und in diesem Ausmaß sind wir alle erleuchtet. In der buddhistischen Lehre gibt es eine schöne Metapher für die Verbundenheit des Lebens, die Geschichte von »Indras Netz«. Der Gottkönig Indra besaß ein Netz, das die gesamte Zeit und den gesamten Raum umspannt. An jedem Knoten sitzt eine Perle, die

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für ein Phänomen in Raum und Zeit steht. Jede Perle spiegelt gleichzeitig alle anderen Perlen wider. Die Identität einer einzelnen Perle gibt es nicht. Jede Veränderung einer Perle ergibt sofort ein völlig anderes Spiegelbild in allen anderen Perlen. Jede Vibration in dem Netz hat Auswirkung auf das gesamte Netz. Vielleicht haben Menschen im Laufe ihrer Geschichte viele Varianten dieser Netze gefunden. In jüngster Zeit sind nun statt Perlen Computer an jedem Knoten und sie nannten das Ganze Internet.

Die drei Prinzipien des sozial engagierten Buddhismus Vor etlichen Jahren habe ich für die von mir gegründete Gemeinschaft der Zen-PeaceMaker drei zentrale Prinzipien formuliert. Mein Ziel war, buddhistische Grundlagen in allgemeinverständlicher Sprache und auf dem Hintergrund der westlichen Kultur auszudrücken, wo wir im Buddhismus meist eher technische Begriffe aus dem Sanskrit entlehnen. Das erste Prinzip nenne ich Nicht-Wissen (Not Knowing), das zweite Zeugnis ablegen (Bearing Witness), das dritte liebevolles Handeln (Loving Action). Ich verstehe unter sozial engagiertem Buddhismus jegliches Engagement im sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Bereich, das auf diesen drei Prinzipien basiert. Nicht-Wissen bedeutet nicht, nichts zu wissen, im Gegenteil, es ist wichtig, wenn wir uns in der heutigen Welt bewegen, so viel wie möglich zu wissen und so viele Methoden wie möglich zu kennen. Ein Problem entsteht dann, wenn wir an bestimmten Ideen anhaften. Die Haltung des Nicht-Wissens drückt sich darin aus, völlig offen an eine Sache heranzugehen, nicht durch die Brille einer vorgefassten Meinung oder Idee zu schauen, nicht anzuhaften an unseren Konzepten, Meinungen oder Ideen. Wir versuchen uns einer Situation ohne vorgefassten Vorstellungen, Vorurteilen oder fixen Plänen zu nähern. Wenn wir eine Erfahrung machen, die wir mögen, werden wir versuchen sie irgendwie zu wiederholen, wenn wir eine Erfahrung erleben, die wir nicht mögen, werden wir versuchen sie zu vermeiden. Beides nennt man im Buddhismus Anhaftung. Es ist schwierig, eine Erfahrung zu machen und ihr nicht anzuhaften. Die Praxis des Buddhismus hat nun viele Wege entwickelt, nicht so stark an den Bewertungen anzuhaften, deren gemeinsames Ziel ich Nicht-Wissen nenne. Das erlaubt die Möglichkeit, eine Situation zu schaffen, in der keine feste Meinung oder Bewertung vorhanden ist. Meditation ist die mittlerweile im Westen bekannteste Methode dafür. Bearing Witness übersetzen wir in Ermangelung einer besseren Alternative mit Zeugnis ablegen, obwohl es das nicht ganz trifft. Es heißt, sich völlig einer Situation auszusetzen und eins zu werden mit der Situation. Wir heben die Dualität zwischen der Trennung von Subjekt und Objekt auf. Zeugnis ablegen bedeutet, in diesem Bewusstsein des Nicht-Wissens zu bleiben und alles, was mit uns und um uns passiert, möglichst urteilsfrei und bewertungsfrei zu erleben. Wir könnten in einer Metapher sagen, dass dieser Prozess des Zeugnis-Ablegens wie bei einer guten Jazzband funktioniert: In einer Jazzband ist jedes Individuum sehr erfahren und virtuos und gleichzeitig sind alle Teil einer Gruppe und damit einer Gemeinschaft. Jeder der Mitspieler legt also Zeugnis ab,

