Die spanische Literatur: Einführung und Studienführer - Von den Anfängen bis zur Gegenwart [Reprint 2011 ed.] 9783110919868, 9783484503205

Das Handbuch informiert im ersten Teil diszipliniert klar und homogen über die Entwicklungen der spanischen Literatur vo

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Die spanische Literatur: Einführung und Studienführer - Von den Anfängen bis zur Gegenwart [Reprint 2011 ed.]
 9783110919868, 9783484503205

Table of contents :
Vorwort
Erster Teil: Einführung in die spanische Literatur
1. MITTELALTER (12.–15. Jh.). Es entsteht eine Nationalliteratur
2. »GOLDENES ZEITALTER«/SIGLOS DE ORO (16.–17. Jh.). Reichtum, Macht, Zerfall. Bildung, Abbildungen, Trugbilder
2.1 Theoretische Prosa. Von korrektem Spanisch, sinnvollen Wissenschaften, guten Monarchen, richtiger Gesellschaft, perfekten Menschen, vollendetem Stil
2.2 Mystisch-asketische Prosa. Wege zu Gott
2.3 Idealisierender Roman. Suchen nach Sinn und Sein: Vom verspäteten Ritter zum ontologischen Zwitter
2.4 Schelmenroman. Nationale Nabelschau: Laster und Leid hinter den Kulissen von Großmacht und Gold
2.5 Erzählung. Zwischen italienischer Prägung und spanischer Formung: Eine Kurzform zur Kurzweil
2.6 Dramatik. Weltliterarisches Theater über Spanien und die Welt
2.7 Lyrik. Von Garcilaso zu Góngora: Zwischen eleganter Einfachheit und gekonnter Künstlichkeit
2.8 Epik. Von hehren Helden und kämpfenden Katzen
3. 18. JAHRHUNDERT Abgeklärtheit, Aufklärung, Ungeklärtheiten
4. 19. JAHRHUNDERT Rebellionen – Restaurationen. Politisierung – Industrialisierung – Entindividualisierung. Spätklassik – Romantik – Realismus–Naturalismus
5. 20. JAHRHUNDERT Weltliteratur im Schatten von Wirren, Bürgerkrieg, Diktatur, parlamentarischer Demokratie
5.1 Erzählliteratur. Wirklichkeitsdarstellungen – Narrativexperimente-Metafiktionale Diskurse
5.2 Poesieschöpfung. Erkenntniswege zwischen Ästhetikideologien und Weltbetroffenheit
5.3 Bühnenkunst. Von freier nationaler Entfaltung zu staatlicher Instrumentalisierung und Knebelung
5.4 Essayistisches Schreiben. Spanien als Sach-Thema und Sinnsuche
Zweiter Teil: Studienführer
1. ALLGEMEINER TEIL
2. SPEZIELLER TEIL
Sekundärliteratur zu Epochen, Strömungen, Gattungen, Formen, Themen, Autoren, Werken
Abkürzungsverzeichnis der Bucherscheinungsorte
Sonstige Abkürzungen (außer Zeitschriften)
Abkürzungsverzeichnis der Zeitschriften
Register spanischer Begriffe zur Einführung (S. 3–325)
Register zu Autoren bzw. anonymen Werken der Einführung (S. 3–325)
Register zum Studienführer (S. 328–454) [Namen, Titel, Begriffe, Stichworte]

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Heinz Willi Wittschier Die spanische Literatur

Heinz Willi Wittschier

Die spanische Literatur Einführung und Studienführer Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

»La poesia es un instrumento para transformar el mundo« Gabriel Celaya (1911-91)

... la voz a ti debida, Ingrid

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wittschier, Heinz Willi:

Die spanische Literatur : Einführung und Studienführer ; von den Anfängen bis zur Gegenwart / Heinz Willi Wittschier. Tübingen: Niemeyer, 1993 ISBN 3-484-50320-3

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindung: Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort

Erster Teil: Einführung in die spanische Literatur 1. 1.1 1.2 1.3 1.4

1.5

2.

2.1

2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

IX

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MITTELALTER (12.-15. Jh.). Es entsteht eine Nationalliteratur 3 Heldenepik und Volksromanzen. Eine Nation verdichtet und bedichtet sich 5 Lyrik und Versdichtung. Zwischen Volkstümlichkeit und Regeln der Kunst 13 Prosa. Geschichtsschreibung, Belehrung, Erbauung (Sachbuch, Traktat, Erzähltes) 33 Dramatik. Vor der Geburt eines Weltliteraturtheaters. Von Sakraldeutungen vor dem Altar zu Allegorieszenen im Profanbereich (auto, representacion, llanto, tratado, salutacion...) 47 Die »Celestina«. Ein Meisterwerk zwischen den Gattungen 52

»GOLDENES ZEITALTER«/SIGLOS DE ORO (16.-17.Jh.). Reichtum, Macht, Zerfall. Bildung, Abbildungen, Trugbilder 56 Theoretische Prosa. Von korrektem Spanisch, sinnvollen Wissenschaften, guten Monarchen, richtiger Gesellschaft, perfekten Menschen, vollendetem Stil 61 Mystisch-asketische Prosa. Wege z u Gott 73 Idealisierender Roman. Suchen nach Sinn und Sein: Vom verspäteten Ritter zum ontologischen Zwitter 77 Schelmenroman. Nationale Nabelschau: Laster und Leid hinter den Kulissen von Großmacht und Gold 91 Erzählung. Zwischen italienischer Prägung und spanischer Formung: Eine Kurzform zur Kurz weil 103 Dramatik. Weltliterarisches Theater über Spanien und die Welt 108

VI

2.7 2.8

Inhalt

Lyrik. Von Garcilaso zu Gongora: Zwischen eleganter Einfachheit und gekonnter Künstlichkeit 141 Epik. Von hehren Helden und kämpj'enden Katzen 154

3.

18. JAHRHUNDERT Abgeklärtheit, Aufklärung, Ungeklärtheiten 3.1.1 Kritisch-theoretische Prosa. Wissenschaftliche Wissensvermittlung 3.1.2 »Fiktionale« Prosa. Ironische Lebenserhellung 3.2 Dramatik. Zwischen alter comedia und neuer Klassik . . . . 3.3 Lyrik. Vielfalt und Fabel 4.

4.1

4.2

4.3 5.

5.1 5.2 5.3 5.4

19. JAHRHUNDERT Rebellionen - Restaurationen. Politisierung - Industrialisierung - Entindividualisierung. Spätklassik - Romantik Realismus-Naturalismus Prosa. Iberische Identität und Idealität. Deskription oder Fiktion. Costumbristisch, romantisch, realistisch, naturalistisch Dramatik. Nationales, Reales, Triviales. Romantisches Drama, bürgerliche alta comedia, volkstümliches genero chico und zarzuela Dichtung und Lyrik. Der lange, windungsreiche Pfad der Romantik 20. JAHRHUNDERT Weltliteratur im Schatten von Wirren, Bürgerkrieg, Diktatur, parlamentarischer Demokratie Erzählliteratur. Wirklichkeitsdarstellungen - Narrativexperimente-Metafiktionale Diskurse Poesieschöpfung. Erkenntniswege zwischen Ästhetikideologien und Weltbetroffenheit Bühnenkunst. Von freier nationaler Entfaltung zu staatlicher Instrumentalisierung und Knebelung Essayistisches Schreiben. Spanien als Sach-Thema und Sinnsuche

Zweiter Teil:

1. 1.1

Studienführer

ALLGEMEINER TEIL Zum Bibliographieren

160 161 168 176 188

198

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218 236

245 247 276 295 312

327

329 329

Inhalt

VII

1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11 1.12

Textausgaben Einbändige Literaturgeschichten Mehrbändige Literaturgeschichten Literaturtheorie, Literaturkritik, Methodenlehre Frauenliteratur, Literatur von Frauen Exilliteratur, Exil und Literatur GattungLyrik Gattung Dramatik Gattung Roman Gattung Erzählung Literaturlexika

330 331 331 332 333 334 334 335 335 336 336

2.

SPEZIELLER TEIL 337 Sekundärliteratur zu Epochen, Strömungen, Gattungen, For men, Themen, Autoren, Werken 337

Abkürzungsverzeichnis der Bucherscheinungsorte Sonstige Abkürzungen (außer Zeitschriften) Abkürzungsverzeichnis der Zeitschriften

455 456 457

Register spanischer Begriffe zur Einführung (S. 3—325)

468

Register zu Autoren bzw. anonymen Werken der Einführung (S. 3-325)

471

Register zum Studienführer (S. 328-454) [Namen, Titel, Begriffe, Stichworte]

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Vorwort

Dieses Studienbuch ist das dritte seiner Art zu einer romanischen Literatur. Es folgt einem Darstellungsprinzip, welches sich in der Romanistik bewährt hat, wie die vorausgegangenen Bände zeigen, nämlich Die italienische Literatur (4977, 21979, 31985, 4. Aufl. in Vorber.) und Die französische Literatur (1988): An eine geraffte Literaturgeschichte zu Epochen, Strömungen, Autoren und Hauptwerken schließt sich ein Studienführer in Form einer detaillierten, internationalen Bibliographie an, so daß jedem Leser erste allgemeine Einführung und sich daran anschließende, wissenschaftliche Weiterorientierung leicht möglich sind. Die spanischen Textbelege wurden als Originalzitate in ihrer unnormierten Historizität belassen, um auch sprachgeschichtliche Eindrücke von der spanischen Nationalliteratur zu vermitteln. Hamburg, 1993

Erster Teil

Einführung in die spanische Literatur

1.

Mittelalter (12.-15. Jahrhundert). Es entsteht eine Nationalliteratur

Lange bevor um 1140 mit dem Cid-Epos das erste größere spanischsprachige Werk entsteht, hat der hispanische Teil der Iberischen Halbinsel einflußreiche Literatur hervorgebracht. »Spanien«, das etwa 1000 v. Chr. durch Phönizier erstmals mit dem geschriebenen Wort in Berührung kommt und seit dem 6. Jahrhundert teilweise die hochentwickelte Kultur der Griechen erlebt, hat bei der Ausdehnung des Römischen Weltreiches, nach Italien selbst, größten Anteil am Romanisierungsprozeß, indem es nicht nur nimmt, sondern auch gibt: Mit Trajan, Hadrian, Mark Aurel, Theodosius erhält Rom aus der Provinz »Hispania« hervorragende Herrscher und Politiker. Auch römisches Schrifttum bekommt von dort grundlegend fruchtbare Impulse, so daß Texte hispanischer Autoren als römischer Ausdruck kosmopolitischer Kultur empfunden werden. Die Literatur »Spaniens« beginnt also in der Antike mit lateinischen Werken. Besonders erfolgreiche Schriftsteller aus dem vorchristlichen Rom sind: der in Cordoba geb. Lucius Annaeus SENECA d. Ä. (um 55 v. bis 37 n.), Verfasser eines Kompendiums von Rechtsfällen (Controversiae), einer Rhetorik (Suasoriae), einer (nicht erhaltenen) Geschichtsdarstellung; dessen Sohn L. A. SENECA d. J. (um 4 v. bis 65 n.), der 9 Tragödien, eine Satire auf Kaiser Claudius (Apocolocynthosis = »Verkürbissung«), ethische Schriften (Dialogi), moralphilosophische Briefe an den Freund Lucilius, Trostschriften hinterläßt; der auch aus dieser Stadt stammende Marcus Annaeus LUCANUS (39-65 n.) - des Letzteren Neffe und Freund Kaiser Neros —, von dessen CEuvre nur ein Epos über den Bürgerkrieg zwischen Pompejus und Cäsar (De bello civili = »Pharsalia«) auf uns gekommen ist; der in Calatayud geborene Marcus Valerius MARTIALIS (um 40 - um 104 n.), der mit über 1500 Epigrammen diese poetische Form in römischer Literatur zu künstlerischer Vollendung führt; Marcus Fabius QUINTILIANUS (um 35-100 n.) aus Calahorra, Prinzenerzieher in Rom, ein gefeierter Redner, dessen »Institutio oratoria« eines der meistkonsultierten Bücher zu Rhetorik und Stilistik des Mittelalters ist. Weitere, »kleinere« hispanische Autoren der römischen Antike wären Lucius lunius Moderatus COLUMELLA (1. Jahrhundert n.) aus Cadiz, der ein Werk über Landwirtschaft (De re rustica) und eines über Baumzucht (De arboribus) schreibt, damit ein Klassiker auf dem Gebiet wird, sowie Pomponius MELA (l. Jahrhundert n.), Autor einer

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Einführung in die spanische Literatur

interessant kuriosen Geographie (De chorographia). Als im 4. Jh. Roms politische Macht zerbricht und mit dem Christentum eine neue geistige Kraft Universalcharakter erhält, nehmen auch hispanische Schriftsteller an seiner Verbreitung durch das Medium lateinischsprachiger Literatur teil. So dichtet der Priester Gaius Vettius Aquileius JUVENCUS (4. Jh.) eine auf Matthäus begründete Evangelienharmonie in über 3000 Vergil nachempfundenen Hexametern (Evangeliorum libri IV), während Aurelius PRUDENTIUS Clemens (348- um 405) aus Tarragona ein mannigfaltiges theologisch-religiöses Poesieoeuvre erarbeitet: hymnische Texte zu den Tageszeiten (Cathemerinon liber), Gedichte über Märtyrer (Perisiephanon), die Dreifaltigkeitslehre (Apotheosis), die Sünde (Hamartigenia), ein allegorisches Epos über Kampf der Seele mit Sünden und Lastern (Psychomachia), das im Mittelalter einflußreich bleibt, sowie poetische Bearbeitungen von Szenen beider Testamente (Dittochaeon). Dichter ist auch Papst DAMASUS (366-84), der Märtyrern, Bischöfen, christlichen Männern huldigt. Als im Jahre 409 germanische Stämme in Iberien einfallen und nicht von römischen Truppen zurückgedrängt werden können, findet in »Spanien« eine weitere ethnisch-kulturelle Verschmelzung statt: Die Romanisierung ergänzt eine Germanisierung. Da die große Landesteile drei Jahrhunderte lang beherrschenden Westgoten zum Christentum bekehrt sind, kommt es nicht zum Umbruch, sondern zu relativ homogener Weiterentwicklung; hispanische Literatur behält das sprachliche Gewand römischer Antike, bewegt sich dabei unter christlichen Vorzeichen. Bedeutendes leistet Bischof ISIDOR von Sevilla (um 570—636) mit seinen zahlreichen theologischen Schriften und Geschichtswerken über Westgoten, Vandalen, Sueven und den Etymologiae, einer Enzyklopädie damaligen Wissens; mit ihm erhält lateinische Literatur hispanischen Ursprungs einen ersten bodenständig nationalen Zug! Dies trifft auch für seine Schüler BRAULIO (t 651), EUGENIUS (t 657), ILDEFONS (um 607-67) und JULIANUS (um 652-90) zu, die als Bischöfe von Zaragoza oder Toledo vom übrigen mittellateinischen Schrifttum Europas wohl nicht unabhängige, aber doch originelle Züge und Themen in theologisch-religiösen oder auch profanen, und zwar didaktischen oder wissenschaftlichen Texten entwikkeln. Der zweite große politisch kulturelle Umschichtungsprozeß erfolgt 711, als Mohammedaner auf der Halbinsel militärisch Fuß fassen, die Anhänger des letzten Westgotenkönigs ins kantabrische Gebirgsmassiv zurückdrängen. Von nun an bleiben weite Landesteile lange

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unter arabischem Einfluß, bis 1492, als Granada fällt, die schrittweise Rückeroberung (Reconquista) besetzter Gebiete durch bodenständige Dynastien und ihre Heere abgeschlossen ist. Der kulturelle Niederschlag des Kalifates wirkt sich letztlich positiv für Spanien, ja für ganz Europa aus, weil neue Geistes-, Kunst- und Literaturströmungen ins Abendland gelangen und sich durch die Präsenz fremder Macht autochthones Bewußtsein heranbildet, an dem/gegen das man zu Selbstbewußtsein findet, emporwächst. Bedeutsam ist auch die Befruchtung durch hispano-jüdische Kultur. Ansätze spanischsprachiger Lyrik erkennt man in arabischen jarcha-Texten des 11. Jahrhunderts. Das erste Kunstwerk liegt mit dem Cid-Epos vor Mitte des 12. Jahrhunderts vor. Prosa beginnt erst im 13., Theatertexte sind vor allem aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Der in Klöstern lebende Klerus hat wichtigen Anteil an der Literaturproduktion: Seine Arbeiten zählen zum sogenannten »mester de clerecia«. Spielleute (juglares) tragen an Höfen Texte vor, schreiben auch Werke (»mester de juglaria«). Das Bürgertum partizipiert später, etwa seit dem 14. Jahrhundert mit der Gründung von Universitäten. Das Mittelalter klingt im 15. Jahrhundert aus, wird durch die Entdeckung Amerikas von einer neuen Ära abgelöst, dem »Goldzeitalter«. Die spanische Literatur des Mittelalters entsteht in christlichem Kontext, setzt eine theologische Weltordnung voraus, dient mit ihren Werken der herrschenden Weltanschauung und der sie vertretenden Politik. Sie ist jenseitsbezogen idealistisch, was aber nicht heißt, daß sie — in so spannungsgeladenen Zeiten - nicht auch Texte von fesselndem Realismus hervorgebracht hätte!

