Arbeitsgeschichten: Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision [1 ed.] 9783666408120, 9783525408124

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Arbeitsgeschichten: Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision [1 ed.]
 9783666408120, 9783525408124

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B E R AT E N I N D E R A R B E I T S W E LT

Klaus Obermeyer

Arbeitsgeschichten Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision

Herausgegeben von

Stefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte, Olaf Geramanis

BERATEN IN DER ARBEITSWELT Herausgegeben von Stefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte und Olaf Geramanis

Klaus Obermeyer

Arbeitsgeschichten Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 5 Abbildungen und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: virinaflora/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-607X ISBN 978-3-666-40812-0

Inhalt

Zu dieser Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Die Bedeutung des Narrativen: Erzählungen als Ausgangs- und Endpunkt arbeitsbezogener Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Erzählen als kommunikatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Narrative Spuren in Psychoanalyse, systemischer Beratung und Gestaltpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Kapitelüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Baustoffe von Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Geschichte – Erzählung – Narrativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Historisierte Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Erzählungen als machtvolle Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Sprachfunktionen zwischen Konkretion und Abstraktion . . . . . . . . . . . . 26 Strukturmerkmale von Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Unmittelbarkeit versus Deutung von Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Ein heißes Eisen: Zwischen Kreativität und Fake News. . . . . . . . . . . . . . 34 Einführung in das Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 3 Überall Metaphern: Erzählungen über Arbeit als Gewebe von übertragenen Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Grundstruktur von Metaphern – Hervorheben und Verbergen . . . . . . . . 43 Leitfragen zur Metaphernanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Dichterisch sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Metaphorische Spuren im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Inhalt

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4 Brückenqualitäten: Sprache und Narrative als Medien zwischen Körper und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Brückenqualitäten der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Erste Brückenqualität: Der synästhetische Charakter der Sprache . . . . . 52 Zweite Brückenqualität: Die Handlungs- und Bewegungssuggestionen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Dritte Brückenqualität: Die Machtvermitteltheit der Sprache . . . . . . . . . 53 Konsequenzen für die Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Einige leibliche Aspekte der Erzählungen im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . 57 5 Organisationen sind Erzählungen: Narrative Organisationstheorie . . . 60 Narrative Bausteine der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Geschichte der Organisationstheorie als Wandel zentraler Organisationsmetaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Organisationskulturelle Aspekte im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 6 Plotstrukturen: Archetypische Erzählmuster über Arbeitserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Archetypische Plotstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Wiederkehrende Plotstrukturen in Supervision und Coaching . . . . . . . . 75 Wandel der Plotstruktur im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 7 Schöne Geschichten: Ästhetik als Gütekriterium von Beratung . . . . . 83 Merkmale ästhetischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die Zunft der Berater*innen. Unterschiedliche Schulen – unterschiedliche Ästhetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Nebenwirkungen der ästhetischen Faszination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Ästhetik der Erzählungen im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 8 Gemeinsam erzählen: Zur Vielstimmigkeit der Erzählsituation . . . . . . . . 93 Polyphonie als Strukturprinzip der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Erzählungen sind soziale Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Vielstimmigkeit im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

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Inhalt

9 Verschiebung und Neuerzählung: Das Beratungssystem als poetische Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Poetische Praxis der Berater*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entschiedenheit . . . . . . . . 115 Hoffnung erfinden und weitertragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Poesie der Neuerzählung im Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Inhalt

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Zu dieser Buchreihe

Die Reihe wendet sich an erfahrene Berater*innen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen, und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen. Wir denken aber auch an Kolleg*innen in der Aus- und Weiterbildung, die neben dem Bedürfnis, sich Beratungsexpertise anzueignen, verfolgen wollen, was in der Community praktisch, theoretisch und diskursiv en vogue ist. Als weitere Zielgruppe haben wir mit dieser Reihe Beratungsforscher*innen im Blick, die den Dialog mit einer theoretisch aufgeklärten Praxis und einer praxisaffinen Theorie verfolgen und mitgestalten wollen. Theoretische wie konzeptuelle Basics und auch aktuelle Trends werden sowohl pointiert und kompakt als auch kritisch und kontrovers dargestellt und besprochen. Komprimierende Darstellungen »verstreuten« Wissens genauso wie theoretische und konzeptuelle Weiterentwicklungen von Beratungsansätzen sollen hier Platz haben. Die Bände wollen auf je rund 90 Seiten den Leser*innen die Option eröffnen, sich mit den Themen intensiver vertraut zu machen, als dies bei der Lektüre kleinerer Formate wie Zeitschriftenaufsätzen oder Hand- und Lehrbuchartikeln möglich ist. Die Autor*innen der Reihe werden Themen bearbeiten, die sie aktuell selbst beschäftigen und umtreiben, die aber auch in der Beratungscommunity Virulenz haben und Aufmerksamkeit finden. So werden die Texte nicht einfach abgehangenes Beratungswissen nochmals offerieren und aufbereiten, sondern sich an den vordersten ­Linien aktueller und brisanter Themen und Fragestellungen von Beratung in der Arbeitswelt bewegen. Der gemeinsame Fokus liegt Zu dieser Buchreihe

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dabei auf einer handwerklich fundierten, theoretisch verankerten und gesellschaftlich verantwortlichen Beratung. Die Reihe versteht sich als methoden- und schulenübergreifend, in der nicht einzelne Positionen prämiert werden, sondern zu einem transdisziplinären und interprofessionellen Dialog in der Beratungsszene angeregt wird. Wir laden Sie als Leser*innen dazu ein, sich von der Themenauswahl und der kompakten Qualität der Texte für Ihren Arbeitsalltag in den Feldern Supervision, Coaching und Organisationsberatung inspirieren zu lassen. Stefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte und Olaf Geramanis

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Zu dieser Buchreihe

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 Die Bedeutung des Narrativen: Erzählungen als Ausgangs- und Endpunkt arbeitsbezogener Beratung

»Das ist typisch für Narrative. Sie greifen signifikante Elemente aus dem riesigen Wahrnehmungsfeld ­menschlicher Wirklichkeit heraus und stellen sie in eine Abfolge, die irgendeine Logik hat. Und das kann heilsam sein. Es bringt Ordnung in die Welt.« Siri Hustvedt (2019, S. 196)

An der Quelle von Beratungsprozessen stehen Erzählungen. Klient*innen erzählen ihren Berater*innen ihre Sicht der Dinge. Und auch im Ausklang der Beratungsprozesse wird erzählt. Dann oft die Geschichte des Beratungsprozesses selbst. Gegenstand dieser bilanzierenden Erzählungen ist dann meist, welche Verwandlung die ursprüngliche Problemerzählung im Verlauf der Zusammenarbeit in der Beratung erfahren hat. Probleme treten unter anderem dadurch ins Bewusstsein, dass unser Erzählfluss stockt. Wir können uns auf das, was uns widerfährt, keinen rechten Reim mehr machen, sind möglicherweise sprachlos. Jede Unsicherheit, wie zu handeln sei, geht in der geschwisterlichen Verwobenheit von Handeln und Sprechen mit einer Hemmung der Rede einher. Wie quälend dies sein kann, hat Hugo von Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos an einen Freund so treffend ausgedrückt: »Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu sprechen. […] Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern Die Bedeutung des Narrativen

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die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend ein Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze« (Hofmannsthal, 2001, S. 38 f.). Hofmannsthals Lord Chandos leuchtet auch aus, wie einsam und zornig eine solche Sprachhemmung stimmen kann. Und er ahnt, dass das Versiegen der Sprache auf Grenzerfahrungen hinweist, in denen Erklärungs- und Sprachmuster, die uns bisher hilfreich waren, nicht mehr treffend erscheinen: »Es gelang mir nicht mehr, sie [die Menschen und ihre Handlungen, K.O.] mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheiten zu erfassen« (S. 47). Oft schildern uns Ratsuchende ihre Erfahrungen, ohne schon über eine Erzählung zu verfügen. Der unterbrochene oder fragmentierte Bericht korrespondiert in aller Regel mit einer Unterbrechung des Handlungsflusses. Und umgekehrt: Sobald eine Erzählung über die krisenhafte, unaufgelöste Situation entsteht, die einen stimmigen Ausgang verheißt, steigen die Chancen für neue Handlungsfähigkeit.

Erzählen als kommunikatives Handeln Beratung ist zunächst eine Form des kommunikativen Handelns. Es wird – vor allem sprachbasiert – miteinander kommuniziert, um Antworten auf Fragen und einen Zugewinn an Handlungssicherheit zu erzielen. Der Hinweis auf die Allgegenwärtigkeit von Erzählungen in der Beratung mag trivial erscheinen. Dennoch finde ich es bemerkenswert, dass die Praktiker*innen der Beratung, aber auch die Beratungswissenschaften, in der Vergangenheit kein sehr inniges Verhältnis zu Erzähltheorie und Linguistik gepflegt haben. Dafür mag es einige naheliegende Gründe geben. Die hybride theoretische Grundlegung der arbeitsbezogenen Beratung, die schon über ihre zentralen Fundamente aus Soziologie, Psychologie, Ökonomie und Philosophie kaum Überblick bewahren kann. Vielleicht auch die zunehmende Daten- und Outputorientierung der Arbeitswelt, in der es womöglich 12

Die Bedeutung des Narrativen

nur noch wenig Raum für den Reiz des Erzählens gibt (vgl. Malunat, 2020). Vor allem aber scheint es mir herausfordernd, mit den Mitteln der Sprache über die Sprache selbst nachzudenken. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Und bei diesem Versuch sind wir schreibend oder denkend ständig mit der schmerzlichen Kluft zwischen Sprache und Wirklichkeit konfrontiert. Die Sprache und die Erzählungen sind eben einerseits unverzichtbar und offenbaren doch im selben Atemzug, wie schemenhaft, flüchtig und auslassend sie sind. Dieses Büchlein will vor allem Appetit machen. Appetit auf die reichhaltigen Ressourcen, die sich in Erzählungen über Arbeitserfahrungen für die Beratung offenbaren können. Narrative Beratung wird dabei keinesfalls als geschlossenes Beratungskonzept verstanden. Sensibilität für Inhalt, Form und Kontext von Erzählungen eröffnet Verstehens- und Interventionszugänge neben vielen anderen, die – so meine Hoffnung – für Berater*innen unterschiedlicher theoretischer Herkunft anregend sein können. Es geht nicht darum, einen neuen Beratungsansatz zu propagieren. Die Suchbewegung folgt der Frage, wie die in den erzählten Geschichten aufscheinenden Informationen als diagnostische Ressourcen und zur Gestaltung von Interventionen genutzt werden können. Mein eigenes Interesse an dieser Frage beruht auf der schlichten Erfahrung, dass ich in vielen Beratungen mit meinen Klient*innen einfach nur spreche. Das ganze Arsenal an Aufstellungs-, Visualisierungs- und Systematisierungsmethoden bleibt – manchmal mit schlechtem Gewissen – ungenutzt. Was mich dann tröstet, sind die gelegentlich eindrucksvolle Kraft der Worte und der Nutzen, den Klient*innen aus veränderten Beschreibungen ihrer Wirklichkeiten ziehen können. Bemerkenswert erscheint mir auch, dass teilweise trotz Methoden­ einsatz eine Lähmung bestehen bleibt, wenn es Klient*in und Berater*in nicht gelingt, eine zukunftseröffnende und gangbar anmutende Neubeschreibung der Lage zu entwerfen. Auch die Resultate, die aus dem Einsatz von Methoden und Tools erwachsen, müssen ja in der Regel in gesprochene Worte und handlungsleitende ZukunftsentErzählen als kommunikatives Handeln

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würfe, also in Geschichten über das, was geschehen könnte, übersetzt werden. Das offene Ohr für die Erzählungen der Ratsuchenden ist chancen­ reich, da sie besonders nah ans Handeln gebaut sind. Die Berichte der Ratsuchenden werden zur Erzählung, indem sie dramatische, szenische Elemente einbinden. Dies lässt kleine Filme und Szenen vor unserem inneren Auge entstehen, die eine bestimmte Weiterführung, einen bestimmten Ausgang nahelegen und uns unwillkürlich in mögliche Zukünfte tragen. Dieser erzählerische Aspekt der Problemberichte in der Beratung steht im Zentrum dieses Buches. Das Interesse richtet sich dabei weniger auf die Interpretation von Erzählungen, sondern vielmehr auf deren handlungsleitende Wirkung und Veränderbarkeit.1

Narrative Spuren in Psychoanalyse, systemischer Beratung und Gestaltpsychologie Beratung kommt – zumindest seitens der Ratsuchenden – nicht ohne Erzählungen aus. Deshalb spielen diese auch in allen Traditions­linien von Beratung eine Rolle. Mehr oder weniger explizit und prominent. Das Psychodrama Jacob Levy Morenos beispielsweise ist mit seinem Fokus auf die Inszenierung durch und durch narrativ, ohne dies in der Theoriebildung besonders hervorzuheben. Schauen wir also – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf einige Denklinien in der Beratungsgeschichte, in denen Erzählungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

1 Deshalb bleiben bahnbrechende Denkfiguren zur Textanalyse – wie z. B. die Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns – und andere Strategien linguistischer Textanalyse hier unberücksichtigt. 14

Die Bedeutung des Narrativen

Psychoanalyse und Narration Die Suche nach Anhaltspunkten für narrative Zugänge in der Geschichte der Psychoanalyse führt rasch zu Alfred Lorenzer. Mit seinem Konzept des »szenischen Verstehens« hat er früh einen Prototyp der Verwobenheit von Sprache, Handlung und Veränderung beschrieben. Er hat damit ein Konzept geprägt, das auch im Feld der arbeitsbezogenen Beratung sehr einflussreich war. Die Arbeit mithilfe des »szenischen Verstehens« lebt davon, eine im Hier und Jetzt der Beratungssituation entstandene »Szene« auf eine Weise zu beschreiben, die den Beteiligten den inneren Zusammenhang der Hier- und Jetzt-Situation des Beratungsgeschehens mit der in der Beratung thematisierten Da- und Dort-Situation im realen Leben der Ratsuchenden augenscheinlich nachvollziehbar macht. Die Szene – im Sinne Lorenzers – unterscheidet sich von der bloßen Situation durch ihren »dramatischen« (1973, S. 174) und damit erzählbaren Charakter. Sie ist Überschneidungszone bewusster Lebenspraxis und unbewusster Dynamik. Die Beschreibung der Szene will das Erleben der Beteiligten in ein gemeinsames »Sprachspiel« (S. 203) zusammenführen und die Spiegelung und Reinszenierung der Probleme der Ratsuchenden im Handlungsdialog der Beratungssituation erhellen. Lorenzer hat betont, dass szenisches Verstehen nicht den Gesetzen der Logik folgt (S. 89). Ziel ist vielmehr ein eher metaphorisch-­ atmosphärisches »Evidenzerleben« (S. 105). Evidenz erwächst aus dem leiblich stimmigen Integrationserleben unterschiedlicher Bewusstseins- und Wahrnehmungsebenen. Die Szene spricht dabei selten für sich allein. Sie muss auf eine bestimmte Weise beschrieben und erzählt werden, die ein Aha-Erlebnis auszulösen vermag. Lorenzer war überzeugt, dass die (Wieder-)Herstellung der Erzählfähigkeit heilsames Potenzial hat. Seine Psychoanalyse fokussierte darauf, aus den Leidenswegen der »Sprachzerstörung« eine »Rekonstruktion« (S. 105) verloren gegangener Narrationen zu unternehmen und damit auch eine Erzählfähigkeit zu erarbeiten, die Orientierung und Gestaltungskraft ermöglicht. Narrative Spuren

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Der italienische Psychoanalytiker Antonino Ferro (2009, 2012) verfolgt ein psychotherapeutisches Konzept, das direkt mit der Erzählkunst in Verbindung steht. Ferro versteht »unter Narration jenes Vorgehen des Analytikers während der Therapie, bei dem er ganz und gar dialogisch und ohne besondere, durch Deutungen gesetzte Zäsuren gemeinsam mit dem Patienten ›einen Sinn konstruiert‹. Es ist, als würden Analytiker und Patient zusammen ein Theaterstück entwerfen, dessen Handlungsstränge sich aufeinander beziehen, sich in ihrer Komplexität steigern und sich entwickeln. Dies geschieht bisweilen in einer Art und Weise, die keiner der beiden an der Narration Beteiligten vorhersehen und für möglich halten konnte. Denn keiner von beiden ist im Besitz einer vorab feststehenden Wahrheit. Bei dieser Vorgehensweise tritt eine ko-narrative Transformation oder sogar eine transformative Ko-Narration an die Stelle der Deutung« (2009, S. 10). Besonders liegt Ferro am Herzen, dass Berater*innen den Ratsuchenden ihre eigenen Geschichten, Deutungen und Projektionen nicht mit Macht überstülpen. Er betont den Aspekt des Sich-aufeinanderEinschwingens, den Prozess des Miteinander-Verwebens zweier oder mehrerer Narrative zu einer neuen Gestalt. In Ferros Worten: »Vo­ rausgesetzt wird hier […], dass die Geschichten nicht zur Bestätigung der Theorien des Analytikers dienen, sondern zur narrativen Transformation […] in Übereinstimmung mit der Geschichte und der Innenwelt des Patienten« (2009, S. 25 f.). Beratungsprozesse in ihrer Gänze, aber auch jedes einzelne Treffen im Rahmen von Beratung versteht er als »offenes Werk« (2012, S. 75), in dem sich – ausgehend von den Berichten der Klient*innen oder dem Material aus zurückliegenden Sitzungen – »mögliche Welten« (2012, S. 91) in einem gemeinsamen Suchprozess von Klient*innen und Berater*innen assoziativ entfalten. Dazu braucht es neben dem bewussten Verstand vor allem auch eine Qualität von »Traumdenken im Wachen« (2012, S. 84), um impliziten, verborgenen, vermiedenen, der »Narkotisierung« (2012, S. 93) unterworfenen Entwicklungspfaden des Erzählens eine Chance zu geben. In der psychoanalytischen Tradition erwächst das Interesse an der Erzählung vor allem aus deren Überbrückungspotenzial zwischen 16

Die Bedeutung des Narrativen

unbewusstem Prozess und dem Hier und Jetzt der Beratung. Erzählungen sind der Schlüssel zum Unbewussten. Des Weiteren wird der Aspekt der Zusammenarbeit zwischen Berater*in und Ratsuchenden akzentuiert. Ratsuchende und Beratende arbeiten ko-kreativ am narrativen Material und stiften damit ein gemeinsames Drittes.

Narrative systemische Beratung In den 1990er-Jahren war insbesondere unter Vertreter*innen der systemischen Therapie und Beratung vermehrt von narrativer Beratung die Rede (vgl. Boeckhorst, 1994; Hoffmann, 1996). Auslöser dafür waren unter anderem die Arbeiten von Michael White und David Epston (White u. Epston, 1990; White, 2010), die weniger an beobachtbarem Verhalten als an kollektiven Ideen und Erzählungen interessiert waren. Auch Probleme der Ratsuchenden wurden als Resultat der in ihrem Selbstbild und ihren Lebenskontexten wirksamen Erzählungen verstanden. Folgerichtig arbeiteten Epston und White viel mit Briefen an ihre Klient*innen und anderen schriftlichen Interventionen. Steve de Shazers (2017, 2018) lösungsorientierte Beratung – die sich unter anderem auf Derridas sprachphilosophisch begründeten Ansatz der Dekonstruktion stützt – hat einen narrativen Kern. Hier steht eine Transformation von Problem- in Lösungssprache im Fokus. De Shazer war sich deshalb sicher, dass er das Pro­ blem der Klientin nicht kennen muss, um mit ihr im sprachsensiblen Dialog Lösungsschritte erarbeiten zu können.2 Im Bereich der arbeitsbezogenen Beratung verfolgt Thomas Müller (2017, 2022; Erlach u. Müller, 2020) einen explizit narrativen Ansatz vor systemisch inspiriertem Hintergrund. Hier finden sich vielfältige methodische Anregungen für die Arbeit an und mit Narrationen in Coaching und Organisationsentwicklung. 2 Innerhalb der systemischen Traditionslinie hat zuletzt Hans Lieb (2020, 2021) zum Stellenwert des »Werkzeugs Sprache« in der Beratung argumentiert. Narrative Spuren

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In der systemischen Tradition ist immer wieder explizit von »narrativer Therapie« bzw. »narrativer Praxis« die Rede (vgl. Jakob, Borcsa, Olthof u. von Schlippe 2022)3. Theoretisch stützt sich dieser Diskurs einerseits auf das Denken des »sozialen Konstruktionismus« (vgl. Gergen u. Gergen, 2009), bei White und Epston aber auch ganz maßgeblich auf die Arbeiten von Michel Foucault (2012) und dessen Kritik an der Machtgebundenheit gesellschaftlicher Diskurse. Narrative Arbeit verfolgt in dieser Tradition vor allem das Ziel, unterworfenen und ausgegrenzten Stimmen Gehör zu verschaffen, um damit Erstarrung zu überwinden und Bewegungsräume zu vergrößern.

Wilhelm Salbers Gestaltpsychologie Unter den Wegbereiter*innen eines narrativen Zugangs zur Beratung soll der Psychologe Wilhelm Salber (1928–2016) erwähnt werden, der das psychische Geschehen – in Anlehnung an die Gestaltpsychologie – insgesamt als Formbildungs- und Formveränderungsprozess konzipiert hat (vgl. Salber, 2009). Anders als in der psychoanalytischen und systemischen Tradition, die vor allem an den Inhalten von Erzählungen interessiert sind, wird in Salbers Denken der Form und Struktur einer Erzählung besonderes Augenmerk geschenkt – vielleicht eine der ersten explizit ästhetisch inspirierten Denkfiguren im Feld der Beratung: »Seelisches hängt miteinander nicht nach logischen Regeln, sondern nach Gesetzen von Ganzheit, Gestaltung, Formbildung zusammen. Man könnte überspitzt sagen, im Seelischen herrschten ›ästhetische Gesetze‹« (S. 49). Salber war überzeugt, dass wir erzählbare Geschichten bilden müssen, wenn wir uns selbst und andere verstehen oder weiterentwickeln wollen. Somit sah er auch die Psychologie in der Pflicht, ihren Gegenstand in Erzählformen zu begreifen. Was 3 Das Handbuch »Narrative Praxis«, herausgegeben von Jakob et al. (2022), bietet einen wunderbaren und inspirierenden Überblick über den Einsatz narrativer Arbeit in unterschiedlichen Beratungsfeldern. 18

Die Bedeutung des Narrativen

psychisch der Fall ist, kann in seinem Verständnis in Handlungseinheiten erfasst werden (z. B. ich verdränge etwas), die dann dynamisch verschiedene Metamorphosen durchlaufen (z. B. durch eine Erfahrung wird das Verdrängte ans Licht gebracht). Das Schöpferische dieser Metamorphosen erwächst aus den – wiederum in Sprache gefassten – verwandelten Bedeutungen, die wir den seelischen Phänomenen zuschreiben. Psychische Prozesse sind also als dynamische Veränderungen auf der Zeitlinie beschreibbar, in Salbers Worten als Prozess der »Historisierung«, der das psychische Erleben in einer Struktur auf der Zeitlinie zusammenhält und uns vor Erfahrungen der Defragmentierung schützt: »Die kompletten Geschehensformen werden gegliedert in der Historisierung seelischer Folgen und Weiterführungen, durch Erfahren von Gelingen und Misslingen, durch Verspüren von Vorankommen, Steckenbleiben, durch Hoffnung und Bewährung. Diese Momente beziehen sich als Verwandlungen in einer Historisierung aufeinander. Das bedeutet: Die Entwicklung der seelischen Formenbildung will selbst eine Geschichte werden mit Ausgangslage, Entfaltung, Steigerung, Höhepunkten und Niederlagen« (S. 196, Hervorhebung im Original). Salbers Arbeit fand in der akademischen Psychologie wenig Resonanz. In der Praxis wurde sie allerdings lebhaft rezipiert. Vor allem in der Werbewirtschaft, in der es ja bekanntlich darum geht, Geschichten zu erfinden, die zu etwas führen.

Kapitelüberblick Die folgenden Kapitel widmen sich jeweils einem ausgewählten Blickwinkel auf Erzählungen, der mir für Beratung in der Arbeitswelt vielversprechend erscheint. Angesichts der Komplexität der Hintergründe wird dabei bestenfalls an Eisbergspitzen gekratzt. Mögen die wenigen freigeschabten Kristalle das Interesse der Leser*innen an dem wecken, was unter Wasser verborgen bleibt. Nach dieser Einführung gehe ich in Kapitel 2 der Frage nach, aus welchen Zutaten Erzählungen gemacht sind. Dabei geht es einerKapitelüberblick

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seits um grundlegende Funktionen der Sprache, dem allgemeinsten Rohstoff von Erzählungen. Andererseits werden Strukturmerkmale von Erzählungen als Textsorte skizziert. In Kapitel 3 wird auf die allgegenwärtige metaphorische Struktur unserer Sprache fokussiert. Es folgt der These, dass Metaphern in der Sprache und in Erzählungen nicht Ausnahme, sondern Regel sind. Metaphern haben die Kraft selbsterfüllender Prophezeiungen. Sie können dazu beitragen, Probleme aufrechtzuerhalten. Eine Orientierung auf eine gedeihlichere Zukunft wird durch einen Wandel der in den Erzählungen benutzten Metaphern wahrscheinlicher. Das 4. Kapitel widmet sich der engen Verbindung von Körper und Sprache und deren Potenzialen für Beratung. Das Verhältnis von Körper und Sprache ist wechselseitig verwoben. Veränderte Körperzustände legen veränderte Erzählungen nahe und umgekehrt. Kapitel 5 beschäftigt sich mit narrativen Orga­ nisationstheorien. Diese folgen der These, dass auch ganze Organisationen als Gewebe von Erzählungen verstanden werden können. Solche Erzählungsgewebe über Geschichte, Funktion, Strategie und Ziele hängen in den Organisationen sozusagen in den Tapeten. Sie bilden eine Art Bühnenbild für alles, was in der Organisation passiert, und sind den Beteiligten dennoch nicht immer bewusst. Thema des 6. Kapitels sind die verallgemeinerbaren dramaturgischen Strukturmerkmale unterschiedlicher Typen von Erzählungen. Jede Geschichte hat ihren Plot. Sie umkreist jeweils einen bestimmten Bedeutungskern oder eine Essenz, die mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht werden kann. Der Plot steht für so etwas wie den inhaltlichen und handlungslogischen Kern einer Geschichte. Im 7. Kapitel geht es um die soziale Matrix, in die jede Erzählung, in kollektiver Autor*innenschaft von Erzähler*in und Kontext, eingebunden ist. Jede Erzählung ist Kind der sozialen Situation, in der sie erzählt wird. Wenn wir der Frage nachgehen, warum eine Geschichte so und nicht anders erzählt wird, kann dies unser Verständnis für den Kontext vertiefen, in dem erzählt wird. Kapitel 8 handelt von der ästhetischen Dimension der Erzählungen. Wir werden sehen, inwieweit erzählte Arbeitserzählungen auch als mehr oder weniger »schön« empfunden werden und wie 20

Die Bedeutung des Narrativen

dies ihre Wirkmacht beeinflusst. Das abschließende 9. Kapitel enthält Vorschläge für die praktische Umsetzung einer narrativ gefärbten Beratungskonzeption. Die einzelnen Kapitel versuchen eine gewisse Eigenständigkeit zu wahren, sodass sie durchaus auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Als verbindende Klammer wird am Ende des folgenden Kapitels ein Fallbeispiel skizziert, auf das ich am Ende jedes weiteren Kapitels zurückkommen werde, um die entwickelten Gedanken anhand ein und desselben Falls zu veranschaulichen.4 Es handelt sich dabei um Erfahrungen aus einer einzelnen Supervisionssitzung mit einer Dauer von neunzig Minuten, auf die – je nach inhaltlichem Schwerpunkt der vorangegangenen Kapitel – aus einer jeweils spezifischen Perspektive geschaut werden soll: aus einem metapher­ nanalytischen Blickwinkel, aus der Perspektive der Verkörperung, der in der Organisation tradierten Sinn- und Bedeutungsschemata, der erzählerischen Plotstrukturen und schließlich als Erzählereignis in einer spezifischen sozialen Situation.

4 Dieses Gestaltungsmittel verdanke ich Stefan Busse und Erhard Tietel, die in ihrem 2018 in dieser Reihe erschienenen Band ein ähnliches Vorgehen gewählt haben. Kapitelüberblick

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2  Baustoffe von Erzählungen »Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen.« Motto der Münchner Kammerspiele

Zunächst soll es um die Frage gehen, aus welchen Zutaten Erzählungen ganz grundsätzlich gewoben sind. Dazu gehört natürlich vor allem die Sprache mit ihren vielfältigen Funktionen selbst. Aber auch die allgemeinen Strukturmerkmale, die einen Text zu einer Erzählung machen.