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Drei Perspektiven spiritueller Lehrer

für das, was die anderen spielen, alle sind miteinander verbunden. Der Klang jedes Einzelnen ist in diesem konkreten Moment anders, wenn sie zusammenspielen, als wenn sie nicht Teil dieser Gruppe wären. Alle sind beeinflusst von den Klängen, die jeder in der Band produziert. Wir hören also immer die Gruppe als Ganzes, selbst wenn wir den einzelnen Instrumenten zuhören. Für Bewertungen und Urteile ist beim gemeinsamen Spielen kein Platz, sie würden das Zusammenspiel nur stören. Aus diesen Haltungen entsteht liebevolles Handeln – ein Handeln, das aus einem urteilsfreien Begegnen und sich Einlassen auf eine Situation hervorgeht und sich auf die Gesamtheit der Situation bezieht. Alle unsere sozialen Projekte, wie die Greyston Bakery und die Projekte für Obdachlose der Zen-Peace-Maker-Gemeinschaft, sind so entstanden. Das heißt nicht, dass wir in der Durchführung nicht auch Fachwissen brauchen, aber Analysen und Expertentum sind nur sekundäre Mittel, die dem liebevollen Handeln dienen. Wenn wir die Einheit des Lebens, die Verbundenheit der Menschheit erfahren, auch wenn wir als Individuen in vielen verschiedenen Formen erscheinen und vergehen, wird das liebevolle Handeln ein natürlicher Ausdruck: zu tun, was zu tun ist, wo es ums Tun geht, nicht ums Siegen.

Council – Über Erfahrung reden Wir arbeiten während der gemeinsamen Praxis viel mit sogenannten Councils, Gesprächen in einer kleinen Gruppe. Wir sitzen im Kreis und jeder ist mit einem Redestein eingeladen, von seinen Erfahrungen zu sprechen. Der Kontakt zur eigenen Erfahrung gelingt umso besser, je weniger wir uns auf das bloße Kommentieren konzentrieren und je mehr wir unmittelbar von Herzen ausdrücken, was uns gerade beschäftigt. Der intellektuelle Kommentar macht uns vielleicht gebildeter, aber der unmittelbare Bezug zur Erfahrung führt eher zu Transformation. Das heißt nicht, unsere Erfahrungen nicht auch genau und kritisch zu beleuchten, sondern dabei die unmittelbare Berührtheit durch die Erfahrung und die urteilsfreie Begegnung in der Gruppe zu betonen.

Wie gehen wir mit Unterschieden zwischen Menschen und dem Ärger, der daraus oft entsteht, um? Wir alle haben viele Konzepte und Meinungen, an die wir uns klammern. Mit der Erfahrung der Verbundenheit des Lebens, was manche auch Erleuchtung nennen, geht auch einher, dass wir die Anhaftung an Meinungen und Positionen loslassen können. Denn je stärker wir Verbundenheit im Leben erfahren, desto mehr können wir auch mit allen unterschiedlichen Meinungen und Vorstellungen verbunden sein, ohne mit »richtig« und »falsch« zu urteilen. Mein Freund Konstantin Wecker würde sagen, Ärger gehört unbedingt zum Menschen dazu. Ich würde eher von Entschlossenheit sprechen als von Ärger. Wut entspringt einer egozentrischen Haltung und verdirbt die meisten Vorhaben – wenn sie

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Bernie Glassman Roshi im Interview: Es geht ums Tun

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sich in Entschlossenheit verwandelt, kann sie dagegen sehr hilfreich sein. Manchmal entsteht Ärger gemeinsam mit dem, was ich liebevolles Handeln nenne. Für mich ist es dann bedeutsam, ob es aus einer Haltung des Nicht-Wissens und des Zeugnis-Ablegens entsteht. Es also ist weniger bedeutsam, welche Meinung wir von Wut oder Liebe als Motivation haben, sondern die Auswirkung auf die Handlungen sind entscheidend.