l. l

Heldenepik und Volksromanzen. Eine Nation verdichtet und bedichtet sich

Literarische Zeugnisse in spanischer Sprache vor dem Cid-Epos sind ein poetisches Gebet aus dem Kloster San Millän de la Cogolla (10. Jahrhundert) sowie einige, 1948 von S. M. Stern entdeckte, wichtige Strophen (= kharjas) des 11. Jahrhunderts (vgl. 1.2), aber man kann erst vom 12. Jahrhundert an von einer umfangreicheren, mannigfaltigen Literatur in dem neuen romanischen Idiom sprechen. Am Anfang steht, wie zu Beginn anderer Literaturen der Romania, die Heldenepik (französisch »chansons de geste«, spanisch »cantares de gesta«), die seit dem 19. Jahrhundert intensive Aufmerksamkeit der Philologen findet. Diese Gattung ist aufschlußreich für ein grundsätzliches

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Einführung in die spanische Literatur

Verständnis spanischer Literatur: Sie ist eine Form, die deren Wesen früh ausdrückt, die sich über das Mittelalter hinaus fortsetzt, die Literatur jüngerer Epochen befruchtet. Im Mittelpunkt der Forschungen zur Heldenepik steht die Frage nach dem Ursprung; sie wird durch Theorien beantwortet, welche nur zusammengenommen ein wahres Bild von den komplexen Entstehungsvoraussetzungen der Epik eines Landes geben, das konträre Kulturtraditionen in sich aufnimmt. Heute neigt man überwiegend zur Auffassung von G. Paris (1839-1903) und E. de Hinojosa y Naveros (1852-1919), französische Heldenepik sei früher als die spanische zu datieren und auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela gelangt, jedoch ist durch den frühmittelalterlichen Historiker Jordanes (»De origine actibusque Getarum«, 6. Jahrhundert) belegt, daß auch die Iberien bis zum arabischen Eindringen im 8. Jahrhundert besetzenden Westgoten Heldenepik besaßen, weswegen — so R. Menendez Pidal (1869-1969) - germanische Einflüsse nicht auszuschließen sind. Obwohl eine andalusisch-arabische Ursprungstheorie - vertreten von J. Ribera y Tarrago (1858-1934) und A. Castro (1885-1972) - heute abgelehnt wird, läßt sich nicht leugnen, daß islamische Kultur überdies vielfältig in spanischer Epik nachweisbar ist, wie man auch christliche oder antik-heidnische Ideologien in den cantares de gesta findet. Spanische Epen sind eben Widerspiegelungen eines übergreifenden Gesellschafts- und Kulturempfindens. Und sie gelangen trotz der Verschiedenheit der sie produzierenden Faktoren zu Einheitlichkeit. Gemeint ist der kosmopolitisch polykulturelle Charakter, der dadurch entsteht, daß die anonymen Autoren im Lande umherziehende »Sänger« (juglares) sind, welche in ihren Texten integrativ Wirklichkeit verdichten. Da die Epen für den mündlichen Vortrag gedacht sind, so daß sie eine Kommunikations- und Informationsfunktion erfüllen, geschieht es, daß die schriftliche Überlieferung spärlich und unbefriedigend ist: Von vielen spanischen Heldenepen gibt es keine Handschriften; ihr Inhalt muß aus anderen Zeugnissen (z. B. Chroniken) rekonstruiert werden, oder man hat späte und/oder fragmentarische Manuskripte. Obwohl auch das Cid-Epos unvollständig ist, kann man in ihm das bedeutendste Gattungsbeispiel erkennen! Der »Cid« (eig. Cantar [bzw. Poema] de mio Cld) ist das älteste erhaltene Epos Spaniens, sein erstes größeres Schrift- und Literaturdenkmal. Um 1140 verfaßt, liegt es nur in einer erst aus dem Jahr 1307 stammenden, von einem »Per Abbat« signierten Handschrift - in der wohl 3 Blätter fehlen: l oder 2 zu Beginn, l oder 2 in der Mitte - der Madrider Nationalbibliothek vor, welche T. A. Sanchez 1779 erstmals

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edierte. Es sind 3730 unregelmäßige, meist assonierende Verse (alle mit Zäsur) mit zwischen 10 und 20 Silben, in 152 Laissenstrophen eines unbekannten, vielleicht aus Medinaceli stammenden Dichters. Das metrisch in der Weltliteratur ein Unikum darstellende Werk ist in 3 Teile bzw. »Gesänge« (cantares) gegliedert. 1. Cantar [del destierro] (Verse 1-1084): Rodrigo [d. i. Ruy Diaz aus Vivar bei Burgos (1043-99) mit Beinamen »Cid« (maurisch sejid = der Herr) und »el Campeador« (der Kämpfer)] wird von Alfons VI. (1072-1109), König v. Kastilien und Leon, exiliert (destierro = Verbannung), weil er Tribute der Mauren unterschlagen haben soll. Der Vasall bemüht sich, die Ungnade durch tapfere Taten vergessen zu machen. Er bringt Ehefrau und Töchter in Sicherheit, unternimmt mit Freunden, Söldnern und Abenteurern Heerzüge durch Maurenland, erobert Gebiete, macht Beute, sendet seinem König Geschenke, um dessen Gunst zurückzugewinnen. - 2. Cantar [de las bodas] (1085-2277): Der Cid erobert Valencia; es wachsen Macht, Reichtum, Bewunderung, was die Infanten von Carrion, Diego und Fernando Gonzalez, anlockt, denen er seine Töchter Elvira und Sol zur Ehe gibt (bodas = Hochzeit). - 3. Cantar [de la afrenta de Corpes] (2278-3730): Die Infanten hatten es nur auf die Beuteschätze des Cid abgesehen, sie werden bei einem Gefecht als Feiglinge bloßgestellt; in ihrer Eitelkeit verletzt, rächen sie sich: Im Eichenwald bei Corpes mißhandeln sie ihre Ehefrauen (afrenta = Beleidigung). Auf den nach Toledo einberufenen Cortes werden sie zum Duell herausgefordert, verlieren gegen Gefolgsleute des Cid, werden geächtet. Cid und König söhnen sich aus, die Töchter werden Infanten von Navarra und Aragon heiraten. — Dem »Cid« haftet etwas Rauhes, Unvollendetes, Unkünstlerisches an, was den Blick vom dichterischen Äußeren zum Dargestellten wendet. Das Epos ist Spaniens erster Beitrag zum Realismus, in dessen Zeichen der größte Teil seines Schrifttums steht. Die Figuren sind in charakterlicher Komplexität und psychologischer Tiefe erfaßt; Örtlichkeiten registriert der Text so exakt, daß man geo- und topographische Skizzen vom Verlauf der Heerzüge im Raum Kastilien und Valencia anfertigen kann. Die Historizität des Geschehens während der Jahre 1081-99 ist bei Personen und Fakten relativ wenig poetisiert, die kulturelle, politische, soziale Wirklichkeit bleibt anschaulich vergegenwärtigt. Evoziert wird eine kriegerisch ritterliche Kultur, in der ein stützendes Treuesystem durch materielle Gesinnung in Gefahr gerät, zu einer Zeit, als sich Spanien eine schwere Aufgabe stellt: die Einswerdung im Kampf gegen die maurischen Besetzer, ein ehrgeiziges Ziel, das man auf einem Feld gesellschaftlicher Spannungen an-

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Einführung in die spanische Literatur

strebt; es gibt Diskrepanzen zwischen Kleinadel (vertreten durch den um Prestige kämpfenden Cid) und dem auf Sachmittel angewiesenen Monarchen, zwischen dem bald wohlhabenden Cid und dem verarmten Adelskreis der Infanten. Der Cid ist mutiger Streiter für König, Vaterland, Christentum, der Anerkennung seinem Besitz verdankt. Der Autor erfaßt die Sozioökonomie einer kapitalorientierten Heldengesellschaft. Der Cid ist Idealist, aber ebenso treuer Ehemann, vorsorgender Vater, der seine Familie in Sicherheit bringt, bevor er in den Kampf zieht, die Töchter gut verheiratet sehen will. Das Epos trägt Züge eines bürgerlichen Realismus, ist Replik auf jene sich mehr im Bereich von Phantasien und Idealen bewegende Epen Frankreichs. Der juglar des Cid-Epos richtet seinen Blick von unten nach oben, aber auch von oben nach unten, kann so ein wahrheitsgemäß vollständiges Kunstwerk schaffen, aber auch idealistisch sein: Tugenden gebührend herausstellen oder Gefühle wie Trauer und Enttäuschung schildern, wie zu Beginn dieses sonst gerade Härte und Kampfeswillen vergegenwärtigenden Buches: De los sos ojos tan fuerte mientre lorando tornava la cabega y estava los catando. Vio puertas abiertas e u?os sin canados, alcandaras vazias sin pielles e sin mantos esinfalcones e sin adtores mudados. Sospiro mio £id ca mucho avie grandes cuidados. Ffablo mio £id bien e tan mesurado: 'jGrado a ti, sefior padre que estas en alto! jEsto me an buelto mios enemigos malos!' (V. 1-9)

Der Cid hat viele Autoren inspiriert: in Spanien Guillen de Castro, Lope de Vega, Sepulveda, Hartzenbusch; in Frankreich Corneille, Hugo, Delavigne, in Deutschland gerade Herder. Das Heldenepos macht bis zum Niedergang im 15. Jahrhundert komplexe Entwicklungen durch, die Menendez Pidal in 4 Phasen gliedert. 1. Entstehung: etwa 10. Jahrhundert bis 1140, dem ungefähren Abfassungsjahr des Cid; es werden — letzterer ausgenommen Epen kürzeren Umfanges (ca. 500-600 Verse) geschrieben; Zentralfiguren sind Rodrigo Diaz (= Cid) (wie im Cantar de Rodrigo) oder andere heldenhafte spanische Gestalten; am Ende dieser Periode sind französische Einflüsse zu beobachten. — 2. Reife und Blüte: von 1140 bis 1236, Entstehungsjahr des »Chronicon mundi« von Lucas de Tuy (um 1160-1249), dem ersten spanischen Geschichtsschreiber, der cantares de gesta als historische Quellen benutzt; Epen werden allgemein länger (Cid), man kann weitgehende französische Einflüsse ausmachen, obwohl auch spanische Themen behandelt werden. — 3. Prosa-

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adaptationen und Umarbeitungen: von 1236 bis Mitte 14. Jahrhundert; Epik geht teilweise in Prosa über, verliert ursprüngliche Funktion und Eigenart als spezifische Gattung. - 4. Zerfall: Mitte 14. Jahrhundert bis 2. Hälfte 15. Jahrhundert; eine neue Gesellschaftsstruktur und Hinwendung zu anderen dichterischen Formen lassen das Interesse an langen Epen erlöschen; sie lösen sich zum Teil in Fragmente mit zentralen Episoden auf, welche als Romanzen weiterleben. — Weniges ist aus dem breiten Zeitraum erhalten; das meiste läßt sich nur aus Geschichtsschreibung oder anderen Quellen rekonstruieren; es sind oft anonyme Texte, die, wie der Cid, von Spielleuten stammen, dem mester de juglaria (vgl. 1.2) zuzuordnen sind. Seit dem 12. Jahrhundert beschäftigt man sich auch in Klöstern mit der Abfassung von Epen, es entstehen als Zeugnisse des mester de clerecia gelehrte Werke, wie der antikisierende Libra de Alexandre oder Fernan Gonzalez. Aus der Vielfalt mittelalterlicher spanischer Epik, die durch Einwebung legendärer Elemente an Komplexität und Umfang gewinnt, seien 4 Beispiele skizziert, die den oben genannten Perioden der Entwicklung entsprechen. Der Cantar de los siete infantes de Lara entsteht in seiner Urform um 1000, behandelt die Frühzeit kastilischer Autonomie unter der Regentschaft des Grafen Garci Fernandez (970-95). Das Epos konnte 1896 Menendez Pidal inhaltlich aus Bruchstücken zusammenfügen, die unter anderem die Primera cronica general (12. Jahrhundert) und die »Cronica de 1344« enthalten. Die blutige Tragödie um die Sieben Infanten von Lara (oder Salas) entspinnt sich in Burgos zur Hochzeitsfeier fur Ruy Velazquez und Dona Lambra de Bureba, als der jüngste der mit dem Paar verwandten Infanten (Gonzalo Gonzalez) den Cousin der Braut (Älvar Sanchez) im Streit tötet. Nach einer Versöhnung kommt es zu weiterem Zwist, als die Infanten Dona Lambras Diener wegen einer Provokation umbringen. Velazquez und seine Frau rächen sich für die zweifache Schmach: Sie lassen die 7 Neffen in Almenar in einen von Mauren besorgten Hinterhalt locken, gefangennehmen, enthaupten. Die Köpfe übergibt man in Cordoba dem verzweifelten, gefangenen Vater Gonzalo Gustioz: Violas Gongalo Gustioz bueltas en polvo e en sangre; con la manta en que estavan comengolas de alinpiar, Llorando de los sus ojos dixo entonces a Almangor: »Bien conosco estas cabecas por mis pecados, senor; conosco las siete, ca de los mios fijos son«.

Ihm gebärt eine Maurin einen neuen Sohn, Mudarra, der Jahre später seine Stiefbrüder rächt: Er erschlägt in Burgos Ruy Velazquez, läßt

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Einführung in die spanische Literatur

Dona Lambra lebendig verbrennen. Der neben dem »Cid« berühmteste Stoff altspanischer Literatur deutet realistisch politisch-historische Hintergründe an, die von heftiger Dynamik zwischen Fürstentümern im Norden und maurischem Feudalwesen im Süden gekennzeichnet sind; der Text erinnert an einen erbitterten Privilegienstreit im Zusammenhang mit später als typisch iberisch begriffenen Eigenschaften: exzentrisches Ehrgefühl, ungestüme Leidenschaften, archaisches »Rachebedürfnis«; diese Themen erscheinen rauh, prägnant, exemplarisch vereint, regen dann Autoren zu Romanen und dramatischen Bearbeitungen an: J. de la Cueva, Lope, Calderon, Hurtado de Velarde, Matos Fragoso, Duque de Rivas. Der Cantar [de gesta] de Sancho II y cerco de Zamora wird um 1100 verfaßt, ist letztes Epos über die Geschichte Kastiliens, weist auf den »Cid« hin. Er ist ein verschollenes Heldenepikbeispiel, dessen Stoff später mehrfach in Romanzen und Bühnenwerken aufgegriffen wird, das inhaltlich zuerst J. Puyol y Alonso (1865-1937) rekonstruierte, unter anderem aus Bruchstücken von Prosafassungen, welche Cronica Najerense (um 1165), Primera cronica general (1289) und Cronica particular del Cid (um 1350) enthalten. Das Werk schildert Kämpfe des kastilischen Königs Sancho II. (1065-72) gegen seine Geschwister, unter die der Vater Fernando I. (1047-65) seine Besitzungen aufteilte. Dona Urraca, eine der Schwestern, flüchtet nach Zamora, das Sancho belagert; hier verweilt der Text intensiv. Der König ermordet Bellido Dolfos, Urracas Geliebten. Den Mörder und Verräter verfolgt der Cid vergeblich. Der Text endet möglicherweise mit dem vom Cid veranlaßten dreifachen Eid des nachfolgenden Alfons VI. (1072-1109), keine Schuld am Tod des Vorgängers zu haben: Estando en Santa Gadea, totno el Cid el libro en las manos de los santos euangelios, e comengo el Cid a preguntarlo: lVos venides jurar, por la muerte del rey don Sancho. Dezid: si juro, vos e esos fijos dalgo. E el rey e ellos dixeron: si juramos: e dixo el Cid: si vos ende supistes parte o mandado, tal muerte murades como murio el rey don Sancho, villano vos mate, que non sea fijo dalgo, de otra tierra venga, que non sea castellano. Respondio el rey e los que con el juraron: (amen). (Textende, fragmentarisch, Rekonstruktion von J. Puyol y Alonso)

Bernardo del Carpio, dessen nicht erhaltene Fassung um 1200 entsteht, ist besonders schwer zu rekonstruieren, weil spanische mit französischer Erzählmasse komplex verquickt wurde. Grundlagen zur Beurteilung sind die im Chronicon mundi des Lucas de Tuy enthaltene