Geschichte – Erzählung – Narrativ Im Folgenden werden immer wieder Begriffe auftauchen, die mittlerweile vielerorts zur Alltagssprache gehören und doch eine knappe Erläuterung verdienen. Die Begriffe »Erzählung« und »Narration« können wir hier syno­ nym behandeln.5 Der grundlegendste Bedeutungskern des Begriffs »Erzählung« scheint: Jemand erzählt einem Gegenüber, dass etwas geschehen ist. Es werden auf der Zeitlinie angeordnete, serielle Handlungsabläufe berichtet. Darauf gründet der szenische Charakter von Erzählungen. Selbst ein Erzählfragment wie »Ich war in Köln und es hat geregnet« impliziert, dass die Erzählerin nicht schon immer in 5 Bei genauerem Hinsehen könnten wir zwischen der Erzählung als gesprochenem Text und der Narration als mentaler Repräsentation von Handlungen, also einer inneren Vorstellung, unterscheiden (Breithaupt, 2022, S. 61). 22

Baustoffe von Erzählungen

Köln war, sondern sich dorthin bewegt hat und die Wetterlage zur Kenntnis genommen hat. Köppe und Kindt akzentuieren diesen seriellen, ereignisverknüpfenden Aspekt von Erzählungen: »Ein Text ist genau dann eine Erzählung, wenn er von mindestens zwei Ereignissen handelt, die temporal geordnet sowie zumindest in einer weiteren Weise sinnhaft miteinander verknüpft sind« (2014, S. 43 f.). In unserem Miniaturbeispiel also der örtliche und zeitliche Bezug – zunächst die Stadt Köln aufsuchen und dann der Wetterlage gewahr werden. Erzählungen überbrücken Zeiträume. Gleichzeitig unterteilen sie den breiten langen Fluss der Erfahrung in abgegrenzte, ausgestanzte Episoden und Sequenzen. Sie handeln meist von Vergangenem, gelegentlich auch von Zukünftigem. Im Hier und Jetzt wird vom Da und Dort erzählt. Die andere Grundspannung, die Erzählungen eingeschrieben ist, resultiert aus einer anderen Doppelperspektive: Es ist sowohl zu fragen, welche Geschichte erzählt wird, als auch, wie und auf welche Weise dies geschieht. Erzählungen haben nicht nur Inhalt, sondern auch Stil (Müller, 2017, S. 33). Jede Erzählung lebt von der Aura der konkreten sozialen Situation, in der sich Erzähler*in und Adressat*innen gerade befinden. Durch zeitliche und gestalterische Transformation wird die Geschichte zur Erzählung. Demgemäß definiert Weber das Erzählen als »adressierte, serielle, entfaltend berichtende Rede über nicht-aktuelle, zeitlich bestimmte Sachverhalte« (1998, S. 63). Das Substantiv »Narrativ« hat seit den 1990er-Jahren enorme Konjunktur. Es unterliegt – das ist kaum von der Hand zu weisen – einem modisch-inflationären Gebrauch. Im Kern meint »Narrativ« eine Erzählung mit sinnstiftender Strahlkraft. Narrative wirken in Gruppen, Organisationen und ganzen Gesellschaften orientierend und können damit Zuversicht vermitteln. Für den Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke sind Narrative Handlungsschemata, die sich als »Erzählformulare« (2013, S. 38) etabliert haben. Sie können von unterschiedlichen Sprecher*innen sinnstiftend ausgefüllt werden. Diese Erzählungen sind dann nicht mehr völlig frei, sondern bauen auf die »Gravitationskraft kulturprägender Narrative« (S. 38), um deren Geschichte – Erzählung – Narrativ

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Wirkmacht im jeweiligen sozialen Kontext zu nutzen. Narrative beruhen auf Werten und sind mit bestimmten emotionalen Stimmungen verbunden. Beispielsweise die Rede vom »amerikanischen Traum«, vom »nachhaltigen Wirtschaften« oder auch wirkmächtige Stereo­ typien wie die »Subjektivierung der Arbeit«, die »Ökonomisierung des Sozialwesens« oder die Legende vom »tatenlosen Jugendamt«. Narrative wachsen auf dem Boden von Problemen. Fritz Breithaupt versteht sie als »Angebot […] zur Auflösung einer Krise« (2022, S. 186). Bisher Unverstandenes soll mithilfe des Narrativs besser verstanden werden. Gleichzeitig werden Narrative komplexen Wirklichkeiten nicht gerecht. Sie können, wie alle Lösungen, zu Problemen werden. In Supervision und Coaching geht es oft darum, solche problemstabilisierenden Narrative in ihrer Wirkmacht zu dekonstruieren und dafür andere ins Bild zu holen, die eine Spur zu neuer Handlungsfähigkeit legen.

Historisierte Erfahrung Das Erzählen scheint eine anthropologische Konstante zu sein. In diesem Sinn spricht Siefer (2015) vom »Erzählinstinkt« des »Homo narrans«. Es kann als zentraler existenzieller Modus, als »Lebensform« (Brockmeyer, 2022) verstanden werden. Wir scheinen unsere Identität aus Erzählungen zu komponieren und werden zu »narrativen Subjekten« (vgl. Schachtner, 2016). Fritz Breithaupt (2022) wirbt für ein »narratives Denken« in Möglichkeitsräumen jenseits reflexhafter Eindeutigkeit als unverzichtbarem Element kreativer Problemlösung. Mit Wilhelm Salber (2009, S. 193 ff.) können wir von einem grundsätzlichen »Historisierungseffekt im seelischen Geschehen« (S. 193) ausgehen. Einer Neigung und auch Notwendigkeit, den Widerfahrnissen aus der äußeren und inneren Welt durch Bildung von Geschichten eine handhabbare Form zu geben. Der Sprachphilosoph Paul Ricœur (1991) beschreibt diesen Historisierungsprozess als Produkt einer Verarbeitung der Wahrneh24

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mung in drei Schritten.6 Die Präfiguration beschreibt erstens die menschliche Neigung, wahrgenommenen Phänomenen eine Ursache zuzuschreiben. Um dies zu leisten, müssen wir auf frühere Erfahrungen zurückgreifen. Wenn plötzlich ein Ball über den Weg rollt und wenig später ein Kind denselben Weg kreuzt, so gehen wir unwillkürlich von einem Zusammenhang der beiden Sachverhalte aus. Der zweite Schritt, die Konfiguration, meint den Gestaltungsprozess, in dem wir unterschiedliche Phänomene zu einer organischen und erzählbaren Geschichte komponieren. Die Refiguration schließlich meint drittens die Veränderung, welche die Rezeption der Geschichte in uns selbst auslöst. Vereinfacht könnten wir sagen: Wir arrangieren unsere Wahrnehmungen zu Geschichten, die uns und unsere Wahrnehmungen dann selbst wieder verändern. Für Ricœur ist unsere Weltwahrnehmung ein Prozess des Erzählens. Die Welt unterscheidet sich in diesem Denken nicht so sehr von Büchern, in denen gelesen wird und die wir unsererseits dann wieder fortschreiben. Wir sind einerseits wirkmächtige Autor*innen und andererseits der Wirkmacht der Geschichten, die uns begegnen und die wir selbst gestalten, ein ganzes Stück weit ausgeliefert. Unsere Erzählungen setzen unseren äußeren und inneren Wirklichkeiten zu. Dieses Wechselspiel von Autorenschaft und Rezeption hilft uns, über die Zeit zu kommen. Oder wie Siri Hustvedt es beschreibt: »Wir müssen zurückblicken und vorausschauen, und wenn es uns gelingt, die Vergangenheit in Geschichten zu rekonstruieren, sind wir vielleicht besser in der Lage, jenen Geschichten zu begegnen, die uns in der Zukunft erwarten« (2019, S. 254).

6 Ricœur bezeichnet diese drei Schritte als Mimesis I–III. Mimesis (von altgriechisch μίμησις mímēsis, deutsch ›Nachahmung‹) bezeichnet ursprünglich das Vermögen, mittels einer Geste eine Wirkung zu erzielen. Historisierte Erfahrung

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Erzählungen als machtvolle Interventionen Die Komposition von Geschichten dient allerdings nicht nur der Strukturierung der Wahrnehmung und der Orientierung. Erzählen erfolgt immer auch absichtsvoll. Wer erzählt, sucht Macht und Einfluss. Am deutlichsten hat sicherlich der Soziologe Pierre Bourdieu den Machtaspekt des Sprechens hervorgehoben (vgl. dazu auch Kapitel 4). In seinem Verständnis werden wir durch die Geschichten, die uns in unseren jeweiligen Sozialisationskontexten prägen, regelrecht dressiert (vgl. Herrmann, 2013) und es bedarf einer »Gegendressur« (S. 156), um Veränderung zu ermöglichen. Kommunikation in Gruppen, Organisationen und Gesellschaften beinhaltet auch – darauf hat vor allem der Sprachphilosoph Robert B. Brandom hingewiesen (vgl. Ebeling, 2009) –, dass Bedeutungen machtvoll festgelegt und Sprechberechtigungen erteilt bzw. sanktionierend verweigert werden.

Sprachfunktionen zwischen Konkretion und Abstraktion Die Sprache, in der erzählt wird, transportiert sachliche Inhalte. Sie weist auf Sachverhalte hin. Gleichzeitig kreiert und befördert sie Atmosphären und Stimmungen. Auf diese grundsätzliche Zweistimmigkeit der Sprache hatte bereits Susanne Langer (1992) fokussiert und vorgeschlagen, die »diskursive Symbolik« der Sprache von deren »präsentativer Symbolik« abzugrenzen. Wobei letztere eben die parasprachlichen, musikalischen, rituellen und magischen Bedeutungsspuren bezeichnet, die in sprachlichen Äußerungen mitschwingen. Paradoxerweise transportieren sprachliche Äußerungen in ihrer präsentativen Qualität auch immer Elemente des Unsagbaren. Auch hier sind sie wieder Brücken zum vorsprachlichen Erleben und zum Unbewussten. Anders als Langer, die den symbolischen Wert der Sprache akzentuiert, interessiert sich Austin (1979) für den Handlungsaspekt der Sprache. Jeder sprachliche Ausdruck kann auch als zweckdienliche 26

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Handlung in der Welt verstanden werden. Austin unterscheidet in seiner »Sprechakttheorie« konstative und performative Äußerungen. Erstere folgen – in einer ähnlichen Logik wie bei Langers »diskursivem« Symbolverständnis – der Intention, Sachverhalte und Phänomene in der Welt zu beschreiben. Sie können deshalb – in Austins Verständnis –, da sie auf Eindeutigkeit orientieren, richtig oder falsch sein. Die performativen Aspekte verfolgen hingegen die Intention, in der Welt einen Effekt zu bewirken, und können in dieser Absicht gelingen oder misslingen. Wenn wir erzählte Geschichten als sprachliche Äußerungen analysieren, werden wir in ihnen alle drei Aspekte vorfinden (vgl. Abbildung 1): Sie sind erstens in gewissen Anteilen eindeutig und unmissverständlich. Zweitens sind sie zutiefst vieldeutig, atmosphärisch und wie ein Musikstück oder Kunstwerk von den subjektiven und vorsymbolischen verkörperten Erfahrungen gefärbt, in denen Erzähler*in und Adressat*in jeweils stehen. Schließlich wollen Äußerungen handelnd einen atmosphärischen oder aktionalen Effekt erzielen.

Kontext

Kontext

1.

2.

Kontext

3.

Kontext

Abb.1: Drei Wirkdimensionen von Sprache

Diese Wirkdimensionen sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, sehr stark kontextabhängig. Ein Gedicht, das in der einen konkreten Situation eine als richtig empfundene Schilderung eines FrühSprachfunktionen zwischen Konkretion und Abstraktion

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lingstages evoziert und die Adressierten – im Sinne einer wirksamen Aktion – veranlasst, Urlaubspläne zu schmieden oder in schwärmerischer Stimmung einen Park aufzusuchen, wird in einer anderen ­Situation möglicherweise Ärger auslösen und als kitschig oder völlig unangemessen empfunden. Der Fachdiskurs über das, was in Supervision und Coaching gesprochen und erzählt wird, scheint mir bisher überwiegend kognitiv ausgerichtet. Es überwiegen Fachgespräche, die sich mit diskursiven und konstativen Äußerungen befassen. Gleichzeitig sind die vieldeutigen und suggestiven Aspekte jedes Sprechaktes nicht stillzustellen. Sie mögen riskant sein, sind aber vor allem enorm ressourcenvoll und vermögen – sozusagen als Aura jedes Sprechaktes – relevante Wirkungen auszulösen, die für das Ergebnis von Beratung maßgeblich sind. Der russische Sprachwissenschaftler Roman Jakobson (1886–1992) hat – in einer etwas anderen Systematik – sechs Sprachfunktionen differenziert (vgl. Tabelle auf S. 29). Die ersten vier Sprachfunktionen, die refe­renzielle, expressive, appellative und phatische Funktion, standen Pate für Friedemann Schulz von Thuns (2014) populäres und wirkmächtiges Modell der »Vier Seiten einer Nachricht«, in dem Sach-, Selbstoffenbarungs-, Appell- und Beziehungsaspekte einer Aussage unterschieden werden. Die metasprachliche und die poetische Sprachfunktion werden in Schulz von Thuns Modell nicht mehr genannt. Die metasprachliche Funktion liegt nach Jakobson in der vermutlich nur bei Menschen gegebenen Fähigkeit, über den Sprachgebrauch selbst metareflexiv nachzudenken. Wir können stets fragen, warum wir etwas in einer bestimmten Situation so und nicht anders gesagt haben. Diese Fähigkeit eröffnet ein Füllhorn an Verstehenszugängen und Veränderungspotenzialen. Tatsächlich können wir uns bewusst vornehmen, zukünftig andere Worte zu gebrauchen, andere Formulierungen zu wählen und Geschichten neu zu erzählen. Jakobsons poetische Sprachfunktion, ein zentraler Aspekt von Susanne Langers performativem Sprachverständnis, akzentuiert die uns allen vertraute Erfahrung, dass die Sprache durch ihre schiere 28

Baustoffe von Erzählungen

Tab.: Sprachfunktionen Jakobson Sprachfunktionen:

Schulz von Thun Seiten einer Nachricht:

Referenzielle Funktion:

Gegenstände und Sachverhalte werden dargestellt und bezeichnet

Sachseite

Expressive, emotive Funktion:

Sprechende drücken – bewusst oder unbewusst – etwas über sich selbst aus

Selbstoffenbarungsseite

Appellative (konative) Funktion:

Sprechende versuchen Adressat*innen zu beeinflussen

Appellseite

Phatische Funktion:

Einen Kontakt herstellen, halten, Beziehungsseite verändern, unterbrechen, verlängern

Metasprachliche Funktion:

Reflexion über den Sprachgebrauch im Kontext

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Poetische Funktion:

Sprache wird durch die Form ihres Erscheinens zur besonderen Erfahrung

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Form, ihre Kunstfertigkeit, ihre Zuspitzung, ihren Klang, ihr Tempo beeindrucken kann. Auch wenn wir in fachlichen und Arbeitskontexten vielleicht eher in einer Welt des sachlichen Diskurses sozialisiert sind – die alltägliche Wirklichkeit von Supervision und Coaching ist, so meine Vermutung und Erfahrung, sehr deutlich von performativen Aspekten im Sinne Langers geprägt. Wir können sinnvoll fragen, welche musikalische Anmutung eine Problem- oder Lösungserzählung in der Beratung hat und welche – vorsprachlich grundierten – Atmosphären kreiert werden. Dieser musikalische Aspekt von Geschichten ist einerseits vom jeweiligen Klang der Stimme und von der Sprach­melodie geprägt (Prosodie). Aber auch die von Klient*innen oder Berater*innen gewählten Worte und die in den Erzählungen vermittelten Stimmungen machen einen maßgeblichen Unterschied. Natürlich ist die schöne Literatur, vor allem die Lyrik, die große Domäne eines atmosphärischen Sprachgebrauchs. Oft suchen auch hier die konstative und die performative Seite der Texte eine gewisse Balance. Es gibt aber auch Gedichte, die bewusst und sehr eindimenSprachfunktionen zwischen Konkretion und Abstraktion

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sional auf die atmosphärisch-musikalische Qualität setzen. Erstmalig vielleicht in der Lyrik der sogenannten französischen Symbolisten. Sie wählten ihre Worte unabhängig von deren ursprünglicher Bedeutung, um allein den inneren subjektiven Prozess der Dichter*innen in ihrem Verhältnis zur Welt auszudrücken. Das Ziel war und ist dabei, die Zeichen, Worte und Symbole von ihren ursprünglichen Bedeutungen (Referenten) zu lösen, um einen spezifischen und einzigartigen Fluss von Gefühlen zu vermitteln. Nehmen wir einen Absatz aus Stéphane Mallarmés Gedicht »Der Würfelwurf« von 1897: »wachsam zögernd kreisend strahlend und nachdenklich vor dem Stillstand an einem letzten weihenden Punkt Jeder Gedanken wagt einen Würfelwurf«7 Ohne ein einziges Satzzeichen versucht dieses Gedicht Klang und Atmosphäre zu erzeugen. Vielleicht umschreibt es ein Zwischenreich. Klare Fokussiertheit, die ins Zufällig-Offene eines Würfelwurfs kippt. Man mag dies, analog zur Entwicklung in der Malerei, als wachsende Neigung zur Abstraktion verstehen. Diese Handhabung der Sprache spielt mit einer allen sprachlichen Aussagen eingeschriebenen metaphorischen Spur (vgl. Kapitel 3). Immer wenn wir etwas sagen, klingen auch scheinbar fernliegende Bedeutungen, Atmosphären und Verkörperungen an. Diese weit ausgreifenden Bedeutungshöfe – Bühler sprach vom »Sphärengeruch der Wörter« (Bühler, zit. nach Gerk, 2021, S. 171) – erwachsen aus den Erfahrungen, die wir kollektiv wie auch individuell über die Zeit mit Sprache gemacht haben. Wie jeder Ton eine lange Reihe von Obertönen zum Mitklingen bringt, so rührt jede sprachliche Äußerung an einen Kosmos verkörperter und kognitiver Erfahrungs- und Bedeutungsnetze. Mit 7 Mallarmé, 1995, S. 18. 30

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diesem Überschuss, der sowohl gedeihliche als auch riskante Seiten hat, ist immer zu rechnen. Auf jeden Fall unterscheidet sich das »narrative Wissen« (Lyotard, 1986, S. 63) vom wissenschaftlichen Wissen der Moderne. »Während es dem wissenschaftlichen Wissen meist um das Allgemeine und Objektive geht, zielt das narrative Wissen auf das Konkrete, Besondere, Transitorische und Subjektive« (Fahrenwald, 2011, S. 105).

Strukturmerkmale von Geschichten Aber bleiben wir vielleicht besser erst einmal auf dem Teppich und wenden uns etwas nüchterner der grundlegenden formalen Struktur von Narrationen zu. Geschichten haben bestimmte Strukturmerkmale gemeinsam (vgl. Müller, 2017, S. 26 ff.; Titzmann, 2013): Ȥ Zunächst haben sie einen Anfang und ein Ende und spielen in bestimmten geografischen Räumen. Sie greifen einen bestimmten episodischen Ausschnitt aus Zeit und Raum auf. Ȥ Geschichten ranken sich um Veränderung. Die Dinge sind am Ende der Geschichte nicht mehr das, was sie am Anfang waren. Ȥ Der Prozess der Veränderung entfaltet sich um Ereignisse herum. Es gibt in Geschichten in aller Regel Schlüsselereignisse bzw. Meilensteine. Ȥ Geschichten werden über Personen erzählt. Es gibt Hauptfiguren und ein Geflecht von Beziehungssubjekten in Form von Gegenspieler*innen, Helfer*innen etc. Geschichten handeln von Protagonist*innen und deren sozialer Umwelt. Ȥ Zu jeder Geschichte im hier skizzierten Sinn gibt es potenziell unendlich viele Erzählungen. Abhängig vom Blickpunkt, der Subjektivität und der Interessenlage der Erzähler*innen variieren Erzählungen in breiter Vielfalt.

Strukturmerkmale von Geschichten

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Unmittelbarkeit versus Deutung von Erzählungen Wenn wir nun die jeweilige Narration näher untersuchen wollen, bieten sich folgende analytische Blickwinkel an (vgl. Müller, 2017, S. 86 ff.): Erstens können wir uns die Topografie der erzählten Welt anschauen. Diese umfasst alles, was uns an der Oberfläche der Erzählung direkt ins Auge springt. Die Orte und Räume, in denen die Geschichte spielt, ihre Zeit- und Ereignisstruktur, die Relationen zwischen den Elementen der Geschichte sowie die Sprachbilder und Metaphern, die benutzt werden. Zum Zweiten hat jede Erzählung eine verborgene Schicht. Diese umfasst die der Erzählung zugrunde liegenden Regeln, Glaubenssätze und Wertesysteme. Diese Ebene erzählt viel über die Subjektivität der Erzähler*innen und über die verborgenen Spielregeln der Situation, in der erzählt wird. Eine Tiefenschicht also, der sich meist nur ahnend, im Wege der Interpretation, anzunähern ist. Wenn wir uns klarmachen, dass wir einerseits die oberflächliche Topografie einer Erzählung und andererseits die Tiefendimension der verborgenen Denkmodelle anschauen können, sind wir an einer entscheidenden Weggabelung angekommen, dem Spannungsfeld von Deutung bzw. Interpretation und der unmittelbaren Wirkung sprachlicher Phänomene. Diese Janusköpfigkeit durchzieht die gesamte Geschichte der Sprach- und Kulturwissenschaften. Nehmen wir ein schlichtes Märchen wie Hänsel und Gretel. Die Geschichte hat einerseits eine unmittelbar faszinierende Wirkung. Schließlich ist eine Menge los. Die Dinge enden nur mit knapper Not glücklich und hätten auch anders ausgehen können. Auf der anderen Seite war auch dieses Märchen immer wieder Gegenstand von Interpretationen. Diese reichen im Fall von Hänsel und Gretel von der psychoanalytisch inspirierten Auslegung, das Märchen zeige die He­rausforderungen des Flüggewerdens aus elterlichen Versorgungsstrukturen, bis hin zu der Lesart, es handele sich um eine präfaschistische Pogromstory, da der Hexe schließlich von vornherein Böses 32

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unterstellt und sie schließlich zu allem Übel auch noch umgebracht werde.8 Interpretation sucht nach dem Verborgenen. Die Oberflächenstruktur der Sprache, Zeichen und Symbole werden dabei lediglich als Sprungbrett zu einer tieferen Bedeutungsdimension verstanden, die es im Prozess des Verstehens freizulegen gilt. Interpretation hat aber auch Nebenwirkungen. Soweit der Fokus der Wahrnehmung auf etwas Dahinter- bzw. Darunterliegendes verschoben wird, entfernt er sich vom Zauber der Unmittelbarkeit der gesprochenen Worte und Erzählungen. Wir müssen nicht zwangsläufig interpretieren, um uns die Wirkkraft und das Veränderungspotenzial von Erzählungen zu erschließen. Auch das Wirkenlassen, das Assoziieren und fiktionale Weitererzählen erschließen einen Kosmos von Bedeutungen und Entwicklungen. Der Interpretation steht das assoziative Spiel mit den Worten, das »Apropos« (vgl. Gahse, 2020, S. 8), als Brücke zum nächsten Einfall gegenüber. Beide Blickwinkel haben ihre Potenziale und können kombiniert werden (vgl. Obermeyer u. Pühl, 2015, S. 169 ff.). Vielleicht hat auch die arbeitsbezogene Beratung einen gewissen Hang zur Interpretation. Zumindest in den supervisorischen Kulturen scheint mir dies so zu sein. Immer mal wieder wird Supervision ganz grundsätzlich als »Verstehensdisziplin« charakterisiert, die Einsicht vermitteln soll. In einem etwas weiteren Verständnis kann Beratung aber auch als Herstellung von Erfahrungsräumen verstanden werden. Wenn wir erleben können, wie Erzählungen transformiert werden, sich allmählich anders anfühlen und wünschenswerte Zukünfte tagträumend und experimentierend vorwegnehmen, dann ist oft schon eine Menge getan. Dazu muss nicht zwingend etwas Neues verstanden oder eine Tiefenschicht interpretierend freigelegt werden.

8 Vergleiche http://www.maerchenpaedagogik.de/geister_materialien_haensel_ gretel.pdf (Zugriff am 2.1.2023). Unmittelbarkeit versus Deutung von Erzählungen

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Ein heißes Eisen: Zwischen Kreativität und Fake News Das hereinbrechende digitale Zeitalter hat alle, die über Zugang zu digitalen Medien verfügen, in die Lage versetzt, mit selbsterzählten Geschichten an die Öffentlichkeit zu treten. Vielleicht sind es diese Potenziale, die Narrationen heute zu noch schärferen Waffen m ­ achen als in der Vergangenheit. Fake News, die millionenfach transportierten Kampfbegriffe der politischen Auseinandersetzungen um politische Korrektheit, Lügenpresse bis hin zu gezielter Hassrede oder Cybermobbing, werfen ein Licht auf das destruktive Potenzial der digital vervielfältigten Narrationen. Selbst kriegerische Auseinander­ setzungen werden mehr denn je als Kampf gewaltlegitimierender Erzählungen geführt. In geopolitischen Konflikten ist auf besonders schmerzliche Weise erfahrbar, dass es manchmal kaum noch Wege zu geben scheint, Menschen, die unterschiedlichen Kernerzählungen folgen, miteinander in ein verbindliches Gespräch zu bringen. Diese Totalität des behauptenden Sprechens hat das Erzählen in Verruf gebracht. Jonathan Gottschall hält Geschichten für »Beeinflussungsmaschinen« (2021, S. 12) und stellt damit den Machtaspekt vor alles andere. Für andere vernebeln Narrationen schlicht das klare Denken (vgl. El Ouassil u. Karg, 2021). Sie folgen damit der Tradition Platos, der erwogen haben soll, die Poeten aus der Stadt zu jagen, um die Rationalität zu schützen. Wenn wir das gedeihlich-kreative Potenzial der Erzählungen und des Erfindungsgeistes nicht aufgeben wollen, entbindet uns das nicht von ethischer Verantwortung und der konstanten Suche nach respektvollen Haltungen. Die Erzählungen, die wir in Beratungen entwickeln, verfügen über unendliche Vielfalt und sind dennoch weit entfernt von einem beliebigen »Alles ist möglich«. Ganz im Gegenteil. Narratives Potenzial, das, wie wir sehen werden, immer mit Macht verknüpft ist, verpflichtet in besonderem Maß zu verantwortlichen Entscheidungen. Erzählungen bewegen sich zwischen Fiktion und Realität. Vermutlich müssen wir sogar einräumen, dass in vielen Fällen unentscheidbar bleibt, was Wahrheit und Erfindung ist. Menschliche Kultu34

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ren, auch in Organisationen, bleiben sich immer über weite Strecken fremd. »Sie träumen und dichten sich eher, als dass sie sich denken« (Koschorke, 2013, S. 398). Jede Erkenntnis hat ihre fiktionalen Anteile. Erkenntnis muss im engeren wissenschaftlichen Sinn falsifizierbar sein. Im narrativen Sinn geht es eher um Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit. »Das narrative Wissen erfährt seine Legitimation […] durch den Akt des Erzählens selbst« (Fahrenwald, 2011, S. 104). Dieses Zwielicht ist aber weit entfernt von der Destruktivität der »Fake News«. Fake News meint mehr als Poesie oder journalistisch mangelhafte Recherche. »Zentral dabei ist die Intention der Falschmeldung, die Täuschungsabsicht mit dem Ziel, die öffentliche Meinungsbildung strategisch zu beeinflussen« (Grimm, Keber u. Zöllner, 2020, S. 107). Unglücklicherweise ist diese Trennungslinie selten eindeutig. Auch in den Organisationen werden in aller Regel Geschichten platziert, die – auch wenn dies den Akteur*innen nicht immer bewusst ist – klar strategisch motiviert und ein Stück Fortsetzung der Mikropolitik mit anderen Mitteln sind. Wie oft wurde beispielsweise die Geschichte erzählt, dass Organisationen wachsen oder schrumpfen müssen, um überlebensfähig zu sein. Solche »Plots« sind bei Licht betrachtet oft nicht so alternativlos, wie sie erzählt werden. Auch hier hilft nur eine tiefenscharfe und ethisch begründete Analyse der Vielschichtigkeit dessen, was mit einer konkreten Erzählung gemeint und intendiert ist. Als vorläufige Leitidee möchte ich vorschlagen, vor allem solche Erzählungen in der Beratung zu befördern, die ihre eigene Ambivalenz, Unsicherheit und Vieldeutigkeit, einschließlich ihres beschränkten Geltungsbereichs, möglichst transparent durchscheinen lassen (vgl. Obermeyer, 2019a). Ganz anders als die Totalität der Fake News setzt narratives Denken immer auf Optionen des anderen Ausgangs, der anderen Perspektive, der »Multiversionalität«, wie Fritz Breithaupt (2022, S. 247) es nennt. In unmittelbarer Nachbarschaft des Spannungsfeldes um Wahrheit und Erfindung steht das Verhältnis von Spiel und Ernst. Die Gestaltung, Fortentwicklung und Überschreibung von Geschichten hat viel Spielerisches. Kreative Gespräche zeichnen sich häufig durch atmoEin heißes Eisen: Zwischen Kreativität und Fake News

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sphärische Leichtigkeit aus. Gute Beratungen können oft regelrecht an die Grenze des Blödelns kommen. »Blödeln« beschreibt einen relativ ungesteuerten, dynamischen Kommunikationsprozess, in dem in voller Absicht Unsinn geredet wird. Und zwar in einem Prozess, in dem sich die Beteiligten gegenseitig anstacheln. Für Wellershoff geht es dabei um Spiel, das auf eine »fortschreitende Chaotisierung der Realität drängt und sich dabei jeder Kontrolle durch verinnerlichte Normen der Vernunft oder des Geschmackes zu entziehen versucht« (1976, S. 338). Dieses Durcheinander kann sehr hilfreich sein, um eingefahrene Denkfiguren aufzuweichen, und kann Spaß machen. Gleichzeitig steht es in der Gefahr, beiläufig in verletzende Zonen abzudriften und jeden Bezug zum häufig tiefen Ernst der verhandelten Themen und damit auch die Würde zu verlieren. Auch regressives Spiel und verantwortlicher Ernst sind in den narrativen Sprachspielen sorgsam zu balancieren. Kritische Vernunft und sinnlicher Rausch können in ein spannungsreiches Verhältnis geraten. Der Anspruch, die eigene sinnlich-ästhetische Berührung für eine kritisch-distanzierte Metareflexion offen zu halten, sollte dabei nie über Bord gehen.

Einführung in das Fallbeispiel9 Das Fallbeispiel – das uns durch dieses Buch begleiten wird – führt uns in eine recht alltägliche Fallsupervision im Team einer Einrichtung der ambulanten psychiatrischen Versorgung. Zehn sozialpädagogische Fachkräfte bieten Eingliederungs- und Familienhilfen für Menschen an, bei denen eine psychiatrische Erkrankung diagnostiziert wurde. Bis vor etwa zwei Jahren wurden ausschließlich Eingliederungshilfen angeboten. Die Sozialpädagogischen Familienhilfen, die auf dem Kinder- und Jugendhilfegesetz beruhen, sind dazugekommen, da der Trä-

9 Die Namen der Beteiligten sowie auch der Kontext des Fallbeispiels wurden anonymisiert und verfremdet, um Dritten keine Rückschlüsse auf den tatsächlichen Kontext zu ermöglichen. 36

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gerorganisation daran gelegen war, die Produktpalette zu erweitern. Dies, nachdem es im Bereich der Eingliederungshilfe zu einem für den Fortbestand der Organisation bedrohlichen Finanzierungsengpass gekommen war. In aller Kürze kann der Ablauf der 90 Minuten dauernden Supervisionssitzung – auf den wir am Ende jedes Kapitels zurückkommen – so umrissen werden: Eine Sozialarbeiterin des Teams – Frau Mahn – berichtet von ihrer Sorge um die Kinder einer Familie, für die sie eine sozialpädagogische Familienhilfe durchführt. Es mehrten sich Anzeichen, dass die Eltern erneut Drogen konsumierten und die Kinder vernachlässigten. Die Sozialarbeiterin ist unsicher, ob sie die für den Fall zuständige Jugendamtsmitarbeiterin über diese neue entstandene Sorge informieren soll, und wünscht sich Unterstützung bei der Abwägung dieser Entscheidung. Im Team dominiert zunächst Skepsis hinsichtlich der Vertiefung der Kooperation mit dem Jugendamt.   Nach einer Arbeitsphase, in der die Teammitglieder Identifizierungen mit den Kindern in der Familie suchen, verändert sich die Atmosphäre. Die Sozialarbeiterin zeigt sich getroffen von Kommentaren ihrer Klientin, die ihre Kinderlosigkeit und fehlende Lebenserfahrung als Mutter thematisieren. Sie erschließt sich ein verändertes Verständnis dieser vermeintlichen Attacke. Schließlich taucht die Idee einer »Prozession zum Jugendamt« im Gespräch auf. Dieses Bild wird im weiteren Verlauf der Sitzung ausgemalt und fiktional ausgestaltet.