Wie verhindern wir Leid zum Beispiel in Form von Burnout bei der Arbeit? Im buddhistischen Kontext würden wir sagen, die Wurzeln des Leidens sind Erwartungen und Anhaftungen. Wenn wir also stark an unseren Erwartungen hängen, werden wir auch häufig frustriert sein und anfällig für Depression und Burnout. Aber ist es leicht, keine Erwartungen zu haben? Natürlich nicht. Buddha hat in den vier edlen Wahrheiten (four noble truths) formuliert: Wir alle leiden, denn während sich alles ändert, wollen wir, dass bestimmte Dinge bleiben oder dass nur bestimmte Dinge geschehen und andere nicht. Und solange diese Erwartungen unser Denken und Handeln bestimmen, werden Frustration, Wut, Depression und auch Burnout vermehrt auftreten. Ein Unterschied ist es dagegen, eine Aufgabe oder eine Arbeit zu tun, einfach weil sie nach unserer Überzeugung getan werden muss, mit der Einstellung, das Beste zu tun, was im Moment der Aufgabe dient – gleichzeitig mit dem Bewusstsein, dass wir niemals Kontrolle über den Verlauf der Dinge haben. Das heißt nicht, gleichgültig zu sein, sondern vielmehr Entschlossenheit und Tatkraft zu entwickeln, ohne in die Sackgasse festgefahrener Erwartungen zu geraten. Frustration lässt sich nicht vermeiden, wenn die Dinge anders laufen, als wir uns das vorstellen. Die entscheidende Frage ist dann, wie wir damit umgehen, ob wir die Frustration immer weiter erhöhen oder ob wir loslassen können und immer wieder neu auf die Situation schauen. Ich war beispielsweise im Nahen Osten, als es nach den Osloer Gesprächen fast zum Frieden zwischen Israel und Palästina gekommen wäre. Zu dieser Zeit haben viele wunderbare Gruppen im Friedensprozess gearbeitet und die Erwartungen waren sehr hoch. Als dann diese Chance zerbrach, war die Enttäuschung so tief, dass die meisten dieser Gruppen innerhalb kurzer Zeit verschwunden sind. Die waren ausgebrannt und gaben schließlich auf. Diejenigen aber, die blieben, machten die Arbeit weiter, einfach weil sie ihrer tiefen Überzeugung nach notwendig war, auch wenn das erhoffte Ziel diesmal nicht erreicht wurde.

Spirituelle Praxis – Erfahrungen des Eintauchens Alle Methoden im Zen lassen uns die Einheit des Lebens erfahren, was zunächst nicht Teil unseres normalen Alltagsverstands ist. Um dies zu erreichen, versuchen wir eine Situation zu schaffen, in der das Gehirn das, was geschieht, nicht mehr auf gewohnte Weise verarbeiten kann. Meditation, das Sitzen und Atmen, Mantras und bestimmte

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Drei Perspektiven spiritueller Lehrer