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Prosaversion sowie Textstellen der Primera cronica general. Das variantenreiche Werk ist - wie andere Heldenepen auch - eine Mischung aus Fiktion und Geschichtlichkeit, außerdem stark von Legendenbildung berührt. So fallen viele Geschehnisse in die Regierung der asturischen Könige Alfons II. (791-842) und III. (866-909), aber der Protagonist Bernardo del Carpio ist wohl erfunden; in seiner »Cronica de Espana« behauptet Lucas de Tuy bezüglich der Zeit Alfons' II. von ihm: »Fizo criar a Bernaldo delicadamente, e porque non auia fijo amaualo muy tiernamente. Este Bernaldo, despues que vino a la mangebia, de tanta fortaleza se esforco, que ningun cauallero de esse tiempo non se podia con el ygualar en fuerc,as; era, giertamente, grande de cuerpo, fermoso de car a, suaue de fabla, claro de yngenio, en armas auantajado, proueydo en consejo« (IV, 14). Bernardo ist ein dem französischen Roland nachempfundener, ritterlicher Held aus Leon, der Tugenden seines Standes — Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mitleid — verkörpert, als Träger der zentralen politischen ReconquistaIdee fungiert. Der Text behandelt unter anderem die vergebliche Befreiung von Bernardos Vater Sancho Diaz aus der Gefangenschaft des Königs, seinen Sieg über Roland bei Roncesvalles, verschiedene Schlachten gegen die Mauren; er verfolgt eine nationalistisch autonomistische, gegen Frankreich und die arabische Besatzung gerichtete Tendenz, besitzt wiederum typische Realitätssubstanz. Auch dieser Stoff lebt weiter in Romanzen und Bearbeitungen, zum Beispiel von B. de Balbuena, J. de la Cueva, Suärezde Figueroa, Lope, Cervantes, Espronceda, Hartzenbusch. Der Cantar de Rodrigo (auch Mocedades de Rodrigo gen.) aus dem 14. Jahrhundert ist ein nunmehr schwaches Beispiel einer zu Beginn kraftvollen Heldenepik, obwohl gerade dieses »Jugendbuch« spätere Cid-Thematisierungen beeinflußt; in diesem Fall sichert die effektvolle Gestaltung des Phantastischen eine dauerhafte Rezeption; mehr noch als im »Bernardo del Carpio« entfernt sich nämlich der anonyme Verfasser von Historizität; so soll Rodrigo mit 13 Jahren den Grafen Gomez de Gormaz getötet haben, dessen Tochter Jimena zur Sühne die Heirat mit dem Mörder fordert. Rodrigo willigt ein, will jedoch vor der Ehe 5 große Taten vollbringen: Rodrigo respondio muy sannudo contra el rrey don Fernando: »Sennor, vos me despossastes mäs a rni pessar que de grado, mas prometole a Christus que vos non besse la mano, nyn me vea con ella en yermo nin en poblado fasta que venza ginco lides en buena lid en canpo«. Ouando esto oyo el rrey, fizose maravillado. (V. 437-42)

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Indem er gegen Adel, Mauren, Frankreich und Deutschland zu Felde zieht, sich gegen den Papst stellt, bewährt er sich als Held, aber das Epos konvergiert eher zur Selbstdarstellung, der nationalspanische, christliche und altruistische Elemente früherer Zeit zum Opfer fallen. Ist zuvor Heldenepik Ausdrucksbedürfnis und Behältnis ausgesprochener Veranlagung zu epischer Objektivierung, so betont dieses Werk einen Geschmack, der sich an Phantasie und Wünschen, nicht an Realität bildet. Das Werk nähert sich der Funktion von Unterhaltung, auf die der höfische Roman abzielt. Innerhalb der Gattung selbst überleben indes Formen, Themen, Ideologie des Rittertums bis zu Generationen der Neuzeit hin, die jene Ideale in nostalgischer Schwärmerei nachleben. Obwohl die poesia epica in der ursprünglichen, breit ausholenden Form ablebt, überdauern deren Themen und Wesen als dramatische oder dichterische Bearbeitungen sowie in Romanzen, die typischer poetischer Ausdruck spanischer Literatur werden! Zu unterscheiden sind die seit dem 15. Jahrhundert entstehenden anonymen Volksromanzen (romances viejos) von den Kunstromanzen, wie sie später Lope, Gongora, Duque de Rivas, Garcia Lorca verfassen. Romanzen sind wesentlich kürzer als Epen, aber zentrale Gestalten sind auch oft Cid, Infanten von Lara, Gotenkönig Roderich, Fernän Gonzalez oder Bernardo del Carpio. Ein historisch-politisches Grundthema ist gleichfalls die Reconquista, die Begegnung mit Mauren auf iberischem Boden. Aber nicht alle Volksromanzen umkreisen altspanische Epik; wie diese im Laufe der Jahrhunderte Auffangform für andere, z.B. französische Stoffe wird, geht auch in die Romanzendichtung anderes ein: der karolingisch-bretonische Sagenkreis um Roland, Karl den Großen, Artus, die Ritter der Tafelrunde. Die Volksromanze berichtet auch gern novellenhaft über Sentimentales, präsentiert lyrisch die Liebe. Gelegentlich schildern Texte Begebenheiten, die im Grenzbereich zwischen Christen und Arabern geschehen sein sollen; man spricht dann von romances fronterizos. Die Volksromanze ist Sammelbecken für Verschiedenes, hat dieselbe innere Buntheit wie die Lyrik der Zeit. Andererseits besitzt sie aufgrund des assonierenden Achtsilbers äußere Einheitlichkeit. Die Achtsilber der Romanze können aus einer Auflösung des aus 2 Halbversen bestehenden 16Silbers des spanischen Epos resultieren. Zur Entstehungsgeschichte liegen keine definitiven Ergebnisse vor. Die Verwandtschaft von Romanzen mit Heldenepik ist indes nicht zu leugnen; Romanzen könnten Fragmente aus Heldenepen sein, Höhepunktszenen, die sich aus einem Ganzen lösten, um ein textliches Eigenleben zu führen. Kürze-

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re Romanzen könnten auch Vorlagen für cantares de gesta gewesen sein! Ungeklärt ist, ob die Texte anfangs individuelle oder kollektive Produkte waren. Es gibt nämlich zu bestimmten Episoden verschiedene, sich überschneidende Versionen. Die angenehm kurzen, spannend erzählenden, Phantasie und Gemüt anregenden Romanzen empfindet man bald als Kulturgut und vereinigt sie in Sammelbänden (romanceros, cancioneros). Beliebte Texte werden Bestandteile der comedia des Goldenen Zeitalters. Die Romanze hat eine ähnliche Lebendigkeitsfunktion wie in Italien die novella, welche von Boccaccio bis Pirandello nichts von ihrer Aktualität und Frische verlor. Der Erfolg hat mit der kunstvollen Einfachheit zu tun. Die literarisch historische Wirkung ist zudem der Tatsache zuzuschreiben, daß sie nicht allein Ausdruck des Schöpfungswillens eines Einzelnen, sondern Niederschlag kollektiven Kunstvermögens ist. Heldenepik und Volksromanzen zeigen, daß das Individuum Literatur kreiert, daß aber erst Publikum und Gesellschaft den Texten Leben und Sinn verleihen, indem sie sie als notwendig empfinden, erlebend am Leben halten, so verwirklichen. - Ein romance fronterizo - anonym, 2. Hälfte 15. Jahrhundert - erhielt von L. Pfandl den Titel »Brautwerbung um Granada«; er ist ein schöner Dialog zwischen Juan II. und dem Mauren Abenämar über Granada, das der Kastilier als Ziel aller Sehnsüchte anspricht: »Si tu quisieses, Granada,/ contigo me casaria;/ darete en arras y dote/ a Cordoba y a Sevilla./ - Casada soy, rey don Juan,/ casada soy, que no viuda;/ el moro que a mi me tiene,/ muy grande bien me queria« (39-46). l. 2

Lyrik und Versdichtung. Zwischen Volkstümlichkeit und Regeln der Kunst

Seit 1948 ist Spanisch als früheste romanische Literatursprache belegbar. Damals veröffentlichte der Oxforder Semitist S. M. Stern in der arabistischen Zeitschrift »Al-Andalus« zur Überraschung der Philologen erste sogenannte jarchas, die Licht auf die Ursprünge der jungen Poesie Spaniens werfen. Es handelt sich bei der mit dem arabischen Begriff für »Ausgang« bezeichneten jarcha (jarya, kharja, kharga, barga; Pl. eig. jarchat) um das Schlußstück zweier arabischer oder jüdischer Gedichtformen (muwasSaha und zejel, zäjel), die in Iberien entstehen, weit in den muslimischen Kulturkreis eindringen. Als Erfinder der muwaSsaha gilt der blinde arabische Andalusier Muqaddam ibn Mu'afä al-Qabri (840-920). Die ältesten erhaltenen jarchas stam-

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men erst aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, eines ist wohl von 1042, so daß die Texte 50 Jahre vor dem Beginn der provenzalischen Lyrik entstanden sind! Gekennzeichnet ist die Textart durch Strophigkeit, Strophenanzahl, Reimordnung, Kurzzeiligkeit, Thematik (Liebe, Trauer, Panegyrik, Satire). Die spezifische Schlußstrophe, die jarcha eben (auch markaz genannt), ist Angelpunkt des Textes, so daß der Dichter den Schöpfungsprozeß von diesem Finale her beginnt. Im Gegensatz zu den übrigen ganz arabischen bzw. hebräischen Strophen hat nun dieser Schlußtext vulgärarabisches oder romanisches Sprachgewand! Hierzu ein vokalisiertes Beispiel: tanto amare tanto amare habib tanto amare enfermaron olios nidioä e dolen tan male.

Das Nebeneinander von Arabisch bzw. Hebräisch und Spanisch ist dadurch erklärlich, daß unter arabischer Herrschaft lebende Spanier (mozärabes) sowie die im spanischen Bereich gebliebenen Mohammedaner (mudejares) »Mischsprachen« bzw. Mixturphänomene entwikkeln (aljamia = Spanisch aus maurischer Sicht; obras aljamiadas = spanische Werke, die mit arabischen oder jüdischen Schriftzeichen geschrieben sind). Obwohl die Forschungen noch nicht abgeschlossen sind, kann man sagen, daß sich in den jarchas früh und interessant die arabisch-spanische Kulturverschmelzung zeigt, welche ja trotz militärischer Auseinandersetzungen stattfindet. In vielen unter maurischem Einfluß stehenden Gebieten gibt es Zwei- bzw. Dreisprachigkeit, denn auch der hebräischen Kultur ist Rechnung zu tragen, gerade im Fall der jarcha, weil auch jüdische Dichter muwassaha und zejel pflegen. So sind beide Gedichtformen Beweise für die komplexen Überlagerungen und Befruchtungen im mittelalterlichen Spanien. Man hat im spanischen Gewand der jarcha Anzeichen für »nationales« Bewußtsein sehen wollen, jedoch sind die Texte eher literarhistorisch philologisch bedeutsam. Das »Spanische«, das sich lange hinter den unvokalisierten Schriftzeichen verbarg, glaubt man auch in den Gedichtformen selbst zu erkennen: muwasSaha und zejel sind Sing- und Tanzlieder, die in Liebesthematik und Metrik späteren villancicos und galicischen cantigas de amigo ähneln, so daß sie deren Vorläufer sein können; muwasSaha und zejel unterscheiden sich eben grundlegend von der qaslda, der Standardform klassisch-arabischer Poesie, die keine strophische Gliederung hat. Manche Texte scheinen mit ihrer femininen Thematik sogar den Frauenlobcharakter provenzalischer Dichtung vorwegzunehmen! Mit der Entdeckung der jarcha in rmiwas"§aha und zejel - beide unterscheiden sich durch differierende Verse

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und Reime sowie Verwendung von Vulgärarabisch statt klassischem Arabisch - kann die Geschichte der spanischen Dichtung um Jahre vorverlegt werden (in die frühe 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts); denn das erste konkrete Literaturdokument wäre nicht mehr das »Cid«Epos von 1140, sondern ein Teil der jarchas, welche vom 11. bis 13. Jahrhundert entstehen. Zwischen der bescheiden fragmentarisch beginnenden Lyrik der jarchas und dem Schaffen bedeutender Autoren wie Berceo, Ruiz, Lopez de Ayala, Santillana, Mena und Manrique gibt es eine verschiedenartige, vielfach anonyme, vom 11. bis 15. Jahrhundert reichende Lyrik, über der noch Schatten liegen, da wenig aus früher Zeit überliefert ist. Diese übrige Poesie des Mittelalters gliedert sich in 3 Arten: portugiesisch-galicische juglar-Lyrik, urspanische Volkspoesie, erzählende Versdichtung. — Die Lyrik in Portugal bzw. Galicien betrifft primär die Geschichte jener beiden romanischen Literaturen, aber auch die Spaniens, weil man sich auf seinem Boden jener Sprachen und Dichtungsweisen bedient. So verfaßt Alfons der Weise Historisches und Wissenschaftliches auf Spanisch, während er »Cantigas de Santa Maria« in dem anderen Mischidiom schreibt. Die galegoportugiesischen Minnetexte, die fahrende Dichter und Sänger (= juglares, mlat. joculatores) verbreiten, werden in spanischsprachigen Gebieten ab dem 13. Jahrhundert nicht als Fremdkörper, sondern spezifische Kulturphänomene empfunden. Die Produktion in galaico-portugues ist Schmelztiegel provenzalischer Dichtung, die seit dem 12. Jahrhundert europäische Poesie maßgeblich beeinflußt, auf dem nach Santiago führenden Pilgerweg (Camino frances) nach Galicien, Portugal, Spanien gelangt. Eine allgemeine Charakterisierung ist auf der Basis von 3 großartigen Sammelhandschriften möglich: Cancioneiro da Ajuda (13./14. Jahrhundert), Cancioneiro da Vaticana (15./16.), Cancioneiro da Biblioteca Nacional (16., vormals »Canzoniere portoghese Colocci-Brancuti«). Es sind 2 Inspirationsströmungen, eine aristokratische, auf Imitation provenzalischer Vorbilder gestützte sowie eine volkstümliche, bodenständige zu unterscheiden; erstere steht mehr im Zeichen höfischer Gesellschaft und ihrer Liebeskonzeption. Ihr kann man 2 Gedichttypen zuordnen: die kunsthafte cantiga de amor, vom Mann aus entworfenes Liebesgedicht, in dem der Liebende enttäuschte Gefühle offenbart, sowie die volkstümlichere cantiga de amigo, wo sie die Abwesenheit des Freundes/Geliebten bedauert. Der zweiten Strömung gehören auch sozialkritische cantigas d'escärnio e maldizer an, Satiren (Spottlieder) auf meist hochstehende Personen. Die etwa 200 Verfasser der an die 3000 erhaltenen Gedichte dieser Art stammen

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aus vielen Gegenden der Pyrenäenhalbinsel, aus allen sozialen Schichten: Es sind einfache Spielleute wie MEENDINHO oder AIRAS NUNES, der Priester; GOMES CHARINHO indes ist Admiral, D. DINIS (1261-1325) gar ein König, dessen Hof Zentrum galegoportugiesischer Poesie ist. Zur Kennzeichnung der 3 Arten von cantigas (Liedern) sowie der übrigen Gedichtformen folgendes: Sie gehen auf provenzalische Strukturen zurück (z. B. alborada, bailada, barcarola, cantiga de romaria, pastorela); man singt sie oft mit Instrumentalbegleitung (auch mit Chor und wechselnden Solostimmen), und so hat der metrische Aufbau häufig homogen stanzenhafte Strophigkeit (cobla, talho) und Refrains bei parallelistischem Grundmuster; Entstehung Mitte 12. bis 14. Jahrhundert. Außer der in dem anderen iberischen Idiom vorliegenden Poesie gibt es während der Entstehungsjahrhunderte eine urspanische traditionelle Volkslyrik, die überwiegend anonym ist, aus wenigen Beispielen oder indirekt aus Texten von Autoren wie Ruiz und Manrique abzuleiten ist; es sind canciones (Festlieder), cantares de vela (Wächterlieder), mayas (Mailieder), plantos (Trauerlieder), serenatas (Frauen dargebrachte Liebeslieder), serranillas (Lieder, die Berghirtinnen bedichten) sowie villancicos, häufigste altspanische Gedichtart; es handelt sich hierbei um Liebesgedichte in Stanzen mit abschließendem Refrain, wo ein Mädchen oft über unglückliche Liebe spricht. An den villancicos, die in Thematik und Struktur den mozarabischen jarchas und galegoportugiesischen cantigas de amigo ähneln, zeigt sich die grundsätzliche Problematik der Bestimmung früher iberischer Lyrik: Alle 3 Gedichtarten könnte man auf einen Urtyp bzw. eine Strömung zurückführen. Am Anfang ist die erzählende Versdichtung entweder profan oder geistlich orientiert; man kann im ersten Fall von Diskussions- oder Disputpoesie, bei der sakralen von hagiographischer Dichtung sprechen. Obwohl anonym und fragmentarisch, hat man nun konkrete Texte vor sich, wiewohl es sich noch um Übersetzungen oder Adaptationen altfranzösischer, provenzalischer oder mittellateinischer Vorlagen handelt. Es sind 2 geistliche, nämlich hagiographische Verserzählungen erhalten, die metrisch, formal, sprachgeschichtlich, nicht so sehr »künstlerisch« bedeutend sind. Die um 1215 entstandene Vida de Santa Maria Egipciaca behandelt in 1451 Versen die Legende der Maria von Ägypten, Hetäre aus Alexandria, die eine gute Christin wurde. Es ist die Übersetzung einer Vie de Sainte Marie l'Egyptienne; der Übersetzer hat an der altfranzösischen Vorlage die eigene Sprache herangebildet, sein Spanisch mit Gallizismen angereichert; er über-