Und nun etwas detaillierter zum Anfang der Fallberatung: Die Sozialarbeiterin – Frau Mahn – berichtet von einem Fall aus der Familienhilfe. Eine Familie, die sie betreut, bereite ihr »ständiges Herzklopfen«, da es Anzeichen dafür gebe, dass beide Elternteile illegale Drogen konsumieren. Beide sollen ihren Lebensmittelpunkt über viele Jahre in der Drogenszene gehabt haben. Seitdem sich jedoch der jetzt dreijährige Jamie angekündigt hatte, seien beide Eltern abstinent geblieben. Dies auch nach der Geburt von Jamies jetzt acht Monate alter Schwester Einführung in das Fallbeispiel

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Kylie. Nun hege die Sozialpädagogin die Sorge, dass zumindest die 32-jährige Mutter Mandy »wieder drauf« sei. Sie habe diese am helllichten Tag auf dem Sofa schlafend angetroffen. Sie sei kaum erweckbar gewesen und habe verengte Pupillen gehabt. Das Baby habe im Bett der Eltern geschlafen und sei anscheinend länger nicht gewickelt worden. Jamie habe unbeaufsichtigt und allein im Nebenzimmer gespielt. Mandy habe »keinerlei Problembewusstsein« gezeigt. Sie habe ihre Müdigkeit auf eine Nacht mit wenig Schlaf und die engen Pupillen auf das helle Tageslicht geschoben. Die »Vorwürfe« der Sozialpädagogin seien »zum Kotzen«. Sie führe sich auf wie eine »Klosterschwester« und lege es einzig und allein darauf an, dass die Kinder durch das Jugendamt aus der Familie genommen würden, da sie – die Sozialpädagogin – es aufgrund ihrer eigenen Kinderlosigkeit nicht ertragen könne, eine glückliche Mutter zu sehen. Der »eindeutige Drogenrückfall« halte Frau Mahn auch deshalb »schlaflos«, da sie sich zwei Jahre lang abgerackert habe, um eine Arbeitsbeziehung mit der »durch und durch misstrauischen« Mandy herzustellen. Die Mutter habe sich »gewunden wie ein Aal« und die Sozialarbeiterin habe mit ihrer Sorge um die Kinder »hinterm Berg gehalten«, um die Beziehung nicht zu belasten. Erst vor wenigen Monaten habe sich eine gewisse Tragfähigkeit entwickelt und man habe, wenn auch »auf dünnem Eis, zusammen gehen« können. Ihre Frage sei jetzt, ob sie weiter »stillhalten« solle oder ob das Jugendamt zu informieren sei. Letzteres würde bei Mandy und dem Kindsvater Georg »wie eine Bombe einschlagen«. Der Hilfeprozess würde dann »hochgehen«. In der ersten Resonanz scheint bei einem Teil des Teams zunächst eine aggressive Stimmung gegen das Jugendamt auf. Die fallzuständige Fachkraft im Jugendamt – Frau Streng – sei dafür bekannt, »völlig hysterisch« zu werden, sobald auch »nur ein Hauch von illegalen Drogen« im Spiel sei. Andererseits sei es ihr »völlig schnurzegal«, wenn in Familien »jeden Abend sechs Flaschen Bier« getrunken würden. Es sei »ein frommer Wunsch«, mit dieser Frau kooperieren zu wollen. Andere im Team zeigen sich zunächst still und kümmern sich um die corona­bedingt erforderliche regelmäßige Lüftung des Raumes. Die Atmosphäre ist 38

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nicht zuletzt auch wegen dieser besonderen Umstände gereizt und etwas unkonzentriert. Immer mal wieder Durchzug, der Supervisor und andere sitzen dann in Mantel und mit Schal in der Runde. Der Lärm der vierspurigen Straße vor dem Haus dringt relativ ungefiltert in die Supervisionsrunde. Alles findet in einer für die Supervision zweckentfremdeten Cafeteria eines Nachbarunternehmens statt. Die Teilnehmenden sitzen – anders als gewöhnlich – in großen Abständen. Alle müssen laut sprechen, um gehört zu werden. In diesem knappen Exposé der Frau Mahn zu ihrem Fall und der ersten Resonanz ihrer Kolleg*innen stecken eine ganze Reihe von Erzählfragmenten: Erzählung A) Die Drogenerzählung: Es war einmal ein von Drogen abhängiges Paar, das seit dem Bekanntwerden einer Schwangerschaft abstinent gelebt hat. Seit Kurzem nimmt die Sozialarbeiterin bei der Mutter der Kinder Phänomene wahr, die sie auf einen Rückfall in den Drogenkonsum schließen lassen. Die so Verdächtigte weist dies jedoch vehement zurück. Erzählung B) Die Hilfeerzählung: Eine seit etwa zwei Jahren laufende Familienhilfe – eine der ersten dieses Hilfeformats, das von dem Träger angeboten wird – war zunächst über lange Zeit von einer schwierigen und fragilen, misstrauischen Hilfebeziehung zur Sozialpädagogin geprägt. Seit einigen Monaten hat sich etwas mehr Vertrauen gebildet. Die Sorge hinsichtlich des Drogenkonsums erlebt die Sozialpädagogin jetzt als große Bedrohung für dieses aufgekeimte Vertrauen. Insbesondere falls das Jugendamt informiert werden sollte, befürchtet die Sozialarbeiterin einen Bruch mit der zu betreuenden Familie. Jetzt steckt die Sozialarbeiterin in einer Sackgasse fest. Erzählung C) Die Jugendamtserzählung: Es wird von einer Fachkraft im Jugendamt erzählt, die zwischen Hysterie und Teilnahmslosigkeit schwankt. In Fällen von drogenkonsumierenden Eltern verhält sie sich Einführung in das Fallbeispiel

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ängstlich bis panisch. Bei Eltern, die Alkohol konsumieren, dominiert Verharmlosung. Erzählung D) Die Mutterschaftserzählung: Eine junge Mutter trifft auf eine kinderlose Sozialarbeiterin. Als die Mutter mit dem Verdacht des Drogenkonsums konfrontiert wird, stellt sie diesen Vorwurf in den Kontext der Kinderlosigkeit der Sozialarbeiterin und unterstellt ihr Neid und Missgunst hinsichtlich der Mutterschaft als handlungsleitendem Motiv. Diese Erzählungen erfahren im Laufe der Supervisionssitzung eine mehr oder weniger weitgehende Transformation. Wie sich diese Transformation vollzieht, soll später berichtet werden. An dieser Stelle wird schon einmal ein Stück des Ergebnisses vorweggenommen. Am Ende der Supervisionssitzung könnten die Erzählungen A bis D aus der Perspektive der Fallgeberin in folgender veränderter Weise erzählt werden: Erzählung A) Die Drogenerzählung: Es war einmal ein von Drogen abhängiges Paar, das bisher – um das Helfer*innensystem zu beruhigen – vorgab, seit längerer Zeit abstinent gelebt zu haben. In jüngerer Zeit wird es zunehmend schwerer, die anhaltenden Drogenprobleme des Paares aus dem Bewusstsein sowohl der Betroffenen als auch der Sozialarbeiterin fernzuhalten. Damit ergibt sich eine Chance zu größerer Aufrichtigkeit und Wirklichkeitsnähe. Die Sozialarbeiterin ist einerseits beunruhigt und teilt damit das Erleben ihrer Klient*innen. Sie weiß aber auch, dass Drogengebrauch und Erziehungsfähigkeit getrennt voneinander betrachtet und mit den Klient*innen besprochen werden können. Erzählung B) Die Hilfeerzählung: Eine seit etwa zwei Jahren laufende Familienhilfe – eine der ersten dieses Hilfeformats, das von dem Träger angeboten wird – bringt die zuständige Sozialarbeiterin in eine einsame Position in ihrem Team. Der Fall macht deutlich, welchen Preis das Team für die Ausweitung seiner Angebotspalette zahlen muss. Anders als in der Vergangenheit sind komplizierte inhaltliche Abstimmungen mit dem Kostenträger erforderlich. Das Team trauert um vergangene Zeiten 40

Baustoffe von Erzählungen

und ist in der Familienhilfe mit einer bisher ungewohnten Spannung von Hilfe und Kontrolle konfrontiert. Im Gewahrwerden dieser Veränderung im Kontext kann sich die fallverantwortliche Sozialarbeiterin wieder besser mit ihren Kolleg*innen verbinden und erhält Erlaubnis, sich auf das Jugendamt zuzubewegen. Erzählung C) Die Jugendamtserzählung: Es wird von einer Fachkraft im Jugendamt erzählt, die sich genau wie die Fallgeberin so sehr wünscht, dass die Zeit des Drogengebrauchs in der Familie, für die sie zuständig ist, überwunden sein möge. Die Vorstellung, es könnten weiterhin Drogen im Spiel sein, bereitet allen Angst. Eine Identifizierung mit den in der Familie lebenden Kindern bringt der Fallgeberin nahe, dass dieser Angst nicht weiter ausgewichen werden sollte. Alle Beteiligten können sich der Verantwortung stellen, einen Mittelweg zwischen lähmender Angst und Teilnahmslosigkeit zu suchen. Erzählung D) Die Mutterschaftserzählung: Eine junge Mutter trifft auf eine kinderlose Sozialarbeiterin. Als die Mutter mit dem Verdacht des Drogenkonsums konfrontiert wird, wächst ihre Angst und sie zielt auf den sehr verletzbaren Punkt der Kinderlosigkeit der Sozialarbeiterin. So getroffen taumelt die Sozialarbeiterin. Gleichzeitig wird ihr klar, dass sie durch die Sorge um das mögliche Scheitern der Lebensoption Elternschaft auch mit der Klientin verbunden ist. Sie erfährt Anteilnahme und Trost in ihrem Team und findet dadurch wieder besseren Anschluss an ihre Expertise und Verantwortung, die keiner eigenen Erfahrung als Mutter bedarf.

Einführung in das Fallbeispiel

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 Überall Metaphern: Erzählungen über Arbeit als Gewebe von übertragenen Bedeutungen

»Denn wir alle, ob schwer oder leicht von Geblüt, geraten mit unserem Denken ins Sinnbildliche und handeln zwangsläufig danach.« George Eliot (1819–1880)10

Ich wende mich im Folgenden zunächst einer metaphernanalytischen Perspektive zu, da die Erzählungen der Ratsuchenden und unsere Interventionen als Beratende von Metaphern nur so strotzen. Diese Perspektive lässt sich durchaus bis zu dem Punkt »keine Aussage ohne Metapher« überspitzen. Vertreter*innen der kognitiven Linguistik (vgl. Lakoff u. Johnson, 2017; Schmitt, Schröder u. Pfaller 2018; Wehling, 2016) legen gute Gründe dafür vor, dass unser Erleben und Sprechen grundsätzlich metaphorisch begründet ist. »Metaphorisches Sprechen bedeutet […], dass ein Phänomen in Eigenschaften eines anderen verstanden und erlebt (und entsprechend auch sprachlich ausgedrückt) wird« (Schmitt et al., 2018, S. 2). Metaphern werden gebildet, indem ein Bedeutungsaspekt eines Wortes oder einer Äußerung aus einer Situation herausgeschält und auf eine andere Situation übertragen wird (Ursprungsund Zielbereich der Metapher). Dieses Verständnis geht weit über die im Alltag als Metaphern gehandelten Sprachbilder (z. B. schlauer Fuchs) hinaus. Metaphern werden als Muster verstanden, die auf unbewusster Ebene gleichermaßen Körper, Emotionen, Denkvorgänge, 10 1962, S. 119. 42

Überall Metaphern

Handlungen und kulturelles Hintergrundwissen organisieren (Lakoff u. Johnson, 2017, S. 11 f.). Ein schlichter Begriff wie z. B. »oben« legt Spuren zu all diesen Dimensionen – eher zum Kopf als zu den Füßen, eher zu hellen, hochwertigen Qualitäten und zu positiven Emotionen.

Grundstruktur von Metaphern – Hervorheben und Verbergen Metaphern haben immer komplexitätsreduzierenden Charakter. Bestimmte Aspekte werden durch den metaphorischen Bezug hervorgehoben (Highlighting), andere werden völlig oder teilweise vernachlässigt (Hiding) (vgl. Schmitt et al., 2018, S. 23 f.). Die Metapher hat das Potenzial, sowohl Wahrheit zu offenbaren als auch Wahrheit aus der Welt zu schaffen. Sie stülpt eine alte, abgenutzte Sprachkonserve aus dem Da und Dort einer einzigartigen und spezifischen Situation im Hier und Jetzt über, um diese dann möglicherweise zugleich treffend zu beschreiben oder aber auch zu verfehlen. Für Hannah Arendt sind Metaphern diejenige sprachliche Qualität, »in der wir Wahrheit haben und sagen können, durch die allein wir Wahrheit aus der Welt schaffen können und die in ihrer notwendigen Abgeschliffenheit uns immer im Weg ist, die Wahrheit zu finden« (2020, S. 46). Auf jeden Fall können wir davon ausgehen, dass eine Veränderung des metaphorischen Gehalts einer Erzählung weitgehende Konsequenzen für das Erleben und die jeweils naheliegenden Denkpfade nach sich zieht. Metaphern wohnt ein enormes kreatives Potenzial inne. Lacan spricht vom »schöpferischen Funken« der Metaphern (zit. nach Lohmer u. Möller, 2014, S. 172). Sie gestalten Bedeutung und Erleben, klären und verhüllen, haben jeweils »benutzte und unbenutzte Teile« (Lakoff u. Johnson, 2017, S. 66). Die Metapher »Ich stecke in einer Sackgasse« beispielsweise, »benutzt« den Aspekt der Weglosigkeit, die in der Konfrontation mit dem toten Ende eines Weges erfahren wird. »Unbenutzt« bleibt meist die Option der Umkehr bzw. die Möglichkeit, doch noch einen verborgenen Geheimgang zu finden, der die Fortsetzung des ursprünglich geplanten Weges ermöglicht. Grundstruktur von Metaphern

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Leitfragen zur Metaphernanalyse Schmitt et al. (2018) gründen ihre Metaphernanalyse vor allem auf drei Fragstellungen:11 ▶ Was wird durch die Metapher hervorgehoben? Was wird verborgen? ▶ Auf welche verkörperten Schemata gründet die Metapher? Die Schemata »repräsentieren basale und in der Entwicklung früh erworbene Verhaltensmuster« (S. 15). Dabei unterscheiden Schmitt et al. (S. 15 ff.) zunächst folgende Schemata: • Der Raum (z. B. hoch, tief), • das Objekt (z. B. groß, klein), • die Substanz (z. B. viel, wenig, weich, hart), • der Behälter (z. B. platzen, füllen, einfallen), • die Person (z. B. personifizierende Formulierungen wie  »sein Glaube verbietet ihm …«), • Teil-Ganzes-Schema (z. B. Anhang), • Kern-Rand-Schema (z. B. im Zentrum, integrieren), • Verbindungsschema (z. B. zusammen, mit), • Ursprungs-Pfad-Ziel-Schema (z. B. verfahren, Umweg, ­feststecken), • Kraft-Schema (z. B. druckvoll, federleicht). Die Bedeutung dieser mit jedem Wort aktivierten Schemata erschließt sich, wenn wir den hohen Stellenwert der verkörperten Erfahrung (vgl. Kapitel 4) in Rechnung stellen. ▶ Zu welchen metaphorischen Konzepten verdichten sich die verschiedenen benutzten Metaphern? Das heißt, gibt es Ähnlichkei11 Schmitt et al. (2018, S. 63 f.) machen darauf aufmerksam, dass der systematisch erste Schritt der Metaphernanalyse der Frage folgen sollte, welche metaphorischen Konzepte die untersuchende Person bzw. die beratende Person selbst bevorzugt, da in der Regel vor allem solche Metaphern erkannt werden, die in einem gewissen Kontrast zur eigenen Metaphernwelt stehen. Eigene metaphorische Konzepte werden leicht mit naturgegebenen Konstanten verwechselt und deshalb weniger registriert, geschweige denn infrage gestellt. 44

Überall Metaphern

ten, die auf einen gemeinsamen Nenner verweisen? »Metaphorische Konzepte bündeln gleichsinnige Übertragungen mehrerer metaphorischer Redewendungen« (S. 21) (z. B. »feststecken«, »gelähmt sein«, »sich ausweglos fühlen« verdichten sich zu einem Konzept von »Weglosigkeit«). Wenn wir Sprache als in jeder Hinsicht metaphorisch verstehen, können wir den metaphorischen Reichtum von Erzählungen in großen Zügen und im Detail untersuchen. Auf einer metaphorischen Makroebene können wir schauen, welche metaphorischen Konzepte der Erzählung in ihrer Gänze zugrunde liegen. Wenn wir ganze Berichte untersuchen, fällt oft auf, dass die benutzten Metaphern immer wieder in eine ähnliche Richtung weisen und sich zu metaphorischen Konzepten verdichten, die dann das Erleben der involvierten Personen besonders wirkmächtig beeinflussen. Diese Ebene der Konzepte ist eng mit den in Kapitel 6 beschriebenen Plotstrukturen verwandt. Viele der in den Beratungen erzählten Geschichten rühren beispielsweise an Metaphern der Überforderung und Weglosigkeit: Von »Sackgassen«, vom »Kampf gegen Windmühlen« oder von der »Quadratur des Kreises« ist die Rede. Auf einer metaphorischen Mesoebene wäre zu untersuchen, welche Metaphern in einzelnen Aussagen innerhalb der Erzählung stecken. Eine schlichte Aussage wie »Ich war vollkommen hilflos« hat es metaphorisch in sich. Der Satz impliziert, dass die Person der Hilfe bedürftig war und zu einhundert Prozent nicht in der Lage schien, bei sich oder anderen Hilfe zu finden. Wenn wir einräumen, dass wir in der Regel immer noch irgendwelche Handlungsmöglichkeiten haben, und sei es diejenige, aus der Situation zu fliehen, wird deutlich, dass der Satz den Aspekt der Lähmung (noch eine Metapher!) hervorhebt und den Aspekt der weiterhin denkbaren Handlungsoptionen verbirgt. Das Wort Lähmung schlägt hier bereits eine Brücke zur metaphorischen Mikroebene, auf der auch jedes einzelne Wort als Metapher untersucht werden kann. Mit der Zuspitzung auf den metaphorischen Gehalt einzelner Worte hat die Metaphernforschung eine Leitfragen zur Metaphernanalyse

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nicht ganz leicht vermittelbare Ausweitung des Gegenstandsbereichs unternommen, der allerdings große Tragweite zukommt. Ein Wort wie Lähmung wird wohl häufiger im übertragenen als im wortwörtlichen Sinn genutzt. Wenn wir es einsetzen, rühren wir aber – und das ist für alles Weitere zentral – an ein bestimmtes metaphorisches Schema (siehe oben – Leitfragen zur Metaphernanalyse) – hier mit einem Bezug zum Körper einerseits und zu einem Schema von Bewegung und des Weges andererseits. Die Metapher aktiviert in unserem Erleben verkörperte Schemata entlang des Grundmusters eines Leibes, der sich bewegt und dabei möglicherweise auch eine Wegstrecke zurücklegt. Wäre anstelle von Lähmung ein anderes Wort benutzt worden, z. B. Einfallslosigkeit, so wären gänzlich andere verkörperte Schemata aktiviert worden, eher das eines Behälters, in den ein Einfall fällt oder eben auch nicht.

Dichterisch sprechen Der schillernde Metaphernreichtum unserer Sprache macht uns deutlich, dass wir tatsächlich »dichten«, wenn wir sprechen. Unsere subjektiven Wahrheiten drücken wir über Sprachbilder und Metaphern aus. »Dabei kennzeichnet die Wahrheit nicht irgendeine hypothetische Übereinstimmung zwischen unseren verbalen Äußerungen und den ›Realitäten‹ der ›Welt‹. Viel mehr beschreibt Wahrheit die aktive Beziehung, die wir zu unseren wandelbaren, ungewissen Lebensumständen pflegen – eine Beziehung, die von unserer Fähigkeit, Metaphern, Narrative, Bilder und Ähnliches zu erschaffen, geformt wird. Zunächst stellen wir diese Beziehung über Metaphern her, wir ›dichten‹« (Eshel, 2020, S. 145). Metaphern ermöglichen es uns, die Welt auf unsere Weise zu begreifen, auszugestalten und sie uns anzueignen. Zudem sind sie eine Verbindungsschnur zwischen unserer verkörperten, impliziten Erfahrung und dem bewussten, kognitiven Sprachverständnis. 46

Überall Metaphern

Die bildhafte Struktur der Metaphern und ihre Brückenqualität zwischen bewusster und unbewusster Erfahrung begründen deren für Beratung wohl maßgeblichstes Potenzial: Bildliche Vergleiche können sich selbst erfüllende Prophezeiungen sein. Sie stiften Wirklichkeit. Wir alle leben von und mit den uns lebensgeschichtlich vermittelten Metaphern. So hat uns die Generation der Nachkriegseltern den Schulbeginn noch mit dem »Ernst des Lebens« verbunden und damit eine relevante atmosphärische Spur in jedes Klassenzimmer gelegt. Wenn wir uns neue Sinnbilder erschließen – möglicherweise so etwas wie »Schule soll Spaß machen« –, dann ist unsere Welt nicht mehr dieselbe und auch wir haben uns verändert. »Neue Metaphern haben die Kraft, neue Realitäten zu schaffen. Dieser Prozeß kann an dem Punkt beginnen, an dem wir anfangen, unsere Erfahrung von einer Metapher her zu begreifen, und er greift tiefer in unsere Realität ein, sobald wir von einer Metapher her zu handeln beginnen« (Lakoff u. Johnson, 2017, S. 167). Das ist ein Punkt, an dem Beratung in besonderer Weise interes­ siert sein könnte. Zumindest ist es eine strategische Option in der Beratung, handlungsleitende Metaphern aufzuspüren und neue metaphorische Konzepte einzuführen, die zur Situation und den Klient*innen passen und Veränderungspotenzial entfalten. Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Wirk- und Gestaltungskraft in den metaphorischen Spuren der Sprache liegt, verwundert es nicht, dass sie im Alltag von Organisationen als Ressource genutzt werden und umkämpft sind. Dies beginnt beispielsweise schon bei der, letztendlich auch nur metaphorisch zu beantwortenden, Frage, was denn Arbeit überhaupt sei. Mittel zum Broterwerb? Mittel zur Selbstverwirklichung? Allein dies begründet – je nachdem, welcher Aspekt betont wird – eine schwerwiegende Differenz mit Konsequenzen. »Das bemerkenswerteste Merkmal der modernen Arbeitswelt ist letztlich […] doch die weitverbreitete Überzeugung, dass Arbeit glücklich machen soll. Die Arbeit steht im Zentrum aller Gesellschaften; unsere aber ist die erste, die suggeriert, Arbeit könne mehr als nur eine Strafe, eine Buße sein«, wie Alain de Botton (2014, S. 110) Dichterisch sprechen

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diese metaphorische Weggabelung zuspitzend auf den Punkt bringt. Die alltäglichen Gespräche über Arbeit, und auch die arbeitswissenschaftlichen Diskurse, sind in ihrer jeweiligen zeitgeschichtlichen Besonderheit durch Narrative geprägt, die unser aller Denken und Fühlen zur Arbeit lenken (vgl. Pfeiffer, 2015, S. 41 ff.). Als roter Faden zieht sich die These eines beschleunigten »Wandels von Arbeit« hin zur digitalisierten Arbeit 4.0 durch die Diskurse. In den Arbeitswissenschaften ist das Narrativ vom »Arbeitskraftunternehmer« (vgl. Voß u. Pongratz, 1998) inzwischen fest etabliert. Der Begriff erzählt die Geschichte eines Beschäftigungstyps, der sich zu sich selbst, seinem Arbeitsvermögen und in seiner Lebenswelt wie ein Unternehmer verhält. Auch hinter anderen Schlüsselbegriffen wie »lebenslanges Lernen«, »Subjektivierung von Arbeit«, »Prekarisierung« oder »Agilität« verbergen sich metaphorische Narrative, die bestimmte Phänomene in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und andere ausblenden. Diese Konzepte sind verdienstvoll und abstrahieren dennoch sehr weit von der konkreten Wirklichkeit eines spezifischen Arbeitsplatzes. Sabine Pfeiffer beklagt sogar die »systematische Abwesenheit konkreter Arbeit in den Narrativen der Arbeits- und Industriesoziologie« (2015, S. 46). Die Kategorien der Arbeitssoziologie oder auch die Ideen der »Selbstverwirklichung durch Arbeit«, die längst im Alltagsbewusstsein angekommen sind, drohen dann zu »toten Metaphern« zu werden, zu »blinden Redensarten, die das Erleben zudecken, statt es aufzuschließen« (Mercier, 2020, S. 43 f.). Auch die verbreiteten Unternehmensleitbilder sind oft Sammlungen allgemeiner Slogans, denen alles Konkrete abgeschliffen wurde. Wenn dort dann von Qualität, Respekt, Nachhaltigkeit und Verantwortung die Rede ist, bleibt in der Regel offen, was damit eigentlich gemeint ist. Supervision und Coaching sind deshalb im günstigen Fall auch Orte, in denen tiefenscharf an konkreten Narrationen über konkrete Arbeitserfahrungen gesucht wird. Hier kann genau gefragt werden, was der Fall ist, welche Arbeitsschritte gegangen wurden und ggf. zukünftig gegangen werden können und welche Metaphern hier gedeihlich sein könnten. 48

Überall Metaphern

Metaphorische Spuren im Fallbeispiel Folgen wir – wie oben vorgeschlagen – einem weitgesteckten Geltungsbereich des Metaphorischen, so wird in dieser Fallsupervision nichts gesagt, was nicht auch metaphorische Qualität hätte. Gehen wir also auf eine kleine Auswahl sinnbildlicher Aspekte ein, um die Inhalte dieses Kapitels zu veranschaulichen. Schmitt et al. (2018, S. 133 ff.) haben untersucht, welche Metaphern den Vorstellungen von Beratung in der sozialen Arbeit zugrunde liegen. Auf solche bildlichen Vergleiche nehmen wir Bezug, wenn wir z. B. sagen, die Beratung »stagniere« (metaphorisches Konzept »Bewegung«) oder wir seien »nicht abgegrenzt« (metaphorisches Konzept »Grenzziehung«). Hinter den Metaphern, mit denen Beratung beschrieben wird, verbergen sich grundlegende konzeptionelle Leitlinien und Auslegungen der jeweiligen Primäraufgabe. An einer Stelle ihres Fallberichts spricht Frau Mahn davon, es sei inzwischen nach langem Ringen möglich geworden »auf dünnem Eis zusammen zu gehen«. Hier schließt sie sehr deutlich an die Metapher der »(Fort-)Bewegung« an. An einer anderen Stelle wählt sie die starke Formulierung »meine Klientin windet sich wie ein Aal«. Aale winden sich in aller Regel nur, wenn sie fest gepackt und ihrer Freiheit beraubt werden. Das metaphorische Konzept ist »Gefangenschaft«. Ein anderer Aspekt: Die Sozialarbeiterin fürchtet, ihre Arbeit könne scheitern, weil sie sich nicht mit ihrer Klientin auf ein gemeinsames Problemverständnis verständigen kann. Die Kooperation mit der Jugendamtskollegin, so die Team­ kolleg*innen in der Supervision, sei »unmöglich«, da Risiken – hier des Drogenkonsums – unterschiedlich bewertet würden. Solche Hinweise deuten auf ein weiteres, in der sozialen Arbeit verbreitetes metaphorisches Konzept hin, ein Konzept des Einklangs und des Einverständnisses. Meinungsverschiedenheiten und Vielstimmigkeit erscheinen vor einem solchen metaphorischen Hintergrund vor allem als Komplikation und Risiko, möglicherweise sogar als Destruktion. Metaphorische Spuren im Fallbeispiel

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In unserem Fall wirkt Frau Mahn regelrecht erschöpft von einem langen Ringen um Einverständnis – zumindest im Sinne einer trag­fähigen Verständigung über ein Arbeitsbündnis. Die fallverantwortliche Kollegin im Jugendamt scheint vom Team für das Projekt »Einverständnis« regelrecht aufgegeben. Im Lauf der Supervisionssitzung gibt es nun einige Tendenzen, das metaphorische Konzept »Einverständnis« in Richtung Metaphern der Differenz und des Verhandelns zu verschieben. Wenn der Supervisor mit Blick auf die Jugendamtsmitarbeiterin zu bedenken gibt, »es ist nie ganz richtig, etwas für ganz falsch zu halten«, so nimmt dies einerseits die Metapher des Einverständnisses auf und versucht gleichzeitig eine kleine Bresche für den Wert der Vielstimmigkeit zu schlagen. Das zentrale, gegen Ende der Supervisionssitzung entstandene innovative Szenario ist die gemeinsame Imagination einer »Prozession zum Jugendamt«. Dieses Szenario – auch hier eines der Fortbewegung – versucht, mehr Vielstimmigkeit zu wagen. Die Jugendamtsmitarbeiterin scheint als potenzielle Gesprächspartnerin rehabilitiert und sowohl Befürworter*innen als auch Skeptiker*innen hinsichtlich der Kooperation mit dem Jugendamt spielen eine Rolle. Die Erzählungen verschieben sich allmählich von den Konzepten Stagnation und Einvernehmen zu den Konzepten Fortbewegung und Differenz. Das metaphorische Schema »Bewegung« bleibt als gemeinsamer Bezugspunkt und Fundament erhalten.