Rituale sind in der Tradition bekannte Methoden – und die sozial engagierte Arbeit ist eine weitere Form. Diese Praxis kann uns helfen, die Gewohnheiten des Geistes, das heißt Anhaftungen an unsere Bewertungen, Meinungen und Vorannahmen, loszulassen. Aber all diese Formen können nebeneinander existieren und sich ergänzen. Ich arbeite in den letzten Jahren mit einem Zugang zu spiritueller Praxis, den ich Eintauchen (plunge) nenne, im Deutschen entspricht das vielleicht der Redensart vom Sprung ins kalte Wasser. Das heißt, man setzt sich einer Situation aus, die der Geist nicht einfach in gewohnter Weise rational verarbeiten kann und in der man nicht mehr einfach kontrollieren und verarbeiten kann, was mit einem geschieht. Um die Erfahrung des Eintauchens zu machen, halten wir Retreats, also Zeiten konzentrierter spiritueller Praxis, nicht wie üblich an besonders schönen und ruhigen Orten ab, sondern genau dort, wo die Probleme und Herausforderungen auftauchen, um die es uns geht. Als wir anfingen, uns für Obdachlose zu engagieren, haben wir sogenannte Straßen-Retreats begonnen, in denen wir für den begrenzten Zeitraum einer Woche auf der Straße leben. Es geht nicht darum zu glauben, dass wir wie Obdachlose leben, da jeder von uns ein Zuhause hat, in das er wieder zurückkehrt. Aber jeder, der daran teilnimmt, macht einfach die Erfahrung, wie es ist, für eine Woche auf der Straße zu leben, mit all den Herausforderungen, mit der Erfahrung, ignoriert und nicht gewürdigt zu werden, die diese Menschen täglich erleben. Eine andere Erfahrung ist das Retreat im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz. Als ich das erste Mal nach Auschwitz kam, habe ich Millionen von Seelen gespürt, die nur erinnert werden wollten. Ich bezeichne die Erfahrung dieses Orts seitdem als meinen größten Lehrer. Wenn wir uns dem wirklich aussetzen, kann der Geist einfach das Unglaubliche, das hier geschehen ist, nicht fassen. Was kann uns ein Ort wie Auschwitz lehren? Für mich ist Auschwitz ein Beispiel, wie in der Geschichte der Menschheit mit Unterschieden umgegangen wurde. Wir alle gehören zu verschiedenen Gruppen, verschiedenen Clubs. Wir definieren unsere Gruppe insbesondere danach, wen wir nicht zu uns einladen würden, welche Zeitungen oder Bücher wir nicht lesen würden usw. Was machen wir also mit denen, die wir nicht in unseren Club lassen wollen? Das Üblichste ist, sie zu ignorieren. In unseren Straßen-Retreats ist die häufigste Erfahrung, ignoriert zu werden, nicht angeschaut zu werden, gemieden zu werden. Aber vor etwa vierzig Jahren konnte man im Süden der USA als Schwarzer gehängt werden, wenn man eine weiße Frau ansah. Das sind unterschiedliche Arten, mit denen umzugehen, die nicht in unsere Gruppe, in unseren Club sollen. Für Hitler war die endgültige Lösung, alle, die nicht dazu gehören sollten, zu vernichten, Juden, Homosexuelle, Roma, Behinderte, Intellektuelle. Mit diesem Hintergrund habe ich also angefangen, Retreats in Auschwitz durchzuführen, zu denen ich Mitglieder soviel unterschiedlicher Gruppen wie möglich eingeladen habe. Wir haben dieses Retreat bereits 17-mal durchgeführt, mit Teilnehmern von zwanzig unterschiedlichen Ländern, Israelis und Palästinensern, Nachfahren von Angehörigen der SS und Opfern des Holocaust. Jeden Morgen beschäftigen wir uns damit, was in diesem Zusammensein in Auschwitz entsteht, mit dem Ärger, der

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Hilflosigkeit, dem Schuldgefühl, der Angst. Wir versuchen all diesen Emotionen mit Mitgefühl zu begegnen. Im Buddhismus sprechen wir von zwei Arten der Erkenntnis, Prajna und Karuna. Prajna bedeutet nichtduales Erkennen, Karuna bedeutet das Erkennen durch Mitgefühl. Das chinesische Zeichen für Mitgefühl (compassion) hat eine weitere Wurzel, die Entfernung von Angst bedeutet. Zu einem buddhistischen Verständnis von Mitgefühl gehört also das Wegnehmen von Angst. In der Gesellschaft benutzen wir dagegen Angst oft als Mittel zur Kontrolle. Nicht nur in der Familie, auch in der Politik oder in Unternehmen sagen wir: »Tu das nicht, sonst wird etwas Schlimmes passieren.« Wenn wir in schwierigen Situationen Mitgefühl üben, ist das ein Weg, Angst zu verlieren, was uns freier macht in unserem Denken, Fühlen und Handeln. Gerade dort, wo wir uns am verletzlichsten erleben, entsteht die größte Chance für Liebe, Verbundenheit und Heilung. Am besten finde ich das in dem schönen Lied von Leonard Cohen ausgedrückt: Ring the bells that still can ring Forget your perfect offering There is a crack in everything That’s how the light gets in. (Läute die Glocken, die noch klingen, vergiss die perfekte Gabe, Es gibt einen Riss in allen Dingen, so dringt das Licht herein.)

Literatur Glassman, B. (1997/2010). Anweisungen für den Koch (Neuausgabe). Berlin: Edition Steinrich. Wecker, K.; Glassman, B. (2011). Es geht ums Tun und nicht ums Siegen. München: Kösel.