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setzt bisweilen schlecht, stolpert über die Muttersprache. Eine Gegenüberstellung beider Fassungen zeigt, wie dicht — aber nicht ungeschickt — sich der Kastilier an die Vorlage hält, Abweichungen und damit »Eigenes« durch Interpolationen oder Auslassungen erreicht. So entsteht für den des Originals unkundigen Leser der Eindruck, es mit eigenständiger Dichtung zu tun zu haben. Während der französische Text isosyllabisch in für das Land typischen Achtsilbern gefaßt ist, wechseln in dem spanischen die Verse: Sechs-, Dreizehnsilberund dazwischen liegende Versarten bieten ein heterogen buntes Bild; die Paarigkeit der Reime ist überwiegend beibehalten: »De huna duenya que auedes oida,/ quier' vos comptar toda su vida:/ de santa Maria Egipcjana,/ que fue huna duenya muy logana« (17-20). Eine zweite geistliche Erzählung ist der Libro dels tres Keys d'Orieni, der nicht nur - wie der Incipit-Titel vermuten läßt - die Anbetung der Drei Weisen, sondern in 242 Versen hauptsächlich Episoden aus dem Leben Jesu schildert: Kindermord des Herodes, Flucht nach Ägypten, Kreuzigung, so daß der Text in der Edition von M. Alvar richtiger Libro de la infanciay muerte de Jesus lautet. Das um die Mitte des 13. Jahrhunderts geschriebene Werk geht auf Apokryphen und Vorlagen zurück, besitzt mehr Eigenständigkeit. Eine lebendige Stelle ist der Besuch bei einer Familie, deren Kind für gewährte Gastfreundschaft vom Aussatz geheilt wird, indem man es in Jesu Badewasser wäscht; dieser Sohn ist dann jener Dieb, den man mit Jesus kreuzigt, der ihn um Vergebung bittet. Die Verse stehen wieder unregelmäßig zusammen: pentasflabos, heptasflabos, octosflabos, eneasflabos, decasflabos, endecasflabos; die Versschlüsse assonieren oder reimen voll: »La Gloriosa lo metio en el agua/ do banado era/ el rey del cielo e de la tierra./ La vertut fue fecha man a mano,/ metioT gafo e sacoP sano./ En el agua finco todo el mal,/ tal lo saco como un cristal« (176-82). Von den weltlichen Verserzählungen seien 3 anonyme Streitgedichte (disputas, debates) erwähnt, welche die Geschichte der Dramatik berühren (vgl. 1.4). La disputa del Alma y el Cuerpo ist ein um 1201 verfaßtes Fragment aus 37 Alexandrinern als Übersetzung des Beginns eines französischen »Debat de I'äme et du corps« bzw. einer mittellateinischen »Rixa animae et corporis«; es behandelt ein zentrales Thema mittelalterlicher Allegorie: den Streit zwischen Seele und Körper über die Schuldzuweisung für die Sünden. Es ist ein religiöses Grundthema, das später u.a. Calderon aufgreift. »AI cuerpo dixo eil alma: de ti lieuo mala fama!/ tot siempre t' maldizre, ca por ti penare,/ que nunca fecist cosa que semeias fermosa,/ ni de nog ni de dia de lo

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que io queria;/ nunca fust a altar por i buena oferda dar« (12-16). — Das Diptychon Razon de amor [Con los denuestos del agua y el vino] aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts schildert in idyllischer Landschaft die Begegnung zweier junger Menschen, die über die Liebe nachsinnen: Unter einem Apfelbaum erkennen sie ihre Zuneigung (»Mas amaria contigo estar/ que toda Espana mandar«, 84-6), um sich doch wieder zu trennen (Verse 1-161). In dem zweiten, satirischburlesken Teil (162-264) wird ein theologisierendes, wiederum allegorisches Streitgespräch über Bedeutung und Vorzüge von Wasser und Wein von diesen selbst geführt; der aus 264 polymetrischen Versen bestehende, aragonesisch gefärbte Text erinnert an die mittellateinische Goliardendichtung, ist auch kasuistischer Denkweise damaliger Scholastik verpflichtet. - Der leonesische Dialog Elena y Maria aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts umfaßt 402 paarweise gereimte oder assonierende Verse (vorwiegend Achtsilber); Anfang und Schluß fehlen. 2 Geschwister diskutieren über die Vorzüge ihrer recht unterschiedlichen Liebhaber: Der eine ist caballero, der andere clerigo. Mit seiner kritisch kraftvollen Ironie und mit seinem informativen Esprit ist das Werk weniger stark Vorlagen verhaftet (es gibt indes den pikardischen »Jugement d'amour«). »Somos hermanas & fijas de algo,/ mays yo amo el mays alto,/ ca es cauallero armado,/ de sus armas esforcado;/ el mio es defensor,/ el tuyo es orador:/ quel mio defende tierras/ & sufre batallas & guerras,/ ca el tuyo janta & jaz/ & sienpre esta en paz« (19-28). Beide Menschentypen, Ritter und Geistlicher, vermitteln ein lebendiges Bild von mittelalterlicher Gesellschaft, in welcher Verteidiger und Beter hart aneinandergeraten! Die Tatsache, daß jeder Standesvertreter Ziel von Lob und Schimpf ist, läßt uns gute wie schlechte Seiten erkennen. Die antiklerikale Satire ist indes heftig ausgefallen; der clerigo führt ein unstetes Leben, hängt von dem aus seinem Amt fließenden Gewinn ab, gibt sich faul genüßlichem Dasein hin. Das Werk deutet auf eine energetisch polemische Welthaltung hin, die dann im 14. Jahrhundert der Arcipreste de Hita im »Buch von der guten Liebe« zum künstlerisch reifsten Zeugnis früher spanischer Literatur formt. Mit Gonzalo de BERCEO (um 1195- um 1264) erreicht geistliche Dichtung in Spanien früh Kunst und Reife; dieser erste mit Namen bekannte Poet wurde in La Rioja geboren, lebt als Laiengeistlicher in dem berühmten Kloster San Millän de la Cogolla: Als frommer Christ sieht er den Sinn literarischer Tätigkeit in Lobpreis und Verbreitung der Religion. Sein stattliches CEuvre umfaßt 13300 gleichförmig gebaute Verse, die man in 4 Gebiete ordnet, denen christliches Erlebnis-

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gut gemeinsam ist. Es sind 2 doktrinäre Arbeiten, 3 Hymnenparaphrasen, 3 bzw. 4 Heiligenviten sowie l Mirakelbuch, das (wie 2 weitere Dichtungen) seinem Lieblingsthema gilt: der Verherrlichung der Gottesmutter. Dritter und vierter Sektor sind schriftstellerische Schwerpunkte. Für die Art seiner Komposition und Inspiration sind gleichfalls aufschlußreich das eucharistische Opus Sacrificio dela misa (1188 Verse), die Vision De los signos que apareceran ante del Juicio (308 V.) und die 3 Hymnen Veni Creator Spiritus, Ave Sancta Maria und Tu Christe, denn Berceo tastet sich hier, übersetzerisch paraphrasierend, an lateinischen Vorlagen geschickt in die Muttersprache hinein. Imitative Nähe zu mittellateinischen Autoren zeigen auch Viten und Marienpoesie, jedoch erlebt man gerade hier den individuellen Schöpfer. Sieht man vom unvollendeten Martirio de San Lorenzo (420 V.) ab, so gibt es von ihm 3 Hagiographica: Vida de San Miüan (1956 V), V. de Santo Domingo de Silos (3108 V), V. de Santa Oria (820 V.).- Das Marienbuch Milagros de Nuestra Senora, sein bezauberndes Meisterwerk, ist weitestgehende Ausschöpfung damaliger sprachlicher und literarischer Mittel. Es sind 25 Wundergeschichten, die ein Volumen von 3645 Versen in Vierzeilern (cuaderna via) ergeben. Quellen sind u.a. »Legenda aurea« des Jacob von Varazze (1228/30-98), »Speculum historiale« des Vinzenz von Beauvais (t 1264) sowie eine anonyme mittellateinische Mirakelsammlung einer Kopenhagener Handschrift mit 28 Legenden. Berceo verarbeitet allgemeines Erzählgut der seit dem 11. Jahrhundert einsetzenden Marienpanegyrik. Berühmt wird die symbolreich topische Einleitung, worin er seine Absichten frisch und unbekümmert mitteilt: Er schildert sich auf einer das Leben bedeutenden Pilgerreise, gelangt zu einer hübschen Wiese, die Maria meint; sie ist an den Ecken mit 4 Quellen (den Evangelien) und vielen Blumen (Namen der Gottesmutter) geschmückt. Berceo macht jeweils klar, daß alle Symbole besonderen Bezug zur Jungfrau haben. So bereitet der Dichter sorgfältig die Ausgangssituation für seine Erzählungen vor, rechtfertigt das vornehmliche Interesse an Maria als einer der Christenheit Hoffnung und Trost bedeutenden Figur. Auf diese locus amoenus-Evokation folgen die Wundergeschichten, wovon einige sehr bekannt sind, wie die von Theophilus, der seine Seele dem Teufel verschreibt, aber vom Pakt durch die Jungfrau glücklich erlöst wird; oder die von jenem bereits am Galgen hängenden Dieb, der noch dadurch gerettet wird, daß Maria die Hand unter ihn hält. Göttliche Intervention ist für den mittelalterlichen Menschen konstant und selbstverständlich! Übernatürliche und menschliche Welt stehen ständig in Verbindung: Alles ist Wunder, alles fortwährend von

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Gott oder seinen Auserwählten bewerkstelligtes Mirakel! Das Buch ist geprägt von mühelosem Erzählvermögen, Begabung zu unkomplizierter Unterhaltung; es hat Qualitäten, die Berceo durch klare Strukturierung, wirklichkeitsnah volkstümliche Schilderung von Details erreicht. Durch sein Werk fließt neben dem Strom der Volksverbundenheit eine Fülle literarischer Kunstmittel; Berceo ist stets um Ausdruck und Formung bemüht. - Der 11. Text handelt von einem schlechten Bauern, der noch so eben der Hölle entgeht, weil er wenigstens nie den Mariengruß unterließ. Das Werk besteht aus für den mester de clerecia des 13. und 14. Jahrhunderts typischen cuaderna via-Strophen (auch teträstrofo monorrimo alejandrino genannt), Vierzeilern aus Vierzehnsilbern (tetradecasilabos) mit gleichem, vollem, nicht mehr assonierendem Reim (Zäsur in der Mitte): 278. Luego qe esti nome de la sancta Reina udieron los di'ablos cogieron-s d'y aina; derramäronse todos como una neblina, desampararon todos a la alma mesquina.

Innerhalb der Entwicklung erzählender Lyrik bedeuten die Milagros eine erste wichtige Etappe. Berceo schreibt ein formal, stilistisch, sprachlich Heranreifen ankündigendes Werk, das eine hohe Gesinnung manifestiert: Es will Gott zur Ehre gereichen! Berceos Marienverehrung - die noch in den Loores de Nuestra Sennora (932 V.) und dem Duelo que fizo la Virgen Maria el dia de la Passion de su Fijo Jesuchristo (840 V.) zum Ausdruck kommt — ist Spaniens erster markanter Niederschlag einer christlichen Literaturkonzeption, die etwa zur gleichen Zeit in Italien den »Sonnengesang« des Franz von Assisi und die Lauden des Jacopone da Todi hervorbringt und in Spanien noch lange zu berühmten dichterischen Aussagen anregt (vgl. Calderon). Eine andere Mariendichtung entsteht in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts am Hof ALFONS' des WEISEN (reg. 1252-82; zu ihm vgl. 1.3). Seine Cantigas de Santa Maria sind 427, in kostbaren Handschriften überlieferte Lieder, bedeutende Zeugnisse der galegoportugiesischen Lyrik, die auch zur Dichtung Spaniens zählen, weil sie unter kastilischer Ägide verfaßt sind; ähnliches gilt ja für Teile profaner galegoportugiesischer Lyrik (s.o.); König Alfons redigiert seine Prosa kastilisch, wählt aber für religiöse Arbeiten ein anderes, flexibleres Kunstmedium. Von ihm stammen die meisten Beiträge der Anthologie, andere sind von Dichtern seiner Umgebung. Der König betrachtet diese Lyrik als höchsten Ausdruck der Marienverehrung, als be-

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sonderen Minnedienst. Auf 2 Prologe über den königlichen Autor und seine Poetik folgen 273 Wundergeschichten, die hin und wieder eine hymnische cantiga de loor unterbricht. Den Abschluß bilden Texte über andere christliche Themen (Schöpfung, Drei Könige, Hl. Geist, Marienfeste). Als Quellen dienen Alfons und den Mitarbeitern die erwähnten Werke des Vinzenz von Beauvais und Gautier de Coincy, die »Milagros« Berceos, andere im Mittelalter beliebte Exempla-Sammlungen sowie kursierende Episoden über den Muttergotteskult. Die Cantigas warten mit metrischer Vielfalt und Kunst auf; es kennzeichnen sie konsequente Strophigkeit und Refrainstruktur. Zu mehreren Texten liegen musikologisch wertvolle Vertonungen vor. Milagros und Cantigas entsprechen dem gleichen Verlangen, literarisch dem Christentum zu huldigen; diese Intention wird jeweils unter bildungssoziologisch unterschiedlichen Voraussetzungen realisiert, welche Situation und Rezeption mittelalterlicher Texte kennzeichnen. Die Mirakel sind Werk eines Geistlichen und klösterlich Gebildeten, einer Gelehrtenkultur und somit typisches Beispiel für die Produktion des mester de clerecia, des klerikalen Schrifttums Spaniens. Die Marienlieder jedoch sind Ausdruck des mester de juglaria, einer von Spielleuten für Höfe geschriebenen Literatur, die sich deren Konventionen anpaßt; das Besondere ist, daß der juglar ein König, die besungene eine himmlische Frau ist. Das bedeutendste lyrische Werk der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, eine Arbeit des mester de clerecia, ist der Gedichtband von Juan Ruiz (um 1283-1351), genannt ARCIPRESTE DE HITA, genialster Dichter des spanischen Mittelalters. Alles ist so unklar um den Autor, daß man gar die Existenz dieses Erzpriesters bezweifelt hat. Indes ist zu vermuten, daß er in Alcalä de Henares geboren wurde, sein religiöses Amt bei Guadalajara ausübt, aus irgendwelchen Gründen 13 Jahre Gefangener des Erzbischofs von Toledo ist. Dabei wäre sein ausladendes Gedichtoeuvre - einziges von ihm erhaltenes literarisches Zeugnis biographische Quelle par excellence, wenn die zahlreichen, als real vorgewiesenen Fakten nicht gleichzeitig Ironie und autorschützender Täuschung dienten! Den Titel Libro de buen amor erhält es von Menendez Pidal, während es vorher »Libro de los cantares« heißt; es ist in 3 abweichenden Handschriften überliefert, welche 2 Entstehungsphasen (um 1330 bzw. 1343) andeuten. Es ergibt sich ein Volumen von ca. 7000 Versen, die vornehmlich in Strophen des Schemas der hier sehr variierten cuaderna via angeordnet sind. Man hat ein erzählend unterweisendes, ironisch kritisierendes Gedichtsammei-

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werk über die Liebe vor sich, dem antike, mittellateinische, altfranzösische, provenzalische, arabische Vorlagen und Traditionen einverleibt sind. Eine vorrangige Absicht ist es vielleicht, ein Werk wie die »Ars amandi« Ovids zu entwerfen; denn das liebestheoretische und -praktische Buch des Römers regt im Mittelalter viele Imitationen an. Weitere Hauptquellen sind: die elegische Komödie »De vetula« des Pseudo-Pamphilus (12. Jahrhundert), »Consultatio sacerdotum« des Engländers Walter Map (1140-1209), altfranzösische Fabliaux, mittellateinische Goliardendichtung (»Carmina burana«), jüdische bzw. arabische Texte (»Halsband der Taube« von Ibn Hazm: 994-1064), weswegen man es auch als Produkt einer typischen Mischkultur (mudejar-Kunst) begreift; man kann es mit keinem anderen vergleichen, poetologisch klassifizieren; es ist Konglomerat aus Liebesabenteuerberichten, Exempeln, Fabeln, Allegorien, Spottgedichten, serranillas, Blindenliedern, Studentengesängen, Satiren, Marienhymnen, Gebeten (so ist das erste Gedicht, die Invocatio, Hinwendung zu Gott und der Jungfrau). Eine lockere Einheit erhält es durch einen autobiographischen Strang, den Reisen, Liebesabenteuer, Erlebnisse bilden, die gern »unter anderem Namen« (Don Melon de la Huerta, Don Amor) geschildert werden. Die Textsammlung ist daher auch romanhaft, deutet substanziell schon auf die novela picaresca hin. Es gelingt nicht, den Dichter auf eine klare Intention festzulegen; er will wohl etwas Grundsätzliches über Liebe schreiben: die Liebe zu Gott ebenso wie körperliche Gefühle; und beide Arten amor werden mit gleichem Ernst, aber auch nie ganz ohne Ironie behandelt! Daher ist nicht auszumachen, welche Liebe der Arcipreste über die andere stellt, welche das Prädikat bueno verdient. Will er alle Deutungen offen lassen? Sein Buch kann als Erbauungslektüre oder Unterweisung zur Gottesliebe verstanden werden, aber dann wieder bekommt man handfeste Anleitungen zum loco amor, zur körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau, von der unser Erzpriester viele Erfahrungen nachweist, wie Begegnungen mit Cruz, Endrina, Garoza zeigen, welche ihm die Kupplerin Trotaconventos verschafft. So wäre es unklug, alles auf einen Nenner zu bringen, wo doch eine besondere Weisheit gelehrt wird: die Erkenntnis, daß beide »Lieben« verschiedene Formen derselben Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens sind! Der Arcipreste erreicht durch Gegenüberstellung von Gegensätzlichem in bezug auf Moral und Gefühle eine Einheit der Kontraste, die jeden philosophisch-religiösen, aber auch erotischen Fanatismus ad absurdum führt! Durch Zweideutigkeit und letztliche Nichtklärbarkeit der Aussagen entstehen mit Humor und Ironie dynamische Momente, die