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Überall Metaphern

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 Brückenqualitäten: Sprache und Narrative als Medien zwischen Körper und Welt12

»Übrigens bleibt es nicht nur beim Empfangen von Sinnlichem: Alle Lebewesen erzeugen unentwegt Sinnliches. Darin ist der Mensch allen anderen Tieren überlegen: Er spricht, parfümiert sich, zeichnet, schematisiert.« Emanuele Coccia (2020, S. 63)

Sprache und Körper sind – nicht nur in der Beratung – ohne einander nicht zu haben. Auch eine Beratungssequenz, in der scheinbar nur gesprochen wird, ist alles andere als körperlos. Die Theorien des Leibes und des Embodiments (vgl. van Kaldenkerken, 2018, 2019) sowie ein leiblich begründetes Verständnis des Spracherwerbs (vgl. KlannDelius, 2016) haben uns geholfen, diese Verwobenheit besser Welt zu verstehen. Sprache und Körper stehen in einem triangulären Verhältnis zur Welt (vgl. Abbildung 2). Sie sind im Prozess der WeltanKörper Sprache eignung zwei Seiten derselben Verkörperte Sprache Medaille, also zugleich zwei und eins, verbunden und unverbunAbb. 2: Triangulärer Weltbezug Abb. 2: Triangulärer Weltbezug den. 12 Dieses Kapitel basiert auf einer gekürzten und überarbeiteten Fassung von Obermeyer (2019a). Brückenqualitäten

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Dem Strom des Bewusstseins entspricht ein Strom der Leiblichkeit, denn »auch der Körper, der unter Beobachtung desjenigen steht, der mit ihm lebt und identisch mit ihm ist, ist niemals eine Figur, eine Gestalt, sondern eine Reihe von ineinander tauchenden Sinneszuständen« (Coccia, 2020, S. 98). Erzählungen in der Beratung entstehen auf dem Nährboden leiblicher Stimmungen und wirken auf eben diese Leiblichkeit zurück.

Brückenqualitäten der Sprache Worte bringen in uns vielschichtige Konstellationen abgespeicherter Erfahrungen, Informationen und von Handlungsimpulsen ins Schwingen. »Um Worte zu begreifen, aktiviert unser Gehirn ganze Vorratslager abgespeicherten Wissens – zum Beispiel Bewegungsabläufe, Gefühle, Gerüche, visuelle Erinnerungen – und simuliert diese Dinge gedanklich« (Wehling, 2016, S. 20). Diese Aktivierungen sind uns nicht bewusst und sie sind schneller als der bewusste Verstand. Mit ihnen ist also auf jeden Fall zu rechnen. Die Kognitionswissenschaften sprechen von »Frames«, Rahmen, in denen die Wortbedeutungen eingewoben sind (S. 20). Der Philosoph Hermann Schmitz hat die permanenten Wechselwirkungen zwischen leiblichen und sprachlichen Prozessen als »leibnahe Brückenqualitäten« (2011, S. 33) der Sprache bezeichnet. Drei dieser Brückenqualitäten haben besondere Relevanz für das Handwerk der Beratung.

Erste Brückenqualität: Der synästhetische Charakter der Sprache An die Wortsymbole sind jeweils ganze Kaleidoskope leiblicher Sensationen gebunden. Sie werden mit allen Sinnen empfunden und nachvollzogen. Worte haben vielsinnige Charaktere. Die Verarbeitung akustischer Reize mit vielen Sinneskanälen – die Synästhesie – ist nicht, wie oft angenommen, die Ausnahme, sondern der Regelfall. An einem Be52

Brückenqualitäten

griff wie »Zitrone« lässt sich dies plastisch veranschaulichen: Neben der Vorstellung der Frucht ruft das Wort zugleich Geschmackssensationen, Tastempfindungen sowie visuelle Eindrücke leuchtender Farbe hervor. Sprache vermittelt immer auch Vielsinniges und Atmosphärisches. Wir können sie auch wie Musik hören oder wie einen Duft erfahren.

Zweite Brückenqualität: Die Handlungs- und Bewegungssuggestionen der Sprache Bei genauerer Betrachtung wohnt allen Worten eine Bewegungs- und Handlungssuggestion inne. Die Rede von der »Zitrone« ist neuronal auch an Bewegungsabläufe wie das Pflücken bzw. Auspressen der Frucht oder den Gesichtsausdruck gekoppelt, den wir mit dem Gedanken verbinden, in eine Zitrone zu beißen. Der Begriff »Schwere« ist an gänzlich andere Bewegungsbilder gekoppelt als beispielsweise der Begriff »Freiheit«. Weiten wir den Blick von Worten zu ganzen Sätzen – z. B. »Mein Auto ist heute Morgen liegen geblieben« – oder gar zu Geschichten von Erfolg oder Scheitern, so werden vielfältige stimmige oder widersprüchliche Handlungssuggestionen aktiviert. Es werden quasi ganze Choreografien innerlich nachvollzogen. Die Sprache verfügt über eine stabile Verbindung zu den Bewegungs- und Handlungspotenzialen des Körpers. Die meisten Menschen sind in ihrer Artikulations­ fähigkeit eingeschränkt, wenn ihr Bewegungsspielraum eingeschränkt wird und sie z. B. nicht gestikulieren können. Und vor allem ist es kein Zufall, dass wir oft eingeschränkte Handlungsfähigkeit erleben, wenn uns die Worte fehlen und wir sprachlos werden.

Dritte Brückenqualität: Die Machtvermitteltheit der Sprache Vom Machtaspekt der Sprache war bereits oben die Rede. Die Sprache jedes Menschen ist durch die sozialen Verhältnisse geprägt, in denen Dritte Brückenqualität

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er lebt. Und sie hat das Potenzial, diese sozialen Verhältnisse in die Körper einzuschreiben. Vor allem Pierre Bourdieu (2005) hat uns dies vor Augen geführt. Den sozialen Habitus – Mittelpunkt seiner Soziologie – versteht er als leibliches Phänomen. Die Verwandlung sozialer Verhältnisse in Leiblichkeit vollzieht sich einerseits über die Aneignung der Sprache, andererseits über die Aneignung bestimmter Körperpraktiken, aus denen dann ein spezifisches Gehabe, ein Sichso-oder-so-Geben, entspringt. Für Bourdieu war das Sprechen selbst eine solche Körperpraktik. Ähnlich wie beim automatisierten Spielsinn im Sport entsteht die verbale Artikulation in bestimmten Kontexten unbewusst und gedankenlos aus dem Habitus heraus. »Im Anschluss an Bourdieus These von der Leiblichkeit des Habitus können wir davon sprechen, dass es nicht unser Geist ist, der spricht, sondern unser Mund. Dieser hat einen praktischen Sinn für die jeweilige Situation in Form eines inkorporierten Wissens um die Angemessenheit dessen, was hier wie zur Sprache kommen kann« (Herrmann, 2013, S. 152). Was gesagt wird, entspringt den verkörperten Machtverhältnissen und ist gleichzeitig ein Beitrag zur Stabilisierung bzw. zur Destabilisierung von Macht. Sprechen ist immer auch »Kampf um Bedeutungen« (Bachtin, zit. nach Weik, 2019, S. 371). Insgesamt werfen die Brückenqualitäten ein weites Lichtspektrum auf die Komplexität der neuronalen Verankerung und das leibliche Potenzial jedes einzelnen Wortes. Worte muten oft einfach und unschuldig an und haben es doch faustdick hinter den Ohren. Ihre Bedeutung hat eine Ausdehnungstendenz vom Einfachen zum Komplexen (vgl. Ramachandran, 2005). Wenn wir von Temperaturen, Gewichten, Farben oder rauen bzw. glatten Oberflächentexturen sprechen (z. B. »leichte, reibungslose Verhandlungen«), so sind damit weite Erlebniswelten angesprochen, die dann unwillkürlich und unmittelbar als komplexe Lebensgefühle bei den Sprecher*innen und Empfänger*innen anklingen (vgl. Lobel, 2015). Wie schon erwähnt (vgl. Kapitel 3) hat jedes einzelne Wort metaphorisches Potenzial, da es auch auf von der unmittelbaren Bedeutung entferntere Erlebnisqualitäten verweist (vgl. 54

Brückenqualitäten

Schmitt et al., 2018, S. 4). Ein Wort wie »rot« steht für eine schlichte Farbe, aber eben auch für ein weites Spektrum verkörperter Erfahrungen: von der Liebe über ein Parteienspektrum bis zum Rotstift der Lehrerin.

Konsequenzen für die Beratung Welche Konsequenzen hat nun all dies für die Beratungspraxis? Ich sehe dabei vor allem folgende Orientierungslinien: Konsequenz 1: Sprache rückt zu Leibe: Worte verändern den körperlichen Status. Es kann nicht nur um die Frage gehen, wie wir bestimmte leibliche Sensationen bei uns und anderen registrieren und zur Sprache bringen. Ebenso bedeutend ist die Sensibilisierung für die leiblichen Konsequenzen, die wir durch unseren Sprachgebrauch überhaupt erst auslösen. Die Sprache sollte nicht nur in ihrer leiblichen Grundlegung, sondern auch in ihrem leibbezogenen und physiologischen Stimulierungspotenzial ernst genommen werden. So hat z. B. Lacan immer betont, dass die »Funktion der Sprache« nicht allein darin bestehe »zu informieren, sondern zu evozieren« (1975, S. 143). Worte berühren und tangieren den Körper. Aus dieser Verbindung scheint es kein Entrinnen zu geben. Sobald wir in der Beratung sprechen, sind wir selbst körperlich beteiligt und affizieren den Körper unserer Gesprächspartner*innen. Durch Sprechakte rücken wir unserem Gegenüber, ob wir wollen oder nicht, zu Leibe. Mit unseren Worten berühren wir einander. Auch wenn wir keinen taktilen Kontakt zum Körper der anderen Person haben, lösen unsere Worte doch eine ähnliche körperliche Resonanz aus. Dies birgt viele Ressourcen und Chancen und ist gleichzeitig mit Risiken und Gefahren verbunden. Sprache kann halten und beflügeln oder auch verletzen und demütigen. Es hat Sinn, sensibel für die in den Worten sedimentierten Machtverhältnisse zu bleiben. Wer spricht, übt damit in der Regel Konsequenzen für die Beratung

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auch Macht aus. Sprecher*innen rücken bestimmte Fokusse ins Licht, andere bleiben vor dem Hintergrund spezifischer Interessenlagen ungesagt und im Dunkeln. Konsequenz 2: Die Worte erwachsen aus der Physiologie des Leibes: Der jeweilige körperliche Status führt zu spezifischen sprachlichen Dispositionen. Je nachdem ob wir entspannt oder alarmiert, kämpfend oder suchend, im Angesicht dieser oder jener Menschen sind, abhängig von unserer leiblichen Gestimmtheit wird uns der Leib ein jeweils anderes Vokabular zur Verfügung stellen. Wenn wir nicht gerade an Wortfindungsstörungen leiden, erwächst unser Redefluss in der Regel ohne angestrengte Überlegung spontan aus den Nährböden unserer leiblichen Anmutungen. Sehr schön hat Martin Walser diesen Prozess des Emergierens der Sprache beschrieben: »Schreiben ist eine passive Tätigkeit. Ein Entgegennehmen. Man ist nicht der Kommandeur der Sprache, der die Einfälle herpfeift, sondern der, der so gestimmt ist, daß die Sprache eine Chance hat. […] Die Sätze, die ich schreibe, sagen mir etwas, was ich, bevor ich diese Sätze schrieb, nicht gewußt habe. Die Sprache ist also ein Produktionsmittel. Allerdings eins, über das man nicht Herr ist. […] Natürlich muß das, was man schreibt, überraschend sein für den, der schreibt. Er muß sich andauernd wundern können über das, was da, ohne daß er Herr des Verfahrens ist, aus seiner Hand aufs Papier kommt« (Walser, 1999, S. 3). Auf jeden Fall führen Veränderungen der körperlichen Haltung und Ausrichtung, Veränderungen der leiblichen Anmutung in der Regel direkt zu anderen Erzählungen. Konsequenz 3: Auch wenn wir das Gleiche sagen, meinen wir nicht das Gleiche: Körper und Sprache sind Un(üb)ersetzbar.13 Sprache ist ein Teil unserer verkörperten Subjektivität und Intersubjektivität (vgl. Fuchs, 2017, S. 231 f.). Kein Wort kann ohne die Physis des Leibes und ohne Verbindung zum Kosmos der verkörperten 13 Vergleiche Alloa u. Fischer (2013). 56

Brückenqualitäten

Erfahrung gesprochen werden. Genauso wenig kann es gesprochen werden, ohne seinerseits eine neue Erfahrung in den Kosmos der Leiblichkeit einzuschreiben. Die Stimmen der Sprache und des Leibes entfalten sich in jedem Individuum dennoch einzigartig wie ein Fingerabdruck. »[D]er Leib ist ein Körper, der sich dadurch auszeichnet, dass er unersetzbar und unvertretbar ist (›diesen Leib hier, den ich als mein erfahre, wird ein anderer nie haben können‹)« (Alloa u. Fischer, 2013, S. 13, Hervorhebung im Original). Diese strikt individuelle Komplexität stößt uns mit der Nase auf die Grenzen der Übersetzbarkeit der leiblichen Erfahrung in Sprache. Nicht nur unterschiedliche Subjekte sind hinsichtlich ihres wechselseitigen Verstehens­potenzials begrenzt. Auch die leibliche Erfahrung jedes einzelnen Menschen ist nur annäherungsweise in den sprachlichen Ausdruck eben dieses Menschen übersetzbar. Es besteht bei allen Bemühungen, die leibliche Empfindung zu lesen und zu verstehen, doch eine unüberbrückbare hermeneutische Kluft zwischen Leib und Sprache. Oder, um es mit Bernhard Waldenfels zu sagen: »Zwischen Eindruck und Ausdruck klafft ein Spalt« (2019, S. 201). Wir suchen ständig Übersetzungen zwischen der Sprache des Leibes und derjenigen der Worte und müssen doch einräumen, dass die Zwiesprache zwischen Leib und Wort begrenzt bleiben muss. Wir sind und bleiben uns selbst und auch einander mehr oder weniger fremd (vgl. Waldenfels, 2019, S. 88 f.). Leib-seelische Stimmigkeit kann erahnt, aber nicht zweifelsfrei bestimmt und zur Sprache gebracht werden.

Einige leibliche Aspekte der Erzählungen im Fallbeispiel Wir könnten an dieser Stelle zu den im 3. Kapitel ausgewählten Metaphern – z. B. zu der des »sich windenden Aals« – zurückkehren, die natürlich mit synästhetisch verkörperten Charakteren (graublauer Aal, eher kalt, ggf. eklig …) und Handlungssuggestionen (festhalten, wegdrücken, ggf. fallen lassen …) verbunden sind. Stattdessen soll zunächst Einige leibliche Aspekte der Erzählungen im Fallbeispiel

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ein Blick auf die räumlichen Szenarien geworfen werden, die, als gegebener Rahmen der Supervision, später als erzählte, imaginierte Szene eine jeweils folgenreiche körperlich-sprachliche Situation herstellen. Die Supervisionssitzung findet pandemiebedingt in einer reizoffenen räumlichen Ausnahmesituation statt. Der hohe Geräuschpegel durch Straßenlärm bei offenen Fenstern, die Kälte, die alle Beteiligten frösteln lässt, dürften nicht ohne Auswirkung auf die dominierende Erzählweise bleiben. Die Atmosphäre (weite Abstände, geöffnete Fenster im Winter) mutet schutzlos an und legt physiologisch einen unruhigen KampfFlucht-Modus nahe. Das von Frau Mahn entworfene Bild, sie stecke in einer Sackgasse, erntet im Team – gerade unter diesen Bedingungen – eine gereizte, aggressiv unterlegte Resonanz. Die gegen das Jugendamt gerichteten Kommentare sind vielleicht als Versuch zu verstehen, den in der »Sackgasse« verbauten Weg quasi freizuschießen oder in der unterkühlten Situation im Hier und Jetzt für ein wenig Hitze zu sorgen. In den Kulturwissenschaften wird gelegentlich von »Raumsemiotik« (Nies, 2019) gesprochen. Damit soll der Erfahrung entsprochen werden, dass auch räumliche Szenarien ein Zeichensystem darstellen, sozusagen ihre eigene Sprache sprechen. Dies ist in der Supervisionssitzung, um die es hier geht, spürbar der Fall. Die Zeichen stehen auf Krise, Schutzbedürftigkeit und Unwirtlichkeit. Dies ist nicht nur wenig förderlich für reflexive Stimmungen, es setzt sich – weil die intuitive Rede auf Verkörperung baut – auch in zu diesem Szenario passenden Erzählungen um. Es dominieren Narrative der Inkompetenz und Weglosigkeit. Im weiteren Verlauf der Sitzung wird – wenn auch auf der Ebene der fantastischen Imagination – ein neues räumliches Szenario geschaffen, das andere Verkörperungen und damit auch ein verändertes Denken und veränderte Handlungsimpulse aufruft. Zu Beginn der Phase, in der das Team Identifizierungen mit den Kindern sucht, hatte der Supervisor die Anwesenden darum gebeten, »zumindest zu imaginieren«, sie säßen »in einem gut beheizten, wohlgewärmten Raum in vollkommener Ruhe auf bequemen Stühlen«. Dies mag für den weiteren Verlauf nicht folgenlos bleiben. 58

Brückenqualitäten

Im Gespräch des Teams taucht in den darauffolgenden Minuten das Bild der »Prozession zum Jugendamt« auf. Dieses Bild wird dann in einer Weise assoziativ ausgestaltet, die zwei grundsätzlich verschiedene, aber miteinander verbundene Handlungsoptionen inkludiert: Einige machen sich auf den Weg zum Jugendamt, andere sitzen auf einer Tribüne, stehen aber kontinuierlich im Rufkontakt mit den Wandernden. Wie in einem Stadion kann möglicherweise der ganze Weg zum Jugendamt überblickt werden. Diejenigen, die sich offensiv auf den Weg machen, und die anderen, die – wenn auch für das Gelingen engagiert – in ­zögernder Zurückhaltung verbleiben, sind Teil derselben Szene und durch deren räumliche Anordnung sowie die Möglichkeit, eine gemeinsame Geschichte zu erzählen, miteinander verbunden. Offensive und Zurückhaltung sind sinnvolle Teile der Erzählung »Prozession zum Jugendamt«. Die Spaltung des Entweder-oder ist in diesem Bild zumindest relativiert. Der Terminus »Prozession« (lat. procedere vorrücken, voranschreiten) ruft eine spezifische Verkörperung auf, vermutlich eine Qualität des aufrechten, ruhigen und doch entschlossenen Gehens. Die Prozession ist zielgerichtet, ritualisiert und kollektiv. »You’ll never walk alone« kommt einer Kollegin dabei in den Sinn. Die surreale Aura der Erzählung ermöglicht einen heiter-verspielten Umgang mit der Option »Wir gehen zum Jugendamt«, ohne sich ihr völlig ausliefern und kritische Distanz aufgeben zu müssen. Dennoch stürzt die Erzählung nicht ins Läppische. Sie ist eher als eine verspielte Annäherung an einen Schritt zu sehen, dessen Notwendigkeit allen Beteiligten im Grunde unausweichlich scheint.

Einige leibliche Aspekte der Erzählungen im Fallbeispiel

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 Organisationen sind Erzählungen: Narrative Organisationstheorie

»Wir sind eine Familie, ein Spielplatz, ein Kraftwerk. Wir ­feiern unsere Helden nach durchgearbeiteten Nächten und wir trösten uns in der Niederlage wie Schwestern und Brüder.« Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens vor Mitarbeiter*innen

Was halten Sie von der These, dass ganze Organisationen aus Geschichten bestehen? Unterschiedliche Organisationstheorien beantworten die Frage, woraus – also aus welchem Stoff – Organisationen eigentlich bestehen, mit unterschiedlichen Akzenten. Tatsächlich hat sich inzwischen auch eine narrative Organisationstheorie etabliert (vgl. Weik, 2019). Sie schlägt vor, Organisationen als Sammlung von Geschichten aufzufassen. Anmutungen von Sinn und Übersicht ergeben sich aus einem narrativen Blickwinkel nur, wenn die Akteur*innen bestimmte Lesarten der unberechenbaren Wirklichkeit des Organisationsdickichts herausheben und diese in Geschichten verpacken. »Der Manager stapft buchstäblich in den Schwarm der Ereignisse hinein und versucht aktiv, sie dem Zufall zu entreißen und ihnen Ordnung aufzuzwingen«, wie Karl Weick (1985, S. 213) dies schon vor geraumer Zeit zugespitzt hat. Wenn wir davon ausgehen, dass die Berechenbarkeit und organisationalen Dynamiken unter den Prämissen einer wachsenden Beschleunigung, Komplexität und der daraus resultierenden »Deflation der Macht« (Luhmann, 2012, S. 79) stehen, liegt es nahe, dass den Subjekten in der Organisation nicht viel anderes übrig bleibt, als Geschichten über die Wirklichkeit zu erfinden und deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit 60

Organisationen sind Erzählungen

so gut wie möglich zu befördern und durchzusetzen. Letzteres wird umso besser gelingen, je plausibler die Narrative in der Wahrnehmung der Adressat*innen wirken und je mehr Machtressourcen zur Verfügung stehen, den Geschichten überhaupt Gehör zu verschaffen. »Storytelling« hat sich in diesem Trend inzwischen zu einem Verkaufsschlager unter den Management-Ratgebern entwickelt (vgl. etwa Etzold, 2013; Thier, 2016; Adamczyk, 2018). Hier wird zuweilen der Eindruck vermittelt, als sei das an »Tool-Kits« (Etzold, 2013, S. 255 ff.) orientierte Erfinden von Geschichten die letzte Bastion eines planbar wirksamen Managements, das heroisch die Ziele erreicht, die es angepeilt hat. Auch in der Beratung sind wir bei narrativ inspirierten Inter­ven­ tionen von der Kooperation anderer abhängig. Es geht weniger um spitzfindige Tricksereien als um geduldiges Werben um Kooperation und gemeinsame Welterzeugung. Joachim Hipp fasst das narrative Organisationsverständnis so zusammen: »Aus der narrativen Perspektive werden Organisationen nicht als kybernetische oder biologische Systeme beschrieben, in denen die Mitglieder wechselseitig ihr Verhalten regulieren, sondern als sprachliche Systeme, in denen Mitglieder durch Sprache gemeinsame Bedeutungen und Wirklichkeiten bilden. Das Individuum wird konzipiert als Erzähler, der sich durch Erzählungen Wirklichkeit erschafft, verständlich macht und seine Stelle in der Welt bestimmt. Jedes Individuum ist Autor seiner Lebenserzählung, die durch neue Erfahrungen laufend umgeschrieben werden muss. Dadurch entwickelt sich Identität. Sprache und Konversation und deren wirklichkeitsbildender Charakter stehen im Mittelpunkt der Betrachtung (Metaphern aus Literatur, Philosophie, Semiotik). Im Gegensatz zur rational-wissenschaftlichen Betrachtungsweise ist das Kriterium narrativer Logik, ob eine Erzählung brauchbar, sinnvoll und interessant ist (wenn sie nicht wahr ist, sollte sie zumindest gut erfunden sein)« (Hipp, 2014, S. 1). Das kritische Verhältnis von Wahrheit und Erfindung, von Abbild und Fiktion, die jeder Erzählung eingeschrieben ist, zeigt: Auch narratives Denken kann manipulativ missbraucht werden. Organisationen sind Erzählungen

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Narrative Bausteine der Organisation Unabhängig davon, wie wir den Gültigkeitsanspruch narrativer Organisationstheorien einschätzen: Vieles spricht dafür, dass sich die mikropolitischen, machtregulierenden Prozesse in Organisationen auch auf Erzählungen stützen. Haubl (2018, S. 4 ff.) nennt Mythen, Anekdoten, Witze, Klatsch, Gerüchte, Verschwörungstheorien, Lügen und Intrigen als relevante Größen auf den Hinterbühnen der Organisationen. Allesamt erzählerische Medien von ggf. großer Wirksamkeit, neben denen die offiziellen Verlautbarungen oft wirkungsarm versickern. Die Menschen in Organisationen speichern und gestalten ihre Erfahrungen durch Erzählungen. Diese bilden ein Geflecht an Bedeutungen, das – wenn auch nicht zu jeder Zeit sichtbar – doch sehr nachhaltig eingrenzt, was in Organisationen als wirklich und wahrhaftig gelten kann. Für Berater*innen lohnt sich ein Blick auf grundlegende narrative Bausteine der Organisation, die wir in folgenden Kategorien umreißen können: Gründungsgeschichten: Erzählungen, die sich um die Gründung einer Organisation ranken, sind oft erstaunlich langlebig. Sie stehen an der Wiege der Organisation und stiften möglicherweise einen organisationalen Mythos (vgl. Obermeyer u. Pühl, 2015, S. 192 f.), dessen Spur in der ganzen weiteren Geschichte der Organisation auffindbar ist und sich nie ganz verliert. Die Idee beispielsweise, dass sowohl Gründer als auch das jeweilige Oberhaupt der katholischen Kirche als »Gottes Stellvertreter auf Erden« anzusehen seien, mag sich als Mythos der Macht durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte ziehen. Die Aufhebung von Exklusion psychisch kranker Menschen in eine Gemeindepsychiatrie – um ein anderes Beispiel zu nennen – ist als nie ganz verwirklichter Gründungsmythos vieler sozialpsychiatrischer Organisationen bis in die Gegenwart rekonstruierbar. Geschichten über die Zukunft: In Organisationen kursieren Erzählungen über eine wahrscheinlich anmutende oder wünschenswerte Zu62

Organisationen sind Erzählungen

kunft. Diese Narrative gestalten den Erwartungshorizont der Menschen innerhalb der Organisation und deren Grenzen. Damit haben sie besondere Kraft, wenn es um Sinnerleben und Motivation oder die Attraktivität der Produkte geht. So liegt es nahe, dass die Erfindung und die Verbreitung von Zukunftsgeschichten in Form von »Mission Statements«, »Leitbildern«, »Leuchtturmszenarien« zu einer Kardinal­ tugend von Organisationsentwicklung und Management gezählt werden. Die auf der Vorderbühne offiziell proklamierten Geschichten stehen ggf. in scharfem Widerspruch zu den Geschichten, die in den informellen Zonen der Büros und Teeküchen ausgetauscht werden. So kann eine Organisation, die sich im Marketing als Marktführerin beschreibt, intern schon als Pleitekandidatin gehandelt werden. Geschichten über Erfolg und Misserfolg: Erzählungen um Gelingen und Misslingen legen Zeugnis davon ab, wie eine Organisation ihre Primäraufgabe versteht. Sie untermalen das jeweilige Verständnis von guter Arbeit einerseits und den Fehlern, die zu vermeiden sind, (primäres Risiko) andererseits. Es sind vermutlich diejenigen Geschichten, in denen sich die Sinnfragen bezogen auf die Existenz der Organisation und der in ihr verrichteten Arbeit am deutlichsten wiederfinden. Die Verfügbarkeit solcher Sinn-Erzählungen scheint für das Erleben subjektiver Arbeitszufriedenheit unverzichtbar (vgl. Weigand, 2021). Manchmal sind diese Geschichten besonders außergewöhnlich und erzählen von regelrechten Heldentaten – oder von Katastrophen, in denen die Organisation in ihrer Existenz bedroht war. Solche Erfahrungen wirken oft besonders lange in der narrativen Matrix einer Organisation. Heldengeschichten können eine tragende, identitätsstiftende Bedeutung in einer Organisation oder ihren Subsystemen erlangen. Dazu gehören auch sogenannte Wiederauferstehungsgeschichten (vgl. Thier, 2016, S. 12), in denen überliefert wird, wie eine Organisation nach einer Krise wieder Boden unter den Füßen gewonnen hat. Aber auch Geschichten von Niederlagen, schmerzlichen Einschnitten oder Verlusten sind langlebig und werden oft – auch im Sinne organisationaler Trauerarbeit – immer wieder erzählt. Narrative Bausteine der Organisation

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Geschichten über Macht und Status: Diese Geschichten ranken um die Frage, wie in Organisationen Unterschiedlichkeit und Status reguliert werden. Dies betrifft das Ansehen und die Anerkennungsbasis zwischen unterschiedlichen Berufs- und Funktionsgruppen sowie die Regulierung von Macht und Ohnmacht über die Hierarchiegrenzen hinweg. Wie verhalten sich die Führungskräfte? Gibt es Karrierechancen für Mitarbeiter*innen und auf welche Weise können sie genutzt werden? Können Führungskräfte verantwortlich zu ihren Fehlern stehen? Haben sie ein offenes Ohr oder herrschen Willkür und die Arroganz der Macht? Geschichten dieser Kategorie stehen für den Modus, in dem in der Organisation Selbstwert, Würde und Vergleich reguliert werden. So kann es nicht verwundern, wenn sie unter Umständen mit starken Emotionen unterlegt sind. Das Spiel von Ohnmacht und Ermächtigung auf der Bühne der betrieblichen Interessenkämpfe beispielsweise wird in aller Regel in narrativer Rüstung gespielt. Die dazugehörenden Interaktionen können als »selbstlose Aufopferung«, »zahnloses Genörgel«, »Klagen auf hohem Niveau«, »Palastrevolution« oder »solidarische Sozialpartnerschaft« erzählt werden. Geschichten über Sicherheit und Verunsicherung: In dieser Kategorie finden sich Erzählungen über das Ausmaß von Kontrolle und Berechenbarkeit, das in der Organisation erlebt wird. Sicherheit in Arbeitskontexten scheint ein kostbares, aber auch flüchtiges Gut zu sein. Werden Mitarbeitende hier schnell entlassen? Gibt es Solidarität? Ist das Unternehmen krisenfest? Wann und wie wird sanktioniert? Ist die Mitarbeiter*innenvertretung kraftvoll oder wirkungslos, destruktiv oder gar korrumpiert? All dies sind wichtige Fragen, um den Grad der Sicherheit abzuschätzen. Auch Erzählungen über Veränderungsprozesse und Transformationen, also den allgegenwärtigen »Change« und dessen gedeihliche und riskante Aspekte, sind so etwas wie geronnene Erfahrungen von Sicherheit und Verunsicherung. Da das Balancieren von Sicherheit und Risiko sowohl Angst als auch Lust begründen kann, transportieren die Geschichten oft eine Mischung aus diesen beiden emotionalen Qualitäten. 64

Organisationen sind Erzählungen

Geschichten über Arbeit: »Erst die Arbeit und dann das Vergnügen« –

so ein knappes volkstümliches Arbeitsnarrativ. Es steht in einigem Kontrast zu all den Erzählungen, die der Arbeit einen unverzichtbaren Stellenwert in der menschlichen Selbstverwirklichung zuschreiben. Ist Arbeit – die vielleicht obsessiv-überhöhte Kultsphäre neuzeitlicher Gesellschaften (Crepaldi, 2019) – eher Mühsal, Lust, Selbstverwirklichung, Spiel oder heroisches Werk? Die latent wirksamen Überzeugungen über gute Arbeit und die Frage, was diese denn überhaupt sei, finden sich in den Erzählungen. Sind diejenigen, die über ihre Kräfte hinaus gehen, die eigentlichen Held*innen der Organisation? Oder ist Erschöpfung eher ein Indiz für unzureichende Resilienz und armseliges Selbstmanagement? Liegt die Verantwortung für die allenthalben eingeforderte »Freude an der Arbeit« bei den Einzelnen getreu dem Motto »Love it, change it or leave it«? Oder wird die Bewerkstelligung erfreulicher Arbeitserfahrungen in die Hände der Führungs­kräfte gelegt? Die Widersprüche und Ungereimtheiten, die im Geflecht der Organisationsgeschichten wirken, sind das Salz in der Suppe einer narrativen Organisationstheorie. Sie können die Menschen in Organisationen verunsichern und auch beschämen. Letzteres vor allem, wenn Wort und Tat in der Wahrnehmung der Beteiligten weit auseinanderfallen und es große Abweichungen zwischen den offiziellen Verlautbarungen und den eher verborgenen Geschichten gibt, die in der Organisation kursieren. Das bereits erwähnte Narrativ von der »Klage auf hohem Niveau« oder auch das der »Agilität« liefern dafür beredte Beispiele. Andererseits ist aber gerade der Widerstreit der Narrative in der Organisation eine zentrale Quelle von Entwicklung und Innovation. Deshalb ist die Vielstimmigkeit der Erzählungen eine wertvolle Ressource von Berater*innen, die an Veränderung interessiert sind.