Bernie Glassman Roshi, Zen-Lehrer und international anerkannt als Pionier des Buddhismus im Westen und Gründer des sozial engagierten Buddhismus. Als Gründer der Organisation »Zen-Peace-Makers« entwickelte er auf der Grundlage des traditionellen Zen-Buddhismus eine spirituelle Praxis, deren wesentliches Element soziales Engagement ist. Gemeinsam mit Freunden und Schülern der Zen-Gemeinschaft initiierte er eine Vielzahl spirituell ausgerichteter sozialer Projekte und Unternehmen, wie die Greyston Foundation, ein Hilfswerk für Obdachlose und HIV-Infizierte, die All-Eat Cafes. http://zenpeacemakers.org

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Vom Trennungs- zum Einheitsbewusstsein Annette Kaiser im Interview 36

M. H.: Wie war Ihr Werdegang als spirituelle Lehrerin? A. K.:37 Ich habe mich schon sehr früh als 14-Jährige gefragt: Was ist der Mensch und was ist das Göttliche? In bin zunächst in der christlichen Tradition aufgewachsen und habe dort auch wichtige spirituelle Wurzeln, wie zum Beispiel den Kontakt zur Mystik, bekommen und das Gebet als persönlichen Zugang zu Gott kennengelernt. Sehr prägend war eine längere Auslandsreise nach Südamerika, auf der ich mit einer ganz fremden Kultur und auch mit ungeheurer Armut und Unrecht konfrontiert wurde, die mein Weltbild in Frage stellten. Aus diesen Hintergründen entstand die Frage, die mich später immer wieder leitete: Warum ist die Welt so, wie sie ist? Ich habe mich dann der politischen Ökonomie zugewandt, Volkswirtschaft studiert und mich auch mit der Philosophie Hegels und Feuerbachs beschäftigt. Ich war in dieser Zeit auch sehr aktiv in der 68er-Bewegung und der Frauenbewegung. Doch was mir dort sehr schnell auffiel, war, dass bei all den wichtigen Veränderungen, die daraus entstanden, die Menschen häufig genauso egozentrisch blieben wie diejenigen, gegen die sie sich wandten. Zu dieser Zeit kamen meine spirituellen Wurzeln wieder stärker ins Spiel, ich kam in Kontakt mit den Lehren Gurdjieffs und tibetischem Buddhismus und traf dann schließlich Frau Irina Tweedie, die für die nächsten 17 Jahre meine Lehrerin war. Sie stand in der Tradition der Sufis, sah aber ihre Lehre eher als Teil eines universellen Wissens an, das Menschen zu mehr Bewusstheit führen sollte. In einem Bild ausgedrückt, sehe ich die Traditionen wie die Speichen eines Rads, die alle auf die Nabe hinweisen, welche leer ist. Vielleicht kann die westliche Kultur einen Beitrag zur Transzendierung spiritueller Traditionen ermöglichen. Denn jede Tradition hat ihre Stärken und Schwächen. Man sollte auch im Spirituellen keine Scheu haben, genau hinzuschauen. Auch das spirituelle Bewusstsein entwickelt sich evolutionär und was vor zweihundert Jahren galt, sehen wir jetzt in einem neuen Licht. Es geht heute um einen erwachsenen Umgang mit spirituellen Traditionen. Im Zentrum steht das bewusste Menschsein, in seinem kosmozentrischen Bewusstsein.

36 Das Interview wurde von Markus Hänsel am 17. Dezember 2011 in Freiburg geführt. 37 M. H. = Markus Hänsel. – A. K. = Annette Kaiser.

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Annette Kaiser im Interview: Vom Trennungs- zum Einheitsbewusstsein