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das Buch in faszinierender Bewegung halten, ihm Frohsinn, Aufgeklärtheit, Distanz zur Realität vermitteln. Dieses Buch über Liebe und Leben bietet »in einem Schwung« Religiosität und Libertinage, Weltflucht und Diesseitslust, Verzicht und Hingabe, Reue und Lachen; es manifestiert die Auflösung fester Ethik als Endphase des Mittelalters, verbindet komplexe Regungen einer in Krise befindlichen Gesellschaft Decameron-haft zu unauflösbar kunstvoller Synthese. - Wie schwer es der Arcipreste uns Interpretierenden macht, zeigt der 5. Text, ein Exempel mit dem Titel »Aqui fabla de como todo omne entre los sus cuidados se deve alegrar, e de la disputacion que los Griegos e los Romanes en uno ovieron«; es ist eine Diskussion in Zeichensprache als Intelligenztest zwischen Griechen und Römern, bei welcher der gelehrte Grieche über Theologisches argumentiert, der gerissene Römer das Gespräch hingegen von einer Prügelei handelnd vermutet. Man versteht sich glänzend, obwohl/indem man völlig aneinander vorbeiredet, was folgendermaßen auf den Hintersinn unseres Buches zu übertragen ist: 68. Las del buen amor son razones encobiertas: trabaja do fallares las sus senales ciertas; si la razon entiendes ö en el seso aciertas, non diräs mal del libro que agora rehiertas: 69. do cuidares que miente dize mayor verdat, en las coplas pintadas yaze la fealdat; (ed. Gumbrecht)

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts verfaßt der Diplomat, Kanzler Kastiliens, Historiker und Lateinübersetzer Pero LOPEZ DE AYALA (1332-1407) ein ähnliches Sammelwerk, das man gern mit dem »Libro de buen amor« vergleicht. In der Provinz Älava geboren — von seinem Leben ist viel bekannt -, stammt aus galicischem bzw. aragonesischem Adel, gehört dem höfischen Kulturkreis an, besitzt auch die Schulung des mester de clerecia. Sein in 2 unvollständigen und fehlerhaften Handschriften überlieferter Rimado de palacio (auch Libro de palacio genannt) entsteht 1385-1403; beide Titel sind nicht von ihm, beziehen sich nur auf Teile des »Reimwerks«, dessen ca. 8200 Verse großteils in cuaderna via angelegt sind. Thematisch und metrisch leitet es die Endphase der Literatur des mester de clerecia ein; wie der Arcipreste als Geistlicher weltlichen Dingen gegenüber sehr aufgeschlossen ist, fühlt sich der Laie Lopez de Ayala stark von Religion und Transzendenz angezogen. Der geistigen Welt des Christentums wie der historisch gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zeit gleichermaßen verpflichtet, bietet sein Buch überaus verschiedenartige Inhalte,

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die man in 4 Abteilungen gliedern kann: Zuerst (Strophen 1-189) liest man Widmung, Credo, Schuldbekenntnis sowie Auflistungen der 10 Gebote, 7 Todsünden, 7 Werke der Barmherzigkeit, 5 Sinne, 7 geistigen Tugenden; dieser Teil ist Einleitung als captatio benevolentiae, denn die fortgesetzten Beteuerungen eigener Verfehlungen geben dem Autor das Recht, mit anderen ins Gericht zu gehen! Und so ist die zweite Sektion (190-370) breite Kritik an der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters. In seiner langen Laufbahn als Soldat, Ratgeber, Diplomat im Dienst der Könige Kastiliens hat er direkte Berührung mit Krisen und Problemen, die den Staat bedrängen. Bei seiner Darstellung strebt er eine gewisse Totalität an, denn keinen Stand, Beruf, Religionsmodus läßt er aus: So müssen sich vom König bis zum Bauern oder Handwerker alle - auch die letrados (314f.), zu denen er selbst zählt - sozialkritischen Tadel an ihrer Arbeit und ihrem Verhalten gegenüber den Mitmenschen gefallen lassen. Habgier (Los arrendadores 363f.) und Bestechlichkeit (La justigia 342f.) sind Erzübel einer schlechten Gesellschaft, die von Palästen oder Amtssitzen gelenkt wird, wo sich Herrschende und Beherrschte an Bosheit übertreffen. Seine »Helden« sehen sich nicht mit außergewöhnlichen Situationen, sondern typischen Problemen der Zeit konfrontiert: falschem Ehrgeiz der Adligen, Krieg gegen Mauren, Geldmangel, Unmoral der Privatleute; es sind Zustände, die der Kanzler getreu beschreibt, ausgiebig dokumentiert. Da diese Welt in ihrer wichtigsten Institution, dem Regierungssystem, infiziert ist, räsonniert er über Wesen des richtigen Herrschens und Eigenschaften eines guten Herrschers (Delgovernamiento de la Republica 233f.), entwirft ein staatstheoretisches Gedankengebäude, das unter anderem auf dem »De regimine principum« von Aegidius Romanus (um 1245-1316) fußt; es besitzt wohl wenig Kohärenz und Logik, unterstreicht aber staatsbürgerliche Verantwortung und sozialpolitischen Willen, Literatur in den Dienst sinnvoll praxisbezogener Wirklichkeitsforschung zu stellen! An diese, ein Zentrum des Buches bildenden, den Titel rechtfertigenden Überlegungen schließt sich nach gebetsähnlichen Strophen (371 f.) der Bericht über Zustände am Hof an (Losfechos delpalagio 422-704); es ist das Herzstück der »Kompilation«, die nun kritisch des näheren den Kernbereich politischen Lebens im Mittelalter offen und illusionslos darstellt. Nach weiteren an Maria und Gott gerichteten Gebeten (705-794), die jetzt in Versmaßen des mester de juglaria galicischportugiesischer Prägung (achtsilbige Strophen) abgefaßt sind, nach poetischen Überlegungen über das Große Schisma (1378-1417; Str. 795-834) und nochmaligen Andachtspassagen (835-886) folgt als

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vierter, die Hälfte des Bandes einnehmender Hauptblock (887-1627 bzw. 1939; die Handschriften variieren) eine Glossierung des HiobKommentars (»Moralia in lob«) Gregors des Großen (540-640). Die Herausstellung dieser melancholisch tiefsinnigen Bibelgestalt symbolisiert die damalige düstere Wirklichkeit, die dieses pessimistisch ausklingende Werk in kosmisch umfassender Struktur vergegenwärtigt. — Die ersten Verse der Fechos del sind von Gefühlen der Enttäuschung und Verbitterung gezeichnet, welche Wurzeln seines Dichtens überhaupt sind: 423. Las cortes de los rreyes, »Ea, pues; pidamos la gracia. Pero, ^quien la pedirä? ^Isaias? Ea que no. ^Gregorio? Ea que si. La hija ayudarä en la labor a su madre: Filia regum in honore suo. Ea, pues; digämosla aquella acrostica oracion que ella en sus nineces enseno a su hija Maria; porque, como buena madre, al punto la enseno a rezar el... Ave Maria.« Esta fue, sin quitar ni poner, la famosisima salutacion que el incomparable fray Gerundio de Campazas encajo en el refectorio de su convento, por estrena y muestra de pano de sus

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predicaderas, en presencia de toda aquella venerable comunidad< (II, Kap. 9). Der beigefügte, umfangmäßig größere Eloquenztraktat soll Alternativen zu jener leeren Beredsamkeit entwerfen, indem er sich aufklärerisch auf sachliches Wissen und den Willen zur Wissensvermittlung stützt. Die pamphletartige Romanmaterie ist ihrerseits Parodie, ironische Kritik an sinnentleert schwülstiger Rhetorik als Nachklang spätbarocker Denkweise, Isla hat vor allem Fray Hortensio Felix Paravicino (1580-1633) im Auge; er meint den protzigen, uninformativ üppigen, kommunikationsfeindlichen Sprachgebrauch des culteranismo; er tadelt mit Dialektik und Scholastik getarnte Unwissenheit und Unwissenschaftlichkeit großer Teile des Klerus, bedauert die allgemeine Unaufgeklärtheit des Volkes, denn der Roman zeigt, daß die Zuhörer von solch hanebüchenen Predigten angetan sind. Islas Buch veranschaulicht die Notwendigkeit des Aufklärens und Mündigwerdens in einem zentralen Punkt, denn das Bildungswesen befindet sich im 18. Jahrhundert noch in den Händen der Geistlichkeit, die in dieser Geschichte unwissend und korrupt auftritt. Die Anforderungen, die Isla im theoretischen Teil der Exkurse an den neuen Prediger stellt, sind sinnvolle Rhetorik selbst sowie Wissen von Dichtungsgeschichte, Geographie, Geschichte, Philologie, Philosophie, Musik, Medizin, Theologie. — Trotz gelungener Komik und treffender Satire stellt das Werk — strukturell und kompositorisch gesehen — kein homogenes künstlerisches Ganzes dar. Man muß bereit sein, primär seine ideologische Fortschrittlichkeit und Ehrlichkeit anzuerkennen! Denn Isla zieht ja gegen den eigenen Stand zu Felde, geht mit sich selbst ins Gericht. Das Buch wird ein gewaltiger Erfolg: Die Erstauflage ist in 3 Tagen verkauft, es entstehen zahlreiche Schmäh- und Verteidigungsschriften (z. B. von Matias de Marquina); die Inquisition verbietet es 1760, so daß Isla den 2. Teil im Exil veröffentlicht. Das berühmteste und allgemein aufschlußreichste fiktionale Prosabuch des 18. Jahrhunderts stammt von Jose CADALSO [bzw. CADAHALso] v VAZQUEZ (1741-82), dem 40jährig vor Gibraltar gefallenen Santiago-Ritter und Kavallerieoffizier aus Cadiz, der trotz frühen Todes ein mannigfaltiges, inhaltlich und literaturgeschichtlich in die Zukunft weisendes (Euvre hinterläßt, das eine auf vielen Reisen in Europa und durch Kenntnis vieler Fremdsprachen geformte kosmopolitische Erfahrung prägt. So halten die Texte des von Jesuiten erzogenen Cadalso einerseits aktuelle aufklärerische Bemühungen der Zeitgenossen, Strömungen einer Epoche fest, während sich andererseitsschon jene vorromantischen Regungen ablesen lassen, die nach

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seinem Tod in ganz Europa zur Romantik führen. Diese von Gefühlsbetonung und Weltschmerz gezeichnete Richtung kommt in seinen Noches lugubres (p. 1789-90) zum Ausdruck, autobiographische Prosaelegie in Dialogform, wo sich der Dichter Tediato verzweifelt über den plötzlichen Tod der angebeteten, als Filis besungenen Schauspielerin Maria Ignacia Ibänez entschließt, nachts mit dem Freund Lorenzo das Grab zu öffnen, um sie noch einmal zu sehen. Das kleine Werk ist in seiner unspanischen Grundstimmung mit der vorromantischen Dichtung »The Complaint, or Night Thoughts on Life, Death and Immortality« von Edward Young (1683-1765) verwandt, steht geistig schon in Verbindung mit bedeutendsten Werken europäischer Romantik, wie Goethes »Werther«. Cadalso versucht sich auch - nicht erfolgreich — als tragischer Dramatiker (Don Sancho Garcia conde de Castilla 1771), mit mehr Glück indes als Lyriker, indem er bestimmte Themen deutlich romantisch (auch arkadisch) ausdrückt (Ocios de mi juventud 1773), jedoch liegt seine Hauptbegabung auf dem Gebiet der Satire, die er in den Dienst engagierter Zeitkritik stellt. Mit Los eruditos a la violeta o curso complete de todas las ciencias, dividido en siete lecciones para los siete dias de la semana (1772) verfaßt Cadalso eine Parodie auf falsch aufklärerische, auf Halbwissen hinauslaufende Wissenschaftlichkeit: Wenn er spöttisch zeigt, wie man in einwöchigem Kursus verschiedenste, auch schwerste wissenschaftliche Disziplinen enzyklopädisch erlernt, so zieht er ähnlich gegen falsches Aufklären, Oberflächlichkeit und Leichtgläubigkeit von Pedanten zu Felde, wie das Torres Villarroel und Padre Isla tun. Cadalso setzt dieses Werk als Un buen militar a la violeta (p. 1790) in einem anderen Bereich fort, der ihm, dem tapferen und patriotischen Soldaten, ebenfalls bestens vertraut ist. - Die 1768-74 entstandenen Carlos marruecas (p. 1789 im Correo de Madrid bzw. 1793) sind Cadalsos bekanntestes Werk. Der Autor greift hierin ein Verfahren auf, das vor ihm Montesquieu in den »Lettres persanes« (1721) erfolgreich verwendete: Wie diese ein Briefwechsel zwischen den Persern Rica und Usbek über Frankreich der Jahre 1711-20 sind, so korrespondieren hier 2 Marokkaner über Spanien: nämlich Gazel Ben-Aly, der im Gefolge seines Botschafters in Madrid weilt, und der weise alte Ben-Beley, sein einstiger Lehrer. Eine wichtige Rolle spielt auch der Spanier und Christ Nuno Nunez (hinter dem sich Cadalso verbirgt), der dem fremdländischen Besucher Begleiter und »Erklärer« ist. Die Rahmenstruktur der 90 Texte gibt die Möglichkeit zu besonderer, perspektivischer Darstellung, wie sie auch der französische Briefroman erfolgreich appliziert: Fingiertes Fremdsein und An-

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dersartigkeit von Denkweise und Religion des Marokkaners bieten Gelegenheit, die Dinge in Spanien neu und anders, und zwar mit geschickt gesteuerter Überraschtheit, harmlos wirkender Natürlichkeit zu sehen, so daß literarische, geschichtliche, ökonomische, politische, gesellschaftliche, kulturelle Umstände in Spanien komisch anmuten. »Ayer me halle en una concurrencia en que se hablaba de Espana, de su estado, de su religion, de sugobierno, de lo que es, de lo que ha sido, de lo que pudiera ser, etc. Admirome la elocuencia, la eficacia y el amor con que se hablaba, tanto mäs cuanto note que excepto Nuflo, que era el que menos se explicaba, ninguno de los concurrentes era espanol« (Carta LXXIV). Aus den belustigenden bzw. verblüffenden Schilderungen ergibt sich indirekt Kritik an der Wirklichkeit sowie die Notwendigkeit von Änderungen. Da Ben-Aly unvoreingenommen (bzw. anders eingenommen) ist, erhält sein Erstaunen bezüglich des Entlohnungssystems, des Standesstolzes, der Arbeitsunlust, der Starrköpfigkeit bei Neuerungen, der Modebesessenheit des Gastlandes eigentümliches Gewicht. Sein Spanienbild fügt sich so zur glaubwürdigen Diagnose von Rückständigkeit und Fassadenhaftigkeit zusammen, bei der soziale Ungerechtigkeit, Dünkel und geringes wissenschaftliches Niveau schlimmste Krankheitsursachen sind. Die Bedeutung des Buches besteht — sieht man von künstlerischen Qualitäten ab - in der geschickten und lebendigen Handhabung von Sprache, Formen, Stil sowie in der Urteilsausgewogenheit: Als kritisches Zeit- und Landesbild ist es »dokumentarische« Einführung in die Hintergründe des Tiefstandes, aber keineswegs Sprachrohr von Destruktivismus; Ironie und Kritik werden überall (vor allem bei Nuno Nunez) von aufrichtiger Sorge, ja, unverkennbarer Liebe zu dem Land getragen, mit dem es schlecht bestellt ist. Und so ist es kein antispanisches, eher ein nationalistisches Werk, das man deswegen in den Zusammenhang mit der spanienbewußten »Generation von 1898« stellt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erscheint ein Buch, das Rückschau auf die Entwicklung der Literatur, aber auch der Kultur dieser Epoche allgemein ist, welche grundsätzlich vom Streben nach Erneuerung und Verbesserung gekennzeichnet ist und dennoch immer Anlaß zu pessimistischen Selbstdarstellungen gibt. Dieses letzte bedeutende Prosawerk des Jahrhunderts - in Wirklichkeit ist es ein Prosimetrum - stammt von Juan Pablo FORNER SEGARRA (1756-97) aus Merida, Arztsohn und Jurist (Staatsanwalt in Sevilla ab 1790). Forner ist ruheloser, immer gereizter Kritiker. Die spanische Akademie zeichnet 1782 seine Satira contra los abusos introducidos en la poesia caste-