Narrative Bausteine der Organisation

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Geschichte der Organisationstheorie als Wandel zentraler Organisationsmetaphern Wir alle haben, zum Teil stark divergierende, Vorstellungen über das, was Organisationen im Kern ausmacht und zusammenhält. Diese Vorstellungen sind narrativ strukturiert. Gareth Morgan hat in seinem bereits 1943 erstmals erschienenen Klassiker »Bilder der Organisation« vorgeschlagen, unsere Grundannahmen über die Frage, was eine Organisation überhaupt sei, im Sinne von Metaphern zu verstehen (siehe S. 67/68 – Grundmetaphern der Organisation nach Morgan). Die jeweils gesellschaftlich dominierenden Kernmetaphern über Organisation verändern sich abhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sodass die Geschichte der Organisationstheorien auch als Geschichte sich verändernder Organisationsmetaphern verstanden werden kann. Diese Metaphern heben jeweils unterschiedliche Aspekte organisationaler Wirklichkeit hervor und vernachlässigen andere. »Wir müssen akzeptieren, dass jede Theorie oder Perspektive, die wir in unseren Studien über Organisationen und Management verwenden, uns zwar wertvolle Einsichten bringen kann, gleichzeitig aber auch unvollständig, tendenziös und potenziell irreführend ist« (Morgan, 2006, S. 9).14 Von daher ist es lohnend, jeweils zu erforschen, auf welchen metaphorischen Grund sich Sichtweisen oder konkrete Interventionen in Management und Beratung jeweils beziehen.

14 Eigene Übersetzung aus dem englischen Original. 66

Organisationen sind Erzählungen

Morgan beschreibt folgende Metaphern der Organisation: Organisation als Maschine: Passend zur industriellen Revolution des späten 19. Jahrhunderts und den tayloristischen Organisationstheorien wird Organisation hier als berechen- und steuerbares Zusammenspiel unterschiedlicher Räder in einem Getriebe verstanden. Die Menschen in den Organisationen schöpfen ihre Nützlichkeit aus physischer Leistungsfähigkeit und der Qualität ihrer Ausbildung. Alles Irrationale, aber auch die heute notwendige flexible Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen sind innerhalb dieses metaphorischen Rahmens kaum abbildbar. Organisation als Organismus: Eine eher durch die Verlagerung des wissenschaftlichen Interesses von der Mechanik zur Biologie inspirierte Metapher, in der die Organisation als lebendiges System verstanden wird. Nicht mechanisch-physikalische Prozesse, sondern eher die Vorstellung eines Organismus aus Zellen, Energie und Botenstoffen steht hier Pate. Der subjektive Faktor, also Aspekte wie Motivation und Ermüdung, sowie der Austausch der Organisation mit sich verändernden Umwelten kommen hier in den Blick. Organisation als Gehirn: Diese Metapher hebt – passend zum Übergang zur wissensbasierten Dienstleistungsarbeit und digitalen Datenverarbeitung – den Aspekt des Wissens als Grundbaustein der Organisation hervor. Entsprechend wird der Fokus der Aufmerksamkeit z. B. von der zentralen Überwachung hin zur Verlässlichkeit der Prozesse des Informationsaustauschs verschoben. Organisation als Kultur: Mit der wachsenden Globalisierung kamen Kulturdifferenzen in den Blick. »Eine Besonderheit von Kultur ist, dass sie eine Art Ethnozentrismus erzeugt. Dieser bringt selbstverständliche Handlungsabfolgen hervor, die wir für ›normal‹ halten, und lässt uns Handlungsweisen, die nicht mit diesen Vorgaben übereinstimmen, als anormal wahrnehmen« (Morgan, 2006, S. 169). Organisationen Geschichte der Organisationstheorie

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sind so verstanden »Mini-Gesellschaften, die ihre eigene deutlich erkennbare Kultur und Subkultur haben« (S. 170). Organisation als politisches System: Diese Metapher sensibilisiert für den Aspekt der Macht, der Konflikte um widerstreitende Interessen, aber auch der gesellschaftlichen Vernetzung und Verantwortung von Organisationen. Vielleicht ist diese Metapher am besten geeignet, um die Komplexität der mikropolitischen Prozesse und der beschränkten Steuerbarkeit heutiger Organisationen abzubilden. Organisation als psychisches Gefängnis: »Der Mensch hat die Angewohnheit, sich in Netzen zu verfangen, die er selbst geknüpft hat«, so Morgan (2006, S. 291) zu dieser Metapher. Das »psychische Gefängnis« versteht sich also als Tendenz zur Betriebsblindheit und der Schwierigkeit, über den eigenen Tellerrand zu schauen und zu lernen. Morgan stellt hier einen Bezug zur psychoanalytischen Theorie des Unbewussten her und beschreibt die Problematik, aus den eigenen Denkkonserven auszusteigen, da uns Ängste und Abwehrmechanismen binden. Organisation als Fluss und Wandel: Im Geiste von Heraklits Bemerkung, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, betont diese Metapher den Aspekt des permanenten Wandels und der anhaltenden Ungewissheit. Das Bild passt also gut zu unserer postmodernen Gegenwart jenseits der Gewissheiten. Die Narrative der agilen Organisation prämieren in diesem Sinne die Qualitäten der Beweglichkeit und Geschwindigkeit. Offen bleibt die Frage, welche Fix- und Ankerpunkte Organisationen brauchen, um handlungsfähig zu bleiben. Organisation als Machtinstrument: Die Machtmetapher weist auf die Beschränkung individueller Freiheit hin, die in Organisationen nicht zu umgehen ist. In ihrer Zuspitzung versteht sie Organisationen als Orte der Unterdrückung. Auch wenn dieses Bild nicht sonderlich modern erscheint, oder ggf. auch tabuisiert ist, spielt es im Empfinden vieler Professioneller aus guten Gründen nach wie vor eine große Rolle. 68

Organisationen sind Erzählungen

Die These, dass Organisationen aus Erzählungen bestehen, ist sicherlich eine Überspitzung. Naheliegend ist allerdings der Gedanke, dass die Menschen in den Organisationen von bedeutungsstiftenden Erzählungen umgeben sind und ihr Fühlen, Handeln und Denken sich nicht unabhängig von diesem Gewand entfalten wird. Die Erzählungen der einzelnen Organisationsmitglieder werden also entweder eher im Einklang mit den organisationstypischen Erzählungen oder in einer spannungsreichen Dissonanz zu diesen stehen. Diese Spannungsverhältnisse sind in der Beratung spürbar und zu beachten. Einiges spricht dafür, dass sich Organisationen heute wie Netzwerke entwickeln. Zusammenschlüsse, enge Kooperationen in Produktentwicklung und Vertrieb, Entwicklung neuer Produktlinien abseits des Kerngeschäfts sind weniger Ausnahme als Regel. Die Netzwerkmetapher ist in Morgans Katalog noch nicht berücksichtigt. Sie kann mit unsicheren, porösen Außengrenzen, aber auch mit der Vorstellung unbegrenzter Möglichkeiten assoziiert werden. In Netzwerkentwicklungen überlappen sich unterschiedliche narrative Traditionslinien, die bisher vielleicht wenig miteinander zu tun hatten und nur schwer kompatibel erscheinen (siehe Fallbeispiel).

Organisationskulturelle Aspekte im Fallbeispiel Die Fallerzählung der Sozialarbeiterin entfaltet sich vor dem Hintergrund einer spezifischen Geschichte der Organisation und des Beratungssystems. Diese fällt nicht sofort ins Auge und sie wird auch – anders als die Fallgeschichte – nicht spontan erzählt. Dennoch dürfte sie hier wirksam sein. Die Organisationsgeschichte gerinnt in unterschiedlichen Narrativen. Folgende scheinen relevant: Das Gründungsnarrativ: Die Vorläufer der heutigen Organisation bestehen seit über vierzig Jahren. 1978 gegründet, verstand sich die Ursprungsorganisation als Pionierprojekt der Psychiatriereform, die sich zum Ziel gesetzt hatte, eine menschenwürdigere und gemeindenahe PsychiaOrganisationskulturelle Aspekte im Fallbeispiel

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trie zu schaffen. Noch heute werden Geschichten aus der Gründerzeit erzählt. Geschichten von Klient*innen, die zum Teil nach Jahrzehnten in psychiatrischen Krankenhäusern erstmalig wieder in einer überschau­ baren Wohngemeinschaft leben konnten. Geschichten, die von der vitalen Politisierung der sozialen Psychiatrie der Gründerzeit erzählen. Als echtes Highlight die Episode von der Demonstration im Landesparlament, an der Klient*innen und Professionelle gemeinsam teilnahmen, um gegen Stigmatisierung psychisch kranker Menschen einzutreten. Es gibt aber auch ernüchternde Erzählungen aus der Gründungsphase: Einige Klient*innen, die bei der Gründung mit dem Ziel in ein Übergangswohnheim aufgenommen wurden, binnen drei Jahren in eine eigene Wohnung umzuziehen, leben heute immer noch im Wohnheim. Es sind Erzählungen der Gestaltungskraft, die aber auch – schon kurz nach den Anfängen – die Spur ihrer Grenzen durchscheinen lassen. Das Parteilichkeitsnarrativ: In vielen konzeptionellen Dokumenten, in Gesprächen und auch in Fallberatungen ist von der »Parteilichkeit für Klient*innen« die Rede. Die Organisation und ihre Protagonist*innen an der Seite ihrer Klient*innen, die Ausgrenzung und Benachteiligung ausgesetzt sind. Die geforderte Parteinahme erfordert eine skeptischkritische Haltung gegen staatliche Institutionen, denen Gleichgültigkeit und Mittäterschaft bezüglich der Unterdrückungsmechanismen unterstellt wird. Diese Parteilichkeit ist ohnehin schwer zu leben. Vor allem kommt sie in dem für die Organisation neuen Feld der Familienhilfe unter Druck. Hier sind Interessen von Eltern in schwierigen Lebenslagen und deren schutzbefohlener Kinder zu balancieren. Bei eingeschränkten Erziehungskompetenzen zeigen sich die in der Vergangenheit überwiegend als Opfer konzeptualisierten Klient*innen auch als Täter*innen, die gegen Entwicklungs- und Lebensinteressen ihrer Kinder verstoßen. Eine Geschichte deutlich wachsender Komplexität und Verunsicherung. Das Ökonomisierungsnarrativ: Erzählt wird auch – wie in so vielen Einrichtungen der sozialen Arbeit – die Geschichte einer zunehmenden Ökonomisierung, die sozialarbeiterische Qualitätsansprüche unter Druck 70

Organisationen sind Erzählungen

bringt. Vorläufig letztes Kapitel dieser Geschichte ist die Gründung des Familienhilfe-Zweiges, die – so die Erzählung – ohne inhaltliche Neigung und bei unzureichenden fachlichen Ressourcen allein zum Zwecke der Wendung wirtschaftlicher Not erfolgte. Eine Geschichte der Nötigung und Abhängigkeit. Frau Mahn, die Sozialarbeiterin, erlebt ihr Dilemma im Wirkungskreis dieses narrativen Feldes. Es ist spürbar, wie stark der Fall im Widerstreit zu den Narrativen der Organisationsgeschichte steht. Die Arbeit im Zwangskontext einer Familienhilfe, die von den Klient*innen nicht gewünscht war und es schwer macht, Gefühle der Parteilichkeit zu entwickeln. Die Notwendigkeit der Kooperation mit einer staatlichen Institution wie dem Jugendamt liegt quer zur tradierten institutionskritischen Haltung der Organisation. Die ersten Resonanzen der Kolleg*innen auf den Fallbericht zeigen sich quasi konservativ an der Verteidigung des Parteilichkeitsnarrativs orientiert. Damit kann Identität stabilisiert werden. Gleichzeitig vertiefen diese Resonanzen die Einsamkeit der von der Sorge um die Kinder angerührten Frau Mahn.

Organisationskulturelle Aspekte im Fallbeispiel

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 Plotstrukturen: Archetypische Erzählmuster über Arbeitserfahrungen

»Nur narrative Spannungen erzeugen Gefühle.« Byung-Chul Han (2019, S. 133)

Die nächste diagnostische Perspektive und potenzielle narrative Interventionsrichtung, der wir uns jetzt zuwenden, betrifft die Plotstruktur der Erzählungen. Der Begriff »Plot« steht für die Handlungscharakteristik einer Erzählung. Erzählungen folgen szenisch-dramatischen Leitfäden mit Phasen der Ruhe und solchen der Beunruhigung, mit aufsteigenden und absteigenden Spannungsbögen. Auch die Erzählungen in Supervision und Coaching folgen einer Plotstruktur, die sich allmählich enthüllt. Hier entscheidet sich, ob wir in gespannter Erwartung zuhören oder möglicherweise gelangweilt sind, ob wir mit Ernst erfüllt oder erheitert sind.

Archetypische Plotstrukturen Die Literaturwissenschaften haben verschiedene grundlegende oder archetypische Erzählmuster identifiziert, die immer wieder auftauchen und in gewisser Weise einen unwiderstehlichen Reiz entfalten. Aristoteles (1976) hat in seiner Poetik bereits 335 v. Chr. eine dreiaktige Erzählstruktur von Initiation, Konfrontation und Resolution beschrieben. Initiation meint so etwas wie die Einleitung oder das Set-up einer Erzählung. Die Konfrontation markiert die Phase des dramatischen Hö72

Plotstrukturen

hepunkts, während die Resolution die abschließende Abrundung und Auflösung des Spannungsbogens beinhaltet. Diese Struktur akzentuiert die Bedeutung von dramatischen Krisen am Höhepunkt von Erzählungen, die von starken Ambivalenzen oder Konfrontationen mit offenem Ausgang geprägt sind. Solche Krisen sind meist Kern der Problemerzählungen in der Beratung. Ebenso zentral ist das Bedürfnis nach einer Spannungsreduktion und Auflösung in der Fortschreibung von Erzählungen. Berater*innen wissen aus Erfahrung, wie schwer es ist, Beratungsgespräche in Atmosphären ungelöster Spannung zu beenden. Es verbleiben dann offene Gestalten, die vielleicht erst später – in einer der folgenden Sitzungen – eine Abrundung und Integration erfahren. Ein weitere klassische Erzählstruktur ist die »Heldenreise« (vgl. Breiner, 2019, S. 94 ff.). Sie kann bereits an mittelalterlichen Epen nachvollzogen werden und ist bis heute Grundlage vieler Erzählungen, die Entwicklung beschreiben und Spannung erzeugen sollen, so z. B. in Krimis oder Computerspielen.

Struktur der Heldenreise:15 ▶ Mentorenschaft: Von Anfang an ist eine Mentorin oder Begleiterin im Spiel, von der die Protagonistin Rat und Unterstützung erfährt. ▶ Komplexe Auftragslage: Am Anfang der Geschichte steht eine Art Ruf oder Initiation. Die Protagonistin erhält einen schwer erfüllbaren Auftrag, dem sie ambivalent und mit Sorge gegenübersteht. ▶ Fremderfahrung: Die Heldenreise berichtet von einem rituellen Aufbruch in die andere und fremde Welt, in der der Auftrag erfüllt werden soll. Dieser Aufbruch ist oft als Eintauchen in Sphären des Unbewussten interpretiert worden. ▶ Verstrickung: Die Reise der Heldin führt durch eine Vielzahl von Problemen und mündet schließlich in einen Zustand der Verstrickung, in dem buchstäblich nichts mehr zu gehen scheint. 15 Eine ausführliche Schilderung der zwölf Stationen der Heldenreise findet sich bei Breiner (2019, S. 99 ff.). Archetypische Plotstrukturen

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▶ Katharsis: In einer Art abschließender Konfrontation, einem Endkampf, wird der Zustand der Lähmung überwunden, der gordische Knoten zerschlagen und neue Bewegungsfreiheit erreicht. Die Heldin ist von der Erfahrung der Reise gezeichnet und selbst verwandelt. ▶ Unheimlichkeit: Die Rückkehr der Heldin in das Heimatgebiet, das sie am Anfang der Reise verlassen hat, ist nicht reibungslos. Die Heldin ist nicht mehr dieselbe und tut sich schwer, die Erfahrung der Reise nach der Rückkehr zu vermitteln. Die Integration des Neuen und die Überwindung der erneuten Befremdung sind selbst wieder ein Stück Arbeit.

Arbeitserzählungen und deren Transformation in Supervision und Coaching tragen viele Züge des Heldenreiseplots. Berater*innen oder Kolleg*innen können zu Mentor*innen werden. Die Auftragslagen, mit denen es Ratsuchende zu tun haben, sind in der Regel komplex und widersprüchlich. Erfahrungen der Stagnation und Weglosigkeit führen die Protagonist*innen in die Beratung, in der dann gemeinsam neuer Spielraum im Sinne einer kathartischen Erfahrung gesucht wird. Wobei Katharsis keineswegs bedeuten muss, die Welt neu zu erfinden oder einen allumfassenden Befreiungsschlag zu führen. Es geht um die schlichte Rückgewinnung von Handlungsfähigkeit – möglicherweise auch in ganz kleinen Schritten (vgl. Hutter, 2020). Schließlich ist es Teil von Supervision und Coaching, das Risiko der Veränderung und die Unheimlichkeit des Neuen ernst zu nehmen. Sowohl die Ratsuchenden als auch deren Mitstreiter*innen brauchen Unterstützung bei der Umsetzung und Integration des Neuen. Supervision und Coaching werden von Fall zu Fall an jeweils unterschiedlichen Passagen der kleinen oder größeren Heldenreisen anknüpfen, um die jeweiligen spontanen Varianten der Erzählung zu überschreiben. Geht es um die Relativierung von Einsamkeit? Um die Suche nach Mentor*innen und Unterstützer*innen? Gibt es eine 74

Plotstrukturen

paradoxe, überfordernde oder gar ethisch fragwürdige Auftragslage? Empfindet die Rat suchende Person Lähmung und Verstrickung? Oder gibt es Schwierigkeiten, neue Lernerfahrungen oder persönliche Transformationen im Arbeitskontext zu vermitteln?

Wiederkehrende Plotstrukturen in Supervision und Coaching Das narrative Material, das uns in Supervision und Coaching angeboten wird, folgt wiederkehrenden Plotstrukturen. Folgende Plots begegnen mir in meiner Arbeit besonders häufig:

Anklageschriften Sie sind eine Standardform der Erzählung in Konflikten. »Leid sucht Schuld« (Paris, 2021, S. 4). Also werden andere für entstandene Probleme und Notlagen verantwortlich gemacht. Dies liefert griffige Erklärungen für andernfalls schwer zu verstehende und komplexe Sachverhalte und sichert so eine Option der Handlungsfähigkeit. Wenn nur die andere Person zur Vernunft käme, wäre das Leben leichter. Da sich andere nicht ohne Weiteres ändern lassen, geraten solche Erzählungen oft in die Stagnation einer gelähmten Konfrontation mit Endgegner*innen. Die Frage, wie es jetzt weitergehen kann, liegt auf dem Tisch und ist in der Regel schwer zu beantworten. Somit birgt die Erzählung der Anklage – die Begegnung des Opfers mit dem*der Täter*in – ein hohes Risiko, in wiederkehrenden Klage­ ritualen zu erstarren. Die Konfrontation, die sich aus der Anklageschrift erhebt, verlangt nach einer narrativen Fortschreibung, die in eine Stärkung der Pro­ tagonist*innen, eine Schwächung der Angeklagten, eine unerwartete Verständigung oder in einen würdevollen Rückzug mündet.

Wiederkehrende Plotstrukturen in Supervision und Coaching

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Erzählungen von Schuld und Scham Wenn die Vertrauensbasis gut ist, werden vielleicht Erzählungen von Niederlagen, Versäumnissen und Fehlern erzählt, die mit Scham- und Schuldgefühlen verbunden sind. Der Plot kreist dann um vergangene oder zukünftig befürchtete Szenen, in denen der*die Protagonist*in sich als schmerzlich fehlbar erlebt und in diesem Versagen von anderen gesehen wird. Eine spannungsmildernde Fortsetzung der Erzählung wird vielleicht das Ausmaß der erlebten Verfehlung relativieren oder eine Entwicklung suchen, in der die Bewertung durch Zeug*innen und innere Stimmen milder und weniger strafend ausfallen. Vielleicht kann auch einfach nur die Tapferkeit der erzählenden Person gewürdigt werden.

Stagnationsfiguren Nicht immer ist der Weg durch Gegner*innen verstellt. Manchmal erzählen Geschichten – wie in unserem Fallbeispiel – von schierer Rat- und Weglosigkeit. Optionen der narrativen Fortschreibung aus Stagnation liegen etwa in demütig-trauerndem Rückzug oder einem entschiedenen Schritt aus zunächst unentscheidbar anmutenden Ambivalenzen und Zwickmühlen heraus. Die Sackgasse wird dann eher zur Weggabelung oder es tun sich neue Wege des Sowohl-als-auch auf.

Abenteuergeschichten Es wird gelegentlich von aufwühlenden Erfahrungen berichtet, in der Abenteuerliches zu erleben und zu bewältigen war. Abenteuergeschichten künden von nicht alltäglichem Erleben, das den Protagonist*innen Außergewöhnliches abverlangt hat. Die Erzählung trägt oft die Signatur einer gewissen Erleichterung über die Tatsache, dass die Abenteuer einigermaßen schadensarm überstanden wurden. Meist 76

Plotstrukturen

schwingt eine gewisse Angstlust mit. Abenteuergeschichten suchen nach Würdigung der durchlebten mutigen Anstrengung und drängen zu einer bilanzierenden Beschreibung der Lehren, die aus dem Abenteuer zu ziehen sind.

Passionswege Anders als Abenteuergeschichten atmen Passionserzählungen nicht die lustvolle Spur der Erleichterung. In ihnen dominiert der Schmerz über einen Leidensweg, der – zumindest bisher – ohne Erlösung blieb. So etwa, wenn in Supervisionen von besonders leidvollen Lebensgeschichten erzählt wird oder vom Niedergang und Sterben der Organisationen, in denen unsere Klient*innen arbeiten. Passionswege wollen zunächst zur Kenntnis genommen werden. Vorschnelle Relativierungen rauben ihnen die Würde. Es gilt, dem Stattgehabten bzw. dem aktuellen Geschehen tapfer ins Auge zu blicken.

Gruselgeschichten In manchen Erzählungen über Arbeit spukt es. Das Verhalten von Beteiligten, seien es Kund*innen, Vorgesetzte, Kolleg*innen, erscheint unglaublich und versetzt die Erzählenden in Stimmungen zwischen Staunen und Entsetzen. Die irritierende Befremdung, die entsteht, wenn Klient*innen völlig Unerwartetes und Beängstigendes erleben, mündet in Erzählungen, die von Überraschung, Unverständlichkeit und der rationalen Unverfügbarkeit des Erlebten künden. Die Stimmungen solcher Erzählungen dürsten nach Beruhigung und einigermaßen evidenten und erträglichen Interpretationen der Phänomene, von denen berichtet wird. Im Ergebnis der gemeinsamen Beratung verändern die ursprünglichen Erzählungen im günstigen Fall ihre Plotstruktur. Sie finden Wiederkehrende Plotstrukturen in Supervision und Coaching

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eine relative Entspannung und Abrundung, die potenziell gedeihliche Handlungsoptionen wieder näher rücken lassen. Hier einige Variationen solcher Ausgänge:

Trauergeschichten Trauer kann schmerzlich sein. Wenn sich Erzählungen trauernd zur Akzeptanz einer Grenze oder zum unwiederbringlichen Verlust eines Begehrens, einer Absicht oder einer Illusion hinneigen, so ist damit gleichzeitig auch Abrundung und Beruhigung verbunden. Erzählungen im Ausgang von Beratungen tragen häufig eine Färbung trauernder Demut, die aus einer Hinwendung zur Wirklichkeit der Grenzerfahrungen resultiert.

Heldenerzählungen Die uralte Plotstruktur der Heldenreise (siehe oben) fokussiert in ihrem Ausgang auf die Metamorphose, die die Held*innen durch die Bewältigung der Herausforderungen erfahren haben. Wer die Reise hinter sich gebracht hat, ist nicht mehr dieselbe Person. Dadurch ist der heldenhafte Mensch einerseits gereift und vervollkommnet. Gleichzeitig kann er Befremden auslösen und sich selbst fremd in seiner Welt fühlen. Heldenerzählungen kommen zur Ruhe, wenn diese Befremdung überwunden und das Lebensumfeld des Menschen an die Veränderung, die er heldenhaft durchlaufen hat, akkommodiert ist.

Eulenspiegeleien Manchmal entwickeln sich Erzählungen in der Beratung in eine Zone eines deutlichen fiktionalen Überschusses. Ähnlich wie bei der »Pro78

Plotstrukturen

zession« im Fallbeispiel können Geschichten in eine surreal schelmenhafte Sphäre transformiert werden. Schon die Schelmenromane des 18. Jahrhunderts erzählten von Protagonist*innen, die sich mit Bauernschläue durch Gefahren bewegen, die eigentlich übermächtig scheinen. Mit List und Fantasie rettet sich der Schelm aus brenzligen Situationen. Wenn sich Geschichten über Arbeitserfahrungen in der Beratung in solche Zonen versteigen, besteht ein Risiko, die Bodenhaftung zu verlieren. Gleichzeitig können aber Problemtrancen durchbrochen werden und neue pragmatische Handlungsoptionen ins Bewusstsein treten, die durchaus alltagstauglich sind.

Erlösungsgeschichten Manchmal gleichen Erzählwendungen einer Erlösung. Manche im Beratungskontext getroffene Entscheidung oder Umdeutung kann Protagonist*innen das Gefühl geben, eine schwere Last falle von ihren Schultern. So z. B., wenn sich Ratsuchende im Ergebnis der Beratung erlauben, ein frustrierendes Projekt nicht weiterzuverfolgen, oder wenn Schuldgefühle über Fehler und Unzulänglichkeiten unter dem Eindruck warmherziger und fehlerfreundlicher Rückmeldungen von Kolleg*innen plötzlich erträglich anmuten.

Romanzen Erzählungen, die ursprünglich von Arbeitserfahrungen der Ermüdung, der Aversion gegenüber Klient*innen oder Kooperationspartner*innen und Hoffnungsarmut zeugen, erleben im Beratungsprozess teilweise eine emotionale Erfrischung, die es den Protagonist*innen erlaubt, wieder mit neu erwachtem Wohlwollen und vitaler Sympathie auf ihre Gegenüber und die Arbeitsaufgabe zuzugehen. Die transformierten Erzählungen werfen dann ein Licht auf diejenigen Aspekte der Arbeit, die Grund für heitere Zuneigung und warmherziges InWiederkehrende Plotstrukturen in Supervision und Coaching

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teresse bieten. Auch schal anmutende Arbeitserfahrungen können einen zweiten Frühling erleben.

Entdeckungsgeschichten (Tüfteleien) Im Prozess der Beratung münden die Ursprungserzählungen der Ratsuchenden und die darin aufgeworfenen Fragen nicht selten in neue und zusätzliche Fragen, deren Stimulanz oft stärker ist als die abschließende Geste schneller Antworten. Beratung mündet dann in Forschungsprogramme, hinter denen im günstigen Fall ein energisches Erkenntnisinteresse steht.

Sowohl-als-auch-Geschichten Innere und äußere Vielstimmigkeit, Ambivalenzen und divergierende Blickwinkel im Beratungssystem werden gelegentlich als hinderlich und beunruhigend erlebt. Die Erzählungen der Beratungsklient*innen zeugen ursprünglich oft von der Sehnsucht nach Eindeutigkeit und nach Harmonisierung der Vielstimmigkeit. Im Ausgang der Beratung gibt es dann vielleicht eine ruhigere Akzeptanz für das Nebeneinander unterschiedlicher Narrative und Zugänge. Das Sowohl-als-auch verhilft zu größerer Tiefenschärfe im Verständnis von Situationen und erleichtert die Kooperation in Differenz.

Revolten Nicht immer erblüht im Ausgang der Beratung die Freude an der Ambivalenz. Gelegentlich schlägt eher die Stunde der Eindeutigkeit und Entschiedenheit. Der Ausgang der Erzählung gibt dann einer klaren Position die Ehre. So etwa, wenn klar wird, dass etwas Bestimmtes zukünftig unbedingt gesagt, getan oder unterlassen werden muss. Diese 80

Plotstrukturen

im Verlauf der Beratung entdeckten Klarheiten stehen oft in einem scharfen Kontrast zur bisherigen Praxis. Sie trotzen der Wirklichkeit, so wie sie bisher erlebt wurde, und ziehen daraus eine widerständige und revoltierende Kraft.