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M. H.: Welchen Platz hat Spiritualität im Alltag? A. K.: Mir lag die Verwirklichung des Spirituellen im Alltag immer sehr nah, ich bin ja auch verheiratet und habe Kinder. Ich denke, dass sich im aktuellen Zeitgeist das Spirituelle als Sein im Werden zeigt, das sich in unseren Lebensweisen im Alltag, im Umgang mit den Mitmenschen und den Herausforderungen im Leben zeigt. Spirituelle Praxis ist darauf ausgelegt, Liebe als eine Grundkraft der Welt zu erfahren, die sich aus sich selbst heraus in der Welt manifestieren will. Das führt zu einem Bewusstsein einer Einheit, in dem das Innen und das Außen ebenso wenig voneinander abgetrennt sind wie das Ich und Du. Daraus kann die aktuell dringend nötige Einsicht entstehen, dass alle Verschiedenheit aus einem primären, untrennbaren Einssein entspringt. M. H.: Die meisten Menschen können dieses Bewusstsein von Einheit mit der Welt jedoch nur selten im Alltag aufrechterhalten. A. K.: Auch wenn dieses Einheitsbewusstsein noch nicht verankert ist, hat es schon wesentliche Konsequenzen, wenn wir uns darauf hin ausrichten und damit beginnen, es als Wirklichkeit zu erfahren. Eine Folge davon wäre, dass wir nicht mehr in dem Maß unsere Ressourcen und die Umwelt ausbeuten würden. Eine weitere Folge wäre, dass wir zu einer anderen Wirtschafts-, Finanz- und Bildungspolitik kämen. Der Schlüssel zu einer grundlegenden Veränderung liegt in einer Transzendierung des Trennungsbewusstseins, das in den meisten Lebensbereichen das gängige Paradigma darstellt. Das Weltbild des mechanistischen Zeitalters beruht ja primär auf Trennungen, zunächst die Trennung von einem als unabhängig angenommenen psychophysiologischen Selbst. Ausgehend von diesem getrennten Selbst sind wir getrennt von allem Nicht-Selbst, das heißt, die Welt und das Ich werden als etwas Getrenntes erfahren. Darauf folgt schließlich die Trennung von dem, was wir als das Göttliche bezeichnen können. Es ist ein grundlegender Paradigmenwechsel, wenn wir Bezug nehmen können auf eine Einheit, die vor jeglicher Verschiedenheit ist. Die Verschiedenheit von Kulturen, Religionen wird natürlich respektiert, aber die Grundlage ist eine Verbundenheit von allem miteinander. Wenn wir dagegen weiterhin davon ausgehen, die eigene Person, das eigene Land, das eigene Unternehmen als getrennt von der Welt zu betrachten, dann werden wir, in einem Bild gesprochen, immer in eine Situation kommen, wo wir an einem Tisch sitzen und jeder versucht die Tischdecke etwas weiter auf seine Seite zu ziehen mit der Folge, dass der andere dagegen zieht. Dieser Kampf darum, wer dann am meisten bekommt, ist so nicht lösbar. Die UNO beispielsweise ist ein Gremium, in dem die Vertreter der Länder sitzen und die Anliegen ihrer jeweiligen Länder einbringen; komme ich also von Deutschland, bringe ich nur die Anliegen von Deutschland ein, und wenn es Kompromisse gibt, werden die nur insoweit geschlossen, wie sie wiederum dem eigenen Ziel dienen. Diese Struktur spiegelt also nach wie vor den Egoismus und damit einhergehend eine ethnozentrische Grundhaltung wider. Wenn aber jeder primär die Interessen der ganzen Menschheit im Blick hätte und vertreten würde, dann wäre die Frage im Vordergrund,

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Drei Perspektiven spiritueller Lehrer