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liana aus. Als Lyriker verfaßt er - der Gewohnheit der Zeit entsprechend und ohne besonderen Erfolg - Oden, Epigramme, Sonette, Episteln. Beachtet sind seine scharfen Invektiven und Pamphlete (z. B. El asno erudito 1782, gegen Iriarte oder El idolo del vulgo gegen Garcia de la Huerta). Sein vorwiegend polemisches, seit 1785 mit Veröffentlichungsverbot belegtes Schaffen bewegt sich zwischen Anklage und Verteidigung, ist Niederschlag des Juristen im Literaten. Satiren Forners sind auch Discurso sobre el modo de escribir y mejorar la historia de Espana (1791) sowie Discursos filosoficos sobre el hombre (1787). Sonst noch die patriotische Abhandlung Oration apologetica por la Espana y su merito literario (1786), worin er Spaniens kulturelle Verdienste um Europa herausstellt. — Exequias de la lengua castellana (1782) heißt ein der »Oracion« thematisch und intentional verwandtes, allegorisches, mit 14 Lyriktexten durchsetztes Prosawerk, das gattungsmäßig und inhaltlich gleichermaßen unabhängig wirkt: Forner geht mit der gesamten Literatur seines Jahrhunderts hart ins Gericht, stellt die Entwicklung der spanischen Sprache und ihrer Zeugnisse im 18. Jahrhundert als allmählichen Ablebeprozeß hin, deren Agonie, Tod, Exequien er in poetischer Vision vergegenwärtigt. Wie in ähnlichen Texten des Spätbarock und Rokoko findet das »Literaturgericht« auf dem Parnaß, Residenz der Musen und Weihestätte der Literatur seit der Antike, statt; zu ihm hinauf begeben sich auf Apolls Geheiß Aminta (Forner selbst) und sein Freund Arcadio (= Jose Iglesias de la Casa) in Begleitung der literarischen Koryphäe Cervantes. Am Musentempel angekommen, stellt man überrascht fest, daß der angebliche Leichnam, die lengua castellana, doch noch Leben in sich hat, und aus der Totenfeier wird ein Auferstehungsfest, an dem alle berühmten Schriftsteller und Schreiberlinge (escritorcillos) teilnehmen; geistlose Imitatoren, Literaturverderber, also sprachliche Mordgesellen, werden, nachdem sie sich die von Aminta vorgetragene, sehr lange, in Terzinen abgefaßte Satira contra la literatura chapucera [= stümperhafte Literatur] de es tos tiempos haben anhören müssen, in quakende Frösche verwandelt! Dann ist der Traum zu Ende: »Por libros se nos venden humo y viento,/ Bambolla, faramalla, disparates,/ Vaga locuacidad sin fundamento./ Llaman filosofia a los dilates,/ A la audacia, al orgullo, a la locura, y a oräculos se meten los orates«. - Die menippeische Satire ist wichtige Etappe in der Geschichte der spanischen Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung, weil sie gewisse kanonische Normen setzt, die man auch in späterer Literaturhistoriographie wiederfindet. Es wird die »leider« zu sehr an Frankreich orientierte Textproduktion des 18.

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Jahrhunderts als die einer Periode des Übergangs, ja, Niedergangs mit Umbruchcharakter gesehen, die (was Forner nicht hoch genug einschätzt) in geistiger Beziehung Neues, in ästhetischer jedoch wenig Gutes hervorgebracht habe. Wenn Forners Meinungen pauschal ausfallen - wenn er in der Aufklärung zu wenig Anerkennenswertes entdeckt —, so liegt das an der satirisch verzerrenden Optik und der hohen Wertschätzung der Literatur der Siglos de Oro, welche er mit Urteilen belegt, die bis heute viel an Gültigkeit behalten haben, dem künstlerischen Schaffen der folgenden Epochen Motivation geben.

3.2

Dramatik. Zwischen alter comedia und neuer Klassik

Die Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts ist grundsätzlich durch die Fortsetzung der Prinzipien der comedia der Siglos de Oro gekennzeichnet (3 jornadas, polymetrischer Text). Dabei sind gerade Rückgriffe auf Methoden symbolischer Verschlüsselung festzustellen, wie sie Calderon pflegte; auch Rezepte Lopes und seiner Nachfolger nimmt man gern in Anspruch. Als 1765 die autos sacramentales verboten werden, fällt indes eine beliebte Form weg. Aus der Schar dieser »Traditionalisten« der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts sind Caüizares, Bances Candamo, Zamora hervorzuheben. In der 2. Hälfte erlebt diese ältere Richtung nochmals eine Bereicherung durch die kurzdramatischen sainetes von Ramon de la Cruz. Um die Mitte der Aufklärungsepoche kommt es zur Umorientierung einiger Dramatiker, die ihre Arbeiten an französischer Klassik des 17. Jahrhunderts messen. Ein Resultat der Anpassung an solches Regeldenken und Geschmacksbewußtsein ist die Teilung in Tragödie und Komödie, die der spanischen comedia fremd ist. Allerdings sind entsprechende Ergebnisse von Tragikern wie Moratin d. Älteren und Garcia de la Huerta sowie des Komödienautors Moratin d. Jüngeren umfangmäßig und qualitativ begrenzt. Ein interessanter Niederschlag der comedie larmoyante früher Aufklärungszeit ist ein Einzelwerk Jovellanos', das sich gattungstheoretisch erneut zwischen Tragik und Komik bewegt. Die im Zeichen des Goldenen Zeitalters stehende Dramatik dominiert also epigonal während der 1. Hälfte, ihre Einflüsse sind aber noch in der Romantik festzustellen! Aber sie wird allmählich abgelöst durch eine anders verstandene klassische Geschmacksausrichtung, wie sie Luzän (auch für die Dramatik) in seiner »Pootica« (1727) postuliert. Viele traditionsgebundene Autoren imitieren Calderon, greifen jedoch eigentlich das gesamte Erfahrungsspektrum des 16. und

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17. Jahrhunderts mit allen Strukturen und Themen auf; typisch sind barocke Sprache und Überbetonung dramaturgischer Effekte, welche den Ausdruck der Inhalte generell schwächen. 3 Autoren seien stellvertretend herausgehoben. Joso de CANIZARES (1676-1750) aus Madrid ist zuerst Kavalleriehauptmann, dann Hofbeamter (Zensor) für Theaterwesen; er dichtet in gongoristischer Manier, benutzt für seine Stücke als Vorlagen Texte von Cervantes, Lope, Calderon, die er umarbeitet. Canizares hinterläßt an die 100 Bühnenwerke mannigfaltigster Prägung: novellistische, hagiographisch-religiöse, historische, grotesk-komisch karikatureske Typenstücke (comedias de figuron), Tragödien und zarzuelas (z. B. Angelica y Medoro, Acisy Galatea, Telemacoy Calipso). Mit El picarillo en Espana, senor de la Gran Canaria bringt er den immer noch beliebten Schelmenstoff (vgl. Torres Villarroel) auf die Bühne, präsentiert sozial ausgerichtete Madrider Volkstümlichkeit, wie später Ramon de la Cruz (jedoch gibt sich hier ein Adliger als picaro aus). Weitere beliebte Stücke von Canizares sind: die mit 14 Jahren verfaßte comedia Las cuentas del Gran Capitan, dann El domine Lucas (eine Satire auf das Universitätsleben in Salamanca), La mas üustrefregona, Abogar par su ofensor, Par acrisolar su honor, competidor hijo y paare, El honor da entendimiento y el mas bobo sähe mas, A cual mejor, confesada y confesor, Pedro de Urdemalas, Yo me entiendo y Dios me entiende, Tambien por la voz hay dicha, El anillo de Giges. Der aus altem Adel stammende, von Karl II. protegierte Francisco Antonio de BANCES CANDAMO (1662-1704) aus dem asturischen Avil£s übt verschiedene Ämter in Finanz- und Wirtschaftsverwaltung aus. Als Lyriker (Obras liricas p. 1720) gibt er sich ebenfalls gongoristisch, pflegt als didaktischer Dramatiker wie Canizares die »alte« comedia (auch auto sacramental, entremes, zarzuela) in ganzer Breite. Bances Candamo verfaßt Dramen mit nationalgeschichtlichem, antikem, mythologischem, religiösem Inhalt. Aufschlußreich für seine Theaterauffassung ist die antipatristische Schrift Teatro de los teatros de los pasados y presentes siglos (p. 1970), in der er die comedia über die Geschichtsschreibung stellt, weil jene lehrreicher sei. Insgesamt hat große Bedeutung für sein Schaffen Calderon, dessen theologischphilosophische Stoffe er betont poetisiert und symbolisierend verarbeitet. La piedra filosofal (p. 1722) ist sein bedeutendstes Stück: »La vida es sueno« nachempfunden, stellt es das Leben auch als Traumallegorie dar. Weitere Bühnenwerke: El esclavo en grillos de oro, Mas vale el hombre que el nombre, El espanol mas amante y desgraciado Macias, Por su rey y por su dama, El sastre del Campillo, El duelo

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contra su dama, iQuien es quienpremia al amor?, El vengador de los cielos y rapto de Elias, Duelos de ingenio y fortuna, La inclination espanola y musulmana nobleza. Der bedeutendste traditionalistische Dramatiker der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Staatsbeamte, Kammerherr und (seit 1694) Hofdichter (nach Bances Candamo) aus Madrid Antonio de ZAMORA (um 1664- um 1728), der gleichfalls die breite Skala der comedia vertritt. El hechizado por fuerza, Don Domingo de Don Blas, Mazariegos y Monsalves, Cada uno es linaje aparte, Quitar de Espana con honra elfeudo de den doncellas, El lucero de Madrid y divino labrador San Isidro, La doncella de Orleans, Judas Iscariote, Por oir misa y dar cebada nunca se perdio Jornada, La defensa de Tarifa y blason de los Guzmanes, La destruction de Tebas sind Titel aus seinem umfangreichen religiösen, historischen, antiken, typenbetonenden (Euvre, das 31 comedias und 22 entremeses umfaßt. An seinem bekanntesten Stück, Bearbeitung des Don Juan-Stoffes, sieht man, wie traditionsgebundene Dramatik im 18. Jahrhundert im besten Fall beschaffen ist. No hay plazo que no se cumpla ni deuda que no sepaguey convidado de piedra (Erstausgabe offenbar erst p. Madrid 1744 = im 2. Band der Sammeledition; nicht 1722, wie oft behauptet; Uraufführung wohl schon 1714) ist das einzige Stück Zamoras, das Literaturgeschichten regelmäßig erwähnen; nicht, weil es herausragend »gut« wäre; es liegt eher daran, daß der Don Juan-Stoff — den Zamora hier nach dessen Begründung in »El burlador de Sevilla y convidado de piedra« (1630) als dritter Spanier aufgreift — für die Forschung interessant blieb, so daß man stets darauf stieß. Die Perpetuierung der Don Juan-Aktualität hat auch damit zu tun, daß in Spanien an Allerseelen einst das Tirso-Stück, später die Zamora-Version (bzw. eine Umarbeitung), seit der Romantik die Fassung Zorrillas aufgeführt, somit die Don JuanLegende wachgehalten wird. 1. AKT: Don Juan Tenorio hat in Neapel eine Frau aus angesehener Familie verführt; in Spanien vergnügt er sich mit Beatriz Fresneda, ihr die Ehe versprechend, obschon er dort an Ana de Ulloa, Tochter des Komturs Don Gonzalo, gebunden ist. Er tötet im Duell den empörten Vater, der sterbend vom Himmel Rache erfleht. 2. AKT: Nach dreimonatigem Arrest gelangt Don Juan in die Gruft der beleidigten Familie, wo sich die Kernepisode abspielt: Der ehrfurchtslose Protagonist erblickt das steinerne Abbild des von ihm getöteten Comendadors, macht sich über ihn lustig, spricht spöttisch eine Einladung zum Nachtmahl aus, die der »Gast aus Stein« tatsächlich annimmt. 3. AKT: Don Juan tötet Anas Bruder Don Luis, kommt damit einem Mordplan der Geschwister zuvor. Nach unentschiede-

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nem Duell mit dem aus Neapel zur Racheausübung angereisten Filiberto Gonzaga flieht Don Juan — um königlicher Justiz zu entkommen - in die Familiengruft der Ulloa, wo ihn die Statue zum Essen erwartet; als sie ihm zum Abschied die Hand drückt, fühlt Don Juan den Tod nahen: Seine Frist ist abgelaufen, er hat für seine Schuld zu zahlen, selbst wenn dafür toter Stein zum Leben erweckt werden mußte! Der große Sünder bereut allerdings sein Tun, bittet den Himmel um Gnade: »jDios mio, haced, pues la vida/ perdi, que el alma se salve!/.../ mi malicia me ha perdido,/ tu clemencia me restaure« (III, 12). Zamoras comedia in 3 jornadas und Versen lehnt sich eng an die zwischen Wirklichkeit und Phantasmagoric oszillierende Heldenfigur Tirsos an, deren herrisches Liebhabergebaren er voll übernimmt, wobei die eigene Leistung darin besteht, daß er die komplexe, rational unfaßbare Handlung der Vorlage stringenter und logischer gestaltet, so daß sein Text linear, klarer, »aufgeklärt« wirkt. Don Juans Charakter wird durch den gracioso Camacho offengelegt, der ihn fortwährend zu Mitteilungen über sich provoziert, die er dem Vertrauten uneingeschränkt liefert; da ist etwa der stürmische Freiheitsdrang des sich geniehaft vorkommenden Übeltäters, der die permanente Untreue zu feste Bindungen verlangenden Frauen so motiviert: »No, Camacho, que mi genio/ no es para andar de reata/ con mujer, a todas horas« (1,1). Don Juan ist bei Zamora kein Fabelwesen, wie bei Tirso, sondern er zeichnet seine Schlechtigkeit psychologisch nachvollziehbar: Ebenso tapfer wie grausam ist er, tötet hier mehr als dort, betrügt noch häufiger und tut alles letztlich unüberlegt, ohne Grund, und man glaubt, es mit einem »Kranken« zu tun zu haben, was dem Text Realität und Modernität verleiht. Zamora gibt dem Stück ein unklares, die Seelenrettung des »Bösewichtes« nicht ausschließendes Ende; Don Juan sei eben ein pathologischer Fall, was ihn vor Ethik und Gesetz nicht ohne Schutz dastehen läßt; so schafft er Spannung, stimuliert die Phantasie, liefert dem Zuschauer Partizipationselemente, die der Don Juan im Höllenfeuer verbrennende Tirso nicht bot! Damit tut Zamora einen Schritt in Richtung auf die romantische Deutung: Zorrilla wird in seinem »Don Juan Tenorio« (1844) mit der Erlösung des Helden eine ganzheitliche Klärung des Stoffes in christlichem Sinne anbieten. So hat der große spanische Romantiker dem ungefeierten Frühaufklärer nicht wenig zu verdanken. Das Stück hat eine vielschichtige Handlung, ein reiches Personenrepertoire. Don Juans Vater, Don Diego Tenorio, ist mit ausgeprägtem Sohnesstolz eine außergewöhnliche, dennoch lebensnahe Gestalt. Don Gonzalo de Ulloa erscheint kraft- und würdevoll gezeichnet, überzeugt als

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Medium göttlicher Gerechtigkeit. Die Frauen bieten sich als interessante Schöpfungen dar (mit La Pispireta bringt Zamora eine graciosa auf die Bühne). Der gracioso Camacho ist traditionell, aber wirksam konstruiert: Er will am Ende ins Kloster! Die galanes Filiberto Gonzaga und Luis Fresneda besitzen unterschiedliche Charaktere, nehmen glaubwürdige Positionen ein. Es treten weiterhin auf: mehrere Bedienstete, 3 alguaciles, Musikanten, andere Adlige, 4 Studenten; letztere sorgen von Beginn an für Wirbel, Spaß, Bewegung. — Zamora gehört zu den am wenigsten erforschten Dramatikern des 18. Jahrhunderts (Erstausgabe: Comedias nuevas con los mismos saynetes con que se executaron II1722). In der 2. Jahrhunderthälfte orientieren sich weiterhin manche Autoren an Traditionen des Goldenen Zeitalters (s. unten zu R. de la Cruz), jedoch bewirken Aufklärung und Neoklassizismus Änderungen des Geschmacks und der dramatischen Theorien. Die comedia wird in Komödie und Tragödie gegliedert, gemäß antikem Usus und Regeldenken französischer Klassik, welche sich von Raison als ideellem Aufklärungsmotor leiten ließ, sich den dort vieldiskutierten Gesetzen der 3 Einheiten (Ort, Zeit, Handlung) unterwarf. Das damit einsetzende Unbehagen an eigenen dramatischen Rezepten geht so weit, daß man 1765 die autos sacramentales verbietet. Für Spaniens Neoklassizisten werden Moliere, Corneille, Racine Vorbilder. Der sich auch in der Lyrik stark manifestierende neoclasicismo ist eine Strömung, welche in der 1. Hälfte die Poetik Luzäns vorbereitete, die jedoch in der Dramatik zu bescheidenen Resultaten führt, weil das traditionsbeflissene Publikum für »importierte« Theaterstrukturen nicht zu begeistern ist. Drei Autoren ragen indes heraus: Moralin der Ältere, Garcia de la Huerta (beide Tragödie) sowie Moralin der Jüngere (Komödie). Der asturischem Adel entstammende Nicolas FERNANDEZ DE MORATIN der Ältere (1737-80 = Moralin padre) - geboren in Madrid, wo er, nach Jurastudium in Valladolid, als Poetikprofessor lehrt — ist ein enlschlossener Vertreter neoklassizistischer Literatur in Spanien; er ist dies als Dramatiker und Dichter (Obras postumas 1821, Poesiasy comedias p. 1842); so schreibt er Oden, Romanzen, Epigramme, Elegien, Sonette, Satiren in überwiegend herkömmlichen Strukturen, die für die Lyrikentwicklung des 18. Jahrhunderts kaum Relevanz haben; er gibl aber seil 1764 die für die Verbreilung liierarischer Ideen wichtige Zeilschrifl »El Poela« heraus. Daß der überzeugle afrancesado gerade Anlagen zu verschmähter Volkslümlichkeil und traditioneller Natürlichkeit hat, zeigen romanzenhafle Balladen, palriotische