Wandel der Plotstruktur im Fallbeispiel Die Geschichte des von der Sozialarbeiterin erzählten Hilfeprozesses handelt vom Weg in eine Sackgasse. Nachdem einige Prüfungen – wie etwa die allmähliche Herstellung einer vorläufigen Vertrauensbasis – leidlich bewältigt wurden, entsteht durch den hereinbrechenden Verdacht des Drogenrückfalls eine festgefahrene Situation, in der Frau Mahn nur noch die Wahl zwischen zwei gleichermaßen unglücklichen Optionen zu bleiben scheint: stillhalten oder das Jugendamt informieren. Die erste Option stünde in scharfem Kontrast zum professionellen Selbstverständnis der Frau Mahn. Sollte sie das Stillhalten wählen, wäre sie in Gänze aus der Rolle gefallen und als Sozialarbeiterin quasi nicht mehr präsent. Der Option, das Jugendamt über den Verdacht des Drogenkonsums zu informieren, wird das Potenzial zugeschrieben, den Hilfeprozess in einer Flut von Misstrauen, sowohl seitens der Klientin als auch des Jugendamts, zu ertränken. Die Anmutung einer bevorstehenden destruktiven Kulmination wird durch die dichte Konfrontation verstärkt, in die Frau Mahn mit der Klientin Mandy gerät. Letztere sieht sich durch den ausgesprochenen Verdacht bedroht und wählt ihrerseits ein scharfes Schwert. Sie erinnert Frau Mahn – mit feinem Gespür – an deren Kinderlosigkeit und trifft sie an einem verletz­lichen Punkt. Zwei gleichermaßen angeschlagene und schwer bewaffnete Frauen stehen sich – bereit zum Showdown – gegenüber. Die Elemente der Erzählung werden etwas durcheinandergewirbelt, nachdem der Supervisor die Anwesenden bittet, Identifizierungen mit den Kindern zu suchen. Hier einige der Assoziationen aus diesen Blickwinkeln: »Ich bin allein und mache mir Sorgen um Mama.« »Wo ist Papa? Papa soll kommen und mit uns auf den Spielplatz gehen.« »Frau Mahn Wandel der Plotstruktur im Fallbeispiel

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hat oft schlechte Laune. Sie interessiert sich für Mama, nicht für uns.« »Das Jugendamt – was soll das sein? Ich glaube, das ist ein blutrünstig geifernder, Feuer speiender Drache oder vielleicht doch zehn Feuer speiende Drachen? Hoffentlich brechen die nicht hier ein.« »Manchmal habe ich Angst und manchmal spüre ich nichts. Dann ist es am besten.« Als eine Kollegin aus dem Team nach der Haltung des Vaters der Kinder fragt, berichtet Frau Mahn, dass sich dieser in ihrer Wahrnehmung seit geraumer Zeit von der Familie zurückgezogen habe. Er habe Arbeit als Lagerist gefunden und sei viel außer Haus. In einem Rollentausch mit ihm hat Frau Mahn folgende Einfälle: »Als Vater bin ich froh, öfter mal aus dem Haus zu kommen. Zu Hause wurde die Stimmung seit ­Kylies Geburt immer schlechter. Mir ging es ohnehin zu schnell mit dem zweiten Kind. Mandy schafft das alles nicht. Ich weiß, dass sie wieder Drogen konsumiert, und habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Ich bin froh, dass mich die Sozialarbeiterin in Ruhe lässt. Alles wird böse enden. Am besten, ich stecke den Kopf in den Sand. So spüre ich meine Verzweiflung, meine Scham und meine Wut auf meine Partnerin nicht mehr.« Auch aus dieser Perspektive erwächst eine Erzählung des hilflosen Rückzugs und der Einsamkeit. Im Verlauf der Fallberatung wird die Geschichte mit einem veränderten Plot neu erzählt werden. In diesem modifizierten Plot stehen sich die Beteiligten nicht mehr isoliert gegenüber, sondern sind verbunden in ihrer Angst vor dem Jugendamt als gemeinsamem Dritten von der furchterregenden Qualität »Feuer speiender Drachen«. Es wird in vorwegnehmender Fantasie miteinander ausgetüftelt, wie eine gemeinsame Annäherung an dieses Ungeheuer machbar sein könnte. Möglicherweise sogar mit guten Gefühlen, keineswegs aber von Angst überflutet. Die Bewegungsrichtung dieses Plots führt – wenn auch mit offenem Ausgang – aus der Lähmung heraus. Hin zum Jugendamt, vor dem im ursprünglichen Plot alle gemeinsam geflohen waren und sich gemeinsam in der misslich-feindseligen Situation der Sackgasse wiederfanden. 

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Plotstrukturen

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 Schöne Geschichten: Ästhetik als Gütekriterium von Beratung

»Zu wahr, um schön zu sein: auch der Feingeist muss fressen.« Peter Rühmkorf (1983, S. 19)

Es mag zunächst skurril erscheinen, aber viele Sequenzen in der Beratung beziehen ihre Wirkmacht aus einer ästhetischen Dimension. Dies trifft auf die Erzählungen ganz besonders zu. Ich folge dabei dem von Kurt Ludewig ganz explizit formulierten Anspruch, dass Beratung auch »schön« (2015, S. 174) sein soll. Zumindest im Sinne einer ästhetischen Wirkung. Ästhetik (von altgriechisch aísthēsis »Wahrnehmung«, »Empfindung«) bedeutet wörtlich: Lehre von der Wahrnehmung bzw. vom sinnlichen Anschauen. Ästhetisch ist demnach alles, was unsere Sinne bewegt, wenn wir es betrachten: Schönes, Hässliches, Angenehmes und Unangenehmes. Alltagssprachlich steht »ästhetisch« heute meist synonym für »schön« im Sinne von »positiv ansprechend«. In wissenschaftlichen Diskursen ist – wenn von Ästhetik die Rede ist – das gesamte Spektrum von Eigenschaften gemeint, die den Ausschlag darüber geben, wie Gegenstände und Situationen in der Wahrnehmung bewertet werden. »Schön ist das, was als bejahenswert erscheint«, so der Philosoph Wilhelm Schmid (2000, S. 177). Schmid betont in dieser schlichten, aber treffenden Definition des Schönen den Aspekt der Stimmigkeit. Ich kann bejahen, was ich als konkretes Individuum in einer konkreten Situation als stimmig und evident empfinde. Auch wenn es sich um etwas Schmerzliches oder schwer Erträgliches handelt, wird eine erzählende Darstellung des Sachverhalts als angemesSchöne Geschichten

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sen und über Worte hinaus eindrucksvoll und berührend erscheinen oder eben als unpassend und steril. Für Bruno Latour ist Ästhetik schlicht eine von vielen Möglichkeiten, »sich zu sensibilisieren« (2014, S. 6). Und es wird kaum Widerspruch geben, wenn wir an Beratung den Anspruch stellen, zu sensibilisieren.

Merkmale ästhetischer Erfahrung Die Frage nach dem Wesen der Ästhetik liefert den roten Faden durch Kunstgeschichte und benachbarte philosophische Disziplinen. Dieser komplexe Diskurs kann hier nicht nachvollzogen werden.16 Mit Leikert (2012, S. 34 f., 56 f.) können wir jedoch einige grundlegende Merkmale ästhetischer Erfahrungen skizzieren: »Der ästhetische Prozess ist im Wesentlichen ein Wahrnehmungsprozess, der alle Sinneskanäle mit einbezieht und unter seine Kontrolle bringt« (S. 34). In der Regel erwächst die ästhetische Erfahrung aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Medien, aus bildlichen, klanglichen, sprachlichen und Bewegungselementen. Hier zeigen sich die großen narrativen Stärken der szenischen Methoden und einer klangvollen, bildhaften Sprache. Der durch Multimedialität unterstützte vielsinnige Modus senkt die Schwelle für ein transformiertes psychisches Funktionieren. »Nicht mehr die duale Opposition von Selbst und Objekt reguliert das psychische Geschehen, sondern Formen der verschmelzenden Identifizierung« (S. 35). Wir werden scheinbar eins mit dem Wahrgenommenen. Die sprachlich grundierte Logik wird transzendiert, hin zu einem ganzheitlicheren leibseelischen Erleben. Ästhetische Welterfahrung fasziniert und fesselt die Aufmerksamkeit. Gerade weil ästhetische Erfahrung entgrenzend anmuten kann, betont Leikert die Notwendigkeit eines Rahmens. Dieser – am augenfälligsten als Bilderrahmen in der Malerei – markiert die Grenze zu den trivialeren, alltäglichen Erfahrungen und begrenzt 16 Ein kurzer Überblick findet sich z. B. bei Hauskeller (2020). 84

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Ästhetisches in Raum und Zeit, gibt ihm einen Anfang und ein Ende. Ästhetische Erfahrungen bezeichnen Ausnahmezustände von hoher Flüchtigkeit. Das sich Einlassen auf diese Erfahrung kann verun­ sichernd sein. Für Siri Hustvedt erlaubt ästhetische Rahmung einen neuen Zugang zu schmerzlichen Erfahrungen und Gefühlen, die in der ästhetischen Abstraktion und Distanz anders erlebt werden können: »Der ästhetische Rahmen mag genau das sein, was Leid- und Angstgefühlen erlaubt, auf seltsame Weise lustvoll und großartig statt rein elendig zu sein« (Hustvedt, 2020, S. 402). Stabile Rahmung stärkt die Experimentierlust. Häufig beruhen ästhetische Erfahrungen auf einer reizvollen Spannung von Wiederholung und Variation. Als wiederholbar erlebte Aspekte führen in eine gewisse Ritualisierung. Diese gründet vor allem auf Rhythmisierung, vereinheitlichter Formgebung oder Stilisierung. Durch ritualisierte Aspekte wird das Körperselbst in besonderer Weise angesprochen. Auf der anderen Seite beruht ästhetische Erfahrung auf Phänomenen, die in besonderer Weise gestaltet sind. Selbst wenn sich Teile wiederholen – wie in den meisten Musikstücken –, gibt es kleinere oder größere Abweichungen und Variationen, um der Langeweile vorzubeugen. Die besondere Sorgfalt der Gestaltung übt einen verführerischen17 Reiz aus. Wir werden dann in die ästhetische Erfahrung hineingezogen. Wiederholung und Variation schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Schon der rituell-rhythmische Aspekt weist darauf hin, dass Schöpfer*innen und Rezipient*innen ästhetischer Phänomene ko-kreativ zusammenwirken. Auf Rhythmen müssen wir uns einschwingen. Und auch auf andere faszinierende Aspekte gehen wir antwortend zu und ergänzen sie mit Interaktionsbeiträgen oder mit unserer Vorstellungskraft. Kunst entsteht im Auge der Betrachtenden. Leikert (2012, S. 81) geht schließlich davon aus, dass uns ästhetische Erfahrungen verändern. Im Anschluss an sie sind wir nicht mehr dieselben. Wir waren Eindrücken unterworfen, die Spuren in uns und unseren leibseelischen Gedächtnisspeichern hinterlassen haben. In 17 Leikert (2012, S. 78) spricht von »Seduktion« (lat. seducere = Verführung). Merkmale ästhetischer Erfahrung

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diesem sehr allgemeinen Sinn hat jede ästhetische Erfahrung einen kathartischen Effekt. Wir versuchen – so könnten wir mit dem Ethnologen Stephen Tyler sagen –, eine »ästhetische Integration von therapeutischer Wirkung zu erzielen« (1991, S. 194). »Therapeutisch« wäre hier wohl in dem Sinn zu verstehen, dass wir Darstellungsformen suchen, die in einer Weise als stimmig und evident erlebt werden, dass ihnen kathartisches Potenzial zuwächst. Ästhetische Erfahrung erfüllt wesentliche psychische und soziale Funktionen. Sie kann als rituell wiederkehrendes Erleben, sei es nun in Theatern, bei Kirchgängen oder dem sonntäglichen »Tatort«-Fernsehritual, dazu beitragen, Gesellschaften oder auch die seelische Verfassung Einzelner zusammenzuhalten. Gleichzeitig können ästhetische Erfahrungen verunsichern und Angst machen. Sie könnten außer Kontrolle geraten. Leikert spricht vom »melancholischen Kern der ästhetischen Erfahrung« (2012, S. 80). Wir gewinnen viel, verlieren aber auch an Sicherheit. Ein Grund mehr, ästhetische Erfahrungen mit einem sicheren Rahmen auszustatten. Wilhelm Salber verdanken wir den Hinweis, dass die Tendenz, Wahrnehmung in Geschichten zu transformieren, nicht allein unmittelbar lebenspraktisch begründet ist, sondern selbst als »lustvoll« (2009, S. 193) erlebt wird. Es gehe in der menschlichen Existenz eben keineswegs um die Suche nach »schneller Befriedigung. Die Leser wollen gar nicht, dass die eigene seelische Bewegung bald ein gutes Ende hat; sie wollen nicht, dass die Story dazu führt, den Kriminalfall schnell zu lösen oder die Liebes­leute schnell zu vereinen« (S. 195). Salber sieht die wechselvollen Such­bewegungen der Menschen, die »dramatische Note in allen seelischen Geschehnissen« (S. 196) selbst als menschliches Bedürfnis nach Lebendigkeit und bewegter Narrativität. Ein Effekt, der uns als Subjekte in Bewegung hält und vor Verödung schützt. Dies ist eine der vielen möglichen Ableitungen, um ein ästhetisches Bedürfnis als den Menschen grundsätzlich innewohnend zu begründen. Die konkrete Ästhetik einer Erzählung kann unendlich variieren. Sie kann in helle und heitere Gefilde führen, in Zonen voller Zuver86

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sicht, Leichtigkeit und Licht. In anderen Fällen entfalten Erzählungen ihre Wirkung durch eine erschütternde Wucht, die uns aus der Fassung bringen kann, sie sind – um mit Kafka zu sprechen – »die Axt […] für das gefrorene Meer in uns« (1983, S. 34). Ich meine, wir können den Ergebnissen gelingender Beratung einen markanten ästhetischen Wert zugestehen. Sie entfalten eine vielsinnige Bildhaftigkeit und evozieren ein Evidenzerleben, das fasziniert und überrascht. Zudem bedeuten sie Neuland – eine metaphorische Welt, die es ermöglicht, verändertes Handeln in Nuancen auszuprobieren und vorzuahnen. Auch wenn dies auf fiktionale Weise geschieht, werden die ko-kreativ entwickelten Bilder und Szenarien nicht ohne pragmatische Wirkung bleiben. Sinnbilder haben die Kraft, sich selbst erfüllender Prophezeiungen (vgl. Kapitel 3). Sie entwerfen neue Wege, deren Beschreitung bereits im spielerischen Experiment der Beratungssituation Rahmung und Tapferkeit erfordern.

Die Zunft der Berater*innen. Unterschiedliche Schulen – unterschiedliche Ästhetiken Ich mache die Erfahrung, dass Berater*innen mit ihrem je eigenen individuellen professionellen Habitus auch einen gewissen – zum Teil unverwechselbaren – ästhetischen Stil entwickeln. In diesen Stil fließen weltanschauliche, methodische, theoretische und charakterliche Vorlieben ein. Die jeweiligen Beratungssituationen werden auch durch den ästhetischen Stil der Beratenden eher optimistisch oder pessimistisch, eher in hellen oder dunkleren Farben, eher strukturiert oder bewegt bis chaotisch, gegenständlich-bildhaft oder abstrakt gestaltet sein. Die Relevanz der ästhetischen Wirkung persönlicher Beratungsstile ist sicherlich kein unproblematisches Phänomen. Sie erzählt auch von der unabweisbaren Wucht subjektivierter Selbstdarstellung in der Arena der »Singularitäten« (vgl. Reckwitz, 2017; Meier, 2020), die umso stärker wirkt, wenn nur wenige allgemein anerkannte professionelle Kompetenzmerkmale definiert sind. Dennoch kann die RückbesinDie Zunft der Berater*innen

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nung auf den individuellen Stil auch entlasten. Wir tun unsere Beratungsarbeit als kaum vergleichbare Originale. Und unser Stil umfasst sowohl unsere Stärken als auch unsere Schwächen. Auftraggeber*innen schätzen uns als Berater*innen oft genau wegen dieser unebenen Profile. Berater*innen sind mit ihrer individuellen Ästhetik in bestimmten Kontexten erfolgreich. Anderswo verfehlt ihr Habitus die Passung und es stehen sich Stile und Erfahrungswelten gegenüber, die nur schwer miteinander kreativ werden können. Statt nach »exzellenten« bzw. »weniger guten« Berater*innen zu suchen, wäre es vielleicht angemessener, über Passung nachzudenken. Wenn sich Klient*innen systemische, agile, psychodynamische, psychodramatische oder anders grundierte Berater*innen wünschen, so ist damit in der Regel auch ein bestimmter ästhetischer Erwartungshorizont verbunden.

Nebenwirkungen der ästhetischen Faszination Die ästhetische Wirkung einer Erzählung hat die manchmal gnädige, oft aber eher tragische und riskante Charakteristik, sich weitgehend autonom vom transportierten Inhalt und von den Absichten der Sprecher*innen entfalten zu können. Die Musik Richard Wagners z. B. taugte zur »Untermalung« der Shoah ebenso wie zu Programmen selbstloser Liebe und des Mitgefühls. Schöne Erzählungen rühren an Gefühle. Sie stimmen sensitiv und senken gleichzeitig die Schwelle für affektlogisches Agieren. Letzteres im Zweifelsfall jenseits von Sinn und Verstand. Ähnlich wie die Metapher ist auch die ästhetische Erfahrung janusköpfig. Sie erhellt und verblendet oft gleichermaßen. Damit können wir relativ entspannt umgehen, wenn wir einräumen, dass jedwede beraterische Transformation durch ihren unvermeidlichen fokussierenden Effekt einige Aspekte der Wirklichkeit hervorhebt und damit einer gewissen Engführung der Perspektive unterliegt. Vielleicht sollten wir auch hier eine Pendelbewegung von Nähe und Distanz suchen. Wir brauchen die Fähigkeit, uns von den in der Beratung lebendigen Erzählungen berühren zu lassen. Andererseits scheint es förderlich, die 88

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Kirche im Dorf zu lassen. Gerade wenn Erzählungen eine besondere Faszination, eine gewisse Langlebigkeit und Reichweite entfalten, kann es gedeihlich sein, wieder eine (selbst-)ironische Distanz zu suchen, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren und sich vom Rausch der Faszination fortreißen zu lassen. Dies lässt sich auf vielen für arbeitsbezogene Beratung relevanten Ebenen nachvollziehen. Manchmal entfalten bestimmte theoretische oder methodische Moden einen thermischen Auftrieb, den sie unter anderem ihrer aparten Ästhetik verdanken. Die Metapher des »Agilen« und die um sie angeordneten Erzählungen einer »neuen Arbeit« tragen Züge eines solchen Faszinosums. Ich selbst ertappe mich dabei, bestimmte Denkfiguren, die ich mag, immer wieder zu bemühen, da ich für deren ästhetische Kraft schwärme. Das kann auch ins Auge gehen und kraftlos bleiben. Auch die eine oder andere Methode – z. B. aus dem Kanon der Aufstellungen – kann kurzfristigen ästhetischen Reiz entfalten und gleichzeitig jedwede transformative Kraft außerhalb des Beratungssettings verfehlen. Ideengeschichtlich gab es immer wieder Ausflüge in eine Überhöhung und Verabsolutierung des Ästhetischen, von Hölderlins lyrischer Prophezeiung »Was bleibet aber, stiften die Dichter«18 bis zu Jonathan Meeses – vielleicht augenzwinkernder – Forderung nach einer »Diktatur der Kunst« (vgl. Lümen, 2021). In der Gegenwart ist die Kunst in gewissen Kreisen zu modischem Lifestyle geworden, der für sich gelegentlich ein Reservat jenseits jeder Kritik beansprucht (vgl. Gombrich, 2018, S. 485). Die Metapher der Schönheit steht in geschwisterlicher Nähe zu der des Spiels. Obwohl es auf der Hand liegt, dass die narrativen Gestaltungsprozesse in spielerischer Leichtigkeit besser gedeihen: Auch das Spielerische kann im Denken und Handeln überborden. Das Spiel hat sich zu einer der Leitmetaphern des digitalen Zeitalters gemausert. Spieltheorien, Events, Incentives scheinen das Salz in oft sinnarmen Suppen zu sein. Gelegentlich ist von der »Gamification« des gesamten gesellschaftlichen Lebens die Rede (vgl. Stampfl, 2012). Das Spie18 Aus »Andenken« (Hölderlin, 1951, S. 188 f.). Nebenwirkungen der ästhetischen Faszination

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lerische kann in riskante Nähe zum Blödeln geraten, einer Qualität, deren Stärken nicht zu leugnen, aber dennoch begrenzt sind. Wenn ernste und schmerzliche Erfahrungen ungelenk überspielt werden, landen wir in der Zone des Zynismus. Narratives Spiel wird dann zur bloßen Attitüde, die leicht die Würde verfehlt. Die Zutaten effektiver Beratung – Nutzen, Respekt und Schönheit (Ludewig, 1988) – lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen. Es geht immer um eine möglichst ausgeglichene Melange aus allen dreien.

Ästhetik der Erzählungen im Fallbeispiel Die Supervisionssitzung, die uns zur Veranschaulichung durch dieses Buch begleitet, durchschritt etwa drei unterschiedliche ästhetische Klima­zonen. Zunächst – im unmittelbaren Anschluss an den Fallbericht – dominierte eine Welt der Hoffnungsarmut und Lähmung. Auch diese Phase hatte ihre Ästhetik. Die Erzählung imponierte durch eine bedrückende Anmutung der Niederlage und Perspektivlosigkeit. Die gewählten Worte sind eindrucksvoll. Alle sind berührt von einem Hilfeprozess, der kurz davorsteht »hochzugehen«, oder von den engen Grenzen der Kooperation mit einer »völlig hysterischen« Kollegin im Jugendamt. In der zweiten, den Identifizierungen mit den Kindern und dem Familienvater gewidmeten Phase der Sitzung entfaltet sich eine veränderte Ästhetik. Die Kinder – als vermutlich bedürftigste Adressat*innen der Hilfe – erscheinen als gemeinsames Drittes in der Mitte des Bildes. Die Szene ist darüber hinaus durch die Angst vor einem Jugendamt grundiert, dem nachgerade monströse Destruktivität unterstellt wird. Eine Erzählung, die zunächst das Trennende unter den Beteiligten akzentuierte, verschiebt sich hier zu einer Erzählung, die Gemeinsames hervorhebt: Sorge um Kinder und Angst vor dem Jugendamt. In der Regel transportieren Erzählungen von Gemeinsamkeiten eine 90

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ruhigere und konzentrierte Atmosphäre. Ängste sind leichter erträglich, da mehr Kollektivität spürbar ist. Die Ästhetik dieser Phase – der Eindruck, den sie hinterlässt – ist eher nachdenklich, einfühlsam, warmherzig und fast zärtlich anmutend. Diese Variation von Schönheit bietet vermutlich den angemessenen Rahmen, der es Frau Mahn ermöglicht, über die Kränkung zu sprechen, die ihr im Disput mit ihrer Klientin widerfahren ist. In einer aus der Perspektive eines der Kinder gesprochenen Äußerung wird das Jugendamt mit »zehn geifernden, Feuer speienden Drachen« verglichen. Dies kann als Schritt der »Ästhetisierung« verstanden werden. Die Überzeichnung macht Eindruck und fesselt die Aufmerksamkeit. Sie ermöglicht ein Stück ironisierender Distanz und lädt damit, im Wege der Stilisierung, zu einer erneuten Überprüfung der bisherigen furchterregenden inneren Bilder vom Jugendamt ein. Die dritte ästhetische Klimazone wird durch Frau Mahns Satz »Ich glaube, ich komme nicht darum herum, mit der Jugendamtskollegin zu sprechen« eingeleitet. Auf diesen Satz folgt unmittelbar der heiter-ermutigende Einwurf einer Teamkollegin: »Wir kommen alle mit.« Der Supervisor folgt dieser Intuition und bittet um Einfälle, wie es aussehen könnte, einen Gang zum Jugendamt in dieser Sache auf eine Weise zu gestalten, die allen hier Anwesenden und am Fall Beteiligten eine Rolle zuweist. Es wird tatsächlich eine Art »Parade« Richtung Jugendamt imaginiert, die von einem Kollegen »Prozession zum Jugendamt« getauft wird. Dieser Impuls wird im Gespräch aufgegriffen und durch folgende – von unterschiedlichen Personen assoziierte – Einfälle angereichert: Frau Mahn, begleitet von drei ihrer Kolleg*innen, begibt sich auf einer Straße Richtung Jugendamt. Am Rande der Straße gibt es Zuschauer­tribünen, auf denen die am deutlichsten amtsskeptischen Teammitglieder sitzen. Sie werfen denjenigen, die sich auf den Weg machen, Proviant und Wasserflaschen zu. Von unten ertönen Sprechchöre: »Kollegen lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein.« Diese Aufforderung wird von den zögernden Kolleg*innen keineswegs befolgt. Sie halten stattdessen Transparente mit den AufschrifÄsthetik der Erzählungen im Fallbeispiel

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ten »Seid vorsichtig!« und »Ihr könnt jederzeit zurückkommen« in die Höhe. Die Kolleg*innen auf dem Weg zum Jugendamt ziehen einen Leiterwagen hinter sich her, auf dem sich ein Buch befindet, das eine differenzierte Einschätzung der Stärken und Defizite der Erziehungsfähigkeit des Elternpaares enthält. Autorin dieses Textes ist Frau Mahn. Außerdem befindet sich auf dem Leiterwagen ein Schlüssel. Dieser trägt einen Anhänger mit der Aufschrift »Dies ist der Schlüssel, um den Kindesvater Georg zur Übernahme seiner Verantwortung zu gewinnen«. Die Kolleg*innen auf den Rängen singen »You’ll never walk alone …«. Als die Prozession an dem Wohnhaus des – für seine institutionskritische Kraft legendären – ehemaligen Geschäftsführers und Gründers des Trägers vorbeikommt, halten die Teilnehmer*innen in »einer kurzen Andacht« inne. Sie versichern dem Gründer warmherzig, dass sie »keineswegs die Seiten gewechselt« hätten, jetzt aber ihr Geld in einer Disziplin verdienten, die »mehr Zusammenarbeit mit Staat und System« erfordere. An einer Straßenecke stößt das Elternpaar Georg und Mandy zur Prozession und schließt sich ihr an. Die beiden werden nicht müde, die Sozialarbeiter*innen auf ihrem Weg zum Jugendamt als »Verräterinnen«, »Vollpfosten« und Ähnliches zu beschimpfen. Dennoch bleiben sie bis zum Ziel bei der merkwürdigen Parade. Die Atmosphäre ist heiter, energetisch, teilweise am Rande des Blödelns, in der Ästhetik einer Slapstick-Komödie mit surrealer Färbung. Alle scheinen sich an dem Gedankenspiel zu erfreuen und alle Anwesenden spielen eine aktive Rolle im Erfindungsprozess. In gemeinsamer Autor*innenschaft ist eine Art Gesamtkunstwerk, ein Stück »große Oper« entwickelt worden. Die neu entstandene Erzählung macht Eindruck und wird im Gedächtnis bleiben. In der Abrundungsphase der Fallberatung meldet Frau Mahn zurück, sie fühle sich »weniger allein« und »etwas streitlustiger« gegenüber ihren Auftraggeber*innen in der zu betreuenden Familie und im Jugendamt. Es habe ihr gutgetan zu lachen – auch in dieser ernsten Lage. Das Prozessionsbild, in dem sie »den Karren zieht wie einst Mutter Courage«, werde sie vermutlich lange begleiten. 92

Schöne Geschichten

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 Gemeinsam erzählen: Zur Vielstimmigkeit der Erzählsituation

»Sprache liegt im Grenzgebiet zwischen sich und dem Anderen, […] das in Sprache geäußerte Wort gehört halb jemand anderem.« Michail Bachtin (1982, S. 294)

Erzählungen – auch in Beratungskontexten – sind soziale Ereignisse. Sie wachsen auf dem Acker einer konkreten sozialen Situation und sind nur in diesem Kontext gut zu verstehen. Was dazukommt: Die Sprache selbst, in der erzählt wird, ist ein soziales Gebilde. Jeder Ort hat seine Sprachen und die Sprache selbst ist lebendig und einem fortgesetzten Wandel unterworfen. In der Beratung geht es also stets vielstimmig zu.

Polyphonie als Strukturprinzip der Sprache Das Konzept der Vielstimmigkeit (Polyphonie) – ursprünglich in der Musik beheimatet – wurde von dem russischen Linguisten und Philosophen Michail Bachtin (1895–1975) in eine Theorie der sprachlichen Polyphonie importiert (vgl. dazu auch Obermeyer, 2019a). »Die zentrale These dieser Theorie ist die Annahme, dass die Urheberschaft einer Äußerung uneinheitlich sein kann und deren Bedeutung oftmals durch die Fragmentierung von Sprechperspektiven geprägt ist« (Gévaudan, 2021, S. 49). Hinsichtlich der Vielstimmigkeit der Gesprächssituation akzentuiert Bachtin zunächst den Aspekt der Einmaligkeit der einzelnen Polyphonie als Strukturprinzip der Sprache

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Stimmen, die aber in ihrer Originalität ein Konzert mit anderen Sprecher*innen suchen. »Das Wesen der Polyphonie besteht gerade darin, dass die Stimmen selbständig bleiben und als solche in eine Einheit höherer Ordnung, als es die Homophonie ist, aufgehen. […] Man könnte sagen: der künstlerische Wille der Polyphonie ist der Wille zur Verbindung vieler Willensakte, der Wille zum Ereignis« (Bachtin, 1985, S. 27). Bachtin akzentuiert aber nicht nur die Vielstimmigkeit unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer*innen (horizontale Polyphonie), sondern auch die Vielstimmigkeit innerhalb einer einzelnen Person (vertikale Polyphonie), wie sie später in den Konzepten der Ich-Zustände oder des inneren Teams beschrieben wurde (vgl. Abbildung 3). Beispiele für interne Vielstimmigkeit in Erzählungen: (Innere Vielfalt der Sprecher*innen)

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich Gefühle vertrete. Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich eine Sprache der Fachlichkeit spreche.

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich spreche, wie mir der Schnabel gewachsen ist.

Beispiele für externe Vielstimmigkeit in Erzählungen: (Kontext der Sprecher*innen)

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich die eine Seite der Ambivalenz vertrete. Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich die andere Seite der Ambivalenz vertrete.

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich die Sprache des Hauses spreche.

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil meine Erwartungen erfüllt werden sollen.

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich verleugnet werde.

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich zitiert werde. Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich brüskiert werden soll.

Ich spiele in der Erzählung eine Rolle, weil ich anerkannt werden soll.