was die jeweils beste Lösung wäre im Angesicht des Ganzen, ob das der Zugang zu Ressourcen, Menschrechten oder was auch immer wäre. Das ist natürlich eine radikale Position angesichts der Verhältnisse, die wir sehen, aber von einer spirituellen Erfahrung her die einzig mögliche. Aus dieser Perspektive geht es darum, Samen zu setzen, die sich auf das Gesamtwohl der Menschheit ausrichten. M. H.: Wir leben ja in einer Zeit, in der wir uns eher mit Einzelinteressen identifizieren. Wie kann da ein solches Bewusstsein entstehen? A. K.: Ich bin der Überzeugung, dass die Menschheit das Potenzial hat, ein neues Bewusstsein zu entwickeln, was wir vielleicht nach Jean Gebser integral nennen können. Meine Vision ist die Schaffung eines globalen kooperativen Forums, in dem alle Menschen teilhaben können. Es bedeutet, von einem Nullpunkt-Bewusstsein auszugehen, das in der schon immer bestehenden Einheit wurzelt. Dabei geht es vor allem um Kooperation und Toleranz, sich zu begegnen, ohne die Position einer Partei, Nationalität oder Religion zu vertreten. Zugleich ist die Bereitschaft gefragt, das Gesicht verlieren zu können, also den fixierten Standpunkt loszulassen und damit die beste Lösung, die dem Wohl des Ganzen dient, zu finden. In diesen Foren können wir uns mit grundlegenden Fragen beschäftigen, die alle Menschen betreffen, etwa wie wir die gemeinsamen Ressourcen so verwalten, dass unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Dazu müssten wir beispielsweise auch reflektieren, wie unsere Vorstellung von Eigentum zustande kommt. Das hat stark mit alten Einstellungen zu tun, etwa der Idee, sich die Erde untertan zu machen, oder der immer noch vorhandenen Ansicht der Trennung von Geist und Körper. Dann können wir kreativ entscheiden, was sinnvoll für das Ganze ist. Der Schlüssel ist der Bewusstseinswandel, hin zu einem bewussten Sein im Hierund-Jetzt, das Egozentrik, Partikularinteressen und das Zusammenspiel der Polaritäten erkennt und zugleich transzendiert. Es bedeutet Gewahrsein in jedem Augenblick. Damit löst sich das Identifiziertsein mit Gedanken, Gefühlen, Erwartungen, Rollen auf. Spiegel und Spiegelbild sind als das erkannt, was sie sind, die untrennbare Wirklichkeit, Form und formlos. Ein solches bewusstes Sein enthält in sich eine inhärente Ethik, die sich an dem Wohl aller Menschen und des ganzen Seins orientiert. M. H.: Haben Sie eine Vision von einer Wirtschaft, die auf einem Bewusstsein wechselseitiger Verbundenheit basiert? A. K.: Das wäre primär eine Wirtschaft, die im Dienst der ganzen Menschheit steht. Sie geht davon aus, dass grundsätzlich genug für alle da ist, und verwaltet die Ressourcen wie Energie etc. sorgfältig, sie kreiert keine künstliche Nachfrage, sondern trägt dazu bei, dass ein einfaches und gutes Leben für alle möglich wird. Innere Werte sind dabei eminent wichtig, werden diese vom Tun abgespalten, kostet dies den Menschen und der Wirtschaft immense Lebensenergie. Jetzt besteht noch eine Wahlmöglichkeit, in der Entwicklung aktiv und kreativ nach vorne zu gehen. Aus den Erfahrungen mit Unternehmern haben wir den öffentlichen Auftritt 9/11 auf dem Bundesplatz in Bern

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Annette Kaiser im Interview: Vom Trennungs- zum Einheitsbewusstsein

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ins Leben gerufen. Persönlichkeiten aus der Finanzwelt, Kultur und Unternehmertum sind dort aufgetreten, um für einen Bewusstseinswandel für eine Welt einzustehen. Damit wollten wir Menschen erreichen und Mut machen, für diese Werte jetzt auch öffentlich einzustehen. Dies sind Werte, die in einem tiefen Verständnis von Wirtschaft immanent vorhanden sind. Es ist eine Ethik, die im Dienste der Gesellschaft produziert und damit den Menschen ein besseres Leben ermöglicht. In privaten Gesprächen mit Unternehmern höre ich, dass viele Menschen aus der Wirtschaft auf der Suche danach sind, was ein nächster Schritt in der Gesamtentwicklung sein könnte. Die Zeit der Profitmaximierung, Ausbeutung und gegenseitiger Verdrängung ist vorbei. Was kann das neue Miteinander sein? Wie das dann einzelne Unternehmen machen, ist natürlich eine Herausforderung. Ein erster Schritt könnte sein, dass sich Unternehmer an einen Tisch setzen und ihre Situation, aber auch die Gesellschaft, in der sie leben und wirtschaften, aus einer Metaebene heraus betrachten, die dem Gesamtwohl mehr Raum gibt und daher auch mehr gemeinschaftliche Lösungen schafft, die wiederum nur in Kooperation umgesetzt werden können. Ein Einzelner kann das nicht schaffen und ist machtlos. Im Problem selber liegt oft schon die Lösung, aber wie Einstein sagte, lässt sich die Lösung nicht auf der Ebene finden, auf der das Problem entstanden ist. Es braucht einen Bewusstseinswandel, das heißt einen grundlegenden Perspektivwechsel, um das kreative Potenzial einer Problemsituation zu heben. M. H.: Viele Unternehmen sehen zwar diese Probleme, verhalten sich aber dennoch nach den alten Spielregeln, solange alle anderen eben auch danach spielen. A. K.: Das verstehe ich. Aber machen dies alle, verändert sich nichts, bis die Situation katastrophal ist und Änderung einfach geschieht. So entstehen Symptome wie Entfremdung von der Arbeit, Burnout und ähnliche Muster, die niemandem dienen. M. H.: Bringen wir die Professionen Beratung und Coaching ins Spiel, die sich in den letzten Jahrzehnten stark mit den Themen Kommunikation, Kooperation und Entwicklung beschäftigt haben. Auch dort liegt ein Menschenbild zugrunde, das den Menschen nicht auf mechanisches Funktionieren beschränkt, sondern eher humanistische Werte vertritt. Worin liegt Ihrer Meinung nach der besondere Fokus von Coaching aus einer spirituellen Perspektive? A. K.: Der liegt nach meiner Ansicht in einem nächsten Schritt, den ich als Kommunion bezeichnen würde. Wenn man mit Konzepten wie Information und Kommunikation arbeitet, geht man immer von der grundlegenden Trennung aus, die dann durch Kommunikation überwunden wird. Im Erleben von Kommunion lassen wir uns tatsächlich auf eine Ebene ein, in der wir als Individuum zutiefst voneinander abhängig sind und gleichzeitig bewusstseinsmäßig untrennbar eins sind. In einer solchen Haltung ist jeder Ausdruck und Beitrag auch in seiner Verschiedenheit gewürdigt, wissend um die dahinterliegende Einheit des Seins.