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Texte (Las naves de Cortes destruidas), beliebte Stierkampfquintillas (Fiesta de toros en Madrid) sowie die »Geschichte« der spanischen Tauromachie (Carta historica sobre el origen y progreso de la fiesta de toros en Espana 1777). Seine dramatischen Vorstellungen präsentiert Moralin, der wesentlich am Zustandekommen des Verbotes der autos sacramentales mitwirkt, in der aus 3 hauptsächlich anticalderonianischen Aufsätzen bestehenden Schrift Desenganos al teatro espanol (1763); sie enthält heftige Attacken auf das Nationaltheater des 17. Jahrhunderts, das er als unregelmäßig herausstellt, deshalb als schlecht abtut. Sein Elfsilber-Theateroeuvre selbst besteht aus der regelgestrengen Madrider Komödie La Petimetra. Comedia nueva, escrita con todo el rigor del arte (1762) sowie 3 Tragödien: der antikrömischen Lucrecia (1763), der mittelalterlichen Hormesinda (1770) und Guzman elBueno (1777); die zweite wird die bekannteste: Thema ist die tragische Liebe der Schwester des in der Literatur häufig dargestellten letzten Gotenführers Pelayo (8. Jahrhundert) zum Maurenfürsten Munuza; das heftige Polemiken um den Sieg bodenständiger oder neoklassizistischer Dramatik provozierende Stück hält sich nur 6 Tage auf dem Spielplan: Moralins so regelverhaftete, klassisch intendierte Tragödie wirkt unpersönlich, starr, kalt, nüchtern, wird ungern als spanisches Theater aufgenommen! - Moratin gründet in der Hauptstadt den berühmten Literaturzirkel Fonda de San Sebastian; übrigens verfaßt dieser engagierte Verfechter neuklassischer Reinheit auch eine süffisante Dichtung mit dem Titel Arte de lasputas (p. 1898)! Der Archivar und Hofbibliothekar Vicente GARCIA DE LA HUERTA (1734-87) aus Zafra (Badajoz) - dort geboren als Sohn begüterter Hidalgos - ist der »berühmteste« Tragödienautor des 18. Jahrhunderts, obwohl von ihm nur eine Tragödie zur Diskussion steht; auch er ist ein vielseitiger Lyriker, der Elegien, Sonette, Eklogen u.a. herkömmliche Texte in unterschiedlichen Metren schreibt (Obras poeticas II1778-79); aber gerade mit seiner Tragödie erregt er Aufsehen, erlangt er Ansehen. Garcia de la Huerta ist sehr um die von Neoklassizisten geforderte Regeleinhaltung bemüht, übersetzt Voltaires Tragödie »Zaire«, unterdrückt dabei keinesfalls dramatische Errungenschaften seines Landes! Mit dieser Kompromißhaltung stützt er letztlich die comedia der Blütezeit. Die von ihm besorgte Anthologie Theatro hespanol (XVI1785-86) bietet aber nur zweitklassige Autoren des Goldenen Zeitalters sowie die seiner Nachwirkung im 18. Jahrhundert; es fehlen also Werke von Lope, Tirso, Ruiz de Alarcon! Die Zusammenstellung von 36 Stücken enthält eine lange Einleitung, sein ästhetisches Testament, das bei den Zeitgenossen Stürme der

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Entrüstung entfacht. Garcia antwortet auf polemische Äußerungen Iriartes, Forners, Samaniegos. Er wird für einige Jahre von Minister Aranda in nordafrikanisches Exil geschickt. Raquel (ediert und aufgeführt 1778; U A 1772 im Exil in Oran) ist die erfolgreichste spanische Tragödie des 18. Jahrhunderts; sie gilt der schönen jüdischen Geliebten des mit der Engländerin Leonor verheirateten Königs Alfons VIII. (1158-1214), betrifft einen legendenhaften Stoff, den die »Primera cronica general« Alfons des Weisen (1252-84) schildert; vor Garcia dramatisierten ihn u.a. Lope in »Las paces de los reyes y judia de Toledo« (1617) und Mira de Amescua mit »La desdichada Raquel« (1635); Grillparzer wird ihn in der »Jüdin von Toledo« (1878) aufgreifen. Obwohl Garcia wichtige Eigenschaften des französischen Theaters übernimmt, kommt das Werk wegen des spanischen Charakters an. So hält er die 3 Einheiten ein - es spielt im Audienzsaal des Alcäzars von Toledo -, verzichtet jedoch auf den Komik erzeugenden gracioso, verwendet nicht den für comedias typischen Achtsilber, sondern den dem Alexandriner verwandten Elfsilber der Heldenromanze; die Gliederung in 3 stringente, einen einzigen Aktionshauptblock darstellende jornadas bedeutet Außerachtlassung einer zentralen französischen Tragödienkonvention, aber auch Annäherung an die Makrostruktur des beliebten Nationaldramas. Die Handlung entspricht der Aufführungsdauer. Spanisch ist der problematisch patriotische Gehalt. Das Geschehen setzt 10 Jahre nach einem Sieg des Königs gegen die Mauren ein. Die schöne Jüdin Raquel sichert sich so die Gunst des Monarchen, daß dieser sich 7 Jahre mit ihr von der politischen Welt abkapselt, alle Herrscherpflichten vergißt. Die christliche Bevölkerungsmehrheit glaubt, ihre Macht an die Juden zu verlieren, deren Interessen Raquel bei aller Liebe zum ihr verfallenen König bei diesem durchzusetzen scheint, so daß die Granden einen Volksaufstand befürchten. Alfons opfert daher die schon zur »Königin« erhobene jüdische Geliebte der Staatsräson. - Das mit kraftvoller, an Calderön geschulter Sprache und flüssigen Versen ausgestattete Stück enthält unüberhörbare antijüdische Tendenzen, betreibt parteiische Heroisierung des Spaniertums. Es manifestiert auch romantische Affekte, wie tiefe Leidenschaftlichkeit. Garcias Begabung liegt in der machtvollen Verjüngung einer großen, gealterten Tradition wider Willen. Denn eigentlich ist ihm Französisches verhaßt, betet er Hispanität an. Und so entstehen glaubwürdige Äußerungen persönlicher Gefühle und politischer Tragik: »Yo tu muerte he causado, Raquel mia;/ mi ceguedad te mata; y pues es ella/ la culpada, con lägrimas de sangre/ llorare yo

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mi culpa y tu tragedia« (774-77). - Die zweite Tragödie, Agamenon vengado, orientiert sich an Sophokles' »Elektra«. Zur neoklassizistischen Komödie gilt es, einen Autor herauszustellen: Leandro FERNANDEZ DE MORATI'N den Jüngeren (1760-1828); in Madrid geboren als Sohn des genannten Tragödienverfassers (= Moratin hijo); obwohl adliger Herkunft, führt er ein bürgerliches Leben: Juwelierslehre, Privatsekretär, Bibliothekar; Reisen durch Frankreich, England, Italien. Moralin ist ein typischer afrancesado, ein von Frankreichs Kultur durchdrungener Spanier, und so übersetzt er Voltaires berühmtestes Buch (Candida o el optimismo p. 1838); Italiens bedeutendsten Lustspieldichter Goldoni lernt er in Paris kennen, wo er stirbt; ihm sowie dem Komödiengenie Moliere verdankt er die ungezwungen leichte und dennoch sinnreiche Art seiner Bühnenwerke. Sein (Euvre umfaßt: die bearbeiteten Übersetzungen derMoliereStücke »L'ecole des maris« und »Le medecin malgre lui« sowie Shakespeares »Hamlet« in Prosa, ein Tagebuch, ein Corpus Briefe, die antikulterane Prosasatire La derrota de los pedantes (1789), die Spaniens ältere Theatergeschichte rehabilitierende, gelehrte Schrift Origenes del teatro espanol (p. 1830), die Romanzendichtung La toma de Granada por los Reyes Catolicos don Fernando y dona lsabel (1779), etwa 100 lyrische Arbeiten (Oden, Sonette, Epigramme, Episteln, Elegien, romances, Horaz-Übers.) sowie 5 Komödien (Obras dramaticas y liricas Paris III 1825); 4 davon sind gesellschaftskritisch, und zwar Studien über die Ehe, die Moratin auf freier Gattenwahl und Gleichheit der Ehepartner in sozialer und altersmäßiger Hinsicht gegründet sehen will, womit seine Theaterinhalte - sie betreffen auch Erziehung und Emanzipation der Frau, Standesdünkel, Heuchelei, Patriarchentum, Despotie, Prahlerei - im moralistischen Gegensatz zu Gesellschaftspraktiken der Zeit stehen; es sind El viejo y la nina (1790), El baron (1803), La mojigata (1804), El side las ninas (1805). Moratin wird vor allem technisch ein »spanischer Moliere«, denn er unterwirft sich den Prinzipien des Neoklassizismus, hält sich an die 3 Einheiten, füllt aber genial die strengen Strukturgerüste aus: durch zügig und geschickt geführte Handlung sowie interessante und amüsante Personenporträts, so daß ihm die harten Regeln letztlich zum Vorteil gereichen. Scherz, tändelnde Ironie, treffende Charaktersatire, lebendig abwechslungsreiche Aktion machen vergessen, daß er seine Texte tatsächlich nach theoretischen Rezepten des Neoklassizismus verfaßt. Ein Autor stellt sich hier mit seiner dramaturgischen Behendigkeit und Kunst über die Regeln, so daß man Moratin als den Vorläufer bzw. Schöpfer der alta comedia bezeichnet. — La comedia

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nueva (1792 ed./Uraufführ. Madrid) hat in Moralins CEuvre, ja, in der Komödienliteratur des 18. Jahrhunderts eine besondere Stellung, weil der Text ausgiebig über Komödien spricht, Literaturkritik bzw. -theorie betreibt. Es geht in diesem in einem Madrider Cafe bei einem Theater spielenden, zweiaktigen Prosastück um ein Bühnenwerk, das der junge Autor Don Eleuterio Crispin de Andorra verfaßt hat und unbedingt aufgeführt sehen will. Er holte sich darum Rat beim Pedanten Don Hermogenes, der sein neues Bühnenwerk »El gran cerco de Viena« unsinnig über den grünen Klee lobt, gar »wissenschaftlich« fundiert: »Antes de todo conviene saber que el poeta dramätico admite dos generös de fäbula. Sunt autem fabulae, aliae simplices, aliae implexae. Es doctrina de Aristoteles. Pero lo dire en griego para mayor claridad: Eisi de ton mython oi men aploi ...« (I, 4). Der Theoretiker denkt nur ans Geld und die Schwester des jungen Dramatikers. Man sitzt kurz vor der Aufführung aufgeregt im Cafe; da des Pedanten Uhr stehenblieb, kommt man verspätet. Das Stück im Stück ist nicht neoklassizistisch, sondern nach den bombastisch überspitzten, substanzlos esoterischen Prinzipien später Calderon-Imitatoren des auslaufenden 18. Jahrhunderts verfaßt, wird ein so großer Reinfall, daß man es im 2. Akt abbricht. Eleuterio ist untröstlich, Hermogenes zieht sich diskret zurück, aber der reiche Pedro de Aguilar, u. a. Literaturtheoretiker (hinter ihm steht Moralin), erweist sich als Freund: Er will ihm eine Stellung verschaffen, klärt ihn auch freundlich über den Mißerfolg auf, der darauf zurückzuführen sei, daß sich Eleuterio nicht neoklassizistischer Kriterien bediente, die Don Pedro als Theoriepaket vorlegl; nochmals entwirft er — wie einst Luzän in der »Poetica« - die nun auf Komödien bezogenen Grundgedanken der Neoklassik, die er stilistischem Schwulst, inhaltlich-geistiger Undurchdringlichkeit, dramatisch-technischer sowie emotionaler Phanlaslerei der Spätbarock-Calderonianer entgegenstellt (gemeint ist z.B. Francisco Luciano COMELLA: 1751-1812): »Es increfble. Alii no hay mäs que un hacinamiento confuso de especies, una accion informe, lances inverosimiles, episodios inconexos, caracteres mal expresados o mal escogidos; en vez de artificio, embrollo; en vez de situaciones comicas, mamarrachadas de linterna mägica. No hay conocimienlo de hisloria, ni de costumbres; no hay objeto moral, no hay lenguaje, ni estilo, ni versificacion, ni guslo, ni sentido comun ... el lealro influye inmedialamente en la cultura nacional; el nuestro esta perdido, y yo soy muy espanol.« (II, 6) Moralin rechnet mit einem verallelen Genre ab, stellt eine neue Art in Szene gesetzler Literatur vor, wie sie der Titel verspricht, und dies ebenso theoretisch wie praktisch. Das

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Erneuerungsanliegen ist satirischer Inhalt der Komödie sowie Anlaß, an ihr konstruktiv eine neue Kunst zu zeigen, denn seine einfach mit sprachlicher Eleganz, struktureller Klarheit, realistisch wirksamer Dialogtechnik, ironischer Schlagkraft, lebendiger Komik durchgeführte Parodie auf älteres Theater ist Beweis für Qualität der neuen Komödienform, die er selbst anbietet. Nicht zu vergessen ist dabei, daß ein beträchtlicher Teil des Inhaltes Theorie, also eigentlich der Dramatik zuwiderlaufender Stoff ist, mit dem Moralin geistreiches Spiel treibt. »El püblico le ha dado a usted una leccion muy dura, pero muy util, puesto que por ella se reconoce y se enmienda« (Pedro, Schlußsatz). In der 2. Jahrhunderthälfte ist noch der Einfluß der comedie larmoyante, einer gefühlsbetonten Vorform der Tragikomödie festzustellen, die Nivelle de la Chaussee (1692-1754) begründete. Es war ein kurzlebiges Genre, das, zwischen Komödie und Tragödie angesiedelt, der spanischen comedia ähnelt, das Interesse Diderots findet, dessen Theorien vom drame bourgeois - durch 2 Schriften und Stücke gestützt — wegweisend für ein Bühnenwerk von Caspar Melchor de JOVELLANOS (1744-1811) sind; diese herausragende Aufklärergestalt Spaniens verfaßt außer dem tragischen Drama Muerte de Munuza [ = Pelayo] (1769) ein gattungsmäßig besonderes Stück, das für die Hintergründe der Epoche aufschlußreich ist. Jovellanos ist ein vielseitiger Essayist, der über Erneuerungen schreibt, von denen er viele als Politiker realisiert. El delincuente honrado (ed. 1787, UA 1774 in Aranjuez) ist eine comedia in Prosa und 5 Akten über Ehrbarkeit und Gerechtigkeit; der Richter und spätere Justizminister legt hierin Erfahrungen und progressive Rechtsvorstellungen nieder. Fragen zu Jurisprudenz, Strafrechtsnovellierung, -Vollzug haben während der europäischen Aufklärung Konjunktur, weil »Philosophen« und Reformern seit Montesquieu daran liegt, eine neue, gerechte, rechtlich abgesicherte Welt ins Leben zu rufen. In diesem Zusammenhang hat die durch Rousseau angeregte Schrift »Dei delitti e delle pene« (1764) von Cesare Beccaria, an die Jovellanos anknüpft, große humanitäre Bedeutung; er beschließt das Stück mottohaft mit einem Zitat daraus: »jDichoso yo, si he logrado inspirar aquel dulce horror con que responden las almas sensibles al que defiende los derechos de la humanidad!« Den Ansichten Diderots gemäß ist es - neoklassizistisch - nach den 3 Einheiten abgefaßt, was den Aufklärern vernunfthaft und logisch erscheint. Hauptfigur des im Alcäzar von Segovia spielenden Stückes ist Don Torcuato Ramirez, der bei einem Duell zur Ehrverteidigung den Marques de Montilla tötete, eine illegale Tat beging,