Abb.3: interne und externe Vielstimmigkeit

Abb.3: interne und externe Vielstimmigkeit

Sowohl die intersubjektive als auch die intrasubjektive Vielstimmigkeit sind konstituierender Baustoff jedweden Gesprächs. Hinsichtlich seines geistigen Paten Dostojewski schreibt Bachtin dazu: »In jeder Stimme konnte er zwei miteinander streitende Stimmen hören, in jeder Äußerung einen Bruch und die Bereitschaft, sofort zu einer anderen, entgegengesetzten Äußerung überzugehen; in jeder Geste entdeckte er Sicherheit und Unsicherheit zugleich; er begriff die tiefe Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit jeder Erscheinung« (1985, S. 37). 94

Gemeinsam erzählen

Das Faszinierende an dieser Denkfigur einer immerwährenden Vielstimmigkeit der Rede ist der breite Zugang, der sich daraus für die Analyse der sozialen Situation ergibt, in der ein Gespräch stattfindet. Die anderen, von denen wir berichten oder denen wir berichten, sind in unseren Erzählungen immer schon präsent, in Zitaten oder in der Gestaltung unserer Sprache auf die je konkret Zuhörenden hin. Wir alle kennen die Erfahrung, dass wir bestimmte Geschichten in dem einen Kontext ganz anders erzählen als in einem anderen. Die soziale Situation des Gesprächs ist allen Aussagen auf eine spezifische, wenn auch oft verborgene Weise eingeschrieben. Äußerungen sind nie für sich allein zu verstehen, sondern Teil einer Kette von Äußerungen, in der jedes Glied der Kette auf vorhergehende und zukünftige Äußerungen bezogen ist. Jede Rede ist schon einmal ganz grundsätzlich ein modifiziertes Zitat. Sie greift mit den tradierten Worten und Redensarten scheinbar stabile Bedeutungen auf, die schon lange kursieren, und fügt diesen in der Einmaligkeit der konkreten dialogischen Situation doch etwas Neues hinzu. So stabil uns unsere Sprache als Reservoir verlässlicher Verständigungskonserven erscheint, sie ist, wenn wir genau hinsehen, doch permanenter Veränderung unterworfen. Im stetigen Spiel von Verständnis und Missverständnis, in ihrem permanenten Scheitern am Versuch, lebendige Erfahrung wirklich vollkommen abzubilden, spottet Sprache jedem Anspruch auf letztendliche Wahrheit und Totalität. Darauf hat vor allem Jacques Derrida hingewiesen (vgl. Derrida, 1997; Feustel, 2015, S. 45 ff.). Kaum ist ein Satz ausgesprochen, unterliegt dieser einer Transformation. Die Adressat*innen und Empfänger*innen geben dem Gehörten ihre eigene Prägung und selbst für die Sprecher*innen verändert sich Bedeutung im Moment des Sprechens. Nicht ohne Grund führen uns unsere gesprochenen Worte oft zu überraschenden Einfällen oder wir bedauern im nächsten Moment, was wir gesagt haben, finden es vielleicht verfehlt oder nicht wirklich treffend. Im Reich der Sprache überwuchert Veränderung oft die vermeintliche Konstanz. Und im Kern geht es bei narrativer Beratung natürlich Polyphonie als Strukturprinzip der Sprache

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um dieses delikate Verhältnis von Statik und Veränderung in unserer Sprache. Jede Äußerung ist angeregt durch das im sozialen Kontext vorhergehend Gesagte und strahlt auf die nachfolgenden Äußerungen ab. Damit sind Äußerungen immer schon »ein Gewebe von Z ­ itaten« (Bachtin, zit. nach Sasse, 2018, S. 59). Es bleibt stets klar, dass sich das Wort weder vom vorhergehenden noch vom antwortenden trennen lässt. Dieses Verständnis des Gesprächs ist zutiefst intersubjektiv. »Das Ereignis des Lebens des Textes, d. h. sein eigentliches Wesen, entwickelt sich immer an der Grenze zweier Bewußtseine, zweier Subjekte« (Bachtin, 2005, S. 177). Neben der Vielstimmigkeit weist Bachtin mit dem Begriff der »Heteroglossie« auf die Vielsprachigkeit des Gesprächs hin. Damit soll markiert werden, dass sich im Gespräch nicht nur verschiedene Stimmen überlagern. Diese sprechen vielmehr in unterschiedlichen Sprachstilen. Heteroglossie bezeichnet »die innere Aufspaltung der einheitlichen Nationalsprache in soziale Dialekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Gattungssprachen, Sprachen von Generationen und Altersstufen, Sprachen von Autoritäten, Zirkeln und von Moden, bis hin zu den Sprachen sozialpolitischer Aktivität« (Bachtin, 1979, S. 157). Erzählungen und Gespräche leben neben ihrer grundlegenden Vielstimmigkeit von der Palette der beteiligten habituellen Sprachspiele. Vor allem die folgenden beiden Suchbewegungen erschließen uns die Vielstimmigkeit von Erzählungen: Ȥ Welche Sprecher*innen spielen eine Rolle? Wer spricht? Welche internen Stimmen der Erzähler*innen sind beteiligt? Welche Stimmen anderer Beteiligter scheinen in der Erzählung auf? Wer wird möglicherweise zitiert? Wem wird in der Rede der Sprechenden die Ehre gegeben? Letzteres wäre dann plausibel, wenn es Hinweise dafür gibt, dass die Erzählung ihre Gestalt auch der Intention verdankt, anderen anwesenden oder abwesenden Personen gerecht zu werden. Ȥ Welche Sprachen werden gesprochen? Sind die Sprachen des Alltags, der Wissenschaft, der Technik, der Politik beteiligt? Werden 96

Gemeinsam erzählen

Sprachen bestimmter »Szenen«, spezifische Soziolekte, oder ideologisch grundierte Sprachen gesprochen? Ein an der Vielstimmigkeit interessiertes Hinhören wird möglicherweise den szenischen Gehalt der Erzählung tiefenschärfer erkennen. Die zweidimensionale Ausprägung eines Zwiegesprächs von Erzähler*in und Zuhörer*in öffnet sich dann in einen dreidimensionalen Raum, in dem andere Beteiligte innerhalb oder außerhalb des zu beratenden Systems in ihrer Beteiligung und Co-Autor*innenschaft an der Erzählung sichtbar und erfahrbar werden. Bachtin unterstellt sogar jedem einzelnen Wort Polyphonie. Er spricht von hybrider Zweiwertigkeit der Worte (vgl. Sasse, 2018, S. 136). Die eine der beiden Seiten weise zur Wirklichkeit hin, die andere – im eher poetischen Sinn – zur Möglichkeit (S. 135). »In jedem Wort sei deshalb ein anderes, ein fremdes Wort präsent, als mitverstandenes, als entgegengesetztes oder als verworfenes Wort« (S. 89). An anderer Stelle spricht Bachtin davon, jedes Wort habe eine »Hintertür« (1985, S. 262), sozusagen eine Ausflucht, ein Schlupfloch, durch das neues, überraschendes Terrain erreicht werden kann. Der Sinn des Wortes wird sich im intersubjektiven Austausch des Gesprächs zwangsläufig ändern. Deshalb sei das Wort mit Hintertür, das zweistimmige Wort, immer nur »ein vorletztes Wort und setzt nur einen bedingten, keinen endgültigen Punkt« (S. 262). So wird eine Einladung zu assoziativen Wortspielen ausgesprochen. Kinder spielen mit Worten wie mit Bällen, sobald sie ihrer im Spracherwerb habhaft werden. Diese Disziplin sollten wir als Erwachsene nicht vollkommen aufgeben. Die Idee der permanenten Vielstimmigkeit korrespondiert mit Zurückweisung der Vorstellung einer eindeutig greifbaren, selbstbestimmten Persönlichkeit mit klar definierbaren Außengrenzen. Der Sprachwissenschaftler Roland Barthes ging so weit, den »Tod des Autors« (2006) auszurufen. In dieser Überspitzung hob er den sozialen Patchwork-Charakter jedes Textes und jeder Rede hervor, in dem Individuum und sozialer, historischer Kontext jeweils untrennPolyphonie als Strukturprinzip der Sprache

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bar aufgehen. Barthes versteht jede Rede »als Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen« (S. 61). Die Rolle der Erzähler*innen – seien es nun Literat*innen oder Alltagssubjekte – bestehe darin, die unterschiedlichen Stimmen und Zitate miteinander in ein Verhältnis zu bringen, zu mischen, »gegeneinander auszuspielen« (S. 61), sodass eine Geschichte von szenisch-bildhaftem Charakter entsteht.

Erzählungen sind soziale Ereignisse Auch Fall- und Problemerzählungen in Beratungssituationen haben viele Autor*innen. Sie sind – auch wenn sie aus dem Mund einer einzelnen Person kommen – als komplexe soziale Kreationen zu verstehen. Sprecher*innen knüpfen in ihrer Rede feine Fäden zu ihren Zuhörer*innen und sind im Verfertigen ihrer Rede auch schon immer durch diese feinen Fäden gelenkt. Form und Inhalt der Erzählung werden im Angesicht konkreter Adressat*innen gestaltet. Es geht darum, sich den anwesenden Personen verständlich zu machen, und in aller Regel auch darum, den Erwartungshorizont der Zuhörer*innen nicht zu sehr zu strapazieren, sie nicht allzu sehr zu brüskieren. Wir versuchen auf eine Weise zu sprechen, die das Ausmaß der Missverständnisse begrenzt und zumindest das Risiko der Exkommunikation überschaubar hält. So gesehen, sprechen die anderen immer schon aus uns und fließen in unsere Erzählung ein.19 Dies kann, muss uns aber nicht bewusst sein. Für Michail Bachtin sind Wortbedeutungen sozial. Sie verändern sich, abhängig von der sozialen Situation, in der das Wort gebraucht wird, permanent. Jeder gesprochene Satz ist Antwort. »Jedes Wort einer solchen Replik ist gegenstandsgerichtet und reagiert gleichzeitig gespannt auf das fremde Wort, indem es ihm antwortet und es antizipiert« (1985, S. 219). Sprache geht eigentlich immer vom anderen aus. Dies ist selbst dann der Fall, wenn wir 19 Vergleiche dazu das Konzept des »impliziten Lesers« (Iser, 1984, S. 50 ff.). 98

Gemeinsam erzählen

Selbstgespräche führen und uns quasi an unsere inneren Beobachter*innen wenden. Ein weiterer Modus, in dem soziale Kontexte in die Erzählung einfließen, sind Zitate. Diese können in wörtlicher oder indirekter Form auftauchen, beispielsweise: »Die Jugendamtskollegin hat gesagt: ›Das mache ich nicht mit‹« oder »Das Jugendamt lehnt das ab«. Die Art und Weise des Zitierens eröffnet ein breites Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten. Wir können genau und wahrheitsgetreu zitieren oder die Rede, von der wir berichten, verfälschen, kreativ ergänzen, verwandeln, aus dem Kontext reißen. Wir benutzen Redeweisen, die uns quasi »auf den Leib gewachsen sind«, die wir möglicherweise schon länger gerne verwenden oder die uns in einem spezifischen Kontext als stimmig und adäquat erscheinen, weil wir sie in der Vergangenheit verwendet und damit unsere Erfahrungen gemacht haben. So zitieren wir uns in einer ganz unwillkürlichen Weise selbst. Der Erzählfluss – der scheinbar spontan in uns entsteht – ist Ergebnis unserer Begegnung mit anderen. So greifen Erzählungen in die Vergangenheit zurück. Sie weisen in aller Regel keine ungetrübte Originalität auf, sondern verweben Fragmente, die schon einmal oder mehrfach von uns und anderen gesagt wurden. Gleichzeitig greifen Erzählungen in die soziale Zukunft vor. Sie entstehen vor dem Hintergrund unserer Erwartungen, die wir hinsichtlich der Resonanz und Antwort unserer Zuhörer*innen hegen.

Vielstimmigkeit im Fallbeispiel Die Sozialarbeiterin Frau Mahn trägt ihren Fallbericht – kaum durch andere unterbrochen – als individuelle Professionelle vor. Dennoch können wir davon ausgehen, dass ihr Bericht vom ersten Moment an vielstimmig ist. Auch ihre Kolleg*innen im Team und die Kultur ihrer Organisation sprechen aus ihr. Der Fallbericht hat viele Autor*innen. In Vielstimmigkeit im Fallbeispiel

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einem anderen Kontext, in einer anderen Organisation, vor anderen Kolleg*innen, möglicherweise vor einem*einer anderen Supervisor*in wäre der Fallbericht anders ausgefallen. Wenn Frau Mahn beispielsweise die Option einer engeren Kooperation mit dem Jugendamt in ihrem Fallbericht sehr stark problematisiert, so sprechen aus ihr damit zum einen Mitglieder der betreuten Familie, die möglicherweise Machteingriffe durch das Jugendamt fürchten. Zum anderen schlägt sich im Fallbericht vermutlich auch die Skepsis der Kolleg*innen im Team hinsichtlich des Jugendamts nieder. In einer anderen Kultur, die möglicherweise klarer mit dem Kontrollauftrag des Jugendamtes identifiziert wäre oder eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Drogengebrauch und Erziehungsfähigkeit postuliert, könnte anders gesprochen werden. Auch diese »Fallbesprechungsgruppe ist […] kein ›leerer Spiegel‹, sondern eine soziale Gestalt mit ihrer je eigenen Dynamik« (Schattenhofer u. König, 2017, S. 78). Die dramatische Diktion, Transparenz gegenüber dem Jugendamt schlüge bei den betroffenen Eltern »wie eine Bombe« ein, versucht Einwände und Warnungen hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt vorwegzunehmen. Zumindest macht Frau Mahn mit dieser Formulierung deutlich, dass sie die institutionsskeptische Haltung ihrer Organisation und ihrer Kolleg*innen kennt und in Rechnung stellt (ein Aspekt externer Vielstimmigkeit). Gleichzeitig scheint Frau Mahn zu ahnen, dass sie ihre Auftraggeber*innen im Amt an dieser Stelle nicht heraushalten kann. Ihre Ambivalenz klingt an (in interner Vielstimmigkeit). Sie kann sich aber – in diesem konkreten Kontext – nicht einfach auf die andere Seite schlagen. Ein Satz wie »Klarer Fall. Ich gehe zum Jugendamt und informiere die Kollegin über den aktuellen Stand« würde vielleicht auch hier – in Zeugenschaft ihrer Kolleg*innen – »wie eine Bombe einschlagen«. Zumindest kann er innerhalb des konkreten von Frau Mahn verinnerlichten Erwartungshorizonts dieser Teamsituation nicht ohne Risiko gesprochen werden. Gleichzeitig ist es die imaginierte Stimme des Jugendamtes, die Informationen über auftretende Komplikationen im Fall fordert, auf die in diesem Fallbericht geantwortet wird. Der Druck, der von diesen Stimmen ausgeht, (ein weiterer Aspekt ex100

Gemeinsam erzählen

terner Vielstimmigkeit) steht in Spannung zur institutionsskeptischen Haltung der Einrichtung. Frau Mahn scheint diese Spannung zu kennen oder zumindest zu ahnen und zeigt sich ihrem Team in ihrer Ambivalenz. Wenn verschiedene Teammitglieder dem Bericht der Fallgeberin dann zunächst mit kritischen bis despektierlichen Kommentaren zur »hysterischen« Jugendamtsfachkraft antworten, so scheint dies auch der Intention zu folgen, die spürbar angespannte Ambivalenz der Kollegin Mahn zu entlasten. Was immer für eine engagiertere Kooperation mit dem Amt sprechen könnte, in diesem Fall wird diese Option allein schon aufgrund der »Unfähigkeit« der konkreten Jugendamtskraft obsolet. Nichts wird gesagt, was nicht eine zu erwartende Antwort der anderen Anwesenden antizipierend in Rechnung stellt. So entfaltet sich die Szene als Gemeinschaftswerk und ist nur als solches zu verstehen. In vielen der einzelnen Äußerungen lässt sich der gesamte systemische Kontext aufspüren. Der Fallbericht und das sich anschließende Gespräch »zitieren« also tatsächliche, vermutete und verfälschte Stimmen aus dem Da und Dort des Fallgeschehens und aus dem Hier und Jetzt der Supervisionsszene in der Organisation. Spiegelungsphänomene, in denen sowohl die Dynamik des Falls als auch die der Organisation im Hier und Jetzt der Beratungssituation auftauchen, sind wesentlich durch die Vielstimmigkeit und Sozialität des Gesprächs vermittelt. In der Phase, in der die Kolleg*innen Identifizierungen mit den Kindern suchen, entfaltet sich ein weiterer Aspekt externer Vielstimmigkeit. Es werden bisher ungehörte Stimmen hörbar, die sich dem Erleben der Kinder hypothetisch annähern. Möglich wird dies durch eine bewusste, vom Supervisor angeregte Fokussierung auf die Kinder, deren Stimmen im bisherigen Szenario eher vernachlässigt schienen. Eine Leerstelle im polyphonen Chor wird gefüllt. Dies ermöglicht allen Beteiligten eine veränderte Wahrnehmung der gesamten Szene. Mit der Kindersprache wird – im Sinne Bachtins Heteroglossie – ein neuer Sprachstil, ein eher an der Unmittelbarkeit kindlicher Bedürfnisse orientierter Soziolekt eingeführt. Vielstimmigkeit im Fallbeispiel

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Kommen wir an dieser Stelle noch einmal auf die in der Einführung zum Fall (Kapitel 2) als »Mutterschaftsnarrativ« apostrophierte erzählerische Abzweigung zurück. Der Supervisor nimmt darauf Bezug in dem Moment, in dem Frau Mahn eine Rückmeldung zu den Impulsen aus den Identifizierungen mit den Kindern gibt. Er fragt Frau Mahn, was von der Bemerkung der Klientin, sie – die Sozialarbeiterin – sei neidisch auf deren Mutterschaft, in ihr zurückgeblieben sei. Frau Mahn berichtet, sie hege seit vielen Jahren einen Kinderwunsch, der sich bisher nicht erfüllt habe. Erst vor wenigen Wochen habe sie eine Fehlgeburt erlitten, die sie schmerzlich betrauere. Frau Mahn erfährt an dieser Stelle unmittelbar Anteilnahme von ihren Kolleg*innen verbunden mit dem Wunsch, es möge ihr gelingen, eine stabile Grenze zwischen ihrem Privatleben und ihrer professionellen Rolle zu ziehen, um »Übergriffe« von Klient*innen abzuwehren. Frau Mahn fällt in diesem Moment ein, sie könne Mandys Kommentar zu ihrer Kinderlosigkeit als »Übergriff«, aber auch als Versuch einer »Umarmung« verstehen. Sie wählt hier – im Sinne Bachtins – assoziativ eine »Hintertür-Option« des Wortes »Übergriff«. Auf jeden Fall teile sie mit Mandy das Gefühl großer Verunsicherung hinsichtlich des Themas Mutterschaft. Solange die Klientin und sie vor allem mit sich selbst und ihren befürchteten Defiziten beschäftigt seien, falle es wohl beiden schwer, die Kinder wirklich wahrzunehmen und das eigene Handeln auf deren Bedürfnisse auszurichten. Der Plot vom »bösartigen Übergriff« verliert in diesem Moment an Strahlkraft und weicht dem eines gemeinsam inszenierten »Ablenkungsmanövers«, das den klaren Blick vernebelt. Nachdem die Fallgeberin diesen Aspekt des Fallgeschehens in dieser Weise neu einordnen kann, fällt sie im unmittelbaren Anschluss ihre Entscheidung: »Ich glaube, ich komme nicht darum herum, mit der Jugendamtskollegin zu sprechen.« In der sich anschließenden Phase, in der die »Prozession zum Jugendamt« entworfen wird, dominiert ein vollständig anderer, surrealer Erzählstil. Ein Möglichkeitsraum von fantastischer Weite, in dem sich alles zu allem fügen kann. Märchenhaft kann hier Assoziation neben Assoziation stehen. Und so versammelt sich objektiv scheinbar weit 102

Gemeinsam erzählen

Entferntes in einem schillernd-vielfarbigen, polyphonen und doch gemeinsamen Bild. Plötzlich erscheint alles Widerstreitende in einer frei imaginierten Szene vereint: diejenigen, die sich entschieden auf das Jugendamt zubewegen, und die Zögerlichen als Repräsentant*innen des anderen Ambivalenzpols. Auch das Elternpaar aus dem Fall und der Geschäftsführer, als Repräsentant der Organisationskultur, werden umstandslos Teil der Szene. Das artifizielle Bild, dessen Herstellung offenbar Freude bereitet, folgt der Linie: »Wenn das Wünschen helfen würde …«. Was hier experimentell erprobt wird, ist eine Option, in der eine Kooperation mit dem Jugendamt als Auftraggeberin im Fall weiter möglich ist, ohne die damit verbundenen Zerreißproben innerhalb der Organisation und im fragilen Arbeitsbündnis mit der zu betreuenden Familie zu überreizen. Eine für höchst unwahrscheinlich gehaltene Variante des Gelingens wird zunächst im surrealen Raum erfunden. Und dieser Fantasiestreich verändert – auch nach der späteren Ernüchterung – die Wirklichkeit. War die Sprache der Fallgeberin etwas atemlos von der wilden Jagd der Imagination, ist sie in ihrem kurzen abschließenden Resümee vergleichsweise bodenständig. Kern ihrer Äußerung ist die Erneuerung ihrer Entschlossenheit, den Kontakt zum Jugendamt zu suchen. Sie zitiert das Sinnbild der »Mutter Courage« wie einen Anker für die Tapferkeit, die das Weitere erfordert. Frau Mahns Hinweis, sie fühle sich nach dieser Arbeit »weniger allein«, scheint zentral. Das Gefühl der neuen Verbundenheit wächst auf dem Boden der erfahrenen Solidarität, der erlebten Kollaboration im Erfinden einer integrierten Vielstimmigkeit und der relativierten Konfrontation, die sie im Arbeitsbündnis mit ihrer Klientin erlebt.

Vielstimmigkeit im Fallbeispiel

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 Verschiebung und Neuerzählung: Das Beratungssystem als poetische Werkstatt

»Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen, s­ toßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben.« Walter Benjamin (2014, S. 819)

In der in diesem Buch eingenommenen Perspektive suchen Supervision und Coaching nach ermöglichenden Narrativen, die Handlungsoptionen und ein verändertes Erleben nahelegen, die den Ratsuchenden das Weitermachen in ihrer Arbeit erleichtern. Erzählen »schafft gleitende Übergänge zwischen Fiktion und Realität – in beide Richtungen – und lässt das Wirkliche im Horizont vorstellbarer Alternativen erscheinen« (Koschorke, 2013, S. 397). Ausflüge ins Fiktionale erlauben eine verwandelte Rückkehr auf den Boden der Tatsachen. Imagination und Wirklichkeit überlagern sich fortwährend. Probleme sind, wie oben beschrieben, eingerahmt in eine narrative Tradition, ein System kollektiver Erzählungen, die das Denken und Tun der Beteiligten organisieren. Eine dominante Erzählung bringt das Problem ggf. immer wieder aufs Neue hervor und klammert neue Möglichkeiten aus. Ziel der Beratung ist dann ein Umschreiben, Überschreiben oder Stoppen der dominanten Erzählung (Restorying). Jessica Benjamin (2018, S. 30 ff.) beschreibt das trianguläre Verhältnis von Ratsuchenden, Beratenden und der gemeinsam kreierten Erzählung. Die zentrale Frage dabei scheint: Wie finden wir Worte 104

Verschiebung und Neuerzählung

„Wahrheit“

„Erfindung“

Gemeinsame Erzählung („symbolisches Drittes“)

„poetische Kokreation“

Ratsuchende

Beratende

Abb. 4: Erzähltriade

Abb. 4: Erzähltriade

und eine Qualität des Dialogs, um unsere Probleme und Lösungsversuche in einer Weise zu beschreiben, in der sich alle Beteiligten aufgehoben fühlen? Wenn dies gelingt, entsteht – in den Worten Benjamins – ein »symbolisches Drittes« (S. 38), das von Ratsuchenden und Beratenden gemeinsam hergestellt ist und verbindet (vgl. Abbildung 4). Dieses Dritte wird nur wachsen, wenn die Beteiligten gemeinsam um eine Beschreibung der Verhältnisse ringen, die allen ausreichend stimmig erscheint. Die Co-Autor*innenschaft an einer Erzählung ergibt wahrlich mehr als die Summe der Einzelteile. Erzählfragmente des Gegenübers werden aufgegriffen und »überschrieben« (vgl. Avanessian, 2015, S. 231 ff.). Was die jeweiligen anderen mit meinen Erzählimpulsen anstellen, entzieht sich meiner Kontrolle. »Das Ego hat notwendigerweise das Gefühl, dass es in diesem Setting draufzahlt« (S. 237). Und gerade deshalb: Wenn sich Beratungssysteme dem flinken Wechsel von Führen und Folgen im Erzählprozess überlassen, kann die gemeinsame Erzählung in unbekanntes Gelände vordringen. Sie hält dann für alle Beteiligten tatsächliche Überraschungen bereit.

Verschiebung und Neuerzählung

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Poetische Praxis der Berater*innen Für Rolf Haubl benötigen wir »narrative Kompetenz«, um in Organisationen wirksam zu sein. »Kompetent zu erzählen, ist die Fähigkeit eines Organisationsmitglieds, sein Erfahrungswissen mitzuteilen, und zwar in einer konkreten, anschaulichen Form, die es seinen Adressat*innen ermöglicht, ein genaues Bild von dem Sachverhalt zu machen, der Thema ist. Eine solche Kompetenz wird lebensgeschichtlich durch die fortlaufende Teilhabe und Teilnahme an der gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit entwickelt« (2018, S. 2). Auch als Berater*innen brauchen wir narrative Kompetenz. Einerseits um das Gehörte in Erzählungen umzusetzen, die fesseln und berühren. Vor allem aber um gute Bedingungen für die Entfaltung der narrativen Kompetenz der am Beratungssetting Beteiligten zu schaffen. Gute Beratung trägt dazu bei, den erzählerischen Möglichkeitsraum so weit wie möglich aufzuspannen und eine gedeihliche Neuerzählung zu ermöglichen. Welche pragmatischen Optionen haben Berater*innen, um den Prozess der Neuerzählung zu befördern? A) Bestandsaufnahme relevanter Narrative:

Zunächst wird es darum gehen, gemeinsam mit den Klient*innen den Bestand an Narrativen zu identifizieren, die das zu bearbeitende Problem einrahmen. Es kann hilfreich sein, das Gesagte wie eine Traumerzählung zu hören und aus den in den vorangegangenen Kapiteln skizzierten Blickwinkeln zu untersuchen: Welcher Plotstruktur folgt die Erzählung? Was sind die Kernmetaphern der Erzählung? Wer ist die erzählende Person in ihrer Vielstimmigkeit? Welche Resonanzen (leiblich, kognitiv, emotional) weckt die Erzählung? Wie ist die Ästhetik der Erzählung? Wie ist der Machtstatus der Erzählung einzuschätzen? Erzählungen sind identifiziert, wenn sie getauft sind, einen Titel tragen. Es ist sinnvoll, Überschriften für die einzelnen Erzählstränge 106

Verschiebung und Neuerzählung

zu suchen (vgl. die im Fallbeispiel identifizierten Erzählungen, beginnend in Kapitel 2). Das Identifizieren von Narrativen ist eine Entscheidung mit Nebenwirkungen. Sie prämiert bestimmte Gesichtspunkte und Resonanzen auf das Erzählte und vernachlässigt andere. Einzelne Bilder werden aus der Erzählung ausgestanzt, mit einer Überschrift und damit mit einem Rahmen versehen. Aus dem Erzählfluss werden Sinnbilder ausgewählt, die als Medium im Weiteren für alle Beteiligten zur Be- und Überarbeitung verfügbar sind. Diese Entscheidung kann sich als mehr oder weniger geglückt erweisen. Im günstigen Fall stimuliert die Auswahl das kreative Potenzial im Beratungssystem. Denkbar ist aber auch, dass identifizierte Narrative im weiteren Beratungsprozess resonanz- und antwortarm versickern. B) Mehrung von Optionen:

Die zweite Suchbewegung narrativer Beratung folgt dem Wunsch, die erzählten Verhältnisse aufzulockern und in Bewegung zu bringen. Gesucht wird ein Zuwachs an neuen Perspektiven und Bedeutungen, die den Baustoff für die Neuerzählung anreichern. Das ist oft vor allem assoziative Arbeit. Möglichst vielstimmige Beschreibungen, Interpretationen, denkbare Fortschreibungen und Verwandlungen der vorfindlichen Erzählung werden zusammengetragen. Diese Ideen und Fragmente haben möglicherweise das Potenzial, die bisher dominierende Erzählung in ihrer Wirkmacht zu relativieren und zu überschreiben. Das Knüpfen des Gewebes der Neuerzählung wird leichthändiger gelingen, wenn das Beratungssystem eine Atmosphäre des Spiels und der Erfindung bereitstellen kann.20 Hier kann Beratung auf ein weites Spektrum methodischer Spielarten zurückgreifen, von denen hier nur einige genannt seien: Ȥ Freie Assoziation oder Reflecting Team Ȥ Assoziation zur Erzählung aus unterschiedlichen Rollen 20 Dies ist eine grundlegende Dimension der sozio-emotionalen Qualität von Arbeitsbündnissen in der Beratung, auf deren Voraussetzungen hier nicht näher eingegangen werden kann (vgl. dazu Obermeyer u. Pühl, 2015, S. 76 ff.). Poetische Praxis der Berater*innen

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Ȥ Szenische und Aufstellungsarbeit zur Erzählung oder zu Schlüssel­ begriffen aus der Erzählung Ȥ Fiktionale Fortschreibung der Erzählung mit unterschiedlichen Plotstrukturen (z. B. Weg zum Happy End, Weg in die Katastrophe, wünschenswerter Fortgang aus der Perspektive unterschiedlicher Beteiligter)

Suchbewegungen zur Mehrung narrativer Optionen: Ȥ Was sind die Leerstellen, die bisher nicht erzählten Aspekte der Geschichte? Ȥ Wie könnte die Plotstruktur der Erzählung modifiziert werden, z. B. indem die Wahl der Figuren oder die Ereignisreihe verändert wird? Die weitbekannte »Wunder-Frage« (De Shazer u. Dolan, 2018), die mit der Fiktion spielt, das »Problem« sei über Nacht weggezaubert, ist ein solcher Plot-Verwandlungsklassiker. In unserem Fallbeispiel aus der Familienhilfe verändert sich der Plot z. B. durch die Wendung, dass die Teamkolleg*innen nicht nur vor dem Gang zum Jugendamt warnen, sondern auch dazu ermutigen. Ȥ Wie kann die Ereignisreihe oder das Grundthema der Erzählung, im Sinne des »Reframings« neu interpretiert bzw. beschrieben werden? Wenn die Sozialarbeiterin im Fallbeispiel die Kommentare der Klientin zunächst als »Übergriff« tituliert und dann von einer »Umarmung« spricht, ist der Rahmen signifikant verändert. Ȥ Wie könnte die Geschichte aus unterschiedlichen raumzeitlichen Perspektiven neu erzählt werden (aus der Nähe, aus der Ferne, aus der nahen Zukunft, aus der fernen Zukunft etc.)? Ȥ Welche neuen Metaphern wären denkbar (z. B. Geheimgang statt Sackgasse)? Ȥ Welche Verkörperungen werden durch die Erzählung aufgerufen und zu welchen anderen Erzählungen könnte eine veränderte Verkörperung führen? Tatsächlich wird ein und dieselbe Geschichte in aufrecht stehender Haltung mit hoher Wahrscheinlichkeit anders erzählt als in einer am Boden kauernden Haltung. 108

Verschiebung und Neuerzählung

Ȥ Was sind die Assoziationsgänge, die von einzelnen Wörtern und Schlüsselbegriffen ausgehen können? Im Sinne von Bachtins Idee von den Hintertüren der Worte (vgl. Kapitel 8) taugt jede Vokabel als Ausgangspunkt assoziativer Ketten, die neue Möglichkeiten eröffnen. Ausgehend von dem Begriff »Trauer« lässt sich beispielsweise die Begriffsreihe »Freude, schwarz, weiß, Schnee, Sommer, Hitze, Erdbeereis, Salzgebäck, Stäbe, Gitter, Haftanstalt …« assoziieren.