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Drei Perspektiven spiritueller Lehrer

Das würde auch das Vorgehen in einer Beratung verändern. Diese Haltung von bedingungsloser Akzeptanz und Würdigung, die man etwas plakativ, und in dieser Profession nicht üblich, als unkonditionierte Liebe bezeichnen kann, wirkt im Kontakt im Menschen aus sich selbst heraus. Darauf bauen die erklärenden oder beratenden Worte auf. In dieser Präsenz wirkt Stille als großartige Gestaltungskraft. Wenn es gelingt, in einer Beratung einen Raum zu schaffen, in dem die Angst wegfällt, dann eröffnet sich automatisch ein Feld für Kreativität und Intuition, die neue Sichtweisen und Lösungen hervorbringen. Ich bin der Überzeugung, dass auf der seelischen Ebene jeder Mensch kreativ ist und etwas zum Leben beitragen möchte. Wenn wir allerdings meinen, uns ständig abgrenzen zu müssen, und hauptsächlich damit beschäftigt sind, die Angst in Schach zu halten, bleibt dafür wenig Energie. Jenseits von negativ und positiv geht es um ein Sein, das aus sich heraus schöpferisch ist, wie eine Quelle, die sich selbst durch ihr Sein manifestiert. Werden ist die Dynamik, in der Ruhe und Bewegung eins sind. Angst ist nie ein guter Ratgeber. Wenn der Berater jedoch in der Kraft der Gegenwart die Potenziale des Gegenübers anspricht, dann kann eine starke Resonanz entstehen. Ein Coach ist vor allem präsent und will vom dem anderen zunächst nichts, was ein reiches Feld an Möglichkeiten erzeugt. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die absichtsvoll absichtslos ist. Damit ist es gleichzeitig möglich, eine Ausrichtung zu haben, etwas anzupeilen und zugleich losgelöst in der Präsenz zu sein. Es ist ein Tun im Nicht-Tun, das die Taoisten als Wu-Wei bezeichnen. M. H.: Welche Auswirkung hätte diese Art von Beratung auf Führung? A. K.: Es wäre nicht mehr die Persona die führt, sondern das Bewusstsein von Einheit und Verbundenheit, wir nennen das auch Herz oder Seele. M. H.: Frau Kaiser, herzlichen Dank.

Annette Kaiser, Jahrgang 1948, ist spirituelle Lehrerin und spirituelle Leiterin der »Villa Unspunnen« (Schweiz) und der »Windschnur« (Deutschland). Sie hat den »Integralen Übungsweg DO« entwickelt und hat eine eigene Tai-Ji- und Qigong-Schule. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Nach einem Studium in Volkswirtschaft arbeitete sie in der Entwicklungszusammenarbeit, engagierte sich in der »Frauenfrage« und gründete, zur Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, die Tai-Ji-DO-Schule. Während 17 Jahren war sie Schülerin von Irina Tweedie, einer englisch-russischen Sufilehrerin. Seit 1998 führt sie den Sufipfad der Naqshbandiyya-Mujaddidiyya-Linie weiter und begleitet Menschen auf diesem Pfad. Ihr besonderes Anliegen ist die transkonfessionelle Spiritualität. http://villaunspunnen.ch

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