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welche die Justiz zu Recherchen veranlaßt, bei denen man Torcuatos Freund Anselmo als Täter ausmacht. Um den schuldigen Freund zu retten, ist jener bereit, für den inzwischen mit Dona Laura, der (von den Umständen des Duells nichts wissenden) Witwe des Marques, verheirateten Torcuato das Todesurteil anzunehmen, was den Protagonisten veranlaßt, seinerseits Ehrbewußtsein und Freundesliebe zu beweisen, sich als Duellant und »Mörder« vor dem Richter Don Justo de Lara zu präsentieren, der plötzlich im Angeklagten den eigenen Sohn erkennt! Unerbittliches Funktionieren der Gesetze und Ablauf einer Tragödie kann nur der begnadigende König unterbrechen. Das Drama ist Loblied auf Opferbereitschaft und Freundesliebe, Kritik des noch nicht hochgestellten Jovellanos an abstrakter Handhabung überholungsbedürftiger Gesetze. »Es cosa muy terrible castigar con la muerte una accion que se tiene por honrada« (Motto). Diese Intentionen unterstreichen emotionale Mittel; wie die zahlreichen Hinweise des Autors für eine gefühlsbetonte Sprech- und Darstellungsweise der Schauspieler zeigen, wird nicht Verstand, sondern Gemüt des zu rührenden Zuschauers angesprochen: »Torcuato, desgrenado, pero sin las vestiduras de reo, con semblante risueno, aunque muy conmovido« (Schlußszene). Die comedie larmoyante über ein ehrbares Delikt kennzeichnet die Affizierbestrebung, die manche Schwächen des Stückes verursacht: auffallende Konstruiertheit, das Artifizielle, erzeugt durch unwahrscheinliche Zufälle, seltsame Schicksalskombinationen. Dennoch ist dieses dramatische Einzelwerk in klarer, aufklärender Sprache abgefaßt, die verdeutlicht, daß Jovellanos nicht erbauen oder verwundern, sondern mit subjektiven Mitteln belehren, erziehen, bessern will, ein Ziel, das moralistische Tiraden und rhetorische Diskussionen stützen, die den Kunstcharakter des Textes verringern, seine sachinformativ politische Funktion indes verstärken. — Das 1773 geschriebene Stück richtet sich gegen ein Duell-Edikt von 1757, das beide Duellpartner strafrechtlich verfolgt; der beschriebene Vorfall ereignete sich 1738 in Segovia. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts erreicht traditionsorientiertes Bühnenschaffen durch Ramon de la CRUZ CANO OLMEDILLA (1731-94) nochmals einen Höhepunkt. Der kleine Rechnungsbeamte mit bescheidenem Einkommen lebt als Kind in der Calle del Prado, in der Nachbarschaft von Hinterhoftheatern (corrales); über seine Ausbildung ist Konkretes nicht bekannt. 26 Jahre ist er, als er sein erstes Stück, La enferma de mal de boda, aufführt. Ramon de la Cruz verfaßt Tragödien und zarzuelas, bearbeitet/übersetzt französische, italienische, englische Bühnenwerke, macht indes Theatergeschichte mit

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seinen rund 350 Kurzstücken, den sainetes (sain < lat. sagina = Fett), mit denen er die Kleinform (= genero chico) des paso Lope de Ruedas oder des entremes Cervantes' erfolgreichst weiterentwickelt. Diese einaktigen Sketch texte spiegeln Sitten, Typen, Probleme der Gesellschaft der Hauptstadt, vor allem der Unter- und Mittelschicht wider, obwohl sie auch bisweilen den Hof thematisieren. Das Besondere an ihrer Kunst ist die Gestaltung des Milieus, die auf den costumbrismo des 19. Jahrhunderts hindeutet: In pittoreskem Ambiente bewegen sich aus dem normalen Dasein gegriffene Figuren verschiedenster Berufe, so daß die sainetes Gesellschaftsbilder bieten. Das Alltägliche hat Reiz, weil es sich unverbraucht frisch zeigt. Dramatische Spannung erzeugen situationsgebundene Komik, effektvolle Dialogführung und Gesprächstechnik. Die spärliche Handlung hat wenig Gewicht; dafür gibt es Musikeinlagen, Tänze, Streit, Happenings. De la Cruz erhebt das Einfache zur Kunst, damit in Gegensatz zu den Neoklassizisten sich stellend! Ein lebendiger sainete ist La Petra y la Juana (ed./Uraufführung 1791), nur vordergründig ein Stück über 2 eifersüchtige junge Damen; erstere legt größten Wert auf Äußerlichkeiten, will unbedingt zum Namenstag von Berufsmusikern ein Ständchen dargebracht bekommen, obwohl ihr Verehrer El Moreno dafür Uhr und Sonntagskleider versetzen muß; die zweite ist leichtsinnig, hat »unter anderen« einen wohlhabenden Gönner an der Hand, den Neffen des Eigentümers des großen Hauses, in dem man mit 11 Parteien beengt und turbulent zusammenlebt, weswegen der sainete auch den Titel La casa de tocame-Roque (»Das Haus des totalen Durcheinanders«, seit de la Cruz sprichwörtlich) führt. »Thema« sind die permanent Klatsch erzeugenden Privatprobleme, welche alle diese unter einem Dach lebenden Madrider einzeln und miteinander haben. In die Hauptfabel sind somit Geschichten kleiner Rivalitäten eingebaut: die der angeblich grausamen Kapitänswitwe mit ihrer angeblich faulen Magd Aquilina, des fürsorglichen Advokaten mit der unentlohnten Amme seines Kindes oder des alten Invaliden mit der ihre Katzen liebenden Alten. Alle führen Kleinkriege um Nichtigkeiten, die an der Wurzel mit Geld zu tun haben, so daß der kluge Neffe des Hauseigentümers sie in dem Moment besänftigen kann, als er des Onkels Besitz und Geld erbt, die Mieter ins Gleichgewicht bringt. CASERO: »Vosotras no estäis casadas,/ vosotros no sois maestros/ en vuestras artes u oficios,/ por la falta de dinero/ para exämenes, materias,/ y demäs fines honestos:/ pues, hijos mios, manana/ os hare el repartimiento/ conforme a las circunstancias« (881-89). Das auf dem Patio geplante Sommerfest harmonisiert und korrigiert: Der »Chef«

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persönlich muß einsehen, daß Juana die falsche Braut ist. Moreno ist es mit etwas vorgestrecktem Geld möglich, seiner Petra die ersehnten Fachleute zum Aufspielen zu bestellen, sie mit harmlosem Vergnügen glücklich zu machen; auch bei den anderen Mietern können kleine ökonomische Eingriffe verpatzte Lebenssituationen einebnen. - Die kleine, 2 Jahre nach der Französischen Revolution entstehende Posse ist an der Oberfläche harmlos wie die Menschen, die sie darstellt; sie ist heiter und belustigend, aber auch psychologisch und sozialgeschichtlich wahr und damit typisch für den sainetero de la Cruz, der sich - ähnlich wie Goya - Wahrheit zum obersten künstlerischen Prinzip macht: »La verdad dicta, yo escribo«, lautet sein Credo! Herausragende sainetes sind außerdem: El hospital de la moda, El petimetre, Elteatropordentro, Manolo, El Rastro por la manana, Las tertulias de Madrid, De tres, ninguna, Elpoeta aburrido, Los bandos de Lavapies, El marido discrete, El Prado por la noche, La pradera de San Isidro, La comedia de maravillas, Lapresumida burlada. 3.3

Lyrik. Vielfalt und Fabel

Die Lyrik des 18. Jahrhunderts ist, wie Prosa und Dramatik, zuerst durch Kontinuität im Hinblick auf das Goldene Zeitalter, dann durch neoklassizistische Geschmacks- und Themenausrichtung geprägt, die Ergebnis der Aufklärung ist. Fällt die Fortsetzung von Überbrachtem mehr in die erste Hälfte, so läßt sich Erneuerung vor allem in der zweiten konstatieren. Allerdings kommt es — insgesamt gesehen - in der Lyrikentwicklung zu keinem Bruch, wie z.T. in der Dramatik. Charakteristisch ist in der 2. Hälfte eine Gruppenorientierung, die der Ausstrahlung von 3 Städten zuzuschreiben ist: Salamanca mit seiner Universität, Sevilla mit der Academia de Letras Humanas, Madrid als Metropole; es sind Dichtungszentren, wo gleichgesinnte Lyriker arbeiten, denen geistige und imitative Verwandtschaft mit entsprechenden Schulen des Goldenen Zeitalters gemeinsam ist. So mutet die salmantinische Dichtung nüchterner und sachlicher, die sevillanische barock und formalistisch an, wohingegen sich Madrider in der Klarheit erfordernden Form der Fabel auszeichnen, die sie zu künstlerisch sachkritischem Höhepunkt führen. Wie das Theater zur 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Fortsetzung der Prinzipien der comedia der Blütezeit andeutet, so orientieren sich auch Lyriker zuerst an Vergangenem, pflegen Konzeptismus oder Kulteranismus, greifen Dichtungsweisen Gongoras oder Quevedos

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auf; vorbildlich sind diesen einst beliebte Formen (wie Sonett, letrilla, silva, octava, romance etc.), und sie rekurrieren auf gängige Themen und Stile. Die Lyrik dieser Zeit ist also spät- bzw. nachbarock, epigonal. Aus der Schar derart traditionalistischer Poeten seien drei herausgegriffen. Gabriel ALVAREZ DE TOLEDO Y PELLICER (1662-1714), Mitbegründer der Real Academia, königlicher Sekretär und Bibliothekar Philipps V., aus Sevilla, ist besonders von Quevedo beeindruckt, so daß er als Dichter — er ist auch Gelehrter, schreibt eine Historia de la Iglesia y del mundo antes del diluvio (1713) - dessen asketisch-moralistische Verve, aber auch satirisch-kritische Dichtung nachahmt. So findet man in seinen vorwiegend kulterane Gedichte enthaltenden Obras postumas poeticas (p. 1744) Sonette mit ernst philosophischem bzw. religiösem Tenor, die das berühmte Barock-Thema des desengano aufgreifen, wie in dem Sonett La muerte es vida: »Luego con fäcil conclusion se infiere/ que muere el alma cuando el hombre vive,/ que vive el alma cuando el hombre muere.« Alvarez de Toledo schreibt auch Verse mit heiterer Stimmung, wie sie sein unvollendetes burleskes Oktavpoem Burromaquia (p. 1774) prägt, womit er sich dem anderen, nämlich ironischen Quevedo verwandt zeigt. — Der Berufssoldat und spätere Gouverneur von Barcelona Eugenio Gerardo LOBO (1679-1750) aus Cuerva bei Toledo verfaßt die 2 comedias El masjusto rey de Grecia und El tejedor Palomeque sowie epische Dichtungen. Seine Lyrik ist kulteran ausgerichtet, kann auch konzeptistisch sein. Aus seinem CEuvre (Selva de las musas 1717, Obras poeticas 1724) ragt heraus geistreich amüsante Gelegenheitsdichtung, wie Instrucciones para ser buen soldado oder Ilusiones de quien va a las Indias a hacer fortuna. Der dichtende Soldat (capitän coplero) verwendet Kurzformen wie letrillas, decimas, romances, Sonette, bekundet manchmal stilistische, thematische, stimmungsmäßige Verwandtschaft mit dem andalusischen Lyrikakrobaten Gongora. - Diego de TORRES VILLARROEL (1693-1770) aus Salamanca wurde schon als Verfasser einer schelmenromanartigen Autobiographie genannt. Er schreibt überdies als »Gran Piscator Salmantino« gereimte Horoskope (almanaques, pronosticos), die ihm beträchtliche Publikums- und finanzielle Erfolge bringen. So sagt er 1755 die Französische Revolution voraus: »Cuando los mil contaräs,/ con los trescientos doblados,/ y cincuenta duplicados,/ con los nueve dieces mäs, entonces, tu lo veräs,/ misera Francia, te espera/ tu calamidad postrera/ con tu rey y tu delfin,/ y tendrä entonces su fin/ tu mayor gloria primera.« Eine Reihe von Gedichten zeichnet sich durch metrische Vielseitigkeit aus: Auch bei ihm sind es

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hauptsächlich kurzstrophige Arbeiten wie letrillas, romances, Sonette, aber auch seguidillas, silvas, octavas, decimas, villancicos, an denen man Einflüsse der Siglos de Oro erkennt; vor allem Quevedo steht er nahe, dessen Themen und Stile er aufgreift, wenn er autobiographisch, moralistisch, satirisch darstellt, wie in den gesellschaftskritischen Texten Ciencia de los cortesanos de este mundo oder La casa de un gran Senor. Ein früher Band heißt Ocios polüicos en poesias de varios metros (1726). Zur Erneuerung spanischer Lyrik in mehrfacher Hinsicht kommt es in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Salmantiner, welche Freundschaft sowie gleiche Prinzipien zu einer »Schule« verbinden, ähnlich wie im 16. Jahrhundert der Kreis um Luis de Leon; neu ist im Hinblick auf spätbarocke Dichtung die Aufnahme anakreontischer Kriterien, wobei Anakreontik als neoklassizistisch empfunden wird, so daß man nochmals - nach der Renaissance (allerdings hat sie in Spanien da keine herausragende Rezeption) - lyrische Themen und Formen der Antike verdichtet. Bei der Wiederbelebung der Lyrik stehen diesmal nicht so sehr — wie in der Dramatik - französische Vorbilder Pate. Die Anakreontik ist ein europäisches Phänomen des Rokoko: Liebe, Wein, Freundschaft (erotisierend, bisweilen frivol besungen) sind beliebte Themen. Eine erste unverbindliche Phase der Schule wird später durch eine ernste, moralistisch philosophische, gesellschaftskritische Lyrik ergänzt bzw. abgelöst. Der Schritt zu dieser Alternative erfolgt als Reaktion auf die Epistola de Jovino a s us amigos de Salamanca (1776), einen offenen Brief des profilierten Aufklärers JOVELLANOS (1744-1811), der darin zeitgenössische Lyriker auffordert, Dichtung in den Dienst der Menschheit zu stellen, was man auch befolgt, in zumeist »hoher«, emphatischer, patriotischer Stilart, die sich allmählich von aufklärerischer Rationalität abwendet, romantischen Empfindungen des 19. Jahrhunderts entgegenstrebt. Aus der Schar salmantinischer Dichter — die bezeichnenderweise Pope, Young, Rousseau nahestehen, so zur Entwicklung spanischer Dichtung des folgenden Jahrhunderts beitragen — sei einer hervorgehoben, dessen Texte deutlich Art und Werdegang dieser Poesie zeigen; er ist einer der begabtesten Poeten seiner Epoche! Der bei Badajoz geborene Juan MELÖNDEZ VALD£S (1754-1817) arkadisch-bukolischen Usancen gemäß trägt er einen Schäfernamen (»Batilo«) - ist bischöflicher Sekretär in Segovia, nach Jurastudium in Madrid und Salamanca dort Professor für Humaniora und Grammatik (ab 1781), dann in verschiedenen Städten um soziale Verbesserungen bemühter Justizbeamte, schließlich wichtiger Funktionär im

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spanischen Unterrichtswesen. Mit Cadalso und Jovellanos befreundet, pflegt er Kontakte zu namhaften englischen und französischen Literaten, verkörpert den Typ des afrancesado, des mit französischer Kultur bestens vertrauten Frankreichsympathisanten; er stirbt in Montpellier (exiliert wegen »Kollaboration« mit dem Land, das er liebt). Melendez Valdes ist am Rande Dramatiker (Las bodas de Camacho el rico 1784, preisgekröntes Schäferstück) sowie Verfasser einer Sammlung von Vorträgen (Discursos forenses p. 1821); manche Werke sind nicht erhalten. Er wird berühmt als ein viele europäische Strömungen meisterhaft vereinigender Lyriker. Sein Schaffen (Poesias IV p. 1820, zuvor 1785 und 1797) zeigt die typische Zweiseitigkeit der Salmantiner: Er dichtet einerseits (unter dem Einfluß Cadalsos) anakreontisch, z.B. in letrillas oder romances, welche spielerisch epikuräisch Liebe, Wein, Natur mit Pflanzen und Tieren - manchmal verniedlichend und mit Elementen antiker Mythologie und klassischem Stilrepertoire — »besingen«, eine heiter problemlose, musikalisch elegante, heidnische Welt schaffen, wie die Odensequenz La paloma de Filis, Laflor de Zurguen, La manana de San Juan, Roxana en losfuegos. Seine Naturdichtung kann auch ernste Töne annehmen, wie die Romanze El arbol caido: »Alamo hermoso, ^tu pompa/donde estä?, £do de tus ramas/ la grata sombra, el susurro/ de tus hojas plateadas?/... parece que una voz clama/ de tu tronco: >jQue es la vida,/si los ärboles acaban!El si de las ninas< oder La mujer de un artista. Vega ist Freund vieler Romantiker, gilt indes als Gegner der Romantik, bildet aber keine Frontstellung gegen sie, versucht sich eher vorsichtig von der gängigen Produktion seiner Zeit zu lösen, indem er sich — wie andere — auf Moralin stützt, dessen Komödienkonzeption er ausweitet, in Richtung auf eine »alta comedia« neu orientiert, welche er selbst nicht ganz entwickeln kann, wenngleich deren wichtigste Kriterien schon bei ihm zu beobachten sind, wie im Erfolgswerk El hombre de mundo (ed. 1836, Urauff. 1845, 4 Akte, Verse), Salonstück und Persiflage auf wohlhabendes Bürgertum. »Gut geführt« ist die Ehe von Luis und Clara, die Juan — bürgerlicher Dandy und »Don Juan« — sowie der junge Liebhaber Antonito aus dem Gleichgewicht bringen wollen, letztlich ohne Erfolg. Das in Madrid spielende, sprachlich und metrisch gut durchgearbeitete Stück hat eine komplexe, auf amüsanten Irrtümern basierende, leichte und logische Struktur, erfüllt geschickt ironische Absichten. Dem vermeintlich weltmännischen Galan und dem erst so selbstsicheren, dann eifersüchtigen Ehemann hält am Ende die fest im Leben stehende Ehefrau sentenzenartig vor: »Pon en olvido profundo/ esa experiencia fatal:/ que no basta pensar mal/ para ser >hombre de mundo