C) Neuerzählung entstehen lassen:

Supervision, Coaching und Beratung arbeiten – so der hier immer wieder auftauchende Refrain – an der Transformation vorfindlicher oder gesetzter Geschichten. Es ist also spannend, zu fragen, welche grundsätzlichen Anforderungen an eine derart transformierte Geschichte zu stellen wäre. Welche inneren Qualitäten wären im Prozess der Verschiebung und Neuerzählung anzusteuern? Was sind Gelingensbedingungen für eine ertragreiche Transformation von Ursprungserzählung (Setzung) zur Neuerzählung (Veränderung)? Oder anders formuliert: Was an der veränderten Geschichte lässt sie in den Augen der Klient*innen von Beratung als nützlich, respektvoll und schön erscheinen? Wie muss die neue Erzählung beschaffen sein, um für den Status und die mögliche Weiterentwicklung des aktuellen Problemgeschehens als ebenso verbindlich anerkannt zu werden wie die ursprüngliche Problemerzählung? Folgende Aspekte scheinen bedeutsam: Evidenz Evidenz21 meint zunächst eine Qualität selbstverständlicher Stimmigkeit, die sich mit solcher Kraft aufdrängt, dass sie keiner weiteren Beweisführung und Begründung bedarf. Die Evidenz einer im Bera21 Evidenz, von lat. evidentia = Eindeutigkeit, Klarheit. Poetische Praxis der Berater*innen

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tungskontext entstandenen Erzählung kann kaum zielgerichtet angesteuert werden. Sie ereignet sich spontan oder eben auch nicht. Wenn Erzählungen evidente Kraft entfalten, so ist dies im Beratungssystem atmosphärisch spürbar. Erzählfragmente wecken vielleicht plötzlich starke Resonanz bei den Beteiligten. Der Energiepegel steigt und es entsteht ein lebendiges, möglicherweise kontroverses Ausgestalten und Fortspinnen der mit der Erzählung verbundenen Denkfiguren und Erlebnisqualitäten. Momente der Evidenz sind funkelnde Glücksmomente im Beratungsverlauf. Wir sollten uns als Berater*innen auf die Lauer legen, um ihre Vorboten zu erkennen und aufzugreifen.

Anschlussfähigkeit Das Neuerzählte sollte nicht Feind des Alten sein. Dies ist möglich, wenn Ursprungs- und Neugestaltung nebeneinander existieren können und sich nicht fundamental widersprechen. Vieles spricht dafür, »dass diejenige Historisierung als ›gut‹ erscheint, in der Setzungen und Veränderungen so aufeinander bezogen werden, dass die Setzung der Veränderung nicht widerspricht« (Salber, 2009, S. 216). Dies stiftet eine komplexe Verwobenheit von Vorfindlichem und Transformiertem, die so komponiert ist, dass die Motive der Ursprungserzählung in der neuen Erzählung weiter aufgehoben und nicht einfach getilgt sind. Wie gute Metaphern suchen die Neuerzählungen ein mittleres Niveau der Anschlussfähigkeit an die Klient*innen. Sie sollten an deren Weltsicht anknüpfen und nicht von Hypothesen und hermeneutischen Deutungen der Berater*innen dominiert sein (vgl. Ferro, 2009, S. 23). Gleichzeitig sollten sie ausreichend überraschend und irritierend sein, um ein Evidenzerleben und einen ästhetischen Eindruck hervorrufen zu können. Wir haben es dann mit Erzählungen zu tun, die zu den Klient*innen passen und doch etwas erfrischend Neugeborenes an sich haben. Wenn sich die kreierten Geschichten nur wenig von ihrem Ausgangsmaterial entfernen, um ihre inspirierende Kraft zu entfalten, so 110

Verschiebung und Neuerzählung

folgt diese auch einem ökonomischen Prinzip. Wenig Aufwand kann spürbare Wirkung entfalten. So wie in Aufstellungen eine kleine Veränderung des Blickwinkels einen neuen Zugang eröffnen kann, sind es auch in narrativen Transformationsprozessen oft Kleinigkeiten wie die Neubenennung eines einzelnen Sachverhalts, welche die Plotstruktur im Sinne des Reframings grundlegend verändern (vgl. De Shazer, 2017).

Vielsinnigkeit Geschichten, die viele Sinne ansprechen, berühren (vgl. Obermeyer, 2021). Es lohnt sich, Erzählungen zu gestalten, die ganzheitliche leibliche Resonanzen aufrufen und Klänge, Düfte, visuelle Imaginationen und Bewegungserfahrungen vermitteln. Wilma Bucci (vgl. Storch, 2010, S. 130 ff.) unterscheidet wörtliche, leibliche und bildhafte Informationen, die in Erzählungen miteinan­ der verwoben sind. Die Kraft der Bilder stellt in diesem Verständnis eine Brücke zwischen den körperlichen Informationen und der Sprache dar. Bilder sind das grundlegendste Medium des Sinnlichen (Coccia, 2020, S. 51 f.).

Vernetzung Die Neuerzählung will die vielfältigen vorfindlichen Beschreibungen und Gesprächsbeiträge (Textfragmente) der mittelbar und unmittelbar beteiligten Personen zu einer neuen Erzählung verweben. Die Geschichten sind in diesem Sinne vernetzend und verbindend 22 und nehmen unterschiedliche Perspektiven respektvoll auf. Aus den subjektiven Tatsachen, wie sie von Einzelnen wahrgenommen werden, wird somit ein neues Erzählmuster gewoben, das vorher Unverbun22 Zum verbindlichen und vernetzenden Potenzial supervisorischer Sprache vgl. Obermeyer u. Pühl (2015, S. 169 ff.). Poetische Praxis der Berater*innen

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denes miteinander in Beziehung setzt. So sollen sich möglichst alle an einem Beratungssystem beteiligten Personen in einer transformierten Erzählung wiederfinden können. Gerade in widersprüchlichen und konfliktreichen Kontexten kann dies zu einer Akzentverschiebung von einer polarisierenden »Entweder-oder-Logik« zu einer »Sowohlals-auch-Logik« mit Integrationskraft beitragen.

Ausgleich Die neue Geschichte sucht eine Neuverrechnung von Spannungszuständen mit dem Effekt eines gewissen Ausgleichs und einer Reduktion der erlebten Spannung. Salber nennt folgende klassische Spannungsdimensionen, die in Geschichten auftauchen: »Zugreifen und Ergriffen-Werden, Verantwortung und Ablehnung der Verantwortung, Vielheit und Einheit. […] Schuld und Sühne, Überwältigt-Werden und dagegen Ankämpfen, So-Sein und Anders-Werden, Verfehlen und Sich-bestätigt-Finden« (2009, S. 216.). In einer oder mehrerer solcher Spannungsdimensionen werden transformierte Narrative einen Ausgleich suchen, der einen günstigen Effekt auf die Handlungsfähigkeit der Ratsuchenden hat.

Tapferkeit Tatsächlich kann es nicht schaden, wenn die narrative Neukreation die Herausforderung akzentuiert, die sie den Protagonist*innen auferlegt. Spittler hebt in seiner Anthropologie der Arbeit hervor, dass menschliche Arbeit neben ihrem instrumentellen, zweckgebundenen Nutzen oft auch Züge des Spielerischen, Ästhetischen, aber eben auch des »Heroischen« (2016, S. 283) trägt. Die Anerkennung der Tapferkeit, die erforderlich sein kann, um ein Problem sowohl zu tragen als auch zu lösen, verstärkt den Eindruck, den eine Erzählung auf die Betroffenen machen kann. 112

Verschiebung und Neuerzählung

Ambivalenz Es ist sinnvoll, gemeinsam Geschichten zu kreieren, die atmosphärisch vielschichtig und ambivalent sind. Eine durchgängig optimistische Lösungsorientierung wird oft als Entwertung des Problemerlebens empfunden. Zu einseitiges Verharren in der Problembeschreibung verstellt ggf. den Blick auf die Lösungspotenziale. Gedeihliche Geschichten berücksichtigen Sequenzen der Vergangenheit (Problemraum im Sinne von »bisher war es schwer«), der Gegenwart (Ressourcenraum im Sinne von »das steht uns zur Verfügung«) und der Zukunft (Lösungsraum im Sinne von »diese Entwicklung wäre wünschenswert«). Die neue Geschichte eröffnet möglicherweise einen Zugang zur mit Veränderung verbundenen Ambivalenz und macht auch den Preis des Neuen transparent. Dieser Aspekt ist auch deshalb so wichtig, da er helfen kann, die Dosis der Einführung neuer Qualitäten stimmig auszuloten. Was von dem Alten soll zukünftig mehr oder weniger ausgeprägt sein? Welche neuen Qualitäten sollen in welcher Dosis und in welchem Tempo eingeführt werden? Bei der Transformation von Geschichten »spielen Steigerungs- und Minderungsprozesse eine wichtige Rolle. Sie suchen die Reichweite der Entwicklungs- und Einbeziehungsmöglichkeiten sowie die Notwendigkeiten der Gestaltung und Umgestaltung zu erproben« (Salber, 2009, S. 217, Hervorhebung im Original). Erst in der Vorwegnahme neuer Handlungsoptionen kann kontextsensibel abgeschätzt werden, welche Wirkungen und Nebenwirkungen das Neue zeitigen wird.

Konkretion Der Transfer einer neu gestalteten Erzählung in die Arbeitswirklichkeit der Klient*innen gelingt leichter, wenn die Erzählung ein hohes Maß an Konkretion und Aspekte einer veränderten Praxis aufweist. Das Zusammenspiel leiblicher, intellektueller, interaktiver Aspekte Poetische Praxis der Berater*innen

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in der Auseinandersetzung arbeitender Menschen mit ihren Arbeitsgegenständen, Kolleg*innen und Kund*innen lässt sich nur erfassen, wenn genau beschrieben wird, welche Handlungen vollzogen werden (vgl. Pfeiffer, 2015, S. 46 f.). Es macht einen Unterschied, ob ich sage, »Ich werde Frau X zukünftig einbeziehen«, oder ob ich ein konkretes Arbeitsnarrativ wähle, etwa: »Ich werde Frau X morgen anrufen und ihr einen Termin in meinem Büro vorschlagen, um mit ihr meine Ziele für das bevorstehende Gespräch mit Y abzustimmen.« Auch das Kriterium der Erreichbarkeit ist ein Maßstab für gelingende narrative Transformationen (vgl. Salber, 2009, S. 283). Realitätsnähe und Machbarkeit lassen sich nur auf Grundlage konkreter Handlungsentwürfe abschätzen. In und durch Beratung transformierte Narrative sollten einen Erwartungshorizont aufrufen, der den Beteiligten das Gefühl vermittelt, damit ein durchaus herausforderndes, aber eben grundsätzlich leistbares Anforderungsniveau anzupeilen.

Stilisierung Transformierte Erzählungen haben eine deutlich größere Chance, im Gedächtnis zu bleiben und damit im Arbeitsalltag zur Verfügung zu stehen, wenn sie sich gewisser Stilmittel bedienen, die Eindruck machen. Hier steht grundsätzlich eine unendliche Vielfalt ästhetischer Gestaltungsoptionen zur Verfügung. Dazu gehören Humor, Selbstironie, Überspitzung, merkwürdige Überschriften, überraschende Überlagerung und Kombination von Kontexten, unerwartete Wendepunkte sowie das ganze Spektrum poetischer Stilmittel (vgl. etwa Hönig, 2017). Vielleicht ist eine gute Prise taktvollen Humors die kostbarste Stilisierungsvariante. Erstaunlicherweise finden sich auch bei belastenden Arbeitsthemen immer wieder Oasen für Humor, der heitere Lichtbündel ermöglicht, ohne dabei die Träger*innen schmerzlicher Gefühle zu verletzen. 114

Verschiebung und Neuerzählung

Teilweise steht die Stilisierung in einem kritischen Verhältnis zur Konkretion, da sie auf fiktionalen Überschuss und möglicherweise surreale Einsprengsel setzt. So kann es sein, dass die stilisierte Erzählung einer pragmatischen Übersetzung bedarf. Dennoch sollte auf das energetisierende und kreativitätsfördernde Potenzial stimmiger Stilisierung nicht verzichtet werden. Wenn sich entsprechende Einfälle im Beratungssystem intuitiv zeigen, sollten sie möglichst in die Transformation der Erzählung eingebunden werden.

Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entschiedenheit Die Haltung der Berater*innen im narrativen Prozess stützt sich auf zwei scheinbar entgegengesetzte Ich-Zustände. Wir brauchen Qualitäten des zurückgenommenen Zögerns, in der sich die Wirklichkeit einer Beratungssituation entfalten kann und wir eher nachspüren, wie uns diese erfasst, anstatt (vor-)schnell zu intervenieren. Auf der anderen Seite eines Kontinuums zwischen innerer und äußerer Aktivität stehen dann aber Qualitäten des entschlossenen Handelns, der entschiedenen Intervention.

Zögern im Raum der Uneindeutigkeit Organisationen sind von Konfliktfeldern durchzogen, welche die beteiligten Subjekte in Zerreißproben, Ambivalenz und – in den wichtigen Phasen des Zögerns – in Anmutungen von Weglosigkeit tauchen können. Schülein (2018, S. 336) spricht vor dem Hintergrund der nicht enden wollenden Paradoxien und Widersprüche von der »aporetischen« Struktur von Organisationen, die sich im subjektiven Erleben der Beteiligten spiegelt. »Die Aporetik (griechisch: […] ›zum Zweifeln geneigt‹) bezeichnet die Auseinandersetzung mit schwierigen oder unlösbaren philosophischen Fragen und Problemstellungen. Im Besonderen ist Aporetik die Kunst, Probleme als solche ohne Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entschiedenheit

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Rücksicht auf ihre mögliche Lösbarkeit oder Unlösbarkeit zu untersuchen und zu durchdenken«.23 Als Berater*innen sind wir aus guten Gründen mit dem Gelingen und der Primäraufgabe der Organisation identifiziert. Die vorübergehende bzw. länger andauernde atmosphärische Dominanz scheinbar unentscheidbarer Ambivalenzen kann uns als Berater*innen mit Ängsten erfüllen, die unsere Rollensicherheit bedrohen.

Gelassenheit gewinnen im unwegsamen Gelände – Zögern als Ressource In Beratungssituationen, die uns weglos erscheinen, erfordert es gelegentlich große innere Kraft, unsere Geduld und Gelassenheit zu schützen. Wilfred Bion beschreibt die Kompetenz, das Unverstandene und Irritierende eine Weile in sich zu halten, als »negative Kapazität« (1992, S. 67). »Die negative Kapazität korrespondiert mit einem Bewusstseinszustand, einer Wahrnehmung, die in gewisser Weise vorläufig ist. Wir registrieren etwas Irritierendes und halten es im Bewusstsein, ohne damit schon wirklich etwas anfangen zu können oder zu wollen« (Obermeyer, 2019b, S. 162). Es geht um eine Qualität des ergebnisoffenen, zerstreuten Wahrnehmens. Wir brauchen dann Zeit und müssen Zögerlichkeit riskieren, um uns zu regulieren und der Intuition eine Chance zu geben. Die Haltung des Zauderns und Zögerns begleitet auch viele Phasen künstlerischer Schaffensprozesse. Dazu die Künstlerin Eva Koethen: »Genau in dieser Geste des Unterbrechens, in der irritierenden Lücke im Geschehen, in einem Riss im gewohnten Raum, trifft sich die Geste des Zauderns mit dem künstlerischen Vorgehen, das ein eigenes Feld des Zögerns zwischen Reflexion und Aktion konstituiert. Dieser Zwischenraum, der die Entscheidungsmacht des Handelns bricht, birgt 23 https://de.wikipedia.org/wiki/Aporetik (Zugriff am 12.11.2022). 116

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die Potenzialität des Handlungsfelds« (Koethen u. Schmitz, 2011, S. 110). Irgendwann jedoch kippt das Zögern in eine entschiedene Aktion, einen Pinselstrich, die Niederschrift eines Satzes, den Hieb der Bildhauerin.

Die Entschiedenheit der Berater*innen als möglicher Schlüssel zu neuen Wegen Die Entschiedenheit der beratenden Person, ihre Handlungsfähigkeit durch kraftvolle Interventionen wiederzugewinnen, ist ein notwendiger Kontrast zur eher rezeptiven und zögernden Färbung der negativen Kapazität. Die Kraft für solche Interventionen finden wir in der Regel nur, wenn wir uns innerlich ein Stück weit von der Bedrohlichkeit scheinbarer Weglosigkeit distanzieren können und einen sicheren Platz am Rande des Rat suchenden Systems zurückgewinnen. Gerade verunsicherte Systeme sind auf unsere strukturierende und für den Moment auch wegweisende Initiative angewiesen. In der Regel liegt es nahe, Interventionen zu wählen, die einfach sind und die z. B. durch eine szenische Umsetzung oder durch die Fokussierung auf einen bestimmten metaphorischen oder erzählerischen Pfad allen Anwesenden Zugang ermöglichen. In der Auswahl des Fokus und der damit verbundenen (methodischen) Interventionen wählen die Berater*innen – in der Regel auch intuitiv – aus einer unendlichen Vielzahl von Interventionsoptionen aus. Diese Entscheidung für bestimmte Blickwinkel und Handlungsoptionen im Beratungsraum ist zugleich notwendig und riskant. Die Berater*innenhaltung ist in solchen Momenten keineswegs zurückhaltend und abwartend. Es werden Vorschläge unterbreitet, Blickwinkel angeregt, aus der Vielzahl der Motive, die im freien Gespräch einer Beratungssituation auftauchen, wird die beratende Person vielleicht Elemente auswählen und herausgreifen oder sich selbst mit eigenen Einfällen und Assoziationen in die Entstehung und Anreicherung von Erzählungen einbringen. Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entschiedenheit

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Auch dieses Risiko, das im »Loslegen« liegt, wurde gelegentlich von Künstler*innen beschrieben: »Wie mit dieser Kontingenz umgegangen wird, ist charakteristisch für das künstlerische Handeln. Die Künstler drängen sehr schnell zum Material, zur konkreten Handlung: Für sie liegt die Antwort in der sinnlichen Erfahrung am Material, weniger im Gedanklichen. Wenn überhaupt Pläne gemacht werden, ist die Bereitschaft hoch, sie auch immer wieder zu verwerfen und, entsprechend den neuen Wahrnehmungen, neu anzupassen. Um diesen Prozess in Gang zu bekommen, müssen die Künstler aber einen ersten Schritt machen. Der kann in einer konkreten Setzung (Handlungsentscheidung), in operativen Regeln, im Schaffen einer Grundsituation oder auch im Erarbeiten eines Konzepts liegen (das dann schon das ganze Kunstwerk ist)« (Brater, Freygarten, Rahmann u. Rainer, 2011, S. 191). So kann eine produktive Pendelbewegung zwischen nachdenklichem Zögern und entschiedenem Handeln entstehen (vgl. Abbildung 5).

Zögerlichkeit

• • • • • • •

komplex abwartend resonant diffus staunend suchend negative Kapazität

Entschiedenheit

• • • • • • •

reduzierte Komplexität aktiv responsiv klar schaffend findend positive Kapazität

Abb. 5: Berater*innenhaltungzwischen Zögern und Entscheiden

Abb. 5: Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entscheiden

Probehandeln Es geht darum, erzählerisch Räume zu gestalten, in denen (neue) Wege experimentell beschritten und erprobt werden können. Auch 118

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aus Anmutungen der Weglosigkeit heraus lässt sich an guten Tagen im Beratungsraum »spielen«. »Supervision zielt in der Regel auf veränderte Praxis ab. Verändertes Handeln geht mit der Veränderung von ›Gewohnheiten‹ einher, die neuronal stabil gebahnt und habituell verankert sind. Wenn Menschen hartnäckige Gewohnheiten verändern wollen, brauchen sie stimmige, attraktive, körperliche Erfahrungen von verändertem Verhalten. Die sinnliche Vorwegnahme des zukünftigen Handelns, das Probehandeln und die verkörperte Haltung als Anker für den Transfer in die Praxis beachten die Rolle des Körpergedächtnisses für Lern- und Veränderungsprozesse« (van Kaldenkerken, 2018, S. 6). Dabei geht es nicht allein um die szenische Umsetzung von Probehandeln, wie etwa in Rollenspielen und Aktionssimulationen. Die enge Verbindung von Sprache und Körper bietet die Chance, auch durch ein sinnliches, auf Handlung ausgerichtetes Erzählen eine imaginierte Wirklichkeit zu gestalten, die verändertes Verhalten »vorahnen« lässt. Alle sprachlichen Interaktionen sind mit motorischen Handlungsbereitschaften verknüpft (vgl. Kapitel 4). Ein großer Vorteil dieser Brückenqualität liegt darin, dass auch aus surrealen, fiktionalen Lösungsszenarien mit hoher Wahrscheinlichkeit Handlungsimpulse für bodenständige Lösungen in der ganzen Nüchternheit des konkreten Arbeitsalltags erwachsen. Im gemeinsamen Erzählen und Erfinden unternehmen wir »konjunktivische Flüge« und »denken durch die verkörperte Realität imaginärer Welten« (Hustvedt, 2020, S. 378). Nicht selten steuert das konkrete Handeln im Arbeitskontext der Klient*innen vor dem Hintergrund der Begrenzungen der organisationalen Wirklichkeit dann abgespeckte Versionen an. »Zweitbeste Lösungen« (Schmidt, 2018, S. 118) unterhalb des ursprünglich erhofften Erwartungshorizonts der »Sehnsuchtsziele« (S. 118) oder der spielerisch imaginierten Lösungen. Die Erprobung realistischer Handlungsschritte ist dann auch mit einer trauernden Annäherung an das Machbare verknüpft. Nach den Ausflügen in die Welt der poetischen Erfindung kehren wir zurück auf den Boden der alltäglichen Tatsachen und Wirklichkeiten und sind doch anhaltend verwandelt. Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entschiedenheit

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Hoffnung erfinden und weitertragen Manchmal sprechen und wirken innovative Erzählungen für sich selbst und geben dem Denken, Fühlen und Handeln der Protagonist*innen neue und hoffentlich nützliche Impulse. Meiner Erfahrung nach ist dies der Kern annähernd aller Fallsupervisionen, in denen konkrete Arbeitsprobleme befragt und dann auf neue Weise erzählt werden. In anderen Fällen braucht es Zeit, Geduld und Strategie, um innovativen Erzählvarianten Gehör und einen ausreichend großen Wirkradius zu verschaffen. In den Beratungsfeldern der Kultur- und Organisationsentwicklung ist erfahrungsgemäß dieser lange Atem erforderlich und oft auch ein Stück machtsensibler Strategie, damit neue Erzählungen akzeptiert und wirksam werden können. Von Marie-­Luise Conen stammt der schöne Satz und Buchtitel »Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden« (2011). Damit ist die Programmatik narrativer Beratung treffend auf den Punkt gebracht. Dominierende Erzählungen in einer Weise zu verändern, die das Weitermachen erleichtert, ist ein Stück poetisches Kunsthandwerk – sowohl im Mikrokosmos einer Fallberatung oder eines Einzelcoachings als auch in den großen Formaten der ganze Organisationen umfassenden Changeberatung.

Poesie der Neuerzählung im Fallbeispiel Bereits am Ende des ersten Kapitels wurde umrissen, welche Verschiebungen zentrale Erzählstränge im Verlauf der hier beispielhaften Beratungssitzung erfahren haben (vgl. Fallbeispiel, beginnend in Kapitel 2). Dort wurden eine Drogenerzählung, eine Jugendamts­erzählung, eine Hilfeerzählung und eine Mutterschaftserzählung identifiziert. Vieles, was im Lauf der Sitzung gesagt oder bedacht wurde, hatte mehr oder weniger starken Einfluss auf die Verschiebung dieser vier Erzählstränge.

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Verschiebung und Neuerzählung

Die markantesten Neufassungen ergaben sich vermutlich bei der Mutterschafts- und der Jugendamtserzählung. Nachdem die Kolleg*innen im Team die Aussagen der Klientin, Frau Mahn sei als kinderlose Frau neidisch, wenig kompetent und klosterschwesterlich prüde, als »Übergriff« einordnen, wählt Frau Mahn intuitiv einen veränderten Erzählrahmen und formuliert die Metapher der »Umarmung«. Damit folgt die Mutterschaftserzählung einem völlig veränderten Plot und entfaltet eine fundamental veränderte Wirkmacht. Die Jugendamtserzählung erfährt ihre tiefgreifende erzählerische Verschiebung durch die Imagination der »Prozession«. Die Option einer vertrauensvollen und transparenten Kooperation mit dem Jugendamt wird hier fiktional gangbar gemacht. Wo Sackgasse war, liegt nunmehr gemeinsam begehbare Wegstrecke. Die »Drogenerzählung«, die im Wesentlichen um das Motiv kreist, der Fall könne infolge des Drogengebrauchs scheitern, ist während der Supervisionssitzung weniger explizit Thema. Sie verliert eher beiläufig an lähmender Kraft. Dazu mag beigetragen haben, dass Frau Mahn im Lauf der Sitzung ihre professionelle Rollenidentität stabilisieren kann und sich fachliche Kontroversen um das Verhältnis von Drogengebrauch und Erziehungsfähigkeit wieder eher zutraut. Ähnlich beiläufig verschiebt sich die »Hilfeerzählung«. Die veränderte Primäraufgabe der Organisation und das damit veränderte professionslogische Verhältnis zu öffentlichen Auftraggebern mit Kon­ trollaufgaben wird in einigen Mosaiksteinen des Prozessionsszenarios thematisiert. So in dem Einfall, der Prozession einen »Schlüssel« zur Verantwortung des Familienvaters zur Verfügung zu stellen. Oder in der Nebenerzählung am Rande der Prozession, die von der Belehrung des Gründers der Organisation über die veränderten Verhältnisse berichtet. Bemerkenswert vielleicht auch: Die Zusammenarbeit mit dem Elternpaar vollzieht sich während der Prozession keineswegs einvernehmlich, sondern hochstrittig. Auch dies mag eine Verschiebung der bisherigen Bedeutungskerne der Hilfeerzählung unterstützt haben. Auf jeden Fall färbt der große Wurf der Prozession auch auf die Hilfeerzählung ab. Da, wo die trianguläre Spannung, zwischen Familie, Jugendamt und Poesie der Neuerzählung im Fallbeispiel

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Hilfeerbringerin durch das Drogenthema nicht mehr zu halten schien, bleibt Zusammenarbeit in dieser Triade im Prozessionsszenario jetzt doch weiter vorstellbar. Die zu erwartenden Konflikte verändern daran nichts Grundsätzliches. Betrachten wir die in dieser Sitzung vom Team geleistete narrative Kreation noch einmal durch das Raster der im letzten Kapitel skizzierten Gelingensbedingungen: Evident ist das Ergebnis vor allem in der Hinsicht, dass eine intensivere Kooperation mit dem Jugendamt unabweisbar erscheint. Dies ist gleichzeitig eine entschiedene Antwort auf das Kernanliegen der Fallgeberin. Evidenz gewinnt dieser Aspekt vor allem durch die Identifizierung mit den Kindern und der damit angenäherten Einfühlung in deren Lage. Die neue Erzählung vom Gang zum Jugendamt scheint an die Erfahrungen des Teams ausreichend anschlussfähig. Dies vor allem, da Skepsis, Ängste und die Risiken der Kooperation mit dem Jugendamt nicht aus dem Szenario ausgegrenzt sind. Im Sinne Salbers (2009): Die Setzungen der bisherigen Narration widersprechen den Veränderungen nicht fundamental. Die Vielsinnigkeit des Prozessionsbildes, das Bewegungssuggestionen, Klänge, räumliche Anmutungen integriert, steht außer Frage. Die Prozessionsfiktion ist vernetzt und bringt unterschiedliche Stimmen aus dem Team sowie die Stimmen der Klient*innen und – stellvertretend für den organisationalen Mythos – die Stimme des Gründervaters der Organisation zu Gehör. Ausgleich ermöglicht die Neuerzählung z. B. hinsichtlich der Spannung zwischen dem auf das Jugendamt gerichteten Handlungsimpuls der Sozialarbeiterin und der diesbezüglichen Skepsis im Team. Eine Fortsetzung der Fallarbeit erscheint zuletzt auch unter Anerkennung und Benennung der Konflikte und Differenzen möglich. Per saldo ereignet sich ein gewisser Ausgleich zwischen den anfänglichen Gefühlen des vom Fall Ergriffen-Werdens und Überwältigt-Seins hin zu einer Qualität des handlungsfähigen, gestaltenden Zugriffs der Sozialarbeiterin auf das Fallgeschehen. Die neu entstandene Geschichte erfordert von allen Beteiligten Tapferkeit. Dies betrifft bereits die Fik122

Verschiebung und Neuerzählung

tion der Prozession. Von den Schritten, die daraus möglicherweise für die Praxis folgen, ganz zu schweigen. Ambivalenz bleibt erhalten. Die neu entstandene Erzählung ist nicht eindeutig und voller Widersprüche. Ihre Implikationen können gelingen oder scheitern. Die Erzählung ist auf einer surrealen Ebene konkret. Eine Konkretion jenseits der märchenhaften Zone erfolgte nur unzureichend. Außer dem allgemeinen Vorsatz »Ich spreche mit dem Jugendamt« finden sich keine konkreten Entwürfe nächster Handlungsschritte. Dafür mangelt es der Prozessionserzählung nicht an Stilisierung. Angefangen bei der Bezeichnung »Prozession« über den Leiterwagen, der gezogen wird, bis zum Kaleidoskop der ineinanderfließenden Einzelepisoden befinden wir uns im stilisierten Wunderland. Die Interventionen des Supervisors halten sich in Grenzen und sind doch spür- und rekonstruierbar. Er hört dem Fallbericht eher tagträumerisch zu, regt die Identifizierungsphase der Sitzung an, um Raum zu geben, bisher ungehörte Stimmen zu hören und damit narrative Leerstellen zu schließen. Aus der Idee des Supervisors, die Mutterschaftserzählung nicht unbearbeitet verklingen zu lassen, erwächst ein markanter Impuls. Schließlich wählt der Supervisor einen hohen Aktivitätsgrad in der Belebung der Prozessionsmetapher und deren Anreicherung durch zusätzliche Stimmen. Dies z. B. mit der Frage, was der Gründer der Träger­organisation vermutlich von der Prozession gehalten hätte.



Poesie der Neuerzählung im Fallbeispiel